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Göttingische
gelehrte Anzeigen
Unter der Aufsicht
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften
168. Jahrgang
Erster Band
Berlin
Weidmaniische Buchhandlung
1906
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwartz in Göttingen
168. Jahrgang (1906)
Yerzeichnis
der
]M[ i t a r 1> e i t e r
Die Zahlen Yerweisen auf die Seiten
H. d'Arbois de Jubainviiie in Paris 524
Paul Barth in Leipzig 88
A. Baur in Weinsberg 706
Ph. Aug. Becker in Wien 998
U. Ph. Boissevain in Groningen 371
Ludwig Borchardt in Cairo 552
Karl Borinski in München 334
C. Brockelmann in Königsberg 589 828 830
Alexander Cartellieri in Jena 250
P. Gorssen in Wilmersdorf bei Berlin 787
Wilhelm Crönert in Göttingen 382
Paul Drews in Gießen 257 771
Ernst Dürr in Würzburg 14
H. Erman in Münster i. W. 396
Franz Nikolaus Finck in Groß-Lichterfelde 239 509
F. Finsler in Bern 994
F. Frensdorff in Göttingen 968
Walter Friedensburg in Stettin 69
a*
166106
r
9.
Yerzeiehnis
der besprochenen Schriften
Die Zahlen verweisen auf die Seiten
E. A. Abbott, A Johannine vocabulary [Holtzmann] 662
B. R. Abe ken, Goethe in meinem Leben [0. Hamack] 677
H. Abert, Die Musikanschauung des Mittelalters [Oraf] 1005
Abu n-Fatb Mohammad, Sibt ibn at-Ta'ftwidhi [de Goeje] 560
W. Alt mann. Die römischen Orabaltäre der Kaiserzeit
[Strzygowski] 907
H. V. Arnim, s. Berliner Klassikertexte IV 914
J. Bacher, Die deutsche Sprachinsel Lusern [E. H. Meyer] 491
Hans Barth, s. Repertorium 710
A. Baumstark, Liturgia Romana e Liturgia delP Esarcato
[Drews] 771
P. Bedjan, s. Mar Jacobus Sarugensis 164
Berntj s. Heinrich v. Freiberg 96
A. A. Bevan, s. Jatir 574
C. Bejtold, s. Orientalische Studien 563
Frhr. v. Bissing, s. Denkmäler 552
Bodemannj s. Briefwechsel 968
VIII Verzeichnis der besprochenen Schriften
C. de Boor, b. Oeorgii Monachi Gbronicon 371
H. Breymann, Calderon-Studien I [Becker] 998
K. Breysig, Die Entstehung des Oottesgedankens und der
Heilbringer [Troeltsch] 688
Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina und J. G.
Zimmermann, hrsg. von Bodemann [Frensdorff] 968
Iyo Bruns, Vorträge und Aufsätze [Schwartz] 322
S. BuggCy s. Norges Indskrifter 89
0. Criste, Kriege unter Kaiser Josef U [Gerber] 486
W. £. ürum, Catalogue of the Coptic Manuscripts in the
British Museum [Rahlfs] 579
Die Römische Curie und das Conzil von Trient unter
Pius IV., hrsg. von J. Susta [Friedensburg] 69
F. Bahn, s. Festgabe 729
Denkmäler ägypt. Skulptur [Borchardt] 552
Denkwürdigkeiten des Ministers Otto Frhr. v. Man-
teuffel, hrsg. von H. v. Poschinger [Goldschmidt] 75
Bidymos, s. Berliner Klassikertexte I 356
Volumina Aegyptiaca I 356
Bielsj s. Berliner Klassikertexte I 356
s. Volumina Aegyptiaca 356
R. Dussaud, Notes de Mythologie Syrienne II— IX [Greß-
mann] 799
J. Dutoit, Das Leben des Buddha [Speyer] 803
M. L. Ettinghausen, Har^a Vardhana [Kielhom] 572
al Farazddk^ s. Jarlr 574
Festgabe für Felix D a h n 11, III [Walsmann] 729
Yeneichnis der besprochenen Schriften IX
Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des eid-
genössischen Polytechnikums [Meyer y. Enonau] 713
Kuno Fischer^ s. die Philosophie des 20. Jahrh. 1
A. Foucher, L'art gr^-bouddhique du Gandhära [Vogel] 533
E. Fuchs, Vom Werden dreier Denker [Troeltsch] 682
St. Gauen, s. Mitteilungen 719
öarlr, s. Jarfr 574
G e 0 r g i i Monachi Chronicon ed. C. d e B o o r I. II [Boissevain] 37 1
Fr. Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottes-
namens [Rothstein] 169
E. Göller, Der Liber Taxarum der päpstl. Kammer [Rieder] 493
J. Go Idstein, Die empiristische Geschichtsauffassung David
Humes [Barth] 88
G. Graf, Die christlich-arabische Litteratur bis zur fränkischen
Zeit [Brockelmann] 828
— Der Sprachgebrauch der ältesten christlich-arabischen Litte-
ratur [Brockelmann] 589
A. Hack man, Die ältere Eisenzeit in Finnland [Hausmann] 953
L. M. Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter H, 2
[Mayer] 425
A. Haseloff, Die Kaiserinnengräber in Andria [Strzygowski] 444
A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands IV [Uhlirz] 447
J. Haury, s. Procopii opera 382
J, HausheeTy s. Zuhair 830
J. Haußleiter, Zwei apostolische Zeugen für das Johannes-
Evangelium [Corssen] 787
M. Hayduck, s. Michaelis Ephesii commentaria 861
0. Heinemann, s. Pommersches Urkundenbuch 501
X Verzeichnis der besprochenen Schriften
Heinrich von Freiberg, hrsg. von A. Bernt [Schröder] 961
Wilh. Heinse, Sämtliche Werke U. IX, hrsg. v. Karl Seh üdde-
kopf [Minor] 675
Heldensage^ die aÜiriscJie, s. Täin bö Güalnge 524
HierökleSy s. Berliner Elassikertexte IV 914
Th. H 0 d g k i n, The History of England from the earliest times
to the Norman conquest [Liebermann] 458
P. H. Holzapfel, Die Anfänge der Montes Pietatis [Ph.
Meyer] 703
I. Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen
Altertum [Krause] 922
K. Horn, Abfassungszeit, Oeschichtlichkeit und Zweck von
Evang. Joh. Kap. 21 [Corssen] 787
W. Hunt, The History of England from the accession of
George HI. to the close of Pitt's first administration [v. Ru-
ville] 463
Ibn Khaldün, a Selection from the Prolegomena by D. B.
Macdonald [Rhodokanakis] 831
Norges Indskrifter med de aeldre Runer udgivne ved
Sophus Bugge [v. Orienberger] 89. 256
Italia Pantificia, s. Regesta pontificum Romanorum 593
G. Jakob, Erwähnungen des Schattentheaters in der Welt-
litteratur [Stumme] 817
Mar Jacobi Sarugensis homiliae selectae ed. P. Bedjan
[Wellhausen] 164
The Nakftid of Jarir and al Farazda^ [Wellhausen] 574
Jesus Sirachf s. Smend 755
6r. Kaibel, s. Urkunden dramatischer Aufführungen 611
K. A. Kehr, Die Urkunden der Normannisch- sizilischen Könige
[Uhlirz] 436
Yeneichnis der besprochenen Schriften XI
P. Kehr^ 8. Regesta Pontificum 593
Berliner Klassikertexte I. Didymos Kommentar zu
Demosthenes von H. Di eis u. W. Seh üb art [Wendland] 356
IV. Hierokles ethische Elementarlehre unter Mit-
wirknng von W. Schubart bearb. v. H. v. Arnim 914
F. Enoke, Begriff der Tragödie nach Aristoteles [Finsler] 994
H. Lietzmann, ApoUinaris von Laodicea und seine Schule I
[Jülicher] 792
G. Lucilii carminum reliquiae rec. F. Marx [Leo] 837
D. B. Macdonald, s. Ihn Ehaldfln 831
V. Man heim er, Die Lyrik des Andreas Gryphius [Borinski] 334
2>. S. Margoliauth, s. Abu U-Fath 560
F. MarXy s. Lucilii carminum reliquiae 837
A. Meinong, Ueber Annahmen [Höfler] 209
Meinong, s. Untersuchungen zur Gegenstandstheorie 14
P. M. Meyer, s. Theodosianus 641
Michaelis Ephesii in libros de partibus animalium com-
mentaria, ed. Michael Hay duck [Praechter] 861
N. Ter-Mikaelian, Das armenische Hymnarium [Finck] 239
Milet, Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen für
das Jahr 1899. I [v. Wilamowitz] 635
Mitteilungen zur vaterländ. Geschichte XXIX, hrsg.
vom Historischen Verein in St. Gallen [Meyer v. Knonau] 719
Th. Mommsen, Gesammelte Schriften [Wenger] 408
Th. Mommsen^ s. Theodosianus 641
F. Niedner, Carl Michael Bellmann, der schwedische Ana-
kreon [Steffen] 327
Th. Nöldehe, s. Orientalische Studien 563
XII Verzeichnis der besprochenen Schriften
J. Perier, Vie d' al Hadjdjftdj ibn Yousof [Wellhausen] 254
Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Fest-
schrift für K. Fischer, hrs. v. Windelband [Höffding] 1
N. r. IIoXitTjg, MeXitoct «spl too ßCoo xal ti)g ^XtbooTjc too
iXXTjvixoö Xaoö [Hiller v. Oärtringen] 367
PrettQensauswärtigePolitikl850 — 1858, hrs. vonH.v.Poschinger
[Goldschmidt] 75
Polytechnikum (Zürich), s. Festschrift 713
J?. t;. Poschinger, s. Denkwürdigkeiten 75
— s. Preußens auswärtige Politik 75
Fr. Poulsen, Die Dipyiongräber und die Dipylonvasen [Pfuhl] 339
Procopii Gaesariensis opera omnia, ed. J. Haury [Grönert] 382
C. Prüfer, Ein ägyptisches Schattenspiel [Stumme] 817
M. Raich, Fichte, seine Ethik und seine Stellung zu dem
Problem des Individualismus [Troeltsch] 680
Recueil des Historiens des Gaules et de la France XXIV
[Gartellieri] 250
Regestapontificum Romanorum. Italia Pontificia [Kehr] 593
Th. Rein ach, L'histoire par les monnaies [Strack] 666
Max Reischle, Aufsätze und Vorträge [Kattenbusch] 832
Repertorium über die in Zeit- und Sammelschriften der
Jahre 1891—1900 enthaltenen Aufsätze ... schweizer-
geschichtlichen Inhalts [Gabr. Meier] 710
W. Scheel, Johann Frhr. zu Schwarzenberg [Knapp] 478
W. Schmidt, Grundzüge einer Lautlehre der Mon-Khmer-
Sprachen. — Grundzüge einer Lautlehre der Ehasi-Sprache.
[Eonow] 228
W. Scfwbertj s. Berliner Elassikertexte I. IV 356. 914
— s. Volumina Aegyptiaca 914
Veneichiiis der besprochenen Schriften Xm
f. Schüddekopf, 8. Wilh. Heinse 675
M. Schulze, CalviDS Jenseits-Christentum [Baur] 706
J. Susta, s. d. Römische Curie 69
Smend, Die Weisheit des Jesus Sir ach [Smend] 755
Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach erklärt [Smend] 755
W. B. Smith, Der vorchristliche Jesus [Pfleiderer] 699
Paul Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht [Erman] 396
Friedr. Spitta, Ein feste Burg ist unser Oott [Drews] 257
Orientalische Studien, Th. Nöldeke gewidmet, hrs. v. C.
Bezold [Wellhausen] 563
T&in bö Cüalnge, hrsg. von E. Windisch [d'Arbois de
Jubainville] 524
Theodosiani libri XVI, ed. Th. Mommsen u. Paulus
Meyer I. II [Maas] 641
Ä. Thumb, Handbuch des Sanskrit [Schmidt] 419
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie,
hrs. von Meinen g [Dürr] 14
Urkunden dramatischer Aufifuhrungen in Athen mit einem
Beitrag von 0. Eaibel, hrs. v. A. Wilhelm [v. Wila-
mowitz] 611
Pommersches Urkundenbuch [Perlbach] 501
J. Volkelt, System der Aesthetik [Th. A. Meyer] 298
Volumina Aegyptiaca IV 1. Didymi De Demosthene com-
menta rec. H. Diels et W. Schubart [Wendland] 356
J. 6. Wetzstein, Die Liebenden von Amasia [Stumme] 817
A, Wülielm, s. Urkunden dramat. Aufführungen 611
WindeJband, s. d. Philosophie d. 20. Jahrh. 1
XIV Verzeichnis der besprochenen Schriften
E. Windischy s. altirische Heldensage 524
R. Wolff, Grammatik der Kinga-Sprache m [Finck] 509
Job. Ziekursch, Sachsen u. Preußen um die Mitte des 18.
Jahrhunderts] [Mollwo] 481
Die Mu'allaka des Zu hair, hrs. v. J. Hausheer [Brockel-
mannj 830
Göttingisehe
gelehrte Anzeigen
Unter der Aufsicht
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften
168. Jahrgang
Zweiter Band
Serlin
Weidmannsche Buchhandlang
1906
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwartz in Göttingen
Januar 1906. No. I.
Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Fest-
schrift für Kuno Fischer, unter Mitwirkung von B. Baaeh, K. Groos,
£. Lttsk, 0. Liebmann, H. Riekert, £. Troeltsch, W. IVandt herausgegeben
von W. Windelband. Heidelberg, Winters Universitätsbuchhandlung, 1904—1905.
VIII, 186, 200 S.
Zu Ehren Euno Fischers, bei Gelegenheit seines 80jährigen Ge-
burtstages ist eine Festschrift erschienen, die ein Bild der Philosophie
am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geben soll. Ein schöner
und berechtigter Gedanke liegt dem Werke zu Grunde, und hat in
einem Einleitungsgedichte Otto Liebmanns einen begeisterten Aus-
druck gefunden. Es ist in der Ordnung, daß deutsche Philosophen
dem Manne huldigen, dessen langes, wirksames Leben der Geschichte
der klassischen deutschen Philosophie gewidmet war. Mit großer
Beredsamkeit und Formschönheit hat Euno Fischer ein Bild der
deutschen Philosophie am Schluß des achtzehnten und am Beginn
des neunzehnten Jahrhunderts gegeben. In seinem großen Werke
über die Geschichte der neueren Philosophie haben von zehn Bänden
sechs die deutsche Philosophie zum Gegenstand, während drei Des-
cartes, Spinoza und Leibniz behandeln, und nur einer (Baco und
seine Nachfolger) der englischen Philosophie gewidmet ist, und ein-
stimmig wird man gewiß die Darstellung der deutschen Philosophie
(in meinen Äugen ganz besonders den Band über Fichte) als den am
meisten gelungenen Teil des großen Werkes betrachten. Mit Recht
ist man in Deutschland stolz auf die energische und tiefsinnige Ge-
dankenarbeit, die im Zeitalter des deutschen Idealismus von einer
Reihe großer Denker gethan ist, und die in Euno Fischer einen so
congenialen Geschichtsschreiber gefunden hat.
Aber wenn dies zugegeben wird, darf man gewiß die Frage auf-
werfen, ob es berechtigt ist, in einer Schilderung >der Philosophie
im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts« beinahe ausschließlich die
Philosophie in Deutschland, und sogar nur eine besondere Richtung
dieser Philosophie zu berücksichtigen. Das Gedankenleben anderer
Länder und anderer Richtungen werden nur im Vorübergehen und
0«U. gel. Aax. 1906. Nr. 1. 1
2 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
ohne eingehende Kritik, oft sogar in karrikierender Weise erwähnt.
Wo die größten Möglichkeiten liegen für die Entwickelung der Philo-
sophie in dem Jahrhundert, an dessen Anfang wir stehen, wird die
Zukunft erst zeigen können. Aber so viel kann gesagt werden, daß
ein wirkliches Bild des philosophischen Denkens unserer Zeit in dem
vorliegenden Werke nicht gegeben wird. Die Gedankenentwickelung
in den anderen großen Kulturländern (Frankreich, England, Nord-
amerika) wird nicht berücksichtigt, und so bedeutungsvolle philoso-
phische Erscheinungen wie die Arbeiten von Richard Avenarius und
Ernst Mach werden kaum erwähnt.
Es ist eine Eigenart Kuno Fischers, daß er, so lange er sich
mit einem Philosophen beschäftigt, ganz in den Gedankengang seines
Helden aufgeht. Dadurch erhält seine Darstellung ihre Energie und
ihren Glanz. Aber es ist doch auch die Pflicht des Historikers,
Lücken und Mängel, Fehlschlüsse und Mißverständnisse aufzuzeigen.
Wenn man einen Band von Fischers großem Werke durchgelesen
hat, sieht man eigentlich nicht ein, warum eine Fortsetzung, ein
neuer Aufschwung der Gedankenarbeit notwendig sein sollte. Die
Darstellung verläuft eben und glatt, und Schwierigkeiten, an denen
man beim Selbststudium der betreffenden Philosophen Halt gemacht
hat, kommen in der sonst so breit angelegten Darstellung nicht zum
Vorschein. Was so von Einzelproblemen gilt, das gilt ganz besonders
von dem Probleme, welche bleibende Bedeutung die ganze Richtung,
die man den deutschen Idealismus zu nennen pflegt, für die Zukunft
haben kann. Auch hier läßt uns der alte Meister im Stich, von
einigen sehr unbestimmten Andeutungen abgesehen. Und doch ist
es klar, daß die Begründung und die systematische Ableitung, welche
die klassischen deutschen Philosophen als notwendig und ausreichend
betrachteten, jetzt nicht mehr haltbar sind. Weder die kantische
Deduktion der Kategorien, noch Fichtes Konstruktion der Wissen-
schaftslehre, weder Schellings Potenzlehre, noch Hegels dialektische
Methode können uns befriedigen. Gewiß, die großen Ideen stehen
und fallen nicht mit der Begründung, die man zu geben versuchte.
Der Kern kann bestehen, obgleich die Schalen aufgelöst sind. Und
es wäre die natürliche Aufgabe der Festschrift gewesen, den Beweis,
daß es sich so verhält, zu geben ; dies wäre die beste Art, in welcher
die Verfasser ihren Meister hätten ehren können. Ich kann nicht
finden, daß die kritische und analytische Arbeit, durch welche jener
Beweis geführt werden muß, in der vorliegenden Schrift zum Vor-
schein kommt. In sehr dogmatischer Weise wird an den entscheiden-
den Punkten auf den deutschen Idealismus hingewiesen, als ob diese
Hinweisung für die kritische Arbeit unserer Zeit ausreichend wäre.
Die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. S
Und man vergißt, daß >der deutsche Idealismus < dem englisch-
französischen Denken die wichtigsten Impulse verdankt. Kants große
Gedankenarbeit wäre ohne den Einfluß von Hume, Newton und
Rousseau nicht zu verstehen. Gibt man die systematische Begrün-
dung auf, mittelst welcher die deutschen Klassiker die von Locke
und Hume gestellten Probleme lösen zu können glaubten, dann kann
nur eine neue Begründung dazu berechtigen, die vermeintlich ge-
wonnenen Resultate festzuhalten. — Aloys Riehl hat ausdrücklich
gezeigt, daß die kritische Philosophie nicht erst in Deutschland,
sondern schon mit dem Denken John Lockes anfängt. Freilich, Riehl
wird in der Festschrift damit abgefertigt, daß er zu viel > Positivist <
ist und nicht >dem echten Kritizismus < angehört. —
Eine geschlossene Phalanx bilden die Verfasser der Festschrift
doch nicht. Sie repräsentieren nicht alle >den echten Kritizismus <.
Männer wie Wilhelm Wundt und Karl Groos stehen hier anders als
die übrigen Verfasser, und ich will darum die Beiträge dieser zwei
Denker besonders erwähnen, bevor ich die in der Festschrift sonst
herrschenden Gesichtspunkte diskutiere.
1. Es ist ein großes Zeugnis von der bleibenden Bedeutung
der Grundgedanken des deutschen Idealismus, daß ein Forscher wie
Wilhelm Wundt, einer der bedeutendsten von den Männern, die
die Philosophie in unseren Tagen von der Naturwissenschaft erobert
hat, zu dieser Festschrift fur den Geschichtsschreiber jenes Idealis-
mus einen Beitrag geliefert hat. Durch sinnesphysiologische und
erkenntnistheoretische Fragen wurde Wundt zuerst zur Philosophie
geführt. Und wenn er (z.B. in der Vorrede zu seiner Ethik) sagt,
daß die Grundgedanken des deutschen Idealismus mit der vergäng-
lichen Form, in die sie zuerst gekleidet wurden, ihre Bedeutung nicht
verloren haben, dann hat er in der prachtvollen Reihe seiner Werke
gute Gründe für diese Erklärung gegeben. An einer anderen Stelle
habe ich zu zeigen versucht, daß Wundts Bedeutung besonders in
der vorbereitenden Arbeit besteht, durch die er sich den Grenzfragen
des Denkens nähert. Die Abhandlung, die seinen Beitrag zur Fest-
schrift ausmacht, behandelt eben ein Teil dieser vorbereitenden Ar-
beit, indem sie die Psychologie und ihre Stellung in unseren Tagen
bespricht.
Wundt betrachtet die Psychologie als ein Zwischenglied zwischen
der Philosophie und den Einzel Wissenschaften. Es gab Zeiten, wo
man sie als einen Teil der speculativen Philosophie betrachtete ; dies
war der Fall in der Zeit des deutschen Idealismus. Erst als die
Zeit der speculativen Systeme vorüber war, konnte die Selbständig-
keit der Psychologie der Philosophie gegenüber behauptet werden.
I*
4 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Später hat man sie ganz unter die Naturwissenschaften rechnen
wollen. Sie hat aber ihre Selbständigkeit darin, daß die Beobach-
tung der psychischen Erscheinungen, die für die Physiologie nur
Mittel oder Symptom ist, für die Psychologie Zweck ist Dies zeigt
sich besonders durch die Bedeutung, welche die subjektiven Maß-
bestimmungen und ihre Schwankungen für die Psychologie haben,
und ganz besonders in den Untersuchungen über den zeitlichen Ver-
lauf der psychischen Prozesse.
Obgleich sich so die Psychologie für Wundt nach beiden Seiten
abgrenzt, findet er doch, daß sie von diesen beiden Seiten große
Impulse empfangen hat. In diesem Zusammenhang hat besonders
die Einwirkung der Philosophie Interesse. An zwei Punkten findet
Wundt eine solche Einwirkung. In dem auf dem Gebiete der Sinnes-
physiologie geführten Streite zwischen Nativismus und Empirismus
übten die Gesichtspunkte Kants, Schopenhauers und Stuart Mills
großen Einfluß, und die Völkerpsychologie hat einen Vorgänger in
der Lehre Hegels vom > objektiven Geiste <, strebt mit neuen Mitteln
nach dem Ziele, das schon Hegel aufgestellt hat.
Wundt polemisiert gegen die englische > Assoziationspsychologie <,
die doch jetzt kaum einen eigentlichen Kepräsentanten hat. Diese
Richtung huldigte einer Art psychischer Atomistik und löste das
Bewußtseinsleben in selbständige Elemente auf, die nur in rein äußer-
licher Weise mittelst Assoziation in Verbindung gebracht wurden. —
Ich erlaube mir hier die Bemerkung, daß Wundt mit Unrecht hier
und anderwärts mich zu dieser Richtung rechnet. Ich habe niemals
der Assoziationspsychologie angehört. Ich habe immer die soge-
nannten Assoziationsgesetze als spezielle Formen der Synthese be-
trachtet, die für mich (nach dem Vorgange Leibniz' und Kants) die
Grundform der psychischen Energie ist. Es ist auch ein Mißver-
ständnis, daß ich alle Assoziation auf Aehnlichkeitsassoziation zurück-
führe ; ich betrachte die Berührungs- und die Aehnlichkeitsassoziation
als spezielle Fälle des Totalitätsgesetzes, in welchem sich die Ein-
heitlichkeit des Bewußtseins ausdrückt. (Vgl. meine Psychologie.
Dritte deutsche Ausgabe p. 218 f.). —
Karl Groos, der durch eine Reihe verdienstlicher Arbeiten
über Kinderpsychologie und über die Psychologie der Spiele bekannt
ist, hat den Abschnitt über Aesthetik geschrieben. Er unterscheidet
zwischen psychologischer und kritischer Aesthetik : jene konstatiert
die faktischen ästhetischen Zustände und Urteile und sucht >da8
ästhetisch Wirksame< in ihnen aufzuzeigen; diese hat die Aufgabe,
ästhetische Werturteile zu begründen. Groos weicht nun von dem
deutschen Neokritizismus, wie dieser sonst in der Festschrift hervor*
Die Philosopliie am Beginn des 20. Jabrbunclerts. 5
tritt, dadurch ab, daß er die Möglichkeit absoluter Wertent«
Scheidungen entschieden bezeifelt. Jede Beurteilung ruht auf ge-
wissen Voraussetzungen. So großes Gewicht man auch auf den Unter-
schied zwischen psychologischer und kritischer Aesthetik legen will,
80 darf doch, meint Groos, dieser Unterschied nicht so aufgefaßt
werden, als könnte die kritische Aesthetik wirklich zu absoluten Wert-
entscheidungen gelangen. Und diesen Zweifel schränkt er nicht auf
die Aesthetik ein, sondern gibt ihm eine allgemeine erkenntnis-
theoretische Anwendung. Jede letzte Voraussetzung ist eine Hypo-
these und ruht auf einem >Wenn<. Dies hindert nicht, daß wir sie
getrost in unserer Arbeit anwenden können, so lange sie sich als
fruchtbar erweist und ihr von der Erfahrung nicht widersprochen
wird. — Dieser Standpunkt steht in entschiedenem Widerstreit zu
den Anschauungen der meisten anderen Verfasser der Festschrift.
Ich leugne nicht, daß er in meinen Augen den besser begründeten
Anspruch auf den Namen >Kritizi8mus< hat.
Von dem speziellen Inhalt der Groosschen Abhandlung erwähne
ich >die Theorie der inneren Nachahmung <. Wenn wir uns, wie es
heißt, in eine Naturerscheinung oder in ein Kunstwerk einfühlen,
dann geschieht dies nach Groos nicht durch bloß passives Schauen,
sondern es wird ein Streben nach Mitmachen, Mit- oder Nachleben
ausgelöst. Das Einfühlen erscheint so als eine Betätigung des Beob-
achters, als eine Aktivität. Es ist nicht die Meinung des Verfassers,
daß dieses aktive Mitleben die einzige Quelle ästhetischen Genusses
ist, aber er sieht in ihm eine der wichtigsten Erscheinungen der
Psychologie des Aesthetischen überhaupt.
2. Die übrigen Verfasser der Festschrift haben eine gemein-
same Grundanschauung und sprechen sie oft mit ganz gleichen Worten
aus. Windelband ist der Begründer der Art von Neokritizismus,
welcher diesen Standpunkt vertritt. Aber in Rickerts Abhandlung
über Geschichtsphilosophie hat diese Richtung vielleicht ihren be-
deutungsvollsten Ausdruck gefunden, und ich will daher etwas länger
bei diesem Teile der Festschrift verweilen. Es ist ein großer Genuß,
diese wohl durchdachte Abhandlung zu studieren und sie mit der
größeren und sehr interessanten Arbeit (»Ueber die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«), in welcher Rickert eine aus-
führliche Darstellung seiner Ideen gegeben hat, zu vergleichen.
Um die Logik der Geschichtswissenschaft hat Rickert hohe Ver-
dienste. Mit großer Energie behauptet er das Historische als das
Einmalige, als dasjenige, das eine bestimmte Zeit in bestimmter
Weise ausfüllt und niemals in derselben Weise wiederkehrt. Histo-
rische Begriffe sind daher Individualbegriffe — im Gegensatz zu den
6 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Begriffen, die Rickert die naturwissenschaftlichen nennt, deren Inhalt
das Allgemeine, das mehreren größeren oder kleineren Gruppen von
Erscheinungen Gemeinsame ist. Der Gegensstz zwischen Individual-
und Allgemeinbegriffen ist fUr Rickert — wie schon für Windelband
— der größte Gegensatz in der Welt des Gedankens. Er begründet
eine neue Einteilung der Wissenschaften, indem der Gegensatz zwischen
Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft an die Stelle des Gegen-
satzes von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft gesetzt wird.
Das Geschichtliche, was durch keinen Allgemeinbegriff erschöpft
werden kann, macht uns das Dasein irrationell, — bewirkt, daß es
sich auf keine Formel zurückführen läßt, sondern sich stets in neuen
Gestalten offenbart.
Doch würde man Rickert mißverstehen, wenn man die Sache so
auffaßte, als ob einige Gegenstände nur unter die Naturwissenschaft,
andere nur unter die Geschichtswissenschaft gehören sollten. Jeder
Gegenstand kann Elemente zu einem Allgemeinbegriffe abgeben, ob-
gleich er als etwas Individuelles und Einmaliges in seiner Form, zu
seiner Zeit und an seiner Stelle dasteht. Es gibt historische Ele-
mente in der Naturwissenschaft und allgemeine Elemente in der Ge-
schichtswissenschaft. Aber die Richtung ist dort generalisierend, hier
individualisierend. Die Naturwissenschaft sucht die einzelnen Erschei-
nungen unter allgemeine Gesetze zu bringen; sie operiert mit dem
Verhältnis des Einzelnen und des Allgemeinen. Die Geschichtswissen-
schaft will zeigen, wie die einzelnen Erscheinungen zu einem totalen
Entwickelungsgange zusammengehören ; sie operiert mit dem Verhältnis
des Einzelnen und des Ganzen. Diese zwei Verhältnisse dürfen nicht
— wie so oft geschieht — verwechselt werden. Ein historisches Ge-
setz ist eine contradictio in adjecto. Es gibt historische Prozesse und
Totalitäten, aber keine historische Gesetze.
Dies ist doch nur der eine Teil der Logik der Geschichte, wie
Rickert sie entworfen hat. Der andere besteht in dem Satze, daß
die Geschichte eine wertende Wissenschaft ist. Ob sich der einzelne
Historiker dessen bewußt ist oder nicht, — es liegt in dem Heraus-
heben des Gegenstandes seiner Forschung und Darstellung eine Wahl,
die durch einen vorausgesetzten Wert bestimmt wird. Nicht alle
Personen, Begebenheiten oder Völker sind >historisch<, sondern nur
die, die in Relation zu einem Werte, dessen Gültigkeit vorausgesetzt
wird, gestellt werden können. Wenn der Historiker das Wesent-
liche und das Unwesentliche, das Bedeutungsvolle und das Bedeutungs-
lose unterscheidet, dann setzt er einen Wertmesser voraus. Es sind
immer Kulturwerte, die ihn bei seiner Wahl und bei seiner Scheidung
leiten. Die Bedeutung der Personen, der Begebenheiten und der
Die Philoflophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. 7
Völker beruht auf ihrem Verhältnis zu den in Staat, Religion, Kunst,
Wissenschaft oder ökonomischem Wohlstand sich offenbarenden Werten.
— Auch von dieser Seite gesehen tritt die Irrationalität des Daseins
hervor. Denn ebenso wenig wie die ganze Natur der Erscheinungen
in Allgemeinbegriffen erschöpft werden kann, ebenso wenig wird sie
vollständig in den von der Geschichtswissenschaft gebildeten Begriffen
ausgedrückt: wir haben nämlich kein Recht, das von unseren Wert-
gesichtspunkten aus Wesentliche als das Ganze der Wirklichkeit an-
zusehen.
Es ist die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, die absoluten
Werte, die der geschichtlichen Auswahl zugrunde liegen, aufzuzeigen.
Der deutsche Idealismus hat uns einen absoluten Maßstab gegeben,
indem er als den Zweck des Menschenlebens die Einrichtung aller
Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft festgestellt hat. Dieser
Maßstab ist zwar ganz formal ; aber das muß ein absoluter, zeitloser,
ungeschichtlicher Maßstab notwendig sein. Die Prinzipien aller
Wertung, die Grundwerte müssen zeitlos, transcendent sein. Ohne
solche Prinzipien können wir in der Geschichte keine Meinung finden.
— Daraus folgt doch, nach Rickert, nicht, daß wir das Recht hätten,
ein transcendentes Sein anzunehmen (wie Hegel, und in unseren
Tagen Eucken es thun). Jede Bestimmung eines solchen Seins
müßte seinen realen Inhalt aus der Erfahrung holen. Wir können
in der Philosophie nicht weiter kommen, als zu einer höchsten Idee
(in Kants Bedeutung dieses Wortes) , zu einem Prinzip , das wir bei
aller Wertung der geschichtlichen Entwickelung der Wirklichkeit
zugrunde legen können. —
Nach dieser Darlegung des Rickertschen Gedankenganges erlaube
ich mir einige kritische Bemerkungen.
Der Gegensatz zwischen Generalisierung und Individualisierung
ist nicht zureichend als Grundlage einer Einteilung der Wissenschaften.
Denn dieser Gegensatz tritt innerhalb jeder einzelnen Wissenschaft
hervor. Das Interesse, das zur Kant-Laplaceschen Theorie oder zu
Darwins Theorie der Entstehung der Arten geführt hat, ist nicht
weniger naturwissenschaftlich als das Interesse, das zum Newtonschen
Gravitationsgesetz oder zur chemischen Atomtheorie geführt hat. In
der Natur wie in der Geschichte findet jede Begebenheit nur einmal
statt, und Maxwell hat daher mit Recht behauptet, daß der Satz,
daß jede Ursache immer die gleiche Wirkung hat, eigentlich so
lauten sollte: wenn Ursachen nur in Rücksicht auf Zeit und Ort
verschieden sind, sind ihre Wirkungen gleich. Das höchste Ziel der
Naturwissenschaft ist, den großen einmaligen Prozeß, der in unserem
Teile des Weltalls vor sich geht, zu verstehen. Alle allgemeinen
8 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Gesetze der Naturwissenschaft werden zuletzt als Mittel und Wege
zu diesem großen Ziele betrachtet. Daß die Naturwissenschaft vor-
läufig am meisten an der Ausfindung der allgemeinen Gesetze arbeitet,
und noch mitten in dieser Arbeit steckt, ändert an dem prinzipiellen
Verhältnis nichts. Es gibt keinen prinzipiellen, nur einen graduellen
Unterschied in dieser Rücksicht zwischen Naturwissenschaft und
Geschichte. Rickert räumt das ja eigentlich selbst ein, indem er
geschichtliche Elemente in der Naturwissenschaft und generalisierende
Bestrebungen in der Geschichte annimmt; nur will er nicht zu-
gestehen, daß auch für die Naturwissenschaft das Verständnis der
einmaligen Entwickelung das letzte Ziel ist.
Die alte aristotelische Schwierigkeit, daß das wirklich Existierende
immer individuell ist, während unsere Erkenntnis mit Allgemein-
begriffen arbeitet, findet ihre Lösung dadurch, daß das Einzelne, das
Einmalige, die konkrete Realität in der >Natur< und in der >Geschichte<
das Ziel ist, dem sich unsere Erkenntnis durch Analyse, Kritik und
Abstraktion zu nähern sucht. Wir müssen die Elemente und Kräfte
des Daseins einzeln betrachten, wenn wir ihr Zusammenspielen
im großen Weltdrama recht verstehen wollen; darum ist eine vor-
bereitende Arbeit notwendig, und weil die Entwickelung, welche die
Naturwissenschaft zu entdecken hat, weit mehr umfassend ist, und
auf unendlich zahlreicheren Bedingungen ruht, als die menschliche
Entwickelung, welche die Geschichte schildern soll, wird der große,
graduelle Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Geschichte
verständlich. Im Ideal der Wissenschaft werden beide ihre Ströme
vereinigen. Doch wird wohl immer unser Denken in einem irratio-
nalen Verhältnis zur Wirklichkeit stehen, weil wir niemals den un-
endlich konkreten Inhalt des Daseins werden hinreichend bestimmen
und in einem fortlaufenden Prozess einfassen können. Das Symbol
des Daseins wird für uns tc sein.
Schon Comte hat gesehen, daß das Verhältnis zwischen Gene-
ralisation und Individualisation sich durch die ganze Reihe der
Wissenschaften hindurchzieht. Er ordnete die Wissenschaften so,
daß ihre Reihe mit denjenigen begann, in denen allgemeine Begriffe
die grösste Rolle spielen, und sich dann allmählig unter fortschreitender
Spezialisierung fortsetzte. Das erste Glied war die Mathematik, das
letzte die Soziologie (zu welcher er, vielleicht mit Unrecht, die Ge-
schichte rechnete). —
Uebrigens darf man nicht übersehen, daß es zwischen den All-
gemeinbegriffen und den konkreten Individualbegriffen
bedeutungsvolle Zwischenglieder gibt. In einem Allgemeinbegriff
werden unsere Wahrnehmungen einer Menge verschiedener In-
Die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. 9
dividualitäten (Personen, Begebenheiten, Dinge) zusammengefaßt; in
einem konkreten Individualbegriile wird eine einzelne Wahrnehmung
nach ihrem Inhalte zusammengefaßt. Zwischen beiden liegt aber,
was ich den typischen Individualbegriff nenne, in dem eine
ganze Reihe von verschiedenen Wahnehmungen derselben Indivi-
dualität (Person, Begebenheit, Ding) zusammengefaßt werden. Solche
typische Individualbegriife sind die eigentlichen historischen Begriffe,
mögen sie nun Erscheinungen und Prozesse in der > Natur < oder in
der >Geschichte< angehen. Sie stehen nicht im absoluten Gegensatz
zu den Allgemeinbegriffen, sondern ihr Verhältnis zu den einzelnen
Wahrnehmungen ist dem Verhältnisse der Allgemeinbegriffe zu den
einzelnen Individualitäten analog. Eine Individualität kann durch
keine einzelne Wahrnehmung oder durch keinen einzelnen Zustand
ganz charakterisiert werden. Darum sagt schon Leibniz, daß jede
Individualität in dem Gesetze besteht, nach dem ihre Aenderungen
vor sich gehen (La loi de Tordre, la loi du changement fait Tindi-
vidualit^ de chaque substance. Opera philos, ed. Erdmann p. 151).
Der typische Individualbegriff drückt eben ein solches Gesetz
aus, nach dem wir allen Einzelheiten, Elementen oder Zügen einen
bestimmten Platz in dem ganzen individuellen Zusammenhang geben
können. — Mit Unrecht sagt daher Rickert in seinem Buche
>Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung < p. 295:
>Von den Individuen gibt es keine Naturwissenschaft, weil sich
nichts Besonderes mehr ihnen unterordnen läßt, im Ver-
gleich zu dem sie noch als ein allgemeiner Begriff oder als eine
, Natur* aufzufassen wärenc —
Wie Rickert einen zu scharfen Gegensatz zwischen dem All-
gemeinen und dem Einzelnen statuiert, so setzt er auch einen zu
scharfen Gegensatz zwischen den Prinzipien der Wertung (>den ab-
soluten, transcendenten, zeitlosen Werten <) und der Wirklichkeit, die
gewertet werden soll. Kann überhaupt die zeitliche Entwickelung
nach einem zeitlosen Prinzip beurteilt werden? Der Wert, der zu-
grunde gelegt wird, muß selbst in der Zeit erfahren oder erlebt
worden sein, und die Art, wie er aufgefaßt wird, muß das Gepräge
einer bestimmten Zeit haben. Die Wertungsprinzipien oder die
ewigen Werte sollen freilich nach Rickert rein formal sein — aber
dann regt sich eine neue Frage: kann eine Form absoluten
Wert haben, wenn sie nicht der Rahmen eines wertvollen Inhalts
ist? >Vernunft< und >Freiheit< stehen gewiß in erster Reihe —
aber eben als Bedingungen der vollen Entwickelung des Lebensinhalts.
Die höchsten Werte müssen reale Werte sein. Und daraus folgt.
10 Gott. gol. Anz. 1906. Nr. 1.
daß sie in ein näheres Verhältnis zu Erfahrung und zeitlicher Ent-
wickelung treten müssen.
Ich sehe keine Gefahr darin, die Grundwerte, nach denen wir
Handlungen, Personen, Begebenheiten und Institutionen beurteilen,
selbst als iu Entwickelung begriffen aufzufassen. Unsere letzte Hypo-
these könnte hier die sein, daß die Entwickelung dieser Grundwerte
kontinuierlich ist, so daß der eine Grundwert dem anderen nach
einem höheren Gesetze den Platz räumt. Dadurch überwindet man
den Dualismus von Zeit und Zeitlosigkeit , der nicht nur gegen den
klassischen deutschen Idealismus, sondern auch gegen die Art von
Neokritizismus , die wir hier diskutieren, eine der wichtigsten Ein-
wendungen ist. Eine wirklich und konsequent geschichtliche Auf-
fassung muß die Realität des Zeitbegriffes ernst nehmen. Nur
dann können die Wertungsprinzipien einen realen Inhalt bekommen,
so daß wir nicht nur sollen — >ura des SoUens willen«. Freilich,
eine abschließende Wertung können wir dann niemals erreichen.
Aber Rickert räumt in seinem größeren Werke selbst ein, daß wir
die Geschichte nur mit der Geschichte kritisieren können (p. 742),
und daß uns die letzte Bedeutnng der menschlichen Kulturentwicke-
lung »eventuelh ganz unbekannt ist (p. 641).
Nur wenn er den Dogmatismus, dieses Erbe aus der Zeit des
klassischen deutschen Idealismus, abgestreift haben wird, kann der
Neokritizismus eine fruchtbare Fortsetzung jener großen Richtung
sein. Jetzt scheint es oft, als ob der Neokritizismus, wie die fran-
zösischen Emigranten, nichts gelernt und nichts vergessen hätte.
Die Forscherarbeit des letzten Teils des neunzehnten Jahrhunderts
wird eigentlich als eine große Irrung betrachtet. Rickert erklärt,
daß die Philosophie unserer Tage in dem Zeichen der Restauration
steht: es gilt, den Naturalismus, den Kant und seine Nachfolger
nicht überwunden hatten, zurückzudrängen! — Und doch haben wir
von diesem > Naturalismus < so viel, auch was »die Werte < betrifft,
gelernt! Die darwinistische Entwicklungslehre hat uns — welches
auch ihr Schicksal innerhalb der Naturwissenschaft sein wird — ge-
lehrt, das auch das Wertvolle kämpfen muß, um zu bestehen, und
daß die Wertbegriffe in Fleisch und Blut auftreten müssen, wenn
sie wirklichen Einfluß üben sollen. Eine ähnliche Bedeutung hat
Karl Marx' > materialistische < Geschichtsphilosophie. Sie ist — darin
hat Rickert Recht — keine rein theoretische Betrachtung, indem sie,
ohne es selbst zu wissen, mit ethischen Wertbegriffen*) operiert;
1) Rickert hätte sogar zeigen können, daB Marx eigentlich das kantische
Moralprinzip voraussetzt. Vergl. Das Kapital*, I, p. 646: »In der kapitalisti-
achen Produktionsweise ist der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener
Die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. 11
aber sie lehrt uns, daß eine gesunde soziale Entwickelung nicht ohne
eine ökonomische Basis und eine gerechte Verteilung der elementaren
Lebensgüter möglich ist. — Oft lernt man eine bessere Ethik von
dem verachteten Naturalismus als von dem transcendenten Idealismus.
Es ist nicht gut, wenn die Ideen zu hoch über dem Leben schweben.
3. Die Gesichtspunkte, die wir in Rickerts Abhandlung ausführ-
lich entwickelt finden, charakterisieren auch die anderen, noch nicht
erwähnten Beiträge, die durchgehend kürzer sind.
Windelband, der Grundleger der Gedankenrichtung, die den
meisten Beiträgen zur Festschrift ihr Gepräge gibt, hat die Ab-
schnitte über Geschichte der Philosophie und Logik geschrieben.
Es ist sehr interessant, einen Forscher, der selbst so viel auf
dem Gebiete der Geschichte der Philosophie geleistet hat, über dieses
Thema zu hören. Er findet' die Bedeutung der Geschichte der Philo-
sophie darin, daß sie uns'über den engen Horizont der psychologischen
Erfahrung hinausführt und unseren Blick den allgemeingültigen Wahr-
heiten und Werten "eröffnet: > der Mensch als Vemunftwesen ist nicht
naturnotwendi|f^gegeben, sondern historisch aufgegeben«. Ich möchte
hier doch^|pf{^zufügen, daß historische Elemente nicht nur von außen
komm^ sondern daß jeder Mensch solche Elemente in seiner psycho-
*^Wien Erfahrung findet; sie haben sich von Anfang an in sein
"^'ußtsein hineingewebt, und auch ohne eigentliches Studium der
eschichte können die großen Probleme sich erheben. Dann wird
i'reilich ein Drang entstehen, sich an der Geschichte der Probleme
zu orientieren. Und diese historische Orientierung braucht nicht nur
Mittel zu sein; sie hat ihren selbständigen Wert, wie jede geschicht-
liche Betrachtung einen solchen hat. Es ist Hegels Verdienst, die
große Bedeutung der Geschichte der Philosophie sowohl als Mittel
wie als Zweck dargetan zu haben. Ich glaube aber, daß Windelband
ungerecht gegen Fries ist, wenn er ihn in dieser Beziehung in
scharfen Gegensatz zu Hegel stellt. Es war nicht Fries' Meinung,
den Menschen nur als > Natur wesen« aufzufassen. Auch er hebt die
Bedeutung der objektiven Mächte hervor, und in seiner verdienst-
vollen > Geschichte der Philosophie« hat er besonders den Einfluß
der modernen Naturwissenschaft hervorgehoben; er hat z. B. das
Verdienst, auf Galileis Bedeutung für die Wissenschaft und das
Denken der Neuzeit energisch hingewiesen zu haben. —
In dem Abschnitte über Logik macht Windelband mit Recht auf
die hervorragende Stellung aufmerksam, die die Lehre von den Ur-
Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reirlitiim für die Rntwickelangs-
l>edürfnis8e des Arbeiters da.c
10 Öött. gel. Am. 1906. Nr. 1.
daß sie in ein näheres Verhältnis zu Erfahrung und zeitlicher Ent-
Wickelung treten müssen.
Ich sehe keine Gefahr darin, die Grundwerte, nach denen wir
Handlungen, Personen, Begebenheiten und Institutionen beurteilen,
selbst als iu Entwickelung begriffen aufzufassen. Unsere letzte Hypo-
these könnte hier die sein, daß die Entwickelung dieser Grundwerte
kontinuierlich ist, so daß der eine Grundwert dem anderen nach
einem höheren Gesetze den Platz räumt. Dadurch überwindet man
den Dualismus von Zeit und Zeitlosigkeit , der nicht nur gegen den
klassischen deutschen Idealismus, sondern auch gegen die Art von
Neokritizismus , die wir hier diskutieren, eine der wichtigsten Ein-
wendungen ist. Eine wirklich und konsequent geschichtliche Auf-
fassung muß die Realität des Zeitbegriffes ernst nehmen. Nur
dann können die Wertungsprinzipien einen realen Inhalt bekommen,
so daß wir nicht nur sollen — »um des SoUens willen«. Freilich,
eine abschließende Wertung können wir dann niemals erreichen.
Aber Rickert räumt in seinem größeren Werke selbst ein , daß wir
die Geschichte nur mit der Geschichte kritisieren können (p. 742),
und daß uns die letzte Bedeutnng der menschlichen Eulturentwicke-
lung >eventuell< ganz unbekannt ist (p. 641).
Nur wenn er den Dogmatismus, dieses Erbe aus der Zeit des
klassischen deutschen Idealismus, abgestreift haben wird, kann der
Neokritizismus eine fruchtbare Fortsetzung jener großen Richtung
sein. Jetzt scheint es oft, als ob der Neokritizismus, wie die fran-
zösischen Emigranten, nichts gelernt und nichts vergessen hätte.
Die Forscherarbeit des letzten Teils des neunzehnten Jahrhunderts
wird eigentlich als eine große Irrung betrachtet. Rickert erklärt,
daß die Philosophie unserer Tage in dem Zeichen der Restauration
steht: es gilt, den Naturalismus, den Kant und seine Nachfolger
nicht überwunden hatten, zurückzudrängen! — Und doch haben wir
von diesem >Naturalismus< so viel, auch was »die Werte< betrifft,
gelernt! Die darwinistische Entwickelungslehre hat uns — welches
auch ihr Schicksal innerhalb der Naturwissenschaft sein wird — ge-
lehrt, das auch das Wertvolle kämpfen muß, um zu bestehen, und
daß die Wertbegriffe in Fleisch und Blut auftreten müssen, wenn
sie wirklichen Einfluß üben sollen. Eine ähnliche Bedeutung hat
Karl Marx' > materialistische« Geschichtsphilosophie. Sie ist — darin
hat Rickert Recht — keine rein theoretische Betrachtung, indem sie,
ohne es selbst zu wissen, mit ethischen Wertbegriffen*) operiert;
1) Rickert hätte sogar zeigen können, daB Marx eigentlich das kantische
Moralprinzip voraussetzt. Yergl. Das Kapital^ I, p. 646: »In der kapitalisti-
schen Produktionsweise ist der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener
Die Phflosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. 11
aber sie lehrt uns, daß eine gesunde soziale Entwickelung nicht ohne
eine ökonomische Basis und eine gerechte Verteilung der elementaren
Lebensgüter möglich ist. — Oft lernt man eine bessere Ethik von
dem verachteten Naturalismus als von dem transcendenten Idealismus.
Es ist nicht gut, wenn die Ideen zu hoch über dem Leben schweben.
3. Die Gesichtspunkte, die wir in Rickerts Abhandlung ausführ-
lich entwickelt finden, charakterisieren auch die anderen, noch nicht
erwähnten Beiträge, die durchgehend kürzer sind.
Windelband, der Grundleger der Gedankenrichtung, die den
meisten Beiträgen zur Festschrift ihr Gepräge gibt, hat die Ab-
schnitte über Geschichte der Philosophie und Logik geschrieben.
Es ist sehr interessant, einen Forscher, der selbst so viel auf
dem Gebiete der Geschichte der Philosophie geleistet hat, über dieses
Thema zu hören. Er findet die Bedeutung der Geschichte der Philo-
sophie darin, daß sie uns über den engen Horizont der psychologischen
Erfahrung hinausführt und unseren Blick den allgemeingültigen Wahr-
heiten und Werten eröffnet: > der Mensch als Vemunftwesen ist nicht
naturnotwendig gegeben, sondern historisch aufgegeben«. Ich möchte
hier doch hinzufügen, daß historische Elemente nicht nur von außen
kommen, sondern daß jeder Mensch solche Elemente in seiner psycho-
logischen Erfahrung findet; sie haben sich von Anfang an in sein
Bewußtsein hineingewebt, und auch ohne eigentliches Studium der
Geschichte können die großen Probleme sich erheben. Dann wird
freilich ein Drang entstehen, sich an der Geschichte der Probleme
zu orientieren. Und diese historische Orientierung braucht nicht nur
Mittel zu sein; sie hat ihren selbständigen Wert, wie jede geschicht-
liche Betrachtung einen solchen hat. Es ist Hegels Verdienst , die
große Bedeutung der Geschichte der Philosophie sowohl als Mittel
wie als Zweck dargetan zu haben. Ich glaube aber, daß Windelband
ungerecht gegen Fries ist, wenn er ihn in dieser Beziehung in
scharfen Gegensatz zu Hegel stellt. Es war nicht Fries' Meinung,
den Menschen nur als >Naturwesen« aufzufassen. Auch er hebt die
Bedeutung der objektiven Mächte hervor, und in seiner verdienst-
vollen > Geschichte der Philosophie« hat er besonders den Einfluß
der modernen Naturwissenschaft hervorgehoben; er hat z. B. das
Verdienst, auf Galileis Bedeutung für die Wissenschaft und das
Denken der Neuzeit energisch hingewiesen zu haben. —
In dem Abschnitte über Logik macht Windelband mit Recht auf
die hervorragende Stellung aufmerksam, die die Lehre von den Ur-
Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reiclitiim für die Rntwickelangs-
bedürfnisse des Arbeiters da.c
12 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 1.
teilen in der neueren Logik einnimmt. Begriflfe werden nur als
Elemente oder Resultate von Urteilen, Schlüsse als Kombinationen
von Urteilen aufgefaßt. Ferner weist er auf die durch Sigwart und
Lotze durchgeführte Simplifizierung und Reduktion der alten Urteils-
lehre. Hier hätten Maimon und Herbart als bahnbrechende Vorgänger
erwähnt werden sollen.
Dem logischen Algorithmus gegenüber scheint mir Windelband
nicht gerecht zu sein. Das große Werk Booles, das ein so interessantes
Licht auf das Verhältnis von Logik und Mathematik wirft, wird gar
nicht erwähnt, und doch ist hier eine weit bedeutungsvollere Arbeit
getan als in William Hamiltons >Quantifikation des Prädikats«. Es
ist auch nicht so, wie es nach Windelbands Darstellung scheinen
könnte, daß der logische Algorithmus immer den Umfang der Begrifife
zugrunde gelegt hat. In seinen logischeD Arbeiten hat Jevons einen
bedeutungsvollen Versuch gemacht, den InJiaJt der Begrifife zugrunde
zu legen, während die Logik mit Aristoteles den Umfang bevorzugt
hat (Leibniz macht nur eine Ausnahme). —
Ein in vielen Rücksichten feiner und interessan*^ Beitrag ist
die Abhandlung von Tröltsch über Religionsphilosophiö. Sie gibt
gute Charakteristiken der verschiedenen Richtungen des riÄligiösen
Denkens der Gegenwart. Selbst sucht sie auf dem Grundgedanken
des Neokritizismus, wie wir diesen schon kennen, zu bauen ; nur ^ß^
Tröltsch nicht, wie Windelband und Rickert, das transcendente Sei^
aufgeben, um sich an den transcendenten Werten zu halten. Er
steht in dieser Beziehung Eucken nahe. Auch betont er noch
stärker als jene Forscher den Unterschied zwischen Erkenntnistheorie
und Psychologie. Er Schließt aus diesem Unterschied, der bei ihm zu
einem wahren Dualismus wird, daß das Denken in seinen Normen
dem Naturlaufe frei gegenübersteht. Aber wir sind doch alle, selbst
wenn wir unsern höchsten, den Naturlauf prüfenden und wertenden
Gedanken denken, selbst in einem bestimmten psychischen Zustande,
stehen also mitten im Naturlaufe! Und geschichtlich finden wir
immer auch eine Wechselwirkung zwischen den Normen der Wertung
und den faktischen Zuständen. Unser Denken kann sich über das
Gegebene erheben, aber wie Antaios holt es immer wieder seine
Energie von der Berührung mit dem festen Boden der Natur.
An mehreren Stellen der Abhandlung merkt man, daß man einen
Theologen, keinen reinen Philosophen vor sich hat. Der Kritizismus
bietet immer, selbst wenn er noch so dualistisch aufgefaßt wird,
große Schwierigkeiten für den Theologen dar. Denn der Kritizismus
verwirft allen Anthropomorphismus, jeden Versuch, das >Intelligible<
in menschlichen Formen zu denken. Tröltsch glaubt, daß man hier
Die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts. 13
zwischen Anthropomorphismus und > Personalismus« unterscheiden
muß. Aber wir kennen ja doch nur persönliches Leben vom Menschen
her, und müssen darum jede Persönlichkeit in Formen menschlicher
Psychologie verstehen ! — Femer sucht Tröltsch für die Begriffe der
Offenbarung und des Wunders einen Platz offen zu halten. Und er
findet dies möglich, wenn man nur nicht diese Begriffe in > äußer-
licher« Weise auffaßt. Es ist aber nicht leicht zu verstehen, welcher
Modifikation diese Begriffe unterworfen werden können, wenn etwas
mehr als die bloßen Worte zurückbleiben sollen. — Das eigentliche
Motiv für die konservative Haltung Tröltschs auf diesem Punkte ist
sein Interesse für die soziale Seite der Religion. Nur in einer Ge-
meinschaft mit absoluten, positiven, über das Schwanken der geschicht-
lichen Entwickelung und über das Chaos der individuellen Meinungen
erhobenen Normen kann nach ihm die Religion Existenz und Be-
deutung haben. In dem Individualismus sieht er ein Zeichen der
Auflösung. Er hofft auf ein neues, freieres religiöses Leben, eine neue
religiöse Entwickelung, und er hofft ferner, daß das Neue innerhalb
der Kirche entspringen wird; nur dann, meint er, wird die not-
wendige > elementare Kraft« in den Dienst des Neuen treten können.
Es wäre interessant gewesen, wenn Tröltsch diesen letzten Gedanken
näher entwickelt hätte. Ich finde ein Hauptmoment des religiösen
Problems der Jetztzeit darin, ob die ernste und innerliche geistige
Konzentration für das persönliche Leben erhalten werden kann, wenn
der kirchliche Glaube in seiner überlieferten Form aufgegeben ist.
Ich finde leider keine Anzeichen, daß die Kirche sich so fortbilden
wird, daß neue, freie Richtungen sich aus ihr entwickeln könnten. —
Auch in Lasks Abhandlung über Rechtsphilosophie liegen die
uns jetzt hinlänglich bekannten Prinzipien zugrunde. In der ersten
Abteilung seiner Arbeit behauptet Lask den Dualismus von Wert
und Wirklichkeit, besonders im Gegensatz zur rationalen, platoni-
sierenden Metaphysik, die die überempirischen Werte zu realen
Mächten hypostasieren will, aber auch im Gegensatz zum Historismus,
der Wert und empirisches Bestehen vermischt. — In der zweiten
Abteilung wird dann das Verhältnis zwischen der faktischen Kultur
und dem faktischen Recht auf der einen Seite, den idealen Kultur-
werten auf der anderen Seite untersucht. Es wird ein scharfer
Unterschied behauptet zwischen der sozialwissenschaftlichen und der
streng rechtlichen Betrachtungsweise, und gegen die Vermischung
beider in der sogenannten > allgemeinen Rechtslehre < polemisiert. —
Was endlich Bruno Bauchs Abhandlung über Ethik betrifft,
kann ich nicht umhin zu sagen, daß sie für mich ein Beispiel ist,
wie man über Ethik nicht schreiben soll. Der größte Teil der Ab*
14 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
handluDg besteht aus einer Polemik gegen Naturalismus, Utilitaria-
nismus und Nitzscheanismus, einer Polemik, die teils den Charakter
einer Predigt, teils den einer Earrikierung hat. Doch meint der
Verfasser einen Bundesgenossen gegen den Utilitarianismus in Nietzsche
zu finden, obgleich dieser die kantische Moral eben so stark als die
utilitarische angegriffen und verhöhnt hat — und selbst eigentlich ein
Utilitarianer im großen Stil ist. — Der Verfasser behauptet den
rein formalen Maßstab des Ethischen, den wir schon im vorher-
gehenden getroffen haben: wir sollen wollen >um des Solleos willen € !
Daraus folgt als einfache Konsequenz, daß »der Inhalt der Handlung
selbst ganz gleichgültig gegen ihren Wert ist«. Weiter kann man
den Dualismus von Wert und Wirklichkeit, Form und Inhalt nicht
treiben. Charakteristisch für diese Art von Ethik ist es besonders,
daß jede Rücksicht auf die Wirkungen der Handlungen abgewiesen
wird. Man schwebt in den Wolken, und ob die >empirische< Welt
durch die Handlungen, die wir unternehmen (wenn wir der Erde so
nahe kommen, daß wir überhaupt einen Einfluß auf sie üben können),
stehe oder falle, das soll ganz gleichgültig sein! — Dieser ganzen
Auffassung liegt nicht nur der jetzt hinlänglieh besprochene Dualis-
mus von Wert und Wirklichkeit zugrunde, sondern bereits eine
künstliche Umkehrung des natürlichen Verhältnisses zwischen den
drei Begriffen Wert, Zweck und Norm. Nur was ich in der Wirk-
lichkeit als Wert erfahre, kann ich (wenn es nicht mein unmittel-
bares Los ist) als meinen Zweck aufstellen, und die Norm gibt
dann die Mittel und Wege an, mittelst welcher ich den Zweck werde
erreichen können. Dies ist der natürliche und rationelle Platz der
Norm auf den höchsten Gebieten, wie auf den niedrigsten. Kant
tat einen schicksalsschweren Schritt, als er mit der Norm anfangen
wollte, und Zwecke und Werte aus ihr abzuleiten versuchte. Diese
Ableitung ist einfach unmöglich, und was der große Meister nicht
vermocht hat, ist auch den Neokritizisten nicht gelungen; sie haben
es nicht einmal versucht.
Kopenhagen. Harald Höffding.
üntennolisiiten sar Gegenstandstheorie und Psychologie. Herausgegeben von
A. Mein on g. Leipzig, J.A. Barth, 1904. X, 634 S. M. 18.
Zum zehnjährigen Bestände des psychologischen Laboratoriums
der Universität Graz hat Meinong mit seinen Schülern ein stattliches
Buch herausgegeben, das elf philosophische und psychologische Ab-
bandlungen umfaßt und einen erfreulichen Einblick gewährt in das
üntersuchimgeii zur GegcDStandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 16
rege wissenschaftliche Leben in den Grazer »philosophischen Instituten«.
Wenn wir im folgenden den Versuch machen, die einzelnen Arbeiten
kritisch zu betrachten und den Ertrag zusammenzufassen, der aus
ihnen unserm pl^losophischen Denken und Erkennen zu erwachsen
scheint, so muß im Voraus betont werden, daß alle Kritik im einzelnen
der Schätzung des ganzen keinen Abbruch thun soll. Unsere Schätzung
der philosophischen Arbeit Meinongs und seiner Schule ist unabhängig
von der Stellungnahme, zu der wir gegenüber dem oder jenem Er-
gebnis derselben glauben gelangen zu müssen, und die wissenschaft-
liche Liberalität, die gerade im Meinongschen Kreise herrscht, ver-
dient es wohl, durch offene sachliche Kritik respektiert zu werden.
In diesem Sinne wollen die folgenden Betrachtungen, die jeweils
mit den Titeln der behandelten Arbeiten bezeichnet werden sollen,
aufgenommen sein.
Ueber Gegenstandstheorie. Von A. Meinong. S. 1—50.
Beiträge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie. Von
Dr. Rudolf Ameseder. S. 51—120.
Untersuchungen zur Gegenstandtstheorie des Messens. Von
Dr. Ernst Mally. S. 121—262.
Die ersten drei Beiträge der Meinongschen Untersuchungen, be-
schäftigen sich mit der Begründung einer neuen Wissenschaft, der
Gegenstandstheorie, und sollen daher im Zusammenhang besprochen
werden. Dabei liegt es jedoch in der Natur der drei von Meinong,
Ameseder und Mally verfaßten Abhandlungen, von denen die erste
eine allgemeine Grundlegung, die letzteren etwas speziellere Aus-
führungen zur Gegenstandstheorie enthalten, daß wir zunächst die
prinzipiellen Darlegungen Meinongs ins Auge fassen müssen, wobei
freilich schon gelegentlich abweichende Definitionen der beiden anderen
Autoren zu erwähnen sind. Auf der so gewonnenen Basis können
dann die Detailausführungen Ameseders und Mallys ihre Würdigung
finden.
Wenn es sich um die Begründung einer neuen Wissenschaft
handelt, dann erhebt sich zunächst die Frage, ob durch die betreffende
Wissenschaft unsere Erkenntnis bereichert wird oder ob nur das
schon vorhandene Wissen einen besonderen Zusammenschluß findet.
Betrachten wir im Hinblick darauf die Gegenstandtstheorie, so
können wir ohne weiteres konstatieren, daß eine Bereicherung unseres
Wissens durch dieselbe nicht herbeigeführt wird. Mit der entgegen-
gesetzten Auffassung Meinongs haben wir uns zunächst auseinander-
zusetzen.
16 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Meinong bezeichnet die Gegenstandstheorie als diejenige Wissen-
schaft, die es mit der theoretischen Behandlung des Gegenstandes
als solchen zn thun hat. Was man unter dem Begriff > Gegenstand«
zu denken hat, wird durch den Hinweis auf das eigentämliche >auf
etwas Gerichtetsein« aller oder jedenfalls der meisten psychischen
Vorgänge dargethan. Das > Etwas« nämlich, welches beim Vorstellen,
Urteilen, Annehmen u. s. w. erfaßt wird, ist nach Meinong der
Gegenstand. Entsprechend definiert auch Ameseder > Gegenstand«
als das >Erfaßte, was mit dem erfassenden Psychischen nicht, auch
nicht teilweise identisch ist«. Und Mally sagt ganz kurz: > Alles,
was etwas ist, ist ein Gegenstand.« Bei dieser Bestimmung des Be-
griffs >Gegen8taDd« werden wir es begreiflich finden, wenn uns er-
klärt wird, daß die Summe der Gegenstände nicht mit dem Inbegriff
der Wirklichkeit zusammenfällt, daß also die Gegenstandstheorie
weder mit der Summe der einzelnen Wissenschaften vom Wirklichen
noch mit der allgemeinen Wirklichkeitswissenschaft, der Metaphysik
zusammenfallt. Wir werden infolgedessen auch die Idee einer neuen
Wissenschaft berechtigt finden, welche die Gegenstände ohne Rück-
sicht auf ihre wirklichen Eigenschaften, Funktionen und Beziehungen,
ohne Rücksicht auf Existenz und Nichtexistenz nur hinsichtlich der-
jenigen Eigentümlichkeiten untersucht, die sie als Gegenstände des
Erkennens besitzen. Die Beschaffenheit möglicher Denkgegenstände
und die Gesetzmäßigkeiten, die sich zwischen solchen konstatieren
lassen, würden vor allem von einer derartigen Wissenschaft zu er-
forschen sein. Ebendies ist aber bereits das Arbeitsgebiet ganz be-
stimmter Wissenschaften, nämlich der Logik und der Mathematik.
Wenn daher Meinong nur beabsichtigen würde, diese Wissenschaften
unter dem neuen Namen »Gegenstandstheorie« zusammenzufassen, so
ließe sich dagegen nicht viel einwenden.
Aber die Absicht Meinongs und seiner Schüler geht viel weiter.
Weder soll die Mathematik die mathematischen Gegenständen gegen-
über mögliche Gegenstandstheorie überhaupt darstellen, noch soll
sich die Gegenstandstheorie auf Mathematik und Logik beschränken.
Was den ersten Punkt anlangt, so erfahren wir, daß der Mathematik
als spezieller Gegenstandtstheorie eine allgemeine Gegenstandstheorie
gegenübertrete, und hinsichtlich des zweiten Punktes wird uns mit-
geteilt, daß die Gegenstandstheorie auch Gegenstände wie das >runde
Vierecke in den Kreis ihrer Untersuchungen zieht, Gegenstände, die
von der Mathematik und von der Logik verschmäht werden. Da-
gegen sei nun vor allem bemerkt, daß die Beschäftigung mit der-
artigen Gegenständen kaum eine ersprießliche Erweiterung unserer
Kenntnisse ergeben wird, daß sie vielmehr geeignet scheint, die
Untersachuogen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 17
Philosophie auf einen Standpunkt zurückzubringen, den man heut-
zutage zum Glück größtenteils überwunden hat. Ein Satz, wie der
YonAmeseder (p. 63) produzierte: >£in rundes Viereck, welches ist,
wäre nioht nur nicht, sondern es wäre sit venia verbo als etwas, was
kein Gegenstand ist, zu bezeichnen« — ein solcher Satz sollte von
einem Philosophen der Gegenwart besser vermieden werden, und
Spekulationen gegenüber, die zu derartigen Resultaten führen, kann
man sich eines gewissen Mißtrauens nicht erwehren.
Doch dies nur nebenbei. Es ist sicherlich nicht Meinongs Ab-
sicht, im Reich unmöglicher Denkgegenstände neue Erkenntnisse zu
suchen. Wichtiger ist ihm wohl der Nachweis, den er führen zu
können glaubt, daß Logik und Mathematik die Behandlung der mög-
lichen Denkgegenstände nicht erschöpfen. Es fragt sich daher haupt-
sächlich, ob wir dies zugeben dürfen. Berücksichtigen wir die Tat-
sache, daß der einzelwissenschaftlichen Mathematik eine Philosophie
der Mathematik gegenübergestellt worden ist, so scheint dies anfäng-
lich vidleicht zu gunsten der Meinongschen Behauptung zu sprechen.
Aber wenn wir die Philosophie der Mathematik näher betrachten, so
löst sie sich auf in Logik und Erkenntnistheorie. Bringen wir davon
in Abzug, was ins Gebiet der Psychologie gehört, so behalten wir
gegenstandstheoretische Gedankengänge übrig, wie sie uns aus logi-
schen Untersuchungen bekannt sind, sofern nicht allgemeinste mathe-
matische Formulierungen zurückbleiben, die trotz aller Allgemeinheit
eben doch immer noch zur Mathematik gehören.
Nun bestreitet Meinong freilich, daß gegenstandstheoretische
Untersuchungen überhaupt in die Logik gehören und zwar scheint
er diese Behauptung in dem Sinn für umkehrbar zu halten, daß die
gewöhnlichen logischen Ueberlegungen nichts mit Gegenstandstheorie
zu tun haben sollen. Wenigstens erklärt er in einer Auseinander-
setzung mit Husserl, daß die »reine Logik <, die mit > Begriffen«,
> Sätzen« und »Schlüssen« sich beschäftige, schließlich doch nichts
anderes als intellektuelle Vorgänge zum Gegenstand habe.
Wäre dies nun richtig, so würden wir nichtsdestoweniger daran
festhalten, daß die Philosophie der Mathematik nur so viel Gegen-
standstheorie enthalte, als Gegenstandstheoretisches in Mathematik
und Logik gefunden werden kann. In dieser Ansicht können uns
auch die Beispiele nicht irre machen, die Meinong anführt, um zu
zeigen, wie auf außermathematischem (und außerlogischem) Gebiet
Gtogenstandstheorie betrieben werden könne. Als derartiges Beispiel
findet sich zunächst der Hinweis auf die Behandlungsweise »more
mathematico« nichtmathematischer Wissenschaften, ein Hinweis, der
freilieb zu allgemein und unbestimmt ist, um besonders aufklärend
0Mi fri. Am. im. Xr. L 2
18 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
ZU wirken. Doch dem läßt sich ja abhelfen. Denken wir an dus
klassische Beispiel mathematischer Darstellungsweise auf nichtmathe-
matischem Gebiet, an Spinozas Ethik, so können wir konstatieren,
daß das, was der Mathematik eigentümlich ist, die Beschäftigung
mit Zahlen und Größen, hier wegfällt. Was erhalten bleibt, ist
lediglich das Logische, das freilich in der Mathematik besonders
scharfe Ausprägung gefunden hat, das aber jedenfalls der Mathematik
nicht spezifisch zukommt. Definitionen, Lehrsätze und deduktive
Beweise — das ist doch nichts anderes als angewandte Logik, und
wenn Meinong die Beschäftigung mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen
für etwas anderes als Gegenstandstheorie hält, dann darf er doch
nicht in einem Werk wie Spinozas Ethik einen Beitrag zur Gegen-
standstheorie sehen.
Als zweites Beispiel für den Betrieb gegenstandstheoretischer
Forschung auf außermathematischem Gebiet erwähnt Meinong die
Uebertragung geometrischer Betrachtungsweisen vom Raum auf die
Zeit oder die > Bemühungen der modernen Psychologie, die den ver-
schiedenen Sinnen zugehörigen , Enipfindungsgegenstände ' zu ordnen
und ihre Mannigfaltigkeiten wo möglich durch räumliche Abbildung
zu erfassen«. Hier liegt die Sache für uns womöglich noch einfacher.
Die Darstellung irgend welcher Verhältnisse in räumlichen Figuren
und die Schlußfolgerungen, welche aus den geometrischen Eigen-
schaften dieser Figuren gezogen werden, um wieder andere Verhält-
nisse zu symbolisieren — das ist teils richtige Geometrie, teils kann
es zum Gegenstand werden für eine Theorie der Zeichen, die wir
ihrerseits unbedenklich der Logik zurechnen.
Nun haben wir es bisher dahingestellt sein lassen, ob Meinong
recht hat oder nicht, Logik und Gegenstandstheorie so schroff aus-
einanderzuhalten. Man kann aber wohl den Nachweis führen, daß
eine solche Scheidung unberechtigt ist. Denn daß Begriffe, Urteile,
Schlüsse nicht psychische Vorgänge sind, das ergibt sich ohne weiteres
daraus, daß die Begriffe ihrem ^esen nach unveränderliche, die Vor-
stellungen dagegen wechselnde und vergängliche Gegenstände sind,
sowie daraus, daß die Gesetze der Urteile und Schlüsse keine Not-
wendigkeiten des Urteilens und Schließens sind, in welch letzterem
Fall ja jeder Irrtum ausgeschlossen wäre. Es fragt sich also nur,
ob von Begriffen, Urteilen und Schlüssen dadurch, daß sie als etwas
Nichtpsychisches und selbstverständlich auch Nichtphysisches erwiesen
sind, die Zugehörigkeit zur Gegenstandstheorie auch schon feststeht.
Um dies zu entscheiden, müssen wir uns die Motive klar machen,
die zur Proklamierung der Gegenstandstheorie als eigener Wissen-
schaft Veranlassung geben. Es handelt sich dabei fUr Meinong
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 19
eigentlich nur um die Koiustatienmg eines Arbeitsgebietes, welches
zwischen dem Arbeitsgebiet der Naturwissenschaft und der Psycho-
logie als neutrale Zone liege und bisher nicht die richtige Würdigung
gefunden habe, besonders auch von der allgemeinen Wirklichkeits-
wissenschaft, der Metaphysik, nur ohne rechte Befugnis in Angriff
genommen worden sei. Daraus ergibt sich wohl deutlich genug, daß
vor allem Gegenstände , wie die Begriffe , Urteile und Schlüsse , die
weder ins Reich der physischen noch in das der psychischen Wirk-
lichkeit gehören, von der Gegenstandstheorie aufgenommen werden
Nun erhebt sich allerdings die Frage, ob auf diese Weise die
Gegenstandstheorie nicht einfach ein mixtum compositum aller der-
jenigen Untersuchungen wird, die anderwärts sich nicht unterbringen
lassen. Das wäre sicherlich nicht im Sinne Meinongs, der, wenn wir
ihn recht verstehen, die Gegenstandstheorie als eine ganz bestimmte
Wissenschaft mit einheitlichem Charakter auffaßt. Suchen wir uns
daher im folgenden darüber klar zu werden, ob und wie ein einheit-
licher Charakter der Gegenstandstheorie mit dem, was wir bis jetzt
darüber erfahren und festgestellt haben, vereinbar erscheint.
Wir haben konstatiert, daß vor allem die Begriffe im Sinn der
Wortbedeutungen zum Arbeitsgebiet der Gegenstandstheorie gehören.
Wenn wir nun ebenso berechtigt wären, zu sagen, das Arbeitsgebiet
der Gegenstandstheorie gehe in den Begriffen auf, dann würden wir
über das Wesen dieser Wissenschaft schnell ins Reine kommen.
Sehen wir also zu, was einer solchen Behauptung im Wege steht!
Da könnte man vor allem darauf hinweisen, daß als Denkgegen-
stände auch die Elemente der Wirklichkeit in Betracht kommen. Sie
werden dadurch, daß ein Gedanke sich auf sie richtet, nicht zu Be-
griffen. Sie bleiben Realitäten mit realen Eigenschaften. Aber
diese Eigenschaften kommen doch auch für die Gegenstandstheorie
gar nicht in Betracht. Die Gegenstandstheorie hat es, wie wir oben
sahen, mit dem zu tun, was den Gegenständen als Denkgegenständen
zukommt und in dieser Hinsicht kommt den Bestandteilen der Wirk-
lichkeit eben nichts zu.
Hier muß nun freilich erwähnt werden, daß Meinong die Auf-
gabe der Gegenstandstheorie nicht ganz so bestimmt, wie wir dies
getan haben. Er betont vielmehr, daß zur Unterscheidung der
Gegenstandstheorie und der Wirklichkeitswissenschaften nicht die Rück-
sicht auf Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit der Gegenstände, sondern
nur ein methodologischer Gesichtspunkt in Betracht komme, in dem
die Gegenstandstheorie eine apriorische, die Wirklichkeitswissenschaft
eine aposteriorische Disziplin sei. Gegen diese Bestimmung ließe
2*
20 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
sich so manches einwenden. Wir können dies hier jedoch um so
eher unterlassen, als eine Schwierigkeit fUr unsern OedankengaDg
durch die in Rede stehende Auffassung Meinongs nicht herbeigefiihrt
wird. A priori können wir ja nicht einmal wissen, daß überhaupt
eine Wirklichkeit existiert. Infolgedessen hat die Oegenstandstheorie
als apriorische Wissenschaft mit wirklichen Objekten jedenfalls nichts
zu schaffen.
Nachdem wir so die Wirklichkeit ausgeschaltet haben als etwas,
was nicht zum Arbeitsgebiet der Gegenstandstheorie gehört, fragt es
sich nur, ob nicht außer den Begriffen noch anderes Nichtwirkliches
für die Gegenstandstheorie in Betracht kommt. Wenn Meinong hier
etwa die Gegenstände der Grammatik namhaft machen wollte, von
der er behauptet, daß >die allgemeine Oegenstandstheorie von ihr
in ähnlicher Weise zu lernen habe, wie die spezielle Gegenstands-
theorie von der Mathematik lernen kann und soll<, so wäre dem
entgegenzuhalten einerseits, daß die Wörter und Wortverbindungen,
mit denen sich die Grammatik beschäftigt, Wirklichkeiten sind,
andererseits, daß a priori nichts darüber zu erkennen ist.
Schwieriger wird die Sachlage, wenn man uns darauf hinweist,
daß Zahlen, Größen u. s. w. keine Begriffe sind oder allgemeiner, daß
bei Begriffen von idealen Objekten nicht nur die Begriffe, sondern
auch die Objekte von der Gegenstandstheorie zu behandeln sind.
Man könnte diesem Einwand gegenüber auf den Gedanken kommen,
zu behaupten, daß bei idealen Gegenständen Begriff im Sinn von
Bedeutung und > gemeintes« Objekt zusammenfallen. Aber eine ein-
fache Prüfung ergibt, daß diese Behauptung nicht haltbar ist. Wäre
sie nämlich richtig, dann müßten dieselben Prädikate auf ideale
Gegenstände und auf Begriffe sich anwenden lassen. Nun sprechen
wir wohl von einer geraden Linie, aber nicht von einem geraden
Begriff, wohl von einem allgemeinen Begriff, aber nicht von einer
allgemeinen Linie u. s. w. Unser Versuch , das Arbeitsgebiet der
Gegenstandstheorie auf die Begriffe einzuschränken, ist daher als
fehlgeschlagen zu betrachten.
Aber wenn es nicht möglich ist, die idealen Gegenstände den
Begriffen zu subsumieren, so wäre es vielleicht nicht ausgeschlossen,
die Begriffe als eine Unterart der idealen Gegenstände zu betrachten
und die Gegenstandstheorie als diejenige Wissenschaft zu bestimmen,
die es mit der Bearbeitung der idealen Gegenstände schlechthin zu
tun hat. Um dies zu entscheiden, muß vor allem über das Wesen
des Begriffs Klarheit geschaffen werden. Wir haben bereits darauf
hingewiesen, daß der Begriff nicht verwechselt werden darf mit der
den Gegenstand erfassenden Vorstellung und daß er in keinem Fall
üntennchangen zor Gegenstandstheorie and Psychologie, hrs. von Meinong. 21
mit dem erfaßten Gegenstand identisch ist. Unter einem Begriff
kann somit kaum noch etwas anderes verstanden werden als die Be-
ziehung zwischen dem Wort oder allgemeiner zwischen dem Zeichen
und dem damit gemeinten Gegenstand. Diese Beziehung ist aber
sicherlich keine Realität und wir sind daher offenbar berechtigt, die
Begriffe als ideale Gegenstände zu betrachten.
Daß außer den Begriffen noch andere ideale Gegenstände wie
Größen und Zahlen in die Gegenstandstheorie gehören, ist durch
den Hinweis auf den gegenstandstheoretischen Charakter der Mathe-
matik bereits dargetan. Es fragt sich also nur noch, ob auch wirk-
lich alle idealen Gegenstände von Seiten der Gegenstandstheorie an-
gemessene Behandlung finden können, und um hierüber ins Reine zu
kommen, können wir eine nähere Bestimmung der idealen Gegen-
stände nicht unterlassen. Wir knüpfen dabei an an die kurze Er-
örterung Ameseders über reale und ideale Gegenstände in der
zweiten der hier in Rede stehenden gegenstandstheoretischen Abhand-
lungen, seinen >Beiträgen zur Grundlegung der Gegenstandstheorie«.
Hier zitiert der genannte Autor die Bestimmung Meinongs, wonach
ein Gegenstand real ist, wenn er seiner Natur nach existieren kann,
während er andernfalls als ideal zu bezeichnen ist. Indem Ameseder
weiterhin den Begriff > Existenz < als das Sein des Wirklichen definiert,
kommt er zu dem Resultat, daß die Gruppe der realen Gegenstände
derartig klein und unserer Erkenntnis so wenig zugänglich ist, daß
mit der Unterscheidung realer und idealer Gegenstände für das
eigentliche Gebiet der Gegenstände keine zweckmäßige Einteilung
gewonnen wäre.
Nun haben wir bereits dargetan, warum die* realen Gegenstände
von der Gegenstandstheorie nicht behandelt werden können. Aber
auch das, was Ameseder unter dem Begriff der idealen Gegenstände
zusammenfaßt, enthält offenbar noch vieles, was nach unserer Auf-
fassung und nach der Meinongschen Bestimmung nicht in die Gegen-
standstheorie gehört. Da nämlich nach Ameseders Meinung wirklich
nur dasjenige ist, was kausieren kann, so fallen beispielsweise die
Farben , die > Erfaßten der Farbenempfindungen« , unter den Begriff
der idealen Gegenstände. Was aber eine apriorische Wissenschaft
hinsichtlich des Farbensystems erkennen soll, ist nicht recht einzu-
sehen. Wenn wir daher im Gegensatz zu Ameseder, aber im Hin-
blick auf die Meinongsche Definition die Farben und ähnliche Gegen-
stände nicht zu den Objekten der Gegenstandstheorie rechnen, so
scheint damit die Frage, ob alle idealen Gegenstände zum Arbeits-
gebiet der Gegenstandstheorie gehören, bereits im negativen Sinn
22 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 1. .
entschieden, sofern mr nämlich die Meinong-Amesedersche Definition
der idealen Gegenstände acceptieren.
Nun kann man aber kaum sagen, daß diese Definition dem Sprach-
gebrauch auch nur einigermaßen gerecht werde. Denn es würde
danach nicht weniger als alles, was uns in der Außenwelt unmittelbar
gegeben ist, unter den Begriff des Idealen fallen, während als > nicht-
ideal« nur das Psychische und eventuell das >Ding an sich« in Be-
tracht käme. Wir ziehen es also vor, uns nach einer andern Be-
stimmung des Begriffs »ideaU umzusehen. Eine solche scheint sich
zwanglos aus der Amesederschen Unterscheidung notwendiger und
zufälliger Gegenstände zu ergeben. Als notwendig bezeichnet der
genannte Autor nämlich diejenigen Gegenstände, deren > Zugehörigkeit
zu einer Seinstatsache < eine notwendige ist wie z. B. die Verschieden-
heit von Rot und Grün. Diese Bestimmung ist nun freilich nicht
eindeutig. Man kann die >notwendige Zugehörigkeit zu einer Seins-
tatsache« ebensogut im Sinn der > Undenkbarkeit des Gegenteils«
wie im Sinne der > Unmöglichkeit des Alleinbestehens< deuten. So-
fern aus den weiteren Ausführungen Ameseders hervorgeht, daß er
der ersteren Deutung zuneigt, können wir in seiner Unterscheidung
notwendiger und zufälliger Gegenstände keine zweckmäßige Einteilung
sehen; denn in diesem Sinn zufällig sind ganz heterogene Gegen-
stände; ist es doch offenbar nicht notwendiger, daß Verschiedenheit
überhaupt wie daß ein Körper überhaupt besteht.
Deuten wir dagegen den Begriff der notwendigen Zugehörigkeit
zu einer Seinstatsache in dem zweiten oben angegebenen Sinn, dann
ergibt die Gegenüberstellung > zufälliger« und > notwendiger« Gegen-
stände eine klare Scheidung. Freilich werden wir dann diejenigen
Gegenstände, die selbständig nicht bestehen können, besser unselb-
ständige als notwendige Gegenstände nennen, und auch die Bezeich-
nung der selbständigen als zufälliger Gegenstände hat eigentlich
keinen Sinn. Sofern die unselbständigen mit den > fundierten« Gegen-
ständen zusammenfallen^), läßt sich die Anwendung des Prädikats
notwendig auf sie nur in dem Sinn rechtfertigen, daß mit dem Sein
der Inferiora das Sein des fundierten Gegenstandes notwendig ge-
geben ist.
Identificieren wir nun die unselbständigen mit den idealen Gegen-
ständen, so kommen wir offenbar dem gewöhnlichen Sprachgebrauch
ziemlich nahe. Verschiedenheit, Aehnlichkeit , abstrakte Größenbe-
ziehungen, Wortbedeutungen — das sind lauter unselbständige und
zugleich lauter im gewöhnlichen Sinne des Wortes >ideale« Gegen-
1) Vgl. Ameseders Aasführongen in der Abhandlung über Vorstellongspro-
duktion in Meinongs Untersuchungen p. 483.
tJntdrsQchongen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 23
stände. Aber eine Schwierigkeit mttssen wir doch noch erwähnen.
Unselbständig ist nämlich auch die Farbe gegenüber der Aus-
dehnung, die Tonhöhe gegenüber der Intensität u. s. w. Wir wagen
es nicht, mit Ameseder diese Unselbständigkeit als eine toto genere
verschiedene^) einfach auszuschließen. Andererseits sind wir aber
auch nicht gewillt, Farbe als solche, Tonhöhe als solche u. s. w. den
idealen Gegenständen zuzurechnen. Ueber diese Schwierigkeit
kommen wir auch nicht hinweg, wenn wir die Bestimmung realer
und idealer Gegenstände mit heranziehen, die Mally in der dritten
der in Rede stehenden gegenstandstheoretischen Abhandlungen, in
seinen Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des Messens versucht.
Mally definiert nämlich die idealen Gegenstände als diejenigen, deren
Sosein ihre Existenz, nicht aber ihren Bestand ausschließt. Als Bei-
spiel führt er an, daß Verschiedenheit, Aehnlichkeit, die Tatsache»
daß 3 + 2 = 5 ist, ihrer Natur nach nicht existieren können,
während Verschiedenheit und Aehnlichkeit bestehen kann und
die Thatsache, daß 3 + 2 == 5 ist, sogar notwendig besteht.
Wenden wir diese von Mally gegebene Bestimmung zur Entscheidung
der uns hier beschäftigenden Fragen an, so kommen wir keinen
Schritt vorwärts. Mally erwähnt keinerlei Kriterien für das >Exi-
stieren-können«, versucht überhaupt Existenz und Bestand nur da-
durch indirekt zu kennzeichnen, daß er betont, wie Existenz nur
aposteriorischer, Bestand dagegen apriorischer Erkenntnis zugänglich
sei. Fragen wir nun, ob nach Mallys Meinung Farben wohl existieren
können, so liegt die Antwort Nein auf diese Frage jedenfalls näher
als die Antwort Ja. Dann befinden wir uns also wiederum in der
Lage, Farben und ähnliche Gegenstände als ideale Objekte ansprechen
zu müssen.
Wir wollen diese peinliche Untersuchung nicht weiterfuhren.
Wir konstatieren vielmehr: Ob die Farbenqualitäten, Tonhöhen
u. s. w. reale oder ideale Gegenstände sind, ist fur die Ent-
scheidung der Frage ihrer Zugehörigkeit zur Gegenstaudstheorie ganz
gleichgültig. Sie gehören unter allen Umständen nicht in die Gegen-
standstheorie, wenn diese, wie Meinong behauptet, eine apriorische
Wissenschaft ist. Aber auch die Frage, von der wir bei der Unter-
suchung über das Wesen der idealen Gegenstände ausgegangen sind,
die Frage, ob alle idealen Ggenstände von der Gegenstandstheorie
zu behandeln sind, läßt sich beantworten, ohne daß wir die Frage
nach der Idealität oder Realität der Farbenqualitäten u. s. w. ent*
scheiden. Es gibt nämlich sicherlich ideale Gegenstände, wie Schön-
1) a. a. 0. p. 483.
24 Gott. gel. Anz. 1905. Nr. 1.
heit, Tugend und andere, die nicht von der Gegenstandstheorie
sondern von empirischen Wissenschaften erforscht werden.
Ueberhaupt schrumpft, wie man sieht, das Arbeitsgebiet der
Gegenstandstheorie immer mehr zusammen, je schärfer man das Wesen
derselben zu fassen sucht. Außer Logik und Mathematik, die sich,
wie wir bereits zugegeben haben, dem Oberbegriff der Gegenstands-
theorie mögen unterordnen lassen, scheint nur eine Klasse von
Forschungsobjekten am Ausbau der Gegenstandstheorie interessiert
zu sein, nämlich die >fundierten< Gegenstände, sofern sich nicht auch
von diesen herausstellen sollte, daß sie besser empirischen Wissen-
schaften überlassen werden. Bis zu einem gewissen Grad sind zweifellos
empirische Wissenschaften an der Erforschung der fundierten Gegen-
stände beteiligt. Was beispielsweise eine Melodie ist, wie Melodien
erzeugt werden und welche ästhetischen Wirkungen an Melodien ge-
knüpft sind, das zu untersuchen ist jedenfalls Sache einer empirisch
betriebenen Akustik und Musikwissenschaft. Oder die Größe und
Gestalt eines wirklichen Gegenstandes festzustellen kann nun und
nimmer Sache der Gegenstandstheorie sein. Es fragt sich nur, ob
nicht neben solchen empirisch zu gewinnenden Erkenntnissen fundierter
Gegenstände auch noch a priori derartige Erkenntnisse gewonnen
werden können.
Um dies zu entscheiden, wollen wir kurz betrachten, was Ame-
seder im speziellen Teil seiner gegenstandstheoretischen Abhandlung
über Fundierungsgegenstände beizubringen weiß. Er behandelt nach
einander die >Aehnlichkeits- und Verschiedenheitsgegenstände <, die
>GestaltgegeDstände< und die > Verbindungsgegenstände c. Zu den
erstgenannten rechnet er Gleichheit, Aehnlichkeit und Verschiedenheit.
Gleichheit bestimmt er als Maximum der Aehnlichkeit. Hinsichtlich
der Aehnlichkeit und Verschiedenheit wird im wesentlichen nur kon-
statiert, daß Aehnlichkeit und Verschiedenheit nicht auf einander
zurückführbar sind, daß dagegen Aehnlichkeit und Verschiedenheit
allerdings koincidieren, daß ferner Aehnlichkeit und Verschiedenheit
Größe besitzen, also Quanta und zwar unteilbare Quanta sind, daß
Aehnlichkeit und Verschiedenheit ebenso wie ihre Inferiora Continuen
angehören, daß sie stets zwei und nur zwei Inferiora haben, daß als
zugehörige Inferiora nur Dinge fungieren können, zwischen denen eine
kontinuierliche Verbindung möglich ist und daß die betreffenden
Inferiora als solche zufällige Gegenstände sind.
Was die Gestaltgegenstände anlangt, so erfahren wir zunächst,
daß Lage keine Gestalt ist, daß aber »die immerhin vorherrschende
Verwandtschaft mit den Gestalten es gestattet, die kleine Gruppe
der Lagen und Richtungen in einer erweiterten Gruppe, zu der auch
üntenuchangen zur GegensUndstheorie and Psychologie, hrs. von Meinong. 25
die Gestalten gehören, unterzubringen <. Die Gestalten werden ein-
geteilt in diskrete und kontinuierliche, in solche mit zeitlosen und
zeitbestimmten und endlich in solche mit einfachen und komplexen
Inferioren. Schließlich erfahren wir noch, daß die Gestaltgegenstände
Kontinuen angehören, die in Gestalt und Größe durch die Kontinuen
der Inferiora bestimmt werden, daß die Gestaltgegenstände keine
Quanta sind und daß sie sich mit Notwendigkeit auf ihren Inferioren
aufbauen.
Hinsichtlich der Verbindungsgegenstände werden wir belehrt,
daß sie an beliebig vielen Inferioren vergegenständlicht sein können,
daß ihre Inferiora nicht nur diskret sondern auch kontinuierlich sein
können, daß alle Verbindungsgegenstände Größe haben, da a und b
immer mehr ist als a, mag b was immer fttr ein Gegenstand sein,
daß ferner die Verbindungsquanta durch ihre sogenannte Teilbarkeit
ausgezeichnet sind, wobei man unter dieser Bezeichnung die Mög-
lichkeit verstehen soll, demselben Superius nach Erfordernis eine
bestimmte Anzahl von Inferioren zuzuschreiben. Außerdem finden
sich noch einige etwas komplizierte Bemerkungen über das Sein der
Verbindungsgegenstände, auf die wir hier nicht weiter eingehen wollen.
Im Anschluß an die skizzierten Gedanken Ameseders haben wir
nunmehr folgendes zu konstatieren : Die Gegenstände, von denen die
Rede war, nämlich Gleichheit, Aehnlichkeit, Verschiedenheit, Formen
oder Gestalten, Größen, Mengen oder Complexe, spielen in einer
Reihe von Wissenschaften eine bedeutsame Rolle. Vergleichung und
Unterscheidung, Beschreibung von Formeigentümlichkeiten, Messen,
Zählen und Rechnen gehören zu den fundamentalsten Operationen
wissenschaftlicher Forschung überhaupt und wenn wir von einem
Objekt wissen, daß es einem anderen bekannten Objekt gleich oder
von einem dritten verschieden ist, daß es die oder jene Form besitzt,
daß es eine bestimmte Größe besitzt oder durch ein bestimmtes Maß
gemessen werden kann, dann ist das betreffende Objekt von uns er-
kannt. Was soll es nun heißen, wenn das, wodurch wir erkennen,
wiederum zum Gegenstand einer besonderen Erkenntnis gemacht wird ?
Offennbar kann damit verschiedenes gemeint sein. Zunächst dies,
daß die Begriffe von Gleichheit, Aehnlichkeit u. s. w. bestimmt wer-
den sollen. Eine solche Bestimmung muß jedoch bereits von jeder
Wissenschaft gegeben werden, die mit Gleichheiten, Aehnlichkeiten
u. s. w. operiert. Eine nochmalige Bestimmung derselben Begriffe
in einer besonderen Wissenschaft erweist sich nur dann als nötig,
wenn die in den einzelnen Wissenschaften gegebenen Definitionen
einseitig sind. Diejenige Wissenschaft aber, die allgemeingültige
Bestimmungen der in den einzelnen Wissenschaften verwendeten
26 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Ornndbegriffe anstrebt, existiert bereits unter dem Namen Erkenntnis-
theorie. Diese Disziplin beschäftigt sich freilich weit mehr mit der
Bestimmung von Begriffen, die im Hinblick auf wirkliche Gegenstände
gewonnen werden — aus dem einfachen Grund, weil diese Begriffe
ihr von den Einzelwissenschaften unvollkommener überliefert werden
als die Begriffe von idealen Gegenständen wie Gleichheit, Aehnlich-
keit u. s. w., die in den Einzelwissenschaften schon hinreichend all-
gemeingültige Bestimmung finden. In der Tat sind Sätze wie Ame-
seders Eonstatierung, daß Gleichheit das Maximum der Aehnlichkeit
sei, kaum als bedeutsame erkenntnistheoretische Entdeckungen an-
zusprechen.
Aber der Versuch, Gleichheit, Aehnlichkeit u. s. w. zum Gegen-
stand einer besonderen Wissenschaft zu machen, kann noch auf etwas
anderes abzwecken als darauf, die Begriffe dieser Gegenstände allge-
meingültig zu bestimmen. Wenn nämlich festgestellt wird, daß
Gleichheit ein fundierter Gegenstand sei, dessen Inferiora bestimmte
Beschaffenheit aufweisen, so bedeutet das keineswegs einen Definitions-
fortschritt. Vielmehr sind damit gewisse Tatsachen erfaßt. Es fragt
sich nun, in welches Tatsachengebiet dieselben gehören. Wir haben
zweifellos ein gewisses Recht, sie dem Arbeitsgebiet der Psychologie
zuzurechnen; denn es bedeutet offenbar einen Fortschritt der psycho-
logischen Erkenntnis, wenn wir einsehen, daß durch psychische Akte
Gegenstände erfaßt werden, die nicht sichtbar, hörbar, tastbar u. s. w.
doch als bestehend angenommen werden müssen. Es ist femer auch
eine im Grunde genommen psychologische Erkenntnis, wenn die be-
treffenden Gegenstände als nicht identisch mit psychischen Akten
und Inhalten erwiesen werden; denn diese negative, die Psychologie
interessierende Erkenntnis bedeutet ja keinerlei positive Bestimmung
des eigenen Wesens der betreffenden Gegenstände. Wir behaupten
sogar, daß dieses eigene Wesen für uns keinerlei Interesse besitzt-
Aber wer dem nicht beistimmt, der mag immerhin Untersuchungen
über das Sein der Gleichheit, Aehnlichkeit u. s. w. anstellen. Diese
Untersuchungen fügen sich dann zwanglos dem Rahmen derjenigen
Wissenschaft ein, die von altersher über das Wesen der Substanzen,
Modi und Relationen Betrachtungen angestellt hat, nämlich der Meta-
physik.
So bleibt schließlich nur noch eines übrig, was beabsichtigt sein
kann, wenn die in Rede stehenden Gegenstände zum Objekt besonderer
Untersuchung gemacht werden sollen, und was von Ameseder tat-
sächlich auch in gewissem Sinn geleistet wird — nämlich die Fest-
stellung von Beziehungen zwischen Gleichheit, Aehnlichkeit, Ver-
schiedenheit, Gestalt, Größe u. s. w. Die Feststellung dieser Be-
üntersachnngen zur Gegenstundstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 27
Ziehungen ist aber teils der Logik teils der Mathematik vorbehalten.
Dieselbe Wissenschaft, die feststellt, das ^ = ^ und Ä ^ non A,
kann offenbar auch konstatieren, daß Aehnlichkeit und Gleichheit
sich ausschließen, während Aehnlichkeit und Verschiedenheit koinci-
dieren. Und die Wissenschaft, weiche feststellt, daß Dreiecke mit
gleicher Grundlinie und Höhe flächengleich sind, darf wohl auch die
Erkenntnis in Anspruch nehmen, daß » Gestaltgegenstände < mit
Quanten koinzidieren, die in keiner Weise von dem Fall der Gestalt
abhängig sind.
So werden wir zu dem Schluß gedrängt, daß die Gegenstands-
theorie restlos aufgeht in Logik und Mathematik und es soll im
Folgenden im Anschluß an Mallys Untersuchungen zur Gegenstands-
theorie des Messens gezeigt werden, daß auch diese speziellen Bei-
träge zur Gegenstandstheorie sich in logische und mathematische
Feststellungen auseinanderlegen.
Zuvor aber müssen wir noch auf eine Frage eingehen, die als
grundsätzlicher Einwand gegen das Resultat der bisherigen Ueber-
legungen zu guter Letzt erhoben werden kann. Wir haben ja bis
jetzt nur von Objekten gehandelt, auf welche die Gegenstands-
theorie Anspruch macht und die wir in mathematische und logische
Gegenstände glaubten erschöpfend einteilen zu dürfen. Nun betont
aber Meinong ebenso wie Ameseder und Mally, daß die Gegenstands-
theorie außer den Objekten auch noch die sogenannten Objektive
zu untersuchen habe. Wird damit nicht eine Klasse von ganz neuen
Gegenständen eingeführt, auf die unsere bisherigen Betrachtungen
keine Anwendung finden können? Um diese Frage einer Entscheidung
zuzuführen, wollen wir zunächst feststellen, was man unter einem
Objektiv zu verstehen hat und zwar soll das geschehen unter Zu-
grundelegung der Formulierungen von Ameseder und Mally. Der
erstere äußert sich in dem der Unterscheidung von Objekten und
Objektiven gewidmeten Paragraphen folgendermaßen: >Auch das
Sein hat Sein, so ist z. B. eine Existenz oder ein Bestehen. Jene
Gegenstände, welche Sein sind und Sein haben, sind wesentlich anders
als jene, welche bloß Sein haben, aber nicht selbst Sein sind. Jene
Gegenstände, welche Sein sind und sich im sprachlichen Ausdruck
durch die ,daß- Konstruktion' kennzeichnen, hat Meinong als ,0b-
jektive' benannt. Gegenstände, die nicht Objektive sind, sind Ob-
jekte. Die Objekte sind, wenn dies auch sprachlich nicht angedeutet
ist, eine Unterart der Gegenstände. Objekte sind z. B. Farben,
Zahlen, Strecken ; Objektive sind die Existenz einer chemischen , Ver-
bindung', das Nichtsein des runden Vierecks, das Farbigsein eines
bestimmten Gegenstandes und dergl. mehr, oder in der typischen
28 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Form: ,daß eine chemische Verbindung existiert', ,daß ein rnndes
Viereck nicht ist', ,daß ein Objekt farbig ist' u. s. w.<. Die Objek-
tive selbst teilt Ameseder in die zwei Klassen der Seins- und So-
seinsobjektive mit folgender Begründung: >Neben jenen Objektiven,
welche die Form haben ,daQ etwas ist' gibt es noch solche, die
sprachlich durch ,daß ein ^ JB ist' oder schlechtweg ,daß etwas so
ist' ausgedrückt werden. Objektive letzterer Art lassen sich in keiner
Weise auf Objektive der ersteren zurückfähren, ebensowenig, wie
jene auf diese«. Ganz ähnlich konstatiert Mally: >Sein und Sosein
werden von Meinong als Objektive bezeichnet und allen anderen
Gegenständen als Objekten im engeren Sinne gegenübergestellt«.
Was haben wir nun von dieser Unterscheidung zwischen Objekt
und Objektiv und von der Gegenüberstellung der Seins- und Soseins-
objektive zu halten. Der Satz ^ ist und der Satz A ist B unter-
scheiden sich natürlich von dem Begriff A^ von dem Begriff Sein
und von dem Begriff B so wie sich Urteile von Begriffen unterscheiden.
Urteile und Begriffe sind verschiedene Gegenstände, die wissenschaft-
licher Bearbeitung zugänglich sind, aber beide finden ihre Bearbeitung
in derselben Wissenschaft, der Logik. Wenn also durch die Gegen-
überstellung von Objekten und Objektiven nur Begriffe und Urteile
als verschiedene Gegenstände der Gegenstandstheorie bezeichnet
werden sollen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Es wird dadurch
aber auch an den Resultaten unserer bisherigen Ueberlegungen nichts
geändert
Nun ist jedoch die Absicht Meinongs und seiner Schüler kaum
auf eine solche bloß logische Unterscheidung gerichtet. Wie den
Begriffen die Gegenstände und zwar die Objekte im engeren Sinn
so sollen offenbar den Urteilen die Objektive gegenübergestellt wer-
den. In der Tat läßt sich nicht viel dagegen einwenden, wenn man
das Wesen der Urteile in einer Beziehung zwischen Begriffen sehen
will (Meinong faßt freilich das Wesen des Urteils mehr in psycholo-
gischem Sinn) und nun nach etwas sucht, was durch diese Begriffis-
kombination auf der Gegenstandsseite gemeint ist. Ganz klar ist
diese Gegenüberstellung allerdings nicht. Denn nachdem wir gesehen
haben, daß ein Begriff nichts anderes ist als die Beziehung zwischen
Wort und Gegenstand, bleibt zur Bestimmung des Wesens der Be-
griffsbeziehung, die sich auf etwas Gegenständliches bezieht, nichts
übrig als die nicht gut zu kontrollierende Behauptung, dieses Wesen
bestehe in einer Beziehung zwischen Beziehungen, die sich ihrerseits
wieder auf etwas bezieht. Doch wie dem auch sei, ob nun bloß Be-
ziehungen zwischen Worten bezw. Wortkombinationen und Gegen-
ständen oder auch die eben angedeuteten Beziehungen zwischen Be-
Untenachongen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 29
Ziehungen fur logische Untersuchungen in Betracht kommen, jedenfalls
gilt es festzustellen, welche Gegenständlichkeit durch Urteile erfaßt
wird. Halten wir uns an einzelne Beispiele : In dem Satz a = oder
^ b sind es offenbar Größenbeziehungen, in dem Satz >der Baum
ist grün« ist es die Beziehung von Ding und Eigenschaft, in dem
Satz endlich >der Ichthyosaurus hat existiert« ist es eine Existenz,
die erfaßt wird. Von diesen verschiedenen > Erfaßten« fallen nun,
wie man sieht, einige, nämlich die Größenbeziehungen ohne weiteres
zusammen mit Objekten, die wir vor Einführung des Objektivbegriffs
ins Auge gefaßt haben, d. h. mit Objekten im engeren Sinn. Was
die Existenz anlangt oder die Beziehung zwischen Ding und Eigen-
schaft, so ist nicht einzusehen, warum sie nicht ebenso zu den Ob-
jekten im engeren Sinn gehören soll wie etwa Kausalität, Notwendig-
keit, Wertbeziehung u. s. w. Hinsichtlich der wissenschaftlichen
Bearbeitung von Gegenständen wie Existenz und Inhärenz ist zu
bemerken, daß die allgemeingültige Definition der zugehörigen Be-
griffe in die Erkenntnistheorie, die Feststellung bestimmter Existenzen
und Inhärenzen größtenteils in die einzelnen empirischen Wissen-
schaften und die Erforschung des Wesens der Existenz und Inhärenz
eventuell in die Metaphysik gehört. Abschließend können wir also
sagen: Die Objektive sind entweder Urteile und bilden dann eine
kleine Gruppe neben vielen anderen Gruppen von Gegenständen, die
zum Arbeitsgebiet der Logik und Mathematik oder wenn man so
will, der Gegenstandstheorie gehören — oder die Objektive sind keine
Urteile sondern etwas durch Urteile Erfaßtes und gehören dann nur
zum kleinsten Teil und keineswegs als besondere Klasse von Gegen-
ständen in die Gegenstandstheorie.
Damit dürfen wir zurückkommen auf unsere These, Gegenstands-
theorie sei identisch mit Logik und Mathematik, und wenn es nun
noch gelingt, diese These in einer Auseinandersetzung mit den gegen-
standstheoretischen Spezialuntersuchungen Mallys als richtig zu er-
weisen, dann dürfen wir sie wohl als gesichert ansehen.
Mally konstatiert zu Beginn seiner in Rede stehenden Betrach-
tungen, daß die Gegenstände, die gemessen werden und die Tatsachen,
die durch das Messen erkannt werden, als Objekte der Gegenstands-
theorie des Messens in Betracht kommen. Die Aufgabe dieser Disziplin
bestimmt er dahin, daß sie die Gegenstände des Messens zu be-
schreiben und die durch das Messen zu erkennenden Tatsachen syste-
matisch anzufühlen und nach Möglichkeit zu erklären habe.
Was zunächst die Beschreibung der Gegenstände des Messens,
also der Größen nnd Maße anlangt, so verkennt unser Autor keines-
wegs, daß eben dies eine Aufgabe der Mathematik ist Aber er
30 Gott. gel. Anz. VMMi. Nr. 1.
meint, daß im Gegensatz zur Mathematik, die nur Quanta schlecht-
weg und daneben nur noch Raumquanta zu Objekten hat, die Gegen-
standstheorie des Messens nicht nur von Quantis handelt, sofern sie
Quanta sind d. h. nur ihrer Größe nach, — sondern von allen jenen
Objekten, die zugleich Quanta sind, auch ihren andern Eigenschaften
nach. Was das nun heißen soll, ist nicht so leicht einzusehen; denn
es kann doch nicht die Absicht Mallys sein, der Gegenstandstheorie
eine Erforschung aller Eigenschaften zuzumuten, die an meßbaren
Gegenständen überhaupt vorkommen.
Aber auch der zweite Teil der oben formulierten Aufgabe er-
möglicht keine klare Abgrenzung der Gegenstandstheorie von Mathe-
matik und anderen Wissenschaften. Was soll es zunächst heißen
>die Gegenstandstheorie des Messens habe die durch das Messen
zu erkennenden Tatsachen systematisch anzuführen <? Es kann doch
unmöglich damit gemeint sein, was in erster Linie freilich darunter
verstanden werden muß, daß die Gegenstandstheorie eine Uebersicht
der Maßzahlen aller Gegenstände zu geben habe. Offenbar will Mally
nicht die durch das Messen zu erkennenden Tatsachen sondern die
Tatsachen des Messens selbst der Gegenstandstheorie zuweisen. Diese
Tatsachen sind etwa >daß gemessen wird<, >wie gemessen wird<,
>auf welchen Voraussetzungen sich die Lehre vom Messen aufbaut<,
»welche logische Bedeutung den Sätzen zukommt, die Messungs-
ergebnisse ausdrücken« und endlich vielleicht > woher es kommt, daß
überhaupt gemessen wird und gemessen werden kann«. Es wäre
nun Sache einer freilich etwas weitschweifigen Untersuchung, darzu-
tun, daß diese Tatsachen größtenteils von der Mathematik und Logik,
teilweise vielleicht auch von empirischen Wirklichkeitswissenschaften
festgestellt werden.
Wir denken natürlich nicht daran, hier nochmals eine derartige
allgemeine Untersuchung durchzuführen sondern wir wollen nunmehr
bloß die weiteren Betrachtungen Mallys daraufhin prüfen, ob sie eine
Widerlegung unserer Auffassung enthalten. Dabei überschlagen wir
das erste Kapitel, welches »allgemeine Feststellungen < zur Gegen-
standstheorie liefert, die wir im bisherigen schon größtenteils kennen
gelernt haben. Das zweite Kapitel bringt eine »allgemeine Charak-
teristik der Messungsobjekte €. Wir erfahren, daß > seiner Natur nach
meßbar alles ist, dessen Beschaffenheit mit dem Vollzug einer Messung
an ihm keinen Widerspruch bildet«. Mit anderen Worten: Eine
Messung ist denkbar, wo sie nicht undenkbar ist. Dann folgen eine
Reihe Definitionen, die wir aus der Mathematik kennen und die in
dem Satz gipfeln, daß »alle meßbaren Gegenstände Quantac sind.
Weiter erfahren wir, »daß es zu jedem Gegenstand, der groß ist,
Untersuchnngen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 31
noch Gegenstände gibt, die größer sind als er, und Gegenstände, die
kleiner sind als er<. >E8 ist also kein Gegenstand der kleinstec
und >ein kleinster Gegenstand ist also überhaupt kein Gegenstand,
er ist nichts«. Dieser letztere Schluß ist nun freilich nichts weniger
als einleuchtend, solang nicht vorausgesetzt wird, daß alle Gegen-
stände Quanta sind. Im übrigen ist die Auffassung der Null als
eines >Grenzfall8< uns wiederum aus der Mathematik bekannt, wenn
auch nicht als eines > Grenzfalls von Gegenstand überhaupt < so doch
als eines Grenzfalls von Größe oder Ausdehnung. Eine Reihe weiterer
Bestimmungen, die den Schluß des in Rede stehenden Kapitels aus-
machen, knüpfen an frühere Definitionen an und sind ohne die
letzteren unverständlich. Wir können sie übergehen, da sie als bloße
Nominaldefinitionen nichts zur Erweiterung unserer Erkenntnis bei-
tragen.
Das dritte Kapitel behandelt die teilbaren Quanta. Hier finden
sich wieder ganz ähnliche Sätze wie wir sie schon kennen gelernt
haben z. B. > seiner Natur nach teilbar ist jeder Gegenstand, dessen
Beschafifenheit mit dem Vollzuge einer Teilung an ihm in keinem
Widerspruch steht <. Durch gründliche Ueberlegung wird ferner die
Bestimmung gewonnen, daß >jedes teilbare Quantum ein impliziter
Komplex ist, der mit einem durchaus homoiomeren Mengenkomplex
vollständig koincidiert<. Diese so ungewohnt klingende Formel scheint
nichts anderes zu besagen als daß jedes teilbare Quantum als Summe
gleicher, beliebig zu wählender Einheiten dargestellt werden kann. Ueber-
haupt können wir den Eindruck nicht los werden als ob die ganze,
eine recht ansehnliche Denkarbeit repräsentierende Untersuchung
Mallys darauf hinauskomme, unter neuen Bezeichnungen und deshalb
oft auch durch Gedankengänge besonderer Art Tatsachen neu zu
entdecken, die, anders ausgedrückt, sich als längst bekannte Wahr-
heiten entpuppen. Jedenfalls stellen sich überall da, wo unser Autor
sich der gewöhnlichen Terminologie bedient, seine Festsetzungen als
einfache mathematische Definitionen und Schlußfolgerungen heraus.
So z. B. in den Betrachtungen über die > Grenzen der Gontinua«, in
denen die Begriffe des Punktes, der Linie, der Geraden, der Ebene
und des Raumes wie in der Geometrie bestimmt werden. Dagegen
werden in dem folgenden Abschnitt über die «Dimensionen wieder
neue Ausdrücke eingeführt. Wir erfahren, daß zwei Komplexionen
fti und St2 vertauschbar sind, wenn Komplexe Ki in der Komplexion
fti stehend, einen Komplex bilden, der mit einem Komplex aus Kom-
plexen Kl in Komplexion ^2 koinzidiert. Diese komplizierte Formel
dient zur Bezeichnung des einfachen mathematischen Tatbestandes,
der in einem Fall wie 5x7 = 7x5 vorliegt. Nun wird weiterhin
32 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
der Begriff der vertauschbaren Eomplexionen zur Bestimmung der
Dimensionen verwendet. Es wird konstatiert, daß >ein Gegenstand,
woran zwei untereinander unabhängig vertauschbare Komplexionen
bestehen, zweidimensional ist<. Ein lineares Quantum hat demnach
eine Dimension, ein Rechteck und jedes damit koinzidierende Flächen-
quantum ist zweidimensional, es besitzt Länge und Breite, jedes
Raumkontinuum endlich ist dreidimensional und wird als Quantum
erst durch die drei Dimensionen > Länge«, > Breite« und > Tiefe« voll-
ständig bestimmt. Auch in diesen Feststellungen können wir nichts
entdecken, was uns aus der Geometrie nicht schon bekannt wäre.
Vielleicht finden wir nun besondere originelle Erkenntnisse in
dem folgenden Kapitel der Mallyschen Abhandlung, das die unteil-
baren Quanta behandelt. Hier wird zunächst konstatiert, daß seiner
Natur nach unteilbar ist, was keine Teile hat, kein Komplex ist, also
einfach ist, und daß es zu jedem unteilbaren Quantum noch kleinere
unteilbare Quanta derselben Art gibt, die nicht seine Teile sind.
>Da ein Komplex von Gegenständen, die einem eindimensionalen
Kontinuum angehören, eine Reihe ist«, so ist > jedes einfache
Quantum E Bestandstück einer Reihe R(E)j worin von je zwei Daten
E eines immer zwischen Null und dem anderen liegt.« >Die Reihe
der einfachen Quanta ist kein Kontinuum«, obwohl >die einfachen
Quanta als Grenzen einem Kontinuum angehören, nämlich der Ver-
änderungsgeraden, die zur Null führt«. In all dem steckt
offenbar keinerlei neue Erkenntnis. Nicht nur die Psychologie mit
ihrer Anwendung von Mathematik auf die psychischen Vorgänge
sondern schon die Physik, sofern sie sich etwa mit Photometrie be-
schäftigt, lehrt, wie unteilbare Quanta mathematischer Behandlung
zugänglich gemacht werden können. Sofern die betreffenden Ein-
sichten aber nicht der Psychologie und Physik und auch nicht der
Mathematik zugezählt werden sollen, gehören sie ins Gebiet der
Methodenlehre, also der Logik. Wenn unser Autor ferner Definitionen
der Begriffe der Häufungsstelle einer Reihe, der dichten Reihe und
der stetigen Reihe gibt, so erwähnt er selbst, daß diese Termini dem
mathematischen Sprachgebrauche ohne Bedeutungsänderung entnommen
sind. Weniger mit der Mathematik haben die folgenden Ausfuhrungen
zu tun, die von dtr Natur der unteilbaren Quanta, von den ein-
fachen Quantis, die Qualitäten an Gegenständen sind, von den ein-
fachen Quantis, die Qualitäten zwischen Gegenständen sind und von
den einfachen Quantis, die keine echten Qualitäten sind, handeln.
Da indessen in diesen Ausführungen Begriffe wie Ausdehnung, Ge-
schwindigkeit, Arbeit, Dichte, Fähigkeit, Leistung, Kraft, Wert,
Wahrscheinlichkeit neben Begriffen wie Gleichheit, Aehnlichkeit u. s. w.
ÜntersuchoDgcn zur Gegenstandstheorie and Psychologie, hrs. von Meinong. 33
besprochen werden, so sieht man ohne weiteres, daß hier Gegenstands-
theorie im Sinn einer apriorischen Wissenschaft nicht vorliegen kann.
Das fünfte Kapitel der Mallyschen Abhandlung, welches sich
mit der > Messung der teilbaren Quanta c beschäftigt, enthält aus-
schließlich mathematische Betrachtungen. Die direkten Rechnungs-
operationen werden behandelt in Formeln wie >jeder explizite Mengen-
komplex von Zahlen koinzidiert mit einem impliziten Zahlkomplex
d. h. mit einer Zahle Die symbolische Darstellung in Formeln wie
>a + b + c ='d€ zeigt, daß wir es mit nichts anderem als mit der
Beschreibung von Addieren, Multiplizieren, Potenzieren, Subtrahieren,
Dividieren, Radizieren, Logarithmieren zu tun haben. Auch in der
weiteren Verfolgung dieser Betrachtungen finden wir nichts Neues.
Es wird beschrieben, was in der Mathematik in knappen Formeln
ausgedrückt ist z. B. daß Komplexe, die mit demselben Gegenstand
koinzidieren, auch unter einander koinzidieren, daß jedes Quantum
dieselbe relative Größe hat wie seine Maßzahl, daß Flächen, die mit dem-
selben zweidimensionalen Quantum koinzidieren, größengleich sind u.s.w.
Ganz Analoges gilt endlich auch vom sechsten Kapitel, das die
Messung der unteilbaren Quanta behandelt, bloß daß dieses Kapitel
mehr den Charakter einer Methodologie bestimmter empirischer
Wissenschaften, einer Anwendung der Mathematik, als den Charakter
reiner Mathematik besitzt. Wir erfahren, daß die unteilbaren Quanta
meßbar sind, wenn zwischen ihnen und meßbaren teilbaren Quantis
direkte Zuordnung besteht. Dann wird näher eingegangen auf die
Messung der einfachen Quanta, die Qualitäten an Gegenständen sind.
Hinsichtlich der Ausdehnung wird konstatiert, daß die Ausdehnung
(als ihrerseits unteilbare Qualität) eines teilbaren Quantums Produkt-
quantum seiner einzelnen Dimensionen ist. Ebenso finden sich die
bekannten Formeln für die Berechnung der Geschwindigkeit aus Weg
und Zeit, der Beschleunigung aus Geschwindigkeit und Zeit, der
Spannung aus Masse und Beschleunigung sowie der Dichte aus Masse
und Ausdehnung. Die folgende Betrachtung über die Messung der
Quanta, die Qualitäten zwischen Gegenständen sind, führt ins Gebiet
der Differentialrechnung. Es wird schließlich festgestellt, daß mit
konstanter Geschwindigkeit der Zunahme eines Quantums eine
abnehmende Geschwindigkeit seiner Veränderung gegeben ist. Ferner
werden aus der Tatsache des logarithmischen Verschiedenheitsmaßes
zwei Gesetze über Verschiedenheiten abgeleitet, nämlich erstens dies,
daß die Verschiedenheit zweier Produkte gleich dem Summenquantum
der Verschiedenheit ihrer Faktoren ist, und zweitens, daß die Ver-
schiedenheit zweier Quotienten gleich dem Differenzquantum der Ver-
schiedenheit der Zähler und der Verschiedenheit der Nenner ist. Was
WiU gtL Abs. 1906. Nr. 1. 3
34 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
endlich die Messung der einfachen Quanta, die keine echten Quali-
täten sind, anbetrifft, so wird gleichfalls schon Bekanntes bezüglich
der Messung von Energie, Kraft und Wahrscheinlichkeit beigebracht.
Besondere Erwähnung findet, daß die psychische Energie günstigen-
falls an außerpsychischen Gegenständen, als Surrogaten, meßbar ist,
und hinsichtlich des Wertes wird betont, daß er an der Größe der
ihm korrelaten Werthaltung gemessen werden kann. Wir finden in
alledem Beiträge zur Methodik besonderer Wissenschaften, die man
ihrem wissenschaftlichen Charakter nach ebensogut zu den betreffenden
Wissenschaften wie zur logischen Methodenlehre rechnen kann.
Damit glauben wir den Nachweis erbracht zu haben, daß auch
in den speziellen Untersuchungen Mallys nichts Gegenstandstheo-
retisches zu finden ist, was nicht in der Mathematik oder der Logik
heimatberechtigt wäre. Trotzdem sei noch kurz erwähnt, wie Mally
am Schluß der besprochenen Ausführungen >die in der Einleitung
versuchte vergleichende Charakteristik von Gegenstandstheorie des
Messens und Mathematik < glaubt > ergänzen < zu können. Er meint:
»Gegenstandstheorie des Messens befaßt sich mit den Messungs-
objektiven überhaupt, reinen und determinierten ; mit deren Objekten,
den reinen und den determinierten Quantis, und mit deren bestim-
menden Gegenständen, den Zahlen. Mathematik betrachtet außer
den determinierten Messungsobjektiven, deren Objekte geometrische
Baumquanta sind, nur reine Messungsobjektive, — die Quanta,
außer den geometrischen, nur als Objekte reiner Messungobjektive,
d. h. nur sofern sie reine Quanta sind, ihrer relativen Größe
nach; endlich betrachtet sie auch die bestimmenden Gegenstände,
die Zahlen. Sie hat aber außer den Messungsobjektiven noch ein
weites Gebiet ihrer Untersuchungen c.
Wenn wir diese Unterscheidung recht verstehen, so kommt sie
auf eine Gegenüberstellung reiner und angewandter Mathematik hin-
aus. Die reine Mathematik hat freilich nichts mit > determinierten <
Gegenständen wie Geschwindigkeit, Energie, Wert u. s. w. zu tun.
Aber in die Gegenstandstheorie gehören diese, wie wir gezeigt zu
haben glauben, ebensowenig.
Wichtiger jedoch, als der eben erwähnte Unterschied, soll der
Gegensatz sein, der zwischen Gegenstandstheorie des Messens und
Mathematik hinsichtlich der Art und Weise bestehe, wie sie ihre
Gegenstände betrachten. Diesen Gegensatz glaubt Mally > psycho-
logische so kennzeichnen zu können: > Gegenstandstheorie untersucht
die Gegenstände gegebener Vorstellungen und insbesondere ge-
gebener ^Begriffe, Mathematik bildet Begriffe und untersucht die
in ihren Definitionen angenommeneu Gegenstände«.
ÜDtersQchangen zur GegeDstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 35
Demgegenüber müssen wir betonen, daß ein > gegebener Begriffe
uns in gewissem Sinn ein Unding zu sein scheint. Jeder Begriff ist
ja seiner Natur nach eine Schöpfung des Menschen. Höchstens in
dem Sinn kann von einem gegebenen Begriff die Rede sein, daß der-
selbe von einer Wissenschaft bearbeitet und einer anderen Disziplin
>gegeben< d.h. zur weiteren Behandlung dargeboten wird. Id diesem
Fall kommt aber die in Rede stehende Unterscheidung darauf hinaus,
daß der Beschäftigung mit angenommenen Gegenständen, d. h.
mit Gegenständen, die nur die ihnen ausdrücklich zugeschriebenen
Eigenschaften besitzen, eine Beschäftigung mit empirisch ge-
gebenen Gegenständen entgegengesetzt wird, d.h. mit Gegenständen,
die nicht als Träger bestimmter Eigenschaften fingiert sondern als
tatsächliche Vereinigung von Eigenschaften aus der Erfahrung be-
kannt sind. Aber die Beschäftigung mit letzteren ist eben des-
halb nicht Sache einer apriorischen sondern einer aposterio-
rischen Wissenschaft. Sie gehört nicht in die Gegenstandstheorie
sondern in die empirischen Wissenschaften. Daß gelegentlich auch
in den letzteren, nachdem eine Reihe von Begriffen empirisch ge-
wonnen worden sind, rein begrifflich gewisse Beziehungen sich fest-
stellen lassen, soll natürlich nicht geleugnet werden. Die Deduktion
braucht auch in induktiven Wissenschaften nicht vollständig zu fehlen.
Es besteht jedenfalls kein Grund, das, was aus Erfahrungsergebnissen
deduktiv erschlossen ist, für vollkommen a priori erkennbar zu halten
und den empirischen Wissenschaften zu entziehen. Kurz, wir müssen
nach wie vor daran festhalten, daß die Gegenstandstheorie, sofern
sie den aposteriorischen Wissenschaften gegenüber gestellt wird, in
Logik und Mathematik aufgeht. Ob es zweckmäßig ist, diese beiden
unter dem Begriff der formalen Disziplinen bereits zusammengefaßten
Wissenschaften dem Oberbegriff der Gegenstandstheorie unterzuordnen,
darauf wollen wir nicht weiter eingehen. Nachdem wir gesehen
haben, daß der Gegenstandstheorie weder die Gesamtheit aller Gegen-
stände noch auch nur die Gesamtheit der idealen Gegenstände zur
Behandlung zugewiesen werden kann,^) halten wir die Wahrscheinlich-
keit, bei näherer Betrachtung zu einer positiven Entscheidung der
Zweckmäßigkeitsfrage zu gelangen, für nicht sehr groß.
1) Die Frage, ob nicht die allgemeinsten, den realen und idealen Gegen-
ständen zukommenden Eigentümlichkeiten einer besonderen Untersuchung unter-
zogen werden könnten, ist natürlich mit der Ablehnung der Meinongschen »Oegen-
standstheorie« nicht verneint. Ein einzelnes, teUweise nur a posteriori zu lösendes
Problem der Erkenntnistheorie und die Aufgabe einer selbständigen apriorischen
Wissenschaft sind eben zweierlei Dinge.
3*
3Ö Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
IL
üeberOekonomie des Denkens. Von Dr. Wilhelm Frankl. S.263-302.
Was versteht man unter »Oekonomie des Denkens?« Auf diese
Frage wUrden wir antworten: Der Ausdruck > Oekonomie des Denkens«
bezeichnet die Eigenart der Denkprozesse, durch die es uns möglich
wird, bei aller Beschränktheit unserer geistigen Kraft doch das
Riesenwerk der Welterkenntnis zu fördern. Die Beschränktheit
unserer geistigen Kraft zeigt sich in den Tatsachen der Enge des
Bewußtseins- und Aufmerksamkeitsumfangs, vor allem darin, daß von
der Stärke der Konzentration, die sich in Klarheit und Deutlichkeit,
in der Menge und Beschaffenheit der Einzelheiten eines erfaßten
Gegenstandes zu erkennen gibt, nicht nur der Umfang der zu er-
fassenden Gegenstände sondern auch die Geschwindigkeit, mit der
die Aufmerksamkeit von einem Gegenstand zum andern überzugehen
vermag, abhängig ist. Wer mit der Fähigkeit zu einer höheren
Konzentration die Fähigkeit raschen Konzentrationswechsels verbindet,
wer also beispielsweise neben einander einen Brief diktieren und ein
Buch lesen kann, dem werden wir höhere geistige Kraft zuerkennen
als demjenigen, der nur Konzentrationsfestigkeit ohne die Fähigkeit
raschen Wechsels besitzt, der also nur entweder lesen oder diktieren
kann, und natürlich noch weit höhere als demjenigen, der weder das
eine noch das andere fertig bringt, weil es ihm überhaupt an Kon-
zentrationsfestigkeit gebricht.
Zeigt demnach die geistige Kraft bei verschiedenen Individuen
Größenunterschiede, so reicht sie über ein gewisses Maximum er-
fahrungsgemäß bei keinem Menschen hinaus. Mit einem endlichen
Maß geistiger Energie treten wir also an die Aufgaben des Erkennens
heran. Es ist klar, daß wir den Zweck des Erkennens, die gewünschte
Orientierung in der Wirklichkeit, die Klarheit und Widerspruchs-
losigkeit in unserer Gedankenwelt und was man sonst noch anführen
mag, nicht erreichen könnten, wenn wir nicht haushälterisch mit den
uns zu Gebote stehenden Mitteln umgingen. Wenn wir beispielsweise
in lauter Individualbegriffen denken wollten, so würde durch die auf
unbedeutende Einzelheiten verwendete und verschwendete Konzen-
tration der Ueberblick über große Zusammenhänge erschwert und
unmöglich gemacht. Wenn wir zu jedem neuen Eindruck, den wir
von >demselben Ding< erhalten, einen neuen Begriff konstruieren
würden, statt neben der Einheit des Dinges die Verschiedenheit
seiner Aspekte fast unbeachtet zu lassen, wenn wir statt allgemeiner
Gesetze jeden einzelnen Zusammenhang nach seiner örtlichen, zeit-
lichen und sonstigen Besonderheit ins Auge fassen wollten, dann
stünde es schlecht um unsere Welterkenntnis.
üntenachongen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. Ton Meinong. 97
Sofern wir nun in der Tat anders verfahren, sofern wir die
Rücksicht auf das Individuelle dem Erfassen des Allgemeinen, die
Detailerkenntnis dem Ueberblick in vielen Fällen '»opfem<, sofern
können wir von Oekonomie des Denkens reden. Und da die Bildung
allgemeiner Begriffe, die Anwendung der Substanz- und Eausalitäts-
Kategorie unser ganzes Denken und Erkennen bestimmt, so dürfen
wir wohl auch von einem >Prinzip< der Denkökonomie sprechen.
Wenn dann die Frage aufgeworfen wird, ob etwas, was den
Gattungsbegriffen entspricht, ob femer Substanzen und Kausalzu-
sammenhänge in der Wirklichkeit vorkommen, so kann man dieser
Frage gegenüber eine verschiedene Stellung einnehmen. Man kann
sie entweder für unberechtigt erklären, indem man sagt, die durch
das Prinzip der Oekonomie des Denkens bedingten Denkformen seien
in sich selbst gerechtfertigt, weil sie den Zwecken des Erkennens
entsprächen, das gar nicht auf ein Erfassen von Transscendentem, viel-
mehr nur auf Herstellung einer geordneten, klaren Uebersicht über
das Gegebene und seine Zusammenhänge angelegt sei. Oder aber
man kann die in Rede stehende Frage für berechtigt halten. In
diesem Fall ist wieder ein Doppeltes möglich. Man kann nämlich
versuchen nachzuweisen, daß die durch das Oekonomieprinzip be-
dingten Denkformen zugleich Anspruch auf Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit (im Sinn einer festgestellten oder doch sehr annehm-
baren Uebereinstimmung mit dem Gegenstand) besitzen — oder man
kann die Wahrheitsfrage als eine zwar vernünftige, aber vorläufig
nicht zu beantwortende Frage unentschieden lassen.
Damit glauben wir die wichtigsten erkenntnistheoretischen und
psychologischen Probleme, die sich an den Begriff der Denkökonomie
knüpfen, gestreift zu haben. Wenn wir nun demgegenüber die Aus-
führungen Frankls über Oekonomie des Denkens betrachten, so finden
wir teilweise andere Fragestellungen, teilweise auch andere Lösungen
als die oben angedeuteten. Sehen wir also zu, inwiefern dies eine
Ergänzung, inwiefern es einen Widerspruch bedeutet und wie ein
etwa bestehender Widerspruch sich auflösen läßt.
Frankl bemüht sich zunächst um eine Definition des Begriffes
Oekonomie. Er konstatiert, daß wir von Oekonomie sprechen
1. dort, wo eine Leistung L durch eine Handlung H erzielt
wird, welche auch durch eine Handlung H' erzielt werden könnte,
wobei H^zir,
2. dort, wo eine Leistung L durch eine Handlung H erzielt wird,
wenn durch IT auch eine Leistung V erzielt werden könnte, wobei L'<c:L.
In beiden Fällen, die als Spar- und Wirtschaftsökonomie aus-
einandergehalten werden, handelt es sich, wie unser Autor betont,
38 Gdtt. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
a) um quantitative Momente von H bezw. Z,
b) um ein Verhältnis des Tatbestandes, der durch JT* und L
ausgemacht wird (dieser Tatbestand wird mit T bezeichnet), zu einem
anderen Tatbestand ähnlicher Art (ökonomische Vergleichsgröße ge-
nannt und mit T bezeichnet), der durch IT und L oder durch H
und L' dargestellt wird, also mit dem erstgenannten Tatbestand ent-
weder das H oder das L gemeinsam hat.
Uebrigens führt Frankl auch noch einen dritten Fall, den Fall
»gemischter Oekonomiec an, wo dem T = H,L ein T = H\ L'
gegenübersteht, wo also T und T weder H noch L gemeinsam
haben. Unter allen Umständen aber kommt der Oekonomie »Bino-
mialitätc und >Relativität< zu. Wo entweder die Binomialität oder
die Relativität fehlt, da kann vielleicht von Einfachheit bezw. Zweck-
mäßigkeit, nicht aber von Oekonomie die Rede sein. Von einem
Oekonomie prinzip endlich darf nach Frankl nur gesprochen werden,
wo die Formel anwendbar ist: > Alle ^Tatbestände sind ökonomische,
wenn wir »mit t die rein qualitative Bestimmtheit des Oekonomie-
binoms T bezeichnen <.
Prüfen wir im Lichte dieser Definitionen unsere Betrachtungen
über das Wesen der Denkökonomie, so finden wir zu einer Korrektur
derselben kaum Veranlassung. Wir haben eine Leistung L namhaft
gemacht, die den Zweck des Erkennens darstellt, und haben darauf
hingewiesen, daß dieser Zweck durch ein i/, d. h. durch das Denken
in AllgemeinbegrifTen, in Substanz- und Kausalkategorien erreicht
wird, während er auch durch ein H\ d. h. durch ein Denken in
lauter Individualbegriffen erreicht werden könnte, wenn wir überhaupt
imstande wären, H' durchzuführen. Oder, wenn wir mit IT die
Denkarbeit bezeichnen, die ein Mensch beim Denken in lauter Indi-
vidualbegriffen vollbringen könnte, dann ließe sich der früher erwähnte
Tatbestand auch so ausdrücken: Durch H' wird nur ein kleiner Teil
von Z, dem durch H zu erreichenden Zweck der Erkenntnis erreicht.
Haben wir demnach auf Grund der Definitionen unseres Autors das
Recht, von Denkökonomie zu sprechen, so dürfen wir auch ein
Prinzip der Denkökonomie statuieren, indem wir behaupten können:
Jegliches Denken in AllgemeinbegrifTen ist gegenüber dem Denken
in Individualbegriffen, jegliches Denken mittels der Substanz- und
Kausalkategorie ist gegenüber dem diese Kategorien umschreibenden
Denken ökonomisch.
Zu diesen einfachen Schlußfolgerungen treten jedoch die Be-
trachtungen über Denkökonomie, die Frankl seinen allgemeinen
Definitionen folgen läßt, in einen seltsamen Widerspruch. Frankl
üntenachangen zur GegenatancUtbeorie nod Psychologie, hrs. von Meinong. 39
bezeichnet nämlich die > Behauptung von allgemeiner Denkökonomie
als psychologisches Oekonomieprinzipc und kommt zu dem Resultat,
daß ein allgemeines psychologisches Oekonomieprinzip abzulehnen ist.
Dagegen statuiert er:
1. Ein biologisches Oekonomieprinzip, »dahin zu formulieren,
daß die dauernd existierenden Lebewesen in ihrem Verhalten
nicht unter einen gewissen Grad von Oekonomie herabgehen,
welcher Grad jedoch vom Kraftbesitz der Individuen abhängig
und mit diesem variabel ist<.
2. Ein psychologisches Oekonomieprinzip der Gewohnheit,
dahin lautend: >Alle gewohnten psychischen Tätigkeiten sind
ökonomisch«.
3. Ein erkenntnistheoretisches Oekonomieprinzip der In-
duktion, »besagend, daß die auf Induktion beruhenden Urteile
ökonomischer sind als andere, die sich auf denselben Gegenstand
beziehen«.
4. Ein erkenntnistheoretisches Prinzip der Hypothesen-
ökonomie, >dahin lautend, daß die mehr Tatsächliches er-
klärende Hypothese ceteris paribus wahrscheinlicher ist, als die
weniger erklärende«.
5. Ein wissenschaftstheoretisches Oekonomieprinzip folgenden
Wortlauts: >Die Wissenschaft zieht ceteris paribus einfache
Formulierungen den weniger einfachen vor«.
6. Wundts methodologisches Prinzip, bestehend in der > Forde-
rung, die Probleme in Her möglichst einfachen Weise zu formu-
lieren und sich des möglichst einfachen Verfahrens zu ihrer
Lösung zu bedienen«.
7. Ein emotionales Oekonomieprinzip der Lust, nämlich Höflers
Lustgesetz: > Insoweit Lust an das Verrichten psychischer Arbeit
geknüpft ist, und insoweit sich letztere auf den Typus p s (Span-
nungsfaktor X Wegfaktor) zurückführen läßt, wächst die Lust mit
dem wachsenden ^ und nimmt ab mit dem wachsenden p<.
8. Ein emotionales Oekonomieprinzip des Wertes, welches
besagt: >Sofern Oekonomie einen realisierbaren Werttatbestand
bedeutet, kann man eine Tendenz zu demselben vermuten, bezw.
kann man die Endglieder einer Entwicklungsreihe als ökonomische
vermuten <.
9. Wundts didaktisches Oekonomieprinzip, die »Forderung,
einen gegebenen wissenschaftlichen Inhalt in der möglichst ein-
fachen Form zum Ausdruck zu bringen<.
Ueberblickt man die Gesamtheit dieser Prinzipien, so ist zunächst
der Einteilungsgrund nicht recht zu erkennen. Die meisten sind
I
40 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
offenbar lediglich nach den Wissenschaften benannt, von denen sie
konstatiert werden. So kann z. B. von einem biologischen oder von
einem wissenschaftstheoretischen Oekonomieprinzip nur in dem Sinn
gesprochen werden , daß biologische oder wissenschaftstheoretische
Gedankengänge zu seiner Entdeckung führen. Andererseits ist aber
auch klar, daß ein emotionales Oekonomieprinzip nicht ebenfalls nur
deshalb das Attribut emotional verdient, weil etwa Gefühle zur Er-
kenntnis ökonomischen Verhaltens irgend welcher Art Veranlassung
geben.
Doch nehmen wir einmal an, Frankl habe mit der Bezeichnung
> emotionales Oekonomieprinzip« sich nur vergriffen und habe eigentlich
> gefühlspsychologisches Oekonomieprinzip < sagen wollen, dann können
wir trotzdem seiner Einteilung den Vorwurf der Unzweckmäßigkeit
nicht ersparen. Eine Vollständigkeit der Einteilung wenigstens wird
nicht gewährleistet, wenn man einfach die verschiedenen Wissen-
schaften durchgeht, in denen Oekonomieprinzipien konstatiert werden.
Und es ist auch nicht einzusehen, warum ein und dasselbe Prinzip
zweimal aufgeführt werden soll, wenn es zufällig von zwei ver-
schiedenen Wissenschaften sich feststellen läßt. Sehr viel näher liegt
es doch, die Oekonomieprinzipien, wenn es deren im Gebiet des
Denkens überhaupt mehrere gibt, nach der Eigenart der Tatbestände
zu unterscheiden, die ökonomisch sind.
Sucht man nun innerhalb der Klassifikation Frankls nach Gruppen,
die sich dieser letzteren Anordnung fügen, so stößt man auf große
Schwierigkeiten. In erster Linie könnte man vielleicht auf den Ge-
danken kommen, die > emotionalen Prinzipien«, die sich mit der Ein-
teilung nach den einzelnen, ein ökonomisches Verhalten konstatierenden
Wissenschaften nicht vertragen, stünden > intellektuellen Prinzipien <
in dem Sinn gegenüber, daß diese Oekonomie des Denkens, jene
Oekonomie des Gefühlslebens aussagen. Aber abgesehen davon, daß
Frankls Abhandlung auf eine Betrachtung der Oekonomie des Denkens
sich beschränken sollte, die angedeutete Gegenüberstellung erweist
sich überhaupt bei näherer Betrachtung der > emotionalen Prinzipien <
als unrichtig; denn es handelt sich bei letzteren nicht um den Aus-
druck der Tatsache, daß alle emotionalen oder auch nur» daß gewisse
emotionale Erlebnisse ökonomisch sind, d. h. daß an Gefühlen gespart
wird. Ferner soll keineswegs behauptet werden, daß Gefühle stets
oder unter gewissen Umständen immer durch verhältnismäßig ge-
ringen Arbeitsaufwand hervorgerufen werden. Das Gesetz, daß
geringere psychische Arbeit manchmal lustvoller empfunden wird als
größerer geistiger Energieverbrauch, ist überhaupt kein Oekonomie-
prinzip, ebenso wenig wie die > Vermutung, daß am Ende einer Ent-
ünterrachungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 41
wickinngsreihe ökonomisches Verhalten als realisierter Werttatbestand
hervortretet.
Es ist geradezu unverständlich, sowohl, daß Frankl hier von einem
Oekonomieprinzip, als auch, daß er von einem emotionalen Tatbestand
spricht. Aber nicht minder unbegreiflich ist auch die Subsumption
von Forderungen der Einfachheit unter den Begriff von Oekonomie-
prinzipien. Unser Autor scheint ganz zu übersehen, daß Imperative
niemals auf die Formel zurückgeführt werden können: >Alle ^Tat-
bestände sind ökonomisch <. Wenn wirklich überall da, wo Einfach-
heit verlangt wird (NB. ohne daß angegeben zu werden braucht,
worin die Einfachheit besteht), von einem Oekonomieprinzip gesprochen
werden dürfte, dann könnten wir übrigens die stattliche Zahl der
Fränkischen Oekonomieprinzipien noch um ein beträchtliches ver-
mehren.
Sehr naheliegende Einwände ließen sich femer erheben gegen
die Formulierung des biologischen Oekonomieprinzips und gegen die
kritiklose Vermengung von Hypothesenökonomie und Wahrscheinlich-
keit. Inwiefern Oekonomie darin liegen soll, daß die mehr Tatsäch-
liches erklärende Hypothese ceteris paribus wahrscheinlicher ist als
die weniger erklärende, ist überhaupt kaum einzusehen, wenn man
nicht den Mut hat, die Hypothese und ihre Wahrscheinlichkeit als
Mittel und Zweck einander gegenüberzustellen.
Somit kommen als wirkliche Oekonomieprinzipien unter all den
von Frankl angeführten höchstens noch in Betracht die Sätze, daß
alle gewohnten psychischen Tätigkeiten ökonomisch seien, daß die
auf Induktion beruhenden Urteile einen Fall von Oekonomie dar-
stellen und daß in der Vorliebe der Wissenschaft für die Annahme
einfacher Verhältnisse, wo diese zur Erklärung ausreichen, ein ökono-
misches Verfahren sich erkennen lasse. Von diesen Sätzen kann aber
der letzte als Oekonomieprinzip deshalb nicht gelten, weil die An-
nahme einfacher Verhältnisse, die einfachere Hypothese — wenn wir
uns der Frankischen Symbole bedienen — kein H sondern ein L
darstellt und weil keineswegs einzusehen ist, wie dasselbe L durch
ein anderes H erreicht werden soll. Mit anderen Worten: Jede
Hypothese ist nicht nur Mittel zur Erklärung, sondern stellt als Ur-
teil über ein unserer Erfahrung entzogenes Stück Wirklichkeit einen
Selbstzweck dar, und wenn die einfachere Hypothese als wahrschein-
licheres Urteil vorgezogen wird, so kann man nicht sagen, daß die
kompliziertere Annahme denselben nur auf größerem Umweg erreichten
Zweck repräsentiere.
Es bleiben also nur die von Frankl sogenannten Oekonomie-
prinzipien der Gewohnheit und der Induktion übrig. Von diesen ist
I
42 Qöti gel Anz. 1906. Nr. 1.
das letztere ein spezieller Fall desjenigen Oekonomieprinzips, das wir
als Prinzip der Denkökonomie formuliert haben, und welches besagt,
daß alles Denken in Allgemeinbegrififen, wozu natürlich auch die Fest-
stellung allgemeiner Zusammenhänge durch Induktion gehört, öko-
nomisch ist. Das Oekonomieprinzip der Gewohnheit dagegen kann
nur mit gewissen Einschränkungen aufrecht erhalten werden. Denn
daß nicht alle gewohnten psychischen Tätigkeiten ökonomisch sind,
sondern nur diejenigen, die einen bestimmten Zweck erfüllen, gegen-
über den ungewohnten, welche denselben Zweck erfüllen sollten, das
braucht wohl nicht ausführlich nachgewiesen zu werden. Fragen
wir nun , welche psychischen Vorgänge als H einem L zugeordnet
werden können, so kommen die Gefühle als solche jedenfalls nicht
in Betracht. Wir sind also höchstens in der Lage, einer Oekonomie
des gewohnheitsmäßigen Denkens eine solche des gewohnheitsmäßigen
Wo 1 lens gegenüberzustellen. Dagegen ließe sich in der Tat nichts
einwenden, und wenn es sich um die Bestimmung der Oekonomie
psychischer Vorgänge überhaupt handelte, dann würde unsere Kon-
statierung einer Oekonomie des Denkens durch den Hinweis auf
eine mögliche Oekonomie des Wollens eine wertvolle Ergänzung finden.
Da wir aber den Begriff der Denkökonomie nicht in dem weiten
Sinn einer Oekonomie psychischer Vorgänge überhaupt fassen, so
bedeutet Frankls Prinzip der Gewohnheitsökonomie keine Erweiterung
unseres Prinzips der Denkökonomie, da das gewohnheitsmäßige
Denken kein Denken neben dem mit identischen Gegenständen und
allgemeinen Begriffen operierenden Denken ist. Nur eine Teil-
bedingung, durch welche die Oekonomie des Denkens beeinflußt
werden kann, vermögen wir in der Gewöhnung zu sehen, so daß ^ir
abschließend sagen können: Es gibt eine Oekonomie des Denkens,
die durch Gewohnheit, durch die Annahme identischer Gegenstände
und durch die Konstruktion allgemeiner Begriffe und Gesetze be-
dingt wird.
Den Versuch Frankls, die Oekonomie des Denkens in Allgemein-
begriffen auf Gewohnheitsökonomie zurückzuführen, und seine Polemik
gegen die Formulierung des Oekonomieprinzips bei Cornelius müssen
wir als verunglückt bezeichnen. Dagegen darf die Ablehnung der
Oekonomieformel von Avenarius wohl als berechtigt angesehen werden
und es ist nur zu bedauern, daß Frankl eben durch seine Ausein-
andersetzung mit Avenarius dazu veranlaßt worden ist, das Prinzip
der Denkökonomie als allgemeines psychologisches Minimumprinzip
aufzufassen und so bei der begründeten Verwerfung des letzteren
den Blick für die Berechtigung eines allgemeinen Denk Ökonomie-
prinzips zu verlieren.
Untenuchtuigeii zur Gegenstandstheorie nod Psychologie, hn. von Meinong. 43
m.
Zur Psychologie des Gestalterfassens. Von Dr. Vittorio Benussi.
S. 303—448.
Die verschobene Schachbrettfigur. Von Dr. Vittorio Benussi und
Wilhelmine Liel. S. 449—472.
Den Arbeiten von Benussi »Zur Psychologie des Gestalter fassensc
und von Benussi und Wilhehnine Liel >Die verschobene Schachbrett-
figur< ist der Grundgedanke gemeinsam, wonach ein Teil der geo-
metrisch-optischen Täuschungen, speziell die Erscheinungen der
Mliller-Lyerschen Figur und das Schachbrettphänomen aus den Ge-
setzen der Vorstellungsproduktion sollen erklärt werden können.
Einer derartigen Behauptung stehen hauptsächlich zwei Einwände
entgegen, nämlich erstens der Hinweis auf die Regelmäßigkeit, die
in den betrefifenden optischen Täuschungen hervortritt und die in
scharfem Gegensatz zu stehen scheint zu der Willkürlichkeit, mit
welcher bei typischen Fällen von Vorstellungsproduktion bald dieser,
bald jener Eindruck hervorgerufen werden kann. Daneben kommt
zweitens in Betracht, daß die Tatsachen der Vorstellungsproduktion
ihrerseits keine allgemeinen Gesetze sind, die das, was ihnen sub-
sumiert werden kann, ohne weiteres erklären.
Was nun den ersten Einwand anlangt, so sind die experimen-
tellen Untersuchungen, welche den in Rede stehenden Arbeiten zu-
grunde liegen, dazu bestimmt, ihn zu entkräften. Ob sie dazu auch
geeignet sind, das soll uns eine kurze Betrachtung derselben zeigen.
Es handelt sich sowohl bei den Versuchen Benussis wie bei den-
jenigen von Benussi und Liel vor allem um die Feststellung eines
verschiedenen Verhaltens der Versuchsperson demselben Reiztat-
bestand gegenüber bei verschiedener Richtung der Aufmerksamkeit,
femer um die Konstatierung einer Variation dieses verschiedenen
Verhaltens bei fortschreitender Uebung in willkürlicher Aufmerksam-
keitseinstellung und endlich um den Nachweis analoger Variation,
wenn Aufmerksamkeitsreize die Aufmerksamkeitsrichtung beeinflussen.
Was den ersten Punkt anlangt, so unterscheiden die Verfasser
eine G-Reaktion, eine -4-Reaktion und eine Ä-Real^tion ihrer Versuchs-
personen, von denen die erste den Fall bezeichnet, wo die Versuchs-
person aufgefordert wird, die Gesamtgestalt der Täuschungsfigur
aufzufassen. Bei der an zweiter Stelle genannten Reaktionsweise
Muß die Versuchsperson von den die Täuschung bedingenden Bestand-
teilen der Figur, so gut es geht, abstrahieren und von einer
£f-Reaktion wird da gesprochen, wo eine bestimmte Richtung der
Aufmerksamkeit nicht intendiert ist. Es wird nun nachgewiesen.
I
44 Gott. fei. Aai. l^iB. Xr. 1.
daß G-, A' nnd S-Reaktion in verschiedenen Ergebnissen der mit
demselben Reiztatbestand angestellten Versache sich zu erkennen
geben. Diese Versuche bestehen im Fall der an der Müller-Lyerschen
P'igur angestellten Beobachtungen darin, daß zu dem Mittelstfick der
Figur eine schenkellose Strecke von scheinbar gleicher Länge kon-
struiert wird, die von der wirklichen Gleichheit umso weiter entfernt
ist, je ausgeprägter die G-Reaktion auftritt. Bei den Versuchen mit
der Schachbrettfigur wird zu der Trennungslinie der beiden Reihen
von schwarzen und weißen Quadraten eine scheinbare Parallele ge-
zogen. Dabei entspricht diese scheinbare umso mehr der wirklichen
Parallelen, je besser die .4-Reaktion gelingt. Die Ergebnisse der
5-Reaktion liegen stets in der Mitte zwischen den Resultaten der
A' und der G-Reaktion.
Ganz analog wie die Bedeutung der A- und 6-Reaktion wird
femer der Einfluß der A- und G-Uebung nachgewiesen, indem ge-
zeigt wird, daß die Verschiedenheit der Ergebnisse bei den entgegen-
gesetzten Reaktionsarten umso größer ist, je später dieselben ge-
wonnen sind, d. h. je größere Uebung die Versuchsperson im Reagieren
nach Typus A oder G sich erworben hat.
Was endlich den Nachweis der Wirksamkeit von Aufmerksam-
keitsreizen anlangt, so wird derselbe in der Weise erbracht, daß bei
der Müller-Lyerschen Figur Mittelstück und Schenkel in allen mög-
lichen Richtungen variiert werden, während bei dem Schachbrett-
muster die Helligkeit und Farbe der Quadrate sowie die Beschaffen-
heit der Trennungslinie für verschiedene Versuche verschieden gewählt
wird. Dabei zeigt sich eine Verschiedenheit in den Ergebnissen je
nach der Größe des Winkels, den die Schenkel der Müller-Lyerschen
Figur mit dem Mittelstück bilden, je nachdem Schenkel und Mittel-
stUck farblos oder farbig, färben- und helligkeitsgleich oder farben-
und helligkeitsverschieden, durch ausgezogene Linien oder bloß durch
die Endpunkte dargestellt sind, je nachdem femer entweder bloß die
Schenkel oder bloß das Mittelstück ausgezogen bezw. nur angedeutet,
je nachdem endlich beim Schachbrettmuster chromatische oder achro-
matische, helligkeitsähnliche oder sehr verschiedene Quadrate und
eine stark schwarz oder weiß ausgezogene oder eine nur fingierte
Trennungslinie in Betracht kommen. Den Einfluß dieser MomenUe
glauben die Verfasser zusammenfassend dahin bestimmen zu könnem,
daß alle Bedingungen, welche die ^-Reaktion begünstigen, eine Ve9^
ringerung der Täuschungsgröße, alle diejenigen, welche der6r-Reaktiofi
Vorschub leisten, eine Erhöhung des Täuschungsbetrages zur Feiges
haben. Tatsächlich müssen wir zugeben, daß durch die Versuchs*--
resultate eine Auffassung gerechtfertigt erscheint, wonach jeder Um- •
üntersnchuDgen zur Gegenstandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 45
stand die Täuschung vergrößert, der das Hervortreten der bei der
^-Reaktion zu übersehenden Bestandteile begünstigt.
Es fragt sich nun, ob dadurch die Erklärung der in Rede
stehenden Erscheinungen als >Produktionstäuschungen< zureichend
begründet erscheint. Diese Frage kann man unbedenklich bejahen,
wenn man jede Täuschung, die nicht peripher bedingt ist, d. h. nicht
in der Beschaffenheit der Sinnesorgane oder in der Beschaffenheit
der inadäquat vorgestellten Reize ihren Grund hat, und die auch
nicht als Urteilstäuschung sich betrachten läßt — eine Täuschung
der Vorstellungsbildung , eine Produktionstäuschung nennt. Daß
nämlich die Phänomene der MüUer-Lyerschen Figur und des Schach-
brettmusters keine peripher bedingten und keine Urteilstäuschungen
sind, das scheint durch die Untersuchungen unserer Autoren unwider-
leglich dargetan zu sein.
Aber Täuschungen, die bei der Vorstellungsbildung durch die
gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Bestandteile zustande
kommen, Produktionstäuschungen in dem erwähnten weiten Sinn,
können immer noch den verschiedensten Charakter besitzen. Wenn
beispielsweise die sich bildende Vorstellung von einer uns geläufigen
ähnlichen Vorstellung assimiliert wird, wie es im Fall der Illusion
geschieht, wo die den Reizbestandteilen entsprechenden Vorstellungs-
bestandteile durch assoziativ erregte Vorstellungen teils ergänzt, teils
ersetzt oder doch umgestaltet werden — oder wenn die den Augen-
bewegungen entsprechenden Empfindungen einen optischen Total-
eindruck anders gestalten als er ohne sie beschaffen wäre, so haben
wir es offenbar auch mit Produktionstäuschungen im angegebenen
Sinn zu tun. Wenn nun Benussi in seiner Kritik der bisher zur
Erklärung der Müller -Ly ersehen Täuschung aufgestellten Theorien
die > perspektivische Deutungc Thierys, die > Erklärungsversuche
durch assoziierte Vorstellungen <, wie sie sich bei Heymans, Lipps
und Stilling finden, und die > Erklärungsversuche durch die Augen-
bewegungen< von Binet, van Biervliet, Delboeuf und Wundt verwirft,
80 darf er eigentlich nicht seine Erklärung der Müller-Lyerschen
Täuschung als einer Produktionserscheinung schlechthin den genannten
Theorien gegenüberstellen.
Er versucht zwar das Wesen der Produktionstäuschung näher
dahin zu bestimmen, daß >als Ursache der inadäquaten Vorstellungs-
produktion eine gegenseitige Beeinflussung der in Realrelation
stehenden Inferioreninhalte zu vermuten« sei. Wenn damit gesagt
sein soll, daß nur die Inferioreninhalte und keine Nebenempfindungen,
die in die Gesamtvorstellung eingehen (wie z. B. die Empfindungen
Ton Augenbewegungen), sowie keine Bestandteile einer eventuell für
46 Gott gel. Anz. 19()6. Nr. 1.
die Produktion richtunggebenden >ZielvorsteIIung< sich an der Hervor-
bringung der Täuschung beteiligen, dann ist allerdings ein bestimmter
Fall von Produktionstäuschung ins Auge gefaßt. Aber warum die
Inferioreninhalte sich beeinflussen und wie sie sich beeinflussen, das
bleibt vollkommen im Dunkeln. Wir können es uns einigermaßen
erklären, wie und warum die >Aufgabe< einer Vorstellungsproduktion,
sei es durch das Verstehen des die Lösung bezeichnenden Wortes
oder in Form der Ziel Vorstellung im Sinn eines > indirekten Vor-
stellens«, bestimmend einwirkt auf das Produktionsergebnis. Man
hat auch versucht, den hypothetischen Einfluß der Augenbewegungen
in Form eines allgemeinen Gesetzes darzustellen. Aber ein allgemeines
Gesetz, wonach Inferioreninhalte überhaupt sich gegenseitig beein-
flussen, kennen wir nicht. Daher ist die Erklärung der Müller-
Lyerschen Täuschung als einer Produktionstäuschung nichts anderes
als eine Konstatierung des Tatbestandes, daß die Schenkel der Figur
den bekannten Einfluß auf die Vorstellung der Länge des Mittelstücks
ausüben und daß dieser Einfluß von der Vorstellung der Schenkel,
nicht von irgend welchen anderen Vorstellungen und Vorstellungs-
bestandteilen ausgeht.
Das gleiche gilt auch für die Erklärung des Schachbrettphänomens
als einer Produktionstäuschung. Doch kommt hier noch ein weiteres
Moment hinzu. Das Schachbrettphänomen wird nämlich als ein be-
sonderer Fall der Zöllnerschen Täuschung von den Verfassern dar-
gestellt und zwar wird >die Gleichartigkeit der in Rede stehenden
Täuschungsgestalt mit der Zöllnerschen dadurch nachgewiesen, daß
sich das Maß der Täuschung um so mehr erhöht, je mehr die Vor-
stellung der durch 'die Zöllnersche Figur dargebotenen Gestalt —
bedingt durch die bekannte Lageverschiedenheit zweier sich kreuzender
Geraden — beim Anblick der verschobenen Schachbrettfigur in den
Vordergrund tritt«. Nehmen wir an, dieser Nachweis, auf dessen
Beurteilung hier nicht näher eingegangen werden soll, sei gelungen,
dann ist damit natürlich weder das Zöllnersche noch das Schachbrett-
phänomen erklärt. Es ist nur die Aufgabe der Erklärung insofern
vereinfacht, als durch eine Hypothese zwei Erscheinungen verständ-
lich gemacht werden können. Damit ist aber nicht, wie man viel-
leicht vermuten könnte, die oben vermißte Allgemeinheit für die
>Produktionstäuschungs-Hypothese< gewonnen; denn es handelt sich
ja beim Schachbrettphänomen nicht um eine Variation , sondern nur
um eine Verschleierung des gleichen Tatbestands, der bei der
Zöllnerschen Täuschung vorliegt. Der Müller-Lyerschen Figur gegen-
über bedeutet die Zöllnersche und die verschobene Schachbrettfigur
wohl eine Variation des zu erklärenden Tatbestandes. Dagegen fehlt
ÜDtersachuDgen zur Gegen8tandstbeorie uud Psychologie , hrs. von Mcinong. 47
hier die Einheitlichkeit der Hypothese. Es soll sich zwar beide Male
um ProduktioDstäuschungen handeln, aber die Art, wie die Inferioren-
inhalte einander beeinflussen, ist eine ganz verschiedene, indem einer-
seits eine Größen- andererseits eine Richtungsveränderung in Betracht
kommt.
Kurz, wir können das Ergebnis dieser kritischen Betrachtungen
dahin zusammenfassen, daß, wenn es auch den Verfassern gelungen
ist, den ersten der eingangs berührten Einwände zu widerlegen,
trotzdem oder vielleicht eben deswegen der zweite Einwand bestehen
bleibt, wonach die Bezeichnung einer Täuschung als Produktions-
täuschung noch keine Erklärung bedeutet.
Im übrigen ist aber nicht nur die sorgfältige Verarbeitung und
die Reichhaltigkeit der Versuchsergebnisse, sondern auch die ein-
gehende Kritik der über die Müller-Lyersche und über die Schach-
bretttäuschung bisher aufgestellten Theorien hervorzuheben, wodurch
die in Rede stehenden Arbeiten dankenswerte Beiträge zur Psycho-
logie der geometrisch-optischen Täuschungen liefern.
IV.
Ein neuer Beweis für die spezifische Helligkeit der Farben. Von
Dr. Vittorio Benussi. S. 473—480.
Eine scharfsinnige psychologische Untersuchung sehen wir auch
in der Abhandlung Benussis, die sich mit einem neuen Beweis für
die spezifische Helligkeit der Farben beschäftigt. Benussi weist
Dämlich durch geschickte Kombination einer farbigen Scheibe mit
farblosem Kreisring und einer farblosen Scheibe mit farbigem Ring
in eleganter Weise nach :
1. >Daß die Helligkeit eines gegebenen Grau erhöht erscheint,
wenn man es der Induktionswirkung einer gleich hellen
blauen oder grünen Farbe exponiert, herabgesetzt dagegen,
wenn die induzierende Farbe rot oder gelb ist.<
2. »Daß die Helligkeit einer gelben oder roten Fläche bei
Sättigungserhöhung durch eine gleich helle Um-
gebung erhöht, diejenige einer blauen oder grünen Fläche
dagegen unter den analogen Umständen herabgesetzt
wird.«
Ebenso wird gezeigt, daß die Werte der Helligkeitserhöhung
bezw. -Herabsetzung bei Farbeninduktion dem Betrage der Helligkeits-
herabsetzung bezw. Erhöhung beim Verschwinden der Farbe in der
Dämmerung ungefähr entsprechen oder, wie Benussi sagt, >daß die
durch Farbeninduktion und Dämmerungsbeleuchtung erzielte Heilig-
48 Gott. gel. Anz. 1906. Xr. 1.
keitsverschiebung objektiv gleichheller Farben angenäherte Aequi-
valenzc erkennen lassen.
Sind diese Tatsachen, was bei der geringen Anzahl der mit-
geteilten Versuchsergebnisse freilich nicht kontrolliert werden kann,
über allen Zweifel erhaben, dann scheint auch der Schlußfolgerung
Benussis nichts im Wege zu stehen, daß >die mit dem Hervortreten
der Farbe Hand in Hand gehende Helligkeitszu- oder -abnähme,
die bei helladaptiertem Auge nachgewiesen werden kann, nicht auf
einen Funktionswechsel verschiedener terminaler Netzhautapparate,
sondern auf die den Farben eigene Helligkeit zurückzuführen ist<,
und daß »auch das Purkinjesche Phänomen durch den Hinweis auf
die spezifische Helligkeitc erklärt werden muß.
lieber Vorstellungsproduktion. Von Dr. Rudolf Ameseder.
S. 481—508.
Die Empfindungen sind ihrer Natur nach selbständig, d. h. trotz-
dem es unwahrscheinlich ist, daß es eine Empfindung allein ohne
Zusammenhang mit anderen geben könne, so bedeutet doch eine
alleinstehende Empfindung keineswegs einen inneren Widerspruch.
Ebenso wie die Empfindungen ist auch das durch sie >Erfaßtec, ihr
Gegenstand (der nicht verwechselt werden darf mit ihrer Ur-
sache) innerlich selbständig. Es gibt aber auch Gegenstände, die
fundierten, welche ihrer Natur nach unselbständig sind, und die Vor-
stellungen, durch welche fundierte Gegenstände erfaßt werden, sind
gleichfalls innerlich unselbständig. Folglich können diese Vorstellungen
(von fundierten Gegenständen) keine Empfindungen sein.
So grenzt Ameseder in der vorliegenden Arbeit sein Unter-
sucbungsgebiet ab. Er will die Stellung der Vorstellungen von fun-
dierten Gegenständen in der Gesamtheit des Psychischen bestimmen
und weist deshalb zunächst nach, daß diese Vorstellungen überhaupt
eine besondere Stellung einnehmen, daß sie nicht schlechtweg mit
Empfindungen zusammenfallen. Nun wird freilich von vornherein
nicht leicht jemand auf den Gedanken kommen, die Vorstellungen
von fundierten Gegenständen, z. B. die Vorstellung einer Verschieden-
heit zweier Empfindungen mit einer einfachen Empfindung zu iden-
tifizieren. Dagegen könnte man vielleicht versuchen, die Vorstellung
der Verschiedenheit mit dem Zugleichsein der beiden Empfindungen
zusammenfallen zu lassen und diese Möglichkeit ist durch den Hin-
weis auf die innerliche Unselbständigkeit der betreffenden Vorstellung
keineswegs ausgeschlossen. Wohl aber wird diese Annahme hinfällig
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 49
durch die UeberleguDg, daß zwei Empfindungen gleichzeitig gegeben
sein können, ohne daß die Vorstellung ihrer Verschiedenheit aufzu*
treten braucht. Wir müssen also zugeben, daß es Vorstellungen
gibt, die weder mit einfachen Empfindungen noch mit einem Komplex
von Empfindungen zusammenfallen. Was vermag uns Ameseder
weiter über solche Vorstellungen zu sagen?
Er konstatiert vor allem etwas Terminologisches, nämlich dies,
daß die Bezeichnungen Wahrnehmungsvorstellung und Einbildungs-
vorstellung nicht geeignet sind, die Empfindungen und die in Rede
stehenden Vorstellungen auseinander zu halten. Sowohl der Begriff
der Wahmehmungs- wie der Begriff der Einbildungsvorstellung kann
auf Vorstellungen von fundierten Gegenständen anwendbar sein.
Es fragt sich nun, ob die betreffenden Vorstellungen fundierter
Gegenstände zu ihren Elementarvorstellungen in demselben Verhältnis
stehen wie die fundierten Gegenstände selbst zu ihren Elementen
(die »Superiora« zu ihren »Inferioren«), d. h. ob man von einer
Fundierung der innerlich unselbständigen Gegenstände sprechen
kann. Die Entscheidung hierüber fällt leicht, wenn man die Merk-
male des Fundierten in Betracht zieht. Zwei solche Merkmale hält
unser Autor für charakteristisch, nämlich die Idealität, also Nicht-
wirklichkeit des Fundierten und den Umstand, daß fundierte Superiora
den gegebenen Inferioren mit Notwendigkeit zukommen. Beide Kenn-
zeichen aber treffen für die in Rede stehenden Vorstellungen nicht
zu. Dieselben sind stets etwas Wirkliches und es liegt nicht in der
Natur der Superiusvorstellung , daß sie auf die gegebenen Inferiora
notwendig aufgebaut sein müßte; sie kann vielmehr auch ganz
fehlen. > Fundiert sind also die Vorstellungen fundierter Gegenstände
nicht. Daß sie sich gleichwohl auf die Inferioravorstellungen auf-
bauen, ist zweifellos.« Es fragt sich nur, welche Art des Aufbaus
in Betracht kommt.
Bis hieher sind die vorsichtigen definitorischen und terminologi-
schen Ausführungen Ameseders vor jedem Zweifel geschützt. Aber
nun beginnt die Hypothesenbildung. Wir sehen zwei Möglichkeiten
vor uns. Zunächst könnte nämlich dem idealen Verhältnis der
Fundierung das reale Verhältnis der Eausation gegenübergestellt
werden. In diesem Fall wäre anzunehmen, daß die Inferioravor-
stellungen unter gewissen noch näher zu bestimmenden Umständen
die Superiusvorstellung erzeugen. Andererseits könnte man davon
aasgehen, daß etwas anderes als die Inferioravorstellungen die Haupt-
bedingnng für das Zustandekommen der Superiusvorstellung darstellt,
weil die ersteren häufig ohne die letztere Vorstellung auftreten.
Aber in diesem Fall wäre sorgfältig zu untersuchen, worin jenes
OOtt fftL All. 1906. Kr. 1. 4
50 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Etwas neben den Inferioravorstellungen besteht und wodurch es in
Funktion versetzt wird; denn es betätigt sich ja nicht immer, wenn
die Inferioravorstellungen gegeben sind. In diesem letzteren Fall
bleibt also trotz der hypothetischen Annahme eines >Etwas<, welches
das Auftreten der Superiusvorstellung bedingt, und trotz einer hypo-
thetischen Bestimmung dieses >Etwas< immer noch eine Hypothese
zu bilden darüber, unter welchen Umständen die Superius-
vorstellung erzeugt wird.
Macht man sich dies klar, dann kann man es nicht gerade eine
glückliche Wahl nennen, daß Ameseder zur Lösung der in Rede
stehenden Frage den letzteren Weg eingeschlagen hat, indem er
jenes >Etwas«, das neben den Inferioravorstellungen gegeben sein
muß, als etwas Psychisches betrachtet und das Erzeugen der Superius-
vorstellung > Produktion« nennt. Dabei ist freilich nicht ganz sicher,
ob die Bezeichnung > Produktion« mehr als ein bloßes Wort für die
auf bisher unbekannte Weise sich vollziehende Erzeugung der Superius-
vorstellung sein soll, d. h. ob unser Autor die Nebenbedeutung einer
Tätigkeit des Subjekts mit jener Bezeichnung verbindet. Wenn dies
nicht der Fall ist, so ist natürlich auch gegen den Gebrauch des
Wortes »Produktion« nichts anderes einzuwenden, als daß dadurch
leicht störende Nebenvorstellungen erregt werden. Dagegen muß
unter allen Umständen daran festgehalten werden, daß von einer
psychologischen Erklärung der Bildung von Superi us Vorstellungen
in keinem Fall die Rede sein kann.
Wir finden es daher begreiflich, daß unser Autor im zweiten
»theoretischen« Teil seiner Arbeit, welchen er dem ersten »deskrip-
tiven« Teil gegenüberstellt, nochmals auf »das Wesen der Vorstellungs-
produktion« zurückkommt. Aber das, was er hier vorbringt, ist
kaum viel befriedigender als das bisherige. Wir erfahren, daß die
Superiusvorstellung zu den Inferioravorstellungen in >Realrelation<
steht, wobei »Realrelation« so ziemlich der neutralste Ausdruck zu
sein scheint für eine Beziehung, die nicht Idealrelation sein soll.
Will man trotzdem mit dem Begriflf > Realrelation« eine bestimmtere
Bedeutung verbinden, wozu die Gegenüberstellung > bloßen Kausal-
verhältnisses« Veranlassung geben könnte, so gerät man in die
größten Schwierigkeiten. Man sieht sich nämlich genötigt, den Be-
griff des Realkomplexes, den Ameseder in dem fraglichen Sinn ein-
führt, entweder so zu deuten, daß er von dem Begriff des > Komplexes
von Elementarvorstellungen« nicht mehr zu unterscheiden ist. Dann
würden wir jedoch zu einer Auffassung der Superiusvorstellungen
zurückgeführt, die früher ausdrücklich abgelehnt wurde. Oder man
muß, wie doch tatsächlich Ameseders Absicht zu sein scheint, an«
36 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
n.
UeberOekonomie des Denkens. Von Dr. Wilhelm Frankl. S.263— 302.
Was versteht man unter »Oekonomie des Denkens?« Auf diese
Frage würden wir antworten: Der Ausdruck > Oekonomie des Denkens <
bezeichnet die Eigenart der Denkprozesse, durch die es uns möglich
wird, bei aller Beschränktheit unserer geistigen Kraft doch das
Riesenwerk der Welterkenntnis zu fördern. Die Beschränktheit
unserer geistigen Kraft zeigt sich in den Tatsachen der Enge des
Bewußtseins- und Aufmerksamkeitsumfangs, vor allem darin, daß von
der Stärke der Konzentration, die sich in Klarheit und Deutlichkeit,
in der Menge und Beschaffenheit der Einzelheiten eines erfaßten
Gegenstandes zu erkennen gibt, nicht nur der Umfang der zu er-
fassenden Gegenstände sondern auch die Geschwindigkeit, mit der
die Aufmerksamkeit von einem Gegenstand zum andern überzugehen
vermag, abhängig ist. Wer mit der Fähigkeit zu einer höheren
Konzentration die Fähigkeit raschen Konzentrationswechsels verbindet,
wer also beispielsweise neben einander einen Brief diktieren und ein
Buch lesen kann, dem werden wir höhere geistige Kraft zuerkennen
als demjenigen, der nur Konzentrationsfestigkeit ohne die Fähigkeit
raschen Wechsels besitzt, der also nur entweder lesen oder diktieren
kann, und natürlich noch weit höhere als demjenigen, der weder das
eine noch das andere fertig bringt, weil es ihm überhaupt an Kon-
zentrationsfestigkeit gebricht.
Zeigt demnach die geistige Kraft bei verschiedenen Individuen
Größenunterschiede, so reicht sie über ein gewisses Maximum er-
fahrungsgemäß bei keinem Menschen hinaus. Mit einem endlichen
Maß geistiger Energie treten wir also an die Aufgaben des Erkennens
heran. Es ist klar, daß wir den Zweck des Erkennens, die gewünschte
Orientierung in der Wirklichkeit, die Klarheit und Widerspruchs-
losigkeit in unserer Gedankenwelt und was man sonst noch anführen
mag, nicht erreichen könnten, wenn wir nicht haushälterisch mit den
uns zu Gebote stehenden Mitteln umgingen. Wenn wir beispielsweise
in lauter Individualbegriffen denken wollten, so würde durch die auf
unbedeutende Einzelheiten verwendete und verschwendete Konzen-
tration der Ueberblick über große Zusammenhänge erschwert und
unmöglich gemacht. Wenn wir zu jedem neuen Eindruck, den wir
von > demselben Ding< erhalten, einen neuen Begriff konstruieren
würden, statt neben der Einheit des Dinges die Verschiedenheit
seiner Aspekte fast unbeachtet zu lassen, wenn wir statt allgemeiner
Gesetze jeden einzelnen Zusammenhang nach seiner örtlichen, zeit-
lichen und sonstigen Besonderheit ins Auge fassen wollten, dann
stünde es schlecht um unsere Welterkenntnis.
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. Ton Meinong. 37
Sofern wir nun in der Tat anders verfahren, sofern wir die
Rücksicht auf das Individuelle dem Erfassen des Allgemeinen, die
Detailerkenntnis dem Ueberblick in vielen Fällen '>opfem<, sofern
können wir von Oekonomie des Denkens reden. Und da die Bildung
allgemeiner Begrifife, die Anwendung der Substanz- und Kausalitäts-
Kategorie unser ganzes Denken und Erkennen bestimmt, so dürfen
wir wohl auch von einem > Prinzip < der Denkökonomie sprechen.
Wenn dann die Frage aufgeworfen wird, ob etwas, was den
Gattungsbegriffen entspricht, ob femer Substanzen und Kausalzu-
sammenhänge in der Wirklichkeit vorkommen, so kann man dieser
Frage gegenüber eine verschiedene Stellung einnehmen. Man kann
sie entweder für unberechtigt erklären, indem man sagt, die durch
das Prinzip der Oekonomie des Denkens bedingten Denkformen seien
in sich selbst gerechtfertigt, weil sie den Zwecken des Erkennens
entsprächen, das gar nicht auf ein Erfassen von Transscendentem, viel-
mehr nur auf Herstellung einer geordneten, klaren Uebersicht über
das Gegebene und seine Zusammenhänge angelegt sei. Oder aber
man kann die in Rede stehende Frage für berechtigt halten. In
diesem Fall ist wieder ein Doppeltes möglich. Man kann nämlich
versuchen nachzuweisen, daß die durch das Oekonomieprinzip be-
dingten Denkformen zugleich Anspruch auf Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit (im Sinn einer festgestellten oder doch sehr annehm-
baren Uebereinstimmung mit dem Gegenstand) besitzen — oder man
kann die Wahrheitsfrage als eine zwar vernünftige, aber vorläufig
nicht zu beantwortende Frage unentschieden lassen.
Damit glauben wir die wichtigsten erkenntnistheoretischen und
psychologischen Probleme, die sich an den Begriff der Denkökonomie
knüpfen, gestreift zu haben. Wenn wir nun demgegenüber die Aus-
fuhrungen Frankls über Oekonomie des Denkens betrachten, so finden
wir teilweise andere Fragestellungen, teilweise auch andere Lösungen
als die oben angedeuteten. Sehen wir also zu, inwiefern dies eine
Ergänzung, inwiefern es einen Widerspruch bedeutet und wie ein
etwa bestehender Widerspruch sich auflösen läßt.
Frankl bemüht sich zunächst um eine Definition des Begriffes
Oekonomie. Er konstatiert, daß wir von Oekonomie sprechen
1. dort, wo eine Leistung L durch eine Handlung H erzielt
wird, welche auch durch eine Handlung H' erzielt werden könnte,
wobei /f < W,
2. dort, wo eine Leistung L durch eine Handlung H erzielt wird,
wenn durch jET auch eine Leistung V erzielt werden könnte, wobei L'^^L.
In beiden Fällen, die als Spar- und Wirtschaftsökonomie aus-
einandergehalten werden, handelt es sich, wie unser Autor betont,
38 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
a) um quantitative Momente von H bezw. £,
b) um ein Verhältnis des Tatbestandes, der durch iT und L
ausgemacht wird (dieser Tatbestand wird mit T bezeichnet), zu einem
anderen Tatbestand ähnlicher Art (ökonomische VergleichsgröOe ge-
nannt und mit T bezeichnet), der durch IT und L oder durch H
und U dargestellt wird, also mit dem erstgenannten Tatbestand ent-
weder das H oder das L gemeinsam hat.
Uebrigens führt Frankl auch noch einen dritten Fall, den Fall
»gemischter Oekonomie« an, wo dem T = H,L ein T = H', L'
gegenübersteht, wo also T und T weder H noch L gemeinsam
haben. Unter allen Umständen aber kommt der Oekonomie »Bino-
mialität< und >Relativitäti zu. Wo entweder die Binomialität oder
die Relativität fehlt, da kann vielleicht von Einfachheit bezw. Zweck-
mäßigkeit, nicht aber von Oekonomie die Rede sein. Von einem
Oekonomie prinzip endlich darf nach Fraukl nur gesprochen werden,
wo die Formel anwendbar ist: >AlIe ^Tatbestände sind ökonomisch«,
wenn wir »mit t die rein qualitative Bestimmtheit des Oekonomie-
binoms T bezeichnen«.
Prüfen wir im Lichte dieser Definitionen unsere Betrachtungen
über das Wesen der Denkökonomie, so finden wir zu einer Korrektur
derselben kaum Veranlassung. Wir haben eine Leistung L namhaft
gemacht, die den Zweck des Erkennens darstellt, und haben darauf
hingewiesen, daß dieser Zweck durch ein if, d. h. durch das Denken
in Allgemeinbegrififen, in Substanz- und Kausalkategorien erreicht
wird, während er auch durch ein i/', d. h. durch ein Denken in
lauter IndividualbegriflFen erreicht werden könnte, wenn wir überhaupt
imstande wären, H' durchzuführen. Oder, wenn wir mit IT die
Denkarbeit bezeichnen, die ein Mensch beim Denken in lauter Indi-
vid ualbegrifiFen vollbringen könnte, dann ließe sich der früher erwähnte
Tatbestand auch so ausdrücken : Durch II' wird nur ein kleiner Teil
von Z, dem durch H zu erreichenden Zweck der Erkenntnis erreicht.
Haben wir demnach auf Grund der Definitionen unseres Autors das
Recht, von Denkökonomie zu sprechen, so dürfen wir auch ein
Prinzip der Denkökonomie statuieren, indem wir behaupten können:
Jegliches Denken in Allgemeinbegriifen ist gegenüber dem Denken
in Individualbegriffen, jegliches Denken mittels der Substanz- und
Kausalkategorie ist gegenüber dem diese Kategorien umschreibenden
Denken ökonomisch.
Zu diesen einfachen Schlußfolgerungen treten jedoch die Be-
trachtungen über Denkökonomie, die Frankl seinen allgemeinen
Definitionen folgen läßt, in einen seltsamen Widerspruch. Frankl
/
Untersnchnngen zur Gegenatandstbeorie und Psychologie, hn. von Melnong. 89
bezeichnet nämlich die > Behauptung von allgemeiner Denkökonomie
als psychologisches Oekonomieprinzipc und kommt zu dem Resultat,
daß ein allgemeines psychologisches Oekonomieprinzip abzulehnen ist.
Dagegen statuiert er:
1. Ein biologisches Oekonomieprinzip, »dahin zu formulieren,
daß die dauernd existierenden Lebewesen in ihrem Verhalten
nicht unter einen gewissen Grad von Oekonomie herabgehen,
welcher Grad jedoch vom Kraftbesitz der Individuen abhängig
und mit diesem variabel ist<.
2. Ein psychologisches Oekonomieprinzip der Gewohnheit,
dahin lautend: >Alle gewohnten psychischen Tätigkeiten sind
ökonomische.
3. Ein erkenntnistheoretisches Oekonomieprinzip der In-
duktion, »besagend, daß die auf Induktion beruhenden Urteile
ökonomischer sind als andere, die sich auf denselben Gegenstand
beziehen«.
4. Ein erkenntnistheoretisches Prinzip der Hypothesen^
Ökonomie, > dahin lautend, daß die mehr Tatsächliches er-
klärende Hypothese ceteris paribus wahrscheinlicher ist, als die
weniger erklärende«.
5. Ein wissenschaftstheoretisches Oekonomieprinzip folgenden
Wortlauts: >Die Wissenschaft zieht ceteris paribus einfache
Formulierungen den weniger einfachen vor«.
6. Wundts methodologisches Prinzip, bestehend in der > Forde-
rung, die Probleme in der möglichst einfachen Weise zu formu-
lieren und sich des möglichst einfachen Verfahrens zu ihrer
Lösung zu bedienen«.
7. Ein emotionales Oekonomieprinzip der Lust, nämlich Höflers
Lustgesetz: > Insoweit Lust an das Verrichten psychischer Arbeit
geknüpft ist, und insoweit sich letztere auf den Typus ps (Span-
nungsfaktor X Wegfaktor) zurückführen läßt, wächst die Lust mit
dem wachsenden s und nimmt ab mit dem wachsenden p<.
8. Ein emotionales Oekonomieprinzip des Wertes, welches
besagt: > Sofern Oekonomie einen realisierbaren Werttatbestand
bedeutet, kann man eine Tendenz zu demselben vermuten, bezw.
kann man die Endglieder einer Entwicklungsreihe als ökonomische
vermuten <.
9. Wundts didaktisches Oekonomieprinzip, die »Forderung,
einen gegebenen wissenschaftlichen Inhalt in der möglichst ein-
fachen Form zum Ausdruck zu bringen«.
Ueberblickt man die Gesamtheit dieser Prinzipien, so ist zunächst
der Einteiiungsgrund nicht recht zu erkennen. Die meisten sind
40 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
offenbar lediglich nach den Wissenschaften benannt, von denen sie
konstatiert werden. So kann z. B. von einem biologischen oder von
einem wissenschaftstheoretischen Oekonomieprinzip nur in dem Sinn
gesprochen werden, daß biologische oder wissenschaftstheoretische
Gedankengänge zu seiner Entdeckung führen. Andererseits ist aber
auch klar, daß ein emotionales Oekonomieprinzip nicht ebenfalls nur
deshalb das Attribut emotional verdient, weil etwa Gefühle zur Er-
kenntnis ökonomischen Verhaltens irgend welcher Art Veranlassung
geben.
Doch nehmen wir einmal an, Frankl habe mit der Bezeichnung
> emotionales Oekonomieprinzip« sich nur vergriffen und habe eigentlich
> gefühlspsychologisches Oekonomieprinzip« sagen wollen, dann können
wir trotzdem seiner Einteilung den Vorwurf der Unzweckmäßigkeit
nicht ersparen. Eine Vollständigkeit der Einteilung wenigstens wird
nicht gewährleistet, wenn man einfach die verschiedenen Wissen-
schaften durchgeht, in denen Oekonomieprinzipien konstatiert werden.
Und es ist auch nicht einzusehen, warum ein und dasselbe Prinzip
zweimal aufgeführt werden soll, wenn es zufällig von zwei ver-
schiedenen Wissenschaften sich feststellen läßt. Sehr viel näher liegt
es doch, die Oekonomieprinzipien, wenn es deren im Gebiet des
Denkens überhaupt mehrere gibt, nach der Eigenart der Tatbestände
zu unterscheiden, die ökonomisch sind.
Sucht man nun innerhalb der Klassifikation Frankls nach Gruppen,
die sich dieser letzteren Anordnung fügen, so stößt man auf große
Schwierigkeiten. In erster Linie könnte man vielleicht auf den Ge-
danken kommen, die > emotionalen Prinzipien«, die sich mit der Ein-
teilung nach den einzelnen, ein ökonomisches Verhalten konstatierenden
Wissenschaften nicht vertragen, stünden > intellektuellen Prinzipien«
in dem Sinn gegenüber, daß diese Oekonomie des Denkens, jene
Oekonomie des Gefühlslebens aussagen. Aber abgesehen davon, daß
Frankls Abhandlung auf eine Betrachtung der Oekonomie des Denkens
sich beschränken sollte, die angedeutete Gegenüberstellung erweist
sich überhaupt bei näherer Betrachtung der > emotionalen Prinzipien«
als unrichtig; denn es handelt sich bei letzteren nicht um den Aus-
druck der Tatsache, daß alle emotionalen oder auch nur, daß gewisse
emotionale Erlebnisse ökonomisch sind, d. h. daß an Gefühlen gespart
wird. Ferner soll keineswegs behauptet werden, daß Gefühle stets
oder unter gewissen Umständen immer durch verhältnismäßig ge-
ringen Arbeitsaufwand hervorgerufen werden. Das Gesetz, daß
geringere psychische Arbeit manchmal lustvoller empfunden wird als
größerer geistiger Energieverbrauch, ist überhaupt kein Oekonomie-
prinzip, ebenso wenig wie die > Vermutung, daß am Ende einer Ent-
Untersuchongen zur Ge genstandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 41
Wicklungsreihe ökonomisches Verhalten als realisierter Werttatbestand
hervortretet.
Es ist geradezu unverständlich, sowohl, daß Frankl hier von einem
Oekonomieprinzip, als auch, daß er von einem emotionalen Tatbestand
spricht. Aber nicht minder unbegreiflich ist auch die Subsumption
von Forderungen der Einfachheit unter den Begriff von Oekonomie-
prinzipien. Unser Autor scheint ganz zu übersehen, daß Imperative
niemals auf die Formel zurückgeführt werden können: >Alle Mat-
bestände sind ökonomisch <. Wenn wirklich überall da, wo Einfach-
heit verlangt wird (NB. ohne daß angegeben zu werden braucht,
worin die Einfachheit besteht), von einem Oekonomieprinzip gesprochen
werden dürfte, dann könnten wir übrigens die stattliche Zahl der
Frankischen Oekonomieprinzipien noch um ein beträchtliches ver-
mehren.
Sehr naheliegende Einwände ließen sich femer erheben gegen
die Formulierung des biologischen Oekonomieprinzips und gegen die
kritiklose Vermengung von Hypothesenökonomie und Wahrscheinlich-
keit. Inwiefern Oekonomie darin liegen soll, daß die mehr Tatsäch-
liches erklärende Hypothese ceteris paribus wahrscheinlicher ist als
die weniger erklärende, ist überhaupt kaum einzusehen, wenn man
nicht den Mut hat, die Hypothese und ihre Wahrscheinlichkeit als
Mittel und Zweck einander gegenüberzustellen.
Somit kommen als wirkliche Oekonomieprinzipien unter all den
von Frankl angeführten höchstens noch in Betracht die Sätze, daß
alle gewohnten psychischen Tätigkeiten ökonomisch seien, daß die
auf Induktion beruhenden Urteile einen Fall von Oekonomie dar-
stellen und daß in der Vorliebe der Wissenschaft für die Annahme
einfacher Verhältnisse, wo diese zur Erklärung ausreichen, ein ökono-
misches Verfahren sich erkennen lasse. Von diesen Sätzen kann aber
der letzte als Oekonomieprinzip deshalb nicht gelten, weil die An-
nahme einfacher Verhältnisse, die einfachere Hypothese — wenn wir
uns der Frankischen Symbole bedienen — kein H sondern ein L
darstellt und weil keineswegs einzusehen ist, wie dasselbe L durch
ein anderes H erreicht werden soll. Mit anderen Worten: Jede
Hypothese ist nicht nur Mittel zur Erklärung, sondern stellt als Ur-
teil über ein unserer Erfahrung entzogenes Stück Wirklichkeit einen
Selbstzweck dar, und wenn die einfachere Hypothese als wahrschein-
licheres Urteil vorgezogen wird, so kann man nicht sagen, daß die
kompliziertere Annahme denselben nur auf größerem Umweg erreichten
Zweck repräsentiere.
Es bleiben also nur die von Frankl sogenannten Oekonomie-
prinzipien der Gewohnheit und der Induktion übrig. Von diesen ist
42 Gott gel Anz. 1906. Xr. 1.
das letztere ein spezieller Fall desjenigen Oekonomieprinzips, das wir
als Prinzip der Denkökonomie formuliert haben, und welches besagt,
daß alles Denken in Allgemeinbegriffen, wozu natürlich auch die Fest-
stellung allgemeiner Zusammenhänge durch Induktion gehört, öko-
nomisch ist. Das Oekonomieprinzip der Gewohnheit dagegen kann
nur mit gewissen Einschränkungen aufrecht erhalten werden. Denn
daß nicht alle gewohnten psychischen Tätigkeiten ökonomisch sind,
sondern nur diejenigen, die einen bestimmten Zweck erfüllen, gegen-
über den ungewohnten, welche denselben Zweck erfüllen sollten, das
braucht wohl nicht ausführlich nachgewiesen zu werden. Fragen
wir nun, welche psychischen Vorgänge als H einem L zugeordnet
werden können, so kommen die Gefühle als solche jedenfalls nicht
in Betracht. Wir sind also höchstens in der Lage, einer Oekonomie
des gewohnheitsmäßigen Denkens eine solche des gewohnheitsmäßigen
Wo Ileus gegenüberzustellen. Dagegen ließe sich in der Tat nichts
einwenden, und wenn es sich um die Bestimmung der Oekonomie
psychischer Vorgänge überhaupt handelte, dann würde unsere Kon-
statierung einer Oekonomie des Denkens durch den Hinweis auf
eine mögliche Oekonomie des Wollens eine wertvolle Ergänzung finden.
Da wir aber den Begriff der Denkökonomie nicht in dem weiten
Sinn einer Oekonomie psychischer Vorgänge überhaupt fassen, so
bedeutet Frankls Prinzip der Gewohnheitsökonomie keine Erweiterung
unseres Prinzips der Denkökonomie, da das gewohnheitsmäßige
Denken kein Denken neben dem mit identischen Gegenständen und
allgemeinen Begriffen operierenden Denken ist. Nur eine Teil-
bedingung, durch welche die Oekonomie des Denkens beeinflußt
werden kann, vermögen wir in der Gewöhnung zu sehen, so daß ^ir
abschließend sagen können: Es gibt eine Oekonomie des Denkens,
die durch Gewohnheit, durch die Annahme identischer Gegenstände
und durch die Konstruktion allgemeiner Begriffe und Gesetze be-
dingt wird.
Den Versuch Frankls, die Oekonomie des Denkens in Allgemein-
begriffen auf Gewohnheitsökonomie zurückzuführen, und seine Polemik
gegen die Formulierung des Oekonomieprinzips bei Cornelius müssen
wir als verunglückt bezeichnen. Dagegen darf die Ablehnung der
Oekonomieformel von Avenarius wohl als berechtigt angesehen werden
und es ist nur zu bedauern, daß Frankl eben durch seine Ausein-
andersetzung mit Avenarius dazu veranlaßt worden ist, das Prinzip
der Denkökonomie als allgemeines psychologisches Minimumprinzip
aufzufassen und so bei der begründeten Verwerfung des letzteren
den Blick für die Berechtigung eines allgemeinen D e n k Ökonomie-
prinzips zu verlieren.
Untersachongen zur Gegenstandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 43
UL
Zur Psychologie des Gestalterfassens. Von Dr. Vittorio Benussi.
S. 303—448.
Die verschobene Schachbrettfigur. Von Dr. Vittorio Benussi und
Wilhelmine Liel. S. 449—472.
Den Arbeiten von Benussi »Zur Psychologie des Gestalterfassens«
und von Benussi und Wilhelmine Liel >Die verschobene Schachbrett-
figurc ist der Grundgedanke gemeinsam, wonach ein Teil der geo-
metrisch-optischen Täuschungen, speziell die Erscheinungen der
Müller-Lyerschen Figur und das Schachbrettphänomen aus den Ge-
setzen der Vorstellungsproduktion sollen erklärt werden können.
Einer derartigen Behauptung stehen hauptsächlich zwei Einwände
entgegen, nämlich erstens der Hinweis auf die Regelmäßigkeit, die
in den betreflfenden optischen Täuschungen hervortritt und die in
scharfem Gegensatz zu stehen scheint zu der Willkürlichkeit, mit
welcher bei typischen Fällen von Vorstellungsproduktion bald dieser,
bald jener Eindruck hervorgerufen werden kann. Daneben kommt
zweitens in Betracht, daß die Tatsachen der Vorstellungsproduktion
ihrerseits keine allgemeinen Gesetze sind, die das, was ihnen sub-
sumiert werden kann, ohne weiteres erklären.
Was nun den ersten Einwand anlangt, so sind die experimen-
tellen Untersuchungen, welche den in Rede stehenden Arbeiten zu-
grunde liegen, dazu bestimmt, ihn zu entkräften. Ob sie dazu auch
geeignet sind, das soll uns eine kurze Betrachtung derselben zeigen.
Es handelt sich sowohl bei den Versuchen Benussis wie bei den-
jenigen von Benussi und Liel vor allem um die Feststellung eines
verschiedenen Verhaltens der Versuchsperson demselben Reiztat-
bestand gegenüber bei verschiedener Richtung der Aufmerksamkeit,
femer um die Konstatierung einer Variation dieses verschiedenen
Verhaltens bei fortschreitender üebung in willkürlicher Aufmerksam-
keitseinstellung und endlich um den Nachweis analoger Variation,
wenn Aufmerksamkeitsreize die Aufmerksamkeitsrichtung beeinflussen.
Was den ersten Punkt anlangt, so unterscheiden die Verfasser
eine G-Reaktion, eine ^-Reaktion und eine Ä-Reaktion ihrer Versuchs-
personen, von denen die erste den Fall bezeichnet, wo die Versuchs-
person aufgefordert wird, die Gesamtgestalt der Täuschungsfigur
aufzufassen. Bei der an zweiter Stelle genannten Reaktionsweise
muß die Versuchsperson von den die Täuschung bedingenden Bestand-
teilen der Figur, so gut es geht, abstrahieren und von einer
/S-Reaktion wird da gesprochen, wo eine bestimmte Richtung der
Aufmerksamkeit nicht intendiert ist. Es wird nun nachgewiesen,
44 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
daß G-, Ä' und jS-Reaktion in verschiedenen Ergebnissen der mit
demselben Reiztatbestand angestellten Versuche sich zu erkennen
geben. Diese Versuche bestehen im Fall der an der Müller-Lyerschen
Figur angestellten Beobachtungen darin, daß zu dem Mittelstück der
Figur eine schenkellose Strecke von scheinbar gleicher Länge kon-
struiert wird, die von der wirklichen Gleichheit umso weiter entfernt
ist, je ausgeprägter die 6r-Reaktion auftritt. Bei den Versuchen mit
der Schachbrettfigur wird zu der Trennungslinie der beiden Reihen
von schwarzen und weißen Quadraten eine scheinbare Parallele ge-
zogen. Dabei entspricht diese scheinbare umso mehr der wirklichen
Parallelen, je besser die ^-Reaktion gelingt. Die Ergebnisse der
5-Reaktion liegen stets in der Mitte zwischen den Resultaten der
A' und der ö-Reaktion.
Ganz analog wie die Bedeutung der A- und 6r-Reaktion wird
femer der Einfluß der A- und 6r-Uebung nachgewiesen, indem ge-
zeigt wird, daß die Verschiedenheit der Ergebnisse bei den entgegen-
gesetzten Reaktionsarten umso größer ist, je später dieselben ge-
wonnen sind, d. h. je größere Uebung die Versuchsperson im Reagieren
nach Typus A oder O sich erworben hat.
Was endlich den Nachweis der Wirksamkeit von Aufmerksam-
keitsreizen anlangt, so wird derselbe in der Weise erbracht, daß bei
der Müller-Lyerschen Figur Mittelstück und Schenkel in allen mög-
lichen Richtungen variiert werden, während bei dem Schachbrett-
muster die Helligkeit und Farbe der Quadrate sowie die Beschaffen-
heit der Trennungslinie für verschiedene Versuche verschieden gewählt
wird. Dabei zeigt sich eine Verschiedenheit in den Ergebnissen je
nach der Größe, des Winkels, den die Schenkel der Müller-Lyerschen
Figur mit dem Mittelstück bilden, je nachdem Schenkel und Mittel-
stück farblos oder farbig, färben- und helligkeitsgleich oder farben-
und helligkeitsverschieden, durch ausgezogene Linien oder bloß durch
die Endpunkte dargestellt sind, je nachdem ferner entweder bloß die
Schenkel oder bloß das Mittelstück ausgezogen bezw. nur angedeutet,
je nachdem endlich beim Schachbrettmuster chromatische oder achro-
matische, helligkeitsähnliche oder sehr verschiedene Quadrate und
eine stark schwarz oder weiß ausgezogene oder eine nur fingierte
Trennungslinie in Betracht kommen. Den Einfluß dieser Momente
glauben die Verfasser zusammenfassend dahin bestimmen zu könnem,
daß alle Bedingungen, welche die ^-Reaktion begünstigen, eine Velr-
ringerung der Täuschungsgröße, alle diejenigen, welche der 6r-Reaktion
Vorschub leisten, eine Erhöhung des Täuschungsbetrages zur Folg4
haben. Tatsächlich müssen wir zugeben, daß durch die Versuchs' -
resultate eine Auffassung gerechtfertigt erscheint, wonach jeder Um-..
\
Untersnchnngen znr GegeDStandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 45
stand die Täuschung vergrößert, der das Hervortreten der bei der
^-Reaktion zu übersehenden Bestandteile begünstigt.
Es fragt sich nun, ob dadurch die Erklärung der in Rede
stehenden Erscheinungen als > Produktionstäuschungen« zureichend
begründet erscheint. Diese Frage kann man unbedenklich bejahen,
wenn man jede Täuschung, die nicht peripher bedingt ist, d. h. nicht
in der Beschafifenheit der Sinnesorgane oder in der Beschafifenheit
der inadäquat vorgestellten Reize ihren Grund hat, und die auch
nicht als Urteilstäuschung sich betrachten läßt — eine Täuschung
der Vorstellungsbildung, eine Produktionstäuschung nennt. Daß
nämlich die Phänomene der Müller-Lyerschen Figur und des Schach-
brettmusters keine peripher bedingten und keine Urteilstäuschungen
sind, das scheint durch die Untersuchungen unserer Autoren unwider-
leglich dargetan zu sein.
Aber Täuschungen, die bei der Vorstellungsbildung durch die
gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Bestandteile zustande
kommen, Produktionstäuschungen in dem erwähnten weiten Sinn,
können immer noch den verschiedensten Charakter besitzen. Wenn
beispielsweise die sich bildende Vorstellung von einer uns geläufigen
ähnlichen Vorstellung assimiliert wird, wie es im Fall der Illusion
geschieht, wo die den Reizbestandteilen entsprechenden Vorstellungs-
bestandteile durch assoziativ erregte Vorstellungen teils ergänzt, teils
ersetzt oder doch umgestaltet werden — oder wenn die den Augen-
bewegungen entsprechenden Empfindungen einen optischen Total-
eindruck anders gestalten als er ohne sie beschafifen wäre, so haben
wir es ofifenbar auch mit Produktionstäuschungen im angegebenen
Sinn zu tun. Wenn nun Benussi in seiner Kritik der bisher zur
Erklärung der Müller-Lyerschen Täuschung aufgestellten Theorien
die > perspektivische Deutungc Thi^rys, die > Erklärungsversuche
durch assoziierte Vorstellungen«, wie sie sich bei Heymans, Lipps
und Stilling finden, und die > Erklärungsversuche durch die Augen-
bewegungen« von Binet, van Biervliet, Delboeuf und Wundt verwirft,
so darf er eigentlich nicht seine Erklärung der Müller-Lyerschen
Täuschung als einer Produktionserscheinung schlechthin den genannten
Theorien gegenüberstellen.
Er versucht zwar das Wesen der Produktionstäuschung näher
dahin zu bestimmen, daß >als Ursache der inadäquaten Vorstellungs-
produktion eine gegenseitige Beeinflussung der in Realrelation
stehenden Inferioreninhalte zu vermuten« sei. Wenn damit gesagt
sein soll, daß nur die Liferioreninhalte und keine Nebenempfindungen,
die in die Gesamtvorstellung eingehen (wie z. B. die Empfindungen
von Augenbewegungen), sowie keine Bestandteile einer eventuell für
46 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
die Produktion richtunggebenden >Zielvorstellung« sich an der Hervor-
bringuDg der Täuschung beteiligen, dann ist allerdings ein bestimmter
Fall von Produktionstäuschung ins Auge gefaßt. Aber warum die
Inferioreninhalte sich beeinflussen und wie sie sich beeinflussen, das
bleibt vollkommen im Dunkeln. Wir können es uns einigermaßen
erklären, wie und warum die >Aufgabe< einer Vorstellungsproduktion,
sei es durch das Verstehen des die Lösung bezeichnenden Wortes
oder in Form der Zielvorstellung im Sinn eines > indirekten Vor-
stellensc, bestimmend einwirkt auf das Produktionsergebnis. Man
hat auch versucht, den hypothetischen Einfluß der Augenbewegungen
in Form eines allgemeinen Gesetzes darzustellen. Aber ein allgemeines
Gesetz, wonach Inferioreninhalte überhaupt sich gegenseitig beein-
flussen, kennen wir nicht. Daher ist die Erklärung der Müller-
Lyerschen Täuschung als einer Produktionstäuschung nichts anderes
als eine Konstatierung des Tatbestandes, daß die Schenkel der Figur
den bekannten Einfluß auf die Vorstellung der Länge des Mittelstücks
ausüben und daß dieser Einfluß von der Vorstellung der Schenkel,
nicht von irgend welchen anderen Vorstellungen und Vorstellungs-
bestandteilen ausgeht.
Das gleiche gilt auch für die Erklärung des Schachbrettphänomens
als einer Produktionstäuschung. Doch kommt hier noch ein weiteres
Moment hinzu. Das Schachbrettphänomen wird nämlich als ein be-
sonderer Fall der Zöllnerschen Täuschung von den Verfassern dar-
gestellt und zwar wird >die Gleichartigkeit der in Rede stehenden
Täuschungsgestalt mit der Zöllnerschen dadurch nachgewiesen, daß
sich das Maß der Täuschung um so mehr erhöht, je mehr die Vor-
stellung der durch 'die Zöllnersche Figur dargebotenen Gestalt —
bedingt durch die bekannte Lageverschiedenheit zweier sich kreuzender
Geraden — beim Anblick der verschobenen Schachbrettfigur in den
Vordergrund trittc. Nehmen wir an, dieser Nachweis, auf dessen
Beurteilung hier nicht näher eingegangen werden soll, sei gelungen,
dann ist damit natürlich weder das Zöllnersche noch das Schachbrett-
phänomen erklärt. Es ist nur die Aufgabe der Erklärung insofern
vereinfacht, als durch eine Hypothese zwei Erscheinungen verständ-
lich gemacht werden können. Damit ist aber nicht, wie man viel-
leicht vermuten könnte, die oben vermißte Allgemeinheit für die
>Produktionstäuschungs-Hypothese< gewonnen; denn es handelt sich
ja beim Schachbrettphänomen nicht um eine Variation, sondern nur
um eine Verschleierung des gleichen Tatbestands, der bei der
Zöllnerschen Täuschung vorliegt. Der Müller-Ly ersehen Figur gegen-
über bedeutet die Zöllnersche und die verschobene Schachbrettfigur
wohl eine Variation des zu erklärenden Tatbestandes. Dagegen fehlt
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 47
hier die Einheitlichkeit der Hypothese. Es soll sich zwar beide Male
um Produktionstäuschungen handeln, aber die Art, wie die Inferioren-
inhalte einander beeinflussen, ist eine ganz verschiedene, indem einer-
seits eine Größen- andererseits eine Richtungsveränderung in Betracht
kommt.
Kurz, wir können das Ergebnis dieser kritischen Betrachtungen
dahin zusammenfassen, daß, wenn es auch den Verfassern gelungen
ist, den ersten der eingangs berührten Einwände zu widerlegen,
trotzdem oder vielleicht eben deswegen der zweite Einwand bestehen
bleibt, wonach die Bezeichnung einer Täuschung als Produktions-
täuschung noch keine Erklärung bedeutet.
Im übrigen ist aber nicht nur die sorgfältige Verarbeitung und
die Reichhaltigkeit der Versuchsergebnisse, sondern auch die ein-
gehende Kritik der über die Müller-Lyersche und über die Schach-
bretttäuschung bisher aufgestellten Theorien hervorzuheben, wodurch
die in Rede stehenden Arbeiten dankenswerte Beiträge zur Psycho-
logie der geometrisch-optischen Täuschungen liefern.
IV.
Ein neuer Beweis für die spezifische Helligkeit der Farben. Von
Dr. Vittorio Benussi. S. 473—480.
Eine scharfsinnige psychologische Untersuchung sehen wir auch
in der Abhandlung Benussis, die sich mit einem neuen Beweis für
die spezifische Helligkeit der Farben beschäftigt. Benussi weist
nämlich durch geschickte Kombination einer farbigen Scheibe mit
farblosem Kreisring und einer farblosen Scheibe mit farbigem Ring
in eleganter Weise nach :
1. >Daß die Helligkeit eines gegebenen Grau erhöht erscheint,
wenn man es der Induktionswirkung einer gleich hellen
blauen oder grünen Farbe exponiert, herabgesetzt dagegen,
wenn die induzierende Farbe rot oder gelb ist.<
2. »Daß die Helligkeit einer gelben oder roten Fläche bei
Sättigungserhöhung durch eine gleich helle Um-
gebung erhöht, diejenige einer blauen oder grünen Fläche
dagegen unter den analogen Umständen herabgesetzt
wird.«
Ebenso wird gezeigt, daß die Werte der Helligkeitserhöhung
bezw. -Herabsetzung bei Farbeninduktion dem Betrage der Helligkeits-
herabsetzung bezw. Erhöhung beim Verschwinden der Farbe in der
Dämmerung ungefähr entsprechen oder, wie Benussi sagt, >daß die
durch Farbeuinduktion und Dämmerungsbeleuchtung erzielte Hellig-
48 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
keitsverschiebuog objektiv gleichheller Farben angenäherte Aequi-
valenz< erkennen lassen.
Sind diese Tatsachen, was bei der geringen Anzahl der mit-
geteilten Versachsergebnisse freilich nicht kontrolliert werden kann,
über allen Zweifel erhaben, dann scheint auch der Schlußfolgerung
Benussis nichts im Wege zu stehen, daß >die mit dem Hervortreten
der Farbe Hand in Hand gehende Helligkeitszu- oder -abnähme,
die bei helladaptiertem Auge nachgewiesen werden kann, nicht auf
einen Funktionswechsel verschiedener terminaler Netzhautapparate,
sondern auf die den Farben eigene Helligkeit zurückzuführen ist<,
und daß »auch das Purkinjesche Phänomen durch den Hinweis auf
die spezifische Helligkeit« erklärt werden muß.
Ueber Vorstellungsproduktion. Von Dr. Rudolf Ameseder.
S. 481—508.
Die Empfindungen sind ihrer Natur nach selbständig, d. h. trotz-
dem es unwahrscheinlich ist, daß es eine Empfindung allein ohne
Zusammenhang mit anderen geben könne, so bedeutet doch eine
alleinstehende Empfindung keineswegs einen inneren Widerspruch.
Ebenso wie die Empfindungen ist auch das durch sie >Erfaßte«, ihr
Gegenstand (der nicht verwechselt werden darf mit ihrer Ur-
sache) innerlich selbständig. Es gibt aber auch Gegenstände, die
fundierten, welche ihrer Natur nach unselbständig sind, und die Vor-
stellungen, durch welche fundierte Gegenstände erfaßt werden, sind
gleichfalls innerlich unselbständig. Folglich können diese Vorstellungen
(von fundierten Gegenständen) keine Empfindungen sein.
So grenzt Ameseder in der vorliegenden Arbeit sein Unter-
suchungsgebiet ab. Er will die Stellung der Vorstellungen von fun-
dierten Gegenständen in der Gesamtheit des Psychischen bestimmen
und weist deshalb zunächst nach, daß diese Vorstellungen überhaupt
eine besondere Stellung einnehmen, daß sie nicht schlechtweg mit
Empfindungen zusammenfallen. Nun wird freilich von vornherein
nicht leicht jemand auf den Gedanken kommen, die Vorstellungen
von fundierten Gegenständen, z. B. die Vorstellung einer Verschieden-
heit zweier Empfindungen mit einer einfachen Empfindung zu iden-
tifizieren. Dagegen könnte man vielleicht versuchen, die Vorstellung
der Verschiedenheit mit dem Zugleichsein der beiden Empfindungen
zusammenfallen zu lassen und diese Möglichkeit ist durch den Hin-
weis auf die innerliche Unselbständigkeit der betreffenden Vorstellung
keineswegs ausgeschlossen. Wohl aber wird diese Annahme hinfällig
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 49
durch die Ueberlegung, daß zwei Empfindungen gleichzeitig gegeben
sein können, ohne daß die Vorstellung ihrer Verschiedenheit aufzu-
treten braucht. Wir müssen also zugeben, daß es Vorstellungen
gibt, die weder mit einfachen Empfindungen noch mit einem Komplex
von Empfindungen zusammenfallen. Was vermag uns Ameseder
weiter über solche Vorstellungen zu sagen?
Er konstatiert vor allem etwas Terminologisches, nämlich dies,
daß die Bezeichnungen Wahrnehmungsvorstellung und Einbildungs-
vorstellung nicht geeignet sind, die Empfindungen und die in Rede
stehenden Vorstellungen auseinander zu halten. Sowohl der Begriff
der Wahmehmungs- wie der Begriff der Einbildungsvorstellung kann
auf Vorstellungen von fundierten Gegenständen anwendbar sein.
Es fragt sich nun, ob die betreffenden Vorstellungen fundierter
Gegenstände zu ihren Elementarvorstellungen in demselben Verhältnis
stehen wie die fundierten Gegenstände selbst zu ihren Elementen
(die »Superiora« zu ihren »Inferioren«), d. h. ob man von einer
Fundierung der innerlich unselbständigen Gegenstände sprechen
kann. Die Entscheidung hierüber fällt leicht, wenn man die Merk-
male des Fundierten in Betracht zieht. Zwei solche Merkmale hält
unser Autor für charakteristisch, nämlich die Idealität, also Nicht-
wirklichkeit des Fundierten und den Umstand, daß fundierte Superiora
den gegebenen Inferioren mit Notwendigkeit zukommen. Beide Kenn-
zeichen aber treffen für die in Rede stehenden Vorstellungen nicht
zu. Dieselben sind stets etwas Wirkliches und es liegt nicht in der
Natur der Superiusvorstellung , daß sie auf die gegebenen Inferiora
notwendig aufgebaut sein müßte; sie kann vielmehr auch ganz
fehlen. > Fundiert sind also die Vorstellungen fundierter Gegenstände
nicht. Daß sie sich gleichwohl auf die Inferioravorstellungen auf-
bauen, ist zweifellos.« Es fragt sich nur, welche Art des Anfbaus
in Betracht kommt.
Bis hieher sind die vorsichtigen definitorischen und terminologi-
schen Ausführungen Ameseders vor jedem Zweifel geschützt. Aber
nun beginnt die Hypothesenbildung. Wir sehen zwei Möglichkeiten
vor uns. Zunächst könnte nämlich dem idealen Verhältnis der
Fundierung das reale Verhältnis der Kausation gegenübergestellt
werden. In diesem Fall wäre anzunehmen, daß die Inferioravor-
stellungen unter gewissen noch näher zu bestimmenden Umständen
die Superiusvorstellung erzeugen. Andererseits könnte man davon
ausgehen, daß etwas anderes als die Inferioravorstellungen die Haupt-
bedingung für das Zustandekommen der Superiusvorstellung darstellt,
weil die ersteren häufig ohne die letztere Vorstellung auftreten.
Aber in diiesem Fall wäre sorgfältig zu untersuchen, worin jenes
QOU. gel. ABZ. 1906. Kr. 1. 4
50 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Etwas neben den Inferioravorstellungen besteht und wodurch es in
Funktion versetzt wird; denn es betätigt sich ja nicht immer, wenn
die Inferioravorstellungen gegeben sind. In diesem letzteren Fall
bleibt also trotz der hypothetischen Annahme eines >Etwas<, welches
das Auftreten der Superiusvorstellung bedingt, und trotz einer hypo-
thetischen Bestimmung dieses >Etwas< immer noch eine Hypothese
zu bilden darüber, unter welchen Umständen die Superius-
vorstellung erzeugt wird.
Macht man sich dies klar, dann kann man es nicht gerade eine
glückliche Wahl nennen, daß Ameseder zur Lösung der in Rede
stehenden Frage den letzteren Weg eingeschlagen hat, indem er
jenes >Etwas«, das neben den Inferioravorstellungen gegeben sein
muß, als etwas Psychisches betrachtet und das Erzeugen der Superius-
vorstellung > Produktion € nennt. Dabei ist freilich nicht ganz sicher,
ob die Bezeichnung >Produktion< mehr als ein bloßes Wort für die
auf bisher unbekannte Weise sich vollziehende Erzeugung der Superius-
vorstellung sein soll, d. h. ob unser Autor die Nebenbedeutung einer
Tätigkeit des Subjekts mit jener Bezeichnung verbindet. Wenn dies
nicht der Fall ist, so ist natürlich auch gegen den Gebrauch des
Wortes »Produktion< nichts anderes einzuwenden, als daß dadurch
leicht störende Neben Vorstellungen erregt werden. Dagegen muß
unter allen Umständen daran festgehalten werden, daß von einer
psychologischen Erklärung der Bildung von Superiusvorstellungen
in keinem Fall die Rede sein kann.
Wir finden es daher begreiflich, daß unser Autor im zweiten
»theoretischen< Teil seiner Arbeit, welchen er dem ersten ^ deskrip-
tiven < Teil gegenüberstellt, nochmals auf »das Wesen der Vorstellungs-
produktion< zurückkommt. Aber das, was er hier vorbringt, ist
kaum viel befriedigender als das bisherige. Wir erfahren, daß die
Superiusvorstellung zu den Inferioravorstellungen in >Realrelation<
steht, wobei > Realrelation < so ziemlich der neutralste Ausdruck zu
sein scheint für eine Beziehung, die nicht Idealrelation sein soll.
Will man trotzdem mit dem Begriff > Realrelation < eine bestimmtere
Bedeutung verbinden, wozu die Gegenüberstellung >bloßen Kausal-
verhältnisses < Veranlassung geben könnte, so gerät man in die
größten Schwierigkeiten. Man sieht sich nämlich genötigt, den Be-
griff des Realkomplexes, den Ameseder in dem fraglichen Sinn ein-
führt, entweder so zu deuten, daß er von dem Begriff des > Komplexes
von Elementarvorstellungen < nicht mehr zu unterscheiden ist. Dann
würden wir jedoch zu einer Auffassung der Superiusvorstellungen
zurückgeführt, die früher ausdrücklich abgelehnt wurde. Oder man
muß, wie doch tatsächlich Ameseders Absicht zu sein scheint, an-
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 61
nehmen, daß durch den Komplex realer Empfindungen eine neue
Vorstellung erzeugt wird. Dann bleibt es unbegreiflich, warum die
Begriffe > Realrelation« und > bloßes Kausalverhältnis« auseinander
gehalten werden. Unter allen Umständen wird gerade auf das
wichtigste, nämlich auf die Untersuchung \der Bedingungen, unter
denen die >Produktion< der Superiusvorstellung stattfindet, von
Ameseder nicht näher eingegangen. Was er über das Verhältnis der
Vorstellungsproduktion zur Aktivität sagt, vermag diese Lücke kaum
auszufüllen; denn wenn wir erfahren, daß der reale Vorgang, der
aus den Elementarvorstellungen den Realkomplex erzeugt, eine
Willensleistung sei, so bedeutet dies ja doch nur wieder einen neuen
Namen für jenes Etwas, das neben den Inferioravorstellungen in
Tätigkeit treten soll und dessen gesetzmäßige Wirksamkeit wir
kennen lernen möchten.
Einiges über diese Frage wird nun freilich beigebracht in den
Ausführungen unseres Autors über Auffälligkeit und Aufmerksamkeit
Aber auch diese Darlegungen sind hauptsächlich terminologischer
Natur. Es wird zunächst konstatiert, daß von Auffälligkeit fundierter
Gegenstände da die Rede sein kann, wo von mehreren Superioren
eines auch dann zum Erfaßtwerden gelangt, wenn die subjektiven
Bedingungen zum Erfassen aller Superiora gleich günstig sind. Diese
Auffälligkeit kommt entweder dem Superius selbst oder den Inferioren
zu und zwar hat man sich unter der Auffälligkeit der Inferiora (auch
Absolutive genannt) natürlich nicht ihre Eignung vorzustellen, durch
produzierte Vorstellungen erfaßt werden zu können, sondern die Eig-
nung als Inferiora erfaßter fundierter Gegenstände zu funktionieren.
Die Schwierigkeit der Produktion ist nach dem bisher Erwähnten
somit abhängig: 1. Von der Beschaffenheit der Inferiusinhalte und
2. von der Art der postulierten Produktion. Dazu kommt aber noch
als dritte Bedingung die Beschaffenheit der für eine bestimmte
Produktionsart vorliegenden Disposition, d. h. die Produktion ist
nicht nur von unwillkürlicher, sondern auch von willkürlicher Auf-
merksamkeit abhängig.
In den Fällen nun, wo eine Produktionsvorstellung y^illkürlich
hervorgerufen wird, sieht unser Autor eine Schwierigkeit ^arin, daß
man das Ziel der Produktion vor dem Produzieren erfassen muß,
obwohl die zu solchem Erfassen geeignete Vorstellung scheinbar doch
erst durch die Produktion geliefert wird. Diese Schwierigkeit glaubt
Ameseder lösen zu können durch Zuhilfenahme einer sogenannten
>indirekten Vorstellung <, genauer eines Komplexes aus Vorstellungen
und Annahmen. Wir würden, von der Voraussetzung ausgehend,
daß das Verständnis von Wörtern und sprachlich formulierten Auf-
4*
52 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
gaben auch ohne Vorstellungen vorhanden sein kann, in der ganzen
eben berührten Frage kein Problem sehen, zu dessen Lösung besondere
Ueberlegungen nötig wären. Im übrigen schadet es natürlich nichts,
wenn für den psychischen Vorgang des vorstellungslosen Verstehens
ein besonderer Terminus, wie der des indirekten Vorstellens ein-
geführt wird.
Weniger rein terminologische und mehr sachliche Ueberlegungen
stellt Ameseder in demjenigen Abschnitt seiner Arbeit an, der von
inadäquaten Vorstellungen handelt. Er konstatiert zunächst, daß
mehrere Möglichkeiten vorliegen, diese Inadäquatheit von Produktions-
vorstellungen, wie sie z. B. im Fall der geometrisch -optischen
Täuschungen gegeben ist, zu erklären. Es könnte nämlich erstens
sein, daß die Elementarvorstellungen adäquat sind und es auch
bleiben, wenn Produktion eintritt. Bestände nun die Produktion im
Hinzutreten einer neuen Vorstellung, dann könnte die Inadäquatheit
darin liegen, daß diese neue Vorstellung nicht die den Elementar-
vorstellungen entsprechende ist. Zweitens besteht die Möglichkeit,
daß die Produktion, die zu einer Täuschung führt, bereits ein ver-
ändertes Material an Elementarvorstellungen vorfindet. Drittens
endlich könnten die Elementarvorstellungen den Inferioren an sich
adäquat sein, könnten aber durch die Produktion derart verändert
werden, daß schlieGlich an ihnen und an der Superiusvorstellung In-
adäquatheit zu konstatieren ist. Dies letztere trifft, wie Ameseder
durch Exklusion der beiden anderen Möglichkeiten nachweist, tat-
sächlich zu. Damit ist zur Erklärung der geometrisch -optischen
Täuschungen freilich noch wenig geleistet, wenn es nicht gelingt,
die Beeinflussung der Inferioravorstellungen durch > Produktion c als
einen Spezialfall allgemeinerer psychologischer Gesetzmäßigkeit dar-
zustellen. ^)
Zum Schluß seiner Ausführungen gibt Ameseder endlich noch
eine üebersicht der Produktionsarten, wobei er die > psychische Ana-
lyse« als besonderen Fall der Vorstellungsproduktion behandelt.
Außerdem unterscheidet ei die Produktionen nach den erfaßten
Gegenständen als Aehnlichkeits-, Verschiedenheits-, Gestalt-, Lage-
und Verschiedenheitsproduktionen. Da diese Einteilung vom Ver-
fasser selbst nur ganz kurz gestreift wird, so soll auch hier nicht
näher darauf eingegangen werden.
1) Vgl. S. 47 dieser Betrachtungen.
ünienuchangen zur Gegenstandstheorie und Psychologie , hrs. von Meinong. 53
VI.
lieber absolute Auffälligkeit der Farben. Von Dr. Rudolf Ameseder.
S. 509—526.
>Aus dem Umstände, daß die Größe der Auffälligkeit eines
Gegenstandes nach Maßgabe seiner Umgebung variabel ist, könnte
sich ergeben, daß die Auffälligkeit den Gegenständen überhaupt nur
im Hinblick auf ihre Umgebung zukommen kann, mithin lediglich
relativ sei Sind nun aber zwei anschaulich erfaßbare Quali-
täten a und b gegeben, wobei zunächst b die Umgebung von a, dann
a die Umgebung von b bildet, so daß sämtliche umkehrbaren Ver-
hältnisse im zweiten Fall umgekehrt sind, so kann zwischen beiden
Fällen eine Verschiedenheit hinsichtlich der relativen Auffälligkeit
nicht vorliegen. Ist trotzdem a im ersten Fall auffälliger als b im
zweiten, so hat die Qualität a ihrer Natur nach und nicht bloß ver-
möge der Begleitumstände, größere Auffälligkeit als &, — eine Auf-
fälligkeit, die sowohl als Steigerung wie als Herabsetzung der rela-
tiven Auffälligkeit zur Geltung kommen kann, die nur an der
bestimmten Qualität haftet und darum als absolute Auffällig-
keit bezeichnet werden muß.<
So bestimmt Ameseder den Begriff der absoluten Aulffälligkeit,
deren Existenz in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden soU.
Wir würden vielleicht eine etwas andere Bedeutung mit der Be-
zeichnung absoluter Auffälligkeit verbinden. Wenn nämlich als relativ
die nach Maßgabe der Umgebung variable Auffälligkeit betrachtet
wird, dann sollte man eigentlich absolut diejenige Auffälligkeit nennen,
die bei verschiedener Umgebung als konstanter Faktor erhalten
bleibt. Gemessen werden könnte eine solche Größe freilich nur in
der Weise, daß man jeden Gegenstand in einer Umgebung von mini-
malster Kontrastwirkung hinsichtlich seiner Auffälligkeit prüft, was
kaum ganz leicht durchzuführen sein wird. Einfacher möchte es
vielleicht scheinen, wollte man versuchen, verschiedene Gegenstände
in absolut gleicher Umgebung zu betrachten und aus der verschiedenen
Auffälligkeit, die sich dabei ergibt, die absolute Auffälligkeit jedes
Gegenstandes zu bestimmen. Eine Versuchsreihe, bei welcher jeder
Gegenstand nur in einer Umgebung betrachtet würde, könnte natür-
lich nicht zum Ziel führen. Aber wenn viele Versuchsreihen mit je
einer von Reihe zu Reihe wechselnden Umgebung durchgeführt
würden, dann ließe sich der Auffälligkeitsgrad, der sich aus der Ge-
samtheit dieser Reihen für jeden Gegenstand ergibt, vielleicht zur
Bestimmung der absoluten Auffälligkeit verwenden. Freilich wäre
auch in diesem Fall der Einwand nicht von der Hand zu weisen,
54 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 1.
daß der betreffende Auffälligkeitsgrad die Folge mehr oder weniger
günstiger Contrastverhältnisse sei.
Ist nun dieser Einwand vollständig abgeschnitten, wenn man die
absolute Auffälligkeit auf dem von Ameseder eingeschlagenen Weg
zu bestimmen sucht? Nehmen wir an, die Gegenstände a und b
stehen in einem, für die Auffälligkeit günstigen Kontrastverhältnis !
Wird dann a durch die Umgebung b um ebenso viel gehoben als
b durch die Umgebung a? Diese Frage ist keineswegs selbst-
verständlich zu bejahen, wie ein einfaches Beispiel zeigen mag:
Es sei nämlich a ein schwarzes, b ein weißes Feld. Exponiert man
nun ein kleines a in der Umgebung b, so wird durch die Irradiation
der Kontrastwirkung Abbruch getan und a wird durch die Umgebung
b keineswegs in derselben Weise gehoben werden wie b, d. h. ein
kleines weißes Feld, in der Umgebung a, wo die Irradiation in dem-
selben Sinn wie die Kontrastwirkung sich geltend macht. Daß es
sich dabei nicht bloß um eine künstliche Konstruktion handelt, sieht
man ohne weiteres, wenn man sich die Frage vorlegt, ob das Phä-
nomen des nächtlichen Sternenhimmels eine Umkehrung in der von
Ameseder vorgeschlagenen Weise vertrüge. Daß die vermutliche
Unsichtbarkeit dunkler Weltkörper auf einem sternhellen Hintergrund
bloß auf die geringe absolute Auffälligkeit der in Betracht kommenden
Farbe zurückzuführen sei, das wird Ameseder wohl kaum behaupten
wollen.
Mit Rücksicht auf die bisher durchgeführte Ueberlegung muß
man der Amesederschen Untersuchung im Prinzip skeptisch gegen-
überstehen. Trotzdem sei im folgenden in aller Kürze noch auf die
Yersuchsanordnung Ameseders und auf seine Resultate eingegangen,
wobei freilich noch einige weitere Bedenken sich uns aufdrängen.
Unser Autor will die absolute Auffälligkeit der Farben be-
stimmen. Zu diesem Zweck sucht er alle Umstände, welche irgend
einer Farbe einen relativen Auffälligkeitsvorzug garantieren könnten,
auszuschalten. Dies glaubt er dadurch erreichen zu können, daß er
das Gesichtsfeld bezw. einen Teil desselben von seiner Mitte aus in
eine größere Anzahl gleicher Sektoren teilt. Da aus äußeren Gründen
von der Ausfüllung des ganzen Gesichtsfeldes durch die »konkurrie-
renden« Farben abgesehen werden muß, so wird »der übrige Hinter-
grund für das Erfassen der Farbenscheiben so belanglos als möglich
gemacht, was teils dadurch geschehen kann, daß er ein annähernd
mittleres Grau aufweist, teils dadurch, daß er von den Yersuchs-
scheiben räumlich absteht.« >Die Vorrichtung, von welcher bei den
Versuchen ausgegangen wurde, bestand im Hinblick darauf aus einer
kreisförmigen Scheibe von 196 mm Durchmesser, welche aus 8 gleichen
ünt^rsnchnngen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. ron Meinong. 55
Sektoren von 45^ bestand, von denen stets einer von der einen
Eonkurrenzfarbe zwischen zweien der andern Farbe zu stehen kam.
Als Unterlage diente ein reguläres Achteck aus grauem Karton,
dessen größte Diagonalen 280 mm maßen. Der übrige Hintergrund
wurde durch die gleichfalls graue Wand des Laboratoriums gegeben.
Die vier Sektoren der einen Farbe bildeten somit ein aufrecht-
stehendes Kreuz, die der andern ein liegendes. Stellte man den
Karton auf die benachbarte Achteckseite, so wurde dadurch das
liegende Farbenkreuz zum aufrechten und umgekehrt « Nun zeigte
sich aber, daß >das Urteil gerade bei gleichen Sektoren von 45® un-
sicher wirdc. [NB.! Also gerade bei einer Anordnung,
welche den oben gegen das Prinzip der ganzen Unter-
suchung erhobenen Einwand am meisten zu entkräften
geeignet wäre, ergaben sich keine Resultate.] Daher
wurden die Versuche größtenteils >mit Scheiben vorgenommen, deren
Sektoren in Abständen von je fünf Graden von 20^ bis 70^ größer
wurden. Natürlich wiesen die Sektoren der einen Farbe den Kom-
plementärwinkel der andersfarbigen Sektoren auf«. >Vier Farben
kamen zur Verwendung: rot, gelb, grün, blau. Dabei war die
Helligkeitsverschiedenheit zwischen rot, grün und blau , untermerk-
lich'; hingegen war gelb merklich heller als die andern Farben.«
>Die Versuchsscheiben wurden der Versuchperson bei gutem Tages-
licht in konstanter Entfernung (je V^ Sekunden lang) vorgezeigt.
Ihre Aufgabe bestand nur darin, anzugeben, welche von beiden
Farben sich zuerst ihrer Beachtung aufdrängte Im ganzen
nahmen 40 Personen an den Versuchen teil.« Von diesen 40 Versuchs-
personen beurteilten aber 39 jede Kombination nur einmal, sodaß
ein Urteil über die Konstanz der Auffalligkeitsschätzung nicht mög-
lich ist.
Die Versuche ergaben nun zunächst das Resultat, daß jede
Farbe in jeder Kombination verschiedene Auffälligkeitswerte besitzt
je nach der Winkelgröße der Sektoren, in denen sie dargeboten wird.
Aber auch für dieselbe Winkelgröße fand Ameseder nicht bei allen
Farbenkombinationen die gleichen Auffälligkeitswerte. Die hier vor-
handenen Verschiedenheiten betrachtet er als Funktion der Farben-
auffälligkeit und ist bemüht, zunächst den Einfluß der Winkelgröße
rein darzustellen. Die Formel soll das Maß der bloß von der
n 'p
Winkelgröße abhängigen Auffälligkeit enthalten, wenn x die Zahl
der für eine Sektorengröße Auffälligkeit aussagenden Urteile, n die
Zahl aller für die betreffende Sektorengröße möglichen Kombinationen
je zweier Farben und p die Zahl der Versuchspersonen ausdrückt.
66 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Aus der von der Winkelgröße abhängigen Auffälligkeit berechnet
unser Autor sodann die Farbenauffälligkeit unter der Voraussetzung,
daß die Zahl der für eine bestimmte Farbe von bestimmter Winkel-
größe Auffälligkeit aussagenden Urteile {Baß das Produkt sei
der Farbenauffälligkeitsreaktionszahl und der Winkelauffälligkeits-
reaktionszahl {Ra.Rf). Auf Grund dieser Annahme ergibt sich für
Ä/; d. h. für die Zahl der lediglich unter dem Einfluß der Farbe
Auffälligkeit aussagenden Urteile (die >Farbenauffälligkeitsreaktions-
zahl«) die Formel:
■RgQo/' , B^^f ?:]^
p/. -RgQo -R250 Ä70«
11
Nun sollte man erwarten, daß Ameseder die verschiedenen Werte,
welche Rf für die verschiedenen Farben annimmt, mitteile. Dies
geschieht jedoch nicht, sondern es wird nur das Verhältnis angegeben,
in welchem Rf für eine bestimmte Farbe zn Rf für eine\ andere
Farbe (bezeichnet mit Rf) steht. Bezeichnen wir mit f f',\f\ f"
die Farben rot, gelb, grün, blau, so führt Ameseder beispieläiweise
Rf Rf" Hf*" V
folgende Verhältnisse an: -^,- = 1,72; ~r = 1>58; -^ = 1^76.
1,58; ^ = y6
Daraus, sollte man erwarten, müßte sich nun das Verhältnis -^7.>>\,
lif
Rf \
-^,T u. s. w. berechnen lassen. Das ist aber keineswegs der Fall.
Rf .
Rf
Die von Ameseder angegebenen Verhältniszahlen für -=-^ u. s. w. ,
lif
stimmen mit den berechneten nicht überein. Die Interpretation, ^
welche Ameseder den in Rede stehenden Verhältniszahlen angedeihen
läßt, als ob es sich dabei lediglich um den Ausdruck des Erfolges
der Konkurrenz zweier Farben handle, diese Interpretation, welche
es verständlich erscheinen ließe, warum aus -^r/r und -=^ der
lif lit
Rf
Wert für ^^ nicht berechnet werden kann, ist oflfenbar nicht richtig.
lif
Rf bezeichnet nicht die Anzahl der Urteile, welche für f in Kombi-
nation mit f, sondern vielmehr die Anzahl der Urteile, welche für
f in Kombination mit allen Farben (unbeeinflußt von der Winkel-
größe) Auffälligkeit behaupten. Deshalb scheint hier der Gedanken-
gang Ameseders in absoluter Dunkelheit zu enden.
Es bleibt daher nur noch übrig, die Ergebnisse Ameseders in
der von ihm selbst gegebenen Formulierung mitzuteilen:
üntersachungen zur Gegenstandstlieorie and Psjcliologie , hn. ron Meinong. 67
1. Es gibt absolute AufTälligkeit der Farben; und zwar ist die
Auffälligkeit bei unmittelbarer Konkurrenz in der Reihe r,
&> 9*', 0 fallend, jedoch wird sie stets durch die Konkurrenz-
farben modifiziert.
2. Es fanden sich zwei Typen von Versuchspersonen, von welchen
der eine Typus {A) mit größerer, der andere (B) mit erheb-
. lieh geringerer Sicherheit reagierte. Für beide Typen
variierten auch die absoluten Auffälligkeiten, und zwar be-
günstigte A blau und B rot.
3. Die Unsicherheit nimmt im Laufe der Versuche zu, für ^
aber relativ mehr als für B. Sie ist am größten, wo die
Konkurrenzgegenstände am ähnlichsten sind, wie z. B. bei
Sektoren von 45^. Von Farbenzusammenstellungen ergibt
grün mit blau eine erhebliche Unsicherheit für Typus jB;
wohl weil das Grün etwas bläulich gewesen sein dürfte , ob-
wohl dies nicht merklich war, und weil für diesen Typus die
Auffälligkeit des Blau geringer ist.
4. Die Winkelgröße der Sektoren ist für die Auffälligkeit mit-
bestimmend. Und zwar ist die Auffälligkeit im untersuchten
Bereiche für Typus A um so größer, je größer der Winkel,
für J8, je kleiner der Winkel ist.
5. Auch die Lagen der Sektoren haben eine eigene — absolute
— Auffälligkeit; die +-Lage ist für beide Typen auffälliger
als die x-Lage; im Laufe der Versuche steigt für A die
Auffälligkeit des +, für B die des x.
VIL
Gegen eine voluntaristische Begründung der Werttheorie. Von
Wilhelmine Liel. S. 527—578.
Die Werttheorie darf trotz alles Streites, den im einzelnen noch
die Frage der Existenz besonderer Wertgefühle veranlassen mag,
doch wohl in dem Sinn als begründet gelten, daß die Bestimmung
des Wertes im letzten Grund auf Tatsachen des Gefühlslebens re-
kurrieren muß. Nichtsdestoweniger spielt der Begriff einer volunta*
ristischen Begründung der Werttheorie nach wie vor in der ein-
schlägigen Literatur eine gewisse Rolle, obwohl es sich immer wieder
zeigt, daß die »Voluntaristen< kaum etwas anderes als neue Namen
für altbekannte Sachen aufzubringen wissen. Eine solche > Zurück-
fährung« des Wertbewußtseins auf Willenstatsachen hat in letzter
Zeit H. Schwarz in seinen verschiedenen willenspsychologischen und
ethischen Darlegungen versucht, und Wilhelmine Liel hat demgegen-
58 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Über die Aufgabe überaommen , zu zeigen, daß die Tatsachen des
> Gefallens <, auf welche Schwarz seine Werttheorie gründet, identisch
sind mit Tatsachen des Gefühlslebens.
Die Ausführungen W. Liels können wir zum Zweck einer kri-
tischen Betrachtung in zwei Hauptabschnitte auseinanderlegen, von
denen der eine die Beziehungen zwischen >Gefallen< und Gefühl
überhaupt untersucht, während der andere die Werttheorie im
Meinongschen Sinn auf die Existenz der Urteilsgefühle zu gründen
bestimmt ist.
Was den ersten Teil anlangt, so können wir den Darlegungen
der Verfasserin öur beistimmen, wenn sie zeigt, wie alle Gründe,
welche Schwarz zur Trennung des > Gefallens« vom Gefühl irgend
welcher Art veranlaßt haben, hinfällig sind. Diese Gründe formuliert
sie folgendermaßen:
a) Durch Identifizierung des Gefallens mit Gefühl verwechsle
man das Werthalten mit dem Wertgehaltenen, dem Wert-
objekt.
b) Unter dieser Voraussetzung müßte man Sättigungs Verschieden-
heiten für Stärkeunt'erschiede nehmen, indes > Sättigung < nur
dem > Gefallen«, Stärke nur dem Gefühl eigne.
c) Im Gegensatze zum Gefühle, das verschiedener Qualität sein
könne, wäre alles »Gefallene qualitativ von gleicher Art.
d) Gefallen sei ein aktives, Lust hingegen ein passives seelisches
Erlebnis.
Dagegen zeigt sie, daß das Werthalten keineswegs mit dem
Wertgehaltenen verwechselt zu werden braucht, wenn man annimmt,
daß auf die Lust als Wertobjekt ein Lustgefühl im Sinne des Wert-
haltens sich richte. Ferner weist sie nach, daß die Unterschiede des
Gefallens nicht bloß »Sättigungsunterschiede« und die Unterschiede
des Gefühls nicht bloß Intensitätsunterschiede bedeuten. Dabei ist
insbesondere der letztgenannte Punkt bedeutsam, hinsichtlich dessen
sich die Verfasserin auf Meinongs Darlegungen über »Annahmen«
bezieht. Das >unsatte< Gefühl ist nämlich nach Meinong das Gefühl,
welches sich bei der bloßen Annahme der Existenz eines Wert-
objekts einstellt und welches in ein » sattes c Gefühl übergeht, sobald
dieUeberzeugung von der Existenz des betreffenden Wertobjekts
begründet wird. Man kann vielleicht sogar noch weitergehen und
kann die »Annahmegefühle« oder, wie sie Meinong nennt, die »Phan-
tasiegefUhle« für einen bloßen Ausschnitt aus dem Gebiet »unsatter«
Gefühle halten, die möglicherweise überall da sich konstatieren lassen,
wo mit der Existenz eines Gefühls von geringer Intensität das Be-
wußtsein der Steigerungsfähigkeit sich verbindet. Jedenfalls aber
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. ron Meinong. 69
muG man der Verfasserin recht geben, wenn sie mit Rücksicht auf
die erwähnten Ausführungen Meinongs behauptet, daß man, > da für
das Gefühl beides, sowohl Intensität, wie das, was Schwarz ,Sättigung'
nennt, nachweisbar ist, — durch nichts gezwungen wird, die eine
Erscheinung für die andere zu nehmen, wenn man Werthalten als
ein Gefühl auffaßt«.
Was den dritten der von Schwarz angeführten Gründe für die
Auseinanderhaltung von Gefallen und Gefühl anlangt, daß nämlich
die Gefühle von verschiedener Qualität, alle Gefallensakte dagegen
von gleicher Qualität seien, so betont W. Liel mit Recht, daß die
These von der qualitativen Verschiedenheit der einzelnen Lust- bezw.
Unlustgefühle eine keineswegs allgemein zugestandene Behauptung
sei, daß aber selbst, wenn eine Vielheit von Lust- bezw. Unlust-
gefühlen zugegeben werde, die Frage sich nicht von der Hand weisen
lasse, ob nicht das Gefallen bezw. Mißfallen mit einer bestimmten
Nuance von Lust bezw. Unlust zusammenfalle.
Eine besonders ausführliche Untersuchung endlich widmet die
Verfasserin dem vierten der in Rede stehenden Punkte, daß nämlich
Gefühl und Gefallen als passives und aktives Geschehen auseinander
gehalten werden müßten. Auf diese Untersuchungen näher einzugehen
halten wir deshalb für unnötig, weil die Einführung der Begriffe
Aktivität und Passivität zur Charakterisierung und Unterscheidung
psychischer Phänomene überhaupt nicht geeignet scheint. Wer bei-
spielsweise das ästhetische Gefallen beim Versunkensein in die Be-
trachtung eines Kunstwerks ein aktives Erlebnis nennen und den
sinnlichen Genuß als etwas Passives bezeichnen will, der mag das
immerhin tun. Aber er glaube nicht, damit eine tiefe Kluft zwischen
zusammengehörigen psychischen Phänomenen geschaffen zu haben*
Er könnte höchstens Veranlassung geben, zwischen aktiven und
passiven Gefühlen zu unterscheiden, aber seelische Erlebnisse mit
ausgesprochenem Gefühlscharakter wegen eines angeblichen Charakters
der Aktivität aus der Klasse der Gefühle zu verbannen, dazu besteht
nicht der geringste Grund.
Dürfen wir uns somit der Auffassung W. Liels vollkommen an-
schließen, wonach eine Unterscheidung zwischen Gefallen und Gefühl
gänzlich unbegründet ist, so brauchen wir auch auf ihre Darlegung
der Gründe kaum näher einzugehen, warum das > Gefallen« nicht als
Tatsache des Willenslebens zu betrachten sei. Ebenso ist wohl ohne
weitere Erörterung klar, was die Verfasserin noch im einzelnen be-
gründet, daß die Zurückführungen verschiedener psychischer Phä-
nomene auf das »Gefallen« nichts anderes bedeuten als den Nachweis,
60 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
daß OefUhle der Lust bezw. Unlust in die betreffenden seelischen
Erscheinungen eingehen.
Dagegen müssen wir etwas länger verweilen bei der Betrachtung
des zweiten oben unterschiedenen Hauptteils der Lielschen Dar-
legungen, der die Beziehungen zwischen »Gefallen« und Urteilsgefiihl
behandelt und die Ansicht Meinongs von der Subsumption des Wert-
bewußtseins unter die Urteilsgefühle vertritt. Gegen diese Auffassung
Meinongs hat Schwarz eine Beihe von Einwänden erhoben, die teil-
weise nicht unberechtigt zu sein scheinen, während W. Liel sie samt
und sonders verwirft. Wir werden nun wohl gern zugeben, daß die Zu-
rückweisung der von Schwarz aufgestellten Behauptungen vom Meinong-
schen Standpunkt aus logisch korrekt durchgeführt ist. Aber derjenige,
der diesen Standpunkt nicht einnimmt, gibt sich damit kaum zufrieden.
Vollkommen berechtigt ist zwar der Nachweis, daß Schwarz Un-
recht hat, wenn er Meinong den Satz, die Wertgefühle seien Urteils-
gefühle als eine zu weit ausgefallene Definition ankreidet. Meinong
hat diesen Satz in der Tat niemals als Definition betrachtet, sondern
hat stets die Ansicht vertreten, daß es außer den Wertgefühlen noch
andere Urteilsgefühle, die von ihm sogenannten > Wissensgefühle«
gibt. Dagegen stimmen wir Schwarz bei, wenn er die Definition der
Wertgefühle als (Unterart der) Urteilsgefühle zu eng findet. Fünf
Gruppen von > Werthaltungen« erwähnt W. Liel, die Schwarz als
außerhalb der Urteilsgefühle stehend betrachtet, nämlich 1) das ästhe-
tische Gefallen, 2) das Gefallen an der Wahrheit, 3) das Gefallen an
Neuheit, 4) das Wertgefühl, das nur an einer Vorstellung hängt und
5) das Wertgefühl, das auftritt, ehe zum Urteilen nur Zeit gewesen
sein kann. All diesen Fällen gegenüber wird bestritten, daß es
sich dabei um > Werthaltungen < handelt. Nun ist freilich klar, daß
da, wo das Wertgefühl als eine Form des Urteilsgefühles bestimmt
wird, der Nachweis nicht schwer fällt, ein Gefühl, das kein Urteils-
gefühl ist, sei kein Wertgefühl. Aber wenn dieser Nachweis irgend-
welche wissenschaftliche Bedeutung beansprucht, dann muß er sich
zum mindesten mit dem Sprachgebrauch auseinandersetzen, der die
Gegenstände der Gefühle, die nicht Werthaltungen sein sollen, doch
als Werte bezeichnet. Es muß, kurz gesagt, dargetan werden, daß
die betreffenden Gegenstände, die als Werte bezeichnet werden, Wert-
charakter besitzen können, auch wenn die in Bede stehenden Gefühle
keine Wertgefühle sind.
Diese Aufgabe wird von unserer Verfasserin keineswegs verkannt
wenn sie auch nicht ganz scharfe Formulierung findet. Es wird
nämlich betont, daß durch die Unterscheidung der Wissensgefuhle
und der Wertgefühle >der Wert der Wahrheit so wenig in Frage
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 61
gestellt wird, wie die Erkenntnis, daß zum Entstehen ästhetischer
Gefühle Urteilsakte nicht wesentlich sind, das Werthalten ästhetischen
Genießens oder den Wert von Eunstgegenständen, ja den des Schönen
überhaupt, bedrohte. Suchen wir aus dieser ziemlich knappen An-
deutung zu ergründen, auf welchem W^eg W. Liel die angedeutete
Schwierigkeit glaubt überwinden zu können, so ergibt sich etwa
folgender Gedankengang: Die erwähnten Gefühle, die keine Urteils-
gefühle sind und deshalb auch keine Wertgefühle sein sollen, beziehen
sich, wie alle Gefühle, auf bestimmte Grundlagen. Aber diese Grund-
lagen sind nicht identisch mit den Gegenständen, die vom allgemeinen
Sprachgebrauch als Werte bezeichnet werden, oder wenn sie mit den
betreffenden Gegenständen zusammenfallen, so handelt es sich um
eine zufällige Verknüpfung. Der Wertcharakter der Gegenstände
wird jedenfalls nicht dadurch bestimmt, daß sie gelegentlich auch
die Grundlage von Gefühlen, die nicht Urteilsgefühle sind, darstellen.
Gegen diesen Gedankengang läßt sich nichts einwenden, so lange
man es aus sonstigen Gründen wahrscheinlich findet, daß jede Wert-
konstatierung durch ein Wertgefühl besorgt wird, das sich auf ein
Existenzialurteil oder mindestens auf die Annahme einer Existenz
gründet. Wenn man aber auf Grund gewisser Ueberlegungen dazu
gelangt, die Wertkonstatierung für einen mehr intellektuellen Prozeß
zu halten, dessen Vorbedingung lediglich zu suchen ist in dem »Sich-
beziehen« eines Lustgefühls auf irgendwelche Tatsachen, die infolge-
dessen für wertvoll gehalten werden, dann wird man beispielsweise
den Begriff des ästhetischen Wertes kaum so fassen, daß damit die
Eigenschaft eines Gegenstandes bezeichnet wird, derzufolge ein dar-
auf sich beziehendes Existenzialurteil lustbetont ist. Viel ungezwungener
erscheint dann vielmehr jene Deutung, derzufolge ästhetischer Wert
allen ästhetisch wirksamen Objekten zugesprochen wird.
Trotz der prinzipiellen Ablehnung des im zweiten Teil der Liel-
schen Ausführungen verteidigten Standpunktes ist indessen zuzugeben,
daß die klar und scharfsinnig geschriebene Abhandlung nur fördernd
auf die Diskussion des Wertproblems einwirken kann.
vm.
Ueber die Natur der Phantasiegefühle und Phantasiebegehnmgen.
Von Dr. Robert Saxinger. S. 579—606.
Saxinger stellt sich die Aufgabe, eine Behauptung Meinongs der
widersprechenden Ansicht Witaseks gegenüber zu verteidigen. Die
Position Meinongs besteht darin, daß er gewisse emotionale Erlebnisse»
auf deren Vorhandensein er bei der Untersuchung der »Annahmen«
gestoßen ist, und die er als Phantasiegefuhle und Phantasiebegehr«
62 Gdtt gel. Anz. 1906. Nr. 1.
ungen bezeichnet hat — daß er diese emotionalen Erlebnisse
nicht als wirkliche Gefühle und wirkliche Begehrungen betrachtet
wissen will. Dagegen behauptet Witasek, daß man es bei solchen
Phantasiegefühlen und Phantasiebegehrungen mit wirklichen Gefühlen
und Begehrungen zu tun habe, die nur durch die Besonderheit ihrer
intellektuellen Grundlage von anderen Gefühlen und Begehrungen
sich unterschieden, indem sie eben im wesentlichen »Annahmen« zur
psychologischen Voraussetzung hätten. Wenn wir also beispielsweise
im Theater in die Situation eines tragischen Helden uns versetzen,
so erleben wir in Furcht und Mitleid nach Meinong psychische Tat-
sachen eigener Art, nach Witasek Gefühle und Begehrungen.
Die Methode nun, nach welcher Saxinger die Ansicht Meinongs
als richtig zu erweisen sich bemüht, ist folgende : Er nimmt bestimmte
Eigentümlichkeiten als allgemein zugestandene Charakteristika der
wirklichen Gefühle und Begehrungen in Anspruch und sucht zu
zeigen, daß die betreffenden Merkmale den > Phantasiegefühlen« und
den >Phantasiebegehrungen€ nicht zukommen.
Solche Eigentümlichkeiten sollen für die Gefühle die Unvermeid-
lichkeit der Abstumpfung und die Fähigkeit gegenseitiger Beein-
flussung bei gegebener Koexistenz (der Gefühlsursachen) darstellen.
Als Beispiel für die Abstumpfung eines Gefühls erwähnt Saxinger
die im Lauf der Zeit eintretende Abschwächung der Trauer um den
Verlust eines lieben Lebensgefährten. Die gegenseitige Beeinflussung
der Gefühle bei Koexistenz der GefühlsvoraussetzuDgen sucht er zu
illustrieren durch den Hinweis auf die Tatsache, daß man im Zustand
tiefer Trauer sich über nichts zu freuen vermöge. Sowohl Ab-
stumpfung als auch gegenseitige Beeinflussung sollen dagegen bei
Phantasiegefühlen nicht zu konstatieren sein. Zum Beweis des
ersteren beruft sich Saxinger auf die Erfahrung, daß im Fall des
Verlustes eines lieben Lebensgefährten die Annahme des Nochvor-
handenseins des betreffenden Menschen ihren freundlichen Charakter
auch dann beibehält, wenn die Trauer um den Verstorbenen bereits
gebrochen ist. Und um die zweite der oben angegebenen Behaup-
tungen zu stützen, wird darauf hingewiesen, daß derjenige, der sich
über die Erreichung eines gesteckten Zieles freut und in froher
Stimmung »annimmt«, er habe das Ziel nicht erreicht, einen unlust-
artigen Charakter dieses letzteren Gedankens bemerken könne, der
sich auch den herrschenden Lustgefühlen gegenüber behauptet.
Gegen dies» Art der Beweisführung ließe sich nun zunächst der
Einwand erheben, daß die Erfahrungen, auf die sich der Autor be-
ruft, kaum allgemein zugegeben werden. Aber ein solcher Einwand
wUrde die Diskussion nicht wesentlich fördern. Deshalb sei hier
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 63
einmal angenommen, die mitgeteilten Beispiele seien evident. MQssen
wir dann der Ansicht Saxingers beistimmen oder nicht, und lassen
sich vielleicht andere Instanzen finden, die für oder gegen die in
Rede stehende Auffassung sprechen?
Was zunächst die >Nichtabstumpfbarkeit< der > Phantasiegefühle <
anlangt, so ergibt sich die Erkenntnis derselben sicherlich nicht aus
der Erfahrung, daß beispielsweise die Annahme, ein Freund lebe
noch, zu den angenehmen Gedanken gehört, auch wenn die Trauer
über den Tod des Freundes schon lange ihren Stachel verloren hat.
Erst dann, wenn feststünde, daß die betreffende Annahme nach dem
Tod des Freundes sehr häufig gemacht worden sei und daß trotzdem
der emotionale Charakter derselben keine Einbuße erlitten habe —
erst dann könnte vielleicht eine >Nichtabstumpfbarkeit< der >Phan-
tasiegefühlec gefolgert werden. Diese Bedingung wird aber von
Saxinger nicht als erfüllt vorausgesetzt und ist auch keineswegs als
selbstverständlich gegeben anzunehmen; vielmehr ist es äußerst wahr-
scheinlich, daß gegenüber der feststehenden Tatsache des Todes die
Annahme, der Tod sei nicht eingetreten, verhältnismäßig selten auf-
tritt. Außerdem ist zu bedenken, daß die Abstumpfung an weniger
intensiven Gefühlen überhaupt nicht so merklich ist als an besonders
starken und lebhaften. Wenn nun Saxinger nachweist — was bei
dem Mangel exakter Maßmethoden allein im günstigsten Falle
nachgewiesen werden kann — , daß die Gefühle, welche die Annahme
des Nichteintretens eines bestimmten Ereignisses begleiten, und die
Gefühle, welche dem Urteil über das Eintreten des Ereignisses an-
haften, im Lauf der Zeit eine immer kleinere Intensitätsdifferenz
aufzuweisen haben ; wenn dies ganz unwiderleglich sicher gestellt ist,
dann folgt daraus zunächst nur eine Bestätigung der Auffassung, daß
stärkere Gefühle im Lauf der Zeit einen größeren Intensitätsverlust
erleiden als schwächere — keineswegs aber ergibt sich die Folgerung
einer >Nichtabstumpfbarkeit< der >Phantasiegefühle<.
Der Begriff der > Gefühlsabstumpfung« gehört überhaupt zu den
Begriffen, die erst nach sorgfältiger Analyse ihrer Bedeutung für die
Zwecke der Wissenschaft brauchbar werden, und eine solche Analyse
läßt die Arbeit Saxingers vermissen. Der Autor erklärt einfach,
> Gefühlsabstumpfung sei Gefühlsdispositionsherabsetzungc und zwar
>jene Gefühlsdispositionsherabsetzung, die in der Natur der Dispo-
sition selbst ihren Grund hat«. Bei unserer prinzipiellen Unkenntnis
von der Natur der Dispositionen werden wir dies kaum für eine be-
friedigende Erklärung halten können. Was uns empirisch gegeben
ist, ist zunächst nur die Tatsache, daß Gefühle, die sich auf dieselben
Gegenstände beziehen bezw. (sinnliche) Gefühle, die durch gleich«
64 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
artige Reize ausgelöst werden, bei längerem Bestehen bezw. bei
häufigerem Auftreten allmählich abnehmende Intensität aufweisen.
Da es nun bekannt ist, daß beispielsweise sinnliche Gefühle, deren
Ursache ein vergänglicher Prozeß ist, ohne merklichen Intensitäts-
yerlust immer wieder aufs neue auftreten können, so muß die Wahr-
scheinlichkeit zugegeben werden, daß ein allmähliches Abnehmen der
Gefühlsintensität nur bei längerem kontinuierlichen Vorhandensein
der Gefühle oder wenigstens der Gefühlsursachen eintritt. Beispiele,
die eine dem widersprechende Behauptung zu rechtfertigen scheinen,
lassen sich leicht dadurch erklären, daß häufig Gefühle, die ohne
kontinuierlich wirkende Grundlage mehrmals in allmählich sich ab-
schwächender Intensität auftreten, obwohl sie sich auf den gleichen
Gegenstand beziehen, doch nicht stets gleichartige Voraussetzungen
haben. Wenn beispielsweise eine Erinnerung, die nicht sozusagen
in den eisernen Bestand des Persönlichkeitsbewußtseins eingegangen
ist, wiederholt geweckt und stets von immer schwächer werdenden
Gefühlen begleitet wird, so kann die Veränderung der Gefühle be-
dingt sein durch den Komplex assoziierter Gedanken und Vorstellungen,
der den Gefühlscharakter mitbestimmt und der veränderlich ist, auch
wenn die Erinnerung stets auf den gleichen Gegenstand sich bezieht.
Ist nun dieser Gedankengang richtig, findet sich eine Abstumpfung
der Gefühle nur bei kontinuierlicher Wirksamkeit der Gefühlsgrund-
lage, dann könnte sogar die Nichtabstumpfbarkeit der Phantasie-
gefühle, wenn sie nachgewiesen wäre, keinen Gegensatz zwischen
Phantasiegefühlen und anderen Gefühlen begründen.
Ebenso ablehnend aber wie gegen den Beweis für die These
der Nichtabstumpfbarkeit der Phantasiegefühle müssen wir uns gegen
den Gedankengang verhalten, durch welchen Saxinger darzutun sucht»
daß >Phantasiegefühle< und > wirkliche Gefühle < sich nicht gegen-
seitig beeinflussen. Wiederum nehmen wir an, daß das oben mit-
geteilte Beispiel Saxingers evident sei, daß also jemand, der sich
über die Erreichung eines Zieles freut, trotzdem einen gewissen Un-
lustcharakter empfindet an der Annahme, daß er das betreffende Ziel
nicht erreicht habe, falls diese Annahme gelingt. Folgt nun aus
dieser Voraussetzung, daß in dem erwähnten Fall das unlustvolle
Annahmegefühl (Phantasiegefühl) und das lustvolle Gefühl, welches
sich an das Bewußtsein des erreichten Zieles knüpft, unabhängig von
einander gleichzeitig vorhanden sind? Das ist unmöglich aus
dem einfachen Grund, weil das Urteil über eine bestimmte Tatsache
und die entgegengesetzte Annahme im Bewußtsein nicht koexistieren
können. Es konunt also nur ein rascher Uebergang vom Urteils-
gefühl zum Annabmegefühl in Betracht, bei welchem die durch das.
Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 65
Urteilsgefühl bestimmte allgemeine Gemütslage nicht nachhaltig ge-
ändert wird. Ein solcher Uebergang ist nun offenbar auch bei
> wirklichen« Gefühlen möglich. Man denke nur an einen Mücken-
stich, der uns in glücklicher Stimmung ein momentanes Unbehagen,
aber — in der Regel wenigstens — keine dauernde Störung verur-
sacht. Daß »Phantasiegefühle« besonders geringe Veränderungen in
der allgemeinen Gemütslage hervorrufen, ist bei ihrer geringen
Intensität und bei dem besonderen Charakter ihrer intellektuellen
Grundlage selbstverständlich. Daß andererseits die allgemeine Ge-
mütslage Phantasiegefühle nicht zu unterdrücken vermag, wenn solche
überhaupt auftreten können d. h. wenn angesichts eines bestimmten
Tatbestandes mit starker Gefühlsfärbung entgegengesetzte Annahmen
nicht unmöglich werden, das ist sicherlich kein Beweis für die be-
sondere Natur der Phantasiegefühle, solange nicht feststeht, wie die
gegenseitige Beeinflussung von Gefühlen sich überhaupt vollzieht,
deren Grundlagen sukzessiv in Wirksamkeit treten. Der als Beispiel
für eine derartige Beeinflussung angeführte Fall, daß man im Zu-
stand tiefer Trauer >sich über nichts recht freuen könnte« läßt sich
wohl am besten dahin interpretieren, daß die psychologischen Grund*
lagen eines Freudegefühls im Zustand der Trauer nicht zur Geltung
kommen können, daß wir etwa den Gedanken an erfreuliche Gegen-
stände nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken. Ist diese Inter-
pretation richtig, dann stehen Phantasiegefühle und andere Gefühle
hinsichtlich der Beeinflussung, die sie durch eine bestehende Ge«
mütslage erfahren, einander völlig gleich. Wenn die Annahme, die
intellektuelle Grundlage der Phantasiegefühle, und wenn die auf-
merksame Betrachtung bestimmter Tatsachen, die intellektuelle Grund-
lage > wirklicher« Gefühle trotz einer ihrem Auftreten ungünstigen
Qemütslage zustande kommen, dann machen sich auch die ent-
sprechenden Gefühle ungeschmälert geltend. Unrichtig dagegen ist
es, einen Fall, in dem ein > wirkliches c Gefühl geschmälert wird,
weil möglicherweise seine intellektuelle Grundlage nicht zur Geltung
kommen kann, einem andern Fall gegenüberzustellen, in dem ein
Phantasiegefühl auftritt, dessen intellektuelle Grundlage durch eine
Voraussetzung postuliert wird — und aus der Gegenüberstellung
beider Fälle eine Verschiedenheit der Phantasiegefühle und der wirk-
lichen Gefühle abzuleiten.
Der Hauptbeweis Saxingers für die Eigenart der Phantasiegefühle
scheint also mißlungen. Aber es darf nicht unerwähnt bleiben, daß
unser Autor noch einen weiteren Grund für die Behauptung einer
»Sonderstellung der Phantasiegefühlsdispositionen« beibringen zu
können glaubt. £r meint, >die Frage, ob Phantasiegefühle und Ur*
e«tl. f tl. Am. 1906. Nr. 1. 5
66 66tt. gel. Adz. 1906. Nr. 1.
teilsgefühle auf gemeinsame Dispositionen zurückgehen, könne nur
so zur Entscheidung gebracht werden, daß Fälle aufgezählt werden,
in welchen sich Urteil und Annahme auf das gleiche Objektiv 0 be-
ziehen, die zugehörigen Geftihlsreaktionen sich aber nicht so gestalten,
wie sie sich unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Gefühls-
disposition gestalten müßten«. Saxinger scheint anzunehmen, daß
Gleichheit der betreffenden Gefühlsreaktionen notwendig zu erwarten
sei, wenn eine gemeinsame Gefühlsdisposition angenommen werde.
Von dieser Annahme ausgehend glaubt er eine Sonderstellung der
Phantasiegefühlsdispositionen dartun zu können, indem er darauf
hinweist, daß Urteil und Annahme, die sich auf das gleiche Objektiv
beziehen, häufig verschiedene, ja entgegengesetzte emotionale Cha-
raktere besitzen und zwar nicht etwa nur in dem Sinn, daß die An-
nahme von einem weniger intensiven Gefühl begleitet wird, sondern
in der Weise, daß die Annahme zuweilen Lustcharakter besitzt,
während ein entsprechendes Urteil ohne Lustgefühl, ja sogar mit
Unlustgefühl verbunden auftreten kann. Als Beispiel führt Saxinger
an, daß derjenige, der sich etwa in die Vergnügungen der Jugend-
zeit im Geist zurückversetzt, etwas Lustähnliches erlebe, auch wenn
das, was ihm seinerzeit Lust verschaffte, längst seinen Reiz für ihn
verloren hat. Diesem Beispiel gegenüber müssen wir zunächst fragen,
ob das Urteil, welches hier der Annahme entsprechen soll, wirklich
auf dasselbe Objektiv sich bezieht. Das Objektiv der Annahme ist
doch offenbar dies: >Als Knabe sich an kindlichen Spielen erfreuen«.
Das Objektiv des entsprechenden Urteils läßt sich aber wohl nur so
wiedergeben: >Als Mann in einer kindlichen Beschäftigung aufgehenc.
Das was den beiden Objektiven gemeinsam ist, das > Vollbringen
kindlicher Handlungen« genügt offenbar nicht, um völlige Gleichheit
derselben zu begründen. Infolgedessen ist gar nicht zu erwarten,
daß Urteil und Annahme, die sich auf verschiedene Objektive be-
ziehen, gleichen emotionalen Charakter aufweisen. Die Verschieden-
heit des Phantasiegefühls und des Urteilsgefühls spricht also in
diesem Fall gar nicht für die Sonderstellung der Phantasiegefühls-
dispositionen. Aber auch wenn bei gleichem Objektiv Annahme und
Urteil verschiedenen emotionalen Charakter besitzen, so erscheint
die in Bede stehende Schlußfolgerung Saxingers kaum gerechtfertigt.
Denn das Objektiv ist doch nicht die Ursache der Gefühlserregung.
Die psychischen Vorgänge, mit denen bei Annahme und Urteil das-
selbe Objektiv erfaßt wird und die allein als Ursachen des emotio-
nalen Charakters in Betracht kommen, können so verschieden sein,
daß sie auch eine und dieselbe Disposition zu verschiedener, ja zu
1) lieber die Bedeutung dieses Wortes vgl Seite 27 dieser Besprechungen.
Untersuchungen zur GegensUndstheorie und Psychologie, hrs. von Meinong. 67
entgegengesetzter Reaktion zu zwingen vermögen. Im ttbrigen er-
scheint eine Spezifikation der Dispositionen überhaupt nicht als der
richtige Weg, die psychologische Erklärung zu fördern; das dürfte
bei der Erinnerung an die Wolfische Vermögenspsychologie wohl
allgemein zugegeben werden.
Mit dem bisherigen sind die Gründe, die Saxinger für die
Eigenart der Phantasiegefühle anfährt, so ziemlich erschöpft. Damit
ist freilich noch nicht nachgewiesen, daß die Phantasiegefühle ganz
normale Gefühle sind. Wenn z. B. das Zugeständnis Witaseks un-
vermeidlich wäre, das unser Autor nicht für hinreichend hält, das
>Phantasiegefühl8problem< zu lösen, wenn man der Behauptung zu-
stimmen müßte, daß die PhantasiegefUhle weder freuen noch
schmerzen, dann wäre damit die Ansicht Saxingers besser ge-
recftfertigt als durch all seine Ausführungen. Aber die Erfahrung
gibt uns keine Veranlassung, das Witaseksche Zugeständnis zu
dem unsrigen zu machen, sofern dasselbe der Behauptung gleich-
kommt, die Phantasiegefühle seien nicht merklich lust- oder unlust-
voll. Die Freude des phantasievollen Knaben an erträumten Taten,
die Trauer manches religiösen Gemüts bei dem Gedanken an eine
Sünde, die begangen werden könnte — das sind Beispiele für sehr
merklich lust- und unlustvolle Phantasiegefühle. Soll freilich mit
der These, daß die Phantasiegefühle weder freuen noch schmerzen,
nur dies gemeint sein, daß sie nicht zum Ausgangspunkt einer Ge-
fühlsreaktion zweiten Grades geeignet seien, so ist dies wohl zuzu-
geben. Aber dasselbe gilt für eine Reihe anderer sehr erster
Gefühle, ja es ist geradezu für alle Gefühle von geringerer Intensität,
deren intellektuelle Grundlage von unserer Willkür abhängt, die
Regel. Ueberhaupt mögen wir uns umschauen, wo wir wollen, wir
finden keinen Grund, der uns veranlassen könnte, die Phantasie-
gefühle aus der Klasse der Gefühle zu verbannen und einem psycho-
logischen Gattungsbegriff unterzuordnen, der nur ad hoc konstruiert
würde.
Unser Autor bemüht sich freilich, die neugeschaffiene Gattung
psychischer Phänomene mit einem gewissen Reichtum an Arten zu
versorgen. So will er die Gefüblstöne der Allgemeinvorstellungen
und Wortvorstellungen in derselben Klasse unterbringen. Auch diese
Gefühlstöne sollen emotionale, nach der Lust-Unlustseite zu charakte-
risierende Erlebnisse aber keine Gefühle sein. Zum Beweis dessen
wird angeführt, daß der Ortsname >Ebensee< für unsem Autor,
welcher Augenzeuge der durch Hochwasser in Ebensee angerichteten
Verheerungen war, einen unlustvollen Gefühlston besitzt, welcher
nicht zusammenfällt jnit den Gefühlen, die sich an die Erinnerung
6*
68 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
der Verheerungen knüpfen. Daß ein derartiges Auseinanderfallen
möglich ist zwischen dem Gefühlston einer Wortvorstellung und den
Gefühlen, die sich an bestimmte Bestandteile des durch das Wort
erregten Vorstellungskomplexes knüpfen, das sei ohne weiteres zu-
gegeben. Das beweist aber gar nichts für die Eigenart jenes Ge-
fühlstons, sondern es beweist nur, daß die psychologische Voraus-
setzung desselben eine andere ist als die psychologische Voraussetzung
der an bestimmte Vorstellungen und Erinnerungen gebundenen Ge-
fühle. Verschieden von der letzteren kann erstere Voraussetzung
aber auch dann sein, wenn sie jene als Bestandteil in sich enthält,
und es ist daher unrichtig, wenn Saxinger aus seiner Behandlung des
Beispiels >Ebensee< den Schluß zieht, die Ansicht, daß die fraglichen
Gefühlstöne Gefühle sind, die durch das anschauliche Substrat der
Allgemeinvorstellungen und Wortvorstellungen hervorgerufen werden,
erweise sich als unzulänglich. Wenn ferner unser Autor hinsichtlich
der > Gefühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wort Vorstellungen <
ebenso wie hinsichtlich der auf Annahmen gegründeten Phantasie-
gefühle nachzuweisen sucht, daß eine Abstumpfung derselben sowie
eine Beeinflussung seitens anderer und gegenüber anderen Gefühlen
nicht stattfindet, so ist dagegen auf die obigen Darlegungen zu ver-
weisen. Nur dies sei noch besonders betont, daß es aller Erfahrung
widerspricht, wenn behauptet wird, die Gefühlstöne von Wörtern und
Begriffen könnten sich nicht abstumpfen. Die Unbrauchbarkeit > ab-
gedroschener Redensarten < für den höheren Stil könnte Saxinger
eines besseren belehren.
Nicht näher eingegangen werden kann hier auf die Beurteilung
der Suggestionsexperimente, deren unser Autor ganz kurz Erwähnung
tut, und welche beweisen sollen, daß den > Allgemein Vorstellungen
und Wortvorstellungen ein Gefühlston durch Suggestion so wenig
oktroyiert werden kann, als solche Vorstellungen, wenn sie mit einem
Gefühlston behaftet sind, von demselben durch suggestive Einwirkung
zu befreien sind«. Ein Urteil über die Beweiskraft dieser Versuche
wäre nur dann möglich, wenn die Versuchsbedingungen näher be-
schrieben wären.
Ganz kurz können wir uns auch hinsichtlich dessen fassen, was
Saxinger über »Phantasiebegehrungen« ausführt. Er behauptet, daß
allen > wirklichen« Begehrungen, auch dem Wünschen, Realisierungs-
tendenz zukomme und vermißt diese Realisierungstendenz an den
Phantasiebegehrungen, z. B. an dem, was wir erleben, wenn wir mit
den Personen eines Dramas und für sie wünschen und wollen. Ich
kann demgegenüber nur sagen, daß ich bei dem Wunsch, fliegen zu
können, weit weniger Spannungsempfindungen vorfinde als bei der
Untersuchungen zur Qegenstandstheorie und Psychologie, hrs. von Memong. 69
bloßen Lektüre eines Romans, dessen Held Interesse an seinem
Schicksal erweckt und bedeutsame Entscheidungen zu treffen hat.
Uebrigens ist auch mit dem Begriff >Realisierungstendenz« sehr leicht
in verschiedenstem Sinn zu operieren, solange keine gründliche Be-
deutungsanalyse an demselben vorgenommen ist.
Würzburg. Ernst Dürr.
Die RVmlselie Curie und du Oonetl von Trient unter Plus IT. Actenstücke
zur Geschichte des Concils von Trient Im Auftrage der Historischen Com-
mission der E. Akademie der Wissenschaften bearbeitet von Josef Susta.
Erster Band. Wien, A. Holder, 1904. XCH, 370 S. 12 M.
Das Österreichische historische Institut in Rom beschäftigt sich
bekanntlich schon seit etwa fünfzehn Jahren mit der Bearbeitung
und Herausgabe der Nuntiaturberichte aus Deutschland unter den
Päpsten Pius IV. und Pius V. (1560—1572). Von diesem Unter-
nehmen sind bisher zwei Bände erschienen, welche die Akten der
päpstlichen Nuntiatur am Kaiserhofe Ferdinands I. von 1560—1563
veröffentlichen. Hierzu tritt nunmehr eine zweite Publikation, die
einerseits eine Ergänzung der ersteren darstellt, andererseits aber
darum nicht minder von selbständiger hoher Bedeutung zu werden
verspricht. Sie gilt der Geschichte des Tridentiner Konzils in seiner
dritten Periode, also in den nämlichen Jahren, denen jene Nuntiatur-
akten angehören. Es handelt sich um die Korrespondenz der Curie
mit den von ihr zu Leitern des Konzils bestellten Kardinallegaten,
augenscheinlich eine Hauptquelle für die Geschichte des Konzils
und von ausschlaggebender Wichtigkeit besonders fur die Beant-
wortung der inhaltreichen Frage, ob und wie weit die römische
Curie dem Konzil seinen Gang vorgeschrieben habe. Den Plan der
Publikation, deren erster Band vorliegt, entwikelt des näheren das
ihm vorangestellte weitläufige Vorwort Th. von Sickels, der hier
auch die Zugänglichmachung des Vatikanischen Geheimarchivs durch
Papst Leo XIH. unter besonderer Rücksichtnahme auf die Abteilung
Concilium Tridentinum erörtert. Daß der verstorbene Papst auch
diese intimen Akten (nach den Erfahrungen des Referenten sogar
noch mit weniger Kautelen als es nach den Sickelschen Ausführungen
scheinen könnte) der Forschung zur Verfügung gestellt hat, zeigt
aufs neue das schon so häufig erhärtete vorurteilslose Verständnis,
das Papst Leo den Aufgaben urkundlicher Oeschichtsforschung ent-
gegengebracht hat.
70 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Eine beträchtliche Anzahl der schnell wechselnden Mitglieder
des österreichischen Instituts (ihre Namen s. S. EC Anmerkung) ist
an den Vorarbeiten für die gegenwärtige Publikation beteiligt ge-
wesen ; die Herausgabe aber hat Josef Susta, ebenfalls einst Mitglied
des Instituts, zur Zeit Privatdozent an der czechischen Universität
zu Prag, übernommen. Wie man aus seiner Einleitung zum vor-
liegenden Bande erfährt, hat Susta kürzlich in einer besonderen
darstellenden Abhandlung die Anfänge des Pontifikats Papst Pius' IV.
behandelt, leider in czechischer Sprache und somit für die Wissen-
schaft unzugänglich. Femer beabsichtigt Susta auch das neue
archivalische Material, das er zur Geschichte der Vorverhandlungen
über die Erneuerung des Konzils im Jahre 1560 gesammelt hat,
monographisch zu behandeln. So beginnt er hier erst mit der Ver-
wirklichung des Konzilsentschlusses durch den Papst, nämlich mit
der Ernennung der ersten Konzilslegaten und dem Auftrag an diese,
sich nach Trient zu verfugen (22. März 1561). Von hier an erstreckt
sich das im ersten Bande vorgelegte Material zeitlich bis zur Er-
ö£fhungssession am 18. Januar 1562; der am folgenden Tage darüber
erstattete Bericht der Legaten an die Curie macht den Schluß der in
diesem ersten Teil veröffentlichten, sechzig Nummern starken Legaten-
korrespondenz. Zu ihr aber treten als zweiter Teil des Bandes (der
an Raum den ersten noch um ein geringes übertrifft) 47 Beilagen;
sie enthalten im wesentlichen die gleichzeitigen das Konzilswerk be-
treffenden Berichte der ordentlichen und außerordentlichen Vertreter
der Curie bei den katholischen Mächten, d. h. der Hauptsache nach
in Frankreich und Spanien, da die Depeschen aus Deutschland ja
bereits in den erwähnten »Nuntiaturberichten< des österreichischen
Instituts vorliegen.
Ueber die handschriftliche Ueberlieferung des Materials belehrt die
instruktive Einleitung des Herausgebers. Es zeigt sich, daß von einer sehr
reichen Fülle von amtlichen, halbamtlichen und privaten Korrespon-
denzen zwischen der Curie und den Legaten (sowohl insgesamt wie
den einzelnen, namentlich dem » ersten < Legaten Ercole Gonzaga,
besonders), nur ein Teil, der nicht immer das Wichtigste umfaßt, in
originaler Form erhalten geblieben ist. Manches hat sich aus Re-
gistern, späteren Abschriften, Extrakten u. s. w. gewinnen lassen ;
immerhin muß ein beträchtlicher Teil dieser unschätzbaren Korre-
spondenzen als gänzlich verloren betrachtet werden. Vielleicht wird
sich das für die späteren Bände der Publikation noch empfindlicher
geltend machen als für den vorliegenden, dem ein Band des Vati-
kanischen Archivs (Abteilung De Concilio, tomus 60) die Hauptreihe
der originalen Legatenbriefe, sowie mehrere Bände der Ambrosiana
Die römuche Curie und das Konzil von Trient unter Pius IV. I. 71
ZU Mailand die Gegenschreiben des Papstes und des geschäfts«
fahrenden Nepoten Kardinal Carlo Borromeo, ebenfalls im Original,
darboten. Durchweg verloren ist andererseits die originale Korre-
spondenz der Curie mit ihren Nuntien in Spanien und Frankreich;
sie hat nur mühsam aus abgeleiteten Formen ihrem wesentlichen
Teile nach hergestellt werden können.
Die Einleitung des Herausgebers begnügt sich übrigens nicht
mit der Konstatierung der Sachlage im Ganzen wie im Einzelnen,
sondern sie geht auch den Schicksalen der verschiedenen Gruppen
des Materials, selbst der einzelnen Korrespondenzen, soweit möglich
nach, und schildert im Zusammenhang damit auch die Kanzlei- und
Archivverhältnisse der Curie, wobei vielleicht auf die im zweiten
Bande der >Nuntiaturberichte< des preußischen Instituts nachge-
wiesene, epochemachende Neuordnung der Kanzlei nach dem Sturze
Ricalcatis im Jahre 1537, hätte hingewiesen werden können. Endlich
erhalten wir nicht übel gelungene Porträtskizzen der Hauptpersonen,
des Papstes Pius IV, des Nepoten Borromeo (>San Carlo<), der Kar-
dinallegaten Ercole Gonzaga (»Mantua<) und Seripando, des Kardinals
von Ferrara Ippolito d'Este, der Nuntien oi. s. w.
Wenn man den Ertrag der in unserem Bande veröffentlichten
Materialien abschätzen will, so ist bei der Legatenkorrespondenz im
Auge zu behalten, daß wir uns noch in den Vorstadien des Konzils
befinden, dessen Zustandekommen erst durch diplomatische Verhand-
lungen mit den Höfen gesichert werden mußte. An diesen Ver-
handlungen aber waren die Konzilslegaten weder beteiligt noch übten
sie einen maßgebenden Einfluß auf deren Verlauf aus; ja, die Curie
hielt es meist nicht für der Mühe wert, ihre Legaten in Trient, was
diese oft sehr mißfällig vermerken, auch nur über den Stand der
Dinge auf dem Laufenden zu erhalten. Unter diesen Umständen
behandelt die Korrespondenz der Legaten vorwiegend Dinge von
verhältnismäßig geringer Tragweite, wie insbesondere die mannig-
fachen einzelnen Vorbereitungen, die für den Zusammentritt des
Konzils noch zu erörtern und zu erledigen waren, so die Berufung
fremder Gelehrten (aus Deutschland besonders Stapylus), die Er-
bietungen des Vergerio, die Gewinnung einzelner protestantischer
Größen (wie Johann Sturm und Zanchi) für den Konzilsbesuch,
andererseits die Veranstaltung eines literarischen Vorstoßes gegen
den Protestantismus, nämlich die Widerlegung der Schrift Bullingers
gegen die Konzilien durch die Herausgabe einer Schrift Reginald
Poles ; femer die Aussichten des Konzilsbesuches im einzelnen, die An-
kunft der ersten Besucher, die Unterstützung bedürftiger Konzilsväter
durch die Curie, Vorsorge fur die Verpflegung des Konzils und Be-
72 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
kämpfung der drohenden Wohnungsnot in Trient; dann bereits erste
kleine Differenzen am Konzil, Präzedenzstreitigkeiten, Bekämpfung
von Unabhängigkeits- und Sondergeliisten der Spanier ; endlich Fest-
setzung des Zeremoniells der Eröffnung und Bestimmung des Er-
öffnungstages, Erlaß einer Geschäftsordnung sowie von Vorschriften
über das Verhalten der Konzilsbesucher und dergl. m. Von Zeit*
fragen, die nicht unmittelbar das Konzil berühren, spielen hinein
der Plan der Universitätsgründung in Duisburg durch Herzog Wilhelm
von Cleve und die theologischen Wirren in Löwen, die sich an den
Augustinianismus c!er dortigen Professoren Johann Hesseis und Michel
Bajus, die Vorläufer des Jansenismus, anknüpften. Ein Aktenstück
anderer Art, das hier ebenfalls seinen Platz gefunden hat, ist die
Instruktion für den Kardinal Simonetta als Legaten in Trient vom
19./20. November 1561 (Nr. 42^); sie läßt deutlich die Schranken
erkennen, die det Papst dem Konzil von vornherein setzte, das seinen
Intentionen gemäß von kurzer Dauer sein, sich so gut wie aus-
schließlich mit den Dogmen beschäftigen und vor allem die Frage
der päpstlichen Superiorität, sowie möglichst die Reformsache über-
haupt, aus dem Spiel lassen sollte.
So wichtig dies Dokument ist, so ruht der Schwerpunkt der
Publikation im vorliegenden Bande doch auf den > Beilagen <, insbe-
sondere auf den Korrespondenzen der Vertreter der Curie an den
Höfen von Paris und Madrid mit ihrer Auftraggeberin über ihre
Bemühungen, jene beiden Mächte für die Konzilspolitik des Papstes
zu gewinnen. Es treten uns in diesen Dokumenten die einzelnen
Phasen, welche die Verhandlungen durchlaufen haben, und die mannig-
fachen großen Schwierigkeiten, die es zu besiegen galt, bis das Ziel
erreicht war, deutlicher als irgendwo sonst vor Augen. Hier hat
sich aber auch der Herausgeber ein besonderes Verdienst erworben
durch seine eingehenden erläuternden Anmerkungen, welche die ein-
zelnen Nachrichten mit einander in Verbindung setzen, den jeweiligen
Stand der Frage präzisieren und ergänzend anderweitiges urkund-
liche Material, so namentlich die Depeschen der diplomatischen Ver-
treter des Kaisers in Rom und Paris aus den Wiener Archiven,
heranziehen. Daß somit der Ton durchaus auf den >Beilagen< ruht,
begründet freilich ein gewisses Mißverhältnis und besonders auch
einige Unbequemlichkeit wie für den Herausgeber, so noch in höherem
Grade für den Benutzer. Denn begreiflicher Weise fallen die beiden
Hälften des Bandes stofflich nicht völlig auseinander; sie berühren
und ergänzen sich vielmehr in mannigfaltiger Weise und es muß
deshalb ein beständiges Verweisen aus einem Teil auf den andern
statthaben, dessen man gern überhoben wäre. Vielleicht hätte es
Die römische Curie and das Koiuil von Trient unter Pius IV. I. 78
sich wenigstens für den vorliegenden Band empfohlen, von der Zwei-
teilung des Materials überhaupt abzusehen; bei den künftigen Bänden
wird freilich wohl die Legatenkorrespondenz an Wichtigkeit gewinnen
und die >Beilagen< von selbst an die zweite Stelle zurücktreten.
Nicht einverstanden kann sich Referent mit der chronologischen
Anordnung erklären, der die Legatenkorrespondenz unterworfen
worden ist. Die Stücke schließen sich nämlich nicht, wie in Urkunden-
publikationen üblich ist, nach der Zeitfolge ihres Ausgehens aus den
verschiedenen Kanzleien an einander, sondern maßgebend ist ihr
Ausgehen in Trient oder ihr Eintreffen dort; das besagt, daß die
Gegenschreiben des Kardinalnepoten zu dem Zeitdatum eingeordnet
werden, an welchem sie den Konzilslegaten zugegangen, präsentiert
worden sind. So geht beispielsweise der Bericht der Legaten vom
21. April 1561 (No. 4) dem Schreiben Borromeos vom 16. des
gleichen Monats vorauf, weil letzteres am 21. noch nicht in die Hände
der Legaten gelangt war. Die Publikation soll, wie Susta sich aus-
drückt, >die Eigenart einer geordneten Registratur< erhalten, »wie
sie in der Präsidialkanzlei in Trient durch das Zusammenlegen der
Minuten des Auslaufs mit den Originalen des Einlaufe entstehen
konntet. Dem Referenten erscheint dies Verfahren als das eines
Archivars, nicht eines Herausgebers; im besonderen aber hält er es
deshalb für verfehlt, weil, wenn auf der einen Seite durch die ge-
schilderte Anordnung allenfalls das Verständnis für die Ereignisse in
Trient und die dort gepflogenen Erwägungen, die dort getroffenen
Entscheidungen erleichtert wird, augenscheinlich in noch höherem
Grade es dem Benutzer erschwert wird, den Vorgängen zu folgen,
die sich an der Curie zu Rom abgespielt haben. Da nun aber, wie
oben angedeutet wurde, und wie es übrigens auch das Vorwort selbst
betont, von der vorliegenden Publikation wesentlich und in erster
Linie gerade über die Einwirkungen der Curie auf den Gang des
Konzils Aufschluß zu erhoffen ist, so liegt auf der flachen Hand,
daß die Bevorzugung Trients zum Nachteil Roms, wie sie in der
geschilderten Anordnung zu Tage tritt, die denkbar verkehrteste
Maßnahme ist, die nach dieser Richtung hin getroffen werden konnte.
Dazu kommt noch eine allgemeine Erwägung, daß nämlich der Her-
ausgeber nicht immer mit Sicherheit den Zeitpunkt des Eintreffens
der kurialen Gegenschreiben wird feststellen können. Auch wenn
Susta im vorliegenden Fall versichert, daß ihm dies ausnahmslos
möglich gewesen sei, so bedeutet das Verfahren doch allgemein be-
trachtet die Einführung einer Fehlerquelle in die Edition und das
sollte man lieber vermeiden.
74 Göii. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
Dieser Einwand, der die äußere Einrichtung der Publikation
angeht, ist nicht angetan, die Anerkennung zu schmälern, welche die
Wissenschaft der Umsicht und Akribie des Herausgebers schuldet.
Der vorliegende Band stellt eine eben so beträchtliche wie gediegene
Arbeitsleistung dar; Susta nimmt es mit den Pflichten des Heraus-
gebers sehr ernst; er gibt sich an keinem Punkte eher zufrieden,
bis er den Gegenstand, so geringfügig dieser erscheinen mag, allseitig
und unter Heranziehung aller ihm erreichbaren Hilfsmittel erläutert
und aufgeklärt hat. So gestaltet sich sein Kommentar nicht selten
zu förmlichen Exkursen, selbst über Dinge, die man hier kaum er-
warten würde zu finden, wie über die kirchlichen Verhältnisse in
Savoyen und Piemont (S. 100), in der Schweiz (S. 242 ff.) und sogar
in Rußland (S. 285). Femer sehe man etwa die mühevolle Zusammen-
stellung über die Ausgaben der Kurie am Konzil (S. 53 ff.), wobei
noch darauf hingewiesen werden mag, daß ein Verzeichnis derer, die
regelmäßige Unterstützungen von der Kurie zur Erleichterung des
Konzilsbesuchs empfingen, für den Schlußband verheißen wird.
Auch das Register ist den angestellten Stichproben nach mit
großer Sorgfalt gearbeitet. Was das Sprachliche angeht, für das
nach der Erklärung des czechischen Herausgebers S. Steinherz die
Verantwortung trägt, so muß man sich nachgerade wohl an gewisse
Austriazismen gewöhnen, die von österreichischen Veröffentlichungen
nun einmal unzertrennlich zu sein scheinen ; gleichwohl möchte Referent
Ausdrücke wie: der Papst glaubte mit zwanzig Scudi auslangen zu
können; der > Erhalte (statt Empfang) der Briefe; ein Aktenstück
>er]iegt< (statt befindet sich) in einem Archiv — nicht ohne Wider-
spruch durchgehen lassen. Falsch ist auch S. 16 (und ähnlich
mehrfach): Er wollte keinen Entschluß fassen, bevor der Gesandte
nicht angekommen war, und dergleichen mehr. Verhältnismäßig
zahlreiche Druckfehler sind dem Referenten aufgestoßen ; so ist z. B.
S. 90 Z. 7 der Monatsname (September) ausgefallen, und S. 16 Z. 12
tritt dem überraschten Leser statt eines Kardinals ein »Generale von
Mantua entgegen. Doch das sind Kleinigkeiten, die den Wert der
Publikation natürlich nicht beeinträchtigen.
Stettin. Walter Friedensburg.
Denkwürdigkeiten des Frh. Otto ron Manteuffel, hn. von H. Ton Poschinger. 75
Unter Friedrich Wilhelm IV. Denkwürdigkeiten des Ministers
Otto Freiherm Ton Manteaffel , hrs. von Heinrich von Poschinger.
3 Bde. Berlin 1901. £. S. Mittler & Sohn.
Preußens auswärtige Politik 1850—1858. Unveröffentlichte Documente
aus dem Nachlaß des Ministerpräsidenten Otto Freiherm von Mantenffel, hrs.
von Heinrich vonPoschinger. 3 Bde. Berlin 1902. £. S. Mittler ft Sohn.
Da diese Anzeige verspätet erscheint, hat sie den Vorteil, daß
sie auf die bereits von verschiedenen Seiten hervorgehobenen Flüchtig-
keiten der beiden oben genannten Werke nicht einzugehen braucht,
und sich gleich zu ihrem Inhalte wenden kann. Den Hauptinhalt
beider Werke bilden die in Manteuffels Nachlaß enthaltenen Schrift-
stücke, also Aufzeichnungen der verschiedensten Art, namentlich die
umfangreiche Privatkorrespondenz mit den Vertretern Preußens im
Auslande, mit fremden und einheimischen Staatsmännern und vielen
anderen Personen, zahlreiche Schreiben des Königs, des Prinzen von
Preußen und seiner Gemahlin, hier und da auch einzelne amtliche
Akten. Für den bei weitem größten Teil der amtlichen Akten —
einige sind schon öfters in Zeitungen und Zeitschriften zu Tage ge-
treten — beruht unsere Kenntnis auch jetzt noch auf dem, was
Sybel, der sie einsehen durfte, daraus in seinem Werke über die
Begründung des deutschen Reiches mitteilt.
Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird festzustellen, wie
weit durch diese beiden Werke unser Wissen bereichert wird, durch
genauere Kenntnis der Tatsachen und besonders der Wirksamkeit
Manteuffels, so ist, wie von vornherein bemerkt sei, das Ergebnis für
die auswärtige Politik viel reicher als für die inneren Verhältnisse.
Auch über diese erfährt man zwar für die späteren Jahre etwas
mehr, für die beiden ersten Jahre nur sehr wenig.
Ueber Manteuffels Jugend und frühere amtliche Tätigkeit, über
seine Ernennung zum Minister des Innern im November 1848, über
die schnelle Herstellung der Ordnung, die Verlegung der National-
versammlung nach Brandenburg und ihre Auflösung scheint sich in
Manteuffels Nachlaß nichts wesentliches gefunden zu haben. Neu
sind ein Polizeibericht Hinckeldeys aus dem Dezember 1848 und die
sehr interessanten Schriftstücke über den Widerstand des Königs
gegen die Oktroyierung der Verfassung , an der er zum mindesten
sehr zahlreiche Aenderungen forderte. Die Minister haben auf diese
Wünsche wenig Rücksicht genommen und nur in einigen Punkten
nachgegeben. Ueber die Gründe, die sie hierzu bestimmten und
über Manteuffels Anteil an diesen Dingen wird nichts mitgeteilt.
Auch für die Zwistigkeiten mit der neu gewählten und bald wieder
76 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
aufgelösten zweiten Kammer wird man lediglich auf die Schriften
der Zeitgenossen und auf die stenographischen Berichte über die
Kammerverhandlungen verwiesen, aus denen einige Auszüge gegeben
werden. Ebenso in betreff der nun folgenden bedeutenden Oktro-
yierungen — Wahlgesetz, Preßgesetz, Vereinsgesetz, Disziplinargesetze
— und für die energische Beeinflussung der Neuwahlen. Nur über
die unruhigen Bewegungen, die im Frühjahr 1849 an verschiedenen
Stellen zum offenen Aufstande führten, enthalten die Berichte einzelner
Oberpräsidenten einige Angaben. Im weiteren Verlaufe des Jahres
1849 wird die Verfassung durchberaten. Mit ihrem Abschluß ist der
König nicht zufrieden ; über die jetzt noch von ihm geforderten Ab-
änderungen werden einige Schriftstücke gegeben. Einen Teil dieser
Forderungen hat Manteuffel bei erneuter Beratung in beiden Kammern
durchgesetzt, er und Brandenburg haben nicht ohne Mühe erreicht,
daß der König den Eid auf die neue Verfassung leistete.
Von seiner bei dieser Gelegenheit gehaltenen Rede behauptet
der Herausgeber, der König habe > einen eigenhändigen Entwurf
Manteuffels wörtlich zugrunde < gelegt. Das wird ihm niemand
glauben, weil die Rede in der charakteristischen Denkweise und Aus-
drucksweise des Königs gehalten ist und durchaus den Eindruck
eines persönlichen Aktes macht, wenn auch natürlich seine Berater
gehört worden sind und ihre Hülfe geliehen haben. Manteuffel hatte
gar keine Rede zulassen wollen *) ; wie groß seine Mitarbeit gewesen
ist, würde nur beurteilt werden können, wenn sein Entwurf bekannt
wäre. Der Herausgeber hat ihn in der Hand gehabt aber für sich
behalten und statt dieses interessanten Aktenstücks die längst be-
kannte, oft gedruckte Rede des Königs noch einmal abgedruckt.
Die vielen wichtigen Gesetze des Jahres 1850 werden kurz be-
rührt, bei dem Gesetze über die Ablösung der Reallasten erfährt
man, daß der König sehr schwere Bedenken hatte. Die Gemeinde-
ordnung^, die Manteuffel in hartem Kampfe und mit einer bei ihm
seltenen Lebhaftigkeit und Wärme der Rede den Konservativen ab-
gerungen hat, wird nur ganz nebenbei erwähnt. Eingehendere Mit-
teilungen werden über die Verordnung vom 5. Juni 1850 gemacht,
durch welche das Preßgesetz erheblich verschärft wurde. Den äußeren
Anlaß dazu hatte ein am 22. Mai gegen den König verübtes Attentat
gegeben. Manteuffel war anfänglich der Ansicht: >daß es nicht mög-
lich und zweckmäßig wäre, solche Maßregeln zu ergreifen, indem
dieselben leicht den Schein einer persönlichen Rache annehmen
1) Leopold von Gerlachs Denkwürdigkeiten, I, 428. Dies Werk wird im
folgenden kurzweg: »GerUch« sitiert.
Denkwflrdigkeiten des Frh. Otto yon Manteuffel , hrs. von H. von Poschinger. 77
könnten c. Auch hielt er eine neue Oktroyierung nicht für wünschens-
wert. General von Gerlach war der entgegengesetzten Meinung, er
schrieb dem Minister^): >Es ist wichtig, das Land und unser Staats-
recht daran zu gewöhnen, daß die Regierung Verordnungen gibt und
sie ausführt und daß die Kammern sie nachher sanktionieren. <
Unter den auf die inneren Verhältnisse bezüglichen Zuschriften,
welche Manteuffel in dieser Zeit erhielt, ist eine Beschwerde der
Prinzessin Yon Preußen bemerkenswert über >eine geheime Kontrolle,
welche die Mitglieder der königlichen Familie belauscht <. Manteuffel
erwidert ihr, daß eine solche geheime Polizei > offiziell gar nicht be-
steht, und daß, wenn man doch zuweilen in der für mich immer sehr
peinlichen Lage sich befindet, geheime Forschungen anstellen zu müssen»
diese sich inuner nur auf die im Dunkeln wühlende Umsturzpartei
beziehen. Von Sanssouci und von Babelsberg sind diese Forschungen
immer in schuldiger Entfernung geblieben. < Die Prinzessin will in
ihrer Antwort die Richtigkeit dieser Erklärung nicht bezweifeln, hat
aber doch > traurige Merkmale < solcher Forschungen wahrgenommen
und sagt: »daß keine amtliche aber doch eine organisierte Kontrolle
stattfindet, kann ich leider nicht bezweifeln <.
Für Manteuffels Stellung zur deutschen Frage ist von Bedeutung,
daß er das Rundschreiben Yom 3. April 1849 verfaßt hat^, welches
den Gedanken des engeren Bundes wieder aufnahm und die Unions-
politik einleitete. Eigentlich hätte dies der Minister des Auswärtigen
Graf Arnim') tun müssen, dieser aber stimmte mit den anderen
Ministem so wenig überein, daß sie den König baten, ihn zu ent-
lassen. Auch Manteuffel unterschrieb diese Bitte und zog sich dadurch
einen scharfen Tadel des Königs zu.
An den weiteren Verhandlungen, deren Leitung Radowitz über-
nahm, ohne gleich in das Ministerium einzutreten, war Manteuffel
1) Manteuffelfi DenkwOrdigkeiten , I, 221 f. Im folgenden »Denkwflrdig-
keiten« zitiert
2) Denkwürdigkeiten, I, 91.
3) Dem Herausgeber ist das Mißgeschick begegnet, diesen Grafen Heinrieb
Friedrieb von Arnim - Heinricbsdorf mit dem Freiherm Heinrieb yon Arnim zu
▼erwechseln, der im Jabre 1848 vom März bis zum Juni die auswärtigen An-
gelegenbeiten verwaltet and am 21. März den bekannten EOnigsritt mit der
ichwarz-rot-goldnen Fabne veranlaßt batte. Um solcbe Yerwecbslnngen lu ver-
meiden, bezeicbnete man damals am Hofe den letzteren als »labmen Arnim«, den
ersteren, einen bekannten Feinscbmecker, als »Eücbenamim«. In ähnlicher Weise
unterschied man die drei Manteuffel: den Ministerpräsidenten, seinen Bruder den
Mhdsterialdirektor, der später das landwirtschaftliche Ministerium leitete, und
ihren Vetter den Flügeladjutanten als: Oberteufel, Unterteufel (später Ackerteufel)
uid FlflgehtofeL
78 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
zunächst nicht beteiligt. Er hatte damals als Minister des Innern
vollauf zu tun, fand aber doch noch Zeit, sich sehr eingehend mit
den auswärtigen Angelegenheiten zu beschäftigen und unterhielt weit
ausgedehnte Verbindungen mit Männern der verschiedensten Lebens-
Stellung und Parteirichtung, z. B. mit dem früheren sächsischen
Minister von Zeschau, mit Hansemann, Georg Beseler, Ludwig Hahn,
mit dem berüchtigten Witt von Dörring und vielen anderen. Auch
die Prinzessin von Preußen hat im Juli 1850 in einem längeren
Schreiben ihre Ansichten und ihre Besorgnisse über die politische
Lage Preußens ausgesprochen. Am fleißigsten unter den Brief-
schreibern ist der Geheime Legationsrat Kupfer, ein früherer Beamter
des auswärtigen Ministeriums, der in ländlicher Zurückgezogenheit
lebte, dann wieder sich längere Zeit in Berlin, in Paris aufhielt,
überall mit scharfem Blick die politischen Ereignisse verfolgte und
immer bemüht war, sie in ihrem geschichtlichen Zusammenhange
zu erfassen. Er war ein Mann der strengsten konservativen Ge-
sinnung, etwas einseitig in seiner unbedingten Abneigung gegen die
Ideen der »Professoren und politischen Empiriker«, im übrigen von
gesundem Urteil und gründlicher Kenntnis der europäischen Verhält-
nisse. Die zahlreichen Denkschriften, mit denen er im Laufe der
Jahre alle Fragen der auswärtigen Politik begleitete, boten ManteufPel
ein vorzügliches Mittel sich zu unterrichten. In der Zeit vom Juli
1849 bis zum Oktober 1850 sandte er acht Denkschriften über die
deutsche Frage.
Einen anderen und zwar etwas seltsamen Charakter tragen die
Berichte des > politischen Agenten« Spiegelthal und des nassauischen
Hofrates Forsboom Brentano. Ueber Spiegelthal schreibt Manteuffel
im Juni 1849, er könne keine Garantie dafür übernehmen, ob der-
selbe ein Ehrenmann sei, aber er erhalte von ihm bisweilen gute
Nachrichten, ohne ihm jemals zu antworten. Im Oktober und
November 1849 war Spiegelthal in Wien und wurde diesmal von
Manteuffel »mit Instruktion versehen«. Er besuchte verschiedene
Minister. Schmerling sprach ihm, wie er berichtet, die Hoffnung
aus, daß Manteuffel Ministerpräsident würde, er sei gern bereit, mit
ihm in »brieflichen freundschaftlichen Verkehr zu treten«. Brück
freut sich zu hören, daß Manteuffel seiner mit Teihiahme gedächte,
er wies auf die Vorteile hin, welche der Eintritt Gesamtösterreichs
in den Zollverein für Preußen haben werde: >Oesterreich biete den
Ueberfluß seiner gesamten Erblande«, > Preußen werde stets billiges
Brot, mithin keine Revolution mehr haben <. Als Spiegelthal gegen
Schwarzenberg die Ansicht äußerte: >von der Ernennung Manteuffels
zum Ministerpräsidenten würde ein rasches Eingehen in die so
Denkwürdigkeiten des Frh. Otto von Manteuffel, hn. von H. von Poschinger. 79
kräftige und konsequente österreichische Politik zu erwarten« sein,
sah ihn Schwarzenberg fragend an und sagte alsdann rasch und
scharf: >Der Minister Yon Manteuffel geht aber noch recht flott mit.c
Brentano >arbeitete in Wien an der Herstellung eines Einver-
nehmens zwischen Oesterreich und Preußen.« Er schrieb hierüber
gleichzeitig an Manteuflfel und an General yon Gerlach, ließ aber
diesen, wie er ausdrücklich bemerkt, von seiner Verbindung mit
Manteuffel nichts wissen. Am 10. Juli 1850 berichtet er Manteuffel
über eine Unterredung mit Schwarzenberg. Er schreibt unter anderem:
>Der Fürst erkennt vollkommen Ihre Gesinnungen an und zählt auf
dieselben. Er würde Sie am liebsten allein an der Leitung des
Staatsschiffes sehen. . . Ich habe bei dem Fürsten ein großes Ver-
trauen in Ew. Exe. hervorzurufen vermocht und er zählt darauf,
bald Ihre spezielleren Ansichten durch mich mitgeteilt zu bekommen. <
Man wird Manteuffel nicht für jedes Wort solcher Unterhändler ver-
antwortlich machen können, aber auffallend ist es doch, daß er in
einer Zeit ernstlicher Spannung zwischen Preußen und Oesterreich
derartige Verbindungen mit den österreichischen Ministern anknüpfte
und sie geheim zu halten suchte. Gerlachs Briefe von demselben
Berichterstatter scheinen anderer, rein sachlicher Art gewesen zu
sein; er übersendet gelegentlich einen Brief Brentanos an Manteuffel;
daß dieser ihm auch seine Briefe mitgeteilt habe, wird nirgends er-
wähnt Noch weniger wird er sie Brandenburg und Radowitz gezeigt
haben.
Wenn Manteuffel der Begründung eines Bundesstaats im all-
gemeinen zustimmte, so gefiel ihm doch, wie wir aus Leopold v. Gerlachs
Denkwürdigkeiten^) wissen, die Art nicht, in der Radowitz diese
Politik betrieb, namentlich war er unzufrieden mit dem Bundes-
vertrage vom 26. Mai 1849 und hat sich darüber wiederholt gegen
Gerlach ausgesprochen. An dem Erfurter Reichstage nahm Manteuffel
als Vertreter eines Berliner Wahlkreises teil, er hat sich anfangs
sehr zurückgehalten und wurde vom Könige in einem energischen
Briefe an seine Pflicht erinnert. Ueber die wachsende Spannung mit
Oesterreich im Frühjahr 1850 belehren uns die Berichte Edwin
Manteuffels, der vom Könige nach Wien geschickt war. Die Gefähr-
lichkeit der Lage bestimmte den Minister Manteuffel jetzt stärker
mit seinen Ansichten hervorzutreten. Im Juli und im September
hat er mehrmals lebhaften Widerspruch gegen die Fortsetzung der
Unionspolitik erhoben; am 9. August legte er in einem ausführlichen
Schreiben an den König seine Ansichten dar und stellte seine Ent-
l) Q«rUch, I, 890. 416. 448. 449. 461.
80 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
lassung anheim. Während der fünf Wochen, in denen Radowitz an
der Spitze des auswärtigen Ministeriums stand, wollte Manteufifel
dreimal den Abschied erbitten, ließ sich aber durch Gerlach und
Brandenburg^) bewegen, damit noch zu warten. Als Brandenburg
am 31. Oktober aus Warschau zurückkehrte, kam es rasch zur Ent-
scheidung. Radowitz mußte zurücktreten, Manteuffel wurde sein
Nachfolger und bald auch Präsident des Ministeriums.
Ueber die Vorgänge im November bis zu Manteuffels Reise nach
Olmütz und zum Abschluß der Olmützer Punktation am 29. November
liegen einige Schriftstücke vor, welche zwar Sybels Darstellung nicht
verändern, aber den Zwiespalt im Ministerium und einige andere
Punkte etwas heller beleuchten: Briefe des Königs an Ladenberg,
Manteuffel und Stockhausen, des letzteren an Manteuffel, ein Polizei-
bericht über die Aufregung in Berlin, ein Bericht des Regierungs-
präsidenten von Westphalen über die Mobilmachung und die an 1813
erinnernde allgemeine Begeisterung, ferner ein Brief Niebuhrs, der
für seine und seiner Freunde Anschauung kennzeichnend ist. Es
heißt darin: »Ich würde den Krieg wünschen, wenn nicht Radowitz
und der Prinz von Preußen wären. Aber durch diese beiden Personen,
fürchte ich, werden wir der Revolution überliefert. <
Mit dem November 1850 beginnt die zweite > Preußens aus-
wärtige Politikc betitelte Veröffentlichung Poschingers. Sie bringt
zuerst einige Stücke, die sich auf die gespannte Lage zur Zeit der
Olmützer Verhandlungen beziehen. Gleich am 30. November, un-
mittelbar nach dem Eintreffen von Manteuffels Bericht über den Ab-
schluß des Vertrages zeichnete der König seine Erwägungen über
denselben auf) und entschloß sich, ihn zu genehmigen, obgleich
Manteuffel seine Instruktion weit überschritten hatte. Manteuffels
gefahrvolles Zugeständnis der sofortigen vollständigen Abrüstung
Preußens, während die Gegner erst nachher und nur teilweise ihre
Rüstungen einzuschränken brauchten, wird in der Aufzeichnung des
Königs nur kurz als > Beginn des gegenseitigen Desarmierens< ge-
streift. Das größte Gewicht legt der König auf den sofortigen Zu-
sammentritt der freien Konferenzen, >des Hauptpunktes unserer
Negotiationen seit mehr denn Jahresfrist . . . und zwar nicht in
Wien, sondern in Dresden«. In diesen Konferenzen hoffte er jetzt,
nachdem die populären Versuche gescheitert waren, seine Wünsche
für die Reform des deutschen Bundes durchzusetzen. Er hatte in
Warschan den Eintritt der österreichischen Gesamtmonarchie in den
1) Brandenburg an Manteuffel. Warschau, 27. Oktober 1850. Denkwürdig-
keiten, I, 287.
2) Aosw. Pol. I, 82/38.
Denkwürdigkeiten des Frh. Otto von M&ntenffel, hrs. von H. von Poschinger. 81
Band zugesagt unter der Bedingung völliger Parität zwischen
Preußen und Oesterreich, einer gemeinsamen Exekutive dieser beiden
Staaten und der Anerkennung des Unionsrechtes. Von dem letzteren
war in Dresden nicht weiter die Rede. Auch die Frage der Parität
suchte Oesterreich vorläufig hinzuziehen, um sie erst später zu er-
ledigen. Zunächst wollte es den Gesamteintritt durchsetzen und die
Form der Exekutive regeln, die letztere aber nicht allein mit PreuOen
übernehmen, sondern noch andere deutsche Staaten, namentlich die
Mittelstaaten, daran beteiligen. Dadurch entstand die Gefahr, daß
Preußen überstimmt und gezwungen werden könnte, seine ganze
Kraft in den Dienst Oesterreichs zu stellen. Sehr geschickt trat der
preußische Bevollmächtigte Graf Alvensleben diesen Bestrebungen
entgegen und wurde hierbei von Manteufifel kräftig unterstützt.
Schließlich erkannte es Preußen als das beste, mit seinen Bundes-
genossen ohne weiteres wieder in den Bundestag einzutreten.^)
Fürst Schwarzenberg war hierüber sehr unwillig, er bezeichnete jetzt
die früher von Oesterreich geforderte > Rückkehr zum alten Bundes-
tage c als tein schmähliches testimonium paupertatis für die deutschen
Regierungen< ^, doch blieb ihm nichts übrig als sich zu fügen.
Oesterreich mußte dankbar sein, daß Preußen ihm einen Ersatz
für die gescheiterte Hoffnung bot, mit seinem gesamten Besitz in
den Schutz des deutschen Bundes zu treten, indem Preußen diesen
Schutz auf drei Jahre übernahm durch ein Bündnis, das am 16. Mai
in Dresden unmittelbar nach dem Schluß der Konferenzen unter-
zeichnet wurde.
Ueber diese Verhandlungen erhalten wir wichtige Aufschlüsse
durch Manteufiels Briefwechsel mit Alvensleben und mit dem Prinzen
von Preußen. Der letztere war sehr besorgt über den Gesamteintritt
Oesterreichs. Manteuffel erwiderte ihm, daß er bei voller Gleich-
berechtigung und bei gemeinsamer Führung der Angelegenheiten
keine Gefahr darin erkenne, während andrerseits >das Auseinander-
iallen der österreichischen Gesamtmonarchie oder der Austritt des
ganzen Oesterreichs aus dem deutschen Bunde < Gefahren und Nach-
teile bringen würde. Der Prinz aber glaubte, daß der Gesamteiotritt
nur möglich gewesen wäre neben der von Preußen begründeten
Union und in Verbindung mit dieser. Er schrieb am 25. März:
»Der Warschauer Proposition lag immer der Gedanke zugrunde, daß
Oesterreich und ein moralisch einiges Deutschland unter Preußens
Führung (Union) sich neben einander in Union stellen würden. So
1) Enndschreiben vom 27. März 1851. Denkwürdigkeiten I, 868.
2) Schwarzenberg an Manteuffel. 17, M&rz 1851. Ausw. Pol. I, 131.
0««^ 1*1. Ans. 1906. Hr. 1. 6
82 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
wie jetzt Oesterreich seinen Gesamteintritt versteht, heiOt es etwas
ganz anderes: es will mit 37 Millionen an die Spitze Deutschlands
treten . . . und dann Preußen und alle deutschen Staaten nach seiner
Pfeife tanzen lassen und deren Militärkräfte bundesmäßig dahin auf-
bieten, wo seine Administration Aufstände , Revolutionen u. s. w. er-
zeugt, c Dem Einverständnisse des Königs liege die Idee des Im-
periums zugrunde, er denke durch diesen Antrag >zu seiner Lieblings-
idee du moyen äge< zu gelangen. Den Gedanken der Riickkehr
zum Bundestage begrüßte der Prinz mit Freuden. >Preußen<, schrieb
er am 20. April, >muß sich glücklich schätzen, von seiner Warschauer
Versprechung durch die Rückkehr zum Bundestag losgekommen zu
sein, denn ohne Union in Deutschland ist der Gesamteintritt Oester-
reichs in den Bund Preußens Tod, d. h. Mediatisierung<.^)
Auch für die bald darauf beginnenden Verhandlungen über den
Eintritt Oesterreichs in den Zollverein und die Erneuerung der 1854
ablaufenden Zollvereinsverträge erhalten wir wertvolle Mitteilungen.
Hervorzuheben sind die Berichte des Gesandten in Hannover über
die politischen Strömungen daselbst und über die Frage, ob das
glücklich erreichte Zollbündnis mit Hannover nach dem Tode des
Königs Ernst August aufrecht erhalten werde. Der Handelsminister
ist mit dem hannoverschen Vertrage nicht einverstanden, er fürchtet
davon Nachteile für die Entwickelung der preußischen Industrie, läßt
sich aber durch Manteuffel beschwichtigen.') Der König ist besorgt
über Manteuifels sehr bestimmtes Auftreten^) gegen die Zollvereins-
staaten und läßt ihn mehrmals durch Niebuhr zur Nachgiebigkeit
auffordern.^) Dagegen mahnt der^Prinz von Preußen zur Festigkeit.
So schreibt er am 23. September 1852:^) >Um alles in der Welt
seien Sie standhaft gegen den König.« Manteuffel blieb auch in der
Sache fest, in der Form zeigte er sich versöhnlicher und erlangte
jetzt einen vollständigen Erfolg. Oesterreich verzichtete einstweilen
auf den Eintritt in den Zollverein, während Preußen versprach, nach
sechs Jahren aufs neue darüber in Verhandlung zu treten; vorläufig
sollte ein Handelsvertrag abgeschlossen werden. Zu diesem Zwecke
kam der Minister Brück nach Berlin,^ man verständigte sich, und
1) Aasw. Pol. I, 186. 138. 149.
2) Denkwürdigkeiten II, 8 f.
3) Depeschen Manteaffels über den Abbrach der Yerhandhuigen vom
27. September und 8. Oktober 1852. Denkw. U, 208 f.
4) Denkw. II, 107 f.
6) Ausw. Pol. I, 437.
6) Berichte des Generalstenerdirektors von Pommer-Escbe über die Yerhand«
langen mit Brack. Denkw. ü, 290f.
Denkwürdigkeiten des Frh. Otto von Manteoffel, hn. von H. von Poschinger. 83
nun konnte der Zollverein auf weitere zwölf Jahre erneuert
werden.
Auf Oesterreichs Nachgiebigkeit haben mitbestimmend gewirkt
die durch Napoleons Staatsstreich erweckten Bersorgnisse. Manteuffel
hatte zunächst den Staatsstreich mit großer Ruhe angesehen, er be-
trachtete Napoleon als einen Bundesgenossen im Kampfe gegen Parla-
mentarismus und Revolution. So hat er sich wiederholt gegen Graf
Hatzfeldt, den preußischen Gesandten in Paris, ausgesprochen, be-
sonders warm am 21. Dezember 1851 in einem französisch geschriebenen
Briefe '), den der Gesandte vertraulich in Paris zeigen sollte. Seine
Ansicht änderte sich etwas, als offenkundig wurde, daß Napoleon die
Wiederherstellung des Kaisertums betrieb. Noch mißtrauischer als
Manteuffel waren der König und die Kamarilla. So ging man auf
die. von Oesterreich und Rußland gewünschte Verständigung ein; im
Mai 1852 wurde ein geheimes Protokoll unterzeichnet^), durch welches
die drei Mächte sich verpflichteten, in dieser Frage nur gemein-
schaftlich zu handeln. Als nachher das gefürchtete Ereignis eintrat,
war diese Vereinbarung eine recht lästige Fessel. Die Verhandlungen
zogen sich in die Länge und die preußische Regierung geriet in Ver-
legenheit. Man stand, wie Graf Hatzfeldt meinte: »nahe am mora-
lischen Bruche mit Frankreich«.^ Manteuffel suchte die Antipathie
des Königs zu überwinden, er hat durchgesetzt, daß die Anerkennung
in verbindlicher, würdiger Form erfolgte.^)
In betreff der orientalischen Frage lernen wir jetzt Manteuffels
Ansicht genauer kennen, vornehmlich aus seiner Privatkorrespondenz
mit dem Gesandten in Wien. Schon im Dezember 1853 hat sich
Manteuffel ganz deutlich dahin ausgesprochen, daß er die Neutralität
Preußens für undurchführbar halte, daß Preußen sich, wenn es wirk-
lich zum Kriege komme, den Westmächten anschließen müsse. Außer-
dem ist von großem Wert, daß wir etwas näheres über einen von
Oesterreich in den letzten Tagen des Februar 1854 vorgeschlagenen
Vertrag erfahren, durch den Preußen sich nicht nur gegen Oesterreich,
sondern auch gegen die Westmächte an die Vertretung der in den
Wiener Konferenzen beschlossenen Punkte binden sollte.^) Dieser
Vertrag wird von Sybel nicht erwähnt, man wußte von ihm nur durch
Andeutungen in Gerlachs Aufzeichnungen und an anderen Stellen.
Jetzt kann man diese besser verstehen, man erkennt auch, daß
1) Ausw. Pol. I, 296.
2) Ausw. Pol. IT, 6.
3) Ausw. Pol. II, 30.
4) Die Depeschen hierüber : Denkw. II, 276 f.
5) Denkw. II, 401.
6*
84 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 1.
die Verhandlung über diesen Vertrag zur Entscheidung in einer oft
besprochenen, bisher nicht ganz aufgeklärten Erisis der inneren
Politik wesentlich beigetragen hat. Seit dem Juli 1853 suchte der
König den gemäßigtsten Teil der Liberalen, die Partei des Preußischen
Wochenblattes, für die Unterstützung seiner inneren Politik zu ge-
winnen. Mit besonderem Eifer arbeitete er daran im Februar 1854.
Die Führer dieser Partei Bethmann- Hollweg, Usedom, Pourtales
wurden von ihm ausgezeichnet, dem letzteren versprach er die Stelle
des Unterstaatssekretärs im auswärtigen Ministerium — sehr gegen
den Wunsch Manteuffels, der sich nach einem möglichst farblosen,
gefügigen Unterstaatssekretär umsah. ^) Noch am 3. März sprach der
König davon, Manteuffel zu entlassen, am Morgen des 4. > während
dem Ka£fee< wurde Pourtales, der sitsh beim Könige melden ließ,
abgewiesen; der König ließ ihm sagen, er könne ihn nicht sprechen.
Dann schalt der König auf die Leute, die bei Usedom zusammen-
kämen und sagte zu Gerlach: >er habe Manteuffel sehr stark seine
Meinung gesagt und ihm befohlen, Pourtales fortzuschicken, weil er
eine andere Ansicht als die des Königs habe<. Am folgenden Tage
wurde Bethmann-Hollweg zwar empfangen, aber > furchtbar angefahren«.
Gerlachs Partei konnte triumphieren, die >Bethmänner< waren ge-
stürzt, der König war für die Rechte zurückgewonnen. Gerlach war
sich nicht klar darüber , welche Ursachen diesen Umschwung herbei-
geführt hatten, noch im August bemerkt er bei einem Rückblick auf
jene bewegten Tage, die Gründe seien ihm unbekannt.')
Offenbar dachte der General, als er diesen Satz niederschrieb,
nur an die inneren Verhältnisse, an den Kampf gegen die Revolution,
der sein Denken beherrschte, und vergaß darüber einen Augenblick
die durch jenen von Oesterreich vorgeschlagenen Vertrag hervor-
gerufene Aufregung. Wie aus seinen eigenen Aufzeichnungen her-
vorgeht, wollte die Bethmann-Hollwegsche Partei den König zur An-
nahme dieses Vertrages bestimmen ; Usedom arbeitete ein Promemoria
aus, »das von der Ansicht ausging, Preußen dürfe sich nicht isolieren
und müsse daher der Konvention beitreten c ; am 3. März hat Manteuffel
dies Promemoria sowohl Bismarck wie Gerlach vorgelesen, er hat
sich damit einverstanden erklärt und war bereit, den Vertrag zu
unterzeichnen. Der König wollte davon nichts wissen, er sagte dem
Minister »sehr stark seine Meinung c. Dies muß am 3. März ge-
schehen sein und war durch Manteuffels Hinneigung zu den West-
mächten, durch seine Zustimmung zu Usedoms Promemoria veranlaßt
1) Au8W. Pol. U, 239 und 273.
2) Gerlach II, 89. 107. 114-117. 139. 195. Vergl. auch Gerlachs Brief an
Bismarck vom 25. Febr. 1854.
Denkwürdigkeiten des FrL Otto von Manteoffel, hn. von H. von Poschinger. 85
In der inneren Politik hätte der König vielleicht der Bethmann-
Hollwegschen Partei, mit der er seit acht Monaten unterhandelte,
einige Zugeständnisse gemacht, aber in eine ganz andere Richtung
wollte er sich nicht drängen lassen. Manteuffel fügte sich dem
Willen des Königs, am 4. beklagte er zwar noch, daß Preußen durch
ein iNeinc aus dem Konzert der Mächte heraustrete, aber am
5. März meldete er nach Wien, daß Preußen den Vertrag ablehne.
Der König hatte jetzt die Leitung der auswärtigen Politik selbst
in die Hand genommen. Er schloß mit Oesterreich das Schutzbündnis
vom 20. April, durch das er Oesterreich vom Angriffskriege gegen
Rußland zurückhalten wollte, um so die Neutralität Deutschlands zu
sichern. An dieser Neutralität hat er festgehalten, freilich nicht
ohne viele Schwankungen. Denn Oesterreich hat immer neue Ver-
suche gemacht, von Preußen und vom deutschen Bunde oder doch
wenigstens von einem Teile der deutschen Staaten weitergehende
Versprechungen zu erhalten, die Westmächte haben diese Bemühungen
lebhaft unterstützt und dadurch mancherlei Sorgen und Aufregungen
am preußischen Hofe hervorgerufen.
In diesen späteren Stadien der Verhandlungen hat Manteuffel
mit seiner abweichenden Meinung möglichst zurückgehalten, nur ab
und zu, wenn die Besorgnisse des Königs vor Isolierung, vor Gewalt-
maßregeln der Westmächte besonders lebhaft waren, hat er zum
näheren Anschluß an diese geraten, so im Dezember 1854 und im
März 1855. Sonst hat er sich begnügt, die nicht immer klaren
und bisweilen einander widersprechenden Gedanken des Königs zu
vertreten und auszuführen. >Er schwankt selbst mit den Schwan-
kungen des ganzen Schiffes <, sagt Gerlach von ihm^), während er
sonst in dieser Zeit sehr mit ihm zufrieden ist. > Manteuffel ist auf
dem besten Wegec; > Warum ist Manteuffel, der bei dem Vertrage
vom 20. April so schwach war, jetzt so vernünftig und kräftig? <
>Manteuffel ist sehr gut<, heißt es in verschiedenen Notizen Gerlachs
aus dem Juli, aus dem August 1854 und aus dem März 1855. Fast
ohne Widerspruch sah der Minister zu, wie der König, manchmal
geradezu hinter seinem Rücken, durch eigenhändige Briefe und
Sondergesandtschaften mit den fremden Souveränen verhandelte. Sein
Aerger darüber tritt in den vertraulichen, oft ironisch gefärbten
Privatschreiben an die ständigen Gesandten bei eben diesen Höfen
deutlich hervor. Ihm und den Gesandten war dies häufige unmittel-
bare Eingreifen des Königs, waren > diese doppelten und parallelen
Verhandlungen < sehr unbequem. Sie sind deshalb äußerst zurück-
1) Gerlach, II, 363.
86 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 1.
haltend gegen die Nebengesandten gewesen und haben sich nicht
gerade bemtiht, sie zu fördern. Zwei dieser Sondergesandten, General
von Wedell und Geheimrat von Usedom, die ein halbes Jahr lang
der eine in Paris, der andere in London gewesen waren, ohne irgend
etwas ausrichten zu können, wollten Manteuffel für ihre Mißerfolge
verantwortlich machen und beschwerten sich im Juli 1855 beim
Könige, daß der Minister ihre Bemühungen durchkreuzt habe. Einen
vollen Beweis dafür vermochten sie nicht zu erbringen. Der König
begnügte sich schließlich, nachdem sich die Sache fast zwei Jahre
lang hingezogen hatte, mit Manteu£fels Antwort und suchte die
Beschwerdeführer durch die Verleihung hoher Orden zu beruhigen.^)
Fast unmittelbar auf die Beendigung des Krimkrieges folgte der
Streit über Neuenburg, in welchem der König anfangs sehr leiden-
schaftlich auftrat. Manteu£fel suchte mäßigend auf ihn zu wirken
und ihn zu bewegen, daß er sich mit dem Erreichbaren begnügte.
Zu diesem Zwecke hat er auch Bismarcks Hülfe erbeten'), während
ihm sonst dessen häufige Berufung nach Berlin meist recht pein-
lich war.
In den inneren Verhältnissen war durch den Gang nach Olmütz
und das Aufgeben des nationalen Gedankens eine Veränderung ein-
getreten, die reaktionäre Partei hatte den Sieg gewonnen. Von den
Ministem war Brandenburg gestorben, Radowitz gestürzt, Ladenberg
zurückgetreten. Der Ersatz entsprach den Wünschen der äußersten
Rechten. Vergebens suchte dann Manteu£fel den Uebereifer
Westphalens, den Pietismus Raumers in Schranken zu halten, da
der König aut ihrer Seite stand und ihren Bestrebunben seine volle
Sympathie zuwandte. In sehr vielen Punkten hat Manteuffel nach-
gegeben, er hat zuletzt die Dinge gehen lassen, da er ihren Lauf
nicht 'ändern konnte. Bisweilen ist er fest geblieben, er hat nicht
zugegeben, daß die Verfassung aufgehoben und durch einen könig-
lichen Freibrief ersetzt wurde. Es hieße die Geduld der Leser über
Gebühr in Anspruch nehmen, wenn diese bereits zu lang gewordene
Anzeige auch noch die vielen Streiflichter erläutern wollte, die auf
einzelne Punkte in Manteuffels Kampf gegen die Kamarilla und die
von ihr unterstützte Kreuzzeitung, die auf das in hoher Blüte
stehende Spioniersystem fallen, oder wenn sie auf die große Zahl
von Personen einginge, über die interessante Einzelheiten mitgeteilt
werden. Es sind bedeutende Männer darunter wie der Seehandlungs-
Präsident Bloch, Konstantin Frantz, Markus Niebuhr, aber auch
1) Ausw. Pol. m, 148. 215 f 308. 337 f.
2) Manteofifel an Bismarck, 19. Jan. 1857. Denkw. III, 149 f.
Denkwürdigkeiten des Frh. Otto Ton Mantenffel , hrs. von H. von Potchinger. 87
manche Leute recht zweifelhafter Art. Im Publikum war viel die
Rede von einem Agenten Levinstein, der mit verschiedenen Staats-
männern in Verbindung stand, z. B. an Manteuffel über Unterredungen
mit Kaiser Napoleon, mit österreichischen Ministern berichtete*),
der sich später an Bismarck heranzudrängen suchte. Man erzählte,
daO Manteu£fel durch seine Vermittlung an der Börse spekuliere
und so seine Kenntnis der politischen Verhältnisse ausnutze, man
sprach von sehr bedeutenden Summen, die der Minister hierdurch
gewonnen habe. Auf diese Gerüchte bezieht sich Manteuffel in dem
Schreiben an den Prinz-Regenten vom 5. November 1858,^, mit dem
er die ihm bei seiner Entlassung angebotenen Ehren abl^nt: Er-
hebung in den Grafenstand, erblicher Sitz im Herrenhause für ein
von ihm zu begründendes Majorat und Rang einer obersten Hof-
charge. Das Schreiben ist in gereiztem Tone gehalten, da der
Minister gehofft hatte, auch unter dem neuen Herrscher sein Amt
weiter zu verwalten, obgleich er oft hart mit ihm zusammengeraten
war und wußte, daß der Prinz andere Ziele verfolgte. In diesem
Schreiben heißt es: >Was auch für böswillige Gerächte über mich
verbreitet worden sind , mein Vermögen ist ein sehr mäßiges. Ich
habe während meiner Anstellung als Minister für etwa 160000 Thaler
Güter gekauft. . . . Darauf habe ich aus dem Vermögen meiner Frau
etwa 50000 Thaler und aus dem meinigen und Erspamngen 30000
Thaler bezahlt; den Rest verschulde ich. Das ist kein Besitztum,
welches dem Grafentitel und einem erblichen Sitze im Herrenhause
entspräche. € Die Gerüchte, denen Manteuffel mit solcher Offenheit
entgegentritt, wurden damals allgemein für wahr gehalten, Gerlach
und Bismarck sprechen von ihnen wie von einer bekannten Tatsache,
auch der Prinz -Regent hat Manteuffel offenbar für sehr viel reicher
gehalten, als er nach seinen eigenen Angaben war.
Berlin. Paul Goldschmidt.
1) Denkw. m, 234. 285.
2) Denkw. H, 336.
88 Gott gel Anz. 1906. Nr. 1.
Julias Goldstein, Die empiristische Geschichtsaaffassang David
Harnes, mit Berücksichtigung moderner methodischer und
erkenntnistheoretischer Probleme. Eine philosophische Studie.
Leipzig, Dürrsche Verlagsbuchhandlung, 1903. 57 S. 1,60 M.
Hume ist in seiner Geschichtsauffassung Aufklärer ohne die
Vorzüge der übrigen Aufklärer. Diese, besonders Voltaire, stehen
zwar der Vergangenheit ebenfalls kritisch gegenüber, aber sie haben
ein Kulturideal, während Hume an ein solches ebenso wenig glaubt,
wie an (jiie Dogmen der Konfessionen. Er kennt auch keine Ent-
wicklung des Menschen, sondern hält eine beschränkte Anzahl von
Motiven — hierin, wie Referent zu bemerken sich erlaubt, Schopen-
hauer sehr ähnlich — für die unabänderlichen Quellen seines Handelns.
So hat ihm die Geschichte nur den Wert, > einmal den gebildeten
Leser in seiner Phantasie, Tugend und seinem Wissen auf angenehme
Weise zu bereichern und dann psychologisches Material zu geben
zu einer Erkenntnis der Menschen c (S. 53).
Dies alles hat Goldstein mit guter Kenntnis der Literatur sorg-
fältig nachgewiesen. Nur die Schrift von Göbel, das Philosophische
in Humes Geschichte von England, Marburg 1897, hat Goldstein
nicht berücksichtigt, obgleich sie sein Thema sehr nahe berührt.
Goldstein hält den Empirismus überhaupt für unfähig die Ge-
schichte über >die öde Zusammenhangslosigkeit und Getrenntheit
aller Dinge« zu erheben. Dies zu entscheiden ist hier nicht der
Ort. Was aber Hume betrifft, so glaubt Referent, daß sein Empi-
rismus und seine Kausalitätslehre weniger schuld sind an seiner
Stellung zur Geschichte, als seine mangelhafte Psychologie und seine
geringe Einsicht in die in der Gesellschaft tätigen Kräfte, von denen
er nur Gewalt und Aberglauben sieht.
Leipzig. Paul Barth.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Rudolf Meißner in Göttingen.
Februar 1906. No. 2.
Korfes iBAskriltler Indtil SeformatloneB adgiTne for Det Nonke Historiske
Kfldeskriftfond. Forste Afdeling: Korges Lidtkriller med de »14re
Raner udgivne ... Ted Sophus Bngge. Bd. 1. Christiaiua 1891—1903.
VIII, 458 S. — Bd. 2, Heft 1, S. 461—596, ebenda 1904. - Indledning, Heft 1,
128 S., ebenda 1905. 4<>.
Der Plan dieses weit ausgreifenden Werkes, auf dem Umschlage
des ersten Heftes entworfen, verspricht drei Abteilungen, von denen
die erste, die norwegischen Inschriften mit den älteren Runen um-
fassend, von Sophus Bugge, die dritte mit den Inschriften Norwegens
in lateinischen Buchstaben von Ingvald Undset bearbeitet werden
sollte, während die zweite, die norwegischen Inschriften mit den
jüngeren Runen enthaltend, als gemeinsames Unternehmen Undsets,
Andres und Bugges gedacht war.
Ausführlichere sprachliche Erläuterungen waren nur für die erste
Abteilung in Aussicht genommen, die beiden anderen sollten in
wesentlich kürzerer Form behandelt werden.
Als vorbereitendes Heft, nicht eigentlich als Beginn der zweiten
Abteilung, ist bisher nur die Inschrift des Steines von H0nen,
Ringerike, herausgegeben von S. Bugge, Ghristiania 1902, veröffent-
licht worden.
Der Abschluß der ersten Abteilung war 1898 mit dem fünften
Hefte geplant, 1900 mit dem sechsten, doch wurde 1903 bei Aus-
gabe dieses der Plan dahin abgeändert, daß mit dem sechsten Hefte
der erste Band der Abteilung geschlossen würde, sowie daß die
Nachträge, Anhänge, die allgemeinen Bemerkungen, die Register und
Berichtigungen zu einem zweiten unter Mitwirkung Magnus Olsens
herausgegebenen Bande gestaltet würden, der die Seitenzählung des
ersten fortsetzend, nur äin Heft ausmachen sollte. Da sich aber
1904 herausstellte, daß die Nachträge und Berichtigungen allein ein
Heft füllen, wurde der Rest des zu bietenden auf ein zweites Heft
verspart.
1905 erschien dazu, mit neuer Paginierung anhebend, das erste
Heft einer Einleitung, die sich mit der Herkunft und ältesten 6e-
Oftti. f*l. Abi. 1906. Nr. S. 7
90 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
schichte der Runenschrift befaßt und die Probleme des Buches von
Ludv. F. A. Wimmer, Die Runenschrift, Berlin 1887, von neuem auf-
rollt. Die Mitarbeiterschaft M. Olsens, deren Umfang eine Anmerkung
S. 412 bestimmt, setzt bei Nununer 34 im sechsten Hefte ein. Als
fertiggestellt ist demnach gegenwärtig nur der erste Band zu be-
trachten, zu dem Titelblatt und Inhalt erschienen sind, und auf diesen
Band will sich der nachstehende Bericht vorläufig beschränken, wobei
aber allerdings die 1904 hierzu nachgetragenen neuen Auffassungen
Bugges nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Eine besondere Würdigung der noch nicht vollendeten Einleitung
und der überhaupt noch ausständigen allgemeinen Bemerkungen muß
einer späteren Zeit vorbehalten bleiben.
Man würde dem Verdienste dieses großen, mit andauernder
Forschertreue gepflegten Werkes nicht im gebührenden Maße gerecht
werden, wenn man es nur nach den Hauptergebnissen, das ist der
Feststellung des Textes und der Zeit, der grammatischen und inhalt-
lichen Erklärung der behandelten Denkmäler Norwegens, 42 Nummern
im ersten Bande, schätzte und nicht vielmehr auch die eingefügten
Erörterungen und Ausläufe in sein Urteil einschlösse, die reichen
Funde auf grammatischem und antiquarischem Gebiete, die dem Ver-
fasser im Flusse der Arbeit gelangen, die Deutungen zahlreicher
älterer und jüngerer nordischer, angelsächsischer und deutscher
Runendenkmäler, die als kostbarer Nebengewinn der vergleichenden
Tätigkeit dieses umsichtigen und immer mit dem Aufwände des ge-
samten Rüstzeuges der Forschung schaffenden Gelehrten sich ein-
stellten. Man würde aber auch geradezu unrecht tun, wenn man
darauf ausginge, die Verschiedenheiten der Auffassung in der Lesung
und Deutung der Inschriften herauszuheben, zu denen Bugge im
Laufe der Jahre gelangt ist, die er uns nicht vei^schweigt, sondern
stets nachbessernd mitteilt, unrecht, wenn man in kritischer Nach-
weisheit aus ihnen den Mangel fester Ergebnisse ableiten wollte.
Ein Werk, das, wie das vorliegende, sich über drei Lustra er-
streckt, das sich unter Aufopferung von Zeit und Bemühungen so
vielfach erst die Grundlagen seiner Darstellung selbst bereitet, hat
vollen Anspruch darauf als ein geschichtlich gewordenes betrachtet
zu werden, das volle Hingabe des Lesenden an den führenden Inter-
preten heischt und kritische Erwägungen 'zwar gewiß zuläßt, doch
niemals ohne die klare Einsicht der weitgehenden Abhängigkeit des
eigenen Urteils von dem des vorausschaffenden Meisters.
Die Verdienste des Werkes völlig auszuschöpfen, seine Ergeb-
nisse als nett gerundete Schauware herauszustellen, zu allen an-
geschlagenen Themen kritische Stellung zu nehmen und allesfalls
Norges Indskrifter med de sldre Roner. 91
abweichende Anschauungen zu begründen, ist dem Berichterstatter
nicht möglich, namentlich dann nicht, wenn, was ja erforderlich wäre,
zu den einzelnen Punkten auch die einschlägige Literatur heran-
gezogen und abgewogen würde.
Es ist innerhalb eines Referates, das sich in zulässigen Baum-
grenzen bewegt, nur möglich die Hauptergebnisse zu skizzieren, sie
kritisch zu beleuchten und über die behandelten Denkmäler als solche
das notwendigste zu sagen. Volle Freiheit der Benutzung, die immer
ein Studium sein wird, nicht eine glatte Entgegennahme von Resul-
taten, wird dem Werke erst erwachsen, wenn die Indices erschienen
sein werden, die das Aufschlagen der zu irgend einer Frage mit-
geteilten Bemerkungen Bugges in handlicherer Weise ermöglichen
werden, als dies gegenwärtig nach den auf den Umschlägen der
Hefte gedruckten Verweisen geschehen kann. Die Behandlung der
einzelnen Artikel zeichnet sich durch nichts übersehende Ausführ-
lichkeit und peinlichste Sorgfalt aus. An der Spitze derselben findet
sich regelmäßig ein Verzeichnis der gedruckten und handschriftlichen
Literatur nebst der Angabe, ob Bugge das Stück selbst gesehen und
untersucht habe, dann folgen Fundgeschichte und antiquarische Be-
schreibung der Fundumstände, Transliterierung der Inschrift, in der
Regel Zeichen für Zeichen gegeben, Deutung, endlich Textgestaltung
und Uebersetzung. Von außerordentlichem Werte sind die nicht
kärglich gespendeten Abbildungen, Wiederholungen älterer Dar-
stellungen sowohl, als neue : Gesamtansichten der Gegenstände, Papier-
abdrücke, Aufnahmen des Inschriftenfeldes in photograpischen Repro-
duktionen mit aller erreichbaren Deutlichkeit und Genauigkeit
wiedergegeben. Die Zeitbestimmung der einzelnen Inschriften ist
immer ein Ergebnis umfassender Erwägungen des sprachlichen und
palaeographischen Charakters, der Verwandtschaft mit anderen bereits
bestimmten Inschriften, der begleitenden archäologischen Merkmale.
Gegenständlich scheiden sich die Träger der Inschriften in Denksteine,
die entweder unter freiem Himmel errichtet waren, oder einen
Bestandteil der Ummauerung des Grabgewölbes ausmachten — dazu
kommen ein paar Wandinschriften in gewachsenem Fels — , in Gold-
brakteaten und in Schmuckstücke, Waffenteile, Geräte zum täglichen
Gebrauche, wie das Kammfragment von Nedre Hov oder der Senk-
stein von F0rde.
Ich bespreche im folgenden die einzelnen Inschriften nicht in
der Reihenfolge des Werkes, sondern in Gruppierungen, die ich
nach Gegenständen und innerhalb derselben wieder nach dem Alter
der Inschriften und nach ihrem textlichen Charakter zusammen-
stelle.
7*
92 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 2.
Die Sammlung wird mit der verhältnismäßig umfangreichen
und belangreichen Inschrift des Steines von Tune als Nr. 1 er-
öffiiet.
Dieser, in der Literatur seit 1627 bekannt, ist ein auf den zwei
Breitseiten beschriebener Obelisk aus rotem Granit von 1.92 m Höhe
über der Erde und 0.64 m (a) beziehungsweise 0.71m (b) Breite an
der Basis. Seine Spitze ist abgebrochen und die als b bezeichnete
Seite weist unterhalb der Inschrift eine große Abschälung auf, ohne
daß doch — das ergibt sich aus den restierenden Distanzen der
Zeilenanfänge bis zum Bruche — die erste und zweite Zeile dieser
Seite dadurch textliche Einbuße erlitten haben dürften.
Die Inschrift der Seite a, transliteriert und in Worte geteilt:
ek wiwan after wodari (r.) | de witadahalalban: worahto: r[anoB] (1.)
endet mit der abgeschnittenen oberen Ecke einer Rune, besonders
dargestellt S. 522 , die ja allerdings nach ihrer Konfiguration nicht
nur einem r, sondern auch einem w oder b angehören könnte, die aber
mit Rücksicht auf den zu erwartenden Sinn, sowie auf die Verbindung
wurte runoB Tjurkö, runoR waritu Järsberg (Varnum) schon von
Munch als Rest eines r bestimmt wurde. Die beiden Zeilen, deren
Grundlinien zur Längenachse des Steines parallel laufen , stehen zu-
einander im ßoootpofTjSöv-Verhältnisse und sind so geordnet, daß die
Inschrift am rechten Rande vom Beschauer ungefähr auf der Höhe
des oberen Viertels des unversehrt gedachten Steines beginnt, auf
der Höhe des unteren Viertels umwendet und in der zweiten Zeile
bis zur verlorenen Spitze des Steines läuft. Im Ausschnitte über-
setzt ergibt sie den Text >ich Wiwas nach Wodurid, dem . ..,
machte die Runen«.
Die Inschrift der Seite b besteht aus drei gleichfalls den Stein
entlang laufenden Zeilen, deren untere Enden auf der Höhe etwa des
zweiten Fünftels von unten liegen; sie lauten transliterjert und ein-
geteilt: arbQa siJosteB arb^ano (r.) | pr^oa dohtria daiidan (}.) \
[afte]B wodaride: stalna: /// (1.).
Von ihnen stehen 1 und 2 im ßooGtpo^tjSöv- Verhältnisse, 2 und 3
in dem der Umschrift, 1 und 3 in dem der Umwendung um die als
Axe gedachte Grundlinie und sind so geordnet, daß 1 im linken Felde
vom Beschauer unten beginnt, sich der Kante mehr und mehr nähernd
hinanläuft, 2 von oben nach unten zurückkehrt, doch so, daß die
Umwendestelle nicht auf gleicher Höhe mit dem Ende von 1 sich
befindet, sondern diesem gegenüber um drei Runen ausgerückt
erscheint, daß endlich 3 auf der Höhe des unteren Endes von 2
beginnend sich bis zum oberen Bruche des Steines erstreckt, wo sie
möglicherweise einen Verlust erfahren hat.
Norges Indskrifter med de seldre Runer. 98^
Der durch die Abschälung bedingte Verlust dieser dritten Zeile
am unteren Ende läßt die Fußabschnitte von fünf geradlinigen Hasten
unberührt, siehe die Abbildung S. 522, die sowohl auf Grund ihrer
Distanzen, als auch mit Bezug auf das alter wodaride der Seite a
mit großer Wahrscheinlichkeit zu '*'afteR ergänzt werden können.*)
Ob vor diesem Worte noch weiterer Verlust anzunehmen sei, läßt
sich aus dem Steine selbst nicht ausmachen. Was die textliche
Folge dieser drei Zeilen betrifft, deren Sinn im Groben skizziert:
>da8 Erbe die ... sten der Erben | drei Töchter teilten | nach
Wodurid den Stein . . .< ist, muß bemerkt werden, daß einer Folge
1, 2, 3 der Umstand ungttnstig ist, daß sowohl der in 1 hinter dem
0 noch verfügbare Raum nicht genutzt erscheint, daß femer die Um-
wendestelle einer ßoooTpo^iQSöv-Zeile auf gleicher Höhe mit der vor-
hergehenden erwartet wird, daß endlich die Kurve von 1 falls sie
durch das Vorherbestehen der Kurve von 2 bestimmt ist , sehr wohl
als angestrebter Zeilenanschluß erklärt werden kann, während man,
wenn 1 die erstgeschriebene Zeile wäre, erwarten müßte, daß sie
vielmehr eine geradlinige Parallele zur Kante eingehalten hätte.
Eine Folge mit 2 als dritter Textzeile, also 1, 3, 2 oder 3, 1, 2 ist
ebenso graphisch wie textlich unmöglich und eine Folge 2, 3, 1, die,
dann allerdings komplet und keiner Ergänzung bedürftig, stalna als
Objekt zu dalldan erforderte, nicht eben textlich undenkbar, wohl
aber graphisch wieder deshalb unwahrscheinlich, weil sie die Kurvatur
der Grundlinie von 2, die ja durch 1 nicht bestimmt sein könnte,
unerklärt ließe. Wäre überhaupt 2 die erstgeschriebene Zeile, so
müßte man verlangen, daß sie eine zur Längsachse des Steines
parallele Gerade eingehalten, mindestens angestrebt hätte. Aus dem-
selben Grunde ist auch eine Folge 2,1,3, der unter Umständen
textlich nichts entgegenstünde, abzulehnen und es erübrigt nur die
Folge 3, 2, 1, die die Kurven von 2 und 1 erklärt, eine Umwende-
stelle von 3 zu 2 auf gleicher Höhe zuläßt, wenn das hinter stalna
folgende Wort geteilt war, und die bei dem o der Zeile 1 ein natür-
liches Ende des Textes vor dem Ende des noch verfügbaren Raumes
findet.
Für diese Zeilenfolge, deren einzige Härte darin besteht, daß
der Text mit einer linksgewendeten Zeile beginnt, entscheidet sich
1) Noreen , An. gramnL I', S. 345 , vermutet einen Personennamen im Nom.
und nimmt den folgenden Dativ als absoluten, von keiner Präposition regierten.
Es ergibt sich aus der Abbildung bei Bugge, S. 519, daß dieser hypothetische
Name auf -iJt ausgelautet haben müßte, da wegen der geringen Distanz zum
letzten Buchstaben Y zwar eine Endung -in, nicht aber eine Endung -aR paläo-
graphisch zulässig ist
94 Gott. gel. Anz. 190<>. Nr. 2.
auch Bugge S. 36 und ebenso S. 520—521, nur daß er hier Zeile b3
als unmittelbare textliche Fortsetzung von a 2 betrachtet, den Verlust
eines Verbums des >Errichtens< auf die Seite a verlegt und den
Abschnitt {»r^OB bis arbQano als selbständigen Satz auffaßt.
Nun kann man ja allerdings nicht beweisen, daß die abgebrochene
Spitze des Steines nicht so hoch gewesen sei, um außer den vier
mangelnden Buchstaben von r[unoÄ\ auch noch für die Ergänzung
Bugges *Jah sato >und setzte< auf WitvaR bezogen Raum zu ge-
währen, aber ich muß gestehen, daß mir die ganze auf diese Art
gewonnene Textierung *ek Wiwan after Woduride . . . worahto runoB
jah sato aftes Woduride staina nicht den Eindruck des Stilrichtigen
macht, daß mir die Wiederholung des >post Voduridum< im zweiten
Satze ebenso anstößig erscheint, als das Verlassen der Konstruktion :
persönliche Bestimmung, Verbum, Objekt im ersten, aber Verbum,
persönliche Bestimmung, Objekt im zweiten, koordinierten Satze.
Außerdem bindet die Konjunktion iah, Järsberg (Vamum), und an-
genommen emch jah y Kragehul, Subjekte und Objekte, nicht Sätze.
Wenn man also schon mit Bugge annähme, daß der Name zweimal
gesetzt sei, weil er auch auf der Kehrseite erscheinen sollte, und
seinem zweiten Vorschlage der asyndetischen Anreihnng des zweiten
Satzes an den ersten sich anschlösse, so würde man doch vielmehr
*afteR Woduride staina sato auszufüllen geneigt sein und diesen Satz,
der ja gleichfalls die syntaktische Stellung des vorhergehenden nicht
wiederholte, als prosaischen Anhang der Verse der Seite a betrachten.
Der Voraussetzung aber, die Bugges Erklärung letzterhand notwendig
erheischt, daß die Inschriften der beiden Seiten nicht von verschiedenen
Männern und zu verschiedenen Zeiten, sondern von £inem und gleich-
zeitig angefertigt seien, wird man nicht ungerne beitreten, da sie
einem schwierige und unfruchtbare paläographische Erwägungen über
den angeblich verschiedenen Schriftcharakter der beiden Inschrift-
seiten wohltätig erspart. Doch muß man sich dann freilich ent-
schließen dem, was Bugge S. 24 hierüber gesagt hat, den Wert zu-
treffender Beobachtung nicht mehr beizumessen.
Im Texte der Seite a bedarf zunächst die Apposition wüadaha"
laiban, Bugge S. 15 ff., zum Namen des Bestatteten einiger Worte.
Bugge hat sich schon vor seiner gegenwärtigen Veröffentlichung
für ein Kompositum ^witada-hlaiha entschieden, dessen erster Teil,
germ. *tviteäa-, von ihm als eine, nur hinsichtlich des Suffixvokales
verschiedene Doublette zu got. witöp n., in Komposition toüoda- be-
ansprucht, dessen zweiter Teil mit got. gahlaiba >oo(i.|ta^T)D{c, aootpa-
Titt>n]c<, ahd. galeipo >sodalis< gleichgesetzt wird, nur daß im urnord.
Sekundärkompositum das Präfix ga- ebenso unterdrückt sei, wie in
Norges Indskrifter med de asldre Runer. 95
ahd. orrüno oder noistallo. Die ursprüngliche Auffassung Bugges
war die der reinen Gleichung des urnord. mtaäa- mit got. witoda^
und darauf kommt er auch S. 199 wieder zurück mit der Erklärung,
daß der zweite Vokal des Wortes im Kompositum schwächer betont
gewesen sein könne, als die übrigen erhaltenen nebentonigen o in
sijosteR, worahto, prijoa, arbijano. S. 511 ist aber Bugge die Hand-
habe dieser Begründung wieder entglitten, da ihm die S. 199 vor*
getragene Erklärung des Komplexes tiade, Bracteat von Aagedal, als
aisl. tjddi, das wäre ahd. *gizehöta, nicht mehr aufrecht steht. Ich
muß zunächst betonen, daß germ. Abstrakta auf -^ durch das S. 17
verglichene got. faheps nicht bewiesen werden können, da die Neben-
form faJieids, mit I im Suffixe, wohl auf ein Kontraktionsprodukt aus
ja hinweist, dieses Abstraktum also zu einem Verbum *fdhjan gehören
wird, wie fulleip Akk. Marc. 4, 28 zu fulljan. Ferner möchte ich be-
achtet wissen , daß ahd. Entsprechungen des bezeugten got. Wortes
then uuieeut »eam legem < und theru sdveru uuijgjsidi >eadem lege<,
beide in Trierer Capitulare, einen Kurzvokal zeigen, dessen Abkunft
aus älterem S doch durch uuizssod Is., dcu^ uuiha uuiessod Lorscher
Beichte, uuieodhroth Monseer Matthaeus gesichert wird.
Man wird demnach anzunehmen haben, daß die Quantität des
Suffixvokales, die in der got. Orthographie allerdings als einheit-
liche Länge ö erscheint, in der gesprochenen Sprache unter gewissen
Bedingungeü der Tonschwächung, wie gerade in der dreisilbigen
Themaform zu Kürze ö, also witöda- reduziert werden konnte.
Darauf beruht dann, zugleich mit Abfärbung des Vokales urnord.
*witäda- wie an. mdnapr zu got. menopSj wogegen die erhaltenen o
in den übrigen Fällen der Inschrift, also auch in sijbsthn, sicher
Nebenton besitzen und Länge bewahren.
Auch sachlich scheint mir der urnord. *witadaMaiba aus den
Stellen des Trierer Capitulares Licht zu empfangen und als >is qui
eadem lege uiuit« definiert werden zu sollen. Das Wort enthält
gleich den thie theru selveru uutjgzidi leven theru er selvo levü dieser
Quelle einen politisch-rechtlichen Begriff, während Bugge von got.
drauhtiwitop >otpat8[a< und der zweiten Bedeutung von gahlaiba
beeinflußt S. 17 und 21 die Bedeutung als »Kriegskamerad« formu-
liert, was voraussetzte, daß entweder das einfache urnord. witada-
den Begriff des got. (/a-Kompositums übernommen hätte, oder daß
das vollere urnord. Kompositum sich in seiner begrifflichen Ent-
wicklung gleich dem einfacheren got. gahlaiba verhielte. >Kamerad<
schlechthin verteidigt Bugge noch S. 512, wogegen nur einzuwenden
ist, daß dieses Wort, wenigstens im Nhd., zu familiär und abgegriffen
klingt, als daß es den >qui eadem lege uiuit< bezeichnen könnte.
96 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Eine Uebersetzung wie »Standesgenossec, lat. >coIlega< möchte wohl
vorzuziehen sein.
Bugges Gleichung des -Maiba im urnord. Kompositum mit dem
volleren bahuvrihischen got. gahlaiba kann nicht angetastet werden,
denn nicht nur finden sich im ahd. innerhalb der Sekundärkomposition
wie orkiruno > auricular ins < zu girüno Graff 2, 525 und notgistallo
ebenda 6 , 674 die entsprechenden vereinfachten Bildungen ohne gi-,
sondern die Unterdrückung des Präfixes kann sogar am einfachen
Kompositum wie ahd. stallo >der Genosse« ebenda 6, 679 oder mhd.
sdle Rother für gesdle eintreten.
Daß Bugge S. 511 v. Friesens Erklärungsversuch *witand(Maiba
nicht zu teilen vermag, ist vollkommen begreiflich. Die graphische
Möglichkeit nd zu lesen hat er ja allerdings selbst schon 1894,
S. 199 Note 2, angedeutet, aber das spätere nordische Vergleichs-
material partizipialer Zusammensetzungen stimmt als ganze Kategorie
nicht zu dem urnord. Kompositum.
Den Vokal des Personennamens Wiwan , zu dem Veblungsnses in
Wiwüa eine Deminutivform bietet, erklärt Bugge S. 12 als lang, da
kurz T durch das folgende a zu e umgelautet worden wäre. Daß
dieser Name auch im zweiten Teile des got. Älauiuus vertreten sei,
ist glaublich, ebenso aber auch in den northumbr. Namen auf -uio
(auch -wiu), Bugge S. 322 nach PBB 18, 412—13, und dazu füge
ich noch ags. *Merewio im Beowulf. Gehört dieses vermutliche
Nomen agentis zu got. weihan >{jLdx6o^at< , Verbalstamm *u^9i so
entsprechen die germ. Komposita hinsichtlich der Bedeutung wohl
den griechischen auf -txaxoc. Formell aber müßte man das Element
^tottoa- als sekundäre Maskulinbildung zu einem Femininum *ueiqäy
nicht als Fortsetzung eines vorgerm. Maskulinum ^ueiqö- betrachten,
da vorgerm. q im germ, vor dunklem Vokal die Labialisierung ver-
liert, dagegen vor hellem Vokal und a beibehält. Dieses Femininum
könnte wohl als erster Teil in den deutschen Personennamen Wtomad,
Viorad^Wiufrid Fm. Nbch. II* 1621, 26 gelegen sein und der isolierte
urnord. Wtwas wäre dann wohl eher für eine aus einem Kompositum
abgezogene Kurzform, als für ein ursprüngliches Appellativum an-
zusprechen.
Den zweiten Teil des Namens * Wöäur^aR erklärt Bugge S. 14—15
als Nomen agentis zum Verbum > reiten«, auch in späteren nordischen
Namen wie Ätridr bezeugt. Den ersten Teil faßt er als Adjektiv.
Ich wäre eher geneigt wöäu- als germ. ^u-Abstraktum zu betrachen.
Die Auffassung von after als Präposition >post<, die der Ueber-
setznng S. 21 zugrunde liegt, hält Bugge S. 23, wo er den Text der
Seite a in zwei Langverse gliedert, aus metrischen Gründen für ver-
Norges Indskiifter med de eldre Rnner. 97
werf lieh, so daß er daselbst lieber an das Adverbinm >postea< denkt.
Es ist zu beachten, daß sich das Adverbium »nachher« mit Bugges
zuletzt gegebener Erklärung der ganzen Inschrift nicht verträgt,
weil es den Parallelismus der beiden after Woduride aufhebt und
außerdem textlich auf ein vorhergehendes Bezug nimmt, während
doch nach Bugges letzter Beurteilung der Satz eJcWiwas . . . toorahto . . .
der erste der ganzen Inschrift wäre. Sehr wohl aber verträgt sich das
Adverbinm an dieser Stelle mit meiner im folgenden darzulegenden
Anordnung des Textes. Interessant ist die Beobachtung Bugges S. 19,
daß das Verbum > wirken«, zu dem toorahto die umord. 1. sing, praet.
ist, in der isl. Literatursprache nur von Metallarbeit und von poeti-
scher Leistung (vgl. nhd. Verse schmiden!) gilt. Ich finde darin
eine Stätze für meine Ansicht, daß das umord. plurale tantum rünöR
gleich dem lat. plurale tantum Utterac als »inschriftlicher Texte oder
lat. >titulus<, die Bindung *ranöR wuricjan also gleich »titulum
facere« zu verstehen sei.
Die Wörter der Seite b bestimmt Bugge S. 24 ff. auf Grund aus-
führlicher Erwägungen in folgender Weise : arUjano ist Gen. pl. des
swm. got. arhja^ ahd. erpeo, afries. erva, an. ar/f; sijosteR ist Nom.
pl. eines Superlativs, dessen Endung dem got. -östai^ an. -astir ent-
spricht; arbija ist entweder thematische Form in einem Kompos.
arbijasijosteB* oder Akk. sing, des Neutrums got. arbi, ahd. erbij afries.
erve, an. erfi, das letztere nur in Compositis mit seiner ursprünglichen
Bedeutung erhalten. prijoR ist Nom. fem. des Zahlwortes »drei<,
an. ßriar, ahd. drio, ags. preo, dohtrxR ist echter konsonantischer Nom.
pl. des umord. Wortes für > Tochter« entsprechend der späteren
nord. Pluralform detr, dalidun ist die 3. pl. praet., an. deiläu, die
got ^dailidedun lauten würde. [aftejR Woduride ist Präposition mit
dem von ihr abhängigen Personennamen und staina endlich der Akk.
sing, des urnord. Wortes für »Stein«.
Grammatisch bezieht Bugge S. 29 , wo er die Inschrift noch als
lückenlos erhalten ansieht, staina als Objekt zu dalidun, was zur
Folge hat, daß arhija-sijosteR als Kompositum verstanden werden
müßte, sowie daß die Inschrift in der Zeilenfolge 1, 2, 3 gelesen
würde; S. 33 aber, da ihm diese Beziehung des Objektes unbe-
friedigenden Sinn gibt, das vermeintliche Kompositum überhaupt
verdächtig geworden ist und die Inschrift nicht mehr als vollständig
erhalten gilt, verbindet Bugge arbija als Objekt zu dalidun.
Die Monophthongierung dalidun für *dailidun bespricht Bugge
S. 28. In sijosteR erblickt Bugge S. 34 ein Versehen des Steinmetzen
für richtigeres *sHjosteR zu einem dem ahd. sippe, mnd. sibbe, afries.
und ags. sib entsprechenden Adyektiv mit der Bedeutung > verwandt«.
98 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 1
S. 515 weist Bugge den Vorschlag Läfflers zurück, für den nrnord.
Superlativ ein aus dem Pronominalstamme se- erwachsenes Adjektiv
*8e)0' zugrunde zu legen, das in schwacher Form durch das afries.
Wort sia > Nachkomme, Genosse« repräsentiert würde.
Es ist mir auf Grund von Bugges Darlegungen nicht im geringsten
zweifelhaft, daß afries. sia, Gen. pl. siana nichts anderes als swm.
Nebenform zu süh, sid, PI. sithar »Genosse« mit zwischen vokalischem
^-Schwund sei und den Ansatz eines Adj. ^sejo- nicht stützen könne.
Aber der Ansatz als solcher ist durch den Fortfall des vermeintlichen
Beleges nicht eigentlich unmöglich gemacht und Bugges Entwicklung
der Form mit der bedenklichen Ergänzung eines b dadurch keines-
falls zu irgend einem höheren Grad der Wahrscheinlichkeit erhoben.
Ueberblicken wir nun den Inhalt der drei Textzeilen nach seinem
möglichen Zusammenhange, so ergäbe sich bei Festhaltung der aus
paläographischen Gründen verworfenen Folge 1, 2, 3 die Alternative:
>haereditatem ...imi haeredum, tres filiae partitae sunt post Vodu-
ridum lapidem«, oder >in haereditate ... imi haeredum, tres filiae par-
titae sunt post Yoduridum lapidem < , d. h. der zweite Abschnitt der
Inschrift spräche in keinem Falle von einer Erbteilung durch die
drei Töchter, sondern vom Erhalten eines Anteiles am Denksteine,
vermutlich also auch an der Grabstätte; es wäre demnach auf eine
in späterer Zeit geschehene Nachbestattung der drei Töchter zu
raten. Aber implicite würden allerdings nach der zweiten Formel,
in der >...imi haeredum« Apposition zu »tres filiaec ist, die drei
Töchter auch als Erben bezeichnet, während nach der ersten Formel
dalidun als gemeinsames Prädikat stünde und die Erben von den
Töchtern verschiedene Personen wären. Bei der Wahl der paläo-
graphisch empfohlenen Folge 3, 2, 1, die eine auf die Errichtung
des Steines bezügliche Ergänzung: *sato Bugge, *satiäa Noreen,
*satiäun Laif 1er notwendig macht, ergibt sich entweder im Sinne
Bugges, doch in anderer Stellung, »post Yoduridum lapidem posui<
auf WiimR zurückgehend mit folgendem selbständigen Satze >tres
filiae partitae sunt haereditatem, ... imi haeredum«, wobei die Appo-
sition am Ende wie ein Relativsatz >quae fuerunt ...imi haeredes«
wirkte, oder im Sinne Noreens >. . .s post Yoduridum lapidem posuit«
wieder mit folgender selbständiger Nachricht von der Erbteilung,
oder endlich nach den Möglichkeiten der Ergänzung Läfflers wiederum
die Alternative >post Yoduridum lapidem posuerunt tres filiae; par-
titae sunt haereditatem ...imi haeredum« mit identischem, oder
stärker interpungiert mit zwei verschiedenen Subjekten.
Von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung nicht nur
dieser Möglichkeiten, sondern des gesamten Textes, sind die treff-
'Sarges Indskrifter med de seldre Raner. 99
liehen Bemerkungen Söderbergs, Bugge S. 516, über das Verhältnis
der beiderseitigen Inschriften , dem wesentlichen Inhalte nach : die
Runenformen sind die gleichen, nur dafi sie auf Seite b, wo mehr
Text unterzubringen war, kleiner und weniger sorgfältig sind ; es ist
alle Wahrscheinlichkeit gegeben , dafi beide Inschriften ^inen Text
ausmachen. Für die Anordnung desselben gibt es aber eine feste
Formel, die in den jüngeren nordischen Inschriften wiederkehrt > A ließ
den Stein nach B errichten; C schrieb die Runen<. Es ist also die
Seite b diejenige, von der aus der Text zu beginnen ist.
Diese Argumentierung ist so zwingend, daß ich mich für einen
einheitlichen Text mit der Folge b 3, 2, 1. a 1, 2 entscheide: [nftejn
Woduriäe staina [sälunj^) prijoR dohtrin; daliäun arbija sijosten
arhijano — ek Wiwan after Woduriäe mtaäahalaiban wcrahto rfunou/y
wobei der Vorteil in die Augen springt, dafi auch am Text der Seite b
die Merkmale metrischer Abfassung hervortreten und daß man das
after der Seite a in der Tat ganz sinngemäß als Adverbium >postea<
verstehen kann. Die genaue Bedeutung des superlativischen Adjek-
tivs, mutmaßlich *sijaR im Positiv, wird uns vielleicht einmal die
Zukunft enthüllen. Daß es im gegebenen Falle den Orad der Erb-
folge definiere, scheint ja wohl durchzuschimmern und man könnte
nach Bugge und den andern, die darüber gehandelt haben, wohl
denken, daß der Superlativ >proximi< ausdrücke. Aus der ig. Sippe,
ai. syatif sipäti, lett. sinu, seju, sit >binden< , griech. f|tAC) &s. simOj
ags. sima >a corde, rope<, ags. sinn, ahd. senua >corda, habena«,
aus der man eine Wurzel $i >binden< abzieht, könnte man auf den
Begriff »coniunctus« gelangen, der wiederum leicht in >nahe< über-
gehen kann. Aber das Adjektiv muß durchaus nicht >proximus<
ausdrücken und uns nicht die Selbstverständlichkeit vermitteln, daß
die nächsten Erben das Erbe teilen, sondern eher die Tatsache, daß
in dem gegebenen Falle die Töchter die nächsten Erben sind; es
kann also hinter dem Ausdrucke auch die Definition der gesetz-
mäßigen Stellung der Tochter im Erbrechte stecken. Wenn wir uns
mit Bugge S. 36 die Erbfolge des Gulatings- und Frostatingsgesetzes :
Sohn, Vater, Tochter, Sohnessohn, oder des isländischen Gesetzes:
Sohn , Tochter, Vater, vergegenwärtigen , so ist es denkbar , daß in
dem von unserer Inschrift bezogenen Falle der Mangel näherer
Erbberechtigter nicht bloß vorausgesetzt, wie das bei »proximi<
1) So schon Bugge S. 35 Note. Ob übrigens *satun oder *8(Uidun dem
Dialekte und der Zeit des Denkmals entsprechender sei, wage ich nicht zu ent-
scheiden. Gedacht werden könnte auch an eine Ergänzung *fßorahtun, die zu
Woduride aUiterierte. Stilistisch will es mir freilich nicht gefallen, dasselbe
Yerbum, das auf Seite a wiederkehrt, auch hier einzusetzen.
100 Gott, gel Ans. 1906. Nr. 2.
wäre, sondern anmittelbar ausgesprochen sei, daß mit einem Worte
sfjosteR nicht die >nächsten<, sondern die >letzten< oder auch die
>letztUberlebenden< bedeute. Ein Adjektiv *sijar >posteru8<, *8ijo8tax
>postremas, ultimusc läßt sich von dem Adverbium ahd. sid »po6tea<,
an. siä »late« und Verwandten aus konstruieren — ib-Ableitung statt
der dentalen ! — und mit einer Konstruktion muß es überhaupt vor-
läufig sein Bewenden haben. Zusammenfassend glaube ich die In-
scbrÜt des Steines, den Bugge zwischen 500 uud 550 datiert Oi
Übersetzen zu dürfen: »post Voduridum lapidem posuerunt tres filiae;
partitae sunt haereditatem , postremi haeredum. — ego Vivus post
Yoduridum coUegam (oder postea Vodurido collegae) feci titulumc.
Der Artikel bei Bugge enthält zahlreiche interessante Aus-
ffihrnngen aber die umordischen Endungen anknüpfend an die der
besprochenen Wörter, über Form und Gebrauch des proklitischen
und enklitischen eJc >ich<, enklitisch auch erweitert -eka, über Rektion
und spätere Formen der Präposition trfter, über älteren und jüngeren
Sprachgebrauch der nordischen Runeninschriften und schließt S. 40
bis 44 mit zwei Exkursen, in denen über neuere differierende Er-
klärungen, sowie über die Geschichte der Deutung der Inschrift von
Tune, die 1821 mit Wilhelm Grimm beginnt, Bericht erstattet wird.
Von geringerem sprachlichem Umfange ist die Inschrift des Steines
von Kjelevig oder Strand, Bugge Nr. 19.
Der Stein, ein Obelisk aus grobkörnigem grauem Granit, 2.20 m
hoch über der Erde — die gesamte Länge beträgt 2.70 m — und
an der breitesten Stelle, das ist in der Mitte 0.53m breit, wurde
im Herbst 1882 aufgefunden. Er zeigt eine dreizeilige, linksläufige,
otoixiqSöv geordnete Inschrift, transliteriert und abgeteilt : haduIalkaB
I ek hagustadaa | hiuriwido maga minino.
Die Zeilen laufen an dem in situ befindlichen Steine von unten
nach oben und sind im Verhältnis zueinander eingerückt und zwar
so, daß 2 unter dem ik von 1, 3 unter dem ha von 2 beginnt. Die
Grundlinien der Zeilen schreiten vom rechten Rande im Sinne des
Beschauers gegen die Mitte des Schriftfeldes vor, dergestalt, daß
der Anfang des Textes am rechten Rande nahe der Basis, das Ende
ungefähr in der Mittellinie des Steines nahe der Spitze zu suchen ist.
Zur Lesung ist zu bemerken, daß sich oben an der zweiten
Hasta des h von haaitcido eine Art absteigenden Schrägstriches findet,
der aber, wesentlich kürzer und seichter als die übrigen seitlichen
Abstriche und Aufstriche der Runen, keineswegs Sicherheit gewährt,
1) Ebenso Wimmer, Die Runenschrift S. 30B; 5. Jahrh. Noreen, An. Gramm.
1», S. 345.
Korges Indskrifter med ä% seldre Buner. 101
dafi er literale Oeltung habe und das h zu einer Binderune Id er-
gänzen solle. Rygh hält es, wie Bugge S. 272 mitteilt, nicht für
unmöglich, daß dieser Abstrich nur zufällig sei und Bugge selbst
S. 272 findet sich im wesentlichen nur durch die bisher anerkannte
sprachliche Verbindung der Verbalform haaiwido mit dem Sachworte
Maiwa der Inschrift von Be, got Maitc, bestimmt, ihn fär beabsichtigt
zu halten.
Ein anderer sehr deutlicher seitlicher Aufstrich, den Bugge
S. 271 als Fehlhieb erklärt, findet sich am h der zweiten Zeile; vom
Einsatzpunkte des mittleren A -Balkens ausgehend erweckt er den
Eindruck, als ob entweder statt eines h: H die Runen iR IY eng
aneinander gerückt daständen, siehe die Abbildungen Bei Bugge
S. 270, 271, oder als ob eine Ligatur von H und Y beabsichtigt sei.
Die Gleichung Bugges des umord. Personennamens Haä^ikan
S. 273 mit dem im ahd. Ortsnamen Hadaleihinchova, Hadlikon bei
Zürich gelegenen, sowie mit dem Schwertnamen HcUMoke eines
mittelenglischen Gedichtes ist so sehr unmittelbar überzeugend, daß
die sonstige umord. Schreibung des Elementes hapu- mit p, nicht
^Rune, dagegen nichts ausmacht und keineswegs zu dem Versuche
berechtigt, das hadu- unserer Inschrift als *hafnjdu' zu deuten.
Um die Schreibung HadülaikaR neben der mindestens um ein
Jahrhundert jüngeren HApatool^R der Blekingeschen Inschriften
(Stentofta, Istaby, Gommor) zu erklären, scheint es mir auch nicht
der richtige Weg, mit Bugge den Hauptton des Kompositums ur-
sprünglich auf einer andern Silbe als der Stammsilbe ruhen zu lassen
und fur die Schreibung mit p lautliche Beeinflussung vom einfachen
Appellativum *hapuR her anzunehmen, da es. keineswegs wahrschein-
lich ist, daß das p der Blekingeschen Inschriften in diesem Namen-
elemente etwas anderes sei, als bloß orthographische Darstellung
eines gesprochenen ä mit der Rune p. Ich bin also der Meinung,
daß nicht p sondern ä der german. Form des Abstraktums *kadus
gerecht sei, was sich bei vorgerm. Endbetonung *hatü' leicht begreift.
Daß hagustaäaR sich hinsichtlich der I-Auslassung vor tf , also
'StaläaR, nicht allein mit Oodahid Bezenye, sondern mit zahlreichen
einschlägigen Fällen innerhalb des agerm. Namenschatzes decke, ist
sicher, ebenso daß haaiwido magu minino dem Sinne nach >sepeliui
filium meum< bedeuten müsse.
Minder sicher aber dünkt es mich, daß HagustaäaR selb-
ständiger Personenname sei und für sich allein die zweite Person
des Textes, den überlebenden Vater benenne, während Ha/MaikoM^
wonach starke Interpunktion gedacht werden müßte, den Namen des
bestatteten Sohnes darstellte.
102 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 2.
Nach meiner Meinung ist der Name des Sohnes überhaupt gar
nicht genannt, HaäulaikaR Subjekt und Hauptname des überlebenden
Vaters, hagustaäuR aber eine Apposition hierzu.
Da anorweg. haukstcddr > vornehmer Mann« bezeichnet — Bugge
S. 347 erklärt das Wort als Nebenform mit au für p wie in audlingr
neben pdlingr und bloß orthographischem k für g — , kann diese
Apposition eine Standesbezeichnung sein, die hier nur nachgesetzt
ist, während die sehr viel bekanntere Standesbezeichnung erilaR der
Inschriften von By, Kragehul, Veblungsnses dem Personennamen vor-
ausgeht. Das Verhältnis der Stellung ist also etwa das von * Wodu'
riäaR ivUaäahlaiba des Steines von Tune.
Diese anorweg. Bedeutung möchte wohl eine besondere Ent-
wicklung aus dem dritten der zu ags. hcegsteald >mansionarius, caelebs,
iuuenis« bei Bosworth-Toller verzeichneten Werte sein und sich ihrem
Ursprünge nach etwa wie nhd. »Junker« verhalten. Immerhin kann
aber auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß das Wort
nicht eigentlich Standestitel, sondern Beiname sei, denn die ahd.
Beispiele von HagastoU als Personenname, z. B. Libri confrat., müssen
von der Setzung des Appellativums als Beiname den Ausgang haben.
Der Auslaut des umord. Possessivpronomens im mask. Akk. minino^
got. meinana, und sein Verhältnis zu den gedeckten got. Akkusativen
hwarjanoh und ainnohun neben ungedecktem hwarjana, ainana ist
nach Bugges Ausführungen S. 275—276 nicht völlig geklärt; doch
wird es sich bei umord. -ino zu got. -^tnOj -ana hinsichtlich des
Zwischenvokales wohl um Ablaut ^: ö^ nicht um Schwächung a >> ^
handehu
Die Bewertung des zweifelhaften Hakens an der zweiten Hasta
des h von hiaiwido als ligiertes 2, die für Bugge 1898 noch feststand,
läßt sich heute kaum mehr aufrecht erhalten, da in der 1903 ge-
fundenen Steininschrift von Amle Bugge S. 573-585 auf einmal
das Partizipium perfecti des Verbums von Ejolevig in der Gestalt
haiwidüR emporgetaucht ist.
Mit Becht sagt Bugge S. 579 : Diese Uebereinstimmung in der
Schreibung ohne l könne nicht zufällig sein, diese Schreibung könne
nicht mehr als bloßer Fehler der graphischen Darstellung verstanden
werden. Da Bugge aber trotzdem an der Ableitung von hlaiwa fest-
hält, sucht er an der zweiten Stelle die Schreibung aus einer be-
sonderen Aussprache des l abzuleiten. Es ist mir schwer an eine
derartige Aussprache zu glauben, zu der man vielleicht das spiran-
tische cymr. U vergleichen könnte — Bugge selbst vergleicht hierzu
S. 579 Note 1 poln. -armen, oder etruskisch A aus 2 — , denn die
ehemalige Spirans x scheint doch wohl auch in der anlautenden
Norges TDclskrifter med de seldre Raner. 103
Bindnng mit Liquida Ij r oder Nasalis schon im Urnordischen zum
bloßen Hanchlante h geworden zu sein, der keinen Anlaß zu einer
spirantischen Umformung des l mehr geben konnte. Das wäre freilich
noch kein zwingender Grund gegen Bugges Ausweg, wenn, es un-
möglich wäre, das Yerbum *haiwjan unabhängig von Maiwa zu er-
klären. Das aber ist nicht der Fall, sondern es eröffnet sich aus
der Sippe got. heitoafrauja >oi)coSeGicötT)c<, kroat. poSivam^ padivati
>ausruhen, sterben«, sloven. pod/;em, podUi >rasten<, aksl. j>oifeo/,
litt, pakdjus »Ruhe«, got. havns, griech. xo[{taa> > bette, schläfere
ein<, xoi{tY)ti{ptov, franz. citnetihe, griech. xsliiai >liege<, lat. quies^
quieseOj ai. fi >cubare< die Möglichkeit ein Yerbum *haiwjan mit der
Bedeutung >zur Ruhe bringen, bestatten« abzuleiten, das mit hlaitca
»tumulus« etymologisch gar nichts zu schaffen hat. Das zwischen-
liegende Nomen entgeht uns allerdings; es kann in thematischer
Form als *haiwa-^ *haiwi- oder ^haiu- angesetzt, seine Bedeutung
als >Ruhe, Ruheort« oder >Lager« ermittelt werden.
Die äußere Seitenhasta an dem h von hagustadaR kann ja wohl
fehlgehauen sein. Wimmer, Die Runenschrift S. 149 Note, gibt
hierfür eine recht plausible Erklärung. Wäre dem aber nicht so,
sondern hätten wir es mit einer beabsichtigten Ligatur ah zu tun,
so müßte man das s zum vorhergehenden eh ziehen und in *€}cr eine
mit dem Nominativzeichen singularis der Substantiva erweiterte Form
des persönlichen Pronomens erblicken, die ja, wie ich gerne zugestehe,
ebenso überraschend wie vereinzelt wäre.
Nicht eigentlich Verse enthielte die Inschrift, meint Bugge S. 277,
der ihre Zeit auf die Mitte des 6. Jahrhunderts bestimmt^), aber
doch wiese sie die Anzeichen gehobener Sprache auf. Diese Anzeichen
werden noch greifbarer, wenn man meinem Vorschlage gemäß die
beiden Namen auf Sine Person bezieht, wonach HadulaikaR \ ek ha-
gustaäoR wohl geradezu einen alliterierenden Langvers bildet und
auch haaitoido magu \ mJnino als solcher gelten kann.
Der Stein von Amle Nr. 46 , dessen Inschrift wir das genannte
Partizipium verdanken, eine schwere Platte aus weißem Granit oder
Glimmeradamellit von 2.30m Länge, 0.83m Höhe und 0.21m bis
0.33 m Dicke ist nach Bugges Ansicht in seiner gegenwärtigen Form
vollständig bewahrt mit Ausnahme eines kleinen Stückes, das an der
linken oberen Ecke abgeschlagen eine Verletzung der ersten Rune
der Zeile nach sich gezogen hat. Bugge transliteriert und teilt die
am oberen Rande von links nach rechts sich hinziehende Inschrift,
1) Allgemeiner: erste EUdfte des 6. Jahrhunderts, Wimmer, Die Bonenscbrift
S. 308, und Noreen, An. Gramm. P, S. 838.
104 Gott gel Anz. 1906. Nr. 2.
abgebildet S. 575 und 576 : /1b haiwidaB par und macht verschiedene
Versuche, den vor dem >sepultus hic< zu vermutenden Personennamen
auf Grund der Annahme, daß die vor dem -In stehende teilweise
beschädigte Rune — man kann sie für i, { oder t^) ansprechen —
die erste des ursprünglichen Textes sei, zu ergänzen.
Aber diese Versuche scheinen mir nicht voll überzeugend und
ich denke, daß man doch wohl einen etwas größeren Abgang an
Buchstaben anzunehmen habe.
Der Gegengrund Bugges S. 580, daß man die Fußspur einer vor
der erhaltenen ersten Hasta stehenden Rune noch sehen müsse, ist
doch, wenn man die Distanzen z. B. zwischen w und i oder a und r
oder a und r abmißt, nicht zutreffend, und das Aussehen des Steines
kann die Möglichkeit nicht ausschließen, daß etwa schon in alter
Zeit ein größeres Stück der Platte mit entsprechenden Textteilen
abgebrochen sei. Der Stein, dessen Inschrift Bugge um 600 ansetzt,
kann vermöge seiner Form nicht als Denkmal aufgerichtet gewesen
sein, lieber seine ursprüngliche Lagerung in oder auf einem
Grabhügel ist Bugge S. 584 zu einem völlig gesicherten Urteil nicht
gelangt
Sicher aus einem Grabhügel stammt der Stein von Opedal,
gefunden 1890, Bugge Nr. 22, chlorithaltiger Glimmerschiefer, der
unmittelbar vor Entdeckung der Runen in zwei Stücke gesprengt
wurde, ohne daß doch die Inschrift Schaden gelitten hätte. Der
Hauptteil, 1.32m lang und an der beschriebenen Seite 0.39m breit,
zeigt eine zweizeilige, S. 300 nach einem Abklatsch treiflich wieder-
gegebene Inschrift, die an der oberen Kante des Feldes von rechts
nach links läuft und zwar so, daß die zweite Zeile um neun Runen
ausgerückt erscheint; ihre zehnte Rune steht ungefähr unter der
Anfangsrune der ersten Zeile.
Nach Bendixens Meinung war der Stein ursprünglich auf die
vom Beschauer linke Schmalseite gestellt, so daß die Inschrift von
oben nach unten orientiert gewesen wäre. Dagegen halt Bugge
dafür, daß der Stein, der übrigens auch nach Bendixens Ansicht
seinen Platz im Innenraum eines Grabhügels gehabt habe, auf die
untere Langseite gelegt war, so daß die Zeilen horizontal verliefen.
Die Inschrift transliteriert und abgeteilt birgnggu b//r// sirestar
mlna | liubu mea wage zeigt zweimal, das ist hinter dem b und r
der ersten Zeile ein Zeichen, das nur die halbe Höhe der übrigen
erreicht und im wesentlichen als ein rechts vom Beschauer mit einer
1) Nach der Abbüdong bei Bugge S. 576 würde ich überhaupt uur liR oder
tiB für möglich halten.
Norges Indskrifter med de aeldre Runer. 105
aufrechten Hasta geschlossenes, sonst offenes Schrägkreuz m bezeichnet
werden kann, dessen absteigender Strich übrigens an zweiter Stelle
wellenförmig geschwungen, an erster mehr geradlinig erscheint. Die
geringere Höhe teilt dieses Zeichen mit der y^-Rune der Inschrift,
einer regulären geschlossenen Raute, aber seine Stellung hält sich
nicht wie bei dieser auf dem Niveau des mittleren Zeilenraumes,
sondern fußt im ersten Falle auf der Grundlinie, im zweiten auf der
Mittellinie, so daß es also hier im oberen, dort im unteren Zeilen-
raume steht.
Dieses Zeichen hatte Bugge im 8. Bande des Arkivs f. nord.
fil. 1892 für ein Abkürzungszeichen gehalten, während es Noreen
in der zweiten Ausgabe der An. Granmi. als o las. Im vorliegenden
Werke ist Bugge zunächst S. 307 geneigt, dasselbe entweder als
umgelegtes o St, oder als graphische Vereinfachung einer Ligatur
von St mit H zu fassen, also entweder o oder diphthongisch öu zu
lesen, während er S. 559 sich dahin entscheiden zu sollen glaubt,
daß das Zeichen graphisch als Ligatur zweier ti-Runen, einer auf-
rechten und einer gestürzten anzusehen, alphabetisch aber als Aus-
druck für langes ü zu bewerten sei.
Was die Deutung anlangt wird durch diese veränderte Auffassung
freilich eine weitere Verschiebung nicht begründet. *ba oder *6ö
oder *böu wäre nach Bugge in jedem Falle Imperativ des Verbums
büa, ostnord. boa >habitare< und *ru oder *rö oder *röu irgend eine
Form entweder des Substantivs an. ro >quies<, etwa mit adverbialer
Bedeutung, oder eine solche des Adj. ror >quietus<, die ganze Phrase
also ein umord. >requiescas in pace«.
Diese Erklärung scheint ja wohl überzeugend, aber wir sind ihr
gegenüber in der merkwürdigen Lage, zwar den Sinn, ja auch im
allgemeinen die Wörter zu kennen, über Laut, Zeichen und genauere
Formulierung aber einer sicheren Entscheidung zu entbehren.
Ich vermag die Zuversichtlichkeit nicht zu teilen, mit der Bugge
an der letzten Stelle sich für Ligatur zweier u ausspricht, denn die
zusammengesetzten Zeichen, die er aus anderen, späteren Inschriften
hierzu vergleicht sind dem Ansehen nach mit dem von Opedal keines-
wegs gleich und die Erklärung der erschlossenen Sprachform *ruu
aus älterem *röwu als eine Art Umlaut durch folgendes w + ü, wie
in dem wohl vom Dat. plur. ausgehenden an. Nom. plur. sM<w aus
*sköwö& neben Nom. sing, skor aus *8köhaR Bugge S. 559, halte ich
nicht für schlagend genug, daß sie mir über die enttäuschte Er-
wartung einer Form mit umord. ö in der Stammsilbe, also *rö oder
*röu hinweghülfe.
Da eine Lesung *bü röu >mane quiete< oder >quieta€, also mit
GOU. gel. Ans. 190«. Mr. 8. 8
106 Gott. gel. Anz. 1906. Kr. 2.
verschiedenem Lautwerte des Zeichens nicht gewagt werden kann,
trotzdem es an den zwei Stellen weder formell ganz gleich, noch in
identischer Weise angebracht ist, da femer eine einheitliche Lesung
uu nicht empfohlen, ja nicht einmal für das erste Wort begründet
ist, denn es war für den Verfertiger der Inschrift wohl kein Hindernis
auch in diesem Worte die noch viermal vorkommende gewöhnliche
ti-Rune anzubringen, kann ich nicht anders, als die frühere S. 307 fL
vorgetragene Ansicht Bugges als die auf richtigeren Bahnen wandelnde
zu betrachten und einheitlich *böu röu zu lesen. Ich möchte dabei
die Alternative offen halten , daß das erste Wort als fem. Substantiv
und Entsprechung zu aksl. m-bava > Aufenthalte, aschwed. bö > Wohn-
sitze, griech. in (pcD-Xsög > Wildlager«, Noreen, Abriß S. 35, zu er-
klären sei.
In diesem Falle hätten beide Wörter die identische Flexion des
Nominativs oder wohl besser des Akk. sing, und bildeten , von einem
weggelassenen Imperativ oder Optativ »habeas« abhängig, einen
Wunsch oder Zuruf an den Verstorbenen, der gleich dem krimgot
knauen tag konstruiert und als >sedem quietam« oder freier >bonam
pacem« zu verstehen wäre. Dies jedoch nur als zweite Möglichkeit|
denn ernstliche Schwierigkeiten, *höu als Imperativ zu fassen, sehe
ich doch eigentlich nicht und die got. Redensart aid bauan >ein
Leben führenc zu 1. Tim. 2, 2 ist zu verlockend, als daß man nicht
das erste Wort der Phrase *böu röu in verbalem Sinne verstünde.
Geht westnord. büa, ostnord. böa, got. bauan auf langdiphthongisches
*böuan zurück, was wegen des westnord., westgerm. Wandels von ö
zu ü doch recht wahrscheinlich ist, so ergibt sich ein Imperativ mit
auslautendem u ja ganz von selbst.
Daß dieser Wunsch möglicherweise christlichen Ursprunges und
Nachahmung aus lateinischen Inschriften sei, will ich nicht bestreiten;
was er aber in dieser angenommenen Eigenschaft beitrage, das Alter
der Inschrift von der Mitte des 6. Jahrhunderts, S. 310, in die Zeit
von 600 bis 650, Bugge S. 560, heraufzurücken ^), entzieht sich meiner
Einsicht.
Bei einem effektiven Werte öu für das Zeichen x ist nun die
graphische Ableitung aus einem um einen rechten Winkel nieder-
gelegten einfachen St ausgeschlossen und es muß angenommen werden,
daß es vielmehr ein Ergebnis alphabetischer Ligatur sei.
Abweichend von Bugge, der S. 307 den Versuch machte, dasselbe
aus 0 mehr u herzuleiten, wobei ich kein Gewicht darauf lege, daß
der lautphysiologischen Folge der Buchstaben keine analoge graphische
1) Noreen, An. Gramm. 1», 8. 840: 6. Jahrhundert.
Norges Indskrifter med de seldre Roner. * 107
Folge in der Kombination entspräche — Bugges Ligatur mit dem u
voran ergäbe ja graphisch die Folge uo — , bin ich der Meinung,
daß das Zeichen auf einer älteren Ligatur von a-jru beruhe , ur-
sprünglich für den Ausdruck des Diphthongen au gebildet sei und
später, da umord. au zu ou gewandelt wurde, ein Vorgang der für den
Text von Opedal als eingetreten vorauszusetzen wäre, eben für diesen
Diphthong gegolten habe. Für etymologisch zweisilbiges -d-u, mindestens
in *röu^ vielleicht aber auch in *böu konnte das ligierte Zeichen
ou gesetzt werden, weil sich die beiden Wörter in der gesprochenen
Sprache der diphthongischen Einsilbigkeit genähert haben werden.
Es ist ja allerdings ein Hindernis für die unmittelbare Anschau-
lichkeit dieser Behauptung, daß im älteren Runenalphabet von einer
derartigen Ligatur ou nichts weiter zu spüren ist. Daß aber die
Tendenz, eine solche Ligatur zu bilden, gewiß da war, beweist die
ags. ^a-Bune f, die auf irgend einer Kombination von Zeichen für
a und u beruhen muß, und daß es vereinzelte Beispiele von
Ligaturen geben kann, beweist die eine got. Ligatur au, die in den
Exzerpten der Salzburger Handschrift einmal in der Sigle xäus über-
liefert ist Darauf, daß die Figuren der lateinischen Majuskeln A
und V in dem Zeichen der Opedaler Inschrift, rechts gewendet k,
enthalten seien, will ich mich keinesfalls berufen, aber eine Ligatur
auf runischer Basis ist wohl möglich, wenn in der Bindung eines ^
mit gestürztem V die beiden Abstriche des a zu Einern vereinfacht
werden. Ein anderes Zeichen für ati:fl, das ist aH + tiPl, findet
sich in dem reformierten jüngeren Fupark Thörodds, siehe B. M. Olsen,
Runerne i den oisl. lit. Kobenh. 1883, S. 85.
Dem gegenüber muß man die ursprüngliche Meinung Bugges,
daß b. n im Sinne von >lod reise« oder >Iod gjöre runerne« aus-
zufüllen und gleichsam als ein umord. > faciendum curauit« zu ver-
stehen habe, fallen lassen. Um so mehr, als sich die vermeint-
liche kreuzförmige Interpunktion des Steines von Möjebro seither
als vollwertiger Buchstabe herausgestellt hat, Noreen, An. Gramm.
P S. 340, und sich außerdem an späterer Stelle dieser Besprechung
die ähnliche Interpunktion des einen Steines von Myklebostad gleich-
falls als literales Zeichen erweisen wird. %
Alles übrige im Texte ist durchsichtig. *Birgingu ist Vokativ,
ebenso die Apposition hierzu swestar minu und liubu men Wage ver-
tritt einen an diese anknüpfenden Relativsatz. Der ganze Ausrufungs-
satz kann mit > Birginga mane quieta, soror mea, dilecta mihi Vago!<
ziemlich einwandfrei übersetzt werden.
Daß der Personenname *Wagas gleich dem norweg. Volksnamen
Vagar sei, wie ich Z. f. d. A. 45, 134 vermutete ^ halte ich auch
8*
108 • Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
heute noch für möglich. Das proklitische Pronomen men hat eher
Kürze des Vokales ^ als Länge. Ueber die silbische Geltung der
tftjf-Rune im Frajiennamen ist kein Wort zu verlieren. Auf die Al-
literationen des Textes : b und m und seine rythmische Folge macht
Bugge S. 309 mit Recht aufmerksam.
Zu den wortreicheren Grabschriften der ältesten Zeit gehörte
auch das Fragment des Steines von Vetteland, Bugge Nr. 39, aus
der Erde gepflügt 1896. Das Bruchstück, lichtroter Granit, ist
1.11m lang, 0.76m breit, 0.18m dick. Die Inschrift, drei rechts-
läufige Zeilen im GtocxtiSöv -Verhältnisse, abgebildet S. 439, 441, 442,
dürfte an dem in situ gedachten Steine, der sicherlich unter freiem
Himmel aufgerichtet war, von unten nach oben gegangen sein. Ihre
Transliterierung ergibt den lückenhaften Text: ...ist | ...Ina |
...das faihido. Vor dem Verbum faihiäo »scripsi« am Ende der
Inschrift, das in der gegebenen Form schon vom Einangersteine her
bekannt war, hat ein mask. Personenname gestanden, dessen zweiter
Teil 'StaldaH oder -^idaR oder irgend ein anderes Wort des urnord.
Namenschatzes mit anlautendem d in zweiter Silbe gewesen sein muß
und der vielleicht mit einleitendem *ek verbunden war. Die drei
Buchstaben der zweiten Zeile ergänzen Bugge und Olsen zu *staina^
die drei der ersten zu *raist als urnord. Form des Präteritums von
an. rista stv. »schreiben«. Die Konkurrenz der beiden Synonyma
für »schreibenc in dem einen Texte wird S. 441 so aufgeklärt, daß
an erster Stelle der Auftraggeber, der die Inschrift machen läßt, an
zweiter aber der Runenmeister, der sie körperlich ausführt, gemeint
und genannt sei. Daß dies möglich sei bewiese der Ausdruck faßi
fapiB des Röker Steines, von der Person gebraucht, die die Kunen
schreiben ließ. Den Akkusativ *8iaina denken sich Bugge und
Olsen von einer Präposition, etwa an, abhängig und konstruieren ein
Textgerippe: >N. N. nach N. N. schrieb die Runen auf diesen Stein.
Ich ...d malte sie«, aber S. 571 hält Bugge mit Berufung auf die
Textierung der aus dem späten Mittelalter stammenden Inschrift von
Eggemoen, in der rceUt > schrieb« und rceisti » errichtete < aufeinander
folgen : . . . rceisi : mik : ok : rceisti \ amunde, in der zweiten Zeile auch
einen Satz »und errichtete diesen Stein« für möglich, so daß der
Akkusativ dann doch direkt vom Verbum abhinge. Die Inschrift
datieren die Herausgeber mit Berufung auf die Verwandtschaft des
Steines von Einang um das Jahr 400.
Das ist selbstverständlich nur ein Versuch, der aber immerhin
darüber belehrt, wie viel ungefähr an der Inschrift fehlt. Da faihjan
vermöge seiner etymologischen Herkunft ursprünglich >pingere€ be-
deutet und H. Pipping auf den in der Grundmauer der Kirche zu
Norges Indskrifter med de seldre Rnner. 109
Ardre 1900 gefundenen Platten mit jüngeren Runen zum Teil Aus^
malung der Buchstaben mit Mennig festgestellt hat, so könnte die
Doppelheit von rista und fd in unserm Falle auch auf die zweifache
gewerbliche Tätigkeit des Steinmetzen und des Malers bezogen
werden.
Einfacher ist eine kleine Gruppe von Inschriften B0, Stenstad
und Tomstad, bei der lediglich der Name des Bestatteten im Genitiv
zusammen mit einem auf das Grabdenkmal gehenden Sachworte
auftritt.
Die Inschrift des Steines von Bo, Bugge Nr. 16 — die ersten
Nachrichten über denselben stammen aus 1865 — , einer 1.87 m hohen
und an der breitesten Stelle 0.60 m breiten Säule aus feinkörnigem
lichtgrauem Granit, die ursprünglich unter freiem Himmel aufgestellt
war, erstreckt sich in der Ausdehnung des zweiten oberen Viertels
mit rechts gewendeten Runen von oben nach unten. Die Lesung
der einen Zeile , siehe die Abbildungen S. 238 und 239 , ergibt nach
Bugges berichtigender Beobachtung den Text hnabdas hlalwa. Das
zweite Wort ist die umord. Entsprechung zu got. hlaiw n. yxtitpo^^
(iV7)(i£iov<, ahd. hUieo >mau8oleum, aceruus, tumulus, agger«, as. hlio,
ags. hUtv, hltew, mhd. le, das erste der Genitiv eines mask. Personen-
namens *HnaSäaR, den ich Z. f. d. Ph. 32, 295 als Beinamen definiert
habe. Wimmer, Die Runenschrift, S. 303, setzt den Stein in die
zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts, wogegen Bugge S. 243 nichts
wesentliches einzuwenden hat, doch die Bemerkung macht >so genau
lasse sich die Zeit doch wohl nicht festsetzen, auch sei es unver-
ständlich, warum der Stein von B0 als jünger angesehen werde als
der von Strand«. Allgemeiner >6. Jahrhundert« gibt Noreen, An.
Gramm. P, S. 335, an.
Mit einem anderen Sachworte verbunden ist der Personenname
der Inschrift von Stenstad, Bugge Nr. 9.
Der schon 1781 in einem Grabhügel gefundene Rollstein, Quarz,
von mäßigem Umfange, trägt, auf eine kräftig markierte Grundlinie
gesetzt, in rechtsläufigen Buchstaben die eine unabgeteilte Zeile
igQon fialSB, nach Bugges Situierung des bimförmigen Steines,
S. 176, von oben nach unten verlaufend und die linke Hälfte des
Feldes beherrschend.
Die vierte Rune liest Bugge als iig, wiewohl er S. 179 die
Lesung ;, gegen die sich vom sprachlichen Standpunkte nichts ein-
wenden lasse, in Erwägung zieht.
Ich kann, je länger ich dieses Zeichen mir einpräge, das an
Höhe den übrigen Runen gleich aus zwei Hastenhälften besteht, einer
110 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
oberen vertikal herabsteigenden und einer unteren mit schiefen
Winkeln auf die Grundlinie einsetzenden, die beide durch eine, einem
liegenden S gleichende Kurve verbunden sind, um so weniger zur
Ueberzeugung kommen, daß es von der auf eine Ecke gestellten
Baute, dem nach meiner Meinung typischen Zeichen des ng seinen
Ausgang habe und nicht vielmehr eine besondere Form der, wiederum
nach meiner Ansicht ursprünglichen, runden auf dem lat. Q unmittel-
bar beruhenden ;-Rune sei.
Bugge meint S. 179 das Zeichen von Stenstad gliche mehr dem
offenen Zeichen der Skäängerinschrift, das sicher ^ sei, als der ge-
schlossenen j-Bune des Bracteaten von Vadstena. Aber das eben,
daß das Zeichen von Skääng ng sei, bezweifle ich lebhaft, und finde
in der Stenstader Bune nichts anderes als eine dritte besondere und
offenbar fakultative Ausprägung ein und desselben typischen Zeichens
für j.
Aber nicht nur paläographisch, das ist auf Grund der Verwandt-
schaft des geometrischen Bildes, empfiehlt sich diese Lesung, sondern
auch sprachlich, denn der Frauenname B%rg(i)nggu des Steines von
Opedal zeigt schon, daß die Feminina zu den urnord. mask, tn^o-
Ableitungen : JEToI^in^aii Gallehus, iu^m^ais Beistad als starke d-Stämme,
nicht als schwache dn-Stämme, gebildet wurden.
Bugges Erklärung des Wortes hdlaR mit orthographisch ein-
facher Schreibung der eigentlich gebührenden Geminata U, wie
urnord. Fino Berga statt *Ftnno, also *hall<iR gleich an. hallr »Stein«,
litt. Jcdlnas >Berg< , aber got. ti-Thema: Jiallus, ist um so mehr
treffend, und die Möglichkeit, daß das Wort Personenname sei, um
so mehr auszuschließen, als Bugge diesen Ausdruck auch in der
jüngeren Runeninschrift von Tose, sowie in modern schwed. dial.
lihhall m. > Leichenstein, Grabmal« nachzuweisen vermag.
Den Stammvokal des im possessivischen Genitiv stehenden
Frauennamens ^Igijo muß man nach der von Bugge S. 32 aus
Brugmanns Grundriß wiederholten ig. Regel: >im Inlaut vor Vokal
steht Halbvokal j nach Kürze und einfacher Konsonanz, aber ij nach
Länge und einfacher, oder nach Kürze und mehrfacher Konsonanz«,
für lang halten, was nicht ausschließt, daß das Element mit dem in
got. Igila Urk. v. Neapel gelegenen identisch sei, da wir ja die
Qualität des letzteren nicht kennen. Aber freilich, so streng wird es
mit dieser Regel nicht zu halten sein, da wir neben der in ihrem
Sinne korrekten Schreibung Harja des Kammes von Vi, vgl. Wimmer,
Die Runenschrift, S. 63, auf dem Steine von Skääng die derselben
nicht entsprechende Harija mit ij statt j finden. Wimmer, Die
Runenschrift, S. 303, setzt die Inschrift in die zweite Hälfte des
Norgefl Indskrifter med de aeldre Runer. Ill
6. Jahrhunderts. Die bei Bngge S. 182 mitgeteilten archäologischen
Urteile über die mit dem Steine gefundenen Gegenstände ergeben
eine Datierung um das Jahr 500, der sich auch Noreen, An. Gramm.
P, S. 342, > gegen 500«, anschließt.
Der dritte Stein dieser Untergruppe ist das Fragment von
Tomstad, Bugge Nr. 12, gefunden 1851 oder 1852, eme Platte aus
Hornblende-Granit, 0.66— 0.85m lang, 0.47 m breit, 0.11m dick.
Der Stein stammt nach Wimmers Annahme, Die Runenschrift, S. 301,
aus einem Grabhfigel und gewährt eine die Mittellinie entlang
laufende Zeile in linksgewendeten Runen, siehe die Abbildung bei
Bugge S. 207, transliteriert ...an : warna, in der ein Sachwort
toaruR mit dem possessivischen Genitiv eines auf -n auslautenden
mask. Personennamens verbunden ist. Die Bedeutung des Sach-
wortes scheint mir freilich noch nicht gesichert,, da das von Bugge
S. 208 verglichene isl. Wort aus den Sagas: vor fem., neunord. vor
mask. > Reihe aufgelegter Steine an einer Landungsstelle« doch wohl
von dem Neutrum v^r gleich ags. wtxroV >Platz an der See«, Noreen,
An. Gramm. P, S. 167, 5, etymologisch nicht verschieden sein wird.
Deshalb kann der von Bugge ermittelte Sinn > Steinsetzung < , oder
Noreens »Steinkreis<, An. Gramm. P, S. 344, nur als Versuch, nicht
als wirkliche Lösung angesehen werden. Die Zeit des Denkmals
bestimmt Wimmer, Die Runenschrift S. 303, auf die zweite Hälfte
des 6. Jahrhunderts, womit sich Bugge S. 209 einverstanden erklärt,
Noreen, An. Gramm. P S. 344, in weiteren Grenzen auf das 6. Jahr-
hundert überhaupt.
Einen anderen textlichen Typus, der weder von Stiftung des
Denkmales in irgend einer Form ausdrücklich spricht, noch auch ein
charakteristisches Sachwort gewährt, sondern sich nur in Personen-
namen bewegt, stellt die Inschrift des Steines von Aarstad, Bugge
Nr. 15, dar.
Dieser 1.21m hohe, an der Basis 0.78m breite, 0.13m dicke,
nach oben spitz zulaufende Stein, Granit, stammt aus einem um 1855
eröffneten Hügel mit Grabkammer, außerhalb deren westlicher Wand
er errichtet war. Unter den Beigaben des Brandgrabes, stark ver-
rosteten Eisensachen, fanden sich auch Perlen.
Die Inschrift besteht aus drei parallelen, auf die Längsachse
senkrechten, von links nach rechts zu lesenden Zeilen, von denen
die erste und zweite in der oberen Hälfte des Steines liegen, die
dritte sich ganz unten am Rande hinzieht. Der Text ist, transliteriert,
hiwlgaa I saralu | pingwlnaa, nicht ohne mehrfache Zweifel, da
Bugge S. 229—230 neben hiwigan auch hüifiaR zuläßt, obwohl er
seine Erklärungen dieses Namens hier wie später S. 540 doch auf
112 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
die Lesung mit w, nicht Z, gründet, beim dritten Worte aber es
zuerst S. 230 mit einer Lesung engwinau versucht, dieselbe S. 233
auf Grund neuer, zusammen mit Rygh ausgeführter Untersuchung
durch pingwinaR ersetzt und endlich S. 539 — 540 wieder xingwinaR für
möglich hält.
Die beiden phototypischen Abbildungen bei Bugge S. 226 und
227 scheinen mir allerdings die Lesung UwigaR zu bestätigen und
eine Lesung ping\.. mindestens zu gestatten; glaubt man doch
an der ersten Hasta noch einen Schimmer des seitlichen Bogens der
j^-Rune zu sehen. Das auslautende r des dritten Komplexes ist nach
Bugge, der S. 230 noch die Spur eines linken Abstriches zu er-
kennen meint, ein gestürztes A- Ich muß gestehen, daß ich,
freilich nicht nach der ersten, wohl aber nach der zweiten Ab-
bildung S. 227 versucht gewesen wäre, auf ein zu dem der ersten
Zeile stimmendes aufrechtes Y zu raten ; das Nebeneinanderbestehen
beider Formen in einer Inschrift wird aber allerdings durch Järsberg
(Varnum) mit drei A gegen ein Y und By mit einem A gegen sechs
Y gewährleistet.
Der Auffassung Bugges: hiwigaR mask. Personenname mit a-Thema
im Nominativ S. 231, a,her pingtvinaR mask. Personenname mit i-Thema
im Genitiv wie der Genitiv des i-Stammes pulaR Snoldelev S. 234,
stimme ich vollinhaltlich zu, nur nicht der auch von Bugge in Zweifel
gezogenen Ansicht, daß die Flexion des Genitivs des mask. t-Stammes
urnord. *winiRj an. vinr: urnord. -winaRy an. t'inar eine Entlehnung
aus der a-Deklination , also vinar nach sunar, oder die der fem.
i-Stämme eine solche aus der ö-Deklination, also dstar nach giafar
wäre. Es ist mir sehr viel wahrscheinlicher, daß die nord. Genitiv-
endung der mask, und fem. t-Stämme einheitlich auf -aie zurück-
gehe, das beim got. Fem. anstais erhalten ist, während es bei den
Maskulinen -fadis z. B. durch die Flexion der ö»-Stämme ersetzt
wurde.
Für die Lesung des Anlautes ist der Bestand eines ahd. Namens
Dingwin a. 801 und 823, Dronke Cod. dipl. Fuld., sowie anderer
Composita mit diesem Elemente wie die deutschen Thinghraht, TJnn-
gold , ags. pingfriä^ aschwed. pingfastr^ pifigbj^m , pingulfr doch von
solchem Belange, daß wir sie der Lesung *IngwinaR vorziehen müssen,
die uns eine unerklärte Hasta zurückließe, sowie der Lesung ^Eng-
winaR, bei der man nicht begriffe, wieso hier der german. Regel
entgegen vor gedeckter Nasalis sich altes d* erhalten oder gar neues
^ für l hätte eintreten können. Mit Bugges letztem Vorschlage n
aber ist wohl am allerwenigsten etwas anzufangen, eine Doppel-
schreibung nicht gerechtfertigt und eine Deutung derselben als
Norges Indskrifter med de aeldre Runer. 113
Kürzung für ini, Bugge S. 539—541, weder graphisch glaublich noch
textlich ein Gewinn.
Dem Fehlen eines Themavokales in dem mutmaßlichen Namen
"^pingwinxR, das Bugge schon S. 234 beirrt, legt er auch an der
späteren Stelle ein viel zu großes Gewicht bei.
Eine Thema ^pinga- müßte man ja gar nicht fordern, da das
Wort nach Ausweis von langobard. thinx alter «-Stamm ist. Man
kann also auch das konsonantische Thema zugrunde legen. Aber
allerdings vermag man dem Kompositum *pingwiniR nicht mehr
anzusehen, ob in dasselbe konsonantisches ^ping- aus *pingR oder
vokalisches *pingu- aus *pinguH eingetreten ist.
Hinsichtlich des ersten Namens HiwigaR bin ich mit Bugge
S. 231 der Ansicht, daß derselbe wie deutsches Ödagj an. *Auäigr
im Ortsnamen Audigxstadir ein Adjektiv auf -ga sei % aber die Ab-
leitung betreifend möchte ich doch weder mit Bugge auf an. hy aus
*hiwa^ reflektieren, noch die Länge des Stammvokales für ausgemacht
halten. Ich möchte am liebsten das germ. ib-Neutrum got. hiwi
>|iöp(pü>otc, forma, species <, ags. hiw, hiow^ heo > species, figura, forma,
decus« zugrunde legen und urnord. hiwiguR, das man dann als
suffixale Parallele zu ags. hiwe > beautiful < betrachten kann, als
>formosus, pulcher< erklären. Der Name ist Beiname gleich dem
lateinischen Adjektiv etwa in der Kombination P. Claudius Pulcher
bei Livius und bedarf nach der kategorischen Seite hin keiner
weiteren Auseinandersetzungen.
Was den mittleren Komplex der Inschrift saralu angeht, möchte
ich dem älteren Bugge gegenüber dem jüngeren zum Rechte ver-
helfen.
Daß es gewagt und unsicher sei, sar als Adverbium >hier<, ahd.
gelängt sär >auf der Stelle, sofort«, zu nehmen, versichert uns Bugge
S. 540 selbst, wo er die Erklärung von S. 232—233 sar alu >hier
der Schutz, das Schutzzeichen < verläßt und einem Kompositum
*sär-alu aus *sa%ra'alu das Wort redet.*) Aber im Jahre 1871 hat
Bugge, wie er Note 3 zu S. 231—232 mitteilt, den ganzen Komplex
für einen weiblichen Personennamen gehalten und bemüht sich nun
an dieser Stelle seine alte, meiner Ueberzeugung nach ganz richtige
Beurteilung aus den Aarbegern, der auch Wimmer, Die Runenschrift
215, beigetreten ist, zurückzuweisen, da eine weibliche Nebenform
1) Ebenso sa wilagaR Lindholm.
2) Die im Zusammenhange damit vorgeschlagene neue Erklärung des Ein-
ganges *hiv>-ig (GjdRj das ist Präteritum hiu mit enklitischem Pronomen »ich
hiebe und * OdR als Personenname an. Geirr ist meiner Ansicht nach ein Rück-
schritt gegenüber der früheren.
114 QM. gel Anz. 1906. Nr. 2.
ZU an. 8frli:*8artdo lauten müßte und eine anf -d, nicht -du,
gebildete Form, die an. *Sfrfd oder *Sprl wäre, weder nachgewiesen
noch etymologisch erklärt werden könne.
Nun kann man bereitwillig zugeben, daß der Mangel eines ent-
sprechenden an. Frauennamens ein bedauerlicher Ausfall sei, aber ein
Beweis gegen die Existenz eines umord. Fem. Sardlu ist dieser
Entgang doch keineswegs und die Voraussetzung Scurcdu könne nur
als Z-Deminutivum, wie eben S^rli, ahd. Saralo, Sarelo, nach got. ma-
gula, matüilOy barnilo konstruiert werden, ist durchaus unzutreffend.
Wir konstatieren ja im germ. Namenschatze auch eine Gruppe
von adjektivischen Bildungen auf l wie Thancal, Wg. Trad. Corb. 9,
Tancolj Mur. 1692, 2: ags. pancol, panctd; Idalus, Pol. Irm. 8, Idala
ebenda 8, Idela Pol. R.: ahd. Ual >uanus, inanis«; Hwadoi St. 6.
a. 799 wohl: ahd. wadal >egenus, pauper< und dazu gehört schon
got. Amol bei Jordanes.
Der Auslaut dieser Maskulina erweist uns das u von Saralu als
umord. Flexion eines germ. d-Themas und die Bedeutung eines Adj.
wie ahd. worfai »uerbosus< , oder eines Personennamens wie Pieala
Meichelbeck 11: bie >mor8us<, also >niordax< führt gleich den
got. Vertretern dieser Kategorie slahals^ slahuls >zum Schlagen
geneigt«: slahs, sakuls > streitsüchtig« : ahd. sahha, weitiuls >irApotvoc« :
wein auf den Begriff der > Geneigtheit zu etwas«.
Es ist ja selbstverständlich nicht gut ^möglich noch einen Schritt
weiter gehen und die genaue appellativische Qualität des im urnord.
Nomen gelegenen Adjectivs feststellen zu wollen. Die reiche Be-
deutungsentfaltung des Wortes searu im ags., zu dem bei Bosworth-
ToUer 15 lateinische Glossierungen angegeben sind, muß zur Vorsicht,
wenn nicht zur Enthaltung mahnen, immerhin könnte man von diesen
etwa >ars, dolus, insidiae« hervorheben, falls die Bedeutung auf
geistigem Gebiete gesucht werden soll. Aber auch der gewöhnliche
auf Waffen und Rüstung gehende Inhalt des germ. Wortes kann als
Basis eines entsprechenden Adjektivs und im weiteren eines walkü-
rischen Frauennamens sehr wohl in Verwendung gezogen werden.
Die «(^-Synkope in Saralu für *Saru;alu kann aus der analogen
Erscheinung im ahd. wureala gegen ags. wyrtwahi erläutert werden,
nur daß sie eben älteren Datums wäre.
Die syntaktische Verknüpfung der drei Namen ergibt sich mir aus
der Annahme, daß sarala nicht Nominativ sondern Dativ sei. Ich kon-
statiere demnach zwischen UiunijaR Sarala dasselbe Widmungsverhältnis,
das aus Heida n KHnimu(n)äiu Tjurkö bekannt ist und zwischen Sarala
fiingwinan dieselbe patronymische Beziehung, die in A(n)sugJsa1as
Muha Kragehul angenommen wird, d. h. UiicigaR ist der überlebende
Norges Indskrifter med de »Idre Rtiner. 115
Stifter des Grabmales, Sardu die Bestattete nnd ^pingwiniR ihr
Vater. Das Vorhandensein von Perlen unter den Beigaben des
Grabes wird für die Annahme, daß eine Frau in demselben zur Ruhe
gebettet sei, nicht bedeutungslos sein. Das mutmaßliche nähere
Verhältnis des Dedikanten zur Beerdigten kann als das des Sohnes
zur Mutter oder des Gatten zur Gattin aufgefaßt werden. Bugge
S. 235 setzt den Stein an das Ende 6. Jahrhunderts. Ebenso Noreen,
An. Gramm. P, S. 347, »gegen 600«, etwas später um 625 Wimmer,
Die Runenschrift S. 304.
Die Sprache der bisher behandelten Denkmäler ist im wesent-
lichen gleichartig und gewährt den ältesten Typus des Urnordischen.
Das gilt nicht mehr für die Inschrift von By, Bugge Nr. 6 , die ich
deshalb gesondert bespreche, wiewohl sie ihrem textlichen Charakter
nach bei der ersten Gruppe, der ausführlicheren Grabinschriften,
unterzubringen gewesen wäre.
Der Stein von By, eine Granitplatte von 1.68m Länge, Im
Breite und 0.24m Dicke, von dem eine Notiz in der hsl. >6eskri-
velse angaaende Eger, Modum og Sigdals Sorenskriveriesdistrict«
von G. Falch aus dem Jahre 1744 berichtet, daß er früher auf einem
Erdhügel lag, trägt am vom Beschauer rechten Ende der einen
langen Schmalseite eine am untern Rande von links nach rechts
laufende Inschrift, die mit einer kurzen zweiten auf der ersten un-
gefähr senkrechten Zeile am rechten Rande dieser Seite abschließt.
Bugges Lesung auf Grund des Originales, vgl. den Papier-
abdruck S. 93, ergibt mit Benutzung sowohl der Zeichnung Falchs,
als auch einer solchen von Haslef aus dem Jahre 1810 den ge-
sicherten Text: eirilaB hroBaa EroBea orte pat aalna . . . | rmps.
Nach amna bis zur Ecke ist noch Platz für etwa neun Runen,
deren Spuren die Lesung utalaia mit folgendem aus Haslefs Zeich-
nung herübergenommenen da zu ergeben scheinen. Zwischen u und
t glaubt Bugge noch den oberen Bogen eines B zu erkennen und
für das letzte u, das ein umgewendetes ist, nimmt er S. 108 Ligatur
mit B :ub, doch bu zu lesen, an, S. 198 aber nach neuerlicher mit
Rygh angestellter Untersuchung eine solche von u + f, textlich : fu.
Die aufsteigende Kurzzeile, deren letzte Rune ^ Bugge, dem
mutmaßlichen Lautwert e Rechnung tragend , mit b transliteriert, ist
zwischen zwei parallelen Linien eingeschlossen.
Die ersten drei Worte des gesicherten Textes deutet Bugge
S. 97 ff. als Kombination von Titel eirüaR , sonst erüaR , Personen-
namen HröRQR, zu dem Adj. ags. hrorj as. hrör^ nhd. in Hihrig und
Patronymikon HröR^R mit Endsilbe -^r aus älterem -Tä, das seiner-
seits gleich got. -eis in hairdeis, Kontraktion aus -j^ ist.
116 Gott. gol. Anz. 1906. Nr. 2.
Dasselbe patronymiscbe Suffix, das dem kelt. und griech. -toc
entspricht, findet sich in HaeruwulafiR Istaby, schon von Lyngby und
Wimmer in diesem Sinne erklärt. Das Verhältnis der älteren Endung
'U zur jüngeren -^r sei dasselbe von älterem an. hiräir zu späterem
hiräer.
Bugge findet es wahrscheinlich , und ' man wird ihm darin zu-
stimmen, daß der Umlaut von an. hrepe, obwohl in der Schrift nicht
kenntlich gemacht, doch in der Aussprache von HröneR vorhanden
gewesen sein müsse.
Die S. 100 mitgeteilten an. Beispiele von Gleichnamigkeit des
Vaters und Sohnes, auch in patronymischen Kombinationen bezeugt,
beseitigen jedes Bedenken hinsichtlich der von Bugge gegebenen
Auslegung.
Das Verhältnis von urnord. erilaR zu an. jarl, an. eorl, as. erl
deutet Bugge S. 100 f. als ein solches von Doubletten mit und ohne
Suffixvokal und findet bei dieser Gelegenheit, der Bogen ist 1892
gedruckt, die einzig richtige Erklärung des got. Frauennamens bei
Jordanes Erelteua als wulf. "^Airilagiha,
Da zu diesen Doubletten auch der alte Volksname Herüli gehört,
der nach meiner Meinung eine Latinisierung mit Einwirkung von
hi^rtis, also auf deminutives h^rülus umgedeutet ist, wirft sich für
Bugge die Frage auf, ob nicht erilüR hier wie in anderen Fällen ur-
nordischer Inschriften als Volksname zu verstehen sei. S. 101 ent-
scheidet er sich noch für den Standestitel, aber S. 530—531 ist ihm
der als Personenname verwandte Volksname wahrscheinlicher ge-
worden.
Eine an orte > fecit < geknüpfte Betrachtung über urnord. w im
Anlaute vor dunklem Vokal führt Bugge S. 103 zu dem Ergebnis,
daß der Abfall des w in die Mitte des 7. Jahrhunderts, der auch die
Inschrift von By angehöre (S. 115)^), zu verlegen sei.
Das Objekt zum Verbum pat amna bietet die auch im finn.
arina bewahrte urnord. Entsprechung zu an. arttin, nur mit dem
Unterschiede, daß dieses Maskulinum ist, jenes aber Nentrum
sein muß.
Die Bedeutung des an., isl. Wortes ist >Heerd< aber auch
»Erhöhung, Bühne, Gestell«, die des finn. auch >Klippe< im Meere.
Innerhalb dieser Bedeutungen, zu denen noch »Fußboden, Tenne«
und > Altäre kommt, halten sich auch aschwed. cerinj ahd. erin^
mhd. eren, ern m. und n.
Für den vorliegenden Fall hege ich keinen Zweifel, daß aRina
1) In weiteren Grenzen 7. Jahrhundert, Noreen, An. Qramm. P, S. 835.
Norgcs Indskrifter med de seldre Runer. 117
nicht (lie flache Steinplatte bezeichne, sondern den Erdhügel, der
über dem Grab errichtet war. Ich übersetze das Wort mit > tumulus«
und betrachte es für diese Auffassung als irrelevant, ob die Platte
schon ursprünglich außen auf dem Hügel lag, oder wie Bugge S. 116
vermutet, innerhalb desselben die Grabkammer deckte.
Daß alaiuf\ um auf den unsicheren Teil des Textes zu kommen,
gelesen *ala%fu, ein Obliquus, Akkusativ nach Bugge S. 108, jenes
Frauennamens sei , der im historischen Altnordisch Älof oder Ölof
lautet und ein umord. *Anulaihu, so besser nach Noreen, An. Gramm.
P S. 77 Anm. , voraussetzt , ist einleuchtend und die Erklärung des
f an Stelle eines erwarteten h bei Bugge S. 109 plausibel.
Zweifelhaft aber glaube ich ist Bugges Gleichung seiner Lesung
übt oder upt mit dem häufigen uft der jüngeren nordischen Inschriften,
worin das u eine Aussprache 0 deckt. Da es sehr möglich ist, daß
überhaupt nur ut ohne ein drittes Zeichen dazwischen auf dem Steine
gestanden hat, möchte ich befürworten, an das bekannte Adverbium
üt zu denken und es zu dem vorhergehenden Verbum orte ... ü^ zu
beziehen. Eine Verbindung *üt yrhia oder *yr1cia üt wie schwed.
utßra, dän. udfere, mhd. üzwürken, üzrihten, üzarheiten scheint ja
möglich; wir hätten sie als >perficere< oder genauer als >exstruere<
zu verstehen.
Für das hinter dem Personennamen stehende dR gewährt Bugge
die Auflösung *dohfun, wobei nur zu bedenken wäre, ob nicht in
demselben Texte, der orte für älteres ^tvarfUe bietet, eher *dottttR
oder mit Verinfachung *dotuB erwartet werden solle.
Beide aber, den Personennamen und die Apposition hierzu, nehme
ich als Dative und glaube, daß auch in diesem Sinne die von Bugge
S. 113 metrisch gegliederten Zeilen: EirilaR HröRaR \ HröReR orte \\
/ IL
pat aRina üt \ Alaifu dötuR weder grammatisch noch metrisch irgend
einen Einwand erfahren können.
Die vier Runen der Kurzzeile am Ende sind offenbar die Anfangs-
buchstaben einer gekürzten, formelhaften Phrase. Bugge vermutet
S. 111 *runoR markide Pqr shaR d. i. >litteras scripsit has...« mit
folgendem Personennamen im Nominativ. Ich möchte nur bemerken,
daß, nachdem HröRUR . . . orte in dritter Person eingeführt ist, der
Runenschreiber eher in erster Person sprechend gedacht werden muß,
wonach *markiäo auszufüllen wäre, sowie daß mir die proklitische
Form des Demonstrativpronomens von Einang pan hier nicht an-
gebracht scheint. Das Pronomen wäre hier seiner Stellung nach
betont zu denken, wie in rufiAB paiAR Istaby, an. peer, und es ist
nicht ausgemacht, daß diese betonte Form ungefähr gleichzeitig mit
der Form von Istaby auch "^päR gelautet haben kSmie.
118 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Den Namen, der sich hinter der iA-Rune birgt und der ja wohl
mit der umord. Form des Namens dieser: *ehaR oder *lÄaÄ, Bugge
S. 111, identisch ist, findet Bugge auch in der Inschrift des Brak-
teaten von Aasum Ehe oder ihe ik akaa fahl, ehe bei Noreen, An.
Gramm. P S. 347. Die Wortstellung vergleicht Bugge 112 mit
jüngerem kund kiarßi ßatsi kitil slaJca aus Lilj. R. U. 895.
Das Verbnm merkja ist aus jüngeren nord. Inschriften bekannt,
ags. Beow. heißt es allerdings park runstafas mearcian.
Viel weniger glücklich, glaube ich, ist der Vorschlag, den Bugge
S. 531 macht, den Komplex dn rmps nach der Inschrift von Opedal
in *dohtaR rowe minu par ine zu ergänzen. Ich kann in demselben,
der stilistisch weitaus schwächer ist, der die metrische Anordnung
des vorhergehenden Textes aufhöbe und mit der dritten Person des
Verbums orte >fecitc, nicht orta »feci«, kaum vereinbar wäre, einen
Fortschritt gegenüber dem vorher gegebenen keinesfalls erblicken.
Gleichfalls um 650, doch wohl noch etwas nach diesem Zeit-
punkte ^) , setzt Bugge S. 339 die Inschrift von Myklebostad B , die
er unter Nr. 27 behandelt.
Der Stein, ein Obelisk aus Hornblendegneis, ist 1.50 m hoch, an
der Basis 0.45 m, am Kopfende 0.20 m breit und 0.11— 0.14 m dick.
Es ist vermutlich derselbe Stein, über dessen Auffindung im Jahre
1852 sich Pfarrer Kraft in einem 1857 geschriebenen Briefe äußert.
Nach den Mitteilungen Krafts und Bendixens vom Jahre 1870, sowie
nach seiner Form zu schließen, muß man annehmen, daß der Stein
früher, bevor er zum Treppenstein degradiert wurde, unter freiem
Himmel errichtet war, so daß die Inschrift, siehe die Abbildung
S. 318, sich von unten nach aufwärts erstreckte. Diese Inschrift,
die mit rechtsgewendeten Runen ungefähr die Mittellinie des Steines
entlang läuft, besonders dargestellt S. 330, transliteriert und ergänzt
Bugge S. 337 : writea aiha{>row[B] a[f]ti[B]. oramalaib[a] und deutet
*tvrUeB als 3. sing, praes., an. ritr > schreibt <, *AihupröwR als Nom.
eines mask. Personennamens, dessen erster Teil got. aiwi- in ahd.
eo- : Eopirin, Eoperht, Ediup gelegen sei, dessen zweiter zu hu.pröasky
ags. prowian gehörig in den an. Namen prör und Duraprör vor-
komme, *aßiR als Präposition »nach« und *Oru^ndla%ba als Akkusativ
eines nord. mit dem Elemente von Ormr^ Ormarr, Ornihüdr, ags.
Wyrmhere, ahd. Wurmhari im ersten und 4aibaR im zweiten Teile
gebildeten Namens.
Wie unsicher die Lesung sei, zeigen die Unterpungierungen und
Einklammerungen in Bugges voranstehender Transliterierung. Seine
1) S. 338 auf 675—700 emgeengt.
Korges Indskrifter med de spldre Runer. 119
Deutung allerdings gibt einen einfachen und gerundeten Sinn, hu
ist nach Bugge S. 337 eine Ligatur mit linksgewendetem m, das r
in prow(R) ein solches ohne Hauptstab wie in der zum Röck-Typus
gehörigen Inschrift von Gursten, Runverser S. 361.
Noch jünger, um 725, ist nach Bugges Bestimmung S. 295 die
Inschrift des Steines von Terviken B, die Wimmer, Die Runenschrift
S. 304 in den Anfang des Zeitraumes von 600(625)— 675 verlegt.
Der Stein, Bugge Nr. 21, ist 1883 in derselben Grabkammer
gefunden, aus der der später zu behandelnde Stein A stammt, wo
er einen Teil der seitlichen Ausmauerung bildete. Die Platte aus
Glimmerschiefer hat eine Länge von 2.70 m, eine Breite von 0.68 m
und ist 0.09 m dick.
Die Inschrift, besonders dargestellt S. 285, dazu S. 287 und 293,
läuft am Steine in der horizontalen Mittellinie etwas einwärts vom
rechten Rande beginnend von rechts nach links und wurde früher
pieprodwengk oder . . . wlngk transliteriert , so Bugge noch S. 223
im Jahre 1894. Neuerdings hat Bugge am Beginne und am Ende
dieser in kräftigen Runen geschriebenen Zeile noch feiner geritzte
Zeichen entdeckt, die er mit der deutlicheren Hauptinschrift textlich
verbindet. Zugleich interpretiert er aber auch diese, an deren Buch-
staben eine ganze Reihe von accessorischen Seitenhasten an den
Fußenden wie an den Köpfen auffallen, anders und glaubt, S. 294,
eine versifizierte Fassung. *J;ji/ pinne päR runö \ ond, Twmtteng! 'k hiö^
das wäre >Ini! für Meine Seele diese Runen, des Twenna Sohn! habe ich
gehauen«, vorschlagen zu können, die S. 556 fif. wieder modifiziert wird.
Die Sache ist so zweifelhaft, daß Noreen diese Inschrift, obwohl
sie ersichtlich in den älteren Runen verfaßt ist, in seine Sammlung
der wichtigsten umord. Inschriften, An. Gramm. P, überhaupt gar
nicht mehr aufgenommen hat.
Daß wir es bei den zehn runischen Gebilden derselben zum Teil
mit komplizierten Ligaturen zu tun haben, scheint ja klar, in welcher
Weise aber z. B. ein Gebilde wie tl, das die graphischen Figuren
von l, e und t enthält, gelesen werden soll und welche Bedeutung
den schiefen Aufstrichen an den Hastenfüßen zukomme, das scheint
mir noch völlig ungelöst. Die Inschrift kann also nicht wegen ihres
Inhaltes, der unbekannt ist, sondern nur wegen ihrer Fundstätte der
Gruppe der wortreicheren Grabinschriften angereiht werden.
Textlich schlösse sich hieran noch die Inschrift des Steines von
Gimso, Bugge Nr. 33, eines Granitobelisken von 1.70 m Länge,
0.40 m unterer und 0.22 m oberer Breite, 0.53 zu 0.27 m nach oben-
hin abnehmender Dicke.
Pie Inschrift des Steines, von Bugge mit einem erstaunlichen
120 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Aufwand von Sehkraft und Scharfsinn aus einer arg mitgenommenen
Fläche herausgelesen, ist in jüngeren Runen verfaßt und wird S. 411
um das Jahr 825 datiert. Bugge hat sie in die Sammlung der
älteren Inschriften aufgenommen, weil, wie er S. 384 mitteilt, einzelne
Runenformen derselben Beziehungen zum älteren Alphabete auf-
weisen. Ich gehe auf dieselbe nicht des weiteren ein.
Bei allen bisher behandelten Denkmälern war die Beziehung auf
einen bestatteten Toten entweder in unzweideutigen Ausdrücken aus-
gesprochen, oder doch aus der syntaktischen Verbindung blosser
Personennamen zu erschließen.
Es gibt aber eine kleine Gruppe von Grabinschriften, die weder
den Toten nennt, noch ein auf die Denkmalserrichtung bezügliches
Sachwort enthält, sondern sich lediglich mit der Angabe des >titulum
fecic begnügt.
Das klassische Beispiel hierfür ist die Inschrift des Steines von
Einang, Bugge Nr. 5. Dieser seit 1871 bekannter gewordene, 1.47 m
hohe, 1.5 m breite und 0.13— 0.18 m dicke Stein aus grobem Schiefer
ist nach Bugges Bericht S. 75 der einzige norwegische Runenstein
aus der älteren Eisenzeit, der noch heute auf dem Grabhügel steht,
auf dem er ursprünglich errichtet wurde.
Die Inschriftzeile desselben, 0.66 m lang, läuft mit linksgewendeten
Runen von oben nach unten, ungefähr der Mittellinie der oberen
Flächenhälfte entsprechend.
Der Stein ist von brüchiger Beschaffenheit und die Möglichkeit
nicht ganz abzuweisen, daß ein Teil der Inschrift im Laufe der Zeit
abgebröckelt sei.
Daß die dastehende Zeile überhaupt eine Zeit von 1200 Jahren
— nach Bugge S. 88 und 445 vielmehr IV2 Jahrtausenden — über-
dauert habe, erklärt Rygh, bei Bugge S. 76 , aus der Annahme, daß
der Stein bald nach seiner Aufrichtung mit der Inschriftseite zur
Erde gewendet umgefallen und erst in neuerer Zeit wieder auf-
gestellt worden sei.
Die eine Zeile, abgebildet S. 73 und 78, transliteriert und teilt
Bugge: dagaB paa runo faihido und erklärt Dagan als mask.
Personennamen entsprechend der historischen an. Namensform Dagr^
püR rüno als Akkusativ plur. wie an. Jker rünar und faihido als
1. Person sing, praeteriti gleich an. fdda >ich schrieb«.
Dem Demonstrativpronomen J5aÄ möchte Bugge lang ä zuerkennen,
das in der historischen an. Form pwr durch Einfluß des folgenden
R zu d umgelautet sei ; doch sei es sehr unsicher, das Verhältnis der
nord. Form zu got. ßös zu bestimmen. Ich sehe von der historischen
Form pch ab, deren wohl diphthongische Vorstufe aber doch sicher-
Norges Indskrifter med de seldre Raner. 121
lieh in dem PaIar yon Istaby gegeben ist, indem ich die Form von
Einang als proklitische Abfärbung und Kürzung pän durch *pöR aus
*PöB gleich got. pös erkläre. Den üebergang eines aus etymologischem
ö stammenden ^ zu a in unbetonter Position habe ich auch in urnord.
idtäSa-y Tune, geltend gemacht. Und wie an dieser Stelle bin ich auch
hier geneigt neben betontem got. pös ein unbetontes '''^s zuzulassen
und möchte auch hier erinnern, daß man sich von dem Vorurteile
emanzipiere, die gotischen Langvokale seien auch überall und unter
allen Umständen lang zu sprechen und nicht vielmehr vielfach eine
Erscheinung des bloßen orthographischen Zwanges.
Gegen die Ansicht Wimmers, pan sei hier das Ortsadverbium
par, wendet Bugge mit Recht ein, daß dieses immer mit der reiä-
Rune, nicht mit der jfr-Rune geschrieben werde und daß sich die
scheinbar analogen Schreibungen mit r von aftcR >efter€ Tune und
uhüR >over< Järsberg (Vamum) nicht heranziehen ließen, da diese
Zweisilber ihr r der Angleichung an die Komparativformen mit r
aus e verdankten, die bei den einsilbigen Adverbien par, huar Rök,
Mar Kolunda nicht statt haben könne.
Der Erklärung Brätes von runo als lautgesetzlicher Akkusativ-
form pluralis mit -ö aus -ans, der auch Noreen unter Verweisung
auf aschwed.-run. runq, runa zustimmt, hält Bugge S. 82 den Nach-
weis des auslautenden r-(A-) Verlustes in run. hena, sunt, an. hennar,
synir entgegen, der sich ohne Schwierigkeit beispielsweise auch für
runa pasi, Lilj. R. U. 968, geltend machen läßt.
Aber Bugge zögert doch, dieselbe Annahme des gelegentlichen
22 -Verlustes, etwa als Sandhi- Erscheinung vor folgendem tonlosem /*,
auch für den Fall von Einang zu machen und scheint sich später
S. 288 , wo er mit Rücksicht auf runo . . . raginaJeudo des Steines
von Fyrunga (Noleby) seine Annahme eines bloß graphischen
Ausfalles zurückzieht, doch der Meinung Brätes zuzuneigen. S. 528
aber akzeptiert er die Erklärung Kocks, nach der der is -Verlust von
runo als dissimilatorischer Abfall auf Grund des anlautenden r be-
ansprucht wird.
Ich bin natürlich nicht in der Lage eine Endung -d als laut-
gesetzliche Entwicklung aus -an^ anzuerkennen, das bei Nasalverlust
ebenso zu -ör werden mußte, wie es die Flexion des Nominativs
pluralis -as geworden ist, bei 5 -Verlust aber das n der Flexion zu-
nächst bewahren mußte. Für die Erklärung des gelegentlichen
it-Abfalles in rüno ist meinem Verständnisse die Annahme einer
Sandhi-Erscheinung am zugänglichsten und wenn nicht alles täuscht
habe ich wohl einen ähnlichen Fall schon Z. f. d. A. 45, 134
in dem nordischen Volksnamen Bergio bei Jordanes nachgewiesen.
QWL f •!. Ani. 190e. Nr. 2. 9
122 Gott, gel Adz. 1906. Nr. 2.
Bugge S. 88 setzt die Inschrift zwischen 400 und 450, Wimmer,
Die Runenschrift S. 303, zwischen 500 und 550, Noreen, An. Gramm.
P, S. 336, ins 4. Jahrhundert.
Zur Gruppe der Grabschriften ohne Namen des Toten rechne
ich, nicht im Einklänge mit den nordischen Gelehrten, wie ich
vorausschicken mu£, auch die Inschrift von Reistad, Bugge Nr. 14.
Der 1857 oder 1858 aus der Erde gepflügte Stein, Hornblende-
granit, 0.65m hoch, 0.60m breit, 0.22m dick, stammt nach Bugge
S. 224 aus dem Innern eines Grabhügels. Er trägt in drei parallelen,
von links nach rechts die Breitseite querüberlaufenden Zeilen die
Inschrift inpingas | Ik wakraB : unnam | wraita.
Umord. tvraita identifiziert Bugge S. 222 mit dem ahd. Mask.
reiß >linea, nota<, an. reitr >Ritz, Furche <, in den älteren an. Hand-
schriften als ti-Stamm, in den jüngeren als a-Stamm flektiert.
Da wraüa AJdcusativ sing, ist, kann man nicht ersehen, ob dieses
zu uoritan gehörige Nomen acti wie staina^ Tune, Maskulinum oder
gleich Maiwa, B0, ßcU aninaf By, Neutrum sei; die Gemeinsamkeit
des an. und ahd. Genus aber wird uns berechtigen ein umord. Mask.
*toraüa& anzusetzen.
unnam assimiliert aus "^undnam ist wegen ik erste Sing, praet.,
die Phrase *wraita undniman offenbar nur in den Wörtern, nicht im
Sinne von *rünoB wurkjan Tune oder *mnoB faihjan Einang unter-
schieden.
In lupingas erblickt Bugge S. 222 den Namen des Bestatteten,
während WakraR der des Verfertigers der Inschrift wäre.^)
Ich beziehe beide Namen auf eine Person und betrachte
lupingas ik Wakran als eine Kombination wie UlewagastiR HoUif^an
Gallehus, oder ähnlich HronaR Storcr By, HipuwulafR HAeruwulafiR
Istaby, HaäulaikaR ek hagustaäaR Kjolevig, ErilaR sa wilagaR Lind-
holm , FrawaradüR anahdha Möjebro , Hariuha . . . fauauisa Seeland
und andere.
Insbesondere halte ich lußingaR für den Volksnamen röm.-germ.
luthungi, auch in matres Suebae Euthungae^ als Personenname in
bair. Eodunc, ledunc fortgepflanzt, und WakraR für den eigentlichen
Namen an. Fotr, ahd.TfocÄar, Bugge S. 221, der aber allerdings auch
kein Voll-, sondern nur ein Beiname ist. In anderer Formulierung
könnte lupingaR Hauptname und WakraR Beiname sein, aber
HoÜingaR Gallehus verstehe ich als geographischen Stammnamen und
so mag es sich wohl auch in unserm Falle verhalten, in welchem
1) Auch diese Deutung stöfit Bugge S. 541 ff. um und wül daselbst den ein-
eitenden Komplex in *{h)iu pin GdR »diesen (Stein) hieb GäBc zerlegen. Ich
kann nicht finden, daft diese spätere Auffassung der früheren vorzuziehen w&re.
Norges Indskrifter med de seldre Raner. 123
Falle dann WaktuR durch das zwischengesetzte ik als eigentlicher
Name hervorgehoben wäre.
Der Stein wird von Bugge S. 224 auf das Ende des 6. Jahr-
hunderts datiert — ebenso von Noreen, An. Gramm. I*, S. 341, gegen
600 — von Wimmer, Die Runenschrift S. 304, in den Beginn des
Zeitabschnittes 600(625) — 675 verlegt. Der Text scheint metrisch
zu sein : lupingaR ik WäkraR \ unnam wrdita.
Der dritte Repräsentant dieser Gruppe gehört einer jüngeren
Zeit an. Es ist das der Stein von Vatn, Bugge Nr. 29, der 1871 aus
einem eröfheten GrabhUgel gehoben wurde. Der Stein, blaugrauer
Tonschiefer, ist 0.81m lang, 0.36m breit, 0.04 bis 0.05m dick.
Die Buchstaben laufen an dem auf die eine Langseite gelegten Steine
von links nach rechts.
Das erste, schon länger bekannte, in weiter spatiierten Buch-
staben und kräftiger eingehauene Wort der Inschrift, das die mittleren
zwei Viertel des Feldes beherrscht, ist der Personenname rhoaltB,
an. Hröaidr, das zweite von Bugge nach einer Untersuchung vom
Jahre 1898 dazu gewonnene Wort , auf der photographischen Nach-
bildung S. 355 hinsichtlich der beiden ersten Runen ziemlich deut-
lich, scheint '^'fala zu sem.
Die Inschrift wird von Bugge S. 362 zwischen 725 und 750 an-
gesetzt, von Wimmer, Die Runenschrift S. 304, um 725, allgemeiner
von Noreen, An. Gramm. P, S. 346 : 8. Jahrhundert.
Orthographisch beachtenswert ist die verkehrte Schreibung rh
für Ar, das Nebeneinanderbestehen der zwei 6kRunen: Y im Namen
und ^ im Verbum, die Bezeichnung des d-Lautes nach jüngerer
Weise durch die ^Rune, deren oberes Dach in der Inschrift übrigens
nicht erhalten ist, sondern ergänzt wird, die jüngere Form der
ii-Rune A statt älterem Y» sowie die Funktion der i-Rune für j im
Verbum.
Ist dasselbe richtig gelesen, so werden wir es wohl als *fä-iu
verstehen und könnten mit Bugge glaulien, daß (^ hier für den
langen Vokal, ^ aber den herrschenden Anschauungen von der
Abkunft dieses Zeichens aus der alten järorBxme entgegen für den
kurzen gebraucht sei, eine Unterscheidung, die, wie Bugge S. 360
bemerkt, in kemer andern Inschrift begegnete.
Aber die Sache kann auch anders sein. Der gleiche Name ist
auf dem Sterne von Snoldelev im Genitiv rolialta, das ist *Hr6alds
geschrieben, worin das h nicht mit Wimmer, Die Runenschrift S. 339,
als verkehrte Schreibung gleich rhaaUk, das ist *HraulfR Helnsßs,
rhafkmka, das ist *Erafnunga Laeborg, oder in unserm Namen von
Vatn zu fassen ist, sondern zweifellos als intervokalisches Hiatus-/»,
9*
124 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
anders gesagt als graphischer Ausdruck des mit Spiritus lenis ein-
setzenden Silbenanlautes &,
Erinnern wir uns nun, daß die Rune Y im jüngeren nordischen
Fupark das alphabetische Zeichen für h ist, das aber in etwas älteren
Inschriften auch a bedeuten kann, so werden wir den Namen des
Yatner Steines vielleicht mit rhohalta , das ist *HröäldR transliterieren
und den Unterschied beider Zeichen der Inschrift nicht in Kürze
und Länge, sondern in Aspiration und Nichtaspiration begründet
finden dürfen.
Ungewöhnlich in dem kleinen Texte ist das Präsens faiu >ich
schreibe«, wofür wir sonst regelmäßig das Präteritum »schrieb« an-
treffen.
Eine weitere Gruppe der nordischen Grabinschriften bilden jene,
bei denen der Text sich auf einen bloßen Personennamen beschränkt.
Der Name kann im Nominativ oder im Genitiv stehen. Der Genitiv
mag sich aus der bereits abgehandelten Gruppe erklären, wo er, ein
possessivischer, mit dem Nominativ eines auf die Beisetzung zielenden
Sachwortes verknüpft ist. Der Nominativ erläutert sich aus den nur
^inen Namen tragenden Gerätinschriften, insoferne dieser den Namen
des Besitzers darstellt. In ganz ähnlicher Anschauung kann auch
der Bestattete als Eigner des Ruheplatzes angesehen werden.
Hierher gehört zunächst der Stein von Terviken A, Bugge Nr. 20,
Quarzschiefer von vierkantiger Form, 2.34 m hoch, 0.70 m breit,
0.08 m dick, der 1880 in einer Grabkammer aufgefunden wurde, nach
Bugges Vermutung aber, bevor er in die Kammer vermauert wurde,
einmal unter freiem Himmel errichtet war.
Die Inschrift läuft an dem in situm gebrachten Stein, S. 279,
mit linksgewendeten Runen im unteren Drittel der Mittellinie von
oben nach unten und bietet transliteriert die Lesung ladawar^aB.
Von der Rune Y am Ende ist nur das rechte Seitendetail er-
halten, hinter dem der Stein abgebrochen ist, doch ist die Lesung
derselben keinem Zweifel unterworfen. Ueber den Runen a und tc,
genau auf die beiden Hastenköpfe orientiert, steht ein etwas kleineres
u A) dessen Bedeutung Bugge als dunkel bezeichnet. Die drittletzte
Rune des Namens liest Bugge S. 280 nicht ; sondern ng, trennt den
Komplex in *La(n)da WarinyaR und erklärt denselben als Namen
mehr einem Patronymikon auf inga-^ beide im ahd. als Lanto und
Warinc belegbar. Von diesem Gesichtspunkte aus würde man das
übergesetzte u mit Wimmer, Die Runenschrift S. 166—167 als
Trennungszeichen erklären müssen.
Aber übergeschriebene Buchstaben sind doch sonst, d. h. in Hand-
schriften^ nicht Trennungszeichen, sondern Nachträge oder Korrekturen,
Norges Indskrifter med de aeldre Raner. 125
wofür auch bei den Buneninschriften Beispiele nicht völlig entgehen.'
So ist z. B. das g in der ags. Inschrift des Steines von Hartlepool :
Mid — dlfyp, Victor, Die northumbr. Bunensteine, Tafel IV, Fig. 11,
offenbar ein orthographischer Nachtrag\ nach dessen Analogie man
annehmen müßte, der Bunenmeister von Torviken A habe statt ein-
fachem 10 eine Schreibung uw herstellen wollen, also eine Schreibung,
die z. B. auch Beow. 58 in guäreouto : u + M?-Bune, begegnet und an
die Darstellung des germ, w bei lateinischen Autoren des späteren
Altertums mit üb auch ouu und ou erinnert.
In der Tat ist auch das nachgetragene X des Frauennamens von
Hartlepool mit seinen Fußenden genau so auf die Hastenköpfe des
I und 1^ orientiert, wie das bei dem A von Torviken A der Fall ist.
Falls man also Bedenken trüge eine angestrebte Korrektur von
lada- zu ladu- anzuerkennen, würde man sich zu einer Trans-
literierung ladauwnr^aB entschließen müssen.
Meiner schon früher verteidigten Lesung der drittletzten Bune
als j hat sich Noreen, An. Gramm. P, S. 345, angeschlossen und den ^inen
Namen, indem er d, wie in dem Dativ Kunimudiu von Tjurkö, als ortho-
graphische Darstellung für nä nimmt, mit dem deutschen Lantwari
von St. P., Landoarius der Libri confrat., dem westfränk. Landoerus
des Pol. B. identifiziert. Das o der beiden letzteren Belege ist, wie die
vollere Form Lafidouuarius MG. Dipl. 1, 74 lehrt, der durch folgendes
w dunkler gefärbte Themavokal a , nicht orthographische Vertretung
des w\ es wäre daher nicht ungereimt auch im urnord. Namen an
eine analoge Verdunklung von a zu u zu denken. Jedesfalls aber
haben wir es nur mit Einern Personennamen zu tun, dessen zweiter
Teil den röm.-germ. Volksnamen auf -uarii entspricht und der in
toto mit dem ags. Appellativum landwaru >the people of a country,
country« zusammenhängt und sich in appellativischer Hinsicht von
dem bahuvrihischen ahd. gelando nicht unterscheidet.
Da der Stein, den Bugge S. 283 ins 6. Jahrhundert setzt (ebenso
Noreen, An. Gramm. P, S. 345; aber enger begrenzt in die zweite
Hälfte des 6. Jahrhunders, Wimmer, Die Bunenschrift S. 303), hinter
dem Namen abgebrochen ist, so ist es streng genommen nicht sicher,
daß nur der eine Name ursprünglich dagestanden habe, doch glaubt
Bugge S. 280 nicht annehmen zu sollen, daß außer diesem noch
weiterer Text vorhanden war.
Aehnliche Zweifel kann man auch in betreff des Steines von
Myklebostad A, Bugge Nr. 26, hegen, eines vierkantigen 0.79m
langen, 0.445 m breiten und 0.12 m dicken Blockes aus stark schief e-
richtem Hornblendegneis, der, an beiden Enden abgebrochen, 1888
aus der Erde gegraben wurde.
126 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Die Inschrift läuft mit rechtsgewendeten Runen an dem in die
wahrscheinliche ursprüngliche Stellung gebrachten Steine (Bugge
S. 525), der vermutlich einmal unter freiem Himmel errichtet war
und derselbe Stein sein kann, dessen Pfarrer Kraft in seinem Briefe
vom Jahre 1857 nach dem Hörensagen gedenkt (Bugge S. 327), von
unten nach aufwärts. Sie erstreckt sich im linken Felde der oberen
Hälfte des Steines, etwas über der Mitte beginnend bis zum Rande,
wo sie mit einer aufrechten Hasta ohne Seitendetail abbricht. Ihre
Transliterierung ergibt die Lesung asngas//!; an der durch zwei
Striche markierten Stelle steht ein von Bugge nach Rygh als
Trennungszeichen gefaßtes Gebilde, das man als ein oben und unten
mit einem Querstriche geschlossenes schräges Kreuz beschreiben
kann. Dasselbe ist etwas kleiner als die Runen der Inschrift und
zur langen Mittellinie symmetrisch orientiert, d. h. es schwebt über
der Grundlinie und erreicht nicht die obere Zeilengrenze. Unmittel-
bar am Bruche zeigt das Original noch eine etwas unterhalb der
Mittelhöhe der Buchstaben beginnende schräg nach links ansteigende
Vertiefung, die alt zu sein scheint und als Teil einer Rune angesehen,
dem unteren Aufstriche eines ^ entsprechen könnte. Bugge, der
diesen Schrägstrich schon S. 123 beschreibt und ihn daselbst von der
Basis der Runen ausgehen läßt, ist später, S. 326, nicht mehr geneigt
demselben literale Bedeutung beizumessen.
Bugge erklärt den Komplex asugas als Genitiveines aus *ansuR
pss mit gutturalem Suffixe abgeleiteten Personennamens *Ä(n)8ugaR
und vermutet in dem folgenden, durch das angebliche Trennungs-
zeichen geschiedenen i den Anfang eines nicht mehr ergänzbaren
Wortes, das entweder im Nominativ gedacht den Genitiv des Personen-
namens regiert, oder im Genitiv als Apposition zu diesem verstanden
werden dürfte.
S. 562 denkt Bugge an Ergänzung nach an. inni »Herberge< im
Sinne von > Grabesraum«.
Die vorausgesetzte Verwendung des Suffixes ga- zur Ableitung
eines Personennamens (aus einem persönlichen Begriffe!) bezeichnet
Bugge selbst als eine in logischer Hinsicht einzelstehende und durch
Analogien nicht gestützte, doch verweist er später, S. 562, auf das
von ihm für die Gjevedaler Inschrift erschlossene Adjektiv * ansog.
Es ist ohne Vergleichung des Originales nicht tunlich, die Ver-
mutung Bugges, daß der ansteigende Schrägstrich am Bruche keinerlei
literale Bedeutung habe, zu bekräftigen oder zu bezweifeln, noch aus
den beschreibenden Angaben möglich, ein genaues Bild über Lage,
Ausdehnung und Steilheit dieses Striches im Sinne der denkbaren
Seitenhasta eines Buchstaben zu gewinnen; ich sehe daher von
Norget Indskrifter med de seldre Runer. 127
demselben vollständig ab, indem ich vorschlage, das vermeintliche
Trennungszeichen als d zu lesen und zu dem hierdurch gewonnenen
Komplexe asngasdi hinter dem Bruche ein r zu ergänzen.
Daß das angenommene Trennungszeichen nicht die Zeilenhöhe
der benachbarten Hasten erreicht, sondern nur, wie Bugge sagt, die
Hälfte, wie mich aber die Abbildung S. 325 belehrt, doch nahezu
zwei Drittel dieser beträgt, namentlich , wenn man die untere Breite
des liegenden Zeichens abmißt und sich dieselbe als Höhe aufgestellt
denkt, könnte gegen seine literale Bewertung ebenso wenig geltend
gemacht werden, wie seine über der Grundlinie schwebende Stellung,
oder seine im Verhältnis zu einem gewöhnlichen (f : M uiii einen
rechten Winkel gedrehte Konfiguration Y. Nur ist in diesem Falle
die geringere Größe und Anordnung im Mittelraume der Zeile fakul-
tativ, während sie bei dem regulären k : 7 oder ng : o^ typisch ist,
ebenso fakultativ wie das wesentlich kleinere n : T ain Ende des
erhaltenen Teiles der Kamminschrift von Whitby, Stephens Hand-
book 118, das kleinere ; : T der Zwinge von Torsbjserg, Wimmer,
Die Runenschrift S. 147, das kleinere o : J der zweiten Nordendorfer
Inschrift , Photographie , das h:T des Kragehuler Lanzenschaftes,
Wimmer, Die Runenschrift S. 124, das zugleich ein Beispiel für die
auch bei Bugge S. 307 erwähnte Drehung der Ä;-Rune um einen
rechten Winkel darbietet, die ja bekanntlich in den späteren stab-
mäßigen Ausgestaltungen dieser Rune nordisch Y Forde und nord.
wie ags. JL ae. Münze des Brit. Mus. bei Wimmer, Die Runenschrift
S. 87, typisch geworden ist.
Da sich das angebliche kreuzförmige Trennungszeichen der In-
schrift von Möjebro, auf das sich Bugge S. 326 noch berufen konnte,
nunmehr als ein graphisch kleineres aber vollwertiges g erwiesen
hat, Noreen, An. Gramm. P, S. 340, wird die Wahrscheinlichkeit
literaler Geltung für den vorliegenden Fall wesentlich gesteigert.
Zur Schreibung des so gewonnenen maskul. Personennamens
*ÄfiugasdiR mit d statt t nach s — die Inschrift verlegt Bugge
S. 327 ins 6. Jahrhundert^) — können die ahd.-rheinfränk. Schreibungen
priesdciy gidrosda, dursdage, Braune, Ahd. Gramm., die Keronischen
munisdiures y kidursdlihho, Tcihrusdiy Kögel, Ueb. d. Keron. Glossar,
ebenso verglichen werden, wie die älteren ws. ^^ für st: fcesä, düsä^
watsdm, aärisärigany die Sievers, Ags. Gramm. § 196, verzeichnet,
oder die lateinischen Schreibungen Sexdius, Aufusdiae bei Schuchhardt,
DerVokalism. d. Vulgärlat. 1, 126.
Der Name, korrekt *AnsugasHR, reiht sich den umord. SaUgasÜR
1) Ebenso Noreen, An. Gramst P, S. 340.
128 Gott gel Anz. 1906. Nr. 2.
Berga, ElewagasÜR Gallehus den an. por-^ Heim-, Ood-, Noma-gestr,
den salfränk. SalegasHs, Bodogastis Lex Sal., den deutschen Etbegcat
Tit., von Tenemarke der künic Liudgast Nib. an, wobei insbesondere
die Bildungen mit Gottnamen im ersten Teile fur ihn lehrreich sein
werden.
Weiteren Text muß die Inschrift nicht notwendig enthalten
haben.
Der Stein von Bratsberg, Bugge Nr. 30, heute verschollen, wurde
1806 aus einem Grabe gehoben, in dem er als Teil der Decke des
Gewölbes diente.
Klüwer, >Norske Mindesmaerker« , beschreibt ihn als eine
V/2 Ellen lange und breite Granitplatte (Graustein!), aber seine bei
Bugge S. 364 reproduzierte Abbildung gibt nicht genau quadratische
Form, sondern zeigt ein allerdings nicht bedeutendes Ueberwiegen
der Breite.
Die Inschrift, fünf rechtsgewendete Bunen, erstreckt sich an
der oberen linken Ecke des Steines, knapp an der Längenkante be-
ginnend, parallel zum oberen Rande nach einwärts und war von
Klüwer, wie ein gleichfalls bei Bugge S. 364 reproduzierter, aus dem
Jahre 1806 stammender Abdruck der Runen, den M. F. Arendt
genommen hat, lehrt, ganz richtig palin gelesen. Bugge erklärt
S. 365 das Wort als mask. Personennamen im Nominativ, dessen
etymologische Erklärung zweifelhaft sei, da der Name sich sonst
nirgends nachweisen lasse. Die Endung könne ebensowohl die eines
i-Stammes -7/?, als auch die eines ia-Stammes, d. i. mit ursprünglicher
Länge -Tr sein, die Quantität des ä sei nicht ausgemacht und die
Liquida könne einfach sein, aber auch Geminata II darstellen. Am
plausibelsten dünkt Bugge, der die Inschrift ins 6. Jahrhundert ver-
legt^), ein Stamm * pallia- aus sn. poll > Föhre <, weitergebildet wie
an. pymir > Dornbüsche aus pom und gleich diesem sekundär ab-
geleiteten Maskulinum als Personenname verwandt.
Das hier gegebene Wort scheint mir aber doch als Bestandteil
germanischer Namen auch anderweitig vorzukommen; so vermutlich
in TaloarduSj var. Thaioardus dux Langobardorum zum Jahre 574
bei Fredegarius Chronicar. liber 3. MGH Scriptores rer. Merov. 2, 111,
sowie in dem zum Jahre 865 bei Fm. Nbch. P aus Hontheim historia
Trevir. nachgewiesenen Deminutivum Thidilo.
Dieses Element hat im longobardischen Namen dunkelvokalisches
Thema, weshalb die Endung im urnordischen Namen wohl tatsächlich
1) Ebenso Noreen, An. Gramm. P, S. 335 ; enger : zweite Hälfte des 6. Jahr-
hunderts, Wimmer, Die Ronenschrift S. 303.
Norges Indikriftar med de seldre Raner. 129
'U aus -iaR sein wird. Die außerordentlich regelmäßige Form der
rechteckigen Platte macht es wahrscheinlich, daß der Name komplet
dastehe, daß also keine dem p vorangehende Runen abgebrochen
seien.
Etwas jünger, nach Bugge S. 455, der ersten Hälfte des 7. Jahr-
hunderts angehörig, ist die Inschrift von Eidsvaag, Bugge Nr. 41,
entdeckt 1901.
Das Denkmal, ein Obelisk von dreieckigem Querschnitt aus fein-
körnigem granitartigem Gestein, 3.20m lang, 0.50m breit, 0.23m
dick, wurde innerhalb eines Steinkreises umgestürzt, fast vollständig
mit Erde bedeckt vorgefunden. Die Inschriftseite lag nach abwärts,
die Basis des Steines noch im Zentrum des Kreises, in dem er auf-
gerichtet war. Eohlenreste innerhalb desselben deuten auf ein
Brandgrab.
Die Inschrift, abgebildet S. 450 und 452, beginnt etwas oberhalb
des unteren Drittels und läuft in der Mittellinie von oben nach ab-
wärts. Sie enthält nur ^in Wort, transliteriert haoasaB, das Bugge
und Olsen S. 454 als ältere Form des an. Personennamens Hdvarr,
ahd. Hoger, aus *HauhagaimR durch eine Form *HaoJiaBaR vermittelt
erklären. Die Lautgruppe ao in HaoaROR sei als Langdiphthong So
anzusprechen, die Kürzung des zweiten Teiles *gaiRaR zu -arr finde
sich auch, Bugge und Olsen S. 455, in an. Hroarr, ags. Hrodgär,
in an. nafarr neben ahd. napakerj finn. napakaira^ der Ausfall des g
auch in ^uaiR Helnaes aus *AnugaiRaR.
Eine besondere Form zeigt die dritte Bune des Namens, be-
sonders abgebildet S. 453, das ist ein o : 5^, dessen Beine sich nicht
kreuzen, sondern sich nur dem Kreuzungspunkte nähern, um dann
nach beiden Seiten auseinanderzuweichen. Man kann dieses o, dessen
Form außerdem eine gerundete ist, als ein unten offenes bezeichnen.
Der graphische Vorgang bei der Bildung dieser besonderen Form
ist offenbar der, daß der quadratische oder rhombische Körper des
5^ abgerundet und zugleich das untere Ende des links absteigenden
Beines zum oberen des rechts absteigenden und umgekehrt geschlagen
wird. Das Zeichen ist dadurch der ersten Form des griech. o>, die
auf der Tafel zu S. 416 des Handb. der klass. Altertumswiss. Bd. 1
aus Kleinasien nachgewiesen wird: R, außerordentlich ähnlich geworden.
Noch jünger, nach Bugge und Olsen S. 435 zwischen 725 und
775 zu datieren, ist die Inschrift von Tveito, Nr. 37, auf einem 1896
in einem Grabhügel gefundenen Steine. Der unregelmäßige Block
aus blauem Steatit, 1.15 m lang, 0.50 bis 0.85 m breit, 0.35 bis 0.50 m
(abfallend bis zu O.Ol m) dick, trägt auf einer ebenen Bruchfläche die
rechtsgewendete Inschrift taita mit jüngerem a : ^ und r : i^, sowie
130 Qöti gel. Anz. 1906. Nr. 2.
mit doppelt konturiertem Dach des zweiten ^ : f , worin der an.
Personenname Teitr, ags. T(U, ahd. Zeie nicht zu verkennen ist.
Bemerkenswert ist der Umstand, daß in demselben Grabhügel nicht
nur Gegenstände aus der älteren Eisenzeit, etwa um 500 anzusetzen,
sondern auch Sachen aus der jüngeren Eisenzeit gefunden wurden.
Bugge und Olsen , S. 432 , halten dies für einen Zufall , ich glaube
aber, daß wir es hier mit einer Nachbestattung in einem alten
Grabe zu tun haben und daß demnach die Inschrift, die ja sicher
dem 8. Jahrhundert angehört, sich nicht auf den ursprünglichen
Eigner des Grabes, sondern auf den ein paar Jahrhunderte später
in demselben zur Ruhe Gebetteten beziehe.
Ein glänzendes Beispiel scharfsinniger Rekonstruktion ist das
der Lesung ""wadaradas aus den zwei höchst mangelhaften typo-
graphischen Nachbildungen der Inschrift des verschollenen Steines
von Saude (Bugge Nr. 10) in den beiden Ausgaben von Olai Wormii
Danica Literatura antiquissima, Hafniae, 1636 (S. 68) und 1651 (S. 66),
woselbst das Denkmal als »monumentum Söifuerense< bezeichnet ist.
Die Form, in der d wieder die Geltung nd hat, erklärt Bugge S. 184
als Genitiv eines Personennamens : urnord. * WandaradaR, der ja im
an. und aisl. als Vandrddr mehrfach bezeugt ist. Dieser Name ist
ein Pendant zu dem Frawaradan von Möjebro und scheint sich, mit
aisl. vandr Adj. >difficult, requiring pains and care< zusammengesetzt,
den apellativischen Bildungen aisl. Ülräär >wicked« (auch Beiname),
sowie kaldrddr »cunning« anzuschließen, demnach gleichfalls eigent-
lich ein Beiname zu sein.
Der Genitiv hängt, wie schon früher bemerkt, von einem ge-
dachten Sachworte ab, wozu sich aus jüngerer. Zeit die Inschrift von
Kallerup humbnra | staln . 8iill)k8, altdän. *Hornbora stceinn Swiäings,
Wimmer, Die Runenschrift S. 336 — 337, vergleicht.
Bugge setzt S. 185 die Inschrift des Steines von Saude, über
dessen Form und Fundumstände uns Worm keine Nachrichten über-
liefert hat , ins 6. Jahrhundert , woran sich Noreen , An. Gramm. P,
S. 341, fragend anschließt.
Die Analogie dieser Inschrift ist auch für den Obliquus kepan
des Steines von Beiland, Bugge Nr. 13, entscheidend.
Dieser Stein, ein Granitblock von 1.65m Länge, 0.95 m Breite
und 0.70 m Dicke, ist in der Literatur seit 1850 bekannt und hat
bis 1893 als Steg über einen Bach gedient. Aus seiner unregel-
mäßigen Form schließt Bugge, daß derselbe früher nicht unter freiem
Himmel errichtet gewesen sein wird, sondern, wie auch Wimmer,
Die Runenschrift S. 301, glaubt, im Innern eines Grabhügels ange-
bracht war.
Norges Indskrifter med de sBldre Rnier. 131
Die Inschrift des Steines, kepan, abgebildet S. 211 und 212,
läuft in einer zu den Langseiten parallelen Zeile nahe dem linken
Rande, nach der Orientierung S. 211 etwas vor der Mitte beginnend
von links nach rechts. Beachtenswert ist an ihr das ä; : < , das wie
bei der Freilaubersheimer Spange die volle Hastenhöhe der übrigen
Buchstaben erreicht.
Der maskul. Personenname Kepa ist allerdings einzelstehend.
Bugge erinnert, indem er das e als kurzes nimmt, an den späteren
run. Frauennamen Kipa^ Lilj. R. U. 668, literarisch im 14. Jahr-
hundert Kie^ KycB, S. 538 aber an den norweg. Ortsnamen i Kiada-
hivrghi (heute Kjaherg), dessen erster Teil der Genitiv eines Personen-
namens zu sein scheint.
Wimmer, Die Runenschrift S. 303, hatte die Inschrift in die
zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts verlegt, wogegen Bugge S. 215
nichts wesentliches einwendet. Noreen, An. Gramm. P, S. 354, setzt
sie fragend gegen 600 an.
S. 214 erklärt Bugge — mit Rücksicht auf das gleiche Verhalten
der Genitive sing, von mask. n-Stämmen und der Akkusative plur.
von ^-Stämmen : umord. -an, an. hana^ got. hanins und umord. ^-an^
an. daga, got. cUiganSy vorgerm. -öns, ferner mit Hinblick auf die
Verschiedenheit der an. Flexion hana und daga von der Nominativ-
bildung an. pjoäann^ umord. *peudanaR — die Genitivflexion der
mask. n-Stänmie nicht aus Grundformen -efios oder -ewes, sondern
aus -ns. Das umord. -n des Genitivs Kepan geht nach seiner Ansicht
durch -ttir auf -ns zurück.
Es ist aber meines Erachtens doch sehr die Frage, ob die
umord. Genitivendung -an überhaupt eine lautgesetzliche Entwicklung
aus einer Form mit auslautendem $ sei und nicht vielmehr als
grammatischer Ausgleich nach den anderen Obliquen singularis an-
gesehen werden müsse.
Zu diesen einzelnen Namen im Genitiv füge ich mit entsprechencfem
Vorbehalt die Inschrift des Steines von Tanem, Bugge Nr. 31.
Der Block aus Tonglimmerschiefer, nach 0. Ryghs Beschreibung
39" lang, 28^" breit und 6" dick, wurde 1813 in einem Grabhügel
vorgefunden und, nachdem er einige Zeit verschollen war, 1864
wieder zustande gebracht.
Die Inschrift besteht aus ^inem Worte, dessen Buchstaben, zwischen
parallele Horizontallinien eingeschlossen, von links nach rechts ge-
ordnet sind.
Elüwer, der 1823 in Norske Mindesmserker eine Abbildung mit-
teilte (reproduziert bei Bugge S. 368), las manri/// und diese Lesung
182 GOti gel. Ans. 1906. Nr. 2.
ist als ältere Feststellung von Wert, da die erste Rune heute so
stark abgeschliffen ist, daß man das innere Kreuz des M nicht mehr
wahrzunehmen vermag.
Die phototypische Abbildung bei Bugge S. 369 zeigt im ganzen
neun vertikale Hasten, von denen die letzte, im stumpfen Winkel
nach einwärts gebrochen, der Umrandung angehören kann, doch so,
daß die Inschrift ohne vorderen Randstrich mit der ersten Hasta
des m begänne. Bugge liest die Inschrift S. 371 mälrie, Wimmer,
Die Runenschrift S. 170, woselbst gleichfalls eine Nachbildung gegeben
ist, hatte malrlB transliteriert und Noreen, An. Gramm. P, S. 344,
bietet nudrlB r, d. h. nur der letztere hat außer den sieben voran-
stehenden Hasten auch die achte und neunte als literale Bestandteile
interpretiert. Die Lesungen scheiden sich also nach den, auch auf
der Abbildung Bugges S. 369 ziemlich sicher erkennbaren Runen
airl bei dem sechsten Zeichen, das seinem Aussehen nach an ein
einstabiges, abgerundetes und oben geschlossenes, jünger nordisches
m : 9 erinnert — über das Vorkommen dieser Form siehe : Wimmer,
Die Runenschrift S. 204 — , formell aber allerdings auch als ein ab-
gerundetes Y mit der älteren Geltung, das ist r, aufgefaßt werden
könnte, wie das ja Wimmer, der dabei an das mask. Z-Deminutivum
mrla der Etelhemer Spange denkt, a. a. 0. tatsächlich getan hat.
Dagegen wendet Bugge ein, daß ein derartiges i^-Zeichen kein
zweites Mal begegne und daß bei einer Ableitung mit Suffix -üaRy
wie in an. Mcevüly das i vor l nicht synkopiert worden wäre. Das
ist ja gewiß richtig, aber auch ein runisches e von der hier be-
haupteten Form, das man doch wohl nicht aus dem späteren punk-
tierten e:\ ableiten dürfte, kommt kein zweites Mal vor, während
allerdings die «-Synkope in einem nach Bugges Aufstellung aus
älterem *Marila hervorgegangenen *Mcerle nicht beanstandet werden
könnte.
Ich möchte deshalb hier auf die einbeinigen ags. o -Formen,
alphabetisch eäd\ die Variante ^ im cod. Gott. Galba A 2 und das
(B des Themsemessers ^, verweisen, die es möglich erscheinen lassen,
das fragliche Zeichen von Tanem als o zu lesen. Zwischen diesem
Zeichen und dem glaublich abschließenden Rahmenstriche findet sich
eine gleichfalls in der Mittelhöhe etwas nach einwärts geknickte
Hasta, an der man, nach dem Bilde bei Bugge, den Querstrich eines
n : f zu erkennen glaubt.
Wir gewinnen demnach eine Lesung mairio, oder eher mairloii,
das ist einen Obliquus, einen Genitiv, der auf älterem ^Märüön
beruht und in dem die Gruppe ai wohl ebenso, wie in den von
Bugge herangezogenen Beispielen, den Umlaut ^ bezeichnet. Dem-
Korges Indskrifter med de seldre Eaner. 13S
nach hätten wir es nicht mit einem maskulinen, sondern einem
weiblichen Personennamen als Pendant zum got. Merüa der Neapler
Urkunde zu tun.
Die ersten fünf Hasten, vgl. Bugge S. 369, reichen bis zur
unteren Randlinie, die letzten drei, beziehungsweise vier, scheinen
an der Mittellinie des Zeilenraumes zu endigen ; nicht so in Wimmers
Holzschnitt, der auch die Hasten vom l angefangen nach rechts bis
zur unteren Randlinie herabführt.
Täuscht Bugges Abbildung nicht und sind die Hasten nicht
bloß abgeschliffsn, so könnte man an das Fujmrk von Maeshowe, ab-
gebildet bei Wimmer, Die Runenschrift S. 237, erinnern, wo gleich-
falls die fünf ersten Buchstaben, nach abwärts verlängert, die
doppelte Höhe der folgenden besitzen. Aber auch, wenn die vier
letzten Hasten der Tanemer Inschrift nur abgeschliffen wären und
der dann weitaus zu hoch gesetzte, angenommene Querstrich des
glaublichen n sich als zufällige Verletzung erwiese, würde man die
Ergänzung der vorletzten Hasta zu einem n nicht notwendig auf-
geben müssen, da dann das entscheidende Detail mit der unteren
Hälfte der Hasta verschwunden sein könnte.
Eine Gruppe für sich bilden die Felswandinschriften, von denen
es nicht ganz klar ist, welchem Antriebe sie entspringen und welchem
Zwecke sie dienen. Die dritte jüngere der hier zu besprechenden
ist allerdings nach Bugges Deutung eine Gedächtnisinschrift nach
einem Toten, aber leider ist gerade sie nicht in allen Teilen sicher
und aus dem Texte der beiden älteren ergibt sich nichts charak-
teristisches für diese Zweckbestimmung.
Die Inschrift von Valsfjorden (Bugge Nr. 28) ist in eine Fels-
wand (gestreifter Granit von mittlerem Korn) über dem Fjord, mit
der untersten Rune 20' über dem höchsten Wasserstand beginnend,
angebracht. Sie wurde von dem Besitzer des Grundes Daniel Oksvold
entdeckt, der hiervon 1872 K. Rygh Mitteilung machte. Die Inschrift
läuft in vertikaler Zeile mit linksgewendeten Runen von unten nach
oben. Die Länge der Zeile beträgt 1.30 m. Die Lesung der
25 Runen ergibt den Text: ek hagastaldln |>ewaB godagas.
Darin ist peuaR gleich got. pius als Appellativum zu verstehen,
das die Art des Dienstverhältnisses der ersten Person zur zweiten
definiert.
Den Genitiv Chdagas hält Bugge S. 348 für den eines zusammen-
gezogenen Namens *GödagaE aus älterem *CrödadagaB, dem ags.
Godasg oder Goddoeg entsprechend. Den dissimilatorischen Ausfall
des einen da vergleicht er mit lat. semodius ans semimodius und
verwirft nunmehr die von ihm selbst früher aufgestellte Möglichkeit,
184 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
den Namen *GodagaR als adjektivische agra-Erweiterung aus einfachem
*göda' zu erklären. Den Auslaut -ir des ersten Namens HagustaldiR
findet Bugge S. 347 mit Rücksicht auf das thematische a von
hagustadaR Ejelevig (Strand), sowie des Appellativums as. hagastoldos,
ags. hcegstealdas, got. aglaitgastcUdans auffallend. Aber S. 563 erklärt
er die Form von YalsJ^orden nach Haeruundafir von Istaby als eine
patronymische.
Hinsichtlich der Zeit meint Bugge S. 349 , die Inschrift gehöre
ins 6. Jahrhundert, könne aber allesfalls auch noch etwas älter sein.
In die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts hatte sie auch Wimmer, Die
Runenschrift S. 303, verlegt, in den Anfang desselben Jahrhunderts
setzt sie Noreen, An. Gramm. P, S. 346.
Neben dieser Hauptzeile hat Krefting 1873 eine zweite entdeckt
— siehe die Abbildungen S. 344 und 350 — , die an der linken
Seite etwas vor dem Anfange dieser beginnt und im Zwischenräume
des t und a derselben endigt. Die Runen dieser Inschrift stehen
von denen der Hauptzeile abgewendet und sind von links nach rechts
zu lesen.
Bugge glaubt den Bestand dieser sehr undeutlichen Zeile nach
einer Photographie mit Reserve als ek iilI>eaB feststellen zu können,
nach seiner Meinung den Namen WolpufewaR des Torsbjserger Be-
schlages in einer jüngeren Form enthaltend.
Diese zweite Zeile ist nach Bugges Ansicht zu Ende des 7. Jahr-
hunderts geschrieben.
In ganz analoger Weise verhält sich die 11' bis 12' über dem
höchsten Wasserstande des Romsdalsfjords in gewachsenen Fels ge-
hauene Inschrift von Veblungsnes, Bugge Nr. 25.
Die Inschrift ist seit langer Zeit bekannt, die älteste handschrift-
liche Aufzeichnung datiert aus dem Jahre ca. 1700; sie läuft in
horizontaler Zeile von links nach rechts und ist mit einer aufrechten
Hasta abgeschlossen. Bugge gewährt S. 320 eine treffliche Abbildung
nach einem 1895 vom Archivar Koren genommenen auf Gips über-
tragenen Abdruck in Lehmplatten.
Der Text, transliteriert eirilae wiwila|, besteht aus dem be-
kannten Standestitel, den Bugge aber neuerdings, S. 530, als Volks-
namen faßt, mehr einem mask. Personennamen, der ersichtlich ein
Z-Deminutivum zu dem Namen WiwaR von Tune ist. Die Schreibung
des Standestitels mit ei für e und die Form der Rune e : M nüt Ver-
längerung des linken Striches am Innendetail bis zur rechten Hasta
hat diese Inschrift mit der von By gemeinsam. Bugge datiert die
Inschrift um die Mitte des 7. Jahrhunderts, Wimmer, Die Runen-
Korges Indskrifter med de seldre Runer. 135
Schrift S. 303, verlegt sie in die zweite Hälfte desselben, Noreen,
An. Gr. S. 346, ins 7. Jahrhundert.
Bugge glaubt, daß dßr in der Inschrift genannte Witoila auch der
Verfertiger derselben sei, der sich in ihr verewigt habe.
Ich glaube aber, die Möglichkeit , daß die Inschrift einen Toten
nenne, ist nicht auszuschließen. Nur würde es sich hier, nach der
Art ihrer Anbringung zu urteilen, um einen im Meere Umgekommenen
oder etwa auch im Meere Bestatteten handeln.
Ja auch die Inschrift von Valsfjorden könnte in diesem Sinne
verstanden werden, wobei natürlich der sprechende Hagustaldis der
Dedikant sein müßte, aber *GödagaK der Tote, dem die Gedächtnis-
zeile gilt.
Zu diesen beiden alten Inschriften kommt die wesentlich jüngere,
von Bugge S. 382 um 750 datierte Felswandinschrift von Hämmeren
(Nr. 32), eine horizontale Zeile, 1.83m über dem am Fjorde sich
hinziehenden Weg, die 1897 von dem vorüberfahrenden Kapitän
Herdal entdeckt wurde. Von den sieben Runen der Zeile (siehe die
Abbildung S. 374) sind 1—4 linksgewendet, 5—7 rechtsgewendet.
Vor der siebenten, um einen Platz ausgerückt, findet sich außerdem
in oberer Zeile ein linksgewendetes runisches JT-artiges Gebilde mit
bogenförmigen Seitenhasten, die übrigens nicht in einem Punkte die
aufrechte Hasta berühren, sondern eine kleine Distanz zwischen sich
lassen. Bugge interpretiert dieses Zeichen als Bindung zweier
u-Runen. Die Zeile ist transliteriert if lapf 1> wobei das erste Zeichen
< >
1^ von Bugge zunächst als i transliteriert wird. Bugge liest, indem
er das ligierte als uu gedeutete Gebilde auf den Anfang und das
Ende der Zeile verteilt, S. 381 *ulfpalfiu und löst diesen Komplex
in *UlfE fääa Alfiu auf, übersetzt: >(ich) ülfr schrieb (diese Runen)
für Elfr<, mit dem an. Frauennamen Elfr an zweiter Stelle.
Das war wenig überzeugend; aber S. 565 schlägt Bugge, da ihm
die Verteilung der übergeschriebenen Binderune bedenklich geworden
t I I
ist, die Lesung üalfI)alfB vor, die er als TJlfi fdpi Älfe oder Alfi mit
dem Mannsnamen Älfr an zweiter Stelle erklärt; dem Inhalte nach
also eine zweifellose Gedächtnisinschrift nach einem Verstorbenen.
Diese Deutung, die zwischen den linksgewendeten und den
rechtsgewendeten Stock der Zeile eine Wortgrenze verlegt, befriedigt
weitaus mehr, obwohl auch bei ihr noch die Sonderbarkeit in Kauf
genommen werden muß, daß die beiden ersten Worte gegen die
Schriftrichtung der Buchstaben, also zurückgelesen werden müssen,
was doch bei der Inschrift von Odemotland, auf die Bugge S. 569 ver-
weist, nicht der Fall ist, und die Härte, daß das erste f haplographisch
136 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 2.
funktionierte, trotzdem es, nach Bugges Auflösung mit folgendem -t,
das erste Wort nicht schließt. Dagegen scheint mir das ausgerückte
und übergeschriebene auch größere uu nicht mehr so überraschend,
wenn auch in Runeninschriften vereinzelt, es wird nach Art der
Initialen in Handschriften zu beurteilen sein. Ich möchte, um dem
f seine haplographische Stellung zu sichern, vorschlagen nicht *<Mc//i
sondern iSüf zu lesen und in dieser B-losen Form des Personennamens
an. Ulfr^ ahd. Uulf Lacombl. a 820, FW/* St. P. einen Vokativ er-
blicken, der an Stelle des Nominativs getreten ist.
Dasselbe gälte dann auch von dem Personennamen in der von
Bugge S. 566 ff. hierzu verglichenen Inschrift von Konghell, getrennt
transliteriert: mk tp kfiokffof, ausgefüllt *mik fapi Kuukuuf und
ich meine, daß man die beiden Formen ütdf und tmf zwar aller-
dings zu verbinden habe, 'doch auf einer anderen Basis als Bugge
S. 568 tut.^) (iuf{R) für *uulf{B) scheint mir dieselbe 2- Assimilation
an f zu enthalten, die im ahd. Uuoffo, Wofo, Offo, TJffo, Ädälof^
Ädalufus^ Erlof, Erlub, Erluffo neben Erlulf, anlautend Ofheri und
Ofmar, Beispiele aus Libri confrat. und Wg. trad. Corb., sowie aus
dem ags. Wuffa, üffa, Ufa, Offa, Yffe bekannt ist.
Daß diese Umbildung nicht bloß bei vokalischer Deckung, sondern
auch im reinen Auslaute eintreten konnte, beweisen die FÜle Ädalaf,
mhd. appellativisch gellof >levir« zu gelle swf. >Eebse<, doch ist es
für das Nordische sehr wohl möglich, daß die Entwicklung von uuf
schon auf der zweisilbigen Stufe *uufaR aus *uulfaR erfolgte.
Dieser Auffassung scheint, da die Dehnung des Vokales in Mfr
doch sehr viel später eintrat (Noreen, An. Gramm. P, S. 119, 3), die
angenommene Länge des Vokales hinderlich, die ja auch Bugge S. 568
veranlaßt hat nach einem anderen Etymon mit ü suchen.
Aber die Binderune uu muß nicht als a, sie könnte auch als uü
interpretiert werden, so daß man *wulf und *umf zu lesen berechtigt
wäre. Das wären dann allerdings Formen, die sich dem gleichzeitigen
«^-Schwund vor dunklem Vokal entzogen hätten; bei einem Namen
keineswegs unerhört, da im Namenmaterial aller germ. Dialekte altes
und neues, gewissenhaft konserviertes und rücksichtslos umgebildetes
beisammen liegt. Auch im ersten Teile des Namens von Konghell
Kuuk^f den wir als sekundäre Namendeterminierung und nicht
gleich den mhd. Bildungen ginolf »Narr«, triegolf >Betrüger< als
Ableitung verstehen werden, könnte mit Rücksicht auf ags. cwucu
neben cucu^ an. kuik{k)r die Lautgeltung u>ü verteitigt werden. Doch
1) Modern norweg. dial hergulv neben schwed. berguf »Steinenle« zu an. üfr
iit dodi zweifellos eine späte Umformung.
Norges Indskrifter med de seldre Raner. 137
scheint diese Bewertung des Zeichens für das ganz gleichgebildete
der Inschrift von Odemotland nicht möglich und die Annahme einer
besonderen alphabetischen Ligatur fiir die Lautverbindung wu in
keinerlei Bedürfiiis begründet.
Ich glaube demnach die Sache am einfachsten so zu lösen, daß
ich die Binderune uu als neues Zeichen für den Laut w erkläre —
die alte Rune hierfür p fehlt in der Odemotlander Inschrift! — das
nach Analogie des handschriftlichen german. uu der mittelalterlichen
Orthographie gebildet ist und gleich der Rune P auch vokalisch,
das ist für ä gebraucht werden konnte. Demnach ergibt sich Ulf
für Hämmeren und Kük-Üf für Konghell, wobei der erste Teil in
der Tat nach Bugges Vorschlag mit an. kükr und dem Beinamen in
Äslakr Kükr gleichgesetzt werden kann.
Von den Steininschriften habe ich noch die von Elgesem, Bugge
Nr. 7, zu besprechen, die einzige, die ein alleinstehendes Sachwort
enthält, das um so mehr interessiert, als es gleichfalls allein oder in
Verbindung mit Personennamen auch auf Bracteaten erscheint.
Die viereckige, aber oben nach Art unserer Grenzsteine ab-
gerundete 1.72m lange, 0.90m breite, 0.18m dicke Granitplatte
wurde 1870 am Abhang eines Grabhügels unter dem Rasen auf-
gefunden; unter Umständen der Lagerung, die darauf schließen
lassen, daß der Stein niemals aufgestellt war, sondern sich von
vornherein in der liegenden Position befand, in Mer er entdeckt
wurde.
In der Mittellinie des Steines, nahe dem abgerundeten Ende
steht in linksgewendeten Runen von oben nach abwärts zu lesen das
Wort alu.
Die Gegenstände, auf denen dieses Wort sonst noch vorkommt,
zählt Bugge S. 161 ff. auf; ich ergänze die Aufzählung in einzelnen
Stücken :
I. alu ohne weiteren Beisatz auf den Bracteaten von Slangerup,
Stephens Nr. 15; von Dietmarschen, Stephens Nr. 16, Henning
Nr. XV; von Gotland, Stephens Nr. 88; wozu noch der Bracteat
von Bjornerud, Bugge S. 428 ff., konunt.
II. In Verbindung nüt anderen Wörtern:
1. laukaa | aln, Bracteat von Skrydstrup, Stephens Nr. 18,
Noreen, An. Gramm. P, S. 342.
2. Mit einem getrennt geschriebenen Komplexe hag verbunden,
Bracteat von Ölst, Stephens Nr. 68.
3. nlnJU. aln, Bracteat von Darum I, Noreen, An. Gramm. P,
S. 332.
09%%, c»L Au. 190«. Nr. 2. 10
138 Gfött gel Anz. 1906. Nr. 2.
4. Ronisches Monogramm mehr aln, Ring von Körlin, Henning
Nr. XI.
5. Beingeräte von Lindholm aln am Schlüsse einer zweizeiligen
Inschrift, Stephens I, S. 219.
6. lapa lau^aB • gaa£iui aln, Bracteat aus Schonen, Stephens
Nr. 19; Noreen, An. Gramm. P, 8. 341.
Dazu kommen nach Bugges Meinung noch die Inschrift salu
saln, Bracteat von Sellinge, Stephens Nr. 20, die zweite Zeile
der Aarstader Steininschrift saralu, der kleine Stein von Kinneved
mit Bhuüah, Stephens 3, 21; und das Wort aluko auf dem
Senkstein von Forde.
Aber dieser Bestand vermindert sich, denn S. 314 hat Bugge
die Zugehörigkeit des letzteren Wortes zu alu selbst aufgegeben, die
des Personennamens Saralu habe ich im vorhergehenden beseitigt und
das doppelt gesetzte Wort scUu des Bracteaten von Sellinge entferne
ich sofort, indem ich es mit dem ahd. stf. sala >traditio, delegatioc,
auch im Kompositum salaman, an. solumaär >person til hvem en har
solgt noget< Fritzner aus Gul. 267 identifiziere. Es erübrigt nur
siiuduh von Kinneved, immerhin eine achtenswerte Stütze für Bugges
Ansicht, daß alu neutrale Nebenform zum got. konsonant. Fem. alhs
>i6pöv, vaö<;< sei, das in northumbr. Personennamen als aluch' er-
scheint und mit griech. aXex- , £Xxap u. s. w. zusammengehöre , aber
keineswegs ein zwingender Beweis.
Die Bewahrung des auslautenden h in der Form von Kinneved
wird ja als Analogiebildung nach den gedeckten Obliquen Nom. *(üu^
Gen. *aluhs in einwandfreier Weise erklärt and die Bedeutung
>Schutz« nach ags. ealgian >defendere< in zulässiger Art entwickelt;
aber das sind bloße grammatische Möglichkeiten, aus denen doch nicht
hervorgeht, wieso ein im Got. >Tempel< bedeutendes Wort im Urnord.
hätte > Schutze bezeichnen können und die vor allem die Inschrift
von Kinneved so dunkel lassen wie zuvor. S. 428 kommt Bugge
noch einmal auf die Sache zurück und sagt, daß alu nicht, wie ich
vorgeschlagen habe, >Gedeihenc bedeuten könne, weil an. ala gleich
lat. aiere > nähren« sei.
Ich bin gerne bereit anzuerkennen, daß intransitives >Gedeihen<
sich mit transitivem an. ala >ernähren<, insbesondere auch »Kinder
aufziehen« nicht wohl reimen lasse, aber allerdings hatte ich gedacht,
daß dem got. alan in 2. Tim. 2, 17 >voii.i]v l/siv« ein intransitiver
Wert beizumessen sei, der von »crescere« nicht allzuweit abläge.
Mich stört in meinem Vorschlage doch etwas ganz anderes,
nämlich, daß das Wort nicht nur auf Gegenständen, die man mit
Norges Indskrifter med de seldre Raner. 189
einem Wunsche schenken kann, sondern auch auf einem Steine vor-
kommt, der ersichtlich mit einem Grabhügel in Verbindung stand.
Da scheint ja wohl >incrementum< wenig zu passen und »Schutz«,
etwa vor Zerstörung und Entweihung, viel eher am Platze zu sein.
Wenn wir aber zur Inschrift von Skydstrup die der Bracteaten von
Darum 11 Frohila . liipn und Fünen Horaa | lapu {...), Noreen,
An. Gramm. I^ S. 336 , 337, vergleichen und berücksichtigen , daß
auf dem Bracteaten von Schonen beide Sachwörter nebst zwei
Personennamen vorkommen, so werden wir uns der Einsicht nicht
entziehen können, daß lapu und alu nicht nur analoge Formen seien,
sondern auch verwandte Bedeutung haben müssen. Nun ist laßu
die umord. Form zu an. loa »Einladung«, bjoäa . . . loa >einladen<,
ladar ßurfi >der Einladung bedürftige und kann als Bracteatinschrifb
doch wohl nur so verstanden werden, daß die Münze als ein zu
Gelegenheit einer Einladung oder im Sinne einer solchen gegebenes
Geschenk betrachtet wird. Was man kulturgeschichtlich darunter zu
verstehen habe, dürfte kaum zweifelhaft sein; es ist wohl die Ladung
zu einer Festlichkeit, oder im allgemeinen ein Zeichen des Will-
kommenseins, der angebotenen Gastfreundschaft, und dann ist der
damit verbundene Personenname auf jenen Mann zu beziehen, von
dem die freundliche Gesinnung ausgeht.
Das wird um so klarer, als wir neben lapu einmal auch die
Form lapodu finden, die ersichtlich das Verbalabstraktum got. *lapodu8
zu lapon, gebildet wie gabaurjopus^ enthält Bugge (S. 173 Note 1)
wollte die Bracteatinschchiift (Stephens Nr. 27) tawol | a^du aller-
dings als Zahlwort *twö mehr einer ersten Dualis praeteriti des
Yerbums aufklären, das ist aber aus mehr als ^inem Grunde nicht
wahrscheinlich. Da nun lapoäu nicht Nominativ ist, der *lapoäuR
lauten müßte, sondern ein Obliquus, so wird auch lapu ein Obliquus
sein, und ich denke, es sei am schicklichsten, ihn als instrumentalen
Dativ *lapa zu fassen, so daß sein Sinn etwa »cum invitatione< oder
>invitationis causa< bestimmt werden kann. Dasselbe gilt auch für
* lapodu, wobei ich wegen der nicht monophthongischen Dativflexion
-tu von Tjurkö auf die got. Dative mit -a neben den paradigmatischen
auf -au verweise. Tawo aber müßte man für einen fem. Personen-
namen halten, nicht unmöglich, da das Calendar. Merseburgense zum
Jul. einen Frauennamen Zawa verzeichnet, Meichelbeck hist. Fris.
ein Mask. Zawuni gewährt.
Im Einklänge damit wird das doppelte * salü von Seilinge >tra-
ditionis, delegationis causae die Eigenschaft des > Geschenkes« defi-
nieren und * aiü vielleicht das Motiv. Ich bin nunmehr der Ansicht,
10*
140 Gott gel Anz. 1906. Nr. 2.
daß umord. alu die Grundlage des an., aisl. Adj. elslcr >liebend< sei,
das schon Kluge, Nom. Stammb. § 211, als germ. i^Xro- Ableitung an-
gesehen hat. Da germ, -iska wie lat. -ico wirkt, werden wir el-skr
»liebende zu *al' wie lat. am-fcus > freundlich gesinnt, geneigte zu
äm-o, äm-or in Parallele setzen und für das fem. umord. alu die
Bedeutung >amor« erschließen dürfen. In den Inschriften wird es
sich zumeist empfehlen nicht Nominativ sondern instrumentalen DaÜY
*alü anzunehmen, der demnach »ex amore< oder >amoris causae
übersetzt werden kann. Das stimmt fur die Bracteaten, das für den
Ring von Körlin, das ist schließlich auch auf einem Grabhügel als
Motiv der Errichtung in Ordnung. Die Bracteatinschrift von Magie-
mose Hojt lihek pAt diu (korr. aus a2Z), Noreen, An. Gramm. I^
S. 339, ergibt dann den gerundeten Sinn >. . . possideo hoc ex amore
(datum) <.
Die Inschrift von Elgesem verlegt Bugge S. 167 vielleicht noch
ins 6. Jahrhundert , Wimmer , Die Runenschrift S. 304 Note 1 , an
das Ende des Zeitabschnittes 550—700, Noreen, An. Gramm. P,
S. 336, fragend um 600.
Ich wende mich zur Besprechung der Gerätinschriften, Gegen-
stände aus Metall, Bein und Stein, die sich als Teile der Ausrüstung
und Gewandung, als Schmuck und als Werkzeuge des täglichen Ge-
brauches zur Körperpflege oder zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
präsentieren.
Zunächst sei das der älteren Eisenzeit angehörige Speerblatt
von Ovre Stabu, Bugge Nr. 34, besprochen, das um 1890 mit anderen
archäologisch auf das 4. Jahrhundert bestimmbaren Waffenresten in
einem Grabhügel gefunden wurde.
Das Eisenblatt, abgebildet S. 413 und 415, die Inschrift be-
sonders S. 416, zeigt gleich den beiden kontinentalen Speerblättern
von Kowel und Müncheberg eine einzeilige kurze Inschrift, für deren
Bewertung als bloßer Personenname die Analogie eben dieser von
Bedeutung ist.
Die Inschrift, im April 1900 vom Konservator Schetelig entdeckt,
läuft mit rechtsgewendeten, auf die Mittellinie des Blattes als Grund-
linie gestellten Runen von der Basis zur Spitze und ist von zwei
punktierten Einfassungslinien umgeben, die sich hinter der letzten
von Bugge und Olsen anerkannten Rune a zu schließen scheinen.
Die Hasten setzen sich aus kurzen, parallelen, gravierten Querstrichen
zusammen, die hier dichter zusammengedrängt sind, als bei den auf
gleiche Art hergestellten omamentalen Bandlinien des Speerblattes.
Ihre Höhe fällt von der ersten Rune zur letzten allmählich ab.
Norges Indskrifter med de seldre Runer. 141
Die Lesung Bugges and Olsens ergibt einen Komplex raniilfi^a
mit deutlicher n^-Raute, doch findet sich hinter dem Schluß-a und
dem bogenförmigen Vereinigungsteile der oberen und unteren Ein-
fassung nach den Worten des Textes S. 416 und der Abbildung
S. 415 noch 6ine kurze aufrechte Hasta mit der Schraffierungsdichte
der Runen, die, der Meinung der Verfasser entsprechend, zur Aus-
füllung des leeren Raumes dient. In Merks Zeichnung S. 416 stehen
zwei derartige Hasten hinter dem a und nach diesen ein deutlicher
punktierter Vereinigungsstrich der Einfassung, während der von
Bugge und Olsen S. 416 behauptete bogenförmige Zusammenschluß
hier kaum angedeutet ist.
Ich bin daher nicht darüber beruhigt, daß das Wort tatsächlich
mit dem a endigd, wenngleich mir die Abbildungen für eine Lesung
umord. Nom. -ür oder Gen. -a« keinen Anhalt gewähren.
Aber eine urnord. schwachformige Bildung eines patronymischen
oder geographischen Personennamens auf -Inga kann ich mit Hinblick
auf die HoltingoR Gallehus, lupingan Reistad, Birg(i)figgu Opedal
nicht zugeben und muß fordern, daß wenn nicht der Nom. *RauningaR,
so doch irgend ein Obliquus dieser zu erwartenden Form von der
Inschrift geboten werde.
Da ist es denn nicht unmöglich die beiden in Merks Zeichnung
hinter dem a folgenden aufrechten Hasten, sei es daß sie oben ver-
bunden waren oder auch nicht, als runisches e auszulegen und in
*Rauningae einen Widmungsdativ zu erblicken, dessen orthographische
Darstellung mit ae für e sich sowohl im Sinne der lateinischen, als
auch der älteren ags. Orthographie: getrenntes ae statt Ligatur ce,
erklären läßt. Auch das Verbum toraet >scripsi< oder >scripsit< der
Spange von Freilaubersheim bietet diese Schreibung, die ich freilich
in dem Falle einmal für diphthongisches ae = ai angesprochen habe.
Wäre die präsumptive e-Rune unverbunden zu denken, so böte
sie genau die Oestalt des latein. kursiven auch epigraphisch vor-
kommenden II, auf dem ja die c-Rune fl oder M beruht. Schlösse
das Wort aber wirklich mit dem a, so müßte ich annehmen, daß der
Dativ kein nordischer, sondern ein gotischer, also auch das Speerblatt
gotischer Herkunft sei.
Die Beispiele, deren sich die Verfasser bedienen, um den Bestand
schwachformiger urnord. tfi^a-Ableitungen zu erhärten, scheinen mir
nicht beweiskräftig. Für Müncheberg halte ich an der Lesung got.
Ranja, das ist etwa *Bahnja zu ahd. rahanen >spoliaric fest, ebenso
für Sk&äng und Vimose (Kamm) an einer solchen umord. Harija
und Harja, wobei hinsichtlich der ersten Schreibung allesfalls auch
142 Göti gel Anz. 1906. Nr. 2.
an die ahd. Zerdebnung Herige hämo nastr^ ^lesi^ de Engeragowe
vom Jahre 1079 , Dronke Cod. Fuld. N. 766 , erinnert werden kann,
ein Patronymikon *Ümnga aus der ersten Zeile der Vier Spange zu
gewinnen bin icb nicbt in der Lage — icb lese vielmebr Laasauwija —
die erste Zeile des Steines von Krogsta mit einem Zeichen am Ende,
das weder einem ng nocb einem j genau gleicht und einer folgenden
verletzten Rune, die sowohl n (Bugge) als auch i (Noreen, An. Gramm.
I^ S. 339) gewesen sein kann, ist überhaupt zweifelhaft und selbst
die Lesung des Namens von Tanum als Obliquus praivif^an, dessen
drittletztes Zeichen mir Arkiv f. n. fil. 14, 117 eine abgerundete
und seitlich verschobene n^-Raute zu sein schien, bestreite ich nun-
mehr in diesem Punkte und verstehe das Zeichen als liegende, das
ist um einen rechten Winkel gedrehte ;-Rune.
Das Zeichen des Hobels von Vi allerdings ist eine in der verti-
kalen Axe geöffoete Raute und nicht anders als f^ zu lesen, aber
daß der Komplex talingo, der die Inschrift eröffiiet, ein fem. dn-
Stamm sei, folgt daraus nicht, das Wort kann ja, und das ist in
der Tat meine Meinung, der Gen. plur. einer maskulinen Uigor
Ableitung sein.
Ueber die Etymologie des Namens des Speerblattes von Ovre
Stabu, das sie S. 419 ins 4. Jahrhundert verlegen,, haben die Ver-
fasser verschiedene Versuche angestellt: an. raun f. >Probe<;
^-Synkope in *Rauäninga aus einem Namen *Rauda ; m-Assimilation
in ^Raumninga zum an. Volksnamen Raumar, Sing. swm. *Rauina^
an deren Stelle Bugge S. 570 eine etymologische Verbindung dieses
Namens mit dem von ihm so gelesenen *Raninga des Müncheberger
Blattes auf der Basis von *Rahninga mit etymologischem htv her-
stellt. Die beiden Namen wären bloße Doubletten und könnten,
ethnographisch gefaßt, einen aus dem nordischen Ränriki stammenden
Mann bezeichnen.
So einleuchtend aber Bugges Behauptung ist, daß die Kunst
der Runenschrift bei den Germanen innerhalb einzelner Geschlechter
fortvererbt wurde und so klug ersonnen seine hier nur skizzierte
Ansicht, daß die Ausübung dieser Kunst im Norden durch Männer
erulischen Stammes gepflegt wurde, so richtig die Beobachtung, daß
die Ableitung -inga in alter Zeit zur Bildung ethnographischer
Namen verwandt wird, so geht die familiengeschichtliche Verbindung
der Namen von Ovre Stabu und Müncheberg doch wohl zu weit
und die Herleitung wenigstens des nordischen Namens dieses verr
meintlichen Paares aus dem der Landschaft Rdnriki möchte man
etwas tiefer begründet wünschen, um sich ihr anschließen zu können.
Norges Indskrifter med de »Idre Boner. 143
Das BronzefigQrchen von Freibov, bartloses Menscbenbild mit
kurzer, enger Tunika, nackten Beinen, ausgestreckten Armen und
in die Stirne gekämmten Haaren, ist 1865 mit einem Bronzekessel,
gefüllt mit gebrannten Knochen und anderen Bronze- und Eisen-
bestandteilen von Waffen gefunden. Alle diese Gegenstände aus der
älteren Eisenzeit, um 500, lagen auf den Knocben im Kessel als
Ueberreste nach dem Leichenbrande.
Bugge vermutet, daß das Figürchen, in natürlicher Größe ab-
gebildet S. 46, nebst einer Anzahl mit ihm zusammen gefundener,
hohler Knöpfe an einem Gürtel als Zier befestigt gewesen sei.
Am Stocke der Tunika stehen drei Zeichen, anscheinend von
rechts nach links zu lesen, links davon noch die Spuren von einem
oder zwei weiteren Zeichen. Das erste, von Bugge als omamental
angesehen, besteht aus einer aufrechten mit einem Kreise gekrönten
Hasta, von der außerdem zwei Seitenstriche nach links ausgehen,
der eine vom Hastenkopfe absteigend, der zweite von der Mitte aus
so ziemlich im rechten Winkel abzweigend ^. Das zweite Zeichen
ist ein linkes runisches a, das dritte ein oben und unten geschlossenes
runisches d, oder, wie Bugge sich ausdrückt, ein liegendes in einen
viereckigen Rahmen eingeschriebenes Kreuz B- Darauf folgt ein
nach links absteigender Strich , den Bugge S. 49 Anm. 5 als Rest
eines a nicht anerkennt, während S. 525 — 526 nach einer neuerlichen
Untersuchung Magnus Olsens die Möglichkeit zugegeben wird, daß
diese letzte, erst in neuerer Zeit abgekratzte Rune ein a gewesen sei.
Bugge hält es S. 49 wegen des dem diQ des Koweler Speerblattes
ähnlichen Zeichens fur möglich, daß die Inschrift gotisch sei. S. 526
denkt er an einen mask. Personennamen ada.
Es scheint mir empfehlenswerter, wenn schon überhaupt der
Komplex einen Namen, was nicht unwahrscheinlich ist, und zwar in
Runen darstellen soll, auch an dem ersten Zeichen nicht vorüber-
zugehen; ich halte es für möglich, daß es die Geltung w habe.
Der Name lautet dann Wada und gibt sich als umord. Ent-
sprechung zu an. Vaäi, ags. Uada, Wade^ ahd. Uuudo, Uuato zum
stv. ahd. watan, wobei aber doch die Qualität des Stamm vokales in
Schwebe gelassen werden muß, denn ahd. scheint es, nach üu&to
Libri confr. zu urteilen, auch eine langvokalische Form gegeben zu
haben, deren etymologische Abkunft ja wohl auch eine ver-
schiedene ist.
Epigraphisch ergebnislos sind die beiden viereckigen Schmuck-
plättchen aus Silber (Bugge Nr. 38), die 1898 als Teile eines reichen
Grabfundes der mittleren Eisenzeit aus einem eröflEneten Hügel ge-
144 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
hoben wurden. Die zierlich ornamentierten Plättchen dienten ver-
mutlich als Beschläge an der Mündung einer Schwertscheide und
tragen an den glatten Rückseiten Spuren von Runen, die jedoch
keinerlei gesicherte Lesung gestatten.
Von mäßigem Ertrage blieb Bugge die Inschrift der Spange von
Fonnaas (Nr. 4) , obwohl die an der glatten Rückseite angebrachten
Runen keineswegs undeutlich geritzt sind. Diese prachtvolle, an der
reich ornamentierten Vorderseite zum größten Teil vergoldete Silber-
spange (siehe die Abbildung, Tafel zu S. 64)^) wurde 1877 bei An-
lage eines Neubruches in einer Tiefe von ungefähr einem Meter
unter der Erde, vereinzelt liegend, ohne Spuren eines Grabes, zu
dem sie gehörte, aufgefunden. Die Spange wird nach ihren archäo-
logischen Merkmalen von Rygh ins 7. Jahrhundert, von Montelius
ins 5. Jahrhundert mit dem spätesten Termin 500 gesetzt. Der
Spangentypus ist über einen großen Teil von Europa verbreitet,
besonders häufig in Norwegen. Man kennt 60—70 nordische Exem-
plare, teils in Silber, teils in Bronze.
Das Alter der Spange ist, wie Bugge S. 69 mit Recht hervor-
hebt, für das Alter der Inschrift nicht bindend, da ja diese auch in
beträchtlich späterer Zeit angebracht worden sein kann.
Die Inschrift datiert Bugge a. a. 0. in Uebereinstimmung mit
Wimmer, Die Runenschrift S. 304, zwischen 650 und 675, Noreen,
An. Gramm. P, S. 337, allgemeiner: 7. Jahrhundert.
Hinsichtlich der Anordnung der Inschrift beobachte ich folgendes :
Die vier Inschriftzeilen gliedern sich nach der Abbildung bei
Bugge in eine rechtsläufige am inneren Längenrande der viereckigen
Hauptplatte vom Nadellager zum Breitenrande sich erstreckende
Zeile b, die zwischen zwei Parallelen, das ist einer Grundlinie und
einer Eopflinie eingeschlossen ist, sowie in drei linksläufige unter-
einander im oToix7]8öv -Verhältnisse stehende, von mir als c, d, e be-
zeichnete Zeilen, von denen c und d auf der gleichen (linken) Hälfte
der Platte vom äußeren Längenrande gegen innen zu, das ist senk-
1) Die rechteckige Querplatte zeigt einen mehrfach profilierten Rahmen,
der an den beiden Außenseiten und oben von einer zusammenhängenden Bordare
in Flechtomamentik umgeben ist. Dieser Rahmen schließt, durch ein Flechtband
getrennt, einen kleineren zweiten ein, innerhalb dessen sich eine tapetenartige
Flächendekoration mit einem haftelartigen Ornamente 8 findet. Das kreuzf(5rmige
Langstück weist eine MitteUeiste mit Verzierung in gezackten Linien sowie mehr-
fach aasgebuchtete und geschwungene Rahmenteile, die an den drei Kreuzenden
mit ornamentierten Menschenlarren schließen. Die Zwischenräume der Leisten
sind mit Flechtdekoration ausgefüllt.
Korges Indskrifiier med de eldre Raner. l4l(
recht gegen die Onindlinie der Zeile b sich erstrecken, die dritte e
in der gleichen Richtung verlaufend den mittleren Raum der zweiten
(rechten) Plattenhälfte beherrscht. Eine vereinzelte a-Rune scheint
im breiten Zwischenräume von d und e am Rande des rechtwinklig
sich abgrenzenden Nadellagers angebracht und zwar so, daß sie nach
links gewendet den Fuß gegen d, den Kopf gegen e kehrt. Es ist
hervorzuheben, daß diese Rune zu d kein textliches und zu e kein
kein graphisches Verhältnis hat, daß sie aber allerdings mit b ins
Verhältnis der Umschrift und zwar als Wenderune gesetzt werden
kann. Ich bezeichne diese einzelne Rune als Zeile a. Den Anfang
der Inschrifft sollte man nach der ganzen Einteilung bei b suchen,
nicht bei der Zeile c oder d, die ja, wenn b noch nicht dastand un-
gehindert bis zum korrespondierenden Rande hätten geführt werden
können, sicherlich nicht bei e, da einer Folge e, b der Mangel eines
graphischen Verhältnisses zwischen diesen beiden Zeilen entgegen-
steht und bei einer Folge e, d, c für das unmotivierte Abbrechen
vor dem Rande dasselbe gälte, was soeben gegen die Folge c, d als
Anfang der Inschrift geltend gemacht wurde.
Bugge hat auf Grund seiner mit großem Scharfsinn geführten
Untersuchung des Textes, die bei dem mit r auslautendem Komplexe
der Zeile d als glaublichem mask. Personennamen einsetzt, eine
Folge d, c, e, a, b feststellen zu können geglaubt.
Aber auch in betreif der Lesung muß ich einer von Bugge ab-
weichenden Anschauung Ausdruck geben. Bugge interpretiert das
dreimal auftretende Zeichen f^ als ^; nach meiner Ansicht ist das
Zeichen vielmehr die ^äm- Rune, hier der Zeit des Denkmales ent-
sprechend natürlich mit dem späteren Werte a. Ich kann nicht
finden, daß dieses Zeichen, das die nordischen Gelehrten auf dem
Bracteaten von Vadstena, dem Bracteaten von Skodborg (Wimmer,
Bugge, Noreen), auf dem Steine von Tune (Bugge und Noreen), auf
dem älteren Steine von Terviken und der Zwinge von Torsbjssrg
(Noreen) als ; lesen, das außerdem in typisch einstimmender Form
jetzt in Fupark des Steines von Kylfver (Bugge, Einleitung S. 7) zu
Tage gekommen ist, sich im Wesen von der in Rede stehenden
Rune der Fonnaaser Inschrift unterschiede, sehe aber den typischen
Unterschied dieses Zeichens vom runischen ng durch dieses neu ent-
deckte Fupark, in dem das n^-Zeichen ein stehendes Rechteck D
ist, auch aufs Neue ausgesprochen.
Dagegen schließe ich mich in betreff der fünften Rune der
Zeile e PI, die schon Wimmer, Die Runenschrift S. 127, als eine
>Veränderung< der eckigen ;Vira-Rune H bezeichnet und in dem
146 Gott gel Ans. 1906. Nr. 2.
Worte sAgum, das ist sagum des Böker Steines, nachgewiesen hat,
der Auffassung dieses und Bugges Bewertung mit a an, wenn auch
die Zeichen von Bök und Fonnaas nicht völlig kongruent sind, das
erstere eine geschlossene H (siehe Wimmer a. a. 0. und Bugge S. 70),
das zweite eine mehr offene Form hat.
Aber es liegt nicht an der nach meiner Meinung unrichtigen
Anordnung der Textfolge und der unrichtigen Auslegung der jora-
Bune allein, daß Bugges Lesung nglskla | wksha | ingasAngsrbse |
a I ihspldaltl und seine Deutung *AngilashükR Wakrs husingR sä
Ingisarbiske aih ^ndid tel, das wäre >A. Wakrs Hausmann der
Ingisarbische (von einem Ortsnamen!) besitzt (diese) gute Nadele,
einen mehr als problematischen Eindruck macht, denn, wie man
sieht, sind hier nicht nur Vokale, sondern auch Konsonanten in
größerer Zahl und in Positionen ergänzt, deren Zulässigkeit durch
die These einer > verkürzten Schreibart < zwar gedeckt, aber doch
nicht in jedem einzelnen Falle zu überzeugender Sicherheit er-
hoben wird.
Tatsächlich nimmt denn auch Bugge in den Berichtigungen
S. 526—527 seiner eigenen Deutung gegenüber ein höchst skeptischen
Standpunkt ein und hält nur seine Anordnung der Zeilen für ein
gesichertes Besultat, sowie ganz im allgemeinen die Feststellung
eines Personennamens auf -r in seiner Anfangszeile, zu dem die an-
genommene folgende Ableitung auf -ingR als Apposition und das mit
dem Artikel sa eingeleitete Substantiv auf -e als nähere Bestimmung
gehöre.
Es ist ja offenkundig, man kommt ohne Annahme von Kürzungen
nicht aus, auch wenn man meine Transliterierung '^'a | ihsbidalü |
a b
wksha I aIsUb | iABsQisrbse zugrunde legt, da auch hier konsonan-
e d «
tische Häufungen zurückbleiben, die, um sprechbare Wörter ergeben
zu können, der Einschaltung von Vokalen bedürfen. Aber man sieht
doch , daß in diesem Falle nur drei Vokale und zwar immer in un-
mittelbarer Nachbarschaft einer Liquida l oder r in tl, skh und rbse
ergänzt werden müßten.
Ein wirklicher Gewinn ergibt sich mir dazu aus den nur neben-
hin mitgeteilten Beobachtungen Bugges S. 527, daß die ^-Bune in tl
an der Basis einen Aufstrich zum l zeige, so daß man sie als Ligatur
von t und t. auslegen könnte, daß femer das w in wksha vielleicht
vokalische Geltung habe, wie auf dem Steine von Frerslev vokalisches
w neben u vorkomme. Transliterieren wir nun tll, ganz abgesehen
davon, ob es mit der angenommenen Ligatur seine Bichtigkeit habe
Norges Indikrilfcer med de »Idfe Roner. 147
oder nicht — der Aufstrich am Fuße des i steht allerdings da — ,
und tikshü, wobei wir einen quantitativen Unterschied des vokalischen
w und des u voraussetzen dürfen, und bringen wir das h dieses Wortes,
das ein orthographisch versetztes sein wird — man vergleiche ahd.
Liutarhtj lUhbald^ lUiboUh Libri confrat. für -hart, hilt-, hilti an
seine richtige Stelle, so erhalten wir die Phrase *til huksü^ worin
man die Präposition til mit Genitiv und ein zum Adjektiv aisl. hugsi
>thoughtful, meditative<, swv. hugsa >to remember< gehöriges swf.
Abstraktum *hugsa >memoria< ohne Mühe erkennt. *aih . . . tu
hugsa kann also sehr wohl heißen >possideo€ oder »possidet ... in
memoriam< und der folgende Eomptex ilskh wird dann gewiß einen
Personennamen im Nominativ oder im Genitiv enthalten. Es ist
vielleicht erlaubt *Älshilji oder *ÄlskilaR auszufüllen und den zweiten
Teil aus an. skil neutr. Plur. > Unterschiede mit der Begriffsentwick-
lung, die dieses Wort im engl, skill durchgemacht hat, zu erklären.
Daß man Bugges Erklärung von sbidal als *spifidul > Gewandspange <
aufgeben müsse, glaube ich nicht. Allerdings frz. epingle, mlat.
espingla >acicula< ist nur >Stecknadel<, aber mhd. bietet Lexer
außer ^[^enel >StecknadeU auch spendel >monile, spinter<, d. h. wenn
das lateinische Lehnwort auch auf >Hal8band< und >Armspange<
übertragen werden konnte, die einer Nadel entbehren, mußte das um
so leichter für die Gewandspange möglich sein, bei der technisch
eben die Nadel die Hauptsache ist. Aus vulgärlat. ^spinla, *espinlaj
auf dem ipingle beruht, ergibt sich für das Germanische eine neutrale
Lehnform *spindla ohne Schwierigkeit, aus der späteres *spindul
mit Sekundärvokal entwickelt zu denken ist. Der Eingang der In-
schrift wäre also >possideo fibulam in memoriam . . .<, und darnach
werden wir eher den Genitiv >alicuius<, als den Nominativ des Be-
sitzers erwarten. Dieser Name des Besitzers kann vielmehr in dem
folgenden Komplexe (ür stehen, der als *%aRj *%haR interpretiert mit
dem von Bugge auf dem Bracteaten von Aasum nachgewiesenen und
für die Inschrift von By vermuteten Personennamen ehaR oder ihaR
identisch sein mag. Ist nun die fünfte Rune der Zeile tatsächlich gleich
dl, wobei die Annahme, daß sie aus der eckigen ;ara-Rune stamme,
wie ich unten S. 158 f. zeigen werde durchaus nicht hinderlich er-
scheint, so gewinnen wir in sä.. . rbse einen Beinamen, der nur nicht,
wie Bugge wollte, sich auf ÄlsklR, sondern auf ior bezieht.
Was nun rbse betrifft, so ist zunächst zu betonen, daß eine Be-
wertung des b als S zwar naheliegend, aber doch keinesfalls einzig und
allein möglich sei. Man kann das b sehr wohl auch als p verstehen.
Ferner mache ich aufmerksam, daß rbse eine nordische Maskulin-
148 Gott. ^1. Anz. 1906. Kr. 2.
bildung mit Suffix -si, wie bersi >ur8U8< zu ahd. bero, gassi >gander<
zu gas >Gan8<, sein wird, so daß wir rpse vielleicht in *erpse aus-
füllen dürfen, das sich des weiteren aus an. iarpr, ags. eorp, ahd.
flektiert erpfer > braun, fu8cus< leicht erklärt. Um so mehr scheint
diese Beziehung gestattet, als das Adjektiv im Altnordischen auch
als Pferdename Iarpr und Fem. lorp, wie nhd. dial, der Braun,
dem. Bräunl, sowie als sagenhafter mask. Erpr und als weiblicher
mythischer Name Irpa, -u auftritt und ein aus diesem Adjektiv ge-
bildeter römisch - germanischer Beiname Arpus, mit vulgärlat. a für
germ, e, schon bei Tac. Ann. bezeugt ist. Es erübrigt nur noch das
zwischen sä und *erpse stehende as. Man kann die Meinung haben,
daß dasselbe mit sä zusammenzulesen sei und das säas Doppel-
schreibung enthalte, säs wäre dann entweder nach ahd. th4}se, dese^
ags. pes, an.-run. säst > dieser c zu beurteilen und das s wäre das
des deiktischen Elementes -se, -s. Man kann aber auch säs mit dem
aschwed.-run. sas >der welcher< gleichsetzen, das nach Noreen, An.
Gramm. II, S. 94,5, aus sa es >ille qui< zusammengezogen ist.
Nach der Seite der Bedeutung hin muß man sogar das letztere vor-
ziehen, da >ille quic gar nicht anders wirkte, als das aus lateinischen
Texten bekannte Beinamen anfügende »qui et<. Aber auch formell ist
das Bedenken einer Doppelschreibung mit zwei verschiedenen Runen
schwer zu überwinden, um so mehr, als das Zeichen in sa ja ohne-
hin schon eine Ligatur zweier a:V\, somit alphabetisches lang-a
ist. Ich bin daher geneigt die Stelle sH as zu transliterieren und
in sa as die nicht verschmolzene Paarung von Demonstrativum und
Relativum, also Noreens sa es zu erblicken, wobei für das zweite
dieselbe seltene Schreibung anzunehmen ist, die Noreen, An. Gramm. 11,
S. 512 Anm. 1, in einigen jüngeren Inschriften konstatiert. Die
Wirkung der grammatisch unverschmolzenen Bindung sä as ist natür-
lich keine andere als die des zusammengezogenen säs. Das Bedenken,
das aus der Annahme dreier a-Runen in äiner Inschrift gegen die
richtige Interpretierung überhaupt erhoben werden könnte, läßt sich
mit dem Hinweise auf die Inschrift von Snoldelev, Wimmer, Die
Runenschrift S. 338, beseitigen, denn auch hier finden sich drei
a-Runen : ^ (zweimal) , f (fünfmal) , f^ (einmal) nebeneinander. Die
separat angebrachte Rune a der Fonnaaser Inschrift, die, mit dem
ih der ersten Vollzeile zusammengelesen, das einleitende Verbum
aih ergibt, könnte man allesfalls als nachgetragene Korrektur an-
sehen. Doch dünkt es mich wenig glaublich, daß der Schreiber den
graphischen Ausdruck des prononzierten Anlautes von aüi hätte
übersehen können und ich bin daher vielmehr der Ansicht , er habe
Norges Indskrifter med de seldre Runer. 149
die ursprüngliche Absicht gehabt, die Inschrift mit linksgewendeter
Zeile in der Mitte der Platte zu beginnen, habe das linksgewendete
a geritzt und unmittelbar darauf seine erste Absicht, gewiß aus
GrUnden der überlegten Raumeinteilung aufgegeben und die Inschrift
am Rande weitergeführt. Das einmal geschriebene a aber habe er
als Anfang der Inschrift trotz der etwas ungewöhnlichen Position in
voller Geltung stehen lassen.
Das Beinkammfragment von Nedre Hov, Bugge Nr. 35, abgebildet
S. 421 und 423, 1868 mit anderen auf eine Frau deutenden Gegen-
ständen in einem Grabhügel, Brandgrab, gefunden, gehört archäo-
logisch der Zeit der Moorfunde, 300—500 nach Rygh, 200—500 nach
Sophus Müller, 200—400 nach Montelius, an. Das Fragment zeigt
auf der einen Seite nicht sicher bestimmbare Runen, auf der anderen
den deutlichen Komplex ekad . . . , das ist ohne Zweifel das Pronomen
>ich€ mehr einem folgenden Personennamen im Nominativ. Bugge
ergänzt denselben zu *Ääa, aschwed. Adhi, adän. Adce^ ahd. Ado
und Ato. Da aber S. 421 gesagt ist, daß etwas mehr als die Hälfte
des Kammes fehle, hat man keine Sicherheit, daß der Name nicht
länger gewesen sei, obwohl freilich auch ein folgendes Verbum *aih
den Raum füllen würde. Außerdem möchte man auf einem aus einem
Frauengrab stammenden Kamme einen weiblichen Namen erwarten.
Von noch nicht sicher erkannter Bestimmung ist das Beingeräte
von Odemotland, Bugge Nr. 17, das 1886 an das Museum zu Bergen
eingeliefert wurde. Das Geräte, in natürlicher Größe abgebildet
S. 244, ist kalziniert, muß also dem Feuer ausgesetzt gewesen sein.
Die Inschrift läuft innerhalb zweier paralleler, von Randleisten ein-
gefaßter Zeilen, in der unteren von links nach rechts, in der oberen,
wobei das Geräte umgedreht werden muß, von rechts nach links.
Die Uastenköpfe sind demnach einander zugewendet, die Füße von-
einander abgewendet. Die Randleisten gabeln sich am Anfange der
SchriftzeUen gegen das linke Ende in ein Delta, das noch besonders
konturiert ist. Deltaartige Figuren sind auch in die leeren Räume
vor dem Anfange und am Ende der zwei Buchstabenreihen ein-
geschrieben. Die Buchstaben sind zum Teil doppelt konturiert,
bandartig, zum Teil einfach, bei einigen Zeichen wechselt die Kontu-
rierung innerhalb derselben; die Seitenhasten sind ein paarmal will-
kürlich vermehrt, außerdem finden sich Wenderunen und Ligaturen.
Bugge hält S. 263—264 den Gegenstand samt seiner Inschrift für
eine Kopie nach älterem Muster, das seinerseits hinsichtlich seiner
Form und Ornamentierung auf eine noch ältere Vorlage zurück-
gehe.
150 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Die Inschrift selbst transliteriert Bugge S. 259 :
aliaiirtebarinaailjidlinua — aetaapabiahnfpitiardplnaa ,
wobei zunächst bemerkt werden soll, daß die Ligatur te nach der
Folge der Zeichen eigentlich et ist — der rechte, äußere Abstrich
des t ist dabei doppelt wie der des folgenden a dreifach — ,
daß ferner an Stelle von Bugges Jl ein einfaches Zeichen von dem
Orundtypus X dasteht und daß das letzte u dieser Zeile eine Sturz-
rune ist. In Worte geteilt und ausgefüllt ergibt sich Bugge der
Text *Üha urte^ Umrinu aijiä pinnu \ w6; Tuupa bi ühan fähidi
tiard pinnu. Üha, *Eburinu, *Tuupa sind dabei als Personennamen
gefaßt, aiiid als 3. Sing, praes. ind. aih mehr einer enklitischen
Pronominalform »det<, urte >fecit€ und * fähidi >scripsit< zwei
weitere Verba und u€ »heiliger Gegenstand« sowie das Kompositum
ti-ard, das >Inschrift< bedeuten soll, die Objekte dazu ; bi wäre Präpo-
sition >bei« und pinuu das Pronomen demonstrativum ahd. den mehr
einem*enklitischen, deiktischen nü. Einleuchtend daran ist der Eingang:
swm. Personenname Ulia mehr Verbum urte > fecit <, die Konstatierung
eines Frauennamens in dem folgenden Komplexe burinu, die Ver-
mutung, daß aifid eine Form des Verbums aigan >possidere< ent-
halte, ferner die Beziehung von ulin als Obliquus zum Namen Uha
und Z*^ als 3. Sing, praet. zu an. fd » schreiben <. Wahrscheinlich
ist, daß das doppelte pinuu ein Demonstrativpronomen enhalte.
In den Berichtigungen S. 545 ff. ist Bugge der wichtige Wurf
gelungen, das Zeichen K > ^^ ^t^ vorher zweimal als r, einmal als b
interpretiert hatte, in Uebereinstimmung mit den Zeichen von
Hämmeren und Konghell als uu zu erkennen, aber die sonstigen
Deutungen an dieser Stelle *Uha urte Ebuuuinu ai ingd, was S. 547
in *ing[wanj oder *%ng[winaR] dfohtarj ausgefüllt wird, und *pinuu
ue-tuupa >den geweihten Zahn< als Objekt, ferner der Schluß S. 550
*uu% uhfaj [ajn f[dh]pi Ti auue (B)[bu]uu[i]nuu »auf diesen ge-
weihten Gegenstand schrieb Uha: Ty (das ist der Gottname) sei der
Ebuuvinu günstig !< schließen eher einen Rückschritt ein. S. 554
berichtet Bugge, er sei nach Drucklegung des Bogens (1903) be-
züglich des Komplexes aoaeeaanao, das ist also des .Schlusses der
zweiten Zeile in neuer Transliterierung zu einer differierenden Auf-
fassung gelangt, die er in den > Allgemeinen Bemerkungen« mit-
teilen werde.
Ich habe keinen Grund gegen diö Gleichsetzung des Personen-
namens umord. Uha mit ahd. Üo, Üvo Mchb. hist. Fris. (Bugge S. 247),
I
Norges Indskrifter med de seldre Rnner. 151
auch Fem. Üva Libr. confr. etwas einzuwenden, auch nichts gegen
die appellatiyische Identifizierung dieses Namens mit ahd. üwo, üvo
»bubo, Uhu< demin. in üunla >noctua, £ule< Graff 1, 172, ags. üf,
an. üfr, wozu ich noch nhd. dial, der auf und auvogd nach-
tragen kann, aber freilich als zweiten Teil des umord. Personen-
namens Hariuha, Bract, von Seeland, kann ich denselben nicht an-
erkennen und seine Verbindung mit dem uidf von Hämmeren muß
ich zurückweisen. Dagegen scheinen mir die etymologischen Ver-
suche, den folgenden Frauennamen zu deuten, überhaupt verfehlt
und das Bestreben, demselben noch ein vorhergehendes e anzuhängen,
in nichts gerechtfertigt. Liest man Büwinu, so ist dieser Name ja
nichts anders als eine fem. inid-Motion zu an. BüL ahd. Püwo St. G.
a. 817 und bedarf keiner weiteren Bemühungen. Das Zeichen %, bei
Bugge einmal als v> d&s anderemal als ng gelesen, ist doch eine
offenbare ^-Rune, deren besondere Ausprägung ich schon Z. f. d. Ph.
32, 295 aus einem ags. Fupark nachgewiesen habe. Es ergibt sich
also die Lesung aigä, wohl in *aigiä aufzulösen als analogische 3. Sing,
praes. nach dem PI. an. eigom, Inf. eiga > besitzen < gebildet. Was
die zweite Zeile angeht, scheint mir das unterpungierte u vielmehr
ein r zu sein, das unmittelbar folgende ist eine Wenderune u, der
Schluß aber, glaube ich, ist tiaum^inaa zu lesen. Die gleiche
Form des d:M mit Verwandlung des inneren Kreuzes in zwei ein-
springende einander nicht berührende Haken ü bietet ja zweimal die
Inschrift von ValsQorden (siehe Bugge S. 344 und 346). Wenn uha,
ausgefüllt *ühan, Dativ des Interesses »für Uha< ist und *fßjpi
das bekannte Verbum > schriebe, so haben wir hierzu Subjekt
und Objekt zu suchen. Wie Bugge in seiner ersten Beurteilung
sehr richtig gesehen hat steckt das Subjekt, ein Personenname in
dem Komplexe am Eingange der Zeile, das Objekt in dem zwischen
dem Verbum und dem Pronomen. Ich vermute einen Personennamen
*UHrüp(R), dessen erster Teil mit dem der an. Namen Ve-geirr,
-gestTy 'tnundr und anderen zusammenfällt, während der zweite
sich mit aisl. irudr >a juggler <, auch Beiname Ann truär^ ags. truä
>liticen, histrioc identifizieren läßt, wonach man es, das lehren schon
die Bedeutungen dieses Wortes, mit einem Beinamen zu tun hat.
a JJl kann örtliche Bestimmung >zu Vfc ^) sein und in tuaSud birgt
1) Legt man hierfür an. vi n. als »aedes« oder »templom« zugrunde, so
ist das bewahrte i nach Noreen, An. Gramm. P, § 107, 1, nur dann zu verstehen,
wenn man Yon dem aus dem Althochdeutschen bekannten Lokatiy auf -t ausgeht,
a ttttl also auf "^on vüki zurückführt. Der Schwund der Nasalis in der glaub-
lichen Präposition an gegenüber den Nichtschwund in der Rexion Mh(a)n erkl&rt
sich leicht aus der untertonigen Proklise dieses Bedeteiles.
152 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
sich doch wahrscheinlich das gemeingerm. Wort ^auäa-, an. auär m.,
ags. eod, as. od >bonum, possessio < in irgend einer Zusammensetzung,
etwa ^ti-auäR, die es gestattet die gelegentliche Bedeutung desmhd.
Jdeindt > kleines Hausgeräte < (Lexer) auf dieselbe zu übertragen, oder
eine analoge ausfindig zu machen.
Das von Bugge angesetzte deiktische Element in pinuu^ ahd.
then^ findet sich in ahd. sinu^ senu >ecce< wieder und ist wohl sicher
die Partikel nü. Textlich ist zu beachten, daß hier auch der
Schreiber in der dritten Person von sich spricht, was nach Bugges
Bemerkung für die Textfassung der jüngeren nordischen Runen-
inschriften charakteristisch ist.
Das Fehlen des Nominativzeichens r in *üstrüp kann aus der
von Noreen, An. Gramm. 11, § 383e8, für das Altschwedische for-
mulierten Regel erläutert werden, wonach dasselbe in Titeln un-
mittelbar vor dem zugehörigen Namen, später auch im Namen vor
dem Patronymikon, also im nebentonigen proklitischen Worte unter-
drückt wird. In unserem FaUe konnte die folgende Ortsbezeichnung
uStrüp ä uuT gleich dem Hauptnamen wirken und uBtrüp stünde wie
ein Titel, was es ja vielleicht ohnehin ist.
Der vermutlich für eine Angelschnur bestimmte Senkstein von
Ferde, aus Steatit (Bugge Nr. 24), 0.12 m lang, 0.05 m breit, im ver-
kleinerten Maßstab, halber natürlicher Größe abgebildet S. 313, in
etwas über natürlicher Größe S. 314, wurde 1874 gefunden. Die In-
schrift alako steht zwischen zwei Bohrlöchern eingeschnitten senk-
recht auf die Längenachse des Steines und ist von links nach rechts
zu lesen. Die Runenhöhe läßt an den Rändern oben und unten nur
mäßig freien Raum übrig.
Den Komplex erklärt Bugge nunmehr als Frauennamen mit
deminutivischem i-Suffix als Pendant zu dem northumbr. Mask.
Äluca, ndd. Äluco (Werden), 9. Jahrhundert, ausgehend von einem
Vollnamen der an. ol- : Olbjorn, Qlmodr, ags. ealu- : Ealuburh, Ealu-
bearht, Äloburg im ersten Teile besaß.
S. 315 setzt Bugge die Inschrift zwischen 650 und 700, Wimmer
die Runenschrift S. 304 Note 1 gegen Schluß der Periode 550—700,
ebenso gegen 700 Noreen, An. Gramm. I* S. 337.
Ich möchte nur bemerken, daß das £lement alu-, trotzdem die
Inschrift weder magisch ist, Wimmer a. a. 0., noch mit >Schutz<
etwas zu tun hat, Bugge, S. 162 ff., mit dem in dem einfachen alu
repräsentierten Worte gleich sein kann.
lieber die Zeit, der die mit Inschriften in den älteren Runen
versehenen Goldbracteaten angehören, äußert sich Bugge S. 45, daß
Norges Indskrifler med de seldre Rimer. 153
man die Hauptmenge derselben ins 6. Jahrhundert verlegen mttsse.
Auf diesen Zeitabschnitt führen die von den nordischen Antiquaren
gegebenen Grenzen: 5. Jahrhundert bis erste Hälfte des 6. Jahr-
hunderts Montelius, 550—700 Wimmer, Die Runenschrift S. 304
Note 1.
Die Inschriften der Bracteaten sind nicht immer deutbar und
zwar nicht etwa bloß aus dem Grunde, daß die mitunter in graphisch-
omamentale Gebilde zusammengeschlossenen Runen sich der Ent-
wirrung entziehen, sondern auch deshalb, weil die erhaltenen Brac-
teaten nicht immer Originale sind. Sie wurden ja vielfach rein
mechanisch nachgebildet, wobei die ursprünglich sinnvollen Inschriften
in unheilbarer Weise entstellt werden konnten.
Die Bracteaten von Sotvet, zwei Exemplare, 1879 in einem
Grabhügel mit Schmuckresten und etwa um das Jahr 600 datierbaren
Gegenständen gefunden, die auf ein Frauengrab schließen lassen,
sind mit demselben Stempel geprägt, in Bild und Wort vollkommen
gleiche Doubletten.
Die Inschrift des Bracteaten, abgebildet S. 170, steht in zwei
Partien rechts und links vom Henkel, in dem von Perlenschnüren
umgebenen Bildfelde mit linksläufigen, auf eine äußere Grundlinie
orientierten Buchstaben, gibt sich also als Umschrift, die rechts oben
beginnt, beinahe drei Viertel des Kreises überspringt und links oben
endigt. Sie lautet transliteriert:
aelwao— nl. Am Anfange der zweiten Partie steht ein von Bugge
als nicht literal angesehenes, dreiarmiges Zeichen Xj d&s auch auf
anderen Bracteaten vorkommt und gleich dem Hakenkreuze ein
Symbol sein wird.
Bugge liest elwa onla, oder orUa ehoa und sieht in diesen
Wörtern zwei Nominative auf a, von denen der eine, onla^ mit dem
Suffixe von Wi^DÜa Veblungsnes, sowie der Namen Frohila, Nitiwila^
NiujilfaJ der Bracteaten von Darum ü, NaBsbjaerg und Darum I,
Mrla der Spange von Etelhem gebildet, mit ags. Onela, Beow., dem
Namen eines schwedischen Königs des 6. Jahrhunderts und an.
Ölif Öli oder Ali identisch sein könne. Doch müßte man mit Bugge,
S. 171 erwarten, daß das a bei Entsprechung zu ags. Onela, ahd.-
dän. Änulo, Einh. zum Jahr 812, zur Zeit des Bracteaten noch be-
wahrt sei und dieses Bedenken leitet Bugge, wenn er S. 535—536 den
Onla von Setvet auf Äunila zurückführt und den Namen gleich dem
Fröhila von Darum als gotisch erklärt; d. h. Bugge nimmt an, daß
bei den Nordleuten auch Namen gotischer Form und Herkunft in
Gebrauch gewesen seien. Daß dagegen der Vokal des zweiten Namens
06ti. gd. Axa, 190«. Nr. 2. 11
154 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
dwa, nicht iltva^ streite, den Bugge als swm. Form des ahd. Ad-
jektivs do, elawSr >gelb< bestimmt, hebt der Verfasser ausdrück-
lich hervor, meint aber, das e statt i könne wohl auch dialektisch
sein. Ich muß gestehen, daß mir der Umweg über das Gotische
ebensowenig überzeugend erscheint, als die Uebertragung des latei-
nisch-gotischen ö für gotisch au auf den Fröhila des Bracteaten von
Darum. Der Name kann auch germ, ö haben, zum ahd. Adv. frö^
fruo >mane<, auch Adj. fruer >matutinus, antelucanus< Oraff 3,655
gehören und sich mit dem ahd. Fruölo der Libri confrat. vollständig
decken. Dieses Element kommt ja auch sonst noch vor; so mög-
licherweise in Fruarit Trad. Wiz. a. 808, Fruorit Dronke a. 802 und
Fruosint Libr. confr., die man freilich auch aus fruot- ableiten kann.
Sicher aber ist das Wort in Fruogia, Libri confr., einem Beinamen,
der ganz und gar dem römischen Eognomen Mätütina gemäß ist. Ich
glaube daher behaupten zu dürfen, daß der Name Fröhila unbe-
denklich als urnordischer angesehen werden dürfe und zwar als De-
minutivform eines einfachen, dem römischen Eognomen Mätütlnus
entsprechenden Beinamens, etwa *FröjaR. Nicht anders verhält sich
die Sache bei dem Deminutivum NiujilfaJ', es gehört zu einem ein-
fachen Beinamen, der wie das römische Eognomen Növus zu ver-
stehen ist, und ich zweifle nicht, daß beide sich bedeutungsmäßig
auf Oeburtsumstände beziehen werden.
Demnach stehe ich dem angeblich gotischen *aunila in onla mit
noch größerem Mißtrauen gegenüber als der früheren Gleichung
Bugges mit ags. Onela. Aber die Sache wird sich auch hier auf
drittem Boden entscheiden. Aus dem Eomplexe iong des Hobels von
Vi wissen wir, daß germ, ü im Urnordischen auch vor gedeckter
Nasalis als ö auftreten könne. Ich gehe daher für Onla von einer
Form *Onnila aus und diese ist klärlich wieder nichts anderes, als
eine Deminutivbildung zu dem einfacheren Namen ags. Onna, ahd.
Unna, Libr. confr., beziehungsweise eine deminuierte Eurzform aus
einem Eompositum wie Unnari, ebenda, Onnhardus Necrol. Germ.
111,326. Bleiben wir, was am nächsten liegt, bei Unno^ so erkennen
wir darin unschwer das zum Verbum ahd., ags. unnan >dare, attri-
buere, concedere< an. unna gehörige swm. Abstractum unna in der
dritten Bedeutung bei Bosworth-Toller »a grant, what in given<,
von >Gabe< wenig verschieden in dem a. a. 0. ausgezogenen Passus
se de das lyfu and äisne unnan unlle Gode and sancte Pdre ceibredan
»wer diese Gabe und Gunst Gott und St. Peter entziehen will«,
d. h. ahd. Unna ist ein Beiname, der im römischen Eognomen Con-
C€s$u$ eine genaue Parallele hat
Norges Indskiifter med de seldre Raner. 155
Aber auch Elwa ist Beiname, ahd. Elo Libri confrat. und seiner
Bedeutung nach gewiß mit dem römischen Kognomen Flavus gleich,
denn der appellativische Wert des Adj. ahd. do wird sich nach den
Belegen bei Graff 1,225, wie elewü laehin »sacellum crisum«, als
> lichtgelb € bestimmen lassen. Dieser Beiname ist demnach aus der
Komplexion geschöpft.
Was die Folge der Namen auf den Bracteaten anbelangt, muß
ich mich für dwa, onla entscheiden, da es unglaublich ist, daß die
Inschrift am Ende des Schriftraumes im rechten oberen Felde be-
ginne und nicht vielmehr am Anfange desselben. Das a vor dem
Namen Elwa ist um die Hälfte kleiner als das folgende e, ich bin
der Ansicht, daß der Stempelschneider, wie er auch die Größe des
l aus Raumgründen reduzieren mußte, den letzten Buchstaben des
zweiten Namens vor dem Anfangsbuchstaben des ersten eingeflickt
habe, da er denselben auf der linken Seite nicht mehr unterbringen
konnte.
Das Verhältnis der beiden Namen ist entweder das von zwei
Beinamen zweier Personen, oder das von zwei Beinamen einer
Person. Es ist ja richtig, daß wir in diesem letzteren Falle eher
die Folge Onla Elwa als die tatsächlich anzunehmende Elwa Onla
erwarteten, aber entscheidend ist das doch nicht, da z. B. der Folge
Totila qui et Baduüla im chron. Sigeb. die umgekehrte Baduüla
qui d Totila dicebatur in Ekkeh. chron. univers. gegenübersteht, d. h.
man hat es mit zwei freien und von einander unabhängigen, nicht
zu einem festen Systeme verbundenen Namen zu tun.
Nur ^inen Namen gewährt der aus Norwegen stammende, heute
im Nationalmuseum zu Kopenhagen autbewahrte Bracteat, Bugge
Nr. 42, abgebildet S. 457. Hinter dem das Mittelfeld einnehmenden
Menschenhaupt findet sich innerhalb eines Bandrahmens der links-
läufige Komplex anoana, den die Verfasser mit ahd. Änawan ver-
gleichen. Der erste Teil enthielte ahd. ano, wozu auch die nordischen
Namen Ali, Oli und Älof, Öluf, urnord. Alaifu By gehörten, oder
die Präposition an, der zweite entweder got. tcans, an. vanr, ahd. wan
> mangelnd«, oder an. vanr »gewohnt an«. Das o sei wie in hoiE des
Steines von Rök als konsonantisches u zu bewerten. Diese ortho-
graphische Darstellung o für u ist allerdings in irgend einem Punkte
richtig, man könnte z. B. ahd. choat neben chat im älteren Physio-
logus vergleichen, aber Anawän habe ich schon an anderer Stelle,
A. f. d. A. 27, 133 als Speratus erklärt und setze demgemäß urnord.
*ana'wana mit got. aswSna »exspes, &ic6Xic(Ca>v< ins Verhältnis. Das
0 der belegten Form anoäna ist demnach etymologisch eigentlich das
11* .
156 Qött gd. Anz. 1906. Nr. 2.
durch folgendes w dunkelgefarbte auslautende a der Präposition got.
ana-, bedingt aber allerdings auch den Anlaut w in der wirklichen
Aussprache, die sich mit deutlichem Gleitlaute ^ zwischen beiden
Vokalen vollzieht. Der Bedeutung nach kann Anoäna nicht passivisch
sein wie ahd. Anawän^ sondern nur aktivisch >sperans, exsperans«.
Einen mask. Personennamen auf -r wird man auch für den zirka
1805—1810 in einem Brandgrabe gefundenen Bracteaten von Fredriks-
stad, Bugge Nr. 2, vermuten dürfen, abgebildet S. 44, obwohl die
Lesung des Komplexes, der von bandartiger Umrahmung abgegrenzt,
am linken oberen Rande, vor dem Gesichte der Reiterfigur im Bild-
felde derselben steht, der Lesung Schwierigkeiten entgegen setzt.
Bugge hält S. 45 die Inschrift für die entstellte Kopie nach
einer älteren Vorlage, gelangt aber S. 524—525 doch zur Memung,
daß der Bracteat ein Original sei und schlägt eine Lesung ndaiiB,
d.i. einen Personennamen vor, der *udd'üuR oder -m zu konstru-
ieren wäre und im ersten Teile an. odd-, ahd. ort-, im zweiten aber
die umordische Form des modern nord. dial. Maskulinums tir »Stein-
eule« enthalte, verwandt also mit dem Namen Üha von Memotland.
Das ist unter der Voraussetzung, daß man *udd'üR als Beinamen
fasse, ja gewiß möglich; man könnte dazu allesfalls auch das
appellativische Kompositum ortfoda >accipiter< der malbergischen
Glosse vergleichen.
Ergebnislos blieb Bugge die Inschrift des Bracteaten von Sogn-
dal, Nr. 23, abgebildet S. 311, der 1861 gefunden ist.
Die Inschrift steht im linken unteren Viertel hinter den Beinen
eines nach rechts sprengenden Reitpferdes. Die Zeichen sind in der
Tat schwer entwirrbar, Bugge hält dieselben für mechanische Nach-
ahmung nach einem älteren Bracteaten.
Ebenso verhält sich die Sache mit dem Goldmedaillon von
Mauland, Bugge Nr. 40, abgebildet S. 446, das 1899 vom Museum
zu Stavanger erworben wurde. Die Aversseite dieses Medaillons
zeigt ein römisches Kaiserbrustbild und trägt eine nur das untere
Viertel des Kreises freilassende Umschrift in lateinischen Buchstaben
und Runen. Die Reversseite enthält eine Menschenfigur zu Pferde,
einen Kranz emporhaltend und davor stehend eine zweite Figur mit
langem Gewände.
Bugge hält das Medaillon für Nachbildung einer römischen
Kaisermünze — die Aversseite erinnere sehr an die Darstellung des
Kaisers Valens (375 — 378) — - die Inschrift gleichfalls für eine mecha-
nische Nachbildung ohne sprachliche Bedeutung. Derartige Nach-
bildungen römischer Goldmünzen sind in Norwegen im ganzen sechs
gefunden.
Norges Indskrifter med de «Idre Raner. 157
In ähnlicher Weise beurteilt Bugge auch die Inschrift des großen
Bracteaten von Selvig, Nr. 18, mit 38 mm Durchmesser, der 1846
mit anderen Bracteaten und Goldsachen gefunden wurde. Die In-
schrift mit linksgewendeten Runen tan, abgebildet S. 267, findet
sich vor der Nase des linksgewendeten Menschenkopfes im Mittel-
felde und läuft vom Fuße des u an in eine merkwürdige Umrahmung
aus, deren Anfangsstttck ganz einem griechischen £ gleicht. Außer-
dem stehen die vier Runenhasten auf vier Postamenten, die ihrer-
seits wieder auf einem freien langgestreckten Rahmenteile aufsitzen.
Bugge ist nicht der Ansicht, daß die Inschrift ein wirkliches
Wort sei, sondern hält sie für eine Entstellung aus alu.
Die Runen sind aber so klar und sicher, daß es schwer scheint,
dieselben als bloße Entstellung anzusehen, ich meine daher, daß die-
selben ein Sachwort mit der Flexion von alu, lapu, oder einen Namen
enthalten.
Man kann zweisilbiges *tä-u in *tä-u)u rekonstruieren und darin
entweder die umordische Entsprechung zu got. tewa^ stf. »t^yil«,
ordo<, oder zum ahd. Frauennamen Zawa des Cal. Merseb. Jul.
finden.') Wäre das Wort ein Sachwort, so könnte man insbesondere
an ahd. gizanua, stf. >das Gelingen« zum swv. eauoen >glücken, ge-
lingen, zu teil werden« denken.^) Demnach würde man *tawü als
instrumentalen Dativ, wie >mit dem Wunsche des Gelingens, des
Glückes« oder >in bonam fortunam« erklären dürfen.
Ein Sachwort, auch nach Bugges Meinung, bietet der Bracteat
von Bjomerud, Nr. 36, der 1895 von der üniversitätssammlung nordi-
scher Altertümer in Christiania erworben wurde. Es ist das bereits
besprochene Wort aln, das in linksgewendeten Runen vor dem im
Profil dargestellten Menschenkopfe steht. Daß das u derselben ein
rechtsgewendetes sei, kann ich auf der Abbildung S. 428 nicht sehen.
Im übrigen möchte ich nur hinzufügen, daß mir die vorausgesetzten
Dative mit den germanischen adverbialen Dativen, wie got. allaim
haidum »icavtl Tpöic(|>< Beziehungen zu haben scheinen.
Eine längere, aber späterer Zeit angehörige Inschrift leistet der
Bracteat von Aagedal, Bugge Nr. 11, in vergrößertem Maßstab ab-
gebildet S. 188, der 1879 als Teil eines großen Grabfundes zu Tage
1) Vgl. das anter Elgesem zum Bracteaten Stephens, Nr. 27^ Gesagte! —
welche Gründe Bngge hestimmen, S. 554 diese Yerhindang ohne weiteres abzu-
lehnen, ist mir nicht verständlich.
2) Otfrid in der »Invocatio scriptoris ad Dominnmc. 1,2,^ gizduua mo
firlihe ginada thin theig thihe »verleihe deine Gnade ihm (d. L meinem Worte),
Gelingen, auf daß es gedeihe«.
158 G6U. gel. Ans. 1906. Nr. 2.
kam. Die Gegenstände lassen auf ein Frauengrab schließen und sind
archäologisch etwa um das Jahr 700 zu datieren.
Die volle Umschrift läuft mit linksgewendeten Kunen zwischen
einem äußeren und einem inneren Kreise eingeschlossen, am Rande
um das Bild, eine Reiterdarstellung. Bugge liest S. 200 zusammen-
gefaßt apilR RikipiR ai eirüidi, Uha ifalh fahd Hade eliß an it und
übersetzt »der edle R. besitzt den Häuptlingsschmuck. Uha gra-
vierte, schrieb, ordnete die Eibin (das wäre das Bild des Bracteaten!)
darauf«. S. 553 ändert er den Schluß in fahd ti-ad ee lifi an it,
übersetzt >(Uha) . . . schrieb darauf: kriegerischer Ty (der Gott-
name I), er lebe!<
Die Buchstaben sind in vielen Stücken so deutlich, daß man von
weiteren Bemühungen um die Inschrift die Erlangung eines in allen
Stücken befriedigenden Ergebnisses erwarten darf.
Einige Worte habe ich noch den Exkursen zu widmen, die zum
Teil Probleme der runischen Schriftzeichen erörtern, zum Teil Deu-
tungen nichtnorwegischer Inschriften einflechten.
Der Exkurs über die Rune der Fonnaaser Spange d, so in rechts-
gewendeter Schrift, S. 70f., begründet die Herleitung dieses Zeichens
aus der eckigen ;ara^Rune, deren Name später zu ära, an. dr wurde,
so daß mit dem Abfalle des anlautenden ; auch das Zeichen seine
ursprüngliche Lautgeltung zugunsten einer neuen ä verlor. Nur hat
Bugge nicht hervorgehoben, daß das Zeichen von Fonnaas nicht bloß
eine graphische Veränderung der eckigen, schon auf dem Lanzen-
schafte von Kragehul in dieser Form vorkommenden ;ara-Rune H
sei, sondern offenbar eine Doppelsetzung dieses Zeichens, eine Li-
gatur aI, die also nicht nur ausdrücklich tür die Schreibung des
lang a erfunden ist, sondern auch voraussetzt, daß zur Zeit, als sie
gebildet wurde, das einfache H als alphabetischer Ausdruck der
Länge nicht mehr angesehen sein könne. Die Inschrift des Krage-
huler Lanzenschaftes, abgebildet bei Wimmer, Die Runenschrift
S. 124, wird von diesem selbst S. 303 in die erste Hälfte des 6. Jahr-
hunderts gesetzt, während Montelius geneigt war, sie über 100 Jahre
früher, um 400 zu datieren. Das ist vermutlich übertrieben, aber so
viel ist sicher, daß die eckige /ära-Rune mit der runden 9 von Tune
z. B. gleichzeitig ist.
Wäre aber selbst die eckige järchRnne früher bezeugt als die
runde, was man schon mit Rücksicht auf das runde S der Thors-
bjsBrger Zwinge, die Wimmer, Die Runenschrift S. 303, zwischen 400
und 500 datiert, nicht zuzugeben braucht, so wäre das noch immer
kein Beweis, daß die eckige Form auch die alphabet-geschichtlich
Norges Indskrifter med de nldre Raner. 159
ältere sei, denn sie ist offenbar die Form der Holztechnik und es
ist kein Zufall, daß sie zuerst auf einem Holzgeräte auftaucht,
während sie später auch in Steininschriften, wie Istaby, eintreten
konnte. Wir müssen also annehmen, daß die runde Form der
Metalltechnik und die eckige der Holztechnik im 6. Jahrhundert
gleichzeitig nebeneinander bestanden haben, daß aus der letzteren
eine Ligatur äa gebildet wurde und nur aus dieser graphisch ge-
bildet werden konnte und ich finde daher keinen Widerspruch darin,
daß in der Fonnaaser Inschrift, die nach meiner Aufstellung runde
Form und die aus der eckigen der Holztechnik hervorgegangene
Ligatur nebeneinander vorkommen.
Von beträchtlichem Umfange, S. 117 — 148, ist der Exkurs Bugges
über die 13. Kune des germanischen Fuparks, deren rechtsläufige
Normalform nach meiner Ansicht die des Themsemessers und des
Bracteaten von Vadstena 1 ist.
Bugge zieht zunächst die ags. Schulüberlieferung der runischen
Alphabete heran, in der nicht alles klar ist, so z. B. schon nicht, ob
die Wertangabe im Fufuirk der Salzburger Handschrift % & h, wie
bei n d: g, d. i. = ng, additiv: lÄ, ob sie alternativ: T oder A, ob
sie nur bestimmend: h in der Qualität nach r, d. i. palatales x, ge-
meint sei.
Bugge erschließt den letzteren Wert für die Rune im Worte
aimehttig des Kreuzes von Ruthwell, während sie in den übrigen ags.
Inschriften einen t-Laut, wofür die Transliterierung i vorgeschlagen
wird, in den nordischen aber einen i-Laut oder ^-Laut vertrete, den
er S. 123 mit i oder b transliteriert. Ich habe nicht die Absicht,
gegen den in nordischen Inschriften zuweilen anzunehmenden Laut-
wert ^ etwas einzuwenden und muß dementsprechend den Wechsel
der Transliterierung i und b als einen wohlbedachten anerkennen.
Der Wechsel des Wertes wird sich ja ähnlich wie bei der ^ära-Rune
verhalten, die zuerst ;, dann a bedeutet, Bugge S. 123, und wie bei
dieser mit einem lautlichen Vorgänge am Runennamen zusammen-
hängen, d. h. das Zeichen, das ursprünglich dem Namen *ihaR ent-
sprechend, einen t-Laut bezeichnete, mußte später, da derselbe nach
Analogie der Beispiele bei Noreen, An. Gramm. P § 107,2 zu *ShaB
geworden war, auch als Bezeichnung eines 6-Lautes funktionieren.
Wenn es eine Zeit gab, in der nach dem zitierten an. vorliterarisch
wirkenden Lautgesetze Nom. *^haR und Dat. *ihs, Bugge S. 123, un-
ausgeglichen nebeneinander bestanden, so könnte für diese Periode so-
gar ein Schwanken des alphabetischen Lautwertes behauptet werden,
obwohl man denken sollte, daß derselbe doch wesentlich durch den
160 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
Nominatiy des Runennameiis bestimmt war. Aber diese aktuellen
LautgeltuDgen im Altnordischen haben mit der Abkunft des Zeichens
nichts zu tun und könnten als Beweis gegen meine graphische Her-
leitung derselben aus lateinischem Z mit dem vertauschten Werte y
nicht aufgeführt werden. Die von mir vorgeschlagene Transliterierung
y^ die dem Lautwerte nicht präiudiziert, beruhte auf der Beobach-
tung des Wechsels von i und unfestem y in der angelsächsischen
Orthographie mit lateinischen Buchstaben, zu der die Verwendung
der iA-Rune in angelsächsischen Inschriften sich ganz analog verhält.
Wenn in der Inschrift des Braunschweiger Reliquienschreines der
Genitiv des Pronomens hirce mit 4^ statt % geschrieben ist, so muß
man doch schließen, daß dieses Zeichen wenigstens orthographisch
etwas anderes sein soll als i : i, und da wir diphthongisches ie wegen
der in derselben Inschrift vorkommenden Schreibung hcel^g aus-
schließen müssen, so lag es nahe, das Zeichen nach der gelegent-
lichen Schreibung hyre als unfestes y zu interpretieren, um so mehr,
als sich ags. neben ican auch die Schreibung ycan findet — dies
zur Inschrift des Schwertgriffes von Gilton ^ce ic sigi >augeo uicto-
riam< — und auch ahd. orthographisches y zuweilen für i steht,
s. Braune, Ahd. Gramm. § 22.
Der Exkurs gibt Bugge die Gelegenheit, die angelsächsischen,
urnordischen und deutschen Denkmäler, in denen diese Rune vor-
kommt, zu besprechen und in einem besonderen Auslaufe, S. 133
bis 136, nachzuweisen, daß der alte Name der Rune 1 ags. ih, im
Norden auf die iz-Rune: Y in älterer Zeit, X. in jüngerer übertragen
worden sei, aus welchem Namen dieser Rune in jüngeren Inschriften
auch vokalische Geltung: y und e, erwuchs. In einem Schlußworte,
S. 145—148, stellt Bugge die Meinungen früherer Runenforscher über
die VRune zusammen.
Bei der Deutung der Inschriften innerhalb dieses Exkurses
bleiben doch noch manche Fragen ungelöst, so z. B. wie die Doppel-
schreibung des i in dem Worte liinmu des Braunschweiger Kästchens,
falls das ags. limu > membra < wäre, zu verstehen sei, oder die Er-
klärung der Inschrift des Bronzegegenstandes aus der Themse, die in
toto nicht überzeugt. Ein schöner Gewinn ist die Verständlichmachung
der Inschrift des Danneberger Bracteaten, gllaugin um rfuJnfojR,
S. 125 ff., aber die Beurteilung der Inschrift von Krogsta muß ich z. T.
für ergebnislos halten. Die Lesungen und Erklärungen der deutschen
Denkmäler, die sich von Hennings und Wimmers Auffassungen stark
entfernen, scheinen mir am allerzweifelhaftesten, doch wird man die
S. 140 gegebenen Beispiele orthographischer Buchstabenversetzungen
Norges Indskrifter med de sftldre Boner. 161
in jüngeren nordischen Inschriften aus der reichlich spendenden Hand
des grammatischen Forschers als wichtigen Behelf fttr die Beseitigung
so mancher Schwierigkeiten, auch in den älteren Inschriften, mit
Dank entgegennehmen.
Der nächste Exkurs, S. 148—158, behandelt die goüändische
Spangeninschrift von Etelhem mkmrlawrta^), deren Verbalform wrta
mit Auslaut a wie got. waurhta, nicht e wie umord. wurte l^nrkö,
orte By, sjde Gommor, dieselbe als gotisch erscheinen läßt.
Daran knüpft Bugge die ethnologische Betrachtung, daß die
Gotländer, die sich selbst Gutar nannten, mit den festländischen
Goten an der Weichselmündung ^ines Stammes gewesen, dann in
späterer Zeit, nach der Auswanderung der festländischen Goten im
3. Jahrhundert vom Stamme losgelöst, allmählich zu einem nordi-
schen Volke geworden wären.
Die ältesten gotländischen Denkmäler der historischen Zeit, dem
10. Jahrhundert angehörige Runeninschriften, seien schon ausgemacht
rein nordisch, nicht mehr gotisch. Doch glaubt Bugge aus einer
Beihe gotländischer Idiotismen, die S. 154—158 vorgefllhrt werden,
noch Beziehungen zum gotischen Wortschatze nachweisen zu können.
Ist diese Darlegung richtig, und ich zweifle nicht, daß sie es im
großen und ganzen ist, so muß man doppelt bedauern, daß der Ver-
fertiger der Inschrift uns die Binnenvokale der drei Wörter vorent-
halten hat, die erst volle Sicherheit über die nationale Herkunft der
Inschrift gewährten. Noreen löst mit nordischem Vokalismus auf fn[i]k
m[a]r[i]la tofujrtaa — hinter dem Schluß-a folgt noch ein Zeichen,
dessen Geltung, ob literal a oder bloßes Schlußzeichen wie die Ab-
schlußzeichen in Veblungsnes oder Skääng umstritten ist. — Bugge
S. 152 hält aber auch eine Ausfüllung mfsjrßjla für möglich.
In einem weiteren Exkurse, S. 264—66, sucht Bugge mit Rück-
sicht auf seine Erklärung des Wortes ue in der Odemotlander In-
schrift als maskulines Substantiv > heiliger Gegenstand«, die Existenz
dieses Wortes, das als Substantivierung des A4j. got. weü^ zu ver-
stehen wäre, auch aus anderen Inschriften wie der des Bracteaten
von Naesbjserg, Stephens Nr. 79, liliBidwQi, der des gotischen Gold-
ringes von Pietroassa und aus dem Komplexe #da der Inschrift von
Fyrunga zu begründen, ein Versuch, der mir in keinem Falle ge-
lungen schemt.
Ein Exkurs, obschon nicht als solcher gekennzeichnet, ist auch
1) 5. Jahrhundert, sp&testens um 600 nach MonteUus (Bugge S. 154), 550
bis 600 Wünmer, Die Runenschrift, S. 304, etwas nach 500 Noreen, An. Gramm. I'
S. 336.
162 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
die in Nr. 35, Kamm von Nedre Hov, eingefügte Erklärung der In-
schrift der Spange ans dem Viermoore, S. 424—427. ^)
Die Verfasser, Bugge und Olsen, transliterieren nach der Ab-
bildung bei Wimmer, Die Runenschrift, S. 147 laasauwlnga (r.)
aadagäsu (umgewendet r.) und deuten die weder von Wimmer, der
in ihr wirkliche Wörter überhaupt nicht anerkennen wollte, noch von
Noreen erklärte Inschrift, als Namenkombination *Aadaga[n]$uJaa
sa Uwinga. Dagegen ist aber einzuwenden, daß ein Auslaut mit 6e-
minata a, also lang a bei einem mask. n-Stamme lautlich nicht zu
verstehen sei und daß sich die von den Verfassern berührte Möglich-
keit, es wäre durch die nur graphische Geminata am Ende des Wortes
eine symmetrische Zusammenfassung und Abgrenzung desselben gegen
die folgenden Teile der Inschrift bezweckt, durch keinerlei Beispiel
stützen lasse. Abgrenzung wenigstens wäre durch ein Trennungs-
zeichen weit bequemer und unzweideutiger erreicht. Femer ist
geltend zu machen, daß man den Beginn der Inschrift eher bei der
inneren Zeile erwartet, als bei der am äußeren Rande angebrachten,
endlich, daß die Lesung der vorletzten Rune der Seite als ng nicht
bloß dubios, sondern offenbar unrichtig ist. Das Zeichen ist typisch
genau dasselbe von Torsbjserg, Vädstena, Tune, Skodborg, Torviken
und kann nur ;, nicht ng gelesen werden. Materiell läßt sich gegen
die Deutung der Verfasser die Häufung der Vogelnamen >Gans< im
Hauptnamen und >Uhu€ im Patronymikon einwenden, die bei aller
Anerkennung des altgermanischen Witzes in Namen denn doch des
Guten etwas zu viel tut. Formell ist die schwache Bildung des ver-
meintlichen Patronymikons anfechtbar, ungewöhnlich die Deminution
eines zusammengesetzten Namens.
Die Gleichung des Elementes äda- zu isl. (kpr >Eidergans< einer
movierten fem. Form mag ja richtig sein, obgleich uns in den alt-
hochdeutschen Namen Äto^ Ato, Aata Libri confrat. ein mit umord.
aäor vergleichbares Element zu Gebote steht, das doch wohl anderes
Ursprunges ist, und gegen Bezug des Komplexes gctsu auf ein urnord.
Mask. *gan$uB >Gans< habe ich keinerlei Bedenken vorzubringen,
um so weniger, als ja an. Gassi, ahd. Gansalin Graff, Ccensili Libr.
confr., röm.-germ. Gandestrius Tac. als Beinamen begegnen, aber die
von den Verfassern behauptete Deminutivform ist mir nicht nur
sprachlich bedenklich, sondern scheint auch paläographisch weniger
empfohlen, als die einfache aadagafnjsu, die bei einer ganzzeiligen
Lesung laasauw^a | aadagäsu sich ergibt.
1) Erste H&lfte des 6. Jahrhunderts, Wimmer, Die Runenschrift, S. 303,
zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts, Noreen, An. Gramm. P S. 347.
Norges Indskrifter med de eldre Raner. 168
Der Vorteil dieser Anordnung ist unverkennbar. Wir gewinnen
zwei zusammengesetzte Namen, den einen im Nominativ, den an-
deren im Dativ und können sofort ausmachen, daß das Verhältnis
beider nicht anders wie bei HeldaR Kunimufnjdiu . . . Tjurkö oder
Manios med fefdked Numasioi, Fibel von Praeneste zu denken sei,
daß wir es also jedesfalls mit einem Dativ des Interesses >Lä8auwija
für Ädaga[n]suB< zu tun haben.
Der Dativ -gafnjsü verhält sich dabei zu dem aus Tjurkö belegten
Dat. 'mufnjdiu wie die gotischen gelegentlichen monophthongischen
Dative auf -u zu den paradigmatischen auf -oti. Die Restitution
eines n ist nach Afnjsugisaias Eragehul ganz in Ordnung.
Lasauwija aber müßte man als Ableitung aus einem Ortsnamen
oder Ortsappellativum *Lasatoi ansehen, so wie HoltingaR Gallehus,
oder wie etwa röm.-got. Uidigöia auf eine territoriale Bezeichnung
*widugawi > das Waldland c zurückgeht, oder die deutschen Personen-
namen auf -gouwo von Ortsnamen mit -gouui im zweiten Teile ab-
stammen. Aus einfachem *a%o% abgeleitet ist der ahd. Personename
Ouuiw Libri confr., entsprechend dem röm.-germ. Volksnamen Auiones.
Der erste Teil des Kompositums könnte etwa im ags. Ices^ -tce,
-e >pascua<, mod. engl, leasow gefunden werden, einem Worte, das
im ags. tta-Stamm vielleicht ursprünglich ti-Stamm: ^läsu-^ got. *lssu'
gewesen sein kann. Das thematische wa oder u müßte also im Kom-
positum synkopiert sein.
Das Wort scheint übrigens von ags. Ices f. »a letting« etymo-
logisch nicht verschieden. Ob das Element im deutschen Ortsnamen
Laasdorp a. 945, heute »Lastrup« in Oldenburg, siehe Förstern.
Nbd. IV, angenommen werden dürfe, kann ich nicht ausmachen.
Ich will damit mein Keferat abbrechen. Daß dasselbe die Fülle
der von Bugge aufgegriffenen Probleme nur ausschnittsweise vor-
führen konnte, war von vornherein ebenso entschieden, wie daß es
nur zu den inschriftlichen Fragen, die sich an die älteren norwegi-
schen Denkmäler, als den Rückgrat des ganzen Werkes, knüpfen,
Stellung nehmen konnte.
Daß dies zum Teil in Richtungen geschah, die von Bugge selbst
angebahnt sind, ist dem Reichtum seiner Eingebungen zu danken,
doch hofft der Berichterstatter, der eher ein Mitarbeiter sein wollte
als ein Kritiker, in einigen Punkten wenigstens, der Runenforschnng,
dieser nach sachlicher Grundlage und Arbeitsleistung fast ausschließ-
lich nordischen Angelegenheit, auch eigene, fordernde Gedanken zu-
geführt zu haben.
Czernowitz. Theodor von Grienberger.
166 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 2.
hafte geistliche Rhetorik auf deutsch kaum zu lesen ertragen, nur
die fremde Sprache hält die Aufmerksamkeit wach. Die Dogmatik
des Mar Jakob kann nur der würdigen, dem eine genaue Kenntnis
der Dogmengeschichte und speziell der syrischen Patristik einen
Maßstab der Vergleichung bietet. Sein Monophysitismus tritt hier
nirgend sehr deutlich, namentlich nirgend polemisch auf. Für den
Kenner mag er sich darum doch bemerklich machen. Es fällt auf,
wie sehr Mar Jakob bestrebt ist, unter dem Einfluß griechischer
Philosophie die biblischen Anthropomorphismen aufzulösen: Gott
kommt nicht wirklich auf den Sinai herab, ruft nicht wirklich die
zehn Gebote den Juden laut in die Ohren, schreibt sie nicht wirk-
lich mit eigener Hand auf die zwei Tafeln u. s. w. Dabei kommt er
freilich nicht über ein widerspruchsvolles Schwanken heraus; er läßt
trotzdem den sogenannten biblischen Realismus gelten, auch in seiner
Auf&ssung der Sakramente. Die christliche Taufe betrachtet er als
Fortsetzung der Taufe (im passivischen Sinn) Jesu, als Sohnwerdung
durch den heiligen Geist; doch entsündige die Kirche durch ihre
Sakramente auch diejenigen, die kein Bewußtsein davon haben, z. B.
die Kinder und die Toten. Man solle nicht an den Gräbern weinen,
sondern Opfer für die Verstorbenen (d. h. Beiträge an Brot und
Wein fUr die Eucharistie) in die Kirche bringen und sie nicht etwa
hochmütigerweise nur durch eine Magd hinschicken; denn davon,
was die Lebendigen opfern, haben die Toten Gewinn. Heilige solle
man aber nicht anrufen. Im Verhältnis zu dem Herrn steht nicht
etwa, wie bei den Gnostikern, die Seele, sondern die Kirche; das
Alte Testament wird vorzugsweise als Vorbildung der Kirche ver-
wertet, weniger als Weissagung auf Jesus Christus. Indessen, das
Dogma wird im ganzen eher vorausgesetzt, als eingeschärft; die
neblige und amorphe Sphäre, die um den festen Kern herum liegt,
tritt dagegen stark hervor. Aus den biblischen Themata, die Mar
Jakob seinen Betrachtungen zugrunde legt, zieht er weit mehr und
weit Phantastischeres heraus, als was die eigentliche Dogmatik ent-
hält — wie das ja auch sonst bei Predigten üblich ist Zum Teil
schöpft er dabei wohl aus seinem eigenen Busen, zum Teil aber aus
einer hergebrachten, halbmythischen Exegese. Den reichen Jüngling
(Matth. 19) schilt er als einen hochmütigen Heuchler; den Lot lobt
er als verständig, weil er seine Töchter für die Gerechtigkeit aus*
liefern wollte. Jesus ist der Honig aus dem Aas von Simsons Löwen,
er hat den Löwen Tod getötet. Er ist auch der Hirsch, der für die
Schlange perniziös ist; es wird da wohl auf eine Legende Bezug
genommen, über die man sich aus dem Physiologus wird unterrichten
Mar Jacob! Sarugensis homiliae ed. Bedjan. I. 167
können. Jedem Frommen steht sein Engel im Himmel in der Ver-
suchung bei; zuweilen indessen läßt Gott ihn allein gegenüber der
Anfechtung, und dann wird die Sache schlimm, wie bei Hieb. Das
Brot für den Tag soll man deshalb erbitten, weil es nicht zuträglich
und auch kaum möglich ist, die Portion für zwei Tage an einem
einzigen zu fressen, wie es die Könige und die Reichen tun möchten.
Man sieht, daß hier das alte lachma amina d'jauma (das be-
ständige Brot für den Tag) zugrunde liegt, entsprechend der Lesart
des Lukas (töv äptov töv lÄto6otov tö xa*' i^iiipav), die in der Vetus
Syra auch bei Matthäus erscheint, wo die griechische Ueberlieferung
a7]|i6pov statt xad*' f^|i^pav bietet.
Wie sich für einen alten syrischen Kirchenvater von selbst ver-
steht, ist Mar Jakob auf das innigste mit der Bibel vertraut, nicht
zum wenigsten mit dem Alten Testament; er lebt und webt darin.
Gelegentlich benutzt er auch die Apokryphen, die Berechtigung des
Meßopfers für die Verstorbenen stützt er auf das zweite Makkabäer-
buch (12,43—45). Um die Epitheta, die er gebraucht, und die An-
spielungen, in denen er sich ergeht, zu verstehen, dazu gehört eine
Bibelfestigkeit, wie sie nachgerade selten geworden ist. Der Heraus-
.geber hätte hier wohl ein Uebriges tun können, um dem Leser zu
helfen. Er gibt nur sehr selten Bibelstellen an ; es wäre nötiger ge-
wesen, Act. 5,25 zu Seite 39,17 zu zitieren, als Isa. 5,1 zu Seite
330, 16.
Sprachliche Beobachtungen habe ich wenig gemacht, da ich
dafür nicht recht vorbereitet bin. Für den untergeordneten Satz
wird auffallend häufig (etwa wie im Aethiopischen) das nackte Im-
perfekt verwandt, statt des Infinitivs oder des mit der Partikel de
präfigierten Imperfekts. Das Lamed des Akkusativs scheint weit
seltener vorzukommen, als in der Prosa üblich ist. Für er war im
Begriff zu fallen oder aufzusteigen heißt es ^"^^^^ {o» oder
«Attl^ {oi (18,7. 33,10). Die lexikalische Ausbeute ist gewiß nicht
geringfügig; es kommen manche seltene Wörter vor und noch mehr
seltene Bedeutungen bekannter Wörter. So «o^ (240, 3. 324, 14) im
Sinne von jo mit der Präposition ;q^ = etwas mit einem abmachen,
paktieren. Der Imperativ {&<^ des denominativen Paels Jb^^ ist
durch 228,5 zu belegen. Häufig wird ^läa in einem sehr abge-
blaßten Sinn gebraucht (z. B. 462, 7 : Schweigen üben), ebenso manch-
mal Jb^^ im Sinne von empfangen (58,18. 156,2). Die Bedensart
^o»L JLu)o{ (476,17) bedeutet der Weg wird begangen, ebenso
wie oU ji^)( die Erde wird bewohnt. Neben {^ findet sich
im gleichen Sinne das intransitive )^ (z. B. 5, 6). Das Wort l^,^
168 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 2.
für Streit findet sich 336,8; ich verstehe aber den Satz nicht.
Ebenso wennig verstehe ich das Verbum lyski^ (24,5). Die hand-
schriftliche Ueberlieferung scheint mir hie nnd da bedenklich zn sein.
Sie schwankt stark, wie man ans der kleinen Probe erkennen kann,
welche Bnrkitt in seiner neuen Ausgabe der alten syrischen Evan-
gelien (2, 269) gegeben hat. Bedjan gibt nur eine Auswahl aus dem
Ballast der Varianten. Er hätte öfters die Variante in den Text
setzen müssen, z. B. in dem Verse 486, 3, obgleich es schade ist,
daß dann das interessante o;^^ (für {Lo;^^^^, die Weisheit von Be-
rytus) verschwinden würde. In vi^^W (541,11) hätte er am Schluß
wohl ein Ghet statt des 'Ain schreiben dürfen. Im Uebrigen hat er
sich seine Aufgabe keineswegs leicht gemacht. Er hat den Text,
wie er immer zu tun pflegt, durchgängig punktiert, wobei er in-
dessen ungewöhnliche Aussprachen, die durch das Metrum erfordert
werden, unberücksichtigt läßt, ohne Zweifel mit Absicht. Es mag
dabei allerlei Subjektives mit untergelaufen sein, und von rein
wissenschaftlichem Standpunkte lassen sich Einwendungen dagegen
erheben, daß aus praktischen Zwecken ein westsyrischer Autor ganz
nach ostsyrischer Weise vokalisiert wird. Aber die vollständige
Punktierung des Textes bedeutet doch einen wertvollen durchlaufen-
den Kommentar, den nur wenige europäische Gelehrte in dieser
Weise hätten schreiben können und der die Lektüre sehr er-
leichtert.
Aus Versehen ist S. XII das letzte Buch des Bellum Judaicum
statt des vorletzten angegeben. Mehrere Seitenzahlen am Anfang
des Inhaltsverzeichnisses S. IX und X sind verdruckt.
Göttingen. Wellhausen.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Rudolf Meißner in GOttingen.
Mflrz 1906. No. 3.
Fr. GleMlbreelit, Die ftlttestamentliche Schätzung des Gottes-
namens und ihre religionsgeschichtliche Grandlage. Königsberg,
Thomas &Oppermami (F. Bejersche Bachhandlang), 1901. VI, 144 S. Mk. 4.— .
Vorliegende interessante nnd in ihren Ergebnissen bedeutsame
Schrift beschäftigt sich mit einem Problem der alttestamentlichen
Wissenschaft, das zwar auch schon vorher mehr oder weniger deut-
lich empfunden wurde, aber ohne eine allseitig befriedigende Lösung
geblieben war. 1898 hatte J. Boehmer eine Monographie veröffent-
licht, die der gleichen Frage gewidmet war (Das biblische >im
Namen €. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung über das hebrä-
ische Dth und seine griechischen Aequivalente, Gießen, Ricker), sich
aber über den alttestamentlichen Bereich hinaus auch und besonders
auf das neue Testament erstreckte und eine Lösung lediglich im
Rahmen der biblischen Literatur suchte. Auch diese Arbeit brachte
noch keine genügende Lösung, wie Giesebrecht in zuweilen recht
temperamentvoller Auseinandersetzung darzutun sucht. Giesebrecht
selbst beschränkt — mit gutem Grunde — seine Aufgabe auf das
alte Testament, schlägt aber einen neuen, in unserem religions-
geschichtlichen Zeitalter naheliegenden Weg ein, den oft so auffälligen
Gebrauch des Gottesnamens (es handelt sich dabei um den Ge-
brauch des Ausdrucks DtD in Beziehung auf Gott, des T\lTy^ utD als
einer Art selbständigen Wesens neben dem Gotte Jahwe) im alten
Testament zu einem wirklichen vorstellungsgeschichtlichen Verständnis
zu bringen.
Es finden sich, wenn nicht überall, so doch sehr weit verbreitet
innerhalb der Völkerwelt abergläubische Vorstellungen und Gebrauchs-
weisen von Namen überhaupt und insbesondere von Namen göttlicher
oder gottverwandter Wesen (Giesebrecht bietet im in. Teil seiner
Arbeit ausreichende Beweise hierfür), die mit den auffälligsten Er-
scheinungen im alttestamentlichen Gebrauche des Gottesnamens un-
verkennbare Verwandtschaft zeigen und uns die ersehnte Erklärung
für sie zu bieten verheißen.
0«H. gel. Abs. 1900. Nr. 8. 12
170 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Giesebrechts Arbeit ist zweifellos erfolgreich gewesen. Sie hat,
indem sie den alttestamentlichen Gebrauch in den ZusammenhaDg
jener allgemeingeschichtlichen Erscheinungen hineingestellt, den rich-
tigen Weg zu seinem Verständnis gezeigt. Das beweist auch die
nicht unbeträchtliche Literatur, die ihr gefolgt und von ihr wesent-
lich befruchtet ist, wie W. Heitmüllers Buch (Im Namen Jesu 1903),
wie das des Rabbiners B. Jacob (Im Namen Gottes. Eine sprach-
liche und religionsgeschichtliche Untersuchung zum alten und neuen
Testament, 1903), der freilich (begreiflicherweise, aber vergebens)
das alte Testament möglichst von dem im Sinne Giesebrechts all-
gemeinmenschlichen , d. h. heidnischen Einschlag zu entlasten sucht,
ferner W. Brandts Aufsatz in der Theol. Tijdschr. 1904 (De too ver-
kracht van namen in oud en nieuw testament) und J. Boehmers,
Giesebrechts wie Heitmüllers und Jacobs Schrift kritisch besprechender
Aufsatz, den er in der von ihm herausgegebenen Monatschrift >Die
Studierstube € 1904 (Juni bis Okt.) veröffentlichte unter dem Titel:
Das biblische >Im Namen«: Zauberformel? Phrase? Glaubens-
bekenntnis?
Leider haben oft recht schwere, die Ausführung von Arbeiten,
die über meine nächsten Berufspflichten hinausgingen, arg hemmende,
äußere und innere Umstände in meinem persönlichen Leben und teils
auch dazwischen hineinfallende unaufschiebbare Arbeitspflichten zur
Folge gehabt, daß sich die von mir gern übernommene Anzeige der
für das vorliegende Problem grundlegenden Arbeit Giesebrechts so
ungebührlich lange verzögert hat. Ziemlich ausgedehnte Vorarbeiten
für ihre Besprechung hatte ich zeitig genug begonnen und mit
häufigen Unterbrechungen auch schon vor geraumer Zeit abgeschlossen,
aber der zusammenfassenden Darstellung dessen, was ich zu sagen
habe, stellten sich leider immer von neuem Hindernisse in den Weg.
Angesichts der angeführten, inzwischen erschienenen ansehnlichen
Literatur hätte ich wohl Bedenken tragen können, ob es angebracht
sei, die Anzeige jetzt noch so spät ausgehen zu lassen. Aber gute,
die weitere Forschung wirklich befruchtende Bücher verlieren ihren
Wert ja nicht, und ein Hinweis auf sie an bedeutsamer Stelle kann
darum nicht ohne weiteres für überflüssig gehalten werden, auch
wenn er spät erfolgt. Dieser Gedanke, aber nicht minder auch die
Ueberzeugung , mit der Anzeige zugleich aus meiner eigenen Arbeit
etwas förderliches zur Diskussion des Problems beitragen zu können,
hat mir Mut gemacht, anstatt mich unter Entschuldigungen zurück-
zuziehen, jetzt noch die Anzeige darzubieten. Möge das, was ich
bieten zu dürfen glaube, mich rechtfertigen.
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 171
Giesebrecht charakteirisiert in einleitenden Ausführungen das
Problem und stellt als Aufgabe, die er lösen will, den Nachweis fest,
daß das alte Testament in seiner Schätzung des Oottesnamens von
einer anderen Weltanschauung ausgehe als wir (S. 4). Es handle
sich auch nicht um eine lediglich biblische Erscheinung, sondern um
einen uralten, über die ganze Mtoschheit verbreiteten und für die
antike Religion überhaupt charakteristischen Gebrauch des »Götter-
nameDS< (S. 3). Besonderen Dank verdient er für den Hinweis auf
Origenes' bedeutsame Ausführungen zu derselben Frage in der Schrift
c. Gels. 1,24 f.; 5,45. Die Vermutung, es würde ihm auf Grund
seiner Arbeit der Vorwurf der Entwicklungstheorie gemacht werden,
gibt ihm Anlaß zu einigen Bemerkungen über die religionsgeschicht-
liche Methode in ihrer Anwendung auf die alttestamentliche Religion.
Es könnte mich reizen, dazu einiges zu sagen, aber ich möchte den
Baum doch für Wichtigeres sparen.
Im ersten Teil (S. 7—45) seiner Arbeit führt Giesebrecht dem
Leser den Tatbestand des alttestamentlichen Gebrauchs des Wortes
üt vor Augen und zwar einerseits in seiner Anwendung auf Wesen
außer Gott und andererseits in seiner Verbindung mit Gott, beides
nach den verschiedenen Sichtungen des wirklichen Gebrauchs. Im
zweiten Teil (S. 45—68) läßt er, um die bisher gegebenen Erklä-
rungen des Tatbestandes vorzuführen, eine Beibe von Gelehrten ihre
Meinungen vortragen und unterwirft sie dann einer eingehenden
Kritik. Er beschließt diesen Teil (S. 66 — 68) mit einer möglichst
knapp formulierten Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Kritik.
In sieben Sätzen legt er fest, in welchen Bichtungen der alttesta-
mentliche Tatbestand bisher noch keine ausreichende und überzeu-
gende Erklärung gefunden hat.
Als erstes, das bisher noch keine ausreichende Erklärung ge-
funden, bezeichnet Giesebrecht die außerordentliche Häufigkeit des
Gebrauchs des > Namens Gottes c. Gewiß, sagt er, hätten Propheten
und Psalmisten einen Kampf gegen die anderen Götter führen
müssen, und es sei daher wohl begreiflich, daß sie hierbei den
Jahwenamen als den Namen, den fromme Israeliten allein in den
Mund nehmen durften, stärker betonten, als es später wohl nötig
gewesen sei, aber damit sei die Frage für die überwiegende Masse
des vorliegenden Materials noch nicht erledigt, warum der Ausdruck
»Name Gottes (Jahwes) < so häufig angewandt werde.
Das ist an sich gewiß alles richtig. Aber gerade der Gegensatz,
der zwischen dem Hinweis auf die Propheten (die Psalmisten müssen
zunächst begreiflicherweise ausscheiden; sie zeitlich im einzelnen fest-
zulegen, ist ja bisher unmöglich) und dem Satze zutage tritt, es sei
12*
172 Gott. gel. Anz. 1906. Nr.- 3.
vielleicht später eine so starke Hervorhebung des Jahwenamens
nicht mehr nötig gewesen, zwingt mich unter dem gleichzeitigen
Einfluß der heutigen Lage der alttestamentlichen Textkritik zu einer
Zwischenfrage, von deren Beantwortung meines Erachtens die Ent-
scheidung auch der von Giesebrecht aufgerollten besonderen religions-
geschichtlichen Frage recht wesentlich mitbestimmt, vielleicht sogar
in eine neue bedeutsame Beleuchtung gerückt wird. Die genaue
Feststellung dieser Zwischenfrage mag sich aus dem Folgenden er-
geben.
Stade hatte schon in seiner Geschichte des Volkes Israel II, 247 ff.
die Beobachtung mitgeteilt, der hier in Frage stehende Gebrauch des
Gottesnamens gehöre zu den Eigentümlichkeiten der deuterono-
mistischen Schule und habe dann in nachexilischer Zeit (also ge-
rade in der Zeit, wo, wie wir hörten, nach Giesebrecht vielleicht an
sich eine so starke Hervorhebung des Jahwenamens nicht mehr nötig
gewesen wäre) stärkere Verbreitung gefunden. In seiner Biblischen
Theologie des alten Testaments (1905) I § 25 erklärt er im Einklang
damit, Einwirkungen des Namenaberglaubens (diesen selbst setzt er
freilich, wie es scheint, in Israel stillschweigend auch für ältere
Zeiten voraus) >auf Kult und Religion« ließen sich »erst seit dem
7. Jahrhundert belegen«. Giesebrecht hat selbstverständlich auf
Stades Urteil an jener ersten Stelle kritische Rücksicht genommen
(S. 33 ff.), aber seine zeitliche Begrenzung des Gebrauchs des Gottes-
namens in bestimmter kultischer Beziehung vermag er schließlich
doch nicht anzuerkennen.
Diese Differenz zwischen Giesebrecht und Stade, vornehmlich
aber die unbestreitbare Gewißheit, daß die älteren Schriften nicht
ganz selten und dazu in oft durchaus nicht unwesentlichen Dingen
vom Standpunkt jüngerer Zeit und veränderten Glaubens aus eine
das Alte abändernde Bearbeitung erfahren haben, gab mir Veran-
lassung zu prüfen, ob Stade oder Giesebrecht im Rechte sei. Je
mehr ich nun in das zur Untersuchung stehende Material kritisch
eindrang, um so schärfer drängte sich mir die Erkenntnis der
Wichtigkeit auf, die eine möglichst genaue Feststellung der Zeit,
seit wann, eventuell auch wo der merkwürdige Gebrauch des
Gottesnamens nachweisbar sei, für die religionsgeschichtliche Er-
kenntnis auf alttestamentlichem Boden überhaupt haben könne und
haben müsse. Gewiß findet sich jetzt jener Gebrauch des Gottes-
namens in literarischen Zusammenhängen, die uns in Zeiten hinauf
führen, die vor der von Stade bezeichneten Grenzlinie liegen. Aber
es ist doch die Frage, ob auch nur an einer einzigen Stelle wir dem
DV Gottes (Jahwes) in ursprünglichem Zusammenhang begegnen.
Giesebrecht, Die alttettamentliche 8ch&tzang des Gottesnamens. 173
Natürlich erkennt auch Giesebrecht für eine große Anzahl von
Stallen deuteronomistischen oder doch jüngeren Ursprung an, aber
einzelne nimmt er davon doch mit größerer oder geringerer Ent-
schiedenheit aus. Mir aber drängte sich bei meiner Durcharbeitung
des Materials die Frage auf, ob nicht auch diese Stellen genau so
wie jene anderen beurteilt werden müssten, und das Ergebnis meiner
Untersuchung rechtfertigte diese Frage vollkommen.
Mit der Möglichkeit, daß Stades These der Wirklichkeit ent-
spreche, tauchte sodann vor meinen Augen eine neue, von Giese-
brecht nicht erwogene Frage von nicht geringerer religionsgeschicht-
licher Tragweite auf. Ich mußte mir, wenn Stade Recht haben sollte,
die Frage vorlegen, wie es sich erkläre, daß der auffällige Gebrauch
des Gottesnamens in so junger Zeit aufkam, ob sich derselbe aus der
geistesgeschichtlichen Entwicklung Israels selbst und allein begreifen
lasse, oder ob sich in seinem Aufkommen nicht vielmehr auch der
Einfluß von Beziehungen geltend mache, in die in jenen Zeiten das
Volk zu fremden religiösen Vorstellungskreisen gekommen war. Die
Möglichkeit eines solchen Einflusses und auch einer Verkörperung
desselben im religiösen Sprachgebrauch der jüdischen Gemeinde läßt
äich sicher nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Und sollten
Bich positive Gründe für die Erhebung dieser Möglichkeit wenig-
stens zur Wahrscheinlichkeit finden lassen, so könnte das Ergebnis
auch für andere religionsgeschichtliche Probleme auf alttestament-
lichem Boden von nicht geringer Bedeutung werden.
Ich habe nun diese Fragen mir wirklich vorgelegt und auf sie
eine Antwort gesucht. Wie ich meine, ist die Mühe nicht umsonst
gewesen. Wir können in den angegebenen Richtungen noch sichere
Schritte vorwärts tun. Es sei mir gestattet, hier in möglichster
Kürze den Ertrag meiner Arbeit mitzuteilen. Es versteht sich von
selbst, daß ich schon mit Rücksicht auf den Raum meine kritischen
Erwägungen nicht in extenso zur Darstellung bringen kann, das muß
ich mir, so weit es nötig ist, für eine andere Gelegenheit vorbe-
halten. Ich werde mich meist mit nur kurzen Ausführungen oder
gar nur Andeutungen begnügen.
Zunächst aber noch eine methodische Bemerkung. Es ist ein
das Endergebnis der Untersuchung leicht übel beeinflussender me-
thodischer Fehler, bei einer zugleich kritischen Darlegung des in
Frage stehenden Materials nur eine sachliche Gruppierung desselben
zu bieten, ohne dabei die für die geschichtliche Beurteilung seines
Vorstellungsinhaltes doch sehr bedeutsamen literarhistorischen Ge-
sichtspunkte mit allem Ernste zu beachten. Bei einer bloß sach-
lichen Gruppierung ist die Gefahr sehr groß, daß die von einem
174 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Teile der Beweisstellen vertretene, aber vielleicht oder gar sicher
erst einer jüngeren Entwicklungsstufe angehörige Vorstellung das
Auge des Forschers derart gefangen nimmt, daß es auch andere
älterer Zeit entsprossene und tatsächlich inhaltlich abweichende
Stellen in der von jenen gebotenen Beleuchtung schaut und das Ur-
teil alsdann irreleitet. Giesebrecht ist dieser Gefahr auch nicht ent-
gangen. Es sind doch nicht ganz wenige Stellen, die für ihn unter
den vom sogenannten Namenglauben oder -aberglauben dargebotenen
Gesichtswinkel gerückt sind, ohne daß sie es in Wahrheit verdient
hätten. Dieser Gefahr kann die religionsgeschichtliche Untersuchung
überhaupt nur entgehen, wenn sie bei der Zusammenstellung und
Bearbeitung des Materials aufs strengste die wenigstens subjektiv
als sicher angesehenen Ergebnisse der literarhistorischen Arbeit am
alttestamentlichen Schrifttum beachtet.
Eine diesem längst erprobten, aber leider nicht allseitig be-
folgten Grundsatz entsprechend aufgestellte statistische Uebersicht
über den Gebrauch des Wortes üW in Verbindung mit der Gottheit,
soweit er hier in Betracht kommt, zeigte mir sofort ein Bild, das
sich mit überraschender Deutlichkeit der Position Stades günstig
erwies. Es ist wirklich so: einerseits das Deuteronomium,
andererseits das Buch Jeremia in der Gestalt, in der
beide Bücher heute uns vorliegen, bilden sichtlich
wenigstens im allgemeinen zeitlich nach rückwärts
eine feste obere Grenze für das Auftreten des >Namens<
Gottes im religiösen Sprachgebrauch überhaupt oder
doch mindestens für sein auffällig starkes Auftreten
in dem von Giesebrecht gemeinten Sinne. Die Zahl von
Stellen, die nach ihrer Umgebung oder dem literarischen Zusammen-
hang, in dem sie stehen, älteren, vor jener Grenze liegenden Zeiten
anzugehören beanspruchen und die anscheinend den gleichen Namen-
glauben bekunden wie andere zeitlich unterhalb jener Grenze liegende
Stellen, ist auffällig gering, und die Kleinheit ihrer Zahl wird
noch eindrucksvoller, wenn man sie im Zusammenhange der Schriften
oder Schriftteile betrachtet, wozu sie zunächst gehören. Da sieht
man sich unwillkürlich zu der Frage gedrängt, ob es sich bei den
ganz vereinzelten Stellen wirklich um ursprüngliche Aussagen der
alten Verfasser handele und nicht vielmehr um Einschübe von jün-
geren Händen, oder ob man recht daran tue, sie im Sinne von
Giesebrechts Erklärungsversuch zu verstehen, und nicht vielmehr
richtiger handle, wenn man einer harmloseren Auffassung das
Wort rede.
Es liegt auf der Hand, daß es von besonderer Beweiskraft für
Glesebrecht, Die alttestamentliche Sch&tzang des Qottesnamens. 175
das Vorhandensein des sogenannten Namenglanbens in der Jahwe-
religion auch schon in älterer vorexilischer Zeit sein würde, wenn
sich in den älteren Prophetenschriften kritisch unanfechtbare
Stellen fänden, die man im Sinne dieses Aberglaubens deuten müßte
oder doch deuten könnte. Meines Erachtens finden sich aber solche
Stellen nicht.
Im Buche Amos stoßen wir auf mehrere Stellen, die im Sinne
Giesebrechts in Betracht kommen können, aber alle ohne Ausnahme
bieten der Textkritik verheißungsvolle Angriffspunkte. Zunächst be-
gegnet uns das formelhafte iTO nn*» 5,8; 9,6 oder 'tJ rYT«ax -^nbÄ '^'»
4,13; 5,27 (vgl. Giesebrecht S. 30). In 5,27 streichen Wellhausen,
Nowack, Marti Wto als Zusatz jttngerer Hand, wohl mit Recht. Die
drei anderen Stellen gelten vielen Kritikern, auch wohl Giesebrecht,
als Teile jttngerer doxologischer Einschübe, und unleugbar bieten sie
Anlaß zu Bedenken gegen ihre Ursprünglichkeit, wenigstens in der
überlieferten Form. 4, 12 f. ist offenbar nur ein trümmerhafter Text;
5,8.9 zerreißen jetzt den Zusammenhang, abgesehen von anderen
Schwierigkeiten in v. 6—10; 9, 5 f. schließt sich formell auch nicht
gut an das Vorausgehende an, v. 6^ ist dazu == 5, 8^, v. 5^ = 8,8^
Die Möglichkeit, daß hier jüngere Zusätze vorliegen, muß zugegeben
werden. Diese Möglichkeit wird in Bezug auf jenes formelhafte
1t3tb TVXV^ umso näher gerückt, als dasselbe in der ganzen älteren
prophetischen, ja, auch der außerprophetischen Literatur bis auf das
Jeremiabuch hinab unbekannt ist, eine scheinbare Ausnahme im
Exodus wird uns noch beschäftigen. Wäre diese doxologische Formel
zur Zeit des Amos so geläufig gewesen, wie die Stellen seines Buches
vermuten lassen, so sollte man erwarten, daß sie uns auch z. B. bei
einem Jesaja begegnete, dessen Prophetie ihrem Inhalte wie ihrer
Form nach nicht selten Gelegenheit geboten hätte, so nachdrücklich,
wie es in jenen Amosstellen geschieht, auf den Namen Jahwes hin-
zuweisen. Jedenfalls können diese Stellen nicht beweisen, daß die
Formel dem Amos und dann unter den prophetischen Schriftstellern
der vorexilischen Zeit ihm allein geläufig war, am wenigsten aber
können sie beweisen, daß man schon in jener Zeit, d. h. im 8. Jahr-
hundert, mit dem üW Jahwes besondere Vorstellungen im Sinne des
Namenglaubens verknüpfte. — 9,12 finden wir die an sich freilich
harmlose, nur ein Besitzverhältnis ausdrückende, immerhin aber wegen
des starken Hervortretens des göttlichen üW bemerkenswerte Formel
b:p v-» uw Änp3. Kritiker wie Wellhausen u. a. halten den verheißen-
den Schlußabschnitt überhaupt fur einen Zusatz. Wenn ich nun
auch nicht glaube, diesem radikalen Urteil zustimmen zu dürfen, so
hege ich doch ernstliche Bedenken gegen die Ursprünglichkeit des
176 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 3.
V. 12. Man beachte nur die sehr üble grammatische Verkflüpfung
des Satzes mit v. 11. Auch der Inhalt, zumal der Hinweis auf Edom,
ist nicht ohne Bedenken.
Bedeutsamer ist die Stelle 2, 7*. Nowack (D. kl. Proph. * z. St)
bemerkt dazu unter ausdrücklicher Berufung auf Giesebrecht (vgl.
S. 27 f. und 33flF.; S. 27 ist übrigens statt Amos 2,26 zu lesen 2,7*),
hier sei > absichtlich von Jahwes DO die Rede, habe er doch gerade
im Tempel seine Stätte«, d. h. im Sinne Giesebrechts, der >Name<
Jahwes wohne als eine Art selbständigen Wesens (Hypostase), abge-
löst von dem transcendenten Jahwe, in dem ihm geweihten Heilig-
tum, und dieser heilige >Name< Jahwes werde durch das unzüchtige
Treiben der Israeliten entweiht. Ob diese Auffassung richtig ist,
bleibe dahingestellt. Ich habe Bedenken gegen die ursprüngliche
Zugehörigkeit von 2,7* zum Amostexte. Kaum kann es des Pro-
pheten Meinung sein, nur das in diesem Verse gemeinte zuchtlose
Treiben verletze Jahwes heiligen >Namen<, nicht auch das abscheu-
liche Treiben an heiliger Stätte, wovon v. 8 die Rede ist. Beachtet
man ferner, daß ürh^n u^'^'Xi und w^tn^ p"^ v. 8 sich sachlich eng
an die Sünden anschließen, auf die v. 6^. 7"" hinweisen, so empfindet
man v. 7^ als eine Störung dieses sachlichen Zusammenhangs. Dazu
kommt, daß Amos (sich dadurch einigermaßen von Hosea unter-
scheidend) wenn auch nicht allein, so doch vorwiegend die Nicht-
achtung und Vergewaltigung von Recht und Gerechtigkeit als Ur-
sache für Jahwes richterliches Eingreifen bezeichnet. Es könnte also
allenfalls auch dies v. 7^ als Störung des ursprünglichen Zusammen-*
hangs erscheinen lassen. Ich könnte schließlich auch rhythmisclie
Gründe ins Feld führen, nur tue ich das nicht, weil für die text-
kritische Beurteilung prophetischer Rede sichere rhythmische Mafi-
stäbe, wenigstens bisher, nicht vorhanden sind. Aber jene Beob-
achtungen genügen auch, Zweifel an der Ursprünglichkeit des Saties
in den Bereich der Möglichkeit zu rücken. Eine wesentliche Steige-
rung erwächst diesem Zweifel aus einer weiteren Beobachtung. Die
Wendung •»thj; D«-nÄ Vm oder blos ^t?« oder auch ^hb« otD kommt
in keiner prophetischen Schrift vor Ezechiel vor, außer in unserer
Amosstelle und einer auch höchst einsamen Stelle im Jeremiabuche
34,16, wo überdies das Sätzchen ohne Schädigung des Zusammen-
hangs fehlen (ohne es würde der Zusammenhang vielleicht sogar
besser) und unter dem Einfluß des Schlußsatzes des v. 15 später
eingefügt sein könnte. Von LXX bezeugt wird sie auch Jes. 48,11
(ein verwandter Ausdruck steht 52,5). Es handelt sich bei jener
Wendung innerhalb der Prophetie um einen spezifisch ezechielischen
Ausdruck. Sie findet sich sonst nur noch im. Bereiche der das sog.
Giesebrecht, Die alttestamenUiche Schätzung des Gottesnamens. 177
Heiligkeitsgesetz in sich bergenden Kapp, des Leviticus (vgl. Lev.
18,21; 19,12; 20,3; 21,6; 22,2.32), aber ob sie schon dem Heilig-
keitsgesetz selbst angehörte und nicht vielmehr von jüngerer, von
Ezechiel beeinflußter Hand abstammt, danach darf man meines Er-
achtens wohl fragen. Dieser Tatbestand ist, wie man zugeben wird,
doch recht merkwürdig.^) Natürlich vermag auch er allein nicht die
Unechtheit des Satzes bei Amos zu beweisen, aber in Verbindung
mit den vorher geltend gemachten Bedenken steigert sich doch die
Beweiskraft recht erheblich. Auf alle Fälle aber halte ich es nun
für untunlich, die Stelle ohne weiteres zu dem Beweise zu ver-
werten, Amos habe den Namenglauben geteilt und bezeuge, daß der-
selbe zu seiner Zeit in der Vorstellungswelt der Jahwereligion einen
festen Platz innegehabt habe. Man darf dabei auch nicht übersehen,
wie dieser Prophet durchweg von Jahwe und seinem innerweltlichen
Wirken redet Auch das spricht nicht dafür, daß er, selbst wenn
jene Stelle sein Eigentum wäre , das 'p üio in dem Sinne Giese-
brechts resp. Nowacks verstanden haben sollte. Solche oder ähn-
liche Hypostasen oder Mittelwesen zwischen Jahwe und der irdischen
Welt sind der religiösen Vorstellung des Amos meines Erachtens
ganz fremd.
Aber diesem Urteil scheint doch die eine Stelle ^,10 ent-
schieden zu widersprechen. An ihr findet sich wirklich eine posi-
tive Scheu vor dem Aussprechen des »Namens« Jahwes, also ein
deutliches Merkmal des Namenaberglaubens. Aber haben wir hier
wirklich echten Amostext? Daß wir dort nur Trümmern des ur-
sprünglichen Textes gegenüberstehen, bezweifelt niemand, der ge-
lernt hat, den biblischen Text mit kritischem Auge anzusehen. Die
kritische Arbeit zur Auffindung des wirklich ursprünglichen Textes
ist bisher vergeblich gewesen und wird es wohl auch bleiben. Ein-
zelne Kritiker haben das letzte hier in Frage stehende Glied des
Satzes für einen Zusatz erklärt (vgl. überhaupt zur Kritik des Verses
1) Befläufig erwähne ich, daß V$Ti überhaupt Yomehmlich zum Sprach-
gebrauch Ezechiels und des Heiligkeitsgesetzes gehört. £& kommt im Alten
Testament nur 75 Mal vor, davon finden sich bei Ezechiel 29, im Heiligkeits-
gesetz 15 Stellen. In Prophetenschriften findet sich außer unserer Amosstelle nur
noch eine SteUe bei Sefanja, 3 Stellen bei Jer., 5 bei Deut-Jes. und 8 bei
MaleachL Sonst findet es sich noch Gen. 49,4; Ex. 20,25; 31,14; Num. 18,82;
30,3 (nur die drei letzten SteUen in P, auch bemerkenswert). Deut. 20,6 (bis);
28,80 steht V$T\ in ganz besonderer Verwendung. Sonst begegnen wir ihm noch
1 Mal in Threni, 5 in Psalmen (davon 3 in Fs. 89), 2 in Neh., 1 in I. Chron.
(= (Jen. 49,4); 1 in Dan. — bh findet sich nur 7 Mal im Alten Testament, da-
von 4 in £z. und 1 in Lev. 10,10; sonst nur noch 1. Sam. 21,5.6. Diese
statistische Uebersicht ist auch für die AmossteUe nicht ohne kritischen Wert.
178 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
den Bericht bei Nowack z. St.), und ich gestehe, mir scheint dies
radikale Urteil nicht unbegründet zu sein. Das Schlußsätzchen
macht wirklich den Eindruck, als wolle jemand dem Leser, der nicht
weiß, warum vorher ün geboten werde, die erforderliche Belehrung
geben. Aber sollte Amos, wenn er selbst jenen Namenglauben oder
-aberglauben besessen und bei seinen Hörern und Lesern als festen
Besitz vorausgesetzt hätte, es für nötig gehalten haben, den be-
gründenden Satz hinzuzufügen? Und, wenn dies, würde er die Be-
lehrung wohl in der vorliegenden Form gegeben haben? So darf
man mit Rücksicht auf den charakteristischen Stil dieses Propheten
sehr wohl fragen. Mir scheint das Sätzchen schon aus diesem
Grunde allein recht bedenklich zu sein. Und wenn ich die Unwahr-
scheinlichkeit hinzunehme, daß der »Name< Jahwes an den anderen
Stellen Amos' Eigentum ist, so verdichten sich meine Bedenken
auch gegenüber jenem Sätzchen in 6, 10 zu der Ueberzeugung, auch
in ihm mache sich eine jüngere Hand bemerkbar, es sei also über-
haupt kein haltbarer Grund vorhanden, Amos zum Zeugen für das
Vorhandensein des Namenglaubens, wenigstens innerhalb der bewußt
jahwegläubigen Kreise, im Volke seiner Zeit zu machen. Und in
dieser Ueberzeugung bestärkt mich der Befund bei den ihm folgen-
den Propheten bis auf Jeremia hinab oder richtiger: bis auf das Jeremia-
buch hinab, da es sogar, wie wir sehen werden, sehr zweifelhaft
ist, ob selbst Jeremia schon jenen Glauben besessen und in Wort
und Schrift zum Ausdruck gebracht hat.
Eine sehr starke Bestätigung unseres Urteils über Amos bietet
die Tatsache, daß bei seinem prophetischen Zeitgenossen Hosea auch
nicht eine sichere Spur von dem Vorhandensein jenes Glaubens ge-
funden wird. 12,6, wo wir inDT nirr^ ... im Sinne von yüW'^''^ finden,
ist kritisch stark angefochten, und wohl mit Recht, im übrigen hat
der Satz mit dem Namenglauben nichts zu tun. Deutlicher scheint
dieser freilich 1,7 herauszublicken, wo n'in'^i ja geradezu dem
'ai ntiga parallel steht, aber daß dieser Vers ein Einschub ist, kann
man nicht wohl bezweifeln. Transzendenz und Immanenz stoßen sich in
Hoseas Gottesvorstellung ebensowenig wie in der des Amos. Nirgends
kann man bei ihnen das Bedürfnis, sei es auch nur ein unbewußt
empfundenes, herausfühlen nach einer Ausgleichung beider durch
eine vermittelnde Vorstellung, wie sie der Namenglaube zu bieten
vermöchte (der -fsbtt Hos. 12,5 steht diesem Urteil nicht im Wege,
da, abgesehen von der kritischen Lage der Stelle überhaupt, die
Geschichte dieser Vorstellung meines Erachtens auch etwas anders
liegt, als man allgemein annimmt). Und dies Urteil dürfen wir nun,
wie ich meine, auch getrost auf die ganze, wahrhaft jahwegläubige
Oiesebrecht, Die alttestamentliche Schiitzang des Gottesnamens. 179
Gemeinde der Zeit dieser beiden Propheten im Süden wie im Norden
des Landes ausdehnen. Ihrer religiösen Vorstellungswelt wie ihrer
religiösen Sprache war der üxb Jahwes im Sinne des Namenglaubens
mindestens nicht geläufig, wahrscheinlich aber gänzlich fremd.
Damit stimmt auch, was wir bei Jesaja und Micha finden. —
Im Protojesajabuche begegnen wir allerdings ein paar Stellen, die
den Namenglauben voraussetzen, aber sie sind so vereinzelt, daß sie
schon darum Bedenken gegen ihre Beweiskraft erwecken. Ueberdies
legen die kritischen Verhältnisse der Texte, wo sie sich finden, das
Urteil nahe, daß sie zwar das Vorhandensein jenes Glaubens zur
Zeit, als das Jesajas Namen tragende gegenwärtige
Buch entstand, beweisen, nicht aber sein Vorhandensein auch
bei Jesaja persönlich und beim jahwegläubigen Volke seiner Zeit.
Meines Erachtens trifft dies Urteil das Richtige. Jesaja selbst hat
vom ütb Jahwes in dem hier gemeinten Sinne nichts gewußt. Er
hatte, wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, wenn man einmal
alle für echt gehaltenen Stücke des Jesajabuches daraufhin prüft,
auch noch nicht das Bedürfnis, in seiner Vorstellung wie in seiner
Rede Jahwe, den überweltlichen Gott, persönlich gleichsam aus der
unmittelbaren innerweltlichen Wirksamkeit auszuschalten und zwischen
ihm und der Ausführung seines Willens in der diesseitigen Welt
eine Vermittelung in mehr oder weniger persönlich oder selbständig
gedachten Machtwesen zu schaffen. Von Engeln weiß er auch nichts.
Was wir Jes. 6 lesen, steht dem meines Erachtens keineswegs ent-
gegen. Er redet von Jahwe oder bei ihm redet Jahwe von sich
und seinen Beziehungen zum Volke, zum Lande und zum Tempel
überall ganz in der schlichten naiven Weise, wie man es von
früheren Zeiten her gewohnt war. Die Vorhöfe des Tempels nennt
Jahwe 1,12 >meine Vorhöfe < und überall in 1,10 ff. hat man den
Eindruck, als sei Jahwe unmittelbar persönlich im Heiligtum auf
dem Zion gegenwärtig gedacht (ähnlich wie Amos 1,2), und den
gleichen Eindruck behält man auch sonst überall ; vgl. z. B. auch
29, 1 ff. Wir sind daher nach meiner Ueberzeugung durchaus be-
rechtigt; mit kritischen Bedenken an die zwei vereinzelten Stellen
18,7 und 30,27, wo DO in auffälliger Weise vorkommt, heranzutreten.
Die allenfalls noch hierher gehörige Stelle 12,4 (vgl. Giesebrecht
S. 27 ff.) fällt außer Betracht , weil die jesaianische Herkunft des
Hymnus c. 12 nicht ohne Grund angezweifelt wird. Im übrigen vgl.
Motä nSito mit 2,11.17; es ist nicht ohne weiteres nötig, den Aus-
druck im Sinne des Namenglaubens zu verstehen.
Von manchen Kritikern (z. B. Cheyne, Duhm, Marti) wird nun
18,7 ganz als jüngerer redaktioneller Zusatz beurteilt. Dem kann
178 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
den Bericht bei Nowack z. St.), und ich gestehe, mir scheint dies
radikale Urteil nicht unbegründet zu sein. Das Schlußsätzchen
macht wirklich den Eindruck, als wolle jemand dem Leser, der nicht
weiß, warum vorher ün geboten werde, die erforderliche Belehrung
geben. Aber sollte Amos, wenn er selbst jenen Namenglauben oder
-aberglauben besessen und bei seinen Hörern und Lesern als festen
Besitz vorausgesetzt hätte, es für nötig gehalten haben, den be-
gründenden Satz hinzuzufügen? Und, wenn dies, würde er die Be-
lehrung wohl in der vorliegenden Form gegeben haben? So darf
man mit Rücksicht auf den charakteristischen Stil dieses Propheten
sehr wohl fragen. Mir scheint das Sätzchen schon aus diesem
Grunde allein recht bedenklich zu sein. Und wenn ich die Unwahr-
scheinlichkeit hinzunehme, daß der >Name< Jahwes an den anderen
Stellen Amos' Eigentum ist, so verdichten sich meine Bedenken
auch gegenüber jenem Sätzchen in 6,10 zu der Ueberzeugung, auch
in ihm mache sich eine jüngere Hand bemerkbar, es sei also über-
haupt kein haltbarer Grund vorhanden, Amos zum Zeugen für das
Vorhandensein des Namenglaubens, wenigstens innerhalb der bewußt
jahwegläubigen Kreise, im Volke seiner Zeit zu machen. Und in
dieser Ueberzeugung bestärkt mich der Befund bei den ihm folgen-
den Propheten bis auf Jeremia hinab oder richtiger: bis auf das Jeremia-
buch hinab, da es sogar, wie wir sehen werden, sehr zweifelhaft
ist, ob selbst Jeremia schon jenen Glauben besessen und in Wort
und Schrift zum Ausdruck gebracht hat.
Eine sehr starke Bestätigung unseres Urteils über Amos bietet
die Tatsache, daß bei seinem prophetischen Zeitgenossen Hosea auch
nicht eine sichere Spur von dem Vorhandensein jenes Glaubens ge-
funden wird. 12,6, wo wir *inDT n^in*^ ... im Sinne von yow'^''^ finden,
ist kritisch stark angefochten, und wohl mit Recht, im übrigen hat
der Satz mit dem Namenglauben nichts zu tun. Deutlicher scheint
dieser freilich 1,7 herauszublicken, wo TXM^^^ ja geradezu dem
'^"\ n^a parallel steht, aber daß dieser Vers ein Einschub ist, kann
man nicht wohl bezweifeln. Transzendenz und Immanenz stoßen sich in
Hoseas Gottesvorstellung ebensowenig wie in der des Amos. Nirgends
kann man bei ihnen das Bedürfnis, sei es auch nur ein unbewußt
empfundenes, herausfühlen nach einer Ausgleichung beider durch
eine vermittelnde Vorstellung, wie sie der Namenglaube zu bieten
vermöchte (der -[«bTO Hos. 12,5 steht diesem Urteil nicht im Wege,
da, abgesehen von der kritischen Lage der Stelle überhaupt, die
Geschichte dieser Vorstellung meines Erachtens auch etwas anders
liegt, als man allgemein annimmt). Und dies Urteil dürfen wir nun,
wie ich meine, auch getrost auf die ganze, wahrhaft jahwegläubige
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 179
Gemeinde der Zeit dieser beiden Propheten im Süden wie im Norden
des Landes ansdehnen. Ihrer religiösen Vorstellungswelt wie ihrer
religiösen Sprache war der üxb Jahwes im Sinae des Namenglaubens
mindestens nicht geläufig, wahrscheinlich aber gänzlich fremd.
Damit stimmt auch, was wir bei Jesaja und Micha finden. —
Im Protojesajabuche begegnen wir allerdings ein paar Stellen, die
den Namenglauben voraussetzen, aber sie sind so vereinzelt, daß sie
schon darum Bedenken gegen ihre Beweiskraft erwecken. Ueberdies
legen die kritischen Verhältnisse der Texte, wo sie sich finden, das
Urteil nahe, daß sie zwar das Vorhandensein jenes Glaubens zur
Zeit, als das Jesajas Namen tragende gegenwärtige
Buch entstand, beweisen, nicht aber sein Vorhandensein auch
bei Jesaja persönlich und beim jahwegläubigen Volke seiner Zeit.
Meines Erachtens trifft dies Urteil das Richtige. Jesaja selbst hat
vom üW Jahwes in dem hier gemeinten Sinne nichts gewußt. Er
hatte, wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, wenn man einmal
alle für echt gehaltenen Stücke des Jesajabuches daraufhin prüft,
auch noch nicht das Bedürfnis, in seiner Vorstellung wie in seiner
Rede Jahwe, den überweltlichen Gott, pei*sönlich gleichsam aus der
unmittelbaren innerweltlichen Wirksamkeit auszuschalten und zwischen
ihm und der Ausführung seines Willens in der diesseitigen Welt
eine Vermittelung in mehr oder weniger persönlich oder selbständig
gedachten Machtwesen zu schaffen. Von Engeln weiß er auch nichts.
Was wir Jes. 6 lesen, steht dem meines Erachtens keineswegs ent-
gegen. Er redet von Jahwe oder bei ihm redet Jahwe von sich
und seinen Beziehungen zum Volke, zum Lande und zum Tempel
überall ganz in der schlichten naiven Weise, wie man es von
früheren Zeiten her gewohnt war. Die Vorhöfe des Tempels nennt
Jahwe 1,12 >meine Vorhöfe < und überall in 1,10 ff. hat man den
Eindruck, als sei Jahwe unmittelbar persönlich im Heiligtum auf
dem Zion gegenwärtig gedacht (ähnlich wie Amos 1,2), und den
gleichen Eindruck behält man auch sonst überall ; vgl. z. B. auch
29, 1 ff. Wir sind daher nach meiner Ueberzeugung durchaus be-
rechtigt, mit kritischen Bedenken an die zwei vereinzelten Stellen
18, 7 und 30, 27, wo üt in auffälliger Weise vorkommt, heranzutreten.
Die allenfalls noch hierher gehörige Stelle 12,4 (vgl. Giesebrecht
S. 27ff.) fällt außer Betracht, weil die jesaianische Herkunft des
Hymnus c. 12 nicht ohne Grund angezweifelt wird. Im übrigen vgl.
"rata Xito mit 2,11.17; es ist nicht ohne weiteres nötig, den Aus-
druck im Sinne des Namenglaubens zu verstehen.
Von manchen Kritikern (z. B. Cheyne, Duhm, Marti) wird nun
18,7 ganz als jüngerer redaktioneller Zusatz beurteilt. Dem kann
178 Oött. gel. Am. 1906. Nr. 3.
den Bericht bei Nowack z. St.), und ich gestehe, mir scheint dies
radikale Urteil nicht unbegründet zu sein. Das Schlußsätzchen
macht wirklich den Eindruck, als wolle jemand dem Leser, der nicht
weiß, warum vorher ün geboten werde, die erforderliche Belehrung
geben. Aber sollte Arnos, wenn er selbst jenen Namenglauben oder
-aberglauben besessen und bei seinen Hörern und Lesern als festen
Besitz vorausgesetzt hätte, es für nötig gehalten haben, den be-
gründenden Satz hinzuzufügen? Und, wenn dies, würde er die Be-
lehrung wohl in der vorliegenden Form gegeben haben? So darf
man mit Rücksicht auf den charakteristischen Stil dieses Propheten
sehr wohl fragen. Mir scheint das Sätzchen schon aus diesem
Grunde allein recht bedenklich zu sein. Und wenn ich die Unwahr-
scheinlichkeit hinzunehme, daß der >Name< Jahwes an den anderen
Stellen Amos' Eigentum ist, so verdichten sich meine Bedenken
auch gegenüber jenem Sätzchen in 6, 10 zu der Ueberzeugung, auch
in ihm mache sich eine jüngere Hand bemerkbar, es sei also über-
haupt kein haltbarer Grund vorhanden, Amos zum Zeugen für das
Vorhandensein des Namenglaubens, wenigstens innerhalb der bewußt
jahwegläubigen Kreise, im Volke seiner Zeit zu machen. Und in
dieser Ueberzeugung bestärkt mich der Befund bei den ihm folgen-
den Propheten bis auf Jeremia hinab oder richtiger: bis auf das Jeremia-
buch hinab, da es sogar, wie wir sehen werden, sehr zweifelhaft
ist, ob selbst Jeremia schon jenen Glauben besessen und in Wort
und Schrift zum Ausdruck gebracht hat.
Eine sehr starke Bestätigung unseres Urteils über Amos bietet
die Tatsache, daß bei seinem prophetischen Zeitgenossen Hosea auch
nicht eine sichere Spur von dem Vorhandensein jenes Glaubens ge-
funden wird. 12,6, wo wir r\D1 rr\r\^ ... im Sinne von raW'^'^ finden,
ist kritisch stark angefochten, und wohl mit Recht, im übrigen hat
der Satz mit dem Namenglauben nichts zu tun. Deutlicher scheint
dieser freilich 1,7 herauszublicken, wo rr\T\^^ ja geradezu dem
'^^ n^a parallel steht, aber daß dieser Vers ein Einschub ist, kann
man nicht wohl bezweifeln. Transzendenz und Immanenz stoßen sich in
Hoseas Gottesvorstellung ebensowenig wie in der des Amos. Nirgends
kann man bei ihnen das Bedürfnis, sei es auch nur ein unbewußt
empfundenes, herausfühlen nach einer Ausgleichung beider durch
eine vermittelnde Vorstellung, wie sie der Namenglaube zu bieten
vermöchte (der -[«bTO Hos. 12,5 steht diesem Urteil nicht im Wege,
da, abgesehen von der kritischen Lage der Stelle überhaupt, die
Geschichte dieser Vorstellung meines Erachtens auch etwas anders
liegt, als man allgemein annimmt). Und dies Urteil dürfen wir nun,
wie ich meine, auch getrost auf die ganze, wahrhaft jahwegläubige
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 179
Gemeinde der Zeit dieser beiden Propheten im Süden wie im Norden
des Landes ausdehnen. Ihrer religiösen Vorstellungswelt wie ihrer
religiösen Sprache war der üxb Jahwes im Sinae des Namenglaubens
mindestens nicht geläufig, wahrscheinlich aber gänzlich fremd.
Damit stimmt auch, was wir bei Jesaja und Micha finden. —
Im Protojesajabuche begegnen wir allerdings ein paar Stellen, die
den Namenglauben voraussetzen, aber sie sind so vereinzelt, daß sie
schon darum Bedenken gegen ihre Beweiskraft erwecken. Ueberdies
legen die kritischen Verhältnisse der Texte, wo sie sich finden, das
Urteil nahe, daß sie zwar das Vorhandensein jenes Glaubens zur
Zeit, als das Jesajas Namen tragende gegenwärtige
Buch entstand, beweisen, nicht aber sein Vorhandensein auch
bei Jesaja persönlich und beim jahwegläubigen Volke seiner Zeit.
Meines Erachtens trifft dies Urteil das Richtige. Jesaja selbst hat
vom üW Jahwes in dem hier gemeinten Sinne nichts gewußt. Er
hatte, wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, wenn man einmal
alle für echt gehaltenen Stücke des Jesajabuches daraufhin prüft,
auch noch nicht das Bedürfnis, in seiner Vorstellung wie in seiner
Rede Jahwe, den überweltlichen Gott, persönlich gleichsam aus der
unmittelbaren innerweltlichen Wirksamkeit auszuschalten und zwischen
ihm und der Ausführung seines Willens in der diesseitigen Welt
eine Vermittelung in mehr oder weniger persönlich oder selbständig
gedachten Machtwesen zu schaifen. Von Engeln weiß er auch nichts.
Was wir Jes. 6 lesen, steht dem meines Erachtens keineswegs ent-
gegen. Er redet von Jahwe oder bei ihm redet Jahwe von sich
und seinen Beziehungen zum Volke, zum Lande und zum Tempel
überall ganz in der schlichten naiven Weise, wie man es von
früheren Zeiten her gewohnt war. Die Vorhöfe des Tempels nennt
Jahwe 1,12 >meine Vorhöfe < und überall in l,10flF. hat man den
Eindruck, als sei Jahwe unmittelbar persönlich im Heiligtum auf
dem Zion gegenwärtig gedacht (ähnlich wie Amos 1,2), und den
gleichen Eindruck behält man auch sonst überall ; vgl. z. B. auch
29,1fr. Wir sind daher nach meiner Ueberzeugung durchaus be-
rechtigt, mit kritischen Bedenken an die zwei vereinzelten Stellen
18,7 und 30,27, wo üt in auffälliger Weise vorkommt, heranzutreten.
Die allenfalls noch hierher gehörige Stelle 12,4 (vgl. Giesebrecht
8.27 ff) fällt außer Betracht, weil die jesaianische Herkunft des
Hymnus c. 12 nicht ohne Grund angezweifelt wird. Im übrigen vgl.
•nsÄ aSite mit 2, 11.17 ; es ist nicht ohne weiteres nötig, den Aus-
druck im Sinne des Namenglaubens zu verstehen.
Von manchen Kritikern (z. B. Cheyne, Duhm, Marti) wird nun
18,7 ganz als jüngerer redaktioneller Zusatz beurteilt. Dem kann
178 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
den Bericht bei Nowack z. St.), und ich gestehe, mir scheint dies
radikale Urteil nicht unbegründet zu sein. Das Schlußsätzchen
macht wirklich den Eindruck, als wolle jemand dem Leser, der nicht
weiß, warum vorher Dn geboten werde, die erforderliche Belehrung
geben. Aber sollte Arnos, wenn er selbst jenen Namenglauben oder
-aberglauben besessen und bei seinen Hörern und Lesern als festen
Besitz vorausgesetzt hätte, es für nötig gehalten haben, den be-
gründenden Satz hinzuzufügen? Und, wenn dies, würde er die Be-
lehrung wohl in der vorliegenden Form gegeben haben? So darf
man mit Rücksicht auf den charakteristischen Stil dieses Propheten
sehr wohl fragen. Mir scheint das Sätzchen schon aus diesem
Grunde allein recht bedenklich zu sein. Und wenn ich die Unwahr-
scheinlichkeit hinzunehme, daß der >Name< Jahwes an den anderen
Stellen Amos' Eigentum ist, so verdichten sich meine Bedenken
auch gegenüber jenem Sätzchen in 6,10 zu der Ueberzeugung, auch
in ihm mache sich eine jüngere Hand bemerkbar, es sei also über-
haupt kein haltbarer Grund vorhanden, Amos zum Zeugen für das
Vorhandensein des Namenglaubens, wenigstens innerhalb der bewußt
jahwegläubigen Kreise, im Volke seiner Zeit zu machen. Und in
dieser Ueberzeugung bestärkt mich der Befund bei den ihm folgen-
den Propheten bis auf Jeremia hinab oder richtiger: bis auf das Jeremia-
buch hinab, da es sogar, wie wir sehen werden, sehr zweifelhaft
ist, ob selbst Jeremia schon jenen Glauben besessen und in Wort
und Schrift zum Ausdruck gebracht hat.
Eine sehr starke Bestätigung unseres Urteils über Amos bietet
die Tatsache, daß bei seinem prophetischen Zeitgenossen Hosea auch
nicht eine sichere Spur von dem Vorhandensein jenes Glaubens ge-
funden wird. 12,6, wo wir 'inDT tT\rv ... im Sinne von Myd*^'*^ finden,
ist kritisch stark angefochten, und wohl mit Recht, im übrigen hat
der Satz mit dem Namenglauben nichts zu tun. Deutlicher scheint
dieser freilich 1,7 herauszublicken, wo rr\T\^^ ja geradezu dem
'y\ ntfga parallel steht, aber daß dieser Vers ein Einschub ist, kann
man nicht wohl bezweifeln. Transzendenz und Immanenz stoßen sich in
Hoseas Gottesvorstellung ebensowenig wie in der des Amos. Nirgends
kann man bei ihnen das Bedürfnis, sei es auch nur ein unbewußt
empfundenes, herausfühlen nach einer Ausgleichung beider durch
eine vermittelnde Vorstellung, wie sie der Namenglaube zu bieten
vermöchte (der ^bü Hos. 12,5 steht diesem Urteil nicht im Wege,
da, abgesehen von der kritischen Lage der Stelle überhaupt, die
Geschichte dieser Vorstellung meines Erachtens auch etwas anders
liegt, als man allgemein annimmt). Und dies Urteil dürfen wir nun,
wie ich meine, auch getrost auf die ganze, wahrhaft jahwegläubige
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 179
Gemeinde der Zeit dieser beiden Propheten im Süden wie im Norden
des Landes ausdehnen. Ihrer religiösen Vorstellungswelt wie ihrer
religiösen Sprache war der üxb Jahwes im Sinae des Namenglaubens
mindestens nicht geläufig, wahrscheinlich aber gänzlich fremd.
Damit stimmt auch, was wir bei Jesaja und Micha finden. —
Im Protojesajabuche begegnen wir allerdings ein paar Stellen, die
den Namenglauben voraussetzen, aber sie sind so vereinzelt, daß sie
schon darum Bedenken gegen ihre Beweiskraft erwecken. Ueberdies
legen die kritischen Verhältnisse der Texte, wo sie sich finden, das
Urteil nahe, daß sie zwar das Vorhandensein jenes Glaubens zur
Zeit, als das Jesajas Namen tragende gegenwärtige
Buch entstand, beweisen, nicht aber sein Vorhandensein auch
bei Jesaja persönlich und beim jahwegläubigen Volke seiner Zeit.
Meines Erachtens trifit dies Urteil das Richtige. Jesaja selbst hat
vom üW Jahwes in dem hier gemeinten Sinne nichts gewußt. Er
hatte, wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, wenn man einmal
alle für echt gehaltenen Stücke des Jesajabuches daraufhin prüft,
auch noch nicht das Bedürfnis, in seiner Vorstellung wie in seiner
Rede Jahwe, den überweltlichen Gott, persönlich gleichsam aus der
unmittelbaren innerweltlichen Wirksamkeit auszuschalten und zwischen
ihm und der Ausführung seines Willens in der diesseitigen Welt
eine Vermittelung in mehr oder weniger persönlich oder selbständig
gedachten Machtwesen zu schaifen. Von Engeln weiß er auch nichts.
Was wir Jes. 6 lesen, steht dem meines Erachtens keineswegs ent-
gegen. Er redet von Jahwe oder bei ihm redet Jahwe von sich
und seinen Beziehungen zum Volke, zum Lande und zum Tempel
überall ganz in der schlichten naiven Weise, wie man es von
früheren Zeiten her gewohnt war. Die Vorhöfe des Tempels nennt
Jahwe 1,12 >meine Vorhöfe< und überall in 1,10 ff. hat man den
Eindruck, als sei Jahwe unmittelbar persönlich im Heiligtum auf
dem Zion gegenwärtig gedacht (ähnlich wie Amos 1,2), und den
gleichen Eindruck behält man auch sonst überall ; vgl. z. B. auch
29, 1 ff. Wir sind daher nach meiner Ueberzeugung durchaus be-
rechtigt, mit kritischen Bedenken an die zwei vereinzelten Stellen
18,7 und 30,27, wo üt in auffälliger Weise vorkommt, heranzutreten.
Die allenfalls noch hierher gehörige Stelle 12,4 (vgl. Giesebrecht
S. 27ff.) fällt außer Betracht, weil die jesaianische Herkunft des
Hymnus c. 12 nicht ohne Grund angezweifelt wird. Im übrigen vgl.
yüt nsito mit 2,11.17; es ist nicht ohne weiteres nötig, den Aus-
druck im Sinne des Namenglaubens zu verstehen.
Von manchen Kritikern (z. B. Cheyne, Duhm, Marti) wird nun
18,7 ganz als jüngerer redaktioneller Zusatz beurteilt. Dem kann
180 GcHt gel. Anz. 1906. Nr. S.
ich wie Giesebrecht (S. 36) nicht ohne weiteres zustimmen, aber das
Wort DV halte ich für einen jüngeren Zusatz. Zwar zeigt LXX, daß
es alt im Texte ist, aber das beweist nicht, daß es von Jesaja selbst
herrühren müsse. Meines Erachtens fehlen, wie ich schon andeutete,
bei dem wirklichen Jesaja die theologischen Voraussetzungen, auf
denen der Ausdruck TXrrr^ üxo Dipio beruht. Wenn der Satz von Jesaja
herrührt, hat er sicher nur TXyrx^ Dipio geschrieben. Dafür scheint
mir auch "^SiDtt v. 4 (zu pDü vgl. Salomos Tempelweihspruch 1. Reg.
8, 12 f., auch Jes. 4,5) zu sprechen, denn ich glaube in der Tat,
Jesaja hat dabei wirklich an Jahwes irdische Wohnstätte gedacht,
an der sich ja, wie er immer und immer wieder ankündigen mußte,
die Sturmwellen des Assyrerheeres brechen sollten. Auf sie war
meines Erachtens daher ganz naturgemäß sein Blick auch in einem
solchen Worte an fremde Gesandte in erster Linie gerichtet, auch
wenn er wohl wußte, wo die eigentliche Wohnung des Heiligen
Israels zu suchen sei.
Ebenso halte ich auch in 30, 27 (vgl. Giesebrecht S. 44) Uta für
einen jüngeren Zusatz. Von einzelnen Kritikern ist der ganze Schluß-
abschnitt 30, 27 ff. für unecht erklärt worden (so von Cheyne und
Marti, aber nicht von Duhm). Wäre dies Urteil richtig, was auch
ich nicht anerkenne, fiele auch rm^ üt6 für Jesajas religiöse Vor-
stellungswelt und Rede außer Betracht. Bemerkenswert ist Gheynes
urteil zur Stelle (vgl. s. >Einleitung in das Buch Jesaja<): der Aus-
druck >Jahwes Name< finde sich in nicht angefochtenen Stücken
Jesajas nirgends. Darin hat er sicher recht. Duhm hat sich (Das
Buch Jesaja ^S. 195) auch (teils polemisch) eingehender zu dem Aus-
druck an dieser Stelle geäußert und gesagt, wenn üW verdächtig sei,
was er freilich nicht glaubt (mit Unrecht zieht er übrigens den
Mal'akh Jahwe im Deboraliede Jud. 5,23 heran; der ist dort, wie
der Rhythmus lehrt, sicher auch eingearbeitet und nicht ursprüng-
lich, vgl. meinen Aufsatz ZDMGLVI [1902] S. 466), so würde es
einzig korrekt sein, blos dies Wort zu streichen. Und das ist in der
Tat notwendig. Die hier vorliegende Vorstellung vom > Namen <
Jahwes ist in noch höherem Maße, als die 18,7, mit der religiösen
Denk- und Redeweise des wirklichen Jesaja unvereinbar. Ich möchte
gerne in echten Jesajareden auch nur eine Stelle nachgewiesen
sehen, aus der man mit unzweifelhafter Gewißheit schließen müßte
od^ auch nur allenfalls schließen könnte, der Prophet habe je in
seinem Leben Anstoß daran genommen, derartiges wie 30, 27 ff. von
Jahwe unmittelbar auszusagen, es habe sich seinem religiösen Em-
pfinden und Denken das Bedürfnis aufgedrängt, eine solche causa
q^edia, wie sie sein UfD für spätere Zeiten darstellte, zwischen Jahwes
Giesebrecht, Die alttestamentliche Scbätzung des Gottesnamens. 181
transzendente Person und die irdische Sphäre seiner Wirksamkeit
einzuschieben. Dazu bezieht sich alles, was hernach in 'yi 1&M m
ausgesagt wird, auf TV^rv und setzt nur dies voraus, nicht aber
tx6, von dem sicher weder Jesaja noch sonst ein Prophet gesagt
haben würde, er habe Nase, Lippen oder Zunge. Freilich weiß ich,
daß es gut hebräisch sein kann, die sachlichen Prädikate gramma-,
tisch vom Genitiv in einer Konstruktusverbindung abhängig sein zu
lassen. Aber diese grammatische Möglichkeit kann hier nicht ent*
scheiden. Man hat hier doch bei unbefangener Lektüre den Ein-
druck starker Unnatur, wenn man von dem durch T\:in so stark be-
tonten üW her zu den hernach folgenden stark menschlichen Aussagen
gelangt. Sonst scheut sich aber Jesaja keineswegs, von Jahwe direkt
in nicht minder stark menschlichen Formen zu reden. Hält man also
an der jesajanischen Herkunft des Abschnittes fest, dann bleibt
nichts übrig, als üt kritisch auszuscheiden. Jesajanisch ist das Wort
und die in ihm ausgesprochene religiöse Vorstellung jedenfalls nicht
Wir würden also keine Stelle haben, die beweise, daß zur Zeit
Jesajas, d. h. bis rund 700 v. Chr., jener Namenglaube in der Jahwe-
religion vorhanden gewesen sei, und sollte er der breiten Masse des
Volkes nicht fremd gewesen sein, so würde sich doch ergeben, daß
derselbe wenigstens bei denen, die wirklich auf der Höhe der Jahwe-
religion standen, bis zu jener Zeit noch keinen wesentlichen Einfluß
auf Denken und Reden gewonnen hatte. Und das finde ich nun auch
bei Micha bestätigt. Auch dieser Prophet, der jüngere Zeitgenosse
Jesajas, hat vom üt Jahwes in dem fraglichen Sinne noch nichts ge-
wußt. In den kritisch unangefochtenen, drei ersten Kapiteln des
Michabuches findet sich gar nichts, das an das Vorhandensein eines
derartigen Namenglaubens zu erinnern vermöchte. 3,11 bestätigt für
die Zeit Michas unser Urteil zu Jes. 18,7. Auch hier, aus der Ver-
bindung von V. 11 und v. 12, sieht man, wenn man nur will, daß
das Bedürfnis, Transzendenz und Immanenz Jahwes durch eine ver-
mittelnde Vorstellung auszugleichen, damals noch gar nicht erwacht
war. Und das ist auch von Wichtigkeit für die Beurteilung der
wenigen Stellen in den folgenden, von vielen hart angefochtenen
Kapiteln, die vom qtd Jahwes reden : 4, 5 ; 5,3 und 6, 9.
4,1 — 4 findet sich ja auch Jes. 2,1—4 (hier freilich nicht so
vollständig). Die Weissagung bietet ein unlösbares literarhistorisches
Rätsel. Und diesem Urteil unterliegt vornehmlich auch v. 5, dem
deutlich Jes. 2,5 entspricht, trotz formeller und inhaltlicher Difie-
renzen. Schwerlich stammt dieser Vers von Micha. Insbesondere aber
hat Micha schwerlich gesagt "Ti DiDn -fbn, das darum schon auffallig
ist, weil diese Verbindung überhaupt im alten Testament nicht mehr
182 Gott. gel. Anz. 190G. Nr. 3.
vorkommt. DTD wird umso auftälliger, als in Jes. 2, 5 vielmehr ^'^ ^1«n
steht und der Grieche das erste n'^nbK Dtin überhaupt nicht gelesen
zu haben scheint. LXX weist auf eine Vorlage ysy^'s, W^Ht, dann liest
sie freilich auch Iv övö|iau xopteo (x. fehlt cod. A) *6oö %äv. Aller-
dings findet sich eine Parallele Sach. 10,12, aber dort ist statt
nDbnn'' wahrscheinlich mit LXX ib^nn*^ zu lesen. Giesebrecht (S. 42)
übersetzt DiDn hier »in Kraft des Namens«. Ob das wirklich richtig
ist, lasse ich dahingestellt. Es ließe sich auch anders deuten und
die Notwendigkeit, DID als > Machtmittel aufzufassen, vermeiden.
Jedenfalls aber kann dieser Vers nicht beweisen, daß der Namen-
glaube schon zu Michas Zeit in Israel irgendwelche Bedeutung in
der wirklichen Yorstellungswelt der Jahwegläubigen besessen hat.
Und das gilt auch von 5,3, auch wenn man wie ich im Gegensatz
zur neueren Kritik die messianische Weissagung wirklich von Micha
herleitet, n^rv* Tbl nötigt nicht, im parallelen ^'^ DTD ein von Jahwe
losgelöstes Machtwesen oder -mittel zu erblicken. Eine harmlosere
Auffassung liegt meines Erachtens ebenso nahe. Aber ist DTD oder
'^''^ DTD hier überhaupt ursprünglich? Sollte, gerade wegen des Pa-
rallelausdrucks, nicht vielmehr 'bht ^'^ t^^^ oder noch wahrschein-
licher nur n*>nb«'3in ursprüngliche Lesart sein? Auch der übel
überlieferte und vielfach sicher überarbeitete Text legt nahe, hier
wie in den Jesajastellen an jüngere Einschiebung zu denken. —
Nicht anders ist meines Erachtens zu 6,9 zu urteilen, wo der Text
ohne allen Zweifel arg verderbt ist. LXX übersetzt, als stände da:
tot} ^iKy; T^tnr\\ Ich würde wenigstens nicht wagen , aus dieser
Stelle einen Schluß auf den Gebrauch des »Namens« Gottes bei
Micha zu ziehen. Entscheidend bleibt freilich für mich die Tatsache,
daß nach den kritisch im wesentlichen unangefochtenen Teilen des
Michabuches der Prophet Micha ebensowenig wie Jesaja sich ge-
scheut hat, Jahwe unmittelbar in der diesseitigen Welt wirken und
auch an seinem irdischen Wohnorte wohnen zu lassen. Freilich könnte
man sagen, die von Micha zuerst ausgegangene Drohung, auch
Tempel und Tempelberg könnten der Verwüstung preisgegeben, also
Jahwe nach seinem eigenen Willen genötigt werden, seine irdische
Wohnstätte zu verlassen (vgl. Ez. 10,18fif.; 11,22 ff.), habe den
grundlegenden Anstoß zu der Entwicklung innerhalb der jüdischen
religiösen Vorstellungswelt gegeben, die schließlich auch zu dem
Gebrauch des üt Jahwes in dem hier fraglichen Sinne führte.
Nach den bisherigen Ausführungen haben wir also keine sichere
prophetische Stelle, die beweisen könnte, daß der Namenglaube oder
-aberglaube in der religiösen Vorstellungswelt oder Rede des 8. Jahr-
hunderts heimisch gewesen sei. Zu dem gleichen Ergebnis gelangen
Giesebrecbt, Die alttesfamentlicbe Schätzung des Gottesnamens. 183
wir aber nun auch für das 7., das letzte vorexilische, Jahrhundert.
Zunächst finden wir weder bei Nahum, noch Habakkuk, noch *Oba(]ya
(ür'obadja) etwas derartiges. Bei Sefanja (c. 630) freilich stoßen wir
auf ein paar Stellen, die vom ülb Jahwes reden und zur Diskussion
gestellt werden können. Aber zweifelhaft ist es auch hier wieder,
ob die Stellen wirklich echt sind. Zeitlich vorauf gingen die
schlimmen Zeiten der Könige Manasse und Amon. Wie wenig wir
von ihnen auch wissen, so viel aber wissen wir doch, daß zu ihrer
Zeit und wohl auch durch ihre Schuld ein starker Strom fremden
religiösen Wesens oder Unwesens in Juda und Jerusalem, ja, bis in
die Räume des Jahwetempels selbst hineinflutete. Es ist daher wohl
begreiflich, daß die, wie gesagt, vielleicht in Michas Prophetie ge-
schichtlich wurzelnde Richtung im religiösen Glauben und Denken,
die darauf hindrängte, das heilige Wesen Jahwes von der Berührung
mit der irdischen Unreinheit zu scheiden und das innerweltliche
Wirken des heiligen Gottes durch causae mediae begreiflich zu
machen, in dieser Zeit starke Förderung erfuhr. Aber daß sie
gleich den Gebrauch des ütt Jahwes herbeigeführt habe, ist doch
nicht sicher, kann meines Erachtens auch aus dem Sefanjabüchlein
nicht erwiesen werden.
Die in ihm in Betracht kommenden Stellen stehen alle im
3. Kapitel. Dies 3. Kapitel gilt nicht wenigen Kritikern (vgl. Marti)
ganz als unecht; andere (vgl. Nowack) beanstanden nur einzelne
Teile desselben (in wie weit mit Recht, kann hier nicht untersucht
werden). Ungewiß ist jedenfalls die Echtheit seines Inhalts im
ganzen überlieferten Umfange. Es ist möglich, daß fremde Hände
darin tätig waren, also auch, daß eine Vorstellung wie die vom
üw Jahwes später eingearbeitet ist.
Zunächst lesen wir 3,9 die Redewendung '^''^ DM «np im Sinne
der kultischen Anrufung und Verehrung. Bemerkenswert ist schon,
daß diese, an sich ja mit dem Namenglauben nicht notwendig zu-
sammenhängende, Wendung in keiner älteren Prophetenschrift vor-
kommt außer Jes. 12,4, d. h. in einem schwerlich jesajanischen
Hymnus. Nicht minder beachtenswert ist die Tatsache, daß sie auch
dem Zeitgenossen Sefanjas, dem Propheten Jeremia, nicht gerade
besonders geläufig gewesen zu sein scheint. Wir finden sie Jer. 10, 25
(= Ps. 79, 6 f.) in einem kritisch anfechtbaren Satze, sodann nur
noch, so viel ich sehe, 44,26, dort aber vom Nennen des Namens
Jahwes beim Schwur, d.h. in der (feststehenden) Schwurformel.
Sonst findet sich n« »np 29,12 und b« 'p 11,14; 33,3, aber ohne
DID. Von Jeremia aus läge daher der Schluß nahe, auch Sefanja sei
jene Redewendung nicht geläufig gewesen; es sei also das kritische
184 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Bedenken gegen die Echtheit von v. 9. 10 nicht unbegründet. Be-
weiskräftiger würde dagegen, Echtheit vorausgesetzt, y. 12 sein (vgl.
Giesebrecht S. 41), und die maßvollere Kritik läßt v. 11—13 unan-
gefochten. Der Satz 'i") Dtin ^on*} läßt wirklich den >Namen< Jahwes
als eine Macht oder ein Machtwesen erscheinen, wobei man wirk-
samen Schutz gegen alle Gefahren finden kann. LXX bietet ab-
weichend und Beachtung verdienend : xal s^XaßiQ^aovtat inb too 6v6-
(iatoc xopCoo ot xatdXoiTcoi too 'lapai^X, aber es könnte vom Svo(i.a xop.
die gleiche Vorstellung enthalten, wie die hebräische Lesart (vgl.
Giesebrecht S. 42), wenngleich es meines Erachtens nicht unbedingt
nötig ist, in der Wendung : den Namen Gottes fürchten, sich vor ihm
scheuen, ohne weiteres eine realistische Auffassung des > Namens«
neben Jahwe im Sinne des Namenglaubens zu suchen. Bedenklich
wird aber die Sache, wenn wir feststellen müssen, daß im ganzen
Alten Testamente nur an dieser einen Stelle non mit ''''' nm ver-
bunden vorkommt, überall sonst wird es ohne Scheu unmittelbar mit
mn"»n oder a mit entsprechendem Pronominalsuffix verknüpft. Nach
meinem Gefühl verträgt sich mit v. 12* auch nicht recht 'te'' tr^^vcD
in V. 13*. Mir scheint hier am ursprünglichen Texte gearbeitet zu
sein. Wie der ursprüngliche Text gelautet haben mag, lasse ich un-
erörtert (es käme auch der Rhythmus in Betracht). Ich halte es
für sehr wahrscheinlich, daß ^''^ ütb^ von jüngerer Hand herrührt.
Einfaches ''a (woraus leicht mn^^a entstehen konnte) wäre in der
persönlichen Jahwerede ohnehin angemessen. Und warum steht 3,2
nur Ttin'^a rroa und nicht auch •»'•» Dtia? Es läßt sich also jedenfalls
auch mit dieser Stelle nicht beweisen, Sefanja habe den Namen-
glauben vertreten. — Die Stelle 3, 20 : ninribn Dtob kommt sachlich
nicht weiter in Betracht. Ich bemerke nur, daß auch diese Wort-
verbindung, so weit ich sehe, in älteren Prophetenschriften nie vor-
kommt, sondern sich zuerst ein paarmal im Jeremiabuche findet
(13,11; 33,9, hier fehlt aber üt in LXX, ähnlich 32, 20: sich DV
machen).
Bis auf Sefanja herab fehlen also sichere prophetische Zeug-
nisse für das Vorhandensein der abergläubischen Schätzung des
Gottesnamens im religiösen Denken und Beden der vornehmsten
Träger des Jahweglaubens. Anders wird das Bild, sobald wir an
das Jeremiabuch kommen. Das Buch bietet eine große Zahl von
Stellen, wo der >Name< Jahwes in der einen oder anderen Ver-
bindung gebraucht wird, die im Sinne des Namenglaubens gedeutet
werden zu müssen scheint. Das ist, zumal nach unserem bisherigen
Ergebnis, doch recht auffällig. Es erfordert genauere Untersuchung,
ob wirklich Jeremia selbst für das fast plötzliche Auftauchen so
Giesebrecht, Die ftlttfistamentliche Schätzung des Gottesnamens. 185
vieler derartiger Stellen in seinem Buche verantwortlich gemacht
werden darf. Und müßten wir die Frage bejahen, so ständen wir
sofort vor der weiteren Frage, wie es sich erkläre, daß gerade bei
diesem Propheten zuerst jener Namenglaube und der ihm Ausdruck
gebende Sprachgebrauch hervortritt und zwar gleich in so starkem
Maße ; ob sich etwa schon in der älteren nichtprophetischen Literatur
vorbereitende Spuren davon vorfinden oder ob wir von anderwärtsher
eine Erklärung für die auffällige Erscheinung zu gewinnen ver-
mögen.
Nun stelle ich aber sofort die sehr bedeutsame Tatsache fest,
daß sich alle Stellen des Buches, wo vom Dti Jahwes in irgend einer
hier in Betracht kommenden Verbindung die Rede ist, außerhalb von
c. 1 — 6 finden, d. h. außerhalb des großen (wenigstens c. 2— 6 um-
fassenden) Zusammenhangs, in dem man zu allemächst berechtigt
ist, jenes erste Weissagungsbuch zu suchen, das nach c. 36 Jeremia
persönlich dem Baruch in die Feder diktierte. Nur 3, 17 begegnet
eine Stelle, die dieser Feststellung zu widersprechen scheint Indes,
sie gehört zu einem den ursprünglichen Zusammenhang sprengenden
Einschub, gleichviel, ob man diesen Einschub auf 3,14—18 be-
schränkt, wie ich tue, oder ihm mit anderen größere Ausdehnung gibt.
Obendrein hat LXX in ihrer Vorlage die Worte rhtnr^b mry^ Dtfc
noch nicht gelesen; sie bilden also in dem Einschub noch einen
jüngeren Einschub. Die Tatsache bleibt also bestehen, daß Jeremia
in diesen Kapiteln vom *>'*> ütD nichts weiß. Das ist aber um so be-
deutsamer, als es auch in diesen Beden nicht an Gelegenheiten ge-
fehlt hätte, statt von mn'> vom mrx^ ü6 zu reden, wenn der Prophet
selbst theologisch das Bedürfnis gehabt hätte, der darin ausgeprägten
Vorstellung Ausdruck zu verleihen.
Beachten wir nun weiter, daß von c. 7 an nach dem Ausweise
der einleitenden und überleitenden Formeln die Beden Jeremias fast
durchgehends von anderer Hand berichtet werden, so eröffiiet sich
uns die Möglichkeit, das Vorkommen des üW Jahwes ebensogut, wie
auf Jeremia selbst, auf jenen Berichterstatter (Baruch?) zurück-
zuführen, ja, wer weiß, ob wir nicht sogar die Redaktion unseres
gegenwärtigen Jeremiabuches dafür verantwortlich machen dürften. ^)
1) Dazu ist auch die TextdifFerenz zwischen LXX und dem masoretischen
Jeremiabache nicht zu yergessen. Sie lehrt, daB sogar noch, als die der LXX
zugronde liegende Textgestalt schon nach Aegypten verpflanzt war, auf palästi-
nensischem Boden am Texte redigiert worden ist Es müßte also auch bei jeder
einzelnen SteUe die Möglichkeit erwogen werden, daß an ihr Dti ganz spät ein-
gefügt und vieUeicht sogar erst nachträglich in die handschriftliche Tradition der
LXX eingedrongen sei. Wir sahen ja schon, daß 3, 17 LXX vom ^vojia Jahwes
noch nkdits weiß.
Q«tk. f^ Am. IM. Vr. 9. 13
186 Mit. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Damit ist aber schon, wie man zugeben wird, die Gewißheit, daß
Jeremia der erste in der Reihe der Propheten gewesen sei, der
vom > Namen < Gottes im fraglichen Sinne Gebrauch gemacht, stark
erschüttert. Wahrscheinlich schwände diese Gewißheit gänzlich, wenn
wir bei allen Stellen sicher bestimmen könnten, wie weit für ihren
Wortlaut fremde Hände verantwortlich sind. So viel ist sicher, viele
der in Betracht kommenden Stellen gelten nicht wenigen Kritikern
als nichtjeremianisch. Immerhin aber müssen wir mit der Möglich-
keit rechnen, daß auch Jeremia selbst schon häufiger vom ülö Jahwes
geredet und dadurch jüngerer Zeit Anlaß geboten hat, Vorstellung
und Redeweise von diesem DID stärker zu beleben und ihr auch in
seinem Buche stärkeren Eingang zu verschaffen. Meines Erachtens
läßt sich jedoch mit einigermaßen genügender Sicherheit nur eine
Redewendung auf ihn selbst zurückführen und dazu noch eine im
Grunde ziemlich harmlose.
Die Redewendung, die ich meine, ist die, welche das göttliche
Eigentumsverhältnis zu einer Person oder Sache umschreibt und so
lautet: b? ''''» DtD «npj?. Wir finden sie 7,10.11 (ob hier wirklich
ursprünglich?). 14 (ebenso? man beachte den Paseqstrich). 30;
14,9; 15,16 (auch?); 25,29; 32,34 (= 7,30); 34,15 (Dan. 9,18.19
beruhen wohl auf einer Nachwirkung Jeremias). Der Ausdruck an
sich entstammt der Umgangssprache und dürfte geläufiger gewesen
sein, als die beiden einzigen, dahin gehörigen Beispiele 2. Sam. 12,28;
Jes. 4,1 vermuten lassen. Natürlich bleibt möglich, daß er auch
schon vor Jeremia zur Bezeichnung des Verhältnisses Jahwes zu
irgend einem persönlichen oder sachlichen Objekte gebraucht wurde,
aber bemerkenswert ist doch, daß vor ihm tatsächlich kein prophe-
tisches Buch den Ausdruck verwendet. Die einzige Stelle Am. 9, 12
ist, wie wir sahen, ja kritisch recht anfechtbar und angefochten.
Ebenso ist bemerkenswert, daß in der außerprophetischen Literatur,
so weit sie beanspruchen kann, aus voijeremianischer Zeit zu stammen,
der Ausdruck auch nicht sicher nachweisbar ist. 2. Sam. 6,2;
1. Reg. 8,43, ja,, sogar Deut. 28,10 sind hinsichtlich ihres Alters
zweifelhaft; sie köonen deuteronomistisch sein, also gerade so gut
nach- wie v o r jeremianisch. Freilich auch in der späteren Literatur
ist der Ausdruck selten. Er findet sich nur noch Jes. 63, 19; 1. Chron.
13,6 (Text korrupt, vgl. 2. Sam. 6,2), 2. Chron. 6,33 (== 1. Reg.
8,43); 7,14; Esra 5,1; (vgl. Jer. 15,16). Nach allem liegt die An-
nahme recht nahe, die Anwendung des Ausdrucks auf Jahwe und ihm
Gehöriges sei überhaupt nur jeremianisch und, wo sie sich sonst
findet, sei sie unter dem Einfluß Jeremias eingedrungen. Und daß
Jeremia sich der Redewendung zu bedienen begann, ließe sich reli-
Giesebrecbt, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 187
gionsgeschichtlich und psychologisch auch noch ziemlich begreiflich
machen.
Bedenken wir die Ursache seiner Ankündigung des Gerichts
nicht blos über Land und Volk, sondern auch über Jerusalem und
sogar den Tempel, erinnern wir uns des fremden Kultus, dessen sich
das Volk schuldig gemacht und der bis in die geheiligten Räume
des Jahwetempels eindrang, dann begreifen wir, wie es kam, daß
der Prophet so umständlich, d. h. aber, so nachdrücklich darauf hin-
zuweisen das Bedürfnis hatte oder haben konnte, der Tempel trage
doch den Namen Jahwes als seines Besitzers und nicht den irgend
eines Baal und das Volk heiße doch Jahwes Volk und nicht Volk der
Himmelskönigin oder irgend eines Baal. Ja, so begreift sich auch,
daß er sich selbst im Gegensatz zu dem abgefallenen Volke als
Jahwes Knecht so bezeichnet, denn als sein Prophet ist er in Wahr-
heit auch vornehmlich Träger des Namens vor allem Volk. Es be-
darf schließlich aber kaum besonderer Erwähnung, daß in dieser
Redewendung nichts ist, das auf jenen Namenaberglauben hinweisen
müßte. Ob der >Name< Jahwes im Sinne dieses Glaubens auch oder
vielmehr schon für Jeremia Bedeutung hatte, müßte sich aus dem
weiteren Gebrauche in seinem Buche ergeben ; aus jener Redewendung
kann es jedenfalls nicht geschlossen werden.
Diesen Beweis liefern natürlich auch die oben zu Sef. 3, 20 er-
wähnten Stellen nicht, wo Ü16 im Sinne von Ruhm, Ehre Jahwes
vorkommt, ebensowenig auch das nur zweimal vorkommende Tpati pjü\>
14,7.21 oder der Satz, Jahwes Namen vergessen über (= ihn ver-
tauschend mit) dem Baal (b:?^^) 23,27 (zweimal, aber an der ersten
Stelle ist der Text zweifelhaft, vgl. LXX), wo vielleicht (meines
Erachtens sehr wahrscheinlich) ursprünglich sogar dem b:^ni nur
•^nn« gegenüberstand (vgl. weiter unten!). Ueber Dtin «np habe ich
zu Sef. 3, 9 auch schon das Nötige gesagt.
Ziemlich oft findet sich nun aber der Ausdruck ^'^ DtDl K^3:
11,21; 14,124 f.; 23,25; 26,9.16.20; 27,15; 29,9.21 oder Dtön'na^:
20,9; 29,23; 44,16. Ob alle Sätze echt jeremianisch sind, sei dahin-
gestellt. Zur Bedeutung des Dlbn an diesen Stellen vgl. Giesebrecht
S. 24; Giesebrecht gibt zu, daß 26,16.20 Diön >den positiven Auf-
trage Jahwes bezeichnen könne; ich meine, man könne dies zu allen
Stellen sagen. Freilich ist es selbstverständlich, daß die falschen
Propheten so gut wie die echten bei ihren Aussagen den Jahwe-
namen aussprechen. Auch sie wollen als nnn*> "»ö (vgl. Jer. 15,19;
23,16) gelten, genau so wie die wirklich von Jahwe berufenen Pro-
pheten, denn auch ihre Autorität beruht auf diesem Anspruch. Nun
beachte man, 2,8; 23,13 steht >weisBagen< b$$$, also ohne Dtü;
13*
188 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
ähnlich lesen wir 23,27 als Objekt zu rot? einerseits ^laiD, anderer-
seits aber das einfache b:?a. Dem b:^än bei K^ (oder nan) würde
also eigentlich Tr\n^^ (oder pronom. ^2) entsprechen. Sollte Jeremia
selbst nicht wirklich so gesprochen haben und die Form mit DID von
jüngerer Hand in seine Ausdrucksweise hineinkorrigiert sein? Hätte
Jeremia selbst bei Jahwe vom ütö geredet, beim Baal aber nicht, so
bewiese das allerdings, daß in seiner religiösen Denkweise die Ten-
denz, Jahwes persönliches transzendentes Wesen vom Diesseits zu
scheiden, schon wirksam zu werden begonnen hatte. Aber hat
Jeremia selbst wirklich so gesprochen und geschrieben? Das ist die
Frage. Zu einer Verneinung dieser Frage könnte noch eine andere
Beobachtung Anlaß geben. 12,16 vgl. 44,26 (dazu weiter unten)
finden wir :P^ld^ mit "^^ DVD verbunden. Das ist an sich unaufiällig,
weil beim Schwur ja der Name Jahwes wirklich ausgesprochen wird.
Aber merkwürdigerweise steht 12,16 auch wieder daneben das bloße
b:?^, und 22,5; 49,13 sagt Jahwe: ^nsfät^s *'^, formell also ent-
sprechend b:^U. Dieses Schwanken in der Form des Ausdrucks legt
es meines Erachtens doch sehr nahe, zu vermuten, in dieser wie in
jener Redewendung gehe DID nicht auf Jeremia selbst zurück. Jeden-
falls ist seine Herkunft von ihm sehr zweifelhaft.
Im Jeremiabuche stoßen wir nun auch wieder auf das an vier
zweifelhaften Stellen bei Arnos vorkommende formelhafte n'Qtü Tr\TV^
33,2 oder "«)m«as nin'> 10,16; 31,35»» (= Jes. 51,15); 32,18; 50,34;
51,19 (= 10,16); an drei Stellen geht ?[bian D«D vorher: 46,18;
48,15; 51,57. Von all diesen Stellen ist auch nicht eine einzige
unangefochten und vielleicht auch keine wirklich unanfechtbar (vgl.
Giesebrecht S. 31). Und das gilt auch von der zwar von Giesebrecht
a. a. 0. nicht mitbesprochenen (vgl. jedoch S. 43), aber hierherge-
hörigen Stelle 16,21 (und sie werden erkennen, Tv\rv^ ^lOilO '^i). Handelt
es sich nun aber hier überall, wie in den Amosstellen, um Erzeug-
nisse irgend eines nicht mit Jeremia, ja, wahrscheinlich sogar nicht
einmal mit Baruch identischen Schriftstellers, so ergibt sich, daß wir
innerhalb der prophetischen Literatur bis einschließlich Jeremia jene
Formel überhaupt nicht finden. Erst bei Deuterojesaja resp. im
Deuterojesajabuche (vgl. Giesebrecht a. a. 0.) — denn auch bei
Ezechiel begegnet sie uns nirgends — stoßen wir auf sie in ursprüng-
lichem Zusammenhang (ob 48,2 dazu gehörig?) oder doch auf Sätze,
die auf diese Formel inhaltlich und im Wortlaut zurückführen, die
aber auch mindestens noch nicht viel von dem verspüren lassen, was
man unter Namenglauben versteht und Giesebrecht tatsächlich her^
ausfühlen zu müssen meint. Wir haben meines Erachtens darin
vielmehr einen Widerhall und Nachball des bei Ezechiel so häufig
Giesebrecht, Die alttestamentUche Schätzung des Gottesnamens. 189
Yorkommenden Satzes zu erkennen, Jahwes Wirksamkeit werde zur
Folge haben, daß man erkenne, daß er Jahwe sei. Und das er-
innert femer auch an das nachdräckliche, für das Heiligkeitsgesetz
80 charakteristische : rtin*« "^SK. — Mir scheint also der nachgewiesene
einfache Tatbestand mit aller Bestimmtheit zu erweisen, daß jene
Formel in der prophetischen Bede erst in nachjeremianischer Zeit
Eingang gefunden und, soweit erkennbar ist, Deuterojesaja der erste
Prophet war, der sie in seiner ja in sehr gehobenem Tone dahin-
fließenden Rede verwendet hat. Natürlich ist damit nicht auch aus-
geschlossen, daß die Formel in der außerprophetischen religiösen
Sprache auch schon früher geläufig war. Aber ob das wirklich der
Fall gewesen, müssen wir hernach auch prüfen, und dabei wird sich
alsdann herausstellen, ob Giesebrechts Urteil (S. 33), die Formel
weise »auf bestimmte Vorstellungen vom Namen Jahwes zurück, die
schon der vorexilischen Zeit angehört haben müßten c, nicht doch
einer ernstlichen Einschränkung bedarf. Was wir bisher gesehen
haben, ist Giesebrechts Urteil sicher nicht günstig.
Auch 10,6, der Satz, groß sei Jahwes Name rrrin^ (vgl. Giese-
brecht S. 28), kommt für Jeremias Vorstellungswelt nicht in Be-
tracht. Zunächst stelle ich fest, daß, auch wenn man nicht, wie viele
tun, den ganzen Abschnitt 10,1—16 Jeremia abspricht, doch v. 6—8
als Zusatz ausgeschieden werden müssen, weil sie der Grieche nicht
gelesen hat. Im übrigen sehe ich auch nicht ein, daß man hier an
etwas anderes als an Jahwes Buhm um seiner Heldenkraft und ihrer
geschichtlichen Bezeugungen willen denken muß. — Auch für 44,26,
wo Jahwe bei seinem großen Namen schwört, ist die jeremianische
Herkunft sehr ungewiß, aber es ist meines Erachtens in »dem großen
Namen< im Zusammenhang der Bede auch nichts mehr zu suchen
als ein Hinweis auf Jahwes Größe im Verhältnis zu der vom Volke
verehrten heidnischen Gottheit. — Auf die einsame Stelle 34,16 ist
schon oben S. 176 zur Genüge hingewiesen worden.
Es bleibt noch 7,12. Giesebrecht (S. 35f.) hat die Gründe ein-
gehend gewürdigt, die gegen jeremianische Herkunft des in Frage
stehenden Belativsatzes 'y^ '^ins^ip ni^2^, sprechen können. Auch hat
er auf die sicher sehr auffällige Singularität des Ausdrucks üt6 plD
gegenüber dem oben besprochenen bv Dtü vnp: hingewiesen und es
für möglich erklärt, daß diese Wendung einst auch hier stand, dann
aber von > einem an die Darstellung der Deuteronomisten gewöhnten
Schreiberc unabsichtlich ersetzt wurde. Wir können von dieser Mög-
lichkeit absehen. Meines Erachtens stößt sich der Belativsatz mit
dem vorausgehenden 'ib^^a n^K *>^pt3 zu arg, als daß er ursprünglich
sein könnte. Man beadite das Suffix in "nahpts. Darin liegt ja deut-
190 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 3.
lieh genug, worauf es ankommt. Aber gerade das allgemeine ü^pü
konnte einen späteren Leser, vielleicht schon den Bedaktor des
jetzigen Jeremiabuches , veranlassen, den Relativsatz hinzuzufügen,
um das noch bestimmter auszudrücken, was eigentlich schon im
Suffix ausgesprochen war, nämlich daß Jahwe dort seiner Zeit wirk-
lich seine Wohnung gehabt habe. Auch in v. 14 ist, wie schon
früher angedeutet, der erste Relativsatz sehr wahrscheinlich einge-
schoben, und V. 12 entspricht meines Erachtens diesem v. 14 in
seiner wahrscheinlich ursprünglichen Gestalt auch viel genauer, wenn
er ohne jenen Relativsatz gelesen wird. — Zu alledem kommt nun
aber auch noch, daß es unerweislich ist, wie wir bisher gesehen, daß
Jeremia überhaupt den Namenglauben besessen hat, der in dem
Ausdruck DID "fslO ausgesprochen wird. Freilich mag seine Prophetic
von der möglichen, ja, schließlich der unvermeidlichen Zerstörung
auch des Tempels, worin er der Nachfolger Michas war (vgl. c. 26),
auch seine Redewendung "an «^pa, allenfalls auch, wenn von ihm
selbst herrührend, die Verbindung von KSi: pa^i) mit ^'^ Dtin statt
des einfachen nin*>n, auf die Förderung der deuteronomistischen Vor-
stellung und ihres sprachlichen Ausdrucks von entscheidender Ein-
wirkung gewesen seih, aber daß Jeremia selbst die Vorstellung vom
üW Jahwes als einem im Tempel gleichsam aufgestellten selbständigen
Machtwesen neben Gott wirklich gehabt habe, dem widerspricht, so-
viel ich sehe, seine theologische Gedankenwelt, wenn wir sie in
ihrem ganzen Umfange auffassen, durchaus. Ja, selbst für die Volks-
vorstellung seiner Zeit läßt sie sich nicht ohne weiteres behaupten,
wenigstens ließe sich dagegen das 7, 4 stehende nin*» by^n mit einigem
Gewicht geltend machen. — Sehr wesentlich verstärkt wird diese
Beweisführung durch die Tatsache, daß auch Ezechiel noch die
Redewendung 'y) Ulb )^10 nicht kennt, und diese Tatsache rückt in
eine besonders wirksame Beleuchtung, wenn wir bei ihm lesen, nicht
>der Name« Jahwes verlasse vor der Zerstörung Jerusalems Tempel
und Stadt und kehre hernach wieder dorthin zurück, sondern sein
niM (vgl. Ez. ll,22flf.; 43, Iff.). Dazu läßt sich auch nicht sagen,
bei ihm werde (z.B. 43, 7 ff.) der >heilige Namec Jahwes von dem
transzendentalen Lichtwesen Jahwes unterschieden. Aber wohl läßt
sich vielleicht hier bei Ezechiel ein weiterer Anknüpfungspunkt er-
kennen, von dem aus die hier in Frage stehende Vorstellung und
Redeweise vom iNamenc Jahwes hernach begreiflich werden würde.
Nun war aber Ezechiel wie Jeremia priesterlicher Herkunft, auch
sicher als schon erwachsener, wenn auch noch jugendlicher Mann ins
Exil gefuhrt worden. Wir dürfen also wohl schließen, daß ihm von
Haus aus jedenfalls jene Redewendung ebenso wenig geläufig war,
Oiesebrecht, Die alttesiamentliche Seh&txmig des Gottesnamens. 191
wie seinem Priestergenossen Jeremia. Das dürfte dann aber doch
wohl gleichbedeutend sein mit der Gewißheit, daß auch jener Namen-
glaube überhaupt beiden und dem Kreise, aus dem sie hervor-
gegangen, um 600 herum noch etwas Fremdes war. Nun findet sich
die Redewendung 'y\ pt freilich auch nicht bei Deut.-Jes., ja, auch
bei keinem der noch später lebenden Propheten; selbst in der
priesterlichen Schrift sucht man sie vergeblich, so oft auch in ihr
P^ mit TOD Jahwe verbunden steht oder )^tü von Jahwes Wohn-
stätte gesagt wird. Aber gerade auch dies rechtfertigt dann umso
mehr die Vermutung , daß in Jer. 7,12 der fragliche Relativsatz von
irgend einer fremden Hand eingefügt wurde. Wo die literarische
Heimat der Redewendung ist, wird sich hernach vielleicht deutlich
ergeben.
Das Ergebnis unserer Untersuchung der prophetischen
Literatur ist nach allem, wie ich meine, ziemlich klar und sicher.
Stades These ist, soweit diese Literatur in Betracht kommt, wirklich
wohl begründet. Nachweisbar beginnt, wie es scheint, erst mit
Jeremia in der Sprache der Prophetie der >Name< Jahwes stärker,
wenn auch zunächst noch in recht harmlosem Sinne, immerhin aber
doch derart hervorzutreten, daß sich mit seiner Verwendung in der
religiösen Vorstellung nach und nach jener Namenaberglaube ver-
binden konnte. Und wir sahen gelegentlich ja auch, daß die bis-
herige Entwicklung des Inhalts der Glaubenswelt Keime in sich
barg, die geeignet waren, sich in der Richtung jenes Aberglaubens
zu entwickeln, falls etwa noch von anderer Seite her dieser Namen-
glaube nahegebracht werden mochte.
Doch wie stehts nun mit der älteren außerprophetischen
Literatur? Stimmt ihr Zeugnis mit dem der prophetischen überein?
Man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß Propheten Vorstellungen
und Redewendungen mieden, die der volkstümlichen Religiosität ge-
läufig und durchaus unanstößig waren, aus begreiflichen Gründen
auch' leichter in geschichtlicher Darstellung Raum fanden als in
prophetischer Thora. — Freilich berührte ich schon gelegentlich
Tatsachen, die zu erweisen scheinen, daß man in den älteren Zeiten
in den wirklich religiösen Kreisen des Volkes in der hier fraglichen
Beziehung weder anders dachte, noch anders redete, als von den
Propheten geschah. Man hatte im Volke noch weniger als in der
Prophetie das Bedürfnis, in der Vorstellung und Rede Jahwe von
der diesseitigen Welt zu scheiden. Man dachte und redete von ihm
und seinem innerweltlichen Dasein und Walten in harmlos mensch-
licher Weise. Der Tempel war »Jahwes Haus<; niemand dachte
daran, vom >Hau8e des Namens Jahwes« zu reden. Und sehen
192 Gott. gd. Anz. 1906. Nr. 8.
wir genauer zu, so ergibt sich, daß auch in der älteren außer-
prophetischen, der poetischen wie erzählenden Literatur, nichts Yor-
kommt, das ernstlich mit unseren Beobachtungen an der prophe-
tischen Literatur in Widerspruch stände. Wo sich dergleichen findet
oder zu finden scheint, ist genügende Veranlassung zu der Annahme
vorhanden, daß wirdeuteronomistischer Textbearbeitung gegen-
überstehen. Allerdings, wollten wir jetzt zu einem absolut sicheren
Ergebnis gelangen, so müßten wir die älteren Quellen sorgfältig und
reinlich von Zutaten jüngerer redaktioneller Bearbeitung scheiden
und auch die als Zutaten erkannten Textbestandteile auf ihre Her-
kunft und die Zeit ihrer Entstehung genauer Prüfung unterwerfen.
Natürlich muß hier von dieser Aufgabe abgesehen werden. Aber ich
denke, es wird damit der Wert unseres Ergebnisses nicht allzu sehr
geschädigt.
Die ältesten literarischen Zeugnisse, wie z.B. das Debo railed
(auch •fMb'Q Jud. 5, 23 ist, wie schon bemerkt, nicht ursprünglich), der
Tempel weihspruch Salomos (1. Reg. 8, 12 f.), wissen vom >Namen<
Jahwes in dem fraglichen Sinne nichts. Im Bundesbuch Ex. 20, 24^
(vgl. dazu 23,13; Jos. 23,7; Hos. 2,19) handelt es sich um kulti-
sche Anrufung Jahwes mittels des Namens Jahwe. Nach der elo-
histischen Erzählung Ex. 3, 13—15 soll der Jahwename nach Gottes
eigener Willensofienbarung sein nDT sein. Er will damit angerufen
werden und auf die Anrufung auch hören. Man könnte im Sinne
des Namenglaubens allenfalls sagen, die Nennung des Namens übe
auf den Angerufenen eine Macht aus und zwinge ihn herbei. Aber
es liegt in solchen und ähnlichen Stellen nicht der geringste Anlaß
vor zu der Annahme, der >Name< Gottes habe für die religiöse
Vorstellung schon in den alten Zeiten, aus denen die genannten
Stellen stammen, eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem persön-
lichen transzendenten Wesen Jahwes besessen. Auch Giesebrecht
(vgl. sein Urteil S. 26) denkt daran nicht ohne weiteres; nur be-
merkt er, >die intime und dauernde Verknüpfung des Namens mit
dem Kultus scheine am Ende eine sehr starke Verselbständigung
des Namens bewirkt zu haben <. Gewiß ist das richtig, nur fragt
sich, von wann an dies eingetreten ist. Auch die außerprophetische
Literatur beweist nicht, daß diese Wirkung sich früh geltend ge-
macht hat.
Die Zeugnisse, die unbedenklich aus älterer Zeit abgeleitet
werden können, sind auch hier wieder merkwürdig dünn gesät.
«i'S Dtb vnp begegnet uns zunächst nur in der jahwistischen Schrift
Gen. 4,26; 12,8; 13,4; 21,33; 26,25, vgl. dazu auch Ex. 33,19;
34,5. Hierbei handelt es sich nur um die Nennung des Namens
Giesebrecht, Die alttestamentliche Scbätzang des Gottesnamens. 198
Jahwes, um Anrufang Gottes mit seinem Namen. Nicht auffällig ist
dann auch, daß die Bedewendung für die ganze kultische Ver-
ehrung, auch für die am Altare mittels der Opfer, gebraucht wird,
eben weil es eine Verehrung Jahwes am Altare ohne wirkliche An-
rufung, wie immer diese geschah, sei es im Gebet, sei es im
Hymnus, nicht gab, und die Psalmen zeigen uns genau so, wie die
sonst in der Literatur vorkommenden Gebete, daß Gottes Anrufung
mit seinem Namen Jahwe ebenso selbstverständlich wie gewöhnlich
und — harmlos war. Das gilt auch von den Stellen in der Elia-
geschichte, 1. Reg. 18,24—26 ('»"■•Dm v. 32 ist sicher fehlerhaft;
in der hexaplarischen und lucianischen Rezension der LXX fehlt es
mit Recht; vgl. Giesebrecht S. 25 Anm. 1). — Sehr bemerkenswert
ist nun, daß wir diese Redewendung außer beim Jahwisten und in
der Eliageschichte und noch einer sogleich zu besprechenden Stelle
in der außerprophetischen Literatur bis in die nach exilische Zeit
hinein nirgends mehr antreffen (die priesterliche Schrift gebraucht
sie ebensowenig wie das Deuteronomium ; Deut. 32,3 gehört nicht
hierher). So weit sie in Betracht kommt, könnte man also kaum
vom Vorhandensein jenes Namenaberglaubens sprechen.
Indes, dem scheint 2. Reg. 5, 11 zu widersprechen. Der Syrer
Na'man erwartete, Elisa werde persönlich zu ihm kommen, >den
Namen Jahwes anrufen c, seine Hand über die vom Aussatz be-
fallene Stelle seines Körpers fahren (streichen) lassen und ihn so
heilen. Es ist klar, daß eine Art Zauber vom Propheten erwartet
wird, aber es ist wohl zu beachten, daß die Zauberhandlung aus
zwei Teilen besteht. Der Anrufung des Namens Jahwes geht die
Bewegung der Hand über die kranke Stelle zur Seite. Daß das
i's Qöl tmp einen wesentlichen, ja, den wesentlichsten Teil der Hand-
lung bildete, wenn sie wirksam sein sollte, versteht sich von selbst
Aber man kann selbst nicht einmal für den Heiden mit Sicherheit
voraussetzen, er sei der Meinung gewesen, die Nennung des Namens
des Gottes Jahwe allein schon habe in Verbindung mit der Hand-
bewegung die erwünschte Wirkung. Die Annahme liegt ebenso
nahe, das 'AI mp sei ebenso gedacht wie jenes kultische beim Gebet
oder Altardienste (wie in der Eliageschichte 1. Reg. 18, 24 ff.), es
werde der Gott herbeigerufen und unsichtbar die durch die Hand-
bewegung symbolisch dargestellte heilende Wirkung an ihm voll-
ziehen. Jedenfalls läßt sich meines Erachtens auch von dieser Stelle
aus wenigstens nicht behaupten, in Israel seien zur Zeit Elisas d. h.
also im 9. Jahrhundert oder zur Zeit der Aufzeichnung der Elisa-
geschichten im 8. Jahrhundert mit dem DO Jahwes Vorstellungen im
Sinne des Namenaberglaubens verknüpft worden, ob das auf Seiten
194 Gott. gel. Anz. 1906. Kr. 8.
des Heiden Na'man geschah, mag auf sich beruhen bleiben. Vgl.
Giesebrecht S. 25 f. Damit will ich nicht behaupten, man habe im
Volke Israel, so weit man solchen Heilungszauber trieb und an ihn
glaubte (und das wird sicher geschehen sein), nicht auch schon dem
bloßen Aussprechen des Gottesnamens bei der Zauberhandlung, ge-
wissermaßen diesem Namen selbst, heilende Wirkung zugeschrieben,
dem Namen also eine Art Selbständigkeit gegenüber dem mit ihm
genannten überweltlichen Gotteswesen beigelegt; aber wir dürfen
dabei nicht übersehen, daß die Jahwereligion selbst und selbstver-
ständlich alle ihre wahrhaft gläubigen und erkenntnisklaren Vertreter
allem Zauberwesen prinzipiell feindlich gegenüberstanden (vgl.
die Gesetzgebung, schon Ex. 22,17). Beachten wir dies, so gewinnt
die Seltenheit des Vorkommens jener Redewendung und ihre (mög-
liche) Harmlosigkeit da, wo sie vorkommt, selbst 2. Reg. 5, 11, im
Sinne unserer Beweisführung doch sehr erheblich an Gewicht, auch
gegenüber Giesebrechts Bemerkung im Exkurse S. 129. Gewiß
mögen auch > Prophetensöhne« Zauber getrieben haben mit Jahwes
Namen, wie es Na'man erwartete und aus seiner aramäischen Heimat
kannte, aber daß man diese Leute nicht ohne weiteres als Kron-
zeugen für den wirklichen Inhalt der religiösen Vorstellungswelt und
ihrer praktischen Betätigung bei den klarbewußten Jahwegläubigen
verwerten darf, lehrt uns ja Am. 7, 14 deutlich genug. Die eine
Stelle allein beweist also nicht viel, wenigstens so weit die wirkliche
Jahwereligion und die Kreise ihrer wahren Vertreter in jener Zeit
in Betracht kommen. Daß damals viel Heidentum, heidnisches
Denken und Tun ins Volk des nördlichen Reiches eingedrungen war,
ist ja geschichtliche Tatsache, und die Zeugnisse, die wir haben, be-
weisen auch, daß mit solchem Heidentum immer auch Zauberwesen
allerlei Art aufs engste verbunden war. Es läßt sich meines Er-
achtens daher gegenüber dem von mir schon aus der prophetischen
Literatur nachgewiesenen Sachverhalt nur sagen, der sich immer
wieder erneuernde Einfluß eindringenden Heidentums habe schließlich
in Verbindung mit den von mir schon gelegentlich angedeuteten, in
der israelitisch-jüdischen religionsgeschichtlichen Entwicklung selbst
hervortretenden Umständen mit darauf hingewirkt, daß jener Namen-
glaube auch innerhalb der genuinen Jahwereligion Boden fand. Ihr
selbst aber blieb er — und das wird auch das Folgende wieder be-
stätigen — im übrigen in der vorexilischen Zeit fremd.
2. Sam. 6, 2 und Deut. 28, 10 (vgl. Giesebrecht S. 22 f.) finden
wir die jeremianische Redewendung b:P '^''^ ütb Knp3. Aber der Text
der ersteren Stelle ist kritisch unsicher und beweist nichts. An
Giesebrecbt, Die alttestamentliche Sch&tztmg des Gotteflnamens. 19$
beiden Stellen kann und wird deuteronomistische Einwirkung auf den
ursprünglichen Wortlaut vorliegen.
Giesebrecht (S. 30 f.) weist nachdrücklich auf das formelhafte
i'sti nnn*^ in dem Siegesliede Ex. 15,3 hin, das »zwar selbst, wie er
meint, nicht alt« sein werde (meines Erachtens ist v. 1^—10, ein
paar Zusätze ausgenommen, alt und echt), >aber doch auf ältere
Kultus Vorbilder zurückgehen dürfte <. Sichtlich soll auch für diese
Stelle so gut wie für die im Zusammenhang mit ihr genannte
Jer. 10,16 (nicht jeren^ianisch auch für Giesebrecht, vgl. seinen
Komm. z. St.; er findet in Jer. 10,1—^16 starke Züge deuterojesaja-
nischer Art) das hernach folgende Urteil gelten, es werde hier >der
Name Jahwe mit dem Bewußtsein mitgeteilt, daß er (nämlich der
Name) allem Streit ein Ende mache, daß mit seiner Nennung die
anderen Götter zu Boden geschlagen seien <. Davon finde ich im
Zusammenhang des Liedes Ex. 15, Pff. nichts. Vorher wird in immer
neuen Wendungen Jahwe gepriesen für das, was er an dem singen-
den Ich (dem Volke) getan hat. Mit großem Nachdruck weist es
V. 2^ darauf hin, daß solcher Art sein Gott sei und es ihn darum
preisend erheben wolle und müsse, und dann heißt es v. 3, dieser
Jahwe sei ein Kriegsmann, Jahwe sei sein Name, und daran schließt
sich wieder von neuem der Hinweis auf die große Heldentat dieses
göttlichen Kriegsmannes am roten Meere. Was aber bedeutet das?
Das bedeutet meines Erachtens doch nur, daß es eben der Jahwe
(man denke an Ex. 3 !) geheißene und dadurch von allen sonstigen
Göttern unterschiedene Gott Israels war, der so Großes an seinem
Volk getan und dessen Name nun aller Welt bekannt wird und
seinen Ruhm verkündigen wird, aber auch Schrecken vor ihm und
seinem Volke verbreiten wird (vgl. v. 14flF.). Man darf hier ver-
gleichen Redewendungen wie 2. Sam. 7,9.23; 1. Reg. 5,11. Von
irgend welcher Verknüpfung des dichterischen jubelnden Ausrufs, der
Gott, der Israels Kriege führe, heiße Jahwe, mit irgend welchem
kultischen Gebrauche des Gottesnamens, wie Giesebrecht meint,
braucht doch nicht die Rede zu sein, noch kann ich davon etwas
finden. Viel eher würde ich sagen, jenes jubilierende 'i'atö n\n^ in
dem Hymnus Ex. 15 habe dazu beigetragen, daß in späteren Zeiten
dies Wort zu jener formelhaften Verwendung kam, die wir kennen
lernten. Und daß diese Zeiten wirklich recht späte gewesen, dafür
zeugt im Einklang mit der prophetischen Literatur auch die außer-
prophetische Literatur. Denn vor dem Exil findet sie sich in dieser
nirgends mehr, selbst nicht im Deut. Wir kommen hier also wieder
zu genau dem gleichen Ergebnis wie bei dem Ausdruck *>'*> 'l6^ anp.
Hat die Formel rati rr\7X^ irgendwo etwas gemein mit jenem Namen-
196 Oött. gd. Ans. 1906. Nr. 3.
glauben, so hat sie das sicher nicht oder doch nicht nach-
weisbar schon in vor exilischer Zeit angenommen. Deut.-Jes. wärde,
so weit wir sehen können, nach wie vor die obere zeitliche Grenze
dafür bilden.
Nicht ganz unwichtig ist auch, daß yniä^ überall in der jahwisti-
schen und elohistischen Schrift direkt mit dem Gottesnamen ver-
bunden wird ohne Vermittlung durch üto. Das Gleiche ist auch in
den Geschichtsbüchern Jud. Sam. Reg. der Fall. Nur 1. Sam. 20,42
bildet eine Ausnahme, aber hier könnte DOl auch auf eine jüngere
deuteronomistische Hand zurückgehen. Jedenfalls fällt die eine
Stelle ebensowenig ins Gewicht, wie die Stellen Lev. 19,12; Deut.
6,13; 10,20. Beim Schwören wird und muß ja wirklich der Name
Gottes ausgesprochen werden, und bei einem Bekenntnisakt, ein
solcher war der Schwur, durfte natürlich der Israelit keines anderen
Gottes Namen in den Mund nehmen (vgl. Ex. 23,13).
Zurückhaltend urteilt auch Giesebrecht (S. 23) bei Stellen wie
Gen. 32,30; Jud. 13,6.17.18 (mir scheint v. 18 "^Kb^ Kinn gerade im
Hinblick auf die sonst recht genaue Parallele in Gen. 32, 30 textlich
nicht ganz sicher zu sein, und daß ryT^"^ in Gen. 16, 13 wirklich ur-
sprünglich sei, bezweifle ich auch, vgl. Giesebrecht a. a. 0.). Gewiß
ergibt sich aus diesen Stellen in Verbindung mit Ex. 3, 13 ff., 6, 2 ff.,
daß man die Kenntnis des Namens der Gottheit, die einem nahe ge-
kommen war, für etwas sehr Bedeutsames und Notwendiges ansah.
Man könnte sagen, es werde hier vorausgesetzt, daß der nach dem
Namen fragende Mensch nicht blos noch andere göttliche »Namen«,
sondern auch noch andere, ihm aber noch unbekannte, Götter als
vorhanden voraussetze. Verlangte er nach dem Namen, so würde
das also zunächst nur harmlos sein und bedeuten, er wünsche in den
Stand gesetzt zu werden, den ihm erschienenen Gott anzurufen und
zu verehren. Man muß sich dabei an die alt- und gemeinsemitische
Anschauung erinnern, daß das, was ist, seinen Namen hat; was man
nicht nennen kann, existiert auch für die wirkliche menschliche Er-
kenntnis noch nicht im wahren Sinne des Wortes. Ein wirkliches,
inneres, persönliches Verhältnis des Menschen zu einem göttlichen
Wesen war darum auch erst dann vorhanden, wenn er dieses Wesen
mit seinem Namen nennen konnte, es also auch in seiner persön-
lichen Realität kannte. Die Jahwereligion weiß nichts von einem
>unbekannten< Gott. Das ist ja besonders nachdrücklich berichtet»
daß sich Jahwe seinem Volke persönlich bekannt und nennbar ge-
macht hat. Man kann gewiß in jenen Stellen im Hintergrund der
dort zur Aussprache gelangenden religiösen Gedankenwelt den
Glanben finden, die Gottheit suche ihren eigentlichen Namen zu
Giesebrecht, Die alttestanentliche Schätzung des GottesnaineDs. 197
verheimlichen, damit der Mensch nicht durch Kenntnis dieses Namens
Gewalt über sie erhalte. Es mag also aus jenen Erzählungen eine
Spur des Namenglaubens, wie er sonst in der Yölkerwelt verbreitet
war, herausblicken. Man darf jedoch nicht vergessen, daß die genuine
Jahwereligion in alten wie in jttngeren Zeiten immer die lieber-
Zeugung genährt hat, daß Israels Gott sich von Anfang an persönlich
bekannt und nennbar gemacht habe. Freilich das darf auch nicht
übersehen werden, alle Benennungen des Gottes Israels sind relativer
Natur, sind Aussagen über seine Beziehung zum kreatürlichen Wesen
und Leben, zum geschichtlichen Werden und Sein; sein eigentliches
innerstes Wesen in seiner ganzen Fülle und Tiefe bleibt immer
verborgen; das zu schauen, ist eben dem Menschen versagt. Jener
Glaube, mit der Kenntnis des Namens erlange der Mensch Macht
über den mit ihm benannten Gott, lebte innerhalb der älteren Zeiten
allenfalls nur noch in der harmlosen Formel '^'^ Dtän xnp fort.
Nun scheint aber 1. Sam. 17,45 ganz in den Bereich des Namen-
glaubens zu führen (vgl. Giesebrecht S. 42). Zunächst scheint in
der Tat der Gedanke, David trete 'y\ um dem Goliat entgegen,
während dieser mit Schwert u. s. w. herankommt, nin^ un in Gegen-
satz zu '3in y^ypi zu stellen und sagen zu wollen, wie Goliat mit den
äußeren Waffen komme, so wolle David den »Namen« Jahwes als Waffe
gebrauchen. Giesebrecht versteht den Satz wirklich so. Er sagt, der
Fromme wisse, daß er »mit diesem gewaltigen Machtmittel auch
gegen den stärksten . . . Mann anrennen könne <. Aber legt der Zu-
sammenhang der Erzählung diese Auffassung wirklich nahe? Kommt
David wirklich ohne äußere Waffe zum Streit, er, der Zwerg, gegen
den Riesen? Gewiß, Schwert und Spieß und alle andere Rüstung hat
er verschmäht, aber ist er darum ohne Waffe gekommen? Hat er
denn nicht Schleuder und Steine bei sich, die ihm gewohnte Wehr,
womit er den Riesen zu fällen hofft? Und was der Erzähler v. 46
David sagen läßt und dann (wahrscheinlich ein Glossator jüngerer
Zeiten) v. 47 als erkenntnismäßige Wirkung des Sieges Davids an*
gibt, das scheint mir den Schluß auch nicht zu rechtfertigen, der
>Name< Jahwes werde hier, gewissermaßen abgelöst von Jahwe, als
> Machtmittel < aufgefaßt. Meines Erachtens beweist auch diese Stelle,
die durchaus harmlos aufgefaßt werden kann, ja, meines Erachtens
werden muß (wie, das brauche ich nicht auszuführen), nicht, daß in
älterer vorexilischer Zeit der Namenglaube in Israel oder in den
jahwegläubigen Kreisen geläufig gewesen ist.
Blicken wir nun zurück auf unsere Darlegungen, so ergibt sich,
daß wir bisher weder in der prophetischen noch in der auAer*
prophetischen Literatur auch nur eine sichere Stelle geämden haben,
198 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
die das Vorhandensein jenes Aberglaubens in der vorexilischen Zeit
beweisen könnte. Dem ältesten Beweise für sein Vorhandensein
würden wir im Deuteronomium begegnen, freilich auch nur in einer
eigentümlichen Beziehung des >Namens< Jahwes zu seinem sichtbaren
irdischen Wohnsitze inmitten des Volkes, wenn wir unbedingt ge-
wiß sein könnten, daß die in Betracht kommenden Redewendungen
wirklich zum Bestände der ursprünglichen Gestalt des Buches ge-
hörten. Sie stehen zwar inmitten der eigentlichen Gesetzgebungs-
abschnitte, und es könnte scheinen, als spräche dies besonders für
ihre Ursprünglichkeit. Aber nach Lage der Dinge läßt sich die
Möglichkeit nicht ausschließen (wie auch Giesebrecht zugibt, vgl.
S. 35), daß an den betreffenden Stellen deuteronomistische Federn
mitgewirkt haben.
Die Redewendungen, um die es sich handelt, sagen, Jahwe habe
seinen >Namen< in den Tempel gesetzt (D^^to vgl. 12,5.21; 14,24)
oder öfter, er habe ihn dort > wohnen lassen«, eigentlich auch ==
hingestellt, (l?ü vgl. 12,11; 14,23; 16,2.6.11; 26,2). Hier wird
tatsächlich deutlich der >Name< von dem persönlichen transzen-
denten Jahwe unterschieden. In der prophetischen Literatur findet
sich, wie wir sahen, die zweite Form des Ausdrucks nur noch
Jer. 7, 12, aber, wie wir auch erkannten, ohne sichere Gewähr für
wirklich jeremianischen Ursprung daselbst. Bedeutsamer, weil ja
Jeremia vom Deut, abhängig sein könnte, ist dann aber, daß sie
auch in der wirklich älteren außerprophetischen Literatur gar nicht
angetroffen wird. Freilich stoßen wir auf die gleiche oder verwandte
Weise, vom >Namenc Jahwes im Tempel zu reden und zu denken,
ziemlich häufig in den Büchern Samuel und Reg. (dem >Namen<
Jahwes ein Haus bauen; Jahwes >Name€ soll sein [n'^n] im Tempel),
aber daß es sich dabei um deuteronomistische Stellen handelt,
ist auch Giesebrecht (vgl. S. 34 ff.) gewiß. Auch nicht von einer
dieser Stellen kann man behaupten, sie entstamme einer älteren
als der Zeit deuteronomistischer Schriftstellerei. Einen meines Er-
achtens sehr gewichtigen Grund für die Annahme, daß auch im
Deut, selbst jene Redeweise und die ihr entsprechende religiöse
Vorstellung nicht mit Gewißheit als ursprüngliches Eigentum des
sogenannten Deuteronomikers betrachtet werden kann, bietet uns die
Tatsache, daß wir sie weder bei Jeremia (außer jener unsicheren
Stelle) noch auch bei Ezechiel (vgl. oben S. 190) antreffen. Wäre sie
wirklich so geläufig gewesen, wie man nach ihrem Vorkommen im
Deut, voraussetzen sollte, dann sollte man doch wohl, wenn vielleicht
auch nicht die gleiche Form der Redeweise, so doch einen irgend-
wie gearteten Widerhall ihres Inhaltes bei diesen Propheten resp. m
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 199
ihren Büchern erwarten. Aber das ist nicht der Fall. Ja, wie
Ezechiel yon Jahwes offenbarem Wesen und seiner Gegenwart im
Tempel dachte und redete, daß er dabei vom »Namen« Jahwes im
Sinne jenes Namenaberglaubens, so oft er auch vom > heiligen
Namen c Jahwes spricht, nichts gewußt hat, haben wir ja schon ge-
sehen. Mir drängt sich daher immer stärker die Gewißheit auf, daß
Stade wirklich Recht gehabt hat, wenn er die These aufstellte, jene
Weise, vom Wohnen des Namens Jahwes im Tempel zu reden, ge-
höre erst der deuteronomistischen Schriftstellerei an. Ich
würde die These nur dahin erweitern und verschärfen, der Denk-
und Redeweise innerhalb aller Kreise, die wirklich klar bewußte
Bekenner der Jahwereligion waren, war der Namenglaube bis in die
deuteronomistische Zeit, d.h. bis in die exilische Zeit hinein
fremd. Ich leugne nicht, wie ich ja wiederholt gezeigt habe, daß in
der geschichtlichen Entwicklung des religiösen Glaubens und Denkens
in den letzten Zeiten vor dem Exil, vor dem Zusammenbruch Judas,
Jerusalems und seines Jahwetempels, zumal auch in der prophetischen
Gedankenentwicklung Keime lagen und sich zu entfalten begonnen
hatten, die schließlich in der eigentümlichen Weise, vom >Namen«
Jahwes zu reden, und zwar zunächst mit Bezug auf sein Wohnen
im irdischen Heiligtum, ihre geschichtliche Verkörperung fanden.
Aber der wirkliche Eintritt des Namenglaubens in den unangefoch-
tenen Inhalt des religiösen Denkens und der religiösen Sprache ist
meines Erachtens erst in deuteronomistischer oder exili-
scher Zeit erfolgt, und wahrscheinlich auch da anfänglich noch in
verhältnismäßig harmloser Gestalt. Festigung und weitere Aus-
gestaltung, .zumal in der oft überstark realistischen Form, wie ihn
die Psalmen darbieten, erfuhr er meiner Ueberzeugung nach sicher
erst in nachexilischer Zeit. Es bedarf nun keiner weiteren Aus-
führung mehr, daß ich auch Ex. 23,21 für deuteronomistische Er-
weiterung einer älteren Textform halten muß, wenn nicht vielmehr
V. 20. 21 in ihrem ganzen Umfang als solche zu betrachten sein
sollten. Auch die Vorstellung vom ^Kbta in v. 20 ist meines Erachtens
nicht sehr alt (vgl. gleich unten).
Nun erhebt sich aber die Frage, ob nicht fremder Einfluß
sehr wesentlich dazu beigetragen hat, daß in der deuterono-
mistischen Vorstellungswelt und ihrer Ausprägung in der reli-
giösen Rede der »Name« Jahwes im Sinne jenes Glaubens anfing,
realistischere Gestalt anzunehmen, oder geradezu materialisiert zu
werden. Mir scheint es sehr fraglich zu sein, ob die Entwicklungs-
fäden, die ich gelegentlich in der früheren Geschichte glaubte nach-
weisen zu können, wirklich ohne irgend welchen besonderen Anstofi
200 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 3.
im Bereiche der exilischen Zeit dazu geführt haben würden, vom
> Namen« Jahwes so zu denken und zu reden, wie von deuterono-
mistischen Schriftstellern geschehen ist. Ja, wenn ich auf die
priesterliche Schrift und ihre zweifellos sehr absichtliche Art von
Oott zu reden hinsehe, wird mir das noch zweifelhafter. Freilich
haben wir doch auch sonst noch Beweise dafür, daß gerade die Zeit
des Exils im allgemeinen die Zeit gewesen ist, die im Interesse
steigender Transzendentalisierung des Gottgedankens causae mediae
schuf oder doch vorhandene vorstellungsmäßige Ansätze zu solchen
in ihrer Weiterbildung förderte. Ich denke insbesondere an die dem
>Namen< Jahwes ziemlich nahe verwandte Vorstellung vom rmtr^ ^fi6t)
(die, wie sich mir aus längst abgeschlossenen, der Veröffentlichung
noch harrenden Untersuchungen, wie gelegentlich schon bemerkt,
ergeben hat, auch nicht so alt ist, wie die überlieferte Literatur
glauben läßt), ja, an die Engelvorstellung überhaupt, die auch ge-
rade in der exilischen Periode in hohem Maße Förderung innerhalb
der jüdischen religiösen Vorstellungswelt erfuhr. Dazu haben aber
meines Erachtens Einflüsse fremder Vorstellungskreise und Rede-
weisen, mit denen das jüdische Geistesleben in Berührung trat, in
sehr erheblichem Maße mitgewirkt. Es sei mir vergönnt, hierzu aus
meinen Beobachtungen zur Klärung einen kleinen Beitrag hinzuzu-
fügen.
Die naheliegende Erwägung, die sehr regen politischen Bezie-
hungen Judas zur assyrischen resp. babylonischen Welt in den letzten
Jahrzehnten vor seinem Zusammenbruch, sodann die noch engere
Berührung gerade der oberen, zum Teil auch geistig hervorragenderen
Kreise Judas mit babylonischer Kultur, babylonischer religiöser Denk-,
Rede- und Lebensweise an den Orten ihrer Gefangenschaft möchten
nicht unwesentlich mitgewirkt haben zur Belebung und Förderung
der hier in Frage stehenden Erscheinung in der jüdischen Vor-
stellungswelt und ihrer sprachlichen Ausprägung, verdichtete sich
mir am Ende zu dem Entschluß, der Frage näher zu treten, ob sich
etwa zeigen lasse, daß von Babylonien in der Zelt um das Exil
eine wirkliche Anregung ausgehen konnte, die geeignet war, zu
einem stärkeren Gebrauch vom > Namen« Jahwes zu führen. Wohl
hat auch Giesebrecht (vgl. S. 85 f. ; 102 ff. ; 140 ff.) unsere Aufmerk-
samkeit auf hierher gehörige Erscheinungen in der babylonischea
und arabischen Welt hingelenkt; seine Darlegungen verdienen nach
allen Seiten hin Beachtung. Aber nach dem Nachweise, den ich bis-
her geführt habe, ergibt sich für uns eine doch etwas schärfer ab-
zugrenzende Fragestellung. Nach unserem Ergebnis müssen wir
fragen, ob das Auftauchen unverkennbarer Zeichen des Eindringens
Giesebrecht, Die alttestamentliche Sch&tztmg des Gottesnamens. 201
des Namenglaubens in die religiöse Vorstellungswelt der jüdischen
Gemeinde innerhalb der deuteronomistischen Schriftstellerei eine
Wirkung sein kann der engen und lebendigen Berührung der
exilierten Judäer mit ihrer babylonischen Umgebung^ Warum ich
meine, die Frage auf die exilierten Judäer beschränken zu müssen,
ergibt sich aus den früheren Feststellungen, zumal zu Jeremia und
Ezechiel. Ich habe Antwort auf diese Frage gesucht, und ich glaube,
eine bejahende Antwort läßt sich genügend begründen.
Ich legte mir, um irgend eine Antwort auf jene Hauptfrage zu
erhalten, zunächst die Frage vor, ob etwa babylonische Quellen er-
kennen ließen, daß der Gebrauch des Wortes Sum (= D)^), sei es in
Bezug auf Menschen, sei es in Bezug auf die Gottheit, in der Zeit
um das Exil herum im alltäglichen Leben der Babylonier eine Rolle
gespielt, die die Vermutung zu rechtfertigen vermöge, das Maß
dieses Gebrauchs könne auch auf die Weise zu reden und schließlich
auch auf die zu denken bei den auf babylonischen Boden verpflanzten
Juden befruchtenden Einfluß ausgeübt haben. Ich versuchte, an dem
in Schraders Keilinschriftlicher Bibliothek vorliegenden, zwar be-
schränkten, aber immerhin einen guten und, wie ich glaubte und
erfahren habe, auch ausreichenden Ausschnitt aus der großen Menge
vorhandener Quellen darbietenden Material meine Beobachtungen zu
machen, und beschränkte mich zunächst auf die Eigennamen in der
Voraussetzung, daß sich gerade in ihrer eigentümlichen semitischen
Gestaltung in besonderem Maße die jeweilige Gegenwart beherr-
schende Vorstellungen und Redeformen abspiegeln möchten. Und
ich glaube mich in dieser Voraussetzung nicht getäuscht zu haben,
umso weniger, als die Ausdehnung meiner Beobachtungen auch auf
die Quellen aus altbabylonischen und assyrischen Zeiten, soweit sie
in der Eeilinschriftlichen Bibliothek mitgeteilt sind, das Ergebnis fUr
die neubabylonische oder exilische Periode in eine Beleuchtung ge-
rückt hat, die geeignet ist, auch in das uns hier interessierende
Problem erfreuliche Aufklärung zu bringen. Das von mir gesammelte
Material kann ich um des dazu erforderlichen Raumes willen im
einzelnen nicht mitteilen. Ich begnüge mich hier mit Andeu-
tungen.
Meine Beobachtungen ergaben für Assur, daß auf seinem Boden
Eigennamen mit Sum als Kompositionselement wenigstens bis gegen
Ende des 8. Jahrhunderts recht selten gewesen sein müssen. Es
kommen zwar solche Namen auch in älteren Zeiten vor, aber sie
sind zu vereinzelt, als daß man annehmen könnte, die Bildung von
Namen solcher Art sei bei den Assyrem etwas Geläufiges gewesen.
Dagegen scheint von Sanheribs Zeit, d. h. vom Ende des 8. Jahr-
Gltl. f*l. Aas. 1906. Nr. 8. 14
202 G6tt gel. Ans. 1906. Nr. 3.
hunderts an, der Gebrauch so gestalteter Eigennamen ein etwas
häufigerer zu werden, besonders zahlreich sind die wirklich vor-
kommenden Namen dieser Art aber auch da noch nicht, und gerade
die aus dem Volksleben erwachsenen Privaturkunden bieten äußerst
selten ein Beispiel. Sehr unergiebig sind auch die Urkunden aus der
Zeit Asarhaddons. Ganz anders wird das aber, sobald wir die Zeit
des letzten großen Assyrerkönigs Assurbanipal (668—628) betreten.
In öffentlichen königlichen oder politischen wie in Privaturkunden
dieser Zeit begegnen wir einer ziemlich großen Anzahl solcher
Namen, freilich, glaube ich, ist nicht selten Anlaß genug vorhanden,
bei den in öffentlichen Urkunden vorkommenden Namen die Frage
aufzuwerfen, ob ihre Träger Assyrer oder nicht vielmehr ßabylonier
waren. Aber warum — so darf man fragen — tauchen seit San-
heribs Zeit in assyrischen Urkunden mit §um zusammengesetzte
Namen in steigender Häufigkeit auf? Sollte das zusammenhängen
mit der seit jener Zeit wachsenden politischen Erstarkung Baby-
loniens und dem damit wohl auch verbundenen wachsenden kulturellen
Einfluß, der von ihm ausging? Eine Bejahung dieser Frage liegt
aus verschiedenen Gründen recht nahe, zumal auch, wenn wir sehen,
wie es mit dem Gebrauch von §um in Eigennamen auf babylonischem
Boden überhaupt, insbesondere aber in jener Zeit bestellt ge-
wesen ist.
In babylonischen öffentlichen und privaten Urkunden finden wir
von der ältesten Zeit an derartige Eigennamen. In den ältesten und
älteren Zeiten freilich sind sie noch nicht allzu häufig. Das kann
zufällig sein. Bemerkenswert ist aber immerhin, daß in den aus
Hammurabis Zeit in der Keilinschriftlichen Bibliothek III und IV
veröffentlichten Urkunden beiderlei Art, falls ich recht gesehen, kein
einziger Name mit §um vorkommt. Daß solche Namen aber in jener
uralten Zeit nichts Unerhörtes waren, beweisen die Namen der beiden
ersten Könige der ersten babylonischen Dynastie: Sumuabi und
Sumulailu (vgl. Giesebrecht S. 106). In den j^folgenden Zeiten jedoch,
zumal etwa vom Ende des 2. Jahrtausends an, mehren sich die
Namen mit §um. Bemerkenswert ist dabei, daß die Zahl der Könige,
die solche Namen trugen, ziemlich groß ist. Die Mehrung dieser
Namen in den vorhandenen Urkunden wird auffallig im 9. und 8.
Jahrhundert. In hohem Maße beliebt wurde diese Art von Eigen-
namen indes allem Anschein nach in der Zeit des neubabylonischen
Reiches und blieb es dann auch in der persischen Periode. In
Privaturkunden (Keilinschriftl. Bibliothek IV) aus der Zeit Nabopo-
lassars finde ich fünf Fälle solcher Namen, aus der Zeit Nebukad-
nezars 13 (davon aber zwei Namen je dreimal); aus der Evil-Mero*
Gi^sebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 203
dacbs nur einen, aus der Neriglissars 7 (+ 1 verstümmelt), aus der
Nabonids 26, aus der des Gyrus und Cambyses 18 (einzelne davon
wiederholen sich in einer Reihe von Urkunden, so daß tatsächlich
die Zahl der Fälle für diese Zeit sehr viel höher angesetzt werden
müßte).
Wenn ich nun die Tabelle überblicke, die ich mir über das Vor-
kommen solcher Namen in babylonischen Urkunden von den ältesten
Zeiten bis auf die erste persische Zeit herab angelegt habe, so sehe
ich mich vollkommen berechtigt zu der Feststellung, daß die Zeit
des neubabylonischen Reichs d. h. aber die Periode des babylonischen
Exils eine Zeit gewesen ist, in der man in der babylonischen Welt
mit großer Vorliebe Eigennamen verwendete, die mit Sum zusammen-
gesetzt waren. Daß sich solche Namen seit der sogenannten ersten
babylonischen Dynastie, der Hammurabi angehörte, in babylonischen
Urkunden finden und, wie urkundlich belegt werden kann, auf baby-
lonischem Boden nie gefehlt haben, sich aber dann hernach dort in
so starkem Maße gemehrt zu haben scheinen, das beweist meines
Erachtens, daß diese Art Namen ihre Heimat, soweit das mesopota-
mische Gebiet in Frage steht, eben in Babylonien hatte. Ob sie dort-
hin mit der semitischen Einwanderung aus der arabischen Steppe
gekommen, und ob wir, wenn wir nach ihrer eigentlichen Urheimat
fragen, nach dem minäischen Arabien gewiesen werden, lasse ich un-
erörtert. Ich halte das für wohl möglich und verweise gerne dazu
auf das, was Giesebrecht ausgeführt hat, vgl. S. 103 ff., 140 ff.
Ich glaube nun auch, angesichts der bisher von mir nach-
gewiesenen Tatsachen liegt der Schluß sehr nahe, daß die auffällige
Mehrung solcher Namen in assyrischen Urkunden seit dem Ende des
8. Jahrhunderts und dann besonders zur Zeit Assurbanipals wirklich
auf eine Einwirkung babylonischen Brauches zurückgeführt werden
muß. Nicht minder aber, meine ich, dränge sich uns nun auch der
Schluß auf, daß die allem Anschein nach recht große Rolle, die der
Gebrauch von sum im Denken und Reden der babylonischen Welt
in der exilischen Periode gespielt hat, die geistige Atmosphäre schuf,
unter deren Einfluß der >Name< auch im Denken und Reden der
dorthin verpflanzten Juden anfangen konnte, eine höhere Bedeutung
zu gewinnen. Bei Männern, die wie Ezechiel ihre Geistesbildung und
Sprache noch aus der westlichen Heimat mitgebracht, ist es, schon um
ihres naturgemäßen innem Gegensatzes gegen das babylonische Wesen
willen, wohl begreiflich, daß sie von jenem Einfluß noch keine deut-
lichen Spuren bekunden. Begreiflich ist es aber auch, wenn wir bei
einem Schriftsteller, wie Deuterojesaja, der wahrscheinlich im Exil
selbst geboren und in manchfaltiger Beziehung zum babylonischen
204 Gtöit. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Wesen und Leben aufgewachsen war, trotz aller Schärfe seines reli-
giösen Gegensatzes gegen die babylonische Kultur, jenen Einfluß in
seiner Ausdruckweise deutlich wirksam sehen. Und vielleicht dürfen
wir in bezug auf den uns hier interessierenden besonderen Gegen-
stand diesen Einfluß in noch deutlicherer Form bei den sogenannten
deuteronomistischen Autoren, die wir meines Erachtens ebenfalls in
der Mehrzahl innerhalb der exilischen Periode zu suchen haben,
wirksam erkennen. Ist es nun sichere Tatsache, daß kein zweifelloses
alttestamentliches Zeugnis den Namenglauben kennt bis auf Jeremia
und Ezechiel herab, derselbe aber unterhalb dieser Zeitgrenze anfängt,
immer deutlicher sich in der jüdischen Literatur fühlbar zu machen,
so liegt, wie ich meine, die Annahme wirklich nahe, daß dies kaum
ohne babylonischen Einfluß geschehen sein wird.
Ich übersehe bei alledem keineswegs, daß §um in den babylo-
nischen Personennamen seiner Bedeutung nach nicht ohne weiteres
zu dem Gebrauche des UtO Jahwes, womit wir uns hier beschäftigen,
in Beziehung gesetzt werden darf. Sicher sind die Namen nicht
zahlreich, in denen Sum den göttlichen iNamenc meint, wenn über-
haupt welche darunter sind, die so verstanden werden dürfen, was
ich dahingestellt sein lasse, aber auch nicht bestreiten möchte. Indes,
darauf kommt es auch nicht an. Es kommt nur darauf an, die Mög-
lichkeit festzustellen, daß ein ziemlich ausgedehnter Gebrauch von
Sum, auch in Verbindung mit Göttern oder Götternamen (wie sie ja
in den Eigennamen vorliegt), in Babylonien auch das jüdische Denken
und Reden zu einem häufigeren Gebrauch von DO, und zumal in
Beziehung auf Jahwe veranlaßte, von dem man sich fem glaubte,
dessen Name aber trotzdem inmitten der Exulanten fortlebte und
angerufen wurde. Diese Möglichkeit wird man vielleicht ohne Mühe
zugestehen, aber sie wird meines Erachtens zur Wahrscheinlichkeit,
ja, fast zur Gewißheit erhoben, wenn wir folgende Erwägungen be-
rücksichtigen.
Da wir die Redewendung "^'"^ Dt)i vnp (man sagt auch üW Tsm),
für die es selbstverständlich auch in der babylonischen religiösen
Sprache Parallelen gibt , ebenso auch das jeremianische b:^ ''w mpo
als durchaus harmlos beiseite lassen dürfen, so würden, wie wir
sahen, die nachweisbar ältesten, eine gewisse Materialisierung des
>Namen8« Jahwes voraussetzenden Redewendungen das deuterono-
mische oder vielmehr deuteronomistische '^'^ Dti pö und die damit
verwandten deuteronomistischen Ausdrucksweisen sein. Ueberblickt
man nun aber die große Menge von Eigennamengebilden in Babylonien,
so sieht man alsbald, daß zu allen Zeiten, in besonderem Maße aber
gerade auch in der neubabylonischen Zeit Namen aus sakänu mit dem
Giesebrecht, Die ahtastamentliche Sch&tzang des Gottesnamens. 206
Objekt §um und irgend einem Gottesnamen (gelegentlich auch wohl
mit Auslassung des Gottesnamens in der Umgangssprache) als Subjekt
zusammengesetzt wurden, z. B. Bil-gum-i§kun , auch blos §&kin-§um.
Auch wenn §um in diesen Namen soviel sein mag als r^nt (Nach-
kommenschaft) oder vielleicht auch als >Ruhm, £hre< , so ließe sich
doch denken, daß ein Jude sich die Redewendung aneignete, um aus-
zudrücken, Jahwe habe in den Tempel seinen Namen hineingesetzt,
ihm dort Wohnung gegeben. Aber ich finde die Redewendung Sakänu
mit §um anderwärts in einer Weise gebraucht, die jenem deuterono-
mistischen Gebrauche noch deutlicher verwandt ist.
K. B. II S. 112 Z. 62 ff. sagt Sanherib, er habe in dem von ihm
erbauten Palaste seine Namensinschrift angebracht (gitir iumija ina
kirbiSa aSkun) und er spricht dann den Wunsch aus, sollte der Palast
baufällig werden, so möge ein späterer Nachfolger ihn wiederherstellen,
seine Namensinschrift sehen, sie salben, opfern und sie wieder an ihre
Stelle bringen; dann würden ASur und ßtar sein Gebet erhören.
Vgl. ebenso II, S. 150 Z. 15—21. Hier läßt sich sagen, Sanherib
weile in seinem Namen dauernd in jenem Palaste, aber auch, die
Inschrift seines Namens bezeuge immerfort den Palast als ihm
gehörig.
Näher jener deuteronomistischen Wendung scheint zu stehen,
was wir E. B. V (Amarnabriefe) lesen. Dort lesen wir in einem Brief
des Abdfeiba, des Königs von Jerusalem (S. 308, Brief 180, Z. 60—62):
>Siehe, der König (nämlich Amenophis IV.) hat gelegt seinen Namen
nach Jerusalem auf ewig ; deshalb kann er nicht verlassen das Gebiet
von Jerusalem«, und ebenso (S. 308, Brief 181, Z. 5—7): >Siehe,
der König, mein Herr, hat gelegt seinen Namen (äakan §umi§u) auf
den Osten und den Westen«. H. Winckler bemerkt in seinem >Keil-
inschr. Textbuch zum A. Test.< S. 6 Anm. 1 zu der ersten Stelle:
>Der König (Amenophis IV.) hat seinen Kult als Gott in Jerusalem
eingeführt«, und zur zweiten Stelle in Anm. 2: > Anspielung auf den
Kult Amenophis' IV. als Inkarnation des Sonnengottes als alleiniger
Gottheit<. Auch G. A. Smith (vgl. the Expositor 1903, No. XLI,
p. 331) teilt diese Ansicht. Die vernünftigste Auslegung jener Sätze
sei, der König habe imposed upon Jerusalem the worship of himself
as the incarnation of Aten, the sun's Disk. Diese Deutung werde
empfohlen durch die servile terms, mit denen Abd^iba und die be-
nachbarten Fürsten sich vor Amenophis, ihrer Sonne, ihrem Gotte,
niederwürfen.
Ich halte diese Deutung nicht für richtig; auch die allerdings
sehr starken, aber im Orient, auch im alten, unschwer begreiflichen
servile terms beweisen nichts für sie. Meines Erachtens bezeichnet
206 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
der Ausdruck nichts anderes als das Herrschaftsverhältnis, in dem
der ägyptische König zu Jerusalem steht. Indem er dort seine Ober-
herrschaft aufrichtete, den König von Jerusalem sich zum Gehorsam
verpflichtete (vgl. besonders Brief 181 die weiteren Sätze), versetzte
er gleichsam dorthin seinen Namen. Dazu läßt sich aus der schon
erwähnten Sanheribinschrift (K. B. II S. 112 Z. 64 f.) die Redewendung
vergleichen : Götter nennen (berufen) den Namen Jemandes zur Herr-
schaft über Land und Leute; vgl. II, S. 208, Z. 110 f. (Inschrift
Assurbanipals); S. 237(11), Z. 4; Illa, S. 186, Z. 54 f.; S. 192, Z. 21 f.
(Merodach-Baladan II). Auch eine Inschrift Sargons bietet vergleich-
bare Stellen. Wir lesen K. B. II, S. 40, Z. 3, die Götter hätten
seinen (des Königs) Namen hinausziehen lassen (vgl. auch ibid. S. 36,
Z. 2; 52, Z. 4. 5) und S. 44, Z. 31, der König habe die Herrschaft
über die Länder ringsum begründet, indem er seinen Namen C^"^!)
gewaltig machte. Danach darf man doch wohl annehmen, daß jene
Bedewendung, der ägyptische König habe seinen Namen nach Jeru-
salem oder auf den Osten und den Westen gelegt, nichts anderes
sagen will, als, er habe dort seine Herrschaft aufgerichtet. An eine
von ihm dort begründete kultische Verehrung seiner Person als In-
karnation des Sonnengottes zu denken, liegt meines Erachtens fern.
Uebrigens zeigt allerdings ein Brief eines Fürsten im Libanongebiet (?),
in Katna (K. B. V, Brief 138, S. 256, Z. 18flF.), daß ägyptische Könige
Bilder des Sonnengottes an Wohnstätten ihrer Vasallen gestiftet
haben oder doch wenigstens in der genannten einen Stadt und auf
die Gottesstatue ihren (der Spender) Namen setzten (§umu ....
iSakkan). Dadurch wurde natürlich der ägyptische Sonnengott und
sein Kult dorthin verpflanzt, zugleich aber auch der Name seines
königlichen Oberherrn dorthin gesetzt. Dazu ließe sich die oben
erwähnte Namensinschrift Sanheribs in dem von ihm errichteten
Palaste wohl vergleichen.
Von besonderem Interesse sind dann zwei Stellen in der Annalen-
inschrift Assurbanipals, nach denen der >Name< des Assyrerkönigs
eine sieghafte Macht bedeutet. K. B. H, S. 172 f., Z. 95—99, heißt
es, dem Könige von Lydien, Gyges, habe der Gott A§ur seinen (des
Assurbanipal) Namen in einem Traume offenbart und habe ihm ge-
sagt, er möge die Füße des Assyrerkönigs umfassen, dann werde er
> durch seinen (des Assyrerkönigs) Namen seine Feinde besiegen €.
Dann lesen wir ebenda S. 176, Z. 119: iDie Oimirier, die er durch
meinen (Assurbanipals) Namen unter sich getreten, . . .c Diese Sätze
führen uns wenigstens formell sehr nahe an den Namenglauben
heran, der uns hier interessiert. Und alle die herangezogenen aus
sehr weit voneinander liegenden Zeiten stammenden Stellen legen
Giesebrecht, Die alttestamentliche Schätzung des Gottesnamens. 207
meines Erachtens recht nahe, zu vennaten, daß auch dem exilischen
Babylonien die Vorstellung nicht fremd war, jemand, gleichviel ob
König oder Gott, setze seinen Namen irgend wohin, wenn man sagen
wollte, er begründe dort seine Macht und Herrschaft, lasse sich dort
als dem Herrn und Gebieter dienen, übe von dort aus seine Macht
und erfülle von dort aus die Herzen mit Furcht.
Man wird also der Annahme wohl Ausdruck geben dürfen, daß
es nicht nur möglich gewesen sei, daß jüdische Schriftsteller auf
babylonischem Boden jene Redewendung ütö pw aufnahmen, sondern
auch , daß jener Namenglaube tatsächlich unter dem Einfluß babylo-
nischer Vorstellungs- und Redeweisen in die jüdische Vorstellungs-
welt und ihre sprachlichen Aeußerungsformen eindrang, nachdem ihm
allerdings, wie wir sahen, in der vorausgehenden religiösen Entwick-
lung in manchfacher Weise die Wege gebahnt waren. Und da wir
wirklichen Beweisen für das Vorhandensein des Namenglaubens im
jüdischen Denken und Reden erst seit der exilischen Zeit begegnen,
so meine ich, wir dürften jener Annahme mindestens den Charakter
hoher Wahrscheinlichkeit beilegen, wenn es auch geboten sein mag,
noch nicht ohne weiteres von Gewißheit zu reden. Die Prophetie des
Deuterojesaja liefert den sichersten Beweis einerseits für die selbst-
verständlich nicht überraschende Tatsache, daß der Glaube der Jahwe
treu gebliebenen Exulantengemeinde nach und nach genötigt wurde,
sich emstlichst mit babylonischem Glauben und Denken auseinander-
zusetzen, das auch in ihre Reihen immer stärker eindringende baby-
lonische Heidentum in religiöser Vorstellung und kultischer Praxis
nachdrücklichst zu bekämpfen; andrerseits aber auch für die Tat-
sache, daß bei der unausweichlichen Auseinandersetzung mit Babel
und seiner Geisteswelt die jüdische Begriffswelt und ihre sprachlichen
Ausdrucksformen sich recht wesentlich und gewiß je länger, umso
stärker der babylonischen Art akkommodierten. Und das konnte natür-
lich geschehen, auch wenn man in den Kreisen, die ihrem ererbten
Glauben und mit ihm ihrer jüdischen Eigenart treu blieben, mit
allem Eifer, ja, eifersüchtig an der Sprache der Väter festhielt, wofür
ja gerade die herrlichen prophetischen Poesien des Deuterojesaja
den glänzendsten Beweis liefern, aber auch bedeutsame Literatur-
denkmäler der nächsten nachexilischen Zeiten Zeugnis ablegen. Die
breite Masse der in Babylonien angesiedelten jüdischen Exulanten
wird indes, genötigt schon durch das Bedürfnis des alltäglichen
Lebens, nicht bloß bald babylonisch zu reden, sondern auch je länger,
je mehr babylonisch zu denken angefangen haben. Kittel hat jene
Akkommodation in den sprachlichen Ausdrucksformen, die sich aus
einer Vergleichung der Tonzylinderinschrift des Cyrus (K. B. Hlb,
208 Gott gel Anz. 1906. Nr. 3.
S. 120 ff.) und der Schrift Deuterojesajas ergibt, ins Licht gestellt,
vgl. Zeitschr. f. d. alttest. Wissensch. 1898, S. 149 ff. Ich würde in
der Lage sein, weitere Beweise dafür zu erbringen. Jedenfalls bietet
die geistige Atmosphäre, in die uns Deuterojesaja hineinführt und
die im wesentlichen dieselbe ist, der wir in den meisten Dokumenten
der sogenannten deuteronomistischen Literatur begegnen, den Boden,
auf dem in der jüdischen religiösen Denk- und Bedeweise die Ent-
wicklung (Fortschritt kann man es kaum nennen) vor sich gehen
konnte, die sich in dem allerdings anfangs in zaghaften Formen auf-
tretenden Namenglauben verkörperte. Daß derselbe in seiner eigent-
lichen Entwicklung erst der nachexilischen Zeit, also auch der nach-
deuterojesajanischen, angehört, könnte man auch darin erwiesen sehen,
daß die meisten und stäi*ksten Zeugnisse für sein Vorhandensein im
Psalter gefunden werden. Es würde freilich eine notwendige, wenn
auch sehr schwierige, aber, wie ich glaube, doch durchführbare und
lohnende Arbeit sein , zu untersuchen , inwieweit das im Sinne jenes
Namenglaubens deutbare DID Jahwes wirklich zum ursprünglichen
Text der Lieder gehört (daß es oft zugesetzt ist, erweist meines £r-
achtens der Bhythmus), und aus welchen Zeiten Lieder, in denen
dies der Fall ist, abgeleitet werden müssen. Ich bin überzeugt, es
würde sich herausstellen, daß auch die vom Psalter gebotenen Bei-
spiele uns in die nachexilische Zeit hineinweisen.
Ich breche hier mit meinen Ausführungen ab. Im Grunde ist
es methodologischer Natur, was ich an Giesebrechts Arbeit auszu-
setzen habe. Aber mich mit der formellen Feststellung des metho-
dischen Mangels an seiner und nicht blos seiner Arbeit, sondern
auch an der Arbeit anderer, soweit sie sich auf das alte Testament
bezieht, zu begnügen, schien mir nicht empfehlenswert. Gerade an
dem Orte, wo ich die Arbeit anzeigen durfte, hielt ich es für gut,
durch positive Beweisführung zu zeigen, was herauskomme oder
doch herauskommen könne, wenn man in der von mir für richtig
gehaltenen methodischen Weise den zur Untersuchung stehenden
Stoff bearbeitet. Nach meinen Ergebnissen würde also alles, was
Giesebrecht an fremdem Material zum Namenglauben oder -aber-
glauben beigebracht und auf Grund desselben zur Erklärung der
alttestamentlichen Stellen, wo vom uw Jahwes in oft so auffälliger
Weise geredet wird, ausgeführt hat, nur für das jüdische Denken
und Reden der letzten exilischen und vornehmlich erst der nach-
exilischen Zeiten von wirklicher Gültigkeit sein können. Es liegt
mir fem zu leugnen, daß auch im älteren Israel und Juda wohl in
den tieferen Schichten des Volkes solcher Aberglaube geherrscht
haben mag, sicher nachweisbar aus den uns zugänglichen Quellen
Giesebrecht, Die ahtestamentliche Sch&tzong des Gottesn&meiu. 209
ist er aber nicht. Indes, das glaube ich zuversichtlich behaupten zu
dUrfen, daß er der Denk- und Redeweise innerhalb der genuinen
Jahwereligion in der Torexilischen Zeit und bis tief in die exilische
Zeit hinein fremd war, aber ich leugne wiederum nicht, daß sich
in der Frophetie wie unter der Einwirkung der äußeren Entwicklung
auch in dem volkstümlichen religiösen Denken in den letzten Zeiten
vor dem Exil der Boden schon zu bereiten anfing, der das wirkliche
Eindringen jenes. Namenglaubens in die religiöse Vorstellungswelt der
jüdischen Gemeinde ermöglichte. In welchem Sinne und in welchem
Umfange ich dies meine, ergiebt sich aus gelegentlichen Bemerkungen
in meinen Ausführungen.
Ich gehe nun nicht mehr auf die weiteren, unzweifelhaft wert-
vollen Darlegungen Giesebrechts ein. Sie behalten ihren Wert, auch
wenn ich sie religions- oder vorstellungsgeschichtlich gerne etwas
anders benutzt sehen möchte. In manchen Einzelheiten wird man
mit ihm rechten können, aber an der Bedeutung dessen, was er mit
seiner Arbeit geleistet, wird damit nichts gemindert. Seine Arbeit
ist und bleibt an diesem Punkt der Erklärung eigentümlicher religions-
geschichtlicher Phänomene auf alttestamentlichem Boden für alle
weitere Forschung grundlegend, und darum verdient sie, wie viel
man an ihr im einzelnen auch wandeln muß, wärmsten Dank.
Halle a. S. J. W. Rothstein.
Alexios Melnonf , Ueber Annahmen. Leipzig 1902, Johann Ambrosias Barth.
XV, 298 8. Mk. 8.—.
Daß sich die Anzeige des 1902 erschienenen Buches^) durch
äußere Umstände bis jetzt verzögerte, hat insofern sein sachlich
Gutes, als inzwischen die Untersuchungen jenes Buches durch
Meinong und seine Schüler^ eifrig weitergeführt worden sind und
demnach über einige der so erzielten Vereinfachungen und Ver-
tiefungen jetzt mitberichtet werden kann.
Mag es auf den ersten Blick befremden, daß die scheinbar ganz
spezielle psychische Tatsache der >Annahmen< eine Monographie von
1) Es trägt am Schluß den Vermerk »Eingegangen am 5. NoTember 1901c
in seiner Eigenschaft als Sonderband der Ztschr. f. Psych, a. Physiol, d. Sinnes-
organe (was nur auf dem äoBeren, nicht auf dem inneren Titelblatt des Baches
bemerkt ist).
2) Namentlich in den »Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psycho-
logiec, herausgegeben von A. Meinong, Johann Ambrosias Barth 1904, 634 8.
Beim AbschluB dieser Anzeige des »Annahmen« -Buches (Herbst 1905) war
mir nicht bekannt, daß die ausführliche Anzeige der »Untersuchungen« durch
Dürr (G. g. A. 1906, 1) bevorstehe. — Einige Mißverständnisse Dürrs werde ich
bei nächster Gelegenheit zu berichtigen suchen.
210 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
fast 300 Seiten erlaubt oder gar fordert, so klärt hierüber die Be-
merkung des Vorwortes auf, daß das Buch auch die >in größter
Mannigfaltigkeit von allen Seiten sich herandrängenden Tatsachen <
mitbehandelt, was >der formellen Geschlossenheit dieser Ausführungen
abträglich gewesen« sei. Die Berichterstattung wird daher vielleicht
am schnellsten orientieren , wenn wir zuerst jede der beiden Haupt-
entdeckungen des Buches, die der > Annahmen < und die der
>Objektive<, für sich besprechen und dann erst unter UI die
Reihenfolge der sich an- und eingliedernden Nebenuntersuchungen
in einigen Hauptpunkten vorführen.
I. Annahmen. — Als Ausgangsbeispiel einer solchen wird ver-
langt (S. 3) »sich etwa zu denken, die Buren hätten der englischen
Uebermacht nicht weichen müssen oder sie hätten seitens der Völker
des europäischen Kontinents nicht nur Bewunderung und Sympathie,
sondern auch politisch wirksame Unterstützung erfahren«. Diese An-
nahme (— es sind eigentlich ihrer zwei, eine negative >. . nicht
weichen müssen . .< und eine positive >. . Unterstützung erfahren . .c)
ist mehr als bloßes Vorstellen (S. 6) aber weniger als volles Urteilen ;
denn »wer urteilt, glaubt etwas, ist von etwas überzeugt«.^)
1) Es sei sogleich hier bemerkt, daß obiger Gebrauch des Wortes »über-
zeugt sein« sich nicht mit dem deckt, was der Verfasser (und der Referent)
bisher unter »überzeugt sein« verstanden hatten, nämlich gewisses Urteilen
im Gegensatz zum bloßen wahrscheinlichen, zum Vermuten. Diesen älteren
Sprachgebrauch handhabt der Verfasser auch später wieder einmal, indem er
(S. 173) sagt, daß durch »ich bin überzeugt oder ich vermute« der Gewiß-
heitsgrad bestimmt sei. Wenn aber auch die Absicht des Verfassers im ganzen
die ist, das Wort Ueberzeugung nunmehr als Gattungsnamen für gewisses und
wahrscheinliches (sicheres und unsicheres) Urteilen zu verwenden (vgl. z. B. auch
den ganzen § 15 »das Wesen der Ueberzeugungsvermittlung«), so hält Referent es
doch für zweckmäßiger, nach wie vor das Wort »Ueberzeugnng« für die höchsten
Gewißheits- (und Sicherheits)grade aufzusparen und es daher in der allgemeinen
Charakteristik des Begriffes Urteilen nicht zu verwenden. — Hiemach bleibt von der
obigen Doppelbestimmung des Urteilens nur die erste »wer urteilt, glaubt
etwas« ; wodurch nun freilich wieder zu aUen jenen Mißverständnissen Gelegenheit
gegeben ist, die einen Teil der Schuld daran tragen, daß es zu einer allgemeinen
Anerkennung der Gleichung Urteil = Glauben bisher nicht kommen wollte.
Diesem Mißverständnisse gereicht es zu einer Art sachlichen oder wenigstens
sprachUchen Entschuldigung, daß das Wort »Glauben« leider selbst wieder
nicht weniger als vier verschiedene Bedeutungen hat (wie ich in meiner
Logik 1890 S. 126 gezeigt habe). Im obigen wird das Wort Glauben in der ersten,
allgemeinsten dieser vier Bedeutungen gebraucht, wonach es weder in einem
Gegensatze zum Wissen steht, noch die spezieUe Bedeutung »einem etwas glanbenc
hat, noch auch ein »Glauben aus Liebe« (wie die Mutter an ihren Sohn glaubt
oder wie das im guten Sinne religiöse Glauben) besagt. — Durch diese Unter-
scheidung wäre z. B. das Mißverständnis zu vermeiden gewesen, dem soeben wieder
A. Ifeinong, üeber Annahmen. 211
Aber niemand glaubt, daß die Buren Unterstützung erfuhren, da er
eben das Gegenteil weiß. Aber gleichviel, ob er es weiß oder nicht
weiß, glaubt oder nicht glaubt, kann er es jeden Augenblick > an-
nehme n<. — Während sich also in jedem Urteil erstens Glauben,
zweitens Bejahung oder Verneinung finden, fehlt dagegen beiden
dem Vorstellen; die Annahmen aber bilden »ein Tatsachen-
gebiet zwischen Vorstellen und Urteilen<, weil auch ihnen
(wie den Vorstellungen) das Glauben fehlt, dagegen Bejahung oder
Verneinung (wie den Urteilen) zukommt. — Indem von da ab das
Wort > Annahme« als technischer Ausdruck für alle Tatsachen jenes
Zwischengebietes zwischen Vorstellen und Urteilen gebraucht wird,
übersieht der Verfasser nicht, daß es noch eine andere Bedeutung
des Wortes Annehmen gibt, die wieder ganz unter den Begriff >Ur-
teilen« fällt (z. B. eine Lehre annehmen, d. h. sie glauben). Soweit
>§ 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen.« —
Weitere Beispiele bringt das dritte Kapitel >die nächstliegenden An-
nahmefälle«, so § 10 »Annahme in Spiel und Kunst«, auf die zuerst
Fräulein M. Radakoviö aufmerksam machte, weshalb auch ihr das
ganze Buch gewidmet ist.
Der Berichterstattung sei aber die Freiheit gewährt, dem weiteren
Bericht sogleich hier den Hinweis auf eine Fundgrube von Beispielen
einzuschalten, die die weitere psychologische und erkenntnistheoretische
Untersuchung aufs wirksamste gegen den Verdacht schützen wird,
Mach (Erkenntnis und Irrtum S. 118, Anm. 3) unterliegt, wenn er sagt: »Ich
kann mich nicht mit der Ansicht befreunden, daß das Glauben ein besonderer
psychischer Akt sei, welcher dem Urteil zugrunde liegt und dessen Wesen aus-
macht. Urteile sind keine Glaubensangelegenheiten, sondern naive Befunde«
Glauben, Zweifel, Unglauben beruhen vielmehr auf Urteilen [!] über die Ueberein-
stimmnng oder Nichtübereinstimmung von zuweilen recht komplizierten Urteils-
komplexen.« Etwas früher (S. 88) hatte Mach aus dem Beispiel einer indianischen
Zauberin und der Geschichte der Hexenprozesse die Warnung davon abgeleitet
»sich von irgend einem Glauben die Lebenswege vorschreiben zu lassen«. Solche
»Glanbensangelegenheiten« sind natürlich die Urteile auch nach unserer Ansicht
nicht, die wir es ganz sprachgebräuchlich finden z.B. zu fragen : Glaubst du, daß
2x2 = 4? Glaubst du, daß es keine Hexen gibt? Ob und wie sich dann das
Ja und Nein auf Empfindungen und Erinnerungen (oder auf was sonst) »voll-
ständig und auf die einfachste Weise beschreibend« zurückführen lasse,
bleibt noch immer abzuwarten; auch nur halbwegs plausibles Positives ist der
von J. St. Mill und Brentano vertretenen Lehre von der ünzurückfuhrbarkeit
des psychischefa Phänomens Glauben (belief) auf bloße Vorstellungen, einschließlich
bloßen »VorsteUungsverbindungen« und »Vorstellungstrennungen« bisher nicht ent-
gegengestellt worden. — Für die Sache der Annahmen ist die der Urteile nur
insofern von Belang, als Meinong behufs Charakteristik der Annahmen von den
Urteilen ausgeht, wobei er aber ausdrücklich »noch für recht weit auseinander-
liegende Meinungen über die Natur des Urteils Raum gelassen« wissen wül.
dl3 OMt gel Ans. IMd. Nr 8.
als hätte da ein Philosoph wieder einmal eine Spezialität ausgegraben,
die füglich nur ihn, nicht aber die Bebauer fruchtbarer Arbeits-
gebiete interessieren könne. Ich meine die »Annahmen« in der
Mathematik und in der mathematischen Physik. Von jeher
hatte es zum altehrwürdigen (man könnte sagen) Ritual eines form-
gerechten Beweises Euklidscher Manier gehört, ihn so zu gliedern:
> Annahme, Behauptung, Beweis« (worauf dann Diskussion, Deter-
mination und dergleichen folgt). Hier trifft die Gegenüberstellung
der zwei ersten Eunstausdrücke > Annahme« und >Behauptung<
praktisch genau das, was nun Meinong mit der Gegenüberstellung
der Annahme gegen das Urteil theoretisch -psychologisch festhält;
wie es denn auch längst in der Logik üblich war, das Urteil mehr
oder weniger ausdrücklich als > Behauptung« zu charakterisieren.
Nun könnte gegen den Hinweis auf die Euklidsche Formgebung
mathematischer Beweise von mathematischer Seite eingewendet
werden, daß das altmodisches Zeug sei, und daß eine Erkenntnis-
psychologie, die sich auf erkenntnistheoretische (einschließlich psycho-
logischer) Analyse jener veralteten Erkenntnispraxis stütze, nicht in
Fühlung sein oder kommen könne mit dem gegenwärtig als fruchtbar
anerkannten Wissenschaftsbetrieb. Auf einen solchen Einwand wird
die Philosophie natürlich antworten, daß sie sich ihrerseits keines-
wegs einzumischen gedenke in die internen Fragen der Mathematik,
inwieweit es für ihren fruchtbaren Betrieb nützlich und geschmack-
voll sei, den Euklidschen Apparat von Definition, Axiom, Postulat,
sodann Annahme, Behauptung, Beweis u. s.w. auch äußerlich mög-
lichst auffällig hervorzukehren oder aber sich dieser logischen Leit-
begriffe nur tätig und fruchtbar zu bedienen, ohne von ihnen äußer-
lich viel Aufhebens zu machen. Nur so viel darf, ohne daß man
sich damit der exakten Wissenschaft gegenüber eine Einmischung in
ihre internen Angelegenheiten erlaubt hätte, füglich behauptet
werden, daß wenn sogar Heinrich Hertz in seiner posthumen
Mechanik jene alte Mode der auch äußerlichen Gliederung in Defi-
nition , Behauptung u. s. w. zu erneuern beliebt hat , er hierdurch
allein sicher noch nicht zum altmodischen Denker sich gestempelt
hatte. — Wie dies aber auch sei: es fehlt auch innerhalb der un-
bestrittenen modernsten Bemühungen im Gebiete der reinen Mathe-
matik nicht an logischen Anstrengungen, deren intimste Charakteristik
sich gar nicht schärfer geben läßt als durch strenges Unterscheiden
zwischen den Leitbegriffen Definition, Annahme, Behauptung u. s.w.
Wir meinen die mit nie erlebter Energie gegenwärtig auf der
Tagesordnung stehenden Untersuchungen über die Natur der Axiome
(zuerst nur die der Geometrie, später die der Arithmetik). Der
A. Meinoikg, tJeber Annahmen. 218
modernste und radikalste Versuch, die immer dichter sich schürzenden
wissenscbaftstheoretischen Knoten zu durchhauen, ist die These: >die
Axiome sind nichts als Definitionen<. Wir Logiker und Psy-
chologen hören aus dieser These heraus: »Urteile sind nichts als
Vorstellungen € ; denn die Axiome hatten bisher für unmittelbar
evidente Urteile gegolten, die Definitionen als eindeutige Be-
stimmungen von Begriffsinhalten (gemäß der Definition in meiner
Logik § 14: Begriffe sind Vorstellungen von eindeutig bestimmtem
Inhalt). Auch der gerade hierüber zwischen den Mathematikern ge-
führte Streit soll nichts weniger als durch Einmischnng seitens der
Philosophen zu schlichten gehofft werden; nur das wird uns nicht
verwehrt werden können, daß wir uns angesichts solcher Streitig-
keiten unsem Teil denken und ruhig abwarten, ob sich zwischen den
unmittelbar Beteiligten der Streit eher schlichten wird , als bis man
es mit dem Auskunftsmittel versucht, daß es eben zwischen Vor-
stellung (inkl. Definitionen) und Urteil (inkl. Axiomen) noch ein
Mittleres gibt, die Annahme. Und gewiß wird man es uns nicht
verwehren, wenn wir die ebenfalls öfters zu vernehmende Aufklärung,
der Ersatz des elften Axioms durch die Lobatschewskysche oder
Riemannsche Annahme sei weder Definition noch Behauptung,
sondern eben — Annahme, als wertvolles psychologisches Beweisstück
zur Kenntnis nehmen. — So, genau so ist's! — würde ich sagen,
wenn ich hier auch mein mathematisches Glaubensbekenntnis in
Sachen der Euklidschen und Nicht-Euklidschen Geometrie abzulegen
hätte. Aber nicht als Mathematiker, sondern als Referent über
Meinongs philosophische Abhandlung glaube ich betonen zu dürfen,
daß wenn der Begriff >Annahme< dem gesunden Instinkte zur
Schlichtung so grundlegender Dinge sich als nicht nur notwendig,
sondern auch ausreichend bewährt hat, eine gerade diesem psychi-
schen Gebilde des Annehmens gewidmete Untersuchung nicht un-
fruchtbar sein könne. Erst wenn diese Mittelstellung der »An-
nahme« zwischen iDefinitionc und >Axiom< auch seitens der
beteiligten Mathematiker einmal ausdrücklich anerkannt werden
sollte, wird es an der Zeit sein, die bisher von den Mathematikern
geübte Erkenntnispraxis und was sie selbst nebenher an theoretischen
Gedanken über diese Praxis geäußert haben, historisch und syste-
matisch zu überblicken. — Nur damit wir neben der reinen Mathe-
matik auch aus der mathematischen Physik wenigstens einen Beleg
geben, sei darauf hingewiesen, daß Boltzmann in seiner Mechanik
(1897) auch schon äußerlich sieben »Annahmen« an die Spitze
gestellt bat und sich ausführlich über die hierdurch ermöglichte
deduktive und dennoch der Empirie gerecht werdende Methode
214 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
äußert. Der Erkenntoistheoretiker ^) hat dem nichts hinzuzufügen,
als daß diese Methode die logisch sauberste ist, wie man überhaupt
empirische Tatsachen gedanklich bewältigt.
Nachdem wir uns nun schon die Freiheit des einen großen Ex-
kurses gestattet haben, sei auch noch ein zweiter gestattet, ehe wir
in der eigentlichen Berichterstattung fortfahren. Ich berichte näm-
lich aus der Zeit, daMeinongs These, es gebe zwischen Vorstellen
und Urteilen ein Mittleres, die Annahme, zuerst bekannt wurde, daß
diese These nicht nur Aufsehen, sondern natürlich auch Opposition
bei allen erregt hat, die so lange Zeit hindurch gewohnt waren, in
dem Vorstellen und Urteilen die beiden Grundklassen des intellek-
tuellen Lebens zu erblicken. Und ich füge sogleich hinzu, daß wenn
einmal ein Mittleres zugegeben ist, auch der Gedanke mehrerer und
dann auch wohl unendlich vieler stetig ineinander gehender Zwischen-
glieder der äußerlichen, ja gerade der äußerlichsten Auffassung sehr
nahe liegt.^) Da nun Meinong selbst, wie gesagt, die Annnahmen
ausschließlich dadurch charakterisiert, daß ihnen über das Vorstellen
hinaus das Moment des Ja und Nein zukommt, dagegen zum Urteile
das Moment des Glaubens fehlt, so bleibt weiteren Gedanken darüber,
wie und warum es überhaupt ein solches Mittleres gebe und geben
könne, noch weiter Spielraum. Und deshalb ist es vielleicht nicht
unangebracht, wenn ich, über das Referat als solches hinausgehend,
hier einen Gedanken mitteile, der mich nicht verläßt, seitdem
Meinong den Vorgang des bloßen Annehmens im Gegensatz zum
wirklichen Urteile zu einem psychologischen Problem gemacht hat.
Verhält sich nicht die Annahme zum Urteil wie eine bloß sta-
tische Kraftwirkung zur kinetischen? Vielleicht hat sich mir
diese Analogie nur aufgedrängt, weil ich um jene Zeit anhaltend mit
1) Ilöchstens der Didaktiker könnte noch wünschen, es möchten den An-
nahmen — unbeschadet ihrer rein logischen Souveränität — schon einige empi-
rische Tatsachen vorausgeschickt worden sein, warum man sich gerade diese
und nicht ganz andere Annahmen (die ja ebenso logisch souverän gewesen wären)
zur Bearbeitung vorgesetzt hat. Wie diese einander widerstreitenden Interessen
der Logik und der Didaktik angesichts physikalischer einschließlich mechanischer
Tatsachen miteinander in Einklang zu bringen seien, habe ich in dem Aufbau
meiner Physik (Vieweg 1904) praktisch zu zeigen versucht (indem nämlich z. B.
den abstrakten Begriflfcn von Geschwindigkeit und Beschleunigung Versuche mit
Galileis FaUrinne vorausgeschickt werden; ebenso dem Begriffe der Zusammen-
setzung von Bewegungen und dergleichen Galileis Behandlung des Wurfes u. s.w.;
worüber das logische und didaktische Prinzipielle in der Vorrede zur großen Aot-
gabe meiner Physik ausführlich gesagt ist
2) Dieser Einfall ist kürzlich veröffentlicht worden von Willy (»Gegen die
Schulweisheit«, eine Kritik der Philosophie, 1905).
A. Meinong, üeber Annahmen. 215
den Orundphänomenen der Mechanik beschäftigt war. Vielleicht
spricht aber auch ein schon viel früher von Meinong selbst ge-
äußerter Gedanke für eine solche statische Theorie der Annahmen
im Gegensatz zur kinetischen Theorie der Urteile (wie wir den
ganzen Gedanken kurz nennen können). Es hat nämlich Meinong
in seiner Abhandlung über »psychische Analyse« ^) daraufhingewiesen,
daß das Urteil zu denjenigen psychischen Vorgängen gehört, denen
ein Ziel wesentlich ist, >mit dessen Erreichung es seinen natürlichen
Abschluß findet«. So nun >strebt<') auch der Stein der Erde zu,
und dieses Streben findet seinen einfachsten Ausdruck darin, daß er
fallend die Erde schließlich erreicht. Aber außer dieser kinetischen
Wirkung der Schwere gibt es eben noch eine zweite, die statische,
falls der Stein vor Erreichung der Erdoberfläche durch irgend ein
Hindernis aufgehalten wird, wobei dann nicht, wie es fast immer
und überall ganz ungenau heißt : die > Kraft aufgehoben« ist; sondern
infolge des Entgegenwirkens einer zweiten Kraft bringen eben es
beide zusammen nur mehr zu einer statischen Wirkung (Druck, Zug,
Spannung) statt der kinetischen (Beschleunigung). — Keineswegs
soll hier die Durchführbarkeit der Analogie nach allen Richtungen be-
hauptet oder auch nur geprüft werden; aber soviel wird sich wohl
sagen lassen, daß man nur dort mit »Annahmen« sich begnügt, wo
man aus irgend einem (logischen oder außerlogischen) Grunde es für
geboten hält, sein Urteil zu »suspendieren« ^) (ein Wort, das ja auch
1) Ztschr. f. Psychol, (herausg. v. Ebbinghaus, Bd. VI, 1894) S. 448: »Es
gibt YorsteUungsobjekte , deren Charakteristisches einer Zeitstrecke bedarf, am
sich zu entfalten; es gibt dagegen Objekte, bei denen, was sie kennzeichnet, sich
bereits in einem einzigen Zeitpunkt zusammengedrängt findet. Das nächstliegende
Beispiel für die erste Gruppe gibt wohl die Bewegung ab. . . Ob »der Pfeil« fliegt
oder ruht, darüber gibt ein herausgegriffener Zeitpunkt gar keinen Aufschluß. . .
Das psychische Analogon des Gegensatzes von Bewegung und Ruhe bietet sich
im Gegensatz von Aktivität und Passivität dar. . . Wer tut, muß etwas tun;
dieses Etwas ist ein Zielpunkt, auf den das Tun gerichtet ist und mit dessen
Erreichung es seinen natürlichen Abschluß findet. . . Sagt man: YorsteUen und
Fühlen sei passiv, Urteilen und Begehren aktiv, so hat man dabei Ausgedehntes
im Auge.«
2) Auch im Annahmenbuch S. 101 , 102 heißt es wieder : »Wer einer von
Urteil begleiteten YorsteUung die Gegenständlichkeit ansieht, der wird auch der
von dem urteilsähnlichen Tatbestand der qualitätsgleichen Annahmen begleiteten
YorsteUung das Hinstreben, die Tendenz nach dem Erfassen des Gegenstandes
ansehen können.« Doch nicht der YorsteUung selbst kommt dieses »Hinstreben«
zu, sondern es sei »aUes aktuell gegenständliche Yorstellen von affirmativen An-
nahmen begleitet«.
3) Auch dieses Wort findet sich wiederholt angewendet im Annahmenbuch;
z. B. S. 177: »fingierte Urteile, deren Richtigkeit man in susjpenso läßt.«
216 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 3.
geradezu an das Brettchen erinnert, das man dem fallenwollenden
Stein unterschiebt). — Wie man sieht, ist die Rollenverteilung
zwischen dieser Hypothese und der Meinen gschen Beschreibung die
von genetischer und deskriptiver Psychologie. Und wie immer die
Erklärung ausfällt, so kann sie nichts verschieben an einer schon
vorher richtig gegebenen Beschreibung. Deshalb kann auch die
gegebene Anregung, gleichviel ob sie haltbar ist oder nicht, keines-
wegs Meinongs Beschreibung von den Annahmen umstoßen wollen.
Vielleicht fällt aber bei künftiger Ueberprüfung der Erklärung doch
auch noch manches ab für die Bereicherung ihrer bisherigen Be-
schreibung durch das einstweilen nur eine positive Merkmal, daß
auch in ihnen bejaht oder verneint (nicht aber geglaubt) werde,
ähnlich dem Urteile. —
Doch es gibt auch in Meinongs Buch selbst noch ein zweites
deskriptives Moment für Urteil und Annahmen zusammen: Es liegt
in der Eigenart dessen, was angenommen, was geglaubt wird —
im Gegensatz zu bloß Vorgestelltem und Vorstellbarem. Dieses An-
genommene und Geglaubte sind nämlich die eingangs schon als
zweite Entdeckung des Buches erwähnten >Objektive<. Im Sinn
der oben gebrauchten Charakteristik der Urteile durch ein >Ziel<
könnten wir sagen : so wie die statische und kinetische Wirkung der
Schwere ganz wesentlich dadurch mitcharakterisiert ist, daß alle
schweren Körper entweder eine Beschleunigung oder einen Zug zur
Erde haben, so zielen auch Urteile und Annahmen auf ein > Ob-
jektiv«. Was meint nun dieses neue Wort?
II. Das Objektiv (S. 150—212). — Als Ausgangsbeispiel dient
ein negatives Urteil darüber, >daß keine Ruhestörungen vorgefallen
sind<, und ein positives Urteil darüber, »daß es draußen Schnee
gibt<. Hier ist >Schnee< das Objekt des Urteils, dagegen >daß
es Schnee gibt< das Objektiv desselben Urteils. Ein drittes Bei-
spiel lautet: >Es steht fest, daß die Akten noch nicht geschlossen
sind«. Wieder ist es hier der >Daß-Satz<, der ein Objektiv
ausdrückt; von den beiden früheren Beispielen aber unterscheidet
sich das dritte durch den sozusagen unpsychologischen Charakter
des >Es steht fest« (wo ja das >es< auch grammatisch längst als
ein > Impersonale < bezeichnet wird); wogegen es in den beiden ersten
Beispielen, wie gesagt, ausdrücklich Urteile waren, deren Gegen-
stand dann das Nicht-sein der Ruhestörung und das Sein des Schnees
war. Ehe ich aber eingehe auf die in späteren Publikationen
Meinongs^) und seiner Schüler besonders wichtig gewordene
1) >Ueber UrteUsgefohle« (1905). Vgl. die nnten, S. 221 dieser Anzeige,
angeführte Stelle.
A. Memong, Ueber Annahmen. 217
«apsychologische Betrachtungsweisec, die sich in dem
Buch von 1902 noch nicht rein durchgerungen hatte, empfehle ich
dem Leser, den die drei angeführten Beispiele natürlich noch nicht
sogleich in Sachen der > Objektive« aufs Laufende setzen werden,
25 Seiten später (§ 39, S. 175—182) die Gegenüberstellung folgender
Beispiele zu prüfen: Man sagt: Ich glaube, daß ein Tisch im Zimmer
steht, aber niemand wird sagen : ich glaube an einen Tisch im Zimmer
(S. 176); ferner (S. 178) über den Unterschied zwischen Tisch und
Existenz des Tisches, über den Unterschied von Schwarz und Schwärze,
von verschieden und Verschiedenheit. Es sei hier bemerkt, daß
allen Jenen, die z.B. zwischen Tisch und Existenz des Tisches
überhaupt weder einen sachlichen noch einen gedanklichen, sondern
eben nur den sprachlichen Unterschied finden können, auch das von
Meinong entdeckte und durchforschte Gebiet der Objektive ver-
schlossen bleiben oder zum mindestens als unfruchtbar gelten wird.
Von mir selbst habe ich einzugestehen, daß, wie ich noch in meiner
Logik (1890, S. 51) den Unterschied von rot und Röte für einen
(beinahe?) nur sprachlichen gehalten hatte, mir erst durch die vor-
liegenden Untersuchungen, nach denen rot ein Objekt, Röte =
Rot-sein ein Objektiv ist, jene Berufung auf bloß sprachliche
Unterschiede sich als ein allzu wohlfeiles Auskunftsmittel dargestellt
hat. Wer dann einmal soweit ist, hinter den sehr mannigfaltigen
sprachlichen Wendungen, die der Bezeichnung der Objektive im
Unterschied von Objekten dienen [nicht das einzige, immerhin
aber das auffälligste dieser Mittel sind die »Daß-Sätze«, von denen
Meinong (S. 156) als linguistisch feststehend annimmt, daß >daß<
von hausaus nichts anderes als ein Demonstrativpronomen ist —
z. B. ich glaube, daß draußen Schnee ist = ich glaube das : draußen
ist Schnee] einen nicht bloß sprachlichen, auch nicht bloß einen
gedanklichen, sondern im letzten Grunde einen sachlichen, gegen-
ständlichen Unterschied gefunden zu haben, mag erstaunt und
erfreut sein über die Tragweite dieser Entdeckung. Nur als eine
Probe dafür, was alles sich an hergebrachten Meinungen über grund-
legende Dinge durch die Entdeckung der Objektive in neuem Licht
darstellt, gebe ich folgende Ausführungen (S. 173, 174) über Wahr
(Falsch) und Evident hier im Wortlaut an. Nachdem Meinong
daraufhingewiesen hat, >wie die Wendung ,es ist mir einleuchtend,
daß . .' sich auch mit Bezug auf eine andere Person und dann auch
ohne Bezugnahme auf irgend eine Person, also etwa: ,es leuchtet
ihm ein, daß . .' und kurzweg ,es leuchtet ein, daß . / umwandeln
läßt, ohne daß die hiermit beabsichtigte Charakteristik des Urteils
nach der Eigenschaft seiner Evidenz etwas Wesentliches verliert«,
0«li pü Au. 1906. Nr. 8. 15
218 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
fährt er fort (S. 173): >An einer solchen unpersönlichen Form wird
besonders aufifallend, was freilich eigentlich schon auch an jeder
der persönlichen Formulierungen zu bemerken gewesen wäre, dafl
hier etwas, das sich zunächst als eine Eigenschaft eines Urteils dar-
stellt, nun geradezu als Attribut des im >daß< -Satze zur Geltung
kommenden Objektivs erscheint. Evidenz ist doch sicher so gut
Sache des Urteils wie etwa Gewißheit ; gleichwohl könnte das Sprach-
gefühl, das dem Theoretiker heute anstandslos gestattet, das Adjektiv
> evident« ohne Weiteres an das Substantiv > Urteil« anzuschließen,
vielleicht erst durch die erkenntnistheoretische Kunstsprache geschaffen
sein, indes es dem Laien sicher um Vieles natürlicher sein wird, zu
sagen: >es leuchtet ein, daß 3 größer als 2 ist« als etwa >das Urteil
hierüber ist einleuchtend«. Noch deutlicher wird dies an den gegen-
sätzlichen Terminis > w a h r « und »falsch«. Man kann bekanntlich
durchaus nicht sagen, daß dieselben einer Anwendung in übertragener
Bedeutung sonderlich widerstreben: > wahrer Freund«, > falsche Zähne«,
>wahre Rede«, »falsche Vorstellung« sind ja geradezu Schulbeispiele
für Mehrdeutigkeit. Bezeichnet man nun ein Urteil als wahr oder
falsch, so hat man dabei immerhin nicht mehr das Gefühl einer
geradezu uneigentlichen Wortanwendung. Dennoch kann es keinen
Augenblick zweifelhaft sein, daß genau besehen die Wendung: »es
ist wahr, daß A existiert«, >e8 ist falsch, daß . . .« eine um Vieles
natürlichere, ja im Grunde die einzige wirklich naturgemäße Rede-
weise ist. >Wahr« und > falsch« sind eben, näher besehen,
Attribute von Objektiven, ebenso wie es oben bei »evident«
zu konstatieren war.« — Während also die Frage »Was ist wahr?«
in dem Sinne: »Wem kommt Wahrheit zu: Dingen oder Gedanken
oder Uebereinstimmungsbeziehungen zwischen Dingen und Gedanken
und dergleichen mehr« seit Aristoteles ein für allemal dahin be-
antwortet schien: >die Eigenschaften wahr und falsch kommen un-
mittelbar nur Urteilen zu, und erst mittelbar auch Dingen,
Vorstellungen und dergleichen, lernen wir jetzt, daß auch das Urteil
erst von seinem Objektiv das Merkmal Wahrheit zu Lehen trage,
sowie man früher bemerkt hatte, daß z. B. der > wahre Freund« nur
im mittelbaren Sinne »wahr« genannt wird nach dem wahren Urteil,
das ihn für einen Freund hält.
In diesem Beispiel von der Umbildung des Wahrheitsbegriffes
durch die Verschiebung des als unmittelbar, nicht erst durch Ueber-
tragung als >wahr« zu bezeichnenden Gegenstandes aus dem
Psychologischen ins Apsychologische mag das ehrwürdige
Alter der so modifizierten Lehre ein Maß fiir die Wichtigkeit der
Entdeckung und für die Bedeutung des Entdeckten, >der Objektivec,
A. Meinong, Ceber Annahmen. 219
innerhalb der ganzen Erkenntnistheorie abgeben. — Ja vielleicht ist
die Sachlage, daß und wieso diese neue Gruppe von Gegenständen,
der Objektive, überhaupt erst >entdeckt< werden konnte und mußte,
ein gutes Beispiel dafür, was auf dem Gebiete der Philosophie > ent-
decken c heißt (wo ja doch nach sehr allgemeiner Meinung höchstens
noch neue > Gesichtspunkte c für historische Gruppierungen und der-
gleichen > erfunden < werden können). Daß nämlich auf philosophi-
schem Gebiete, soweit Philosophie alles Psychische zu ihrer Domäne
zählt (und neben dem Psychischen freilich auch >Apsychologisches<,
nämlich das >Gegenstandstheoretische<, wie es Meinong seit 1904
ausdrücklich nennt), hier ebenso gut immer feinere Artikulationen des
intellektuellen und emotionalen Lebens >entdeckt< werden können^
wie etwa in der Nervenlehre eines Tages die Neuronen haben ent-
deckt werden können und auch heute noch als nicht nur »erfunden«
den verschiedenen Angriffen gegenüber wenigstens teilweise sich auf-
recht erhalten, sollte für Jeden feststehen, der nicht auf das kuriose
Dogma eingeschworen ist, daß zwar das Gehirn eine über alle Be-
griffe und Anschauungen feine Organisation haben dürfe, dagegen
das vom Gehirn > produzierte < Denken auf alle Fälle nur eine Art
homogener Gallerte zu bilden habe (etwa wie man sich vor noch
nicht gar langer Zeit auch das Gehirn selber gedacht hatte). — Nun
sollen zwar die neuentdeckten > Objektive« nicht eine besondere Art
psychischer Gebilde, sondern eine neue Art von Denkgegen-
ständen sein; und dies führt allerdings Jeden, der sich erst in die
Natur dieser Gegenstände hineinfinden will, auf Fragen, wie die:
Sollen wir uns also von jetzt ab die Welt nicht nur aus den Gegen-
ständen rot , Tisch , verschieden u. s. w. , sondern daneben auch aus
Rot-sein = Röte, Sein (= Eustenz) des Tisches, Yerschieden-
sein = Verschiedenheit u. s. w. zusammengesetzt vorstellen? Wozu
die Verdoppelung? Und ist das den Dingen dieser Welt Stück Tür
Stück aufzuheftende >Sein< mehr als eine bloße Denkform oder
gar nur Denkformel? Ist wirklich auch schon >Sein< ein >Gegen-
stand€? Und wenn ja, so doch hoffentlich nicht ein > Gegenstand
an sich<, sondern doch wieder nur ein Gegenstand des Denkens,
worin dann aber wieder keine sachliche Entdeckung liegt, sondern
nur eine Benutzung des Umstandes, daß eben das Wort »Gegen-
stand« so geduldig ist, sich den sprachlichen Verbindungen »Gegen-
stand des Vorstellens< , > Gegenstand des Urteilens und Annehmens,
des Gefühles, des Begehrens« zu fügen. — Es ist zu vermuten, daß
dem Leser gerade des inhaltsschweren siebenten Kapitels >das Ob-
jektiv« innerhalb des vorliegenden Buches solche oder ähnliche
Fragen sich werden aufgedrängt haben, da eben hier dem bis dahin
15*
220 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8.
als mit >GegenstaQd< einfach synonymen »Objekt« zum erstenmal
ein >Objektiv< an die Seite gestellt wird. Und daß in der Tat nicht
schon dieses Buch alles Nötige, sei es zur Beantwortung, sei es zur
Ablehnung solcher Bedenken getan habe, ist jetzt, wo drei Jahre
nach Abschluß des Annahmenbuches (Ende 1901) die »Untersuchungen
zur Gegenstandstheorie und Psychologiec erschienen sind (Ende 1904),
ohne weiteres zuzugeben; ja es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß
durch das letztere Buch Vieles von dem geklärt und geglättet worden
ist, was im früheren Buch in Sachen des Gegenstandsbegriffs offenbar
dem Verfasser selbst noch nicht so geläufig war, wie es jetzt ihm
und seinen Schülern ist. So lesen sich insbesondere die ersten Be-
stimmungen über >Objektiye« schon darum öfters schwer, weil der
Verfasser zögert, geradewegs die > Gegenstände < einzuteilen
in Objekte und Objektive. Dagegen lautet z. B. jetzt in
Ameseders > Beiträgen zur Grundlegung der Gegenstandstheorie<
(a. a. 0. S. 54) sogleich der Titel des § 2 >Es gibt zwei Klassen
von Gegenständen: Objekte und Objektive«. Im An-
nahmenbuch hatte es an der Spitze des Kapitels >Das Objektiv«
(S. 150) nur geheißen, daß wir in ihm >wenn nicht geradezu einen
zweiten Gegenstand neben dem bereits bekannten ersten, so doch
etwas Gegenstand- Aehnliches vor uns haben«. Und auch noch gegen
Schluß dieses Kapitels heißt es (S. 200): >Wer urteilt, erfaßt nicht
den Gegenstand [das Objekt?] und außerdem noch das Objektiv,
sondern er erfaßt einfach das Objektiv und in diesem den Gegen-
stand [das Objekt?]. Ihrer zwei sind darum Objekt und Objektiv
gleichwohl. Und dann kann sich wohl auch einmal das Bedürfnis
einstellen, von den Gliedern dieser Zweiheit als solchen zu reden,
d. h. beide Glieder unter einen auf beide anwendbaren Namen zu
subsumieren. Vielleicht eignet sich hierzu ein Terminus wie > gegen-
standartige < oder > gegenständliche Momente«. — Wichtiger als die
nunmehrige Vereinfachung dieser terminologischen Schwierigkeiten
ist der folgende Schritt nach vorwärts : Im Annahmenbuch waren die
Objektive, wie gesagt, vorwiegend durch >Daß-Sätze< sprachlich aus-
gedrückt worden; dagegen wird in den »Untersuchungen« (so nament*
lieh von Mally, »Zur Gegenstandstheorie des Messens«, S. 137; auch
Ameseder, »Beiträge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie«,
S. 57y Z. 1 von oben spricht von den > Objektiven ,A ist B' und
,A ist nicht B'«) nicht nur, »daß A ist«, sondern auch schon >A
ist« geradezu als Objektiv bezeichnet. Während also dort der ab-
hängige Satz >daß A ist« immerhin auf ein Urteil oder eine
Annahme oder auch auf ein unpersönliches >Es steht fest« (siehe
oben S. 216 dieser Anzeige) hingewiesen hatte, wird jetzt auch der
A. Meinong, Ueber Annahmen. 221
unabhängige Satz >A ist« als sprachliches Zeichen f&r das Ob-
jektiv angeführt. Hiermit erscheint die apsychologische Be-
trachtungsweise^) noch ausdrücklicher durchgeführt, als wenn
im Annahmenbuch nur ausgesprochen war, daß »die Satzbedeutung
mit dem Objektiv zusammenfalle <.
m. Wie eingangs angekündigt soll nun noch aus den an die
> Annahmen < und die > Objektive« sich angliedernden Nebenunter-
suchungen wenigstens einiges als Proben aus dem überreichen Inhalt
des Buches mitgeteilt und dabei die äußere Reihenfolge wie im Buch
eingehalten werden.
§ 2 Das Negative gegenüber dem >blos Vorgestellten«
erbringt den Beweis, daß die Negation weder an den Gegenständen
selbst noch an bloßen Vorstellungen (trotz der zahlreichen >negativen
Begriffe« non-A, nicht-rot, unsterblich. Loch, blind und dergleichen)
ihren Sitz haben könne, sondern, soweit nicht an den Urteilen, so
wenigstens an den Annahmen (worüber Näheres dann zu Ende des
§32).
Das II. Kapitel >Zur Frage nach den charakteristischen
Leistungen des Satzes« unterscheidet zwischen Ausdruck
und Bedeutung beim Worte (§ 4): >Ein Wort bedeutet allemal
den Gegenstand der Vorstellung, die es ausdrückt, und
drückt umgekehrt die Vorstellung von dem Gegenstande aus, den es
bedeutet«; ferner >Wa8 Bedeutung hat, ist zugleich auch Ausdruck«;
aber: >was Ausdruck ist, muß darum noch durchaus nicht Bedeutung
haben«. So die Wörter Ja und Nein, die in der Regel Urteile aus-
drücken, aber durchaus nicht erkennen lassen, worüber geurteilt
wird. — § 7. >Das Verstehen bei Wort und Satz«; es setzt immer
Annahmen voraus.
III. Kap. Die nächstliegenden Annahmefälle. § 10.
>Annabme in Spiel und Kunst.« § 11. >Die Lüge. Das ,Vorstellen'
1) Diese führt Meinong aosdrücklich ein in seiner Abhandlung »Ueber Urteils-
gefühle, was sie sind und was sie nicht sind« (Archiv fur systematische Philo-
sophie, 1905, S. 22—58; hier namentlich S. 84): >Wie die Darstellung in meinem
Buche ,üeber Annahmen^ nirgends verkennen läßt, hat sich mir der Gegensatz
zwischen Objekt und Objektiv zunächst sozusagen vom Standpunkt des Urteils
resp. der Annahme aus aufgedrängt. . . Aber der Gegensatz wird nicht erst durch
diese Akte in das Erfaßte hineingetragen: er hat seine Bedeutung nicht nur fur
eine psychologische (beziehungsweise erkenntnistheoretische), sondern auch för
eine, wie man wohl sagen kann, apsychologische Betrachtungsweise.
NamentUch die Untersuchungen K. Ameseders haben dies deutlich gemacht. . .
Daneben besteht aber die psychologische Betrachtungsweise der Gegenstände nach
wie vor zu Recht: jedes gegebene UrteU ,hat' eben sein Objektiv und darin sein
Objekt, das^ psychologisch ein Objekt bleibt . . . .<
222 Gott: gel. Anz. 1906. Nr. 8.
fremder Urteile.« § 12. »Annahmen bei Fragen und sonstigen Be-
gehrungen. < § 13. Aufsuggerierte Annahmen.
Das IV. Kap. Die Annahmeschlüsse (§ 14 Unmittelbare
und mittelbare Evidenz, § 15 Das Wesen der Ueberzeugungsvermitt-
lung, § 18 Das Erfassen der formalen Richtigkeit von Schlüssen und
das hypothetische Urteil, § 19 Annahmeschlüsse und Urteilsschlüsse,
§ 20 Hypothetische Urteile als Annahmeschlüsse) steht einer Grund-
frage in Sachen der Annahmen besonders nahe. Es hatte nämlich
Meinong in seiner Relationstheorie (1882) das hypothetische Urteil
und ähnlich die Schlüsse mit suspendierten oder fingierten Pr&missen
dahin beschrieben, daß es sich im Vorder- und Nachsatz nicht um
wirkliche, sondern um nur »vorgestellte Urteile« handle. Denn,
me von jeher bekannt, will ein Vordersatz >wenn A ist« nicht be-
haupten, »daß A ist<; ja im »irrealen« Fall: >wenn A wäre«, be-
sagt ja der Konjunktiv ausdrücklich, daß nicht >A ist«, sondern
daß >A ist nicht« geglaubt wird. Für den > Vordersatz« war
längst das Wort »Annahme« ebensogut gebräuchlich, wie für die
> Annahme« im geometrischen Beweis, die denn auch geradezu als
Hypothesis bezeichnet zu werden pflegte, wie die darauf folgende
Behauptung als Thesis. Indem aber Meinong nunmehr seine Dar-
stellung von 1882 ausdrücklich zurücknimmt und an Stelle der > vor-
gestellten Urteile« ausdrücklich die >Annahmen« setzt, hat zwar die
neue Beschreibung des Vordersatzes als Annahme in der für ihn
längst nicht mehr ungewohnten Bezeichnung (die nur noch nicht als
allgemeiner fester Terminus geprägt war) eine sozusagen populäre
Bestätigung. Es will aber dem Ref. erscheinen, daß der Nachweis,
auch der Nachsatz bezeichne eine solche »Annahme«, doch hätte
besonders geführt werden müssen. Wie, wenn nur der Vordersatz
eine Annahme, der Nachsatz aber immer noch ein vorgestelltes Ur-
teil oder aber ein vorgestelltes Objektiv wäre (wobei freilich das
Vorstellen nicht das adäquate psychische Phänomen zum vollen Er-
fassen eines Objektives ist, sondern nur Annahmen oder Urteilen).
Nicht als ob hiermit eine neue fertige Theorie des hypothetischen
Urteils aufgestellt wäre. Aber wenn ich mich frage, was an Stelle
der Analyse, die ich in meiner 1890 unter Mein on gs Mitwirkung
herausgegebenen »Logik« von dem hypothetischen Urteil durch die
Formel Aa C {Ä Antecedens oder Annahme, a Notwendigkeitsrelation,
C Consequens) gegeben habe, nunmehr als eben so kurze und durch-
sichtige Formel zu setzen wäre, so wird es mir insbesondere schwer,
auf die Notwendigkeits- oder Zusammenhangs- oder Abhängigkeits-
relation a zu verzichten. Wer mit vollem Nachdruck das >Wenn — so«
ausspricht, weiß sich hierzu ja doch nur berechtigt, insoweit er eine
A. Meuiong, Ueber Annahmen. 223
solche Notwendigkeitsbeziehung für gegeben zn halten sich berechtigt
weiß oder glaubt Nun weist ja jetzt Meinong einen solchen Zu-
sammenbang nicht unter allen Umständen ab. Aber seine mannig-
faltigen und tiefgehenden Analysen der durch die Formel > Wenn — so<
zusammengehaltenen Gedanken scheinen mir einstweilen noch mehr
der Forderung der Spezifikation als der der Homogenität (vgl. die
Eingangsworte von Schopenhauer >yierfiache Wurzel«) zu ent-
sprechen.
Das V. Kap. Zur Gegenständlichkeit des Psychischen
geht ein auf »die Grundtatsache des Erkennens<, (Schopenhauer
nennt sie >da8 Wunder der Erkenntnistheoriec), nämlich das »Er-
fassen einer Wirklichkeit durch unser Erkennen«; wofür der Ver-
fasser »das herkömmliche Wort Transcendenz< ^) nicht vermeiden
1) Gegen diese Anwendung hat mir gegenüber mündlich Oelzelt-Newin
Einsprach erhoben , der jenes psychologisch gegebene Tr&nscendieren als bloßes
Pseudo-Transcendieren bezeichnet (also ähnlich wieMeinongdas bloße »Existieren
in der Yorstellung« als Pseudo-Existieren. Meinong selbst spricht S. 11 seiner
Abhandlung »Ueber Qegenstandstheorie« (1904) von »Qoasitranscendenz« in anderem
Sinn.) Gelegenheiten zur Fortsetzung und hoffentlich früher oder später zum
Aastrag dieser nicht nur terminologischen, sondern sehr sachlichen Streitfrage
werden Oelzelts »Die anabhängigen Realitäten« (anter der Presse) and
Mein on gs »Die Erfahrangsgrandlagen des Wissens« (Berlin 1906) geben.
Hier za dem sehr zeitgemäBen Thema nar soviel: Wenn z. B. soeben wieder
Mach (Erkenntnis and Irrtam, Vorwort S. VII) mit Schuppe sagt, »das Land
des Transcendenten ist mir Terschlossen« , so leugnen sie hiermit schwerlich
jenes »Gerichtetsein« alles Psychischen, in dem Meinong schon Transcendenz
findet Wir haben also die von Mach zugegebene Transcendenz (man könnte
sie die immanente Transcendenz oder die phänomenale nennen) von der durch
Mach geleugneten (der transcendenten Transcendenz oder der metaphänomenalen)
zum mindesten terminologisch zu unterscheiden. Nur um Meinongs Sprach-
und Begrifisgebrauch fürs erste dem leidigen Gebiete des bloßen Wortstreites zu
entrücken, spreche ich meine eigene Meinung in dieser Sache dahin aus: Weder
Kant noch Mach (der sich zu den »Empiriokritikem« und den »Immanenten«
überraschender Weise nunmehr in Gegensatz stellt , ib. S. VII Aum.) noch sonst
ein Philosoph oder Antiphilosoph haben bisher wirklich bewiesen, daß »uns« das
Land der metaphänomenalen Transcendenz wirklich »verschlossen« sei. Sie bilden
sich nur ein, es nicht betreten zu können oder zu dürfen oder zu — wollen
(etwa wie sich die Henne, von der Mach a. a. 0. S. 122 erzählt, nicht über den
Kreidestrich bewegt, sei es, daß sie hypnotisiert oder daß sie — zu faul ist).
Das bloße Fehlen eines solchen Beweises ist aber natürlich noch lange kein posi-
tiver Beweis, daß es jenseits meiner eigenen psychischen Phänomene noch etwas
gebe; und daß, wenn es etwas gibt, uns ein nicht bloß immanentes Transcendieren
in das Land des Metaphänomenalen vergönnt sei. Wie vororteilsfrei« man, ruch
aber auch allen Dogmen der Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit jenes Landes
gegenüber hält, so darf und muß man doch so viel festhalten : We n n es ein mehr
als nur immanentes Transcendieren geben soll, so muß es^sich doch der Denkmittel
224 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
zu sollen glaubt. Ein solches >Erfa8sen< ist wesentlich den affirma-
tiven, wahren Urteilen. Daß auch die negativen Urteile und die Vor-
stellungen Gegenständlichkeit haben, wird beschrieben und erklärt
durch einen Anteil der Annahmen.
Im VI. Kap. >Das Erfassen von Gegenständen höherer
Ordnung«') werden die Probleme des wesentlichen Unterschiedes
zwischen Anschaulichem und Unanschaulichem (§§ 25 bis 28 und
wieder § 33), der Relation zwischen Inhalt und Gegenstand (§ 29),
die >thetische und synthetische Funktion des Urteils und Annehmens<
behandelt. Hier nur zum letzten Problem einige Bemerkungen:
Nachdem Brentanos Versuch, die kategorischen auf Existenzial-
urteile zurückzuführen, wiederholt abgelehnt wird, spricht Meinong
die Urteile >A ist< und >A ist B< geradezu als zwei aufeinander
überhaupt nicht zurückführbare Urteilsfunktionen an; dementsprechend
vertritt er seither geradezu die Koordination von Sein und Sosein.
Nebenbei bemerke ich hierzu, daß, wie ich schon (1885) bei Ab-
fassung meiner Logik (§ 45) das Bedürfnis gehabt hatte, >Dasein<
und > Bestehen« (von Beziehungen) terminologisch auseinander zu
halten, mir auch jetzt noch eine etwas andere Bezeichnungsweise als
die M e i n 0 n g sehe mundgerecht ist ; die positiven Vorschläge hierüber
wird die Neubearbeitung meiner Logik bringen. Die sachliche Haupt-
frage ist die, ob und was für eine Art Relation die > prädikative
Verknüpfung« ist. Während Meinong in diesem Kap. (S. 147)
sogar >das fundamentale Prinzip der Koinzidenz von Komplexion
und Relation in Frage gestellt sein« läßt, da z. B. in der Komplexion
>rotes Kreuz« nichts von einer Relation zwischen den Gegenständen
>Kreuz< und >rot< zu bemerken sei, bringt das folgende (VII.) Kap.
(S. 164) die Ergänzung: >Das Urteil erfaßt Objekte in Verbindung
miteinander, indem es das Objektiv erfaßt, das sie verbindet.«
Ueber dieses VU. Kap. >Das Objektive wurde schon oben
(unter II) eingehender berichtet. Das VIII. Kap. >Zur Begehrungs-
der bloß immanenten Transcendenz bedienen ; oder weniger paradox gesagt : Aach
wer etwas anderes, tiefer Liegendes erkennen wiU, als was auch der Solipsist als
gegeben gelten läBt, muB, indem er »erkennt«, jenes tiefer Liegende zum »Gegen-
stand« seines Erkennens machen ; and zwar zum Gegenstand ganz inMeinong-
sehen Sinne des Wortes »Gegenstand«. Ob und wie nun die Freunde des »Dinges
an sich« finden werden, daß dieser Gegenstandsbegriff zu wenig, die Feinde des
»Dinges an sich«, daß er zu viel voraussetzt, bleibt abzuwarten.
1) Diesen Terminus hat Meinong in der Abhandlung »Ueber Gegenstände
höherer Ordnung« (Ztschr. f. Psychol., Bd. 21, S. 182-272) eingeführt an Stelle
der »fundierten Inhalte« (Meinong) oder »Gestaltqualitäten«
(Ehrenfels). Beispiele sind alle auf mindestens zwei Glieder (Inferiora) sich auf-
bauende Relationen, die Raumgestalten, Melodien (Superiora).
A. Meinong, üeber Annahmen. 225
und Wertpsychologie < gibt für das alte Problem der Natur
des Zusammenhanges zwischen Gefühlen und Begehrungen (S. 215)
neue Lösungen (S. 230, 239). Anknüpfend an die seit langem zwischen
Meinong und Ehrenfels geführte und hier durch neue Argu-
mente fortgeführte Diskussion über das Wesen der Begehrung und
des Wertes wird die Begehrung als ein nach wie vor nicht auf
andere Phänomenenklassen restlos zurückführbares Phänomen dar-
getan, und ebenso das Werthalten als Gefühls-, nicht als Begehrungs-
phänomen. Zu den Annahmen und den Objektiven treten jene Kontro-
versen dadurch in Beziehung, daß ich genau genommen nicht A
begehre, sondern nur, daß A sei oder nicht sei, und daß somit
jedes Begehren (so gut wie jedes Urteil) sein Objektiv habe (S. 184,
209). Femer stellt sich das, was Ehrenfels als Einschaltung in
die subjektive Wirklichkeit (bezw. Ausschaltung aus ihr) in dem
> Gesetz der relativen Glücksförderung < (Meinong hält zwei
Gesetze dieses Namens auseinander S. 217) und ebenso in seiner
Wertdefinition als wesentlich aufgestellt hat, als Annahme heraus:
ich überlege mir, >wie es wäre, wenn . . bezw. wenn nicht . . .<
Ein solches Luftschloßbauen ist eben weder schon Urteil noch bloße
Vorstellung, sondern eben — Annahme. — Aber auch auf zwei neue
Klassen emotionaler Erscheinungen , Fantasiegefühle und
Fantasiebegehrungen (§§ 53 ff.), sieht sich Meinong hier
geführt. Das Ausgangsbeispiel sind die >Furcht< und das >Mitleid<,
wie sie die Tragödie erwecken soll. »Eine Furcht, bei der man sich
im Grunde doch gar nicht fürchtet, ein Mitleid, das doch gar nicht
weh tut, sind nicht Gefühle, wohl aber ein Gefühlsartiges — ebenso
wie die Annahmen nicht Urteile, wohl aber ein Urteilsartiges sind.<
Hierdurch gewinnt zunächst das ästhetische Problem der »Einfühlung«
neue Beleuchtungen. Aber auch von dem Werthalten (als Wertgefühl)
und Bewerten (als Werturteil) hebt sich nun das > Werten« ab als
dasjenige Verhalten, bei dem >auf die Annahme von der Existenz
oder Nicht-existenz eines Objektes mit einem . . Fantasiegefühle rea-
giert wird< (S. 252).
Das IX. Kap. >Ergebnisse, Bausteine zu einer Psy-
chologie der Annahmen< (S. 285— 287) rekapituliert und er-
gänzt zunächst die bisher gegebenen Beschreibungen der Annahmen,
bestimmt dann ihre Stellung zu ihrer psychologischen Umgebung
(einschließlich ihres sprachlichen Ausdruckes § 60) , und es schließt
mit Vorschlägen zur Systematik und Terminologie, die sich, vom
neuen Erwerb der Annahmen ausgehend, auf das Ganze der Psycho-
logie erstrecken. Zur Nachprüfung fordern hier insbesondere folgende
zwei Vorschläge heraus: Erstens »Urteilen< und > Annehmen« seien
226 6dtt. gel. Anz. 1906. Nr. 8.
unter der Bezeichnung >Denken< zusammenzufassen (S. 276 ff.)
und zweitens der Gebrauch des Wortes >Fantasie« sei dahin zu
erweitem, daß nicht nur den >Wahmehmungsyorstellungenc > Fantasie-
vorstellungen < (die hiermit gegenüber den von Meinong 1888 vor-
geschlagenen >Einbildungs Vorstellungen < rehabilitiert werden)^ sondern
auch den eigentlichen > Urteilen« die > Annahmen« als >Fanta8ie-
urteile< an die Seite gestellt werden, wozu noch die >Fantasiegefiihle<
und » Begehrungen < in dem obigen Sinn kommen. — Es sei dem
Bef. gestattet, als ein sehr subjektives Reagens auf diese Vorschläge
seine eigene Situation bei der ihn eben beschäftigenden Neubearbeitung
seiner Psychologie hier anzuführen: er hat sich bisher nicht ent-
schließen können, aus allem, was er dem Meinong sehen Buche an
sachlichen Anregungen verdankt, auch alle die vorgeschlagenen ter-
minologischen Eonsequenzen zu ziehen. Ist es wirlich geraten, aus
dem Begriff des > Denkens < das > Vorstellen« auszuschließen? Meinong
selbst gibt dem Bedürfnis nach einer Zäsur zwischen > Vorstellen«,
»Urteilen« und >Annehmen< einerseits, >Fühlen« und »Begehren«
anderseits, allenthalben dadurch Ausdruck, daß er die ersten als in-
tellektuelle, die letzteren als emotionale Phänomene bezeichnet und
hiermit wieder unter je einem höheren Gattungsbegriff zusammenfaßt.
Sollen wir nun für diesen auf das Fremdwort »Intellekt« angewiesen
sein und auf >Denken« (>6edanke«) künstlich verzichten, nur um es
für >Urteile« und > Annahme* zu reservieren? Wenn ja doch
Meinong selbst die Annahmen als > Fantasieurteile« bezeichnet und
auch sachlich die nahe Beziehung gerade zu den Urteilen überall
hervorhebt — ist es dann reaktionär und eine Undankbarkeit gegen
die Entdeckung der Annahme-Tatsache als solcher, wenn ich ruhig
nach wie vor die zweite Hauptklasse intellektueller Phänomene als
Urteile bezeichne und höchstens, wo es einem Uebersehen des
bloßen »Annehmens« gegenüber dem volleren >61auben« zuvorzu-
kommen gilt, beisetze: >Urteile (, einschließlich * oder , nebst' An-
nahmen)«? Aehnlich kann es ja geraten sein, angesichts der (auch
von Meinong S. 283 erwähnten) Abneigung oder dem Ungeschick
mancher, bei »Vorstellungen« auch an iWahrnehmungsvorstellungen«,
speziell > Empfindungen« zu denken, geraten sein, den Titel für die
erste Hauptklasse so zu formulieren > Vorstellungen (einschließlich
Wahmehmungs Vorstellungen)« und »Wahrnehmungsvorstellungen (ein-
schließlich Empfindungen)«. — Aber sind denn alle solche Vorschläge
und Bedenken zur Terminologie überhaupt der Rede wert ? Meinong
selbst gedenkt (S. 251) >der babylonischen Sprachverwirrung in betreff
der philosophischen Terminologie, unter der alles wissenschaftliche
Arbeiten auf philosophischem Gebiete immer noch in so hohem Maße
A. Mdnong, üeber Annahmen. 227
Ieidet< und appelliert in einer Anmerkung >an die unvermeidliche
Selbstentäußerung des einzelnen«. Sollte zu dieser nicht auch ein
bewußter Verzicht auf das > Bessere« gehören, wenn es ein Feind des
Guten zu werden droht? Nun fängt sich z. B. kaum erst die Er-
kenntnis durchzusetzen an, daß es neben den Vorstellungen auch
Urteile gebe. Ist es wahrscheinlich, daß, wenn man nun den Terminus
> Urteil < wieder in den Hintergrund treten und den schon so oft
umdefinierten Terminus > Denken« sozusagen stillschweigend das An-
wendungsgebiet >Urteil< + > Annahme« Übernehmen läßt, dies das vor
allem nötige Einleben in die Tatsachen selbst beschleunigen wird,
was doch die Vorbedingung fär das Einleben einer Terminologie ist?
— So hält Ref. z. B. auch die Wiederaufnahme des Brentano sehen
Terminus >Motiyation« (S. 67) nicht nur bei > Begehrungen«, sondern
auch bei >Urteilen< für gefährlich. Bei Begehrungen besagt >Moti-
yation« eine Kausation, die bei Urteilen so sicher das Wesen des
Begriindens nicht trifft, wie sich Realgrund nicht mit Erkenntnis-
grund deckt. > Motiv« und >Motivat« (ib.) würden durch > Ver-
mittelndes« und > Vermitteltes« wiederzugeben sein; den Ausdruck
»Vermittlung« gebraucht ja Meinong selbst, und insoweit die Ana-
logien zwischen Begehrung anklingen sollen, leistet dies von selbst
das Wort >Mittel« (z.B. Zweck und Mittel einerseits, Mittel-Begriff
anderseits). — Doch genug von den Wörtern. Auch in der Sache
regen die Schlußbetrachtungen aufs mannigfaltigste an; z. B. den
Ref. zur Frage, warum nicht die Analogie
Annehmen : Urteilen = Wünschen : Wollen
ins Auge gefaßt wurde? Vielleicht fiele von da her ein neues Licht
auf die beschämende crux der deskriptiven Psychologie, daß sich
bisher nicht recht wollte sagen lassen, um was das Wünschen weniger
ist als das Wollen. Zudem ergäbe sich aus der Analogie
Wünschen : Wollen = statisch : kinetisch,
die ich S. 508 meiner Psych, angeregt habe, wohl auch ein weiterer
Anknüpfungspunkt zur Prüfung meiner oben (S. 214) gegebenen An-
regung,
Annehmen : Urteilen = statisch : kinetisch. —
Ist es beschämend oder hoffnungsvoll für unsere so oft ange-
zweifelte und geschmähte Wissenschaft der introspektiven Psycho-
logie, daß sich an die Entdeckung einer anscheinend allerspeziellsten
Tatsache, wie es die der Annahmen ist, sogleich wieder neue Fragen
zu hunderten anschließen? — Schämen wir uns nicht, zu hoffen!
Prag. Alois Höfler.
228 GöU. gol. Anz. 1906. Nr. 3.
W« Sehmidt, 8. Y« D., Grandzüge einer Lautlehre der Mon-Ehmer-
Sprachen. (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
in Wien. Philosophisch-historische Klasse. Band LI. Wien 1905. In Kommission
hei Carl Gerolds Sohn. 233 S. 4».
Qrundzüge einer Lautlehre der Khasi-Sprache in ihren
Beziehungen zu derjenigen der Mon-Khmer-Spr achen. Mit
einem Anhang: Die Palaung-, Wa- und Riang-Sprachen des
mittleren Salwin. (Aus den Abhandlungen der K. Bayer. Akademie der
Wiss. Kl. I, Bd. XXII, Abt. m.) München 1904. Verlag der Akademie, in
Kommission des G. Franzschen Verlags (J. Roth). S. 675—810. 4°.
Die Mon- Khmer -Sprachen sowie das Ebasi wurden früher als
Mitglieder der sogenannnten indo-chinesischen Sprachenfamilie be-
trachtet. In seinen Beiträgen zur Spracbenkunde Hinterindiens
(Sitzungsberichte der pbilos.- pbilol. und bistor. Klasse der königl.
bayer. Akad. der Wiss. 1889. Heft U. S. 189—236), wies sodann
Kuhn nach, daß die Mon-Kbmer-Spracben als eigene Famile ab-
getrennt werden müssen, und zeigte, daß sie zu dem Kbasi, den
Dialekten der Urbewobner Malakkas, dem Nancowry, und den MuQiJä-
Spracben in engster Verbindung stehen, ohne daß er doch eine Ur-
verwandtschaft aller dieser Sprachen für erwiesen hielt. >Aber sicher
scheint es«, sagt er S. 220, >daß einem großen Teile der hinter- wie
der Yorderindischen Bevölkerung ein gemeinsames Substrat zu Grunde
liegt, welches von den späteren Einwanderern überscbicbtet wurde,
aber trotzdem so mächtig blieb, daß noch jetzt in dem ganzen Ge-
biete seine Spuren erkennbar hervortreten«.
Auf dem von Kuhn betretenen Wege ist dann Pater Schmidt
weiter gegangen. In seiner Abhandlung Die Sprachen der Sakei und
Semang auf Malacca und ihr Verhältnis zu den Mon-Kbmer-Spracben
(Bijdragen tot de taal-, land- en volkenkunde van Nederlandsch-Indie.
6. volgreeks, VHI, p. 401 — 583. s'-Gravenhage 1901) kam er zu
dem Resultate: >die Sakei- und Semang - Sprachen sind den Mon-
Kbmer-Spracben innerlich verwandt und als ein Glied dieser Gruppe
zu betrachten«. In seinen beiden neuen Abhandlungen legt er nun
eine sichere Grundlage für die Beurteilung der Mon -Khmer- und
Khasi- Sprachen, indem er die herrschenden Lautgesetze feststellt,
und, soweit dies möglich ist, historisch verfolgt. In seiner Khasi-
Lautlehre stellt er sodann die folgende Gruppierung der Mon-Khmer-
und verwandten Sprachen auf:
I. a) Khasi,
b) Wa angku, Riang, Palaung, Danaw,
c) Nicobar.
Schmidt, Mon-Ehmer-Sprachen. Ehasi-Sprache. 229
II. Semang, Tembe, Senoi und Sakei.
III. Mon, Khmer, Bahnar, Stieng, Huei, Suk, Sue, So, Hin,
Nahhang, Anam, Bersisi, und, merkwürdiger Weise, dieser
Gruppe, nicht dem Ehasi nahestehend, die Eolh-Sprachen.
Unter allen diesen Sprachen nimmt Verfasser einen genetischen
Zusammenhang an, der sodann auch weiter die austro-nesischen (indo-
nesischen, melanesischen und polynesischen) Sprachen zu umfassen
scheint. Ueber die letzteren werden wir hoflfentlich bald einer Spezial-
untersuchung von Schmidts Hand entgegensehen können. Die auf-
fallende Uebereinstimmung im Wortschatze zwischen ihnen und den
mit Mon-Khmer zunächst zusammenhängenden Sprachen ist schon
früher hervorgehoben worden. Um den Zusammenhang näher dar-
zustellen wird es aber notwendig sein die Lautverhältnisse und die
für die Wortbildung geltenden Gesetze näher zu untersuchen. Und
zu einer derartigen Untersuchung ist sicherlich niemand besser aus-
gerüstet als unser Verfasser.
Schon die durch seine bisherigen Untersuchungen gewonnenen
Resultate haben die Ergebnisse von Kuhns Studien vielfach bestätigt
und erweitert. Kuhn wagte nicht einen genetischen Zusammenhang
der monosyllabischen Mon - Khmer - Sprachen mit polysyllabischen
Sprachen wie Mun^ä u. s. w. , ohne weiteres anzunehmen. Dieser
Grund wird aber hinfällig wenn wir erwägen, daß einerseits die
Mon -Khmer -Sprachen bloß insofern monosyllabisch sind, als die
Wortstämme einsilbig sind, während die Wörter selbst durch Zu-
sammensetzung und durch Hinzufügung von Präfixen und Infixen oft
mehrsilbig werden. Andererseits aber ist der Wortschatz der Mu^dä-
Sprachen und des Nancowry noch nicht ordentlich untersucht worden.
In vielen Fällen läßt sich aber schon jetzt zeigen, daß auch in diesen
Sprachen das Verhältnis genau dasselbe ist wie im Mon-Khmer: die
Wurzeln sind einsilbig, die Wörter dagegen mehrsilbig. Ueber das
Nancowry bin ich nicht in der Lage näher zu urteilen, da es mir an
Material gebricht. Auf dem vorjährigen anthropologischen Kongresse
zu Salzburg hat Pater Schmidt einen sehr beachtungswerten Vortrag
über die uns gerade beschäftigende Sprachenfamilie gehalten, und
daselbst den Nachweis zu liefern versucht, daß die Mon-Khmer-
Sprachen ursprünglich Suffix-Sprachen waren. Die Vergleichung des
Nancowry, das noch heute in großer Ausdehnung Suffixe verwendet,
hat dabei eine große Rolle gespielt. Diese Sprache muß überhaupt
von der größten Bedeutung sein für die Feststellung der mannig-
faltigen Beziehungen zwischen den verschiedenen zu unserer Familie
gehörigen Sprachen. Um so mehr bedauere ich dieselbe nicht heran-
ziehen zu können.
^Ö Oött. gel Anz. 1906. Nr. 8.
Was sodann die MuQ^ä- Sprachen betrifft, so liegt eine genaue
Analyse ihres Lautsystems heute noch nicht vor. Es scheint aber
schon jetzt möglich zu zeigen, daß Verfasser ihre Stellung innerhalb
der ganzen Familie richtig bestimmt hat, und daß sie in der Tat den
Mon-Khmer-Sprachen näher stehen als dem Ehasi.
Die MuQ^ä-Familie umfaßt eine ganze Beihe von Dialekten, von
denen die meisten bis jetzt höchst ungenügend bekannt sind. Nach
den Berichten der letzten indischen Volkszählung wurden sie von
3164036 Individuen gesprochen. Von diesen fallen mehr als die
Hälfte auf Santäll, welche Sprache eine Anzahl von 1795118 aufwies.
Santäli ist auch diejenige Mu^^ä- Sprache, die am besten bekannt
ist Santäll ist aber sehr wenig verschieden von anderen Dialekten
wie Mu^däri, Bhumij, Birhär, Eö4ä, Ho, Türi, AsurI und Eorwä.
Diese können als sehr eng miteinander verwandte Dialekte einer
und derselben Sprache angesehen werden. In der von Grierson ge-
leiteten sprachlichen Untersuchung Indiens (Linguistic Survey of
India) werde ich dieselbe mit dem Namen Eherwäri bezeichnen. Un-
gefähr elf Zwölftel aller Mu^ijäsprechenden , oder genau 2 788 636
gehörten dieser Sprache an. Nahe verwandt ist auch der Eürkü-
Dialekt, welcher weiter nach dem Westen, in den sogenannten Central
Provinces, von 87 675 Personen gesprochen wurde. Femer ab liegt
das Ehariäy von 82 506 Individuen westlich vom MuQ^än gesprochen,
Juäng (10853 Sprecher in Orissa), und, weiter nach dem Süden, in
der Madras Presidency, die Dialekte Savara (von 157 136 gesprochen)
und Gadabä (37 230 Sprecher).
Eeiner von allen diesen Dialekten ist von den umgebenden
Sprachen unbeeinflußt geblieben. Namentlich ist der Wortschatz stark
mit arischen Lehnwörtern durchsetzt Das grammatische System
scheint sich auch den\jenigen der Nachbarsprachen zum Teil ange-
paßt zu haben. Die ausgedehnte Anwendung von Suffixen kann
z. B. teilweise dem Einfluß dravidischer Idiome zuzuschreiben sein.
Es zeigt sich nun, daß Ehariä, Savara, und Eürkü den Mon-
Ehmer-Sprachen näher stehen als Eherwäri. Für Juäng und Gadabä
ist das Material, das mir zur Verfügung steht, nicht ganz zuverlässig.
Die beiden Dialekte stehen aber sicher dem Ehariä und dem Savara
nahe. Die folgende Tabelle, in welcher Santäll als Bepräsentant des
Eherwäri gebraucht worden ist, zeigt das Yerwandtschaftsverhältnis
der Zahlwörter.
Schmidt, Mon-Khmer-Sprachen. Ehasi-Sprache.
231
Kher-
vlri
Kiirkü
Kharift
Savara
Mon
Khmer
Bahnar
Stieng
K>%ni
1
M«^'
n^
moi
6o, mt-
mwai
fnüy
moü
mu6i
wei
2
bar
ban
bar
bär
ßa
ß^
bar
bar
Or
3
pä
aped
up^
yar
pi
P^y
pen
pH
lai
4
pan
lipon
fpan
uüji
pan
puon
püön
pu6n
Sau
5
märS
numo
moloi
molloi
p^sun
pra
pödam
pram
San
6
turiU
iurül
tiburu
tudru,
turru
trau
hran
tödrou
prou
hinrlu
7
sae
^, y^
gul
guUji
fpah
grvl
töpSh
pifh
hinnieu
8
iriß
aar
tham
tam-ji
d'cam
koH
tanam
pham
phra
9
arä
arö
tomsing
tim-ji
d'cü
kansar
toxin
sin
khyndai
10
gäl
gel
gol
galji
eah
ucd
min-jit
femät
fipeu
Zur Umschrift bemerke ich hier, daß ich im großen und ganzen
Pater Schmidt gefolgt bin. So habe ich mit ihm die aus der Schrift
erschließbaren älteren Formen für Mon und Khmer aufgenommen.
Es scheint mir, daß Verfasser mit Recht die gegen dies Verfahren
eriiobenen Bedenken zurückgewiesen hat. Dagegen habe ich auch in
den Mon-Khmer-Sprachen die Palatale in der für indische Sprachen
gewöhnlichen Weise durch c, ch, j, jh und fi, bezeichnet, und y an
die Stelle von Schmidts j gesetzt, um Einheitlichkeit zu erzielen.
Für das Khasi habe ich Pater Schmidts Umschrift unverändert be-
lassen, so daß y einen irrationalen Vokal bezeichnet. Die sogenannten
Halbkonsonanten der Mu^^äspr&chen bezeichne ich in der herkömm-
lichen Weise als k\ c\ t\ p\
Die Tafel zeigt deutlich, daß die MuQcJäzahlwörter den Mon-
Khmer-Formen näher stehen als denjenigen des Khasi. Man ver-
gleiche namentlich die gemeinsamen Präfixe in den vier ersten und
in dem Zahlwort sechs. Khariä und Savara stimmen näher zu Mon-
Khmer in den Zahlwörtern sieben bis neun, als Kherwärl und KürkQ.
Savara scheidet sich aber aus in den Formen für drei und vier.
Auch in anderer Beziehung ist es möglich eine Klassifikation
der Mu^iJ&sprachen in bezug auf ihr Verwandtschaftsverhältnis zu
Mon -Khmer zu unternehmen. In mehreren Fällen steht im Kher«
232 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
wäri ein h, wo Eürkü, Khariä, Juäng, und wahrscheinlich auch
Savara und Gadabä k aufweisen. Zum Beispiel Kürkü Jcön, Santäli
hän, Sohn; Eürkn Jcön, Santäli hä-hä, rufen; Kürkü Jcäküj Santäli
hälcö, Fisch; KürkQ Jcörö, Santäli här, Mann; Kürkü Jcoiyö, Sant&li
hoßj hoyon, Wind ; Kürkü hölöma, Khariä kolong^ Santäli holon, Korn ;
Kürkü kBnde, Santäli hende, schwarz.
Die Yergleichung mit Mon-Khmer zeigt, daß Kherwärl in solchen
Fällen die ursprüngliche Sachlage geändert hat. Vgl. Mon kön^
Kind; ka, Fisch; %ä, Luft; Khmer ^Mä, Santäli &aAa, Blume, u.s.w.
In vielen Fällen finden wir in einigen Mu9(JStsprachen vollere
Formen als in anderen. Vgl. Kürkü und MuQ(j[ärI ßlü , Santäli jd^
Fleisch; Kürkü iö/ö, Mu^däri Aöra, Santäli A4r, Weg; Kürkü rfm,
Santäli rtmi, ausfinden. Die vollere Form ist dann die ursprüng-
lichere, wie die Vergleichung mit verwandten Sprachen zeigt Oft
liegt die Sache so, daß ein einsilbiger auf Vokal auslautender Stamm
mit einem Präfix ausgestattet ist. Der Schlußvokal wird dann elidiert,
und das Wort wird wieder einsilbig. Vgl. Kürkü körö, Mup^ärl härä^
Santäli häj-j Hö hö, Mann, mit Khasi brTu, Mann, Mon trü, männlich ;
Kürkü kiää, Santäli ^u/, Mon kla, Tiger; Kürkü ;uma, Khariä flieiitt,
Gadabä imi, Santäli fiii-tu-m, Korwä yum, Mon ymu, Khmer jhmöh,
Name ; Kürkü öte, Santäli ät, Mon ti, Khmer /iy, Bahnar teh^ Stieng
iSh, Erde ; Kherwärl bir, Khmer brSi , Bahnar und Stieng bri, Wald ;
Santäli sJfi, MuQ^äri singT, Gadabä sii, Mon tnäij Khmer thnäiy^
Khasi sni, Sonne, Tag, u.s.w.
Es zeigt sich somit, daß Kürkü und die südlichen Muncjädialekte
den Mon -Khmer -Sprachen näher stehen als Kherwärl. Unter den
Kherwäridialekten hat oft das MuQ^äri ältere Formen bewahrt. Daß
Kürkü und Mu^cjärl näher mit den Mon - Khmer - Sprachen überein-
stimmen als z. B. Santäli, ist auffallend, wenn wir bedenken, daß sie
weiter von ihnen entfernt sind als die letzterwähnte Sprache.
Es ist schon oben bemerkt worden, daß die Wurzeln und Stämme
der Mon- Khmer -Sprachen zwar einsilbig sind, daß die Wörter aber
mittelst Anfügung von Affixen gewöhnlich mehrsilbig gemacht werden.
Dasselbe ist auch im Khasi und den Mu^däsprachen der Fall. Auch
hier stellen sich die letzteren näher zu Mon -Khmer als zu Khasi,
insofern als die letztere Sprache die Verwendung von Infixen stark
eingeschränkt hat, was bei den anderen nicht der Fall ist. Da der
Mu9(j[äwortschatz meines Wissens noch nie auf die Verwendung von
Affixen hin untersucht worden ist, wird es vielleicht von Interesse
sein einige hierher gehörende Tatsachen zusammenzustellen, wobei
ich aber keinenfalls auf Vollständigkeit Anspruch mache.
Schmidt, MoihElimer«SpTachen. Ehasi-Sprache. 283
Zunächst sehe ich von der häufigen Verwendung von Suffixen
in der Flexion der Mu94äsprachen ab. Auch in der Wortbildung
seheinen Suffixe früh verwendet gewesen zu sein. Vergleiche das
schließende m in Santäli ö-m, geben (em-ad-e-a oder e-wad-e-a, gab
ihm), Eürkü f; Santäli ;ä.m, essen {a-jä, zu essen geben); Eürkü
anji^mf hören (änjöen, gehört), u. s. w. ; das Suffix kü in Kürkü kä-Jcu
(Mon ka), Fisch; rü-kü (Mon ruäi), Fliege, und anderes mehr. In
seinem früher erwähnten Vortrage auf dem Salzburger Anthropologen-
Kongreß hat Pater Schmidt die Suffixfrage in ihrem vollen Umfange
aufgenommen, und ich will nicht versuchen seinen Resultaten hier
vorzugreifen.
Wie im Mon -Khmer so spielen in den Muj|;i<}äsprachen Präfixe
und Infixe eine bedeutende Rolle in der Wortbildung. Zunächst ein
paar Worte über die Präfixe. Ich sehe dabei von den häufigen
Repetitionen und Reduplikationen der Wurzel ab, da diese in jeder
Santäligrammatik behandelt worden sind.
Ein vokalisches Präfix findet sich in einer Reihe von Fällen,
z. B. Santäli ayup\ Abend, Khmer yub, Nacht; Kürkü öte, Erde,
Mon ti; Santäli ipil, Stern, Mon p^hlOj glitzern, funkeln, Khmer
bhluh, hell, leuchtend; Santäli isin, kochen, Mon ein, Bahnar im,
Stieng sin; Santäli äräc\ zerreißen {räc\ wegreißen), Mon sräk. In
mehreren Fällen wird ein Präfix a vor Verbalstämmen gesetzt, um
eine Art von Permissiven oder Faktitiven zu bilden. Zum Beispiel
Santäli q-fiu, zu trinken geben, von flu, trinken ; a-jä, zu essen geben,
von järm, essen; q-krifi, verkaufen, von hiriüy kaufen. Dies a ist
vielleicht verwandt mit dem a, das einem Pronomen vorangeht, wenn
ee als indirektes Objekt gebraucht wird; z. B. Santäli -q-ri, mir;
-o-m, dir; >a^6, ihm. Dies a wird dann oft mit dem Vorschlag eines
w gesprochen. So z. B. Santäli e-to-ad-e-a, gab ihm. Das Präfix a
kann deshalb verwandt sein mit dem Kürkü Präfix wä, das Permis-
siva bildet ; z. B. die' eng-ken wa-^en-hä, er läßt mich gehen.
Wie das Khasi und die Mon-Khmer-Sprachen scheinen auch die
MuQiJäsprachen eine zweite Stufe zu kennen, in welcher noch ein
Nasal hinzugefügt wird. Hierher gehört vielleicht Santäli and-kul,
zum Tiger werden.
Ein Gutturalpräfix wird sehr häufig verwendet. Da k in Kher-
wäri oft zu h wird, werden viele mit h anfangenden Wörter hierher-
zuziehen sein. Man vergleiche Formen wie Kürkü, kö-rö, Mun^ftri
hä-räj Khasi b-riu, Mann; Kürkü k^n, Savara ön, Mon Ä-ön, Sohn;
Kürka ha-la^ Santäli ku4, Mon k-la, Tiger; Santäli ho-n, Mon k-ni,
g-nij Bahnar Ä:d-n?, Stieng kö-nei, Ratte; Santäli ha-ram^ alt, Khmer
nem, älterer Bruder; Santäli ka-bak^ mit einem spitzigen Gegenstand
Gȟ gel. Abs. 1906. Nr. 8. 16
234 Gott, gel Ans. 1906. Nr. 8.
berühren, hdk\ an einem Dorne stecken bleiben; Santftll g-ur^ fallen,
Khmer ür, e^, Kbasi Or; Santäll gi4k\ schlafen, Mon 8-<ii-6-tofl,
Khmer t^k^ Bahnar t^. Die zweite Stufe dieses Präfixes liegt vor
in Savara kin-sor^ Gadabä ghusö^ Stieng stfu^ Ehasi k-seu, Hund;
Savara kim-botl. Schwein; kim-pon^ Khmer höh, Bauch, u. s.w.
Ein Palatalpräfix scheint vorzuliegen in Santftll japity liegen, vgl.
Stieng bic\ Kürku jü-mü, Name, vgl. Ehmer jhmöh; und ein Dental-
präfix in Formen wie Santäl! tthrüi^ Mon t-rau, sechs; Ehariä ^m-
soflg, Feuer; Khariä tom-sing^ Savara tim-ji^ Stieng sin^ neun. Die
letzten Beispiele zeigen wiederum die zweite Stufe der Präfixbildung.
Ein Labialpräfix liegt vor in Formen mebär, zwei; Santäll 6ir,
Khmer brei^ Bahnar und Stieng 6rt, Wald; Kürkü bi-tt, Santäll fr^-te,
reif, vgl. Khmer pMe, Bahnar und Stieng plei^ Frucht; Santali qric^
und beb'aric\ viel; Santäli 6a-Aa, Khmer phkä, Blume, u. s.w. Es
fängt mit m an in Formen wie Santäli m-ü^ ein; märyäm, Stieng
ma-fiamj Bahnar pham, maham, Blut.
Auch Präfixe, welche mit Liquidae oder einem Zischlaut anfangen,
kommen vor. Man vergleiche Khariä ro-mong, Kherwärl tnd, Mon
muh^ Nase, und vielleicht Kurkü lu-tür, Uon ktöw, Bahnar /dn, Ohr;
MuQdärl 5i-n^7, Khasi s-ni, Mon ^ndi, Sonne, Sonne; Santäli «a-n^Vt,
Mon jornai, Khmer ch-näy, Bahnar Sö-ftai^ Stieng nai, fem; Savara
sifif suüf Juäng iyä, Mon s-ni, Stieng fli, Haus, u. s.w.
In der Anwendung von Pfäfibcen in der Wortbildung stimmen die
MuQdäsprachen sowohl mit Khasi als mit Mon-Khmer Uberein. Es
ist nur zu merken, daß das Präfibc gewöhnlich einen vollen Vokal hat.
Neben den Präfixen verwenden die MuQdäsprachen auch in
großer Ausdehnung Infixe, ganz wie es in den Mon-Khmer-Sprachen
der Fall ist, während diese Art der Wortbildung in Khasi zwar vor-
liegt, aber doch kaum mehr als eine lebendige bezeichnet werden
kann.
Ein Infix A' ist sehr allgemein zur Bildung von Intensiven, be-
sonders von Verben, welche mit einem Vokal anfangen. So z. B.
Santäll äk'dl von äl^ schreiben; bek'nao von benao, machen. Dasselbe
Infix bildet auch Distributivzahlen und einige Pronominalstämme.
Vergleiche Santäli eVäe^ je sieben, von eäe^ sieben; nük'üi^ eben
dieser, von tiui, dieser.
Die Dentale sind durch ein t- und ein n-Infix vertreten. Das
f-Infix scheint Verbalnomina zu bilden; vergleiche Santftll flu-to-m,
Name, von num^ nennen; ä-iä-häp^ Anfang, von ähäp\ anfangen;
bo-to-r^ Furcht, von bor^ fürchten. Auch das n-Infix ist nominal-
bildend. So z. B. Savara tub, teilen, ta-nu-b^ Teil; Santäli aka^
Schmidt, Mon-Ehmer-Spracheii. Khasi-Sprache. 235
hSogen, a^kp-kfa), ein Bambus zum Aufhängen von Kleidern; hah\
an einen Haken hängen, ba-na-h^ Haken; dapät^ bedecken, da-na-pal,
HfiUe; mueaV und miMiu-cat^ Ende. Das Infix kommt auch in
KollektiYzahlwörtern und Verben vor. Vergleiche Santäli ba-na-r^
beide; i>o-iio-n, alle vier; ^heeok^ nnddhe^-cok^ hinken; Kürkü fhar
und fka-nä-r, stehen, bleiben, u. s.w.
Ein p-Infix wird verwendet, um Eollektiva und reziproke Verben
zu bilden. So z. 6. Santäli maajhi, ein Hanptmann, mchpa-njhi, eine
Sammlung von Hauptleuten; daram, begegnen, da-pa-ram, sich be-
gegnen. Bisweilen wird die Bedeutung durch dies Infix nicht wesent-
lich geändert; z. B. hän und A<S-pd-n, Sohn.
Ein Mnfix scheint vorzuliegen in dem Frequentativ-Suffix bara
und fto-i-ra, und in Intensivbildungen wie ha-b-ric* von bqric\ zer-
stören; ie-fr-r^' von beret\ au&tehen; burum und bu-b-rum^ brilten,
U.8.W.
Auch l und r werden infigiert. Man vergleiche Santäli du-ru-p',
Ma94än dup\ sitzen; Santäli &e-re-<', Eürkü bü\ aufstehen; Santäli
d-fflk-ib^ Khariäoo (d. h. wohl oik'% Haus; Eürkü öt^ und ö-le-t^ aus-
gehen; Santali ge4e-c\ aushöhlen, ge€\ abschaben, u. s.w.
Es zeigt sich somit, daß die Wortbildung der Mui^^äsprachen
nach denselben Prinzipien erfolgt wie im Ehasi und, in noch höherem
Grade, in den Mon-Ehmer-Sprachen. Den letzteren stehen sie auch
im Wortschatz und im grammatischen System besonders nahe. Zwar
kann in dieser Beziehung von einer durchgehenden Uebereinstimmung
keine Rede sein, da die Mu^^äsprachen hier wohl zweifelsohne von
anderen indischen Sprachformen beeinflußt worden. In denjenigen
Punkten aber, die Pater Schmidt hervorhebt, und in welchen sich
das Ehasi von den Mon-Ehmer-Sprachen unterscheidet, stimmt die
Mnj^däfamilie mit den letzteren Uberein. Was die persönlichen Pro-
nomina betrifit, so hat sie z. B. nichts dem Ehasisystem der Plural-
bildnng entsprechendes. Sie hat neben dem Plural auch ein Dual,
und Doppelformen des Duals und des Plurals der ersten Person, die
einen den Angeredeten einschließend, die anderen ihn ausschließend.
Dagegen kennt sie ebenso wenig wie die Mon-Ehmer-Sprachen die
dem Khaai eigentümliche Unterscheidung des Geschlechts. Die ver-
schiedenen Formen stimmen auch in vielen Einzelheiten überein, wie
ans der nachstehenden Tafel leicht ersehen kann.
16^
I
236
Qött. gel Anz. 1906. Nr. 3.
Ehasi
Santäli
Bahnar
ich
fki
ifi
iü
ich und du
äAüii
ba
ich und er
Orlm
üi
ich und ihr
ni
ä'bön
bön
ich und sie
ni
a-ia
fion
du
fnSj m. ; pho, fem.
am
e, bu (Stieng mei)
ihr beide
ä'ban
mieh
ihr
phi
ä'pä
iem
Was nun den Wortschatz betrifft, so muß daran erinnert werden,
daß die zahlreichen Lehnwörter das Verhältnis vielfach trüben, und
daß eine Analyse der Mu^d^prachen , wie sie Verfasser für Khasi
und Mon-Khmer geliefert hat, noch nicht vorliegt. Auf ein paar
Fälle, in welchen sich die MuQdäsprachen näher an Mon-Khmer als
an Khasi anschließen, kann aber schon jetzt hingewiesen werden.
1. Auge. — Santäli mat\ Mon tnatj Khasi khfffnat,
2. Bein. — Santäli jangä^ Mon juifi, Khmer jön, Khasi kyjat.
3. Blut. — Santäli mäyämj Stieng mdham, Khasi snam.
4. Fliege. — Santäli rä, Korkü rüha^ Mon ru^», Khmer ruy,
Bahnar roi, Khasi sJcoin.
5. Haar. — Kürku hup% Kherwärl up', Mon söJc^ Khasi iniuh.
6. Nacken. — Kürkü ka-rü, Mon ka\ Khasi ryndan.
7. Nase. — Kherwäri mä, Mon muh, Khasi Ichmut.
8. trunken. — Santäli bul^ Mon baßü, Bahnar &uZ, Khasi buäid.
9. Wasser. — Kherwäri döi', Savara cß, Mon cZäi, Bahnar dot,
Khasi um.
Es zeigt sich, daß die Muodäsprachen hier auf dieselbe Weise
vom Khasi abweichen als die Mon-Khmer-Familie. Vgl. SchmidtB^
Khasi-Lautlehre, S. 757.
Unsere Untersuchung hat also Verfassers Klassifikation, soweit
die Mu^däsprachen davon betroffen sind, völlig bestätigt. Sie stehen
den Mon-Khmer-Sprachen besonders nahe. Es wird aber dann sehr
wahrscheinlich, daß, wenn die letzteren von sowohl Khasi als Mu^^ft
Schmidt, Mon-Khmer-Sprachen. Khasi-Sprache. 237
abweichen , mit fremdem Einflüsse zu rechnen ist. So liegt es z. B.
nahe, an indo-chinesischen Einfluß zu denken, um die Aenderung von
tönenden Explosivlauten zu tonlosen im Mon-Khmer zu erklären.
Die durch die Schrift erschließbare ältere Form hat die tönenden
Laute noch erhalten, in der modernen Sprache aber ist die Aenderung
vollzogen; vgl. Schmidt, Mon-Khmer, S. 4. Im Khasi aber werden
die tönenden Laute noch gesprochen, und dasselbe ist bekanntlich in
den Mu^ijäsprachen der Fall. Man vergleiche z. B. Santäll jati,
Khmer cAaM, Bein; Kürkü d^c*, Stieng ^^c, brechen; Santäli flre/',
Mon huty Khmer Icat^ schneiden; Santall hxk\ Mon pen, Khmer 6^,
Bahnar &^, hen, Stieng hiin^ voll, u. s. w. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß die Entwickelung in den Mon-Khmer-Sprachen ver-
hältnismäßig spät ist. Die indo-chinesischen Sprachen haben nun,
wie Gonrady nachgewiesen hat, durchgehend die Tendenz tönende
Explosivlaute in tonlose umzuwandeln, und es liegt deshalb nahe an
eine Beeinflussung seitens dieser Sprachen zu denken. Das annami-
tische Tonsystem muß doch wohl durch eine ähnliche Annahme er-
klärt werden.
Was konsonantischen Anlaut sonst betrifft, so werde ich mich
nicht auf Einzelheiten einlassen. Bloß zu einem Punkte werde ich
eine kurze Bemerkung machen. Verfasser weist nach, daß der ton-
lose Explosivpalatal c (ch) den Mon-Khmer-Sprachen wie dem Khasi
nicht ursprünglich ist, sondern aus der Verbindung eines Guttural-
präfixes mit einem folgenden y- oder ^-Anlaut entstanden ist. Im
Khasi hat sich dann dies c weiter zu s entwickelt.
Die MuQ^äsprachen scheinen dies Resultat zu bestätigen. Man
vergleiche Stieng cal, Khmer Jchydl, Knrkü toi-t/ö. Wind ; Mon chim,
Santäll mä-^äm, Blut; Mon chu^ Stieng cw, Kürkü tscing, Juäng sim,
Gadabä sulö, Baum; Mon cäi, Khmer cai, Bahnar si, Stieng sVi,
Santäl! $e, und Khasi ist, Laus; Mon cß, Bahnar ^em, Stieng cum,
Kberwäri «fm, Vogel ; Mon ein, Bahnar Sin, Stieng sin, Santäli isin,
kochen; Khmer cap, Bahnar cep, Stieng cap, Santäli 8ap\ greifen;
Khmer cök, Santäli 8äk\ hineinstecken.
In allen solchen Fällen entspricht ein s oder ein y in den
Mun^äsprachen einem stimmlosen Palatal der Mon-Khmer-Sprachen,
ganz wie wir nach Pater Schmidts Ausführungen erwarten müssen.
Ob der tonlose Palatal der MuQdäsprachen auf dieselbe Weise ent-
standen ist, muß noch untersucht werden.
Was die Zerebrallaute betrifft, so kommen sie im Khasi nicht
vor, und in den Mon-Khmer-Sprachen sind sie bloß dem Mon und
dem Khmer eigentümlich. Der zerebrale Nasal ist in keiner von
diesen Sprachen ursprünglich, wie Schmidt nachweist. Auch der
238 Gott gd. Anz. 1906. Nr. 8.
zerebrale Explosivlaut ist oft sekundär. Vergleiche Mon dak^ Khmer
d^f Bahnar dak, Stieng däk, Santäll däk\ Wasser; Mon hduh^ hassen.
Das letztere Wort ist ein Pali-Lehnwort ; vergleiche Pali doso, Haß,
und auch das erstere geht, wie Verfasser bemerkt, vielleicht auf
Sanskrit daica zurück, so daß in beiden der Dental sicher ursprüng-
lich ist. Auch in den Mu^d&sprachen finden wir eine ähnliche Zere-
bralisierung;* vergleiche Savara da, Gadabä da und da, Wasser.
Auch zu der Behandlung auslautender Explosivlaute werden wir
in den Mu^däsprachen Parallelen finden. Eine gemeinsame Eigen-
tümlichkeit des Khasi und der Mon-Khmer-Sprachen ist es, auslautende
Konsonanten in verschiedener Weise abzuschwächen. Auf ganz ähn-
liche Weise werden oft die MuQdäkonsonanten im Auslaut abgeschwächt.
Was die Verschlußlaute betrifiTt, so unterbleibt in solchen Fällen die
eigentliche Explosion nach dem Verschluß. Man nennt gewöhnlich
solche abgekürzte Verschlußlaute Halbkonsonanten. Vergleiche Santäll
däk\ Wasser; gitic\ schlafen; sap\ greifen, u. s. w.
In vielen wichtigen Eigentümlichkeiten, im Lautsystem, im Wort-
schatz und Wortbildung, und in grammatischen Einzelheiten stimmen
somit die Mu^däsprachen so genau mit den Mon-Khmer-Sprachen
überein, daß der Zusammenhang zwischen den beiden Familien ein
genetischer sein muß. Auf ähnliche Weise sind die Mon-Khmer-
Sprachen mit dem Nancowry und, wie Pater Schmidt hervorhebt,
auch mit den austronesischen Sprachen verwandt. Eine neue große
linguistische Famile ist somit aufgestellt worden. Dies getan zu
haben und den Zusammenhang zwischen den wichtigsten Gliedern der
Familie bewiesen zu haben, ist schon eine hervorragende Leistung.
Verfasser ist aber weiter gegangen, und hat in seinen beiden Ab-
handlungen eine feste Grundlage für die vergleichende Erforschung
der ganzen Familie gelegt. Da er noch immer auf demselben Ge-
biete weiter arbeitet, dürfen wir hoffen, daß er noch manche Schwierig-
keit aus dem Wege räumen wird. Dafür bürgt seine methodische
Sicherheit, sein Kombinationsvermögen, sein umfassendes Wissen, und
der Scharfsinn, von dem seine Arbeiten ein so vorzügliches Zeugnis
ablegen.
Ghristiania. Sten Konow.
Nenes Ter-Mikaelian, Dm armenische Hymnariam. 239
Kenes Ter-MlkaellM, 'Das armenische Hymnariam. Stadien za
seiner geschichtlichen Entwicklung. Leipzig, J.C.Heinrichs,
1905. IV, 110 S. M. 4.60.
Die yorliegende Arbeit, die dem Nebentitel zufolge in erster
Linie einen Beitrag zur Aufhellung der geschichtlichen Entwicklung
des armenischen Hymnariums liefern will, gliedert sich in drei äußer-
lich als ganz gleichwertig hingestellte Kapitel, eins über das heutige
Hymnarium, eins über seine Geschichte und eins über die Verfasser
der einzelnen Bestandteile der Sammlung. Das erste Kapitel ist
jedoch in Wahrheit mehr eine Art Einleitung, und es wäre vielleicht
gut gewesen, dies sowohl durch eine entsprechende Aufschrift wie
auch durch die Beschränkung des Umfangs auf ein bescheideneres
Maß erkennen zu lassen. Denn dieses sogenannte erste Kapitel
bietet eigentlich nur eine ausführliche, wie gesagt wohl gar zu breit
angelegte Beschreibung des Hymnariums, das gedruckt vorliegt und
für einen nicht geradezu unerschwinglichen Preis zu kaufen ist, eine
Beschreibung, die dem Neuling auf dem Gebiete der armenischen
Philologie einen recht willkommenen Ueberblick gewähren wird, die
aber die Forschung um nichts von Belang bereichert und deshalb im
vorliegenden Werke nur dann einen Sinn hat, wenn sie sich damit
bescheidet in den Stand der Frage einzuführen.
Der Verfasser bringt nach einigen Auseinandersetzungen über das
Alter des heutigen Hymnariums, über die Zahl der in ihm enthaltenen
Hymnen sowie das Wesen der einen Kanon bildenden Gruppe eine
vollständige Uebersetzung aller Ueberschriften, wie sie in der Etsch-
miadsiner Ausgabe vom Jahre 1861 enthalten sind. Wie eine An-
merkung ausdrücklich hervorhebt, soll die Uebertragung eine mög-
lichst treue sein ohne Rücksicht darauf, daß dabei ein etwas schwer-
fälliges Deutsch herauskomme. Nun mag's ja allerdings ziemlich
gleichgültig sein, wie die Wiedergabe des armenischen Textes den
Deutschen in die Ohren klingt, wenn auch Uebersetzungen wie
>Kanon des vierzigtägigen Kommens des Herrn in den TempeU und
>Kanon des lucemarium des Theophanias« vielleicht doch mehr als
nur schwerfällig sind. Wenn aber die sogenannte Treue der Ueber-
tragung, d.h. die mechanische Wörterbuchwälzerei , zu unverständ-
lichen Ausdrücken führt, dann darf und muß man — scheint mir —
doch Einspruch erheben. Was soll sich einer, der des Armenischen
durchaus unkundig ist — und nur für solche Leute ist doch die
Uebersetzung bestimmt — unter einem neuen Sonntag, unter einem
großen Freitag denken? Daß letzterer der Karfreitag, ist wird ja
vielleicht noch von einem scharfsinnigen Leser erraten werden. Sollte
240 Gott gel Anz. 1906. Nr. 8.
er aber auch darauf kommen, daß der neue Sonntag der Sonntag
Quasimodogeniti ist? So wäre auch hier und da ein erläuternder Zu*
satz, wenn auch nicht gerade notwendig, so doch wenigstens erwünscht
gewesen. Sicherlich wird es nicht allen Lesern gegenwärtig sein,
daß der Hymnus auf die 20000 die 20000 in Nikomedien durch
Feuer umgekommenen Märtyrer feiert, daß Julitta die Mutter des
heiligen Kyriakos ist und anderes mehr. Bücher sollen doch bis zu
einer gewissen Grenze auch verstanden werden, und wenn man bei
seinen Lesern eine so beängstigende Unkenntnis voraussetzt, wie der
Verfasser es im ersten Kapitel tut, dann darf man auch bei Angaben
nicht selbstverständlicher Umstände nicht allzusehr mit Worten kargen.
Eine besondere Bemerkung erfordert der Ausdruck Melodie, der in
der Uebersetzung der Ueberschriften wiederholt vorkommt. Die acht
Grundmelodien, von denen der Verfasser S. 4 ohne weitere Erläuterung
redet, sind keineswegs das, was man im gewöhnlichen Leben unter
Melodie versteht, sondern Tonarten wie die acht aus der griechischen
Musik übernommenen sogenanten Eirchentöne oder Kirchenmodi, mit
denen sie auch fraglos zusammenhängen. Wie in der griechisch-
christlichen und danach auch in der lateinischen Kirchenmusik den
vier Haupttonarten, die der altgriechischen dorischen, phrygischen,
lydischen und mixolydischen entsprechen, vier Nebentonarten gegen-
überstehn, deren jede, gleicher Tonika mit der entsprechenden Haupt-
tonart, aus der auf diesem Grundton stehenden Quinte und der
darunterliegenden Quart besteht, so liegt auch im Armenischen eine
Scheidung in je vier Kirchenmodi vor, und die Namen zeigen deut-
lich an, daß Byzanz die Heimat ist. Man vergleiche:
uiiuuep'ü Xtujb > erster Ton< = xpötoc "^x^^ x&pioc =
L tonus authenticus.
uin.uacp% ^miiT >erste Seite < = icpöTog iixo^ icXdYioc =
U. tonus plagalis.
irp^npq. Xmjb >zweiter Tou« = deotepog '^/oc xopiog =
ni. tonus authenticus.
ttiLjif^ /(n^ >große Seite< = SeGtepog -^x^^ icXi^ioc =
IV. tonus plagalis.
tppnpq. hujb > dritter Ton< = tpttoc rixoQ xopiog =«
V. tonus authenticus.
/[tun. > feurig < = tpCtoc "^x®^ icXdyiog =
VI. tonus plagalis.
Ifippnpq. äuijb > vierter Ton< = i^taprog ifjup^ xöptoc =
VU. tonus authenticus.
4Ppi^ >Ende< = tStaptog iix^Q ffXdtYtoc =
VIIL tonus plagalis.
Nerses Ter-Mikaelian , Das armenische Hymnarium. 24t
In drei Fällen entspricht das Armenische dem Griechischen ja
nnn allerdings nicht. Aber die für uitMiq. ^nqj] ^mn. und ^^^ ge-
brauchten Abkürzungen ^f , ^ und qJ^ lassen sich nur als die dem
griechischen Ausdruck angemessenen Worte irpipnpq. Iinif »zweite
Seite <, tppnpq. ^n^ > dritte Seite < und inppnpq. ^nq^ > vierte Seite <
auflösen.
Am Schluß des ersten Kapitels, bei der Angabe der Literatur,
stoße ich dann noch auf eine Bemerkung, in der ich auch ein auf-
klärendes Wort glaube äußern zu müssen. Bei der im großen und
ganzen übrigens durchaus anerkennenden Erwähnung von Avetikhians
Arbeit über die armenischen Hymnen bemerkt der Verfasser:
> Avetikhians großes Werk ist ein wertvolles Hilfsmittel, um den
Text lexikalisch und grammatikalisch richtig zu verstehn. Allein es
muß vorsichtig benutzt werden, da der Verfasser katholisch ist und
ein starkes dogmatisches Interesse in dem ganzen Werk äußert. <
So allgemein hingestellt, ohne den allergeringsten Versuch der An-
gabe, worin denn die — mir übrigens unbekannten — Schäden des
dogmatischen Vorurteils zu Tage treten, ist eine derartige Bemerkung
eine Ungehörigkeit. Ich würde aber den Fall doch ruhig unerwähnt
lassen, wenn es sich nur um eine vielleicht etwas unüberlegte Be-
merkung eines vereinzelten Schriftstellers handelte. Das ist aber
leider nicht der Fall. Es ist vielmehr der verständnislos nur aus-
wendig gelernte Ausdruck einer Anschauung, die fast das ganze
Etschmiadsiner Lager beherrscht, einer Anschauung, die von einem
ja leicht verständlichen Haß gegen eine gefahrdrohende stärkere
Kirche ins Leben gerufen und dann bei der jüngeren Generation
durch die auf den deutschen Hochschulen wirkenden protestantischen
Theologen noch einigermaßen genährt worden ist. Aber in wissen-
schaftlichen Angelegenheiten sollte man sich doch eines derartigen
Parteihaders enthalten und unbefangen und dankbar jeden Beitrag
annehmen. Und namentlich armenische Philologen dürften nicht ver-
gessen, daß sie den größten Teil ihrer Errungenschaften katholischen
Theologen verdanken. Es soll den letzteren damit nicht etwa ein
besonderes Kompliment, zumal nicht den Protestanten gegenüber,
gemacht werden. Vielleicht ist nur der Umstand, daß katholischen
Theologen die geistige Betätigung in Fragen der eigenen Kirche nur
in begrenztem Maße gestattet ist, bei ihnen ein Antrieb zur Be-
arbeitung verwandter Gebiete geworden. Aber wie es auch sein
mag, die angegebene Tatsache bestreiten kann nur der, der nichts
von der Sache versteht oder lügt. In erster Linie sind es natürlich
die Mechitharisten , deren Tätigkeit von jedem billig denkenden.
242 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 8.
Forscher dankend anerkannt werden sollte, ohne deren Arbeit, soviel
Mängel sie auch haben mag, wir einfach um hundert Jahre zurück-
versetzt würden; und die katholischen Theologen anderer Nation
haben sich mindestens energischer in die armenischen Eirchenver-
hältnisse eingearbeitet und infolgedessen auch mehr für deren Auf-
hellung getan als ihre evangelischen Amtsgenossen. Es liegt mir fem,
in Bausch und Bogen alles gutzuheißen, was auf S. Lazzaro und in
Wien hervorgebracht worden ist. Ich verkenne nicht den Mangel
an Kritik, der manche fleißige Arbeit nur allzusehr geschädigt hat.
Aber erstens lassen sich solche Mängel auch anderwärts entdecken,
und dann sind das doch andere Dinge als Fälschungen, seien es voll-,
seien es halbbewußte, und wer, was in Etschmiadsin gang und gäbe
ist, anderen Forschem derartige Fälschungen vorwirft, der übemimmt
auch die Verpflichtung sie nachzuweisen. Sonst bleibt eben nichts
anderes übrig als eine einfache, niedrige Verleumdung. Zudem sollte
man sich etwaigen dogmatischen Vorurteilen gegenüber in Etschmiadsin
doch auch des Wortes bewußt bleiben, daß die, die im Glashause
sitzen, besser nicht mit Steinen werfen. Man überlege sich beispiels-
weise doch einmal emstlich die von kindischer Wut eingegebenen
Sophistereien, mit denen Earapet Ter-Mkrttschean im Ararat (1902,
S. 809—830) Oelzers Ansicht zu widerlegen versucht, daß Aschtischat
die geistliche Hauptstadt Armeniens gewesen sei. Man besehe sich
doch einmal etwas genauer die entsprechenden Spiegelfechtereien in
Erwand Ter-Minassiantzs leichtfertiger, von der philologischen Sektion
der Universität Leipzig angenommenen Dissertation (Die Beziehungen
der armenischen Kirche zu den syrischen bis zum Ende des 6. Jahr-
hunderts), für die eine andere Universität — man erzählt, Gießen
— dem Verfasser die Würde eines Licenciaten verliehen hat, was
nun die weitere Folge hat, daß er in der Verlagsanzeige der zu
einem größeren Buche erweiterten Dissertation als Prof. Lie. Dr. er-
scheint (das Buch selbst kenne ich nicht, da ich nach dem Vor-
geschmack der Dissertation zur Enthaltsamkeit entschlossen bin).
Und wenn man sich dann fragt, wie es möglich ist, die bei allem
Redeschwulst im Kern einfache nüchterne Erzählung des Faustus von
Byzanz durch das Zeugnis der Wundergeschichten des Agathangelos
widerlegen zu wollen, dann bleibt nur die Vermutung bestehn, daß
die uralte Heiligkeit von Etschmiadsin eben aus naheliegenden Gründen
auf keinen Fall beanstandet werden darf. Nun will ich zwar dem
Verfasser des hier vorliegenden Buches gem zugestehn, daß er sich
in Gegensatz zu den beiden genannten Herren redlich bemüht, die
Quellen unbefangen zu prüfen; aber er hat sich eben noch nicht in dem
Nene« Ter-Mikaelian, Das anneniBche Hymnarium. 349
Maße von Vorurteilen losreißen können, wie die streng wissenschaft-
liche Arbeit es erheischt. Diesen Mangel an Kritik zeigt deutlich
das zweite Kapitel. Drei Fragen sind es, deren Beantwortung dort
yersucht wird, die nach dem Alter des Hymnariums, wie es heute in
Gebrauch ist, die nach seiner Gestalt vor der letzten großen Be-
arbeitung durch Nerses Schnorhali und die nach dem ersten Auf-
treten von Hymnen in der armenischen Kirche Überhaupt Die Be-
antwortung der beiden ersten Fragen, der man im großen und ganzen
zustimmen kann, stützt sich hauptsächlich auf die Handschrift 202
der Bibliothek der Wiener Mechilharisten-Kongregation, die aus drei
Teilen besteht und das allmähliche Anwachsen des Hymnenbestandes
anschaulich vor Augen ftthrt. Die Untersuchung führt zu dem Er-
gebnis, daß Nerses Schnorhali (1112—1173) die zu seiner Zeit vor-
liegende Hymnensammlung etwa um ein Fünftel des heutigen Um-
fangs vermehrt hat, und daß die Gestalt des heutigen Hymnariums
in allen wesentlichen die Anordnung betreffenden Zügen bis zum
letzten Drittel des 13. Jahrhunderts zurückzudatieren ist. Die sich
daran anschließenden Bemerkungen über das erste Auftreten be-
stimmter Hymnen werden jedoch wohl hier und da noch Einschrän-
kungen erfahren, wenn weitere Handschriften herangezogen werden.
S. 51 heißt es beispielsweise, die Magnifikate zur Auferstehung des
Herrn, der fünfte bis achte von den acht Kanones für alle Ver-
storbenen seien in keiner Handschrift vorhanden, die laut Datierung
älter als das 15. Jahrhundert sei. Dem widerspricht aber z. B. eine
Handschrift der königlichen Universitätsbibliothek zu Tübingen aus
dem Jahre 1316 (Ma XUI 22), in der nur ein Teil des siebenten
Kanons für alle Verstorbenen fehlt, die anderen hier angeführten
Hymnen aber schon vorhanden sind. Und so dürfte manche Hand-
sdirift aus der urwaldartigen Etschmiadsiner Bibliothek noch uner-
wartete Aufschlüsse bringen. Es ist überhaupt zu bedauern, daß der
Verfasser, der schon vor Beginn des Satzes seiner Arbeit aus
Deutschland nach Armenien zurückkehrte, nun nicht noch einige
wenige Monate mit der Drucklegung wartete und die reichen Mate-
rialien, die ihm in Etschmiadsin zur Verfügung standen, wenigstens
zum Teil ausnutzte. Was nun die dritte Frage anbetrifft, wann die
Hymnen überhaupt zuerst in der armenischen Kirche im Gebrauch
erscheinen, so legt sich der Verfasser da eine Reserve auf, die viel-
leicht doch etwas übertrieben ist. Es ist gewiß richtig, daß man
nicht jeder historischen Notiz ohne weiteres Glauben schenkt. Aber
unbegründetes Anzweifeln dürfte nicht weniger folsch sein als unbe-
gründetes Zutrauen. Der Bericht des Kyriakos von Gandsak aus
244 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. S.
dem 13. Jahrhundert, in dem von einer Revision des Hymnariums
unter Nerses III. (640—661) erzählt, also ein ziemlich hohes Alter
vorausgesetzt wird, ist nach des Verfassers Meinung durchaus unzu-
verlässig. Schon beim ersten aufmerksamen Lesen des Berichts falle
die sagenhafte Art der Erzählung auf — was ich übrigens von mir
nicht behaupten kann — , ferner sei es auffällig, daß andere Historiker
nichts davon erzählten — was mir auch nicht gerade von großer
Bedeutung zu sein scheint — , und endlich widerspreche Eyriakos
sich selbst durch eine Erzählung an andrer Stelle — was allerdings
Bedenken erregen müßte, wenn es der Fall wäre — . Nun, diese
Stelle ist die, wo Eyriakos einen beträchtlichen Teil des Hymnariums
schon den Uebersetzem des 5. Jahrhunderts zuschreibt, eine Stelle,
über die der Verfasser folgendermaßen referiert: >Er schreibt ihnen
fast das ganze Hymnarium, die Hymnen für Herrenfesttage, alle
Heiligen, Bußzeit, alle Verstorbenen zu und endet mit den Worten
,. . . verschiedene und zahllose, die bis zu dem heutigen Tage in
den armenischen Kirchen gebraucht werden.'c Hierzu muß ich
nun leider zunächst bemerken, daß Kyriakos etwas ganz anderes
sagt, als man nach dem Referate vermuten sollte, daß er vor allem
keineswegs den Uebersetzern fast das ganze Hymnarium zuschreibt.
Er sagt : Wp^'pt'^ ^ h-p^ ^^piul^iuUuiß »g¥'q_gp L. f^lp'gp^ hqmbml^tuL. h.
A& lunn^nn.n^ ilahn^uuah ^^\nhumnuh L. j^uiiLUiuuonh'uij tuuiumlrmltlt h
muiSiunh^ JIUimnL.ß-lnultlt L. lrl^tuL.npnL.p-lruilab jt ^^^ß-u»Ljim II jY^nnLMUin^J*
dtti-ji ytuntuß-nilL ^p^ptubtuß L. ju»pnL.ß-builab ^ ^uiJpuipXJutlih L. ^nqj-tn
^mtumlrmlab^ fuut^ L. bl^lrqbßt-nj ^ L. u»jl_ mttbjtß mtpni^mlpubutß ^ II upana
utißrlblrßHi^j uiupu^Jumpni-P-lnub L. uiißritiujb *^fl'g^l^g^ u^f^ututuu L. «lullratf»
muLm II. u^ß-jfLM^ np i^lb^ ßiujuop upu^ft J^^^qp'ßl^ ^unutumuibinuMa
d. h. »Sie schufen auch Hymnen süß und schön an Melodie und
gedankenreich zur Geburt Christi und zur Darbringung im Tempel,
zur Taufe und zur Ankunft in Bethania und in Jerusalem, zur
großen Passionswoche und Auferstehung, zur Himmelfahrt und zur
Herabkunft des Geistes, auf das Kreuz und die Kirche und zu
anderen Herrenfesten, und zu Allerheiligen, zum Bußfeste und zu
Allerseelen, verschiedenartige und mannigfaltige und zahllose, die
bis heute in der armenischen Kirche in Gebrauch sind.« Wenn man
nun selbst annehmen wollte, unter den anderen Herrenfesten seien
sämtliche anderen Herrenfeste als die genannten zu verstehn, was
aber offenbar nicht der Fall ist, dann kommt noch immer nicht fast
das ganze Hymnarium heraus, sondern ein ganz bescheidener
Nerses Ter-Mikaelian, Das anneziische Hymnarium. 245
Bruchteil desselben. Davon kann sich jeder leicht überzeugen, der
die lange, vom Verfasser S. 5— 8 in Uebersetzung aufgestellte Liste
der Ueberschriften der einzelnen Bestandteile des heutigen Hymna*
riums vergleicht. Nach dem Referat klingt es freilich so, als ob
Eyriakos alle auf Heilige gedichteten Hymnen den Uebersetzem des
fünften Jahrhunderts zuschriebe, und man könnte sogar vermuten,
er habe außer den bereits erwähnten noch verschiedene, zahllose
derselben Periode zugeteilt. Es ist aber ganz klar, daß sich up^n^
mSrbbßntX nur auf das Allerheiligenfest beziehen kann. Wie könnte
Kyriakos sonst an anderen Stellen seines Werkes bestimmte Hymnen
auf bestimmte Heilige ganz bestimmten Verfassern zuschreiben, die
lange nach den sogenannten Uebersetzem lebten? Und was den
Schlußsatz anbetrifft, so erwähnt derselbe ganz entschieden keine
anderen, vorher nicht ins Auge gefaßten Hymnen, sondern bemerkt
nur, als Apposition zu dem Verhergehenden, daß die genannten
Hymnen verschiedenartig und groß an Zahl sind. Wäre es anders,
80 würde der Satz durch L >und€ angeknüpft worden sein. Dieser
Bericht soll also mit der erwähnten, S. 55 mit deutscher Uebersetzung
abgedruckten Erzählung von der Revision des Hymnariums unter
Nerses UI. in Widerspruch stehn. Die Stelle lautet in der Ueber-
tragung des Verfassers: »Es geschah einmal, daß er (Nerses HI.)
mit einer sehr großen Menge von allen Seiten des Landes am Feier-
tage der Verklärung in Baguan war. Und die Hymnen in der
armenischen Kirche waren so zahlreich geworden, daß eine Provinz
die der anderen nicht kannte. Eine Seite fing den Hymnus aus dem
Kanon der Verklärung an, die andere aber konnte es nicht wechsehi,
und es wurden viele Hymnen gewechselt, aber man kannte auch
nicht die anderen. Darauf wählte der Patriarch Nerses unter Zu-
stimmung der Synode die brauchbaren und die nützlichen, damit in
allen Kirchen jeden Tag ein und derselbe Gottesdienst sein soll,
nach der Bestimmung des Tages. Und man wählte gelehrte Männer
ans, damit sie das ganze Land Armenien bereisen und dieselbe
Ordnung stiften sollten, die bis zu dem heutigen Tage ist.« Diese
Uebertragung gibt in einem Punkte das Original nicht in verstehbarer
Weise wieder — von Ungelenkigkeiten des Ausdrucks sehe ich
natürlich ab — , nämlich in dem mechanischen Ersatz des armenischen
t^b^L ^^^^ >wechseln<. Es handelt sich um einen Antiphonal^^
gesang. Die eine Partei begann einen bestimmten Hymnus, aber
die andere, mit demselben nicht hinlänglich vertraut, wußte nun
licht mit dem Oegengesang richtig einzufallen, was Kyriako» korzi
246 G5tt. gel. Anz. 1906. Nr. 8.
durch n^ ^T«*^ ^n\plri_ angibt. Im folgenden Satz wird dann ^nfmirg^
im eigentlichen Sinne angewandt, d. h. sie ließen einen Wechsel von
Hymnen eintreten, versuchten es mit anderen Hymnen, bei denen
der Wechselgesang aber auch nicht gelang. Inwiefern widersprechen
sich nun die beiden Stellen aus Eyriakos' Oeschichtswerk? Da ich
den Widerspruch nicht zu sehn vermag, lasse ich den Verfasser
selbst reden: >Wir wollen davon absehn, daß zu Lebzeiten Eyrakos'
(der Verfasser gebraucht stets diese Mischform aus Kopiaxöc und
\^^pm^ttu) das Hymnarium schon durch Nerses Schnorhali sehr viel
bereichert und verändert war ; wir wollen davon absehn, daß Kyrakos
die ganze Tätigkeit der vor- und nachnersesianischen Zeit den Ueber-
setzern zugeschrieben hat; woher weiß Kyrakos, daß die von den
Uebersetzem gedichteten Hynmen noch immer im kirchlichen Ge-
brauch sind? Beide Berichte verneinen sich gegenseitig. Es heißt
nicht Nerses HI. oder Barsegh Wardapet Tschon hätten die Dich-
tungen der Uebersetzer in aller Treue bewahrt und nur Dichtungen
anderer Verfasser gestrichen; es heißt vielmehr ,die brauchbaren
und nützlichen', dann kann auch nicht davon die Rede sein, daß alle
die aufgezählten Hymnen, die zu Lebzeiten Kyrakos' im Gebrauch
waren, Anspruch auf die Namen der Uebersetzer erheben könnten.«
Nun, glfickauf zur Entzifferung dieser rätselhaften Inschrift! Einen
kleinen Beitrag hierzu kann und muß ich jedoch auch liefern. Ich
kann dem Leser wenigstens erklären, wie es kommt, daß der Vardapet
Basilius, genannt Dschon (des Verfassers Barsegh Wardapet Tschon),
von dem in Kyriakos' Bericht nichts zu lesen war, so unerwartet
den Schauplatz der Diskussion betritt Zwei im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts herausgegebene Werke erzählen nach ungenannten
Quellen, Nerses HI. habe den Vardapet Basilius, genannt Dschon,
mit der Aufgabe betraut, die Auswahl der Hymnen vorzunehmen.
Diese beiden Berichte, die der Verfasser vorher besprochen hatte«
sind nun offenbar in der Hitze des Gefechts in seiner Erinnerung
mit den Angaben des Kyriakos zu einer einheitlichen feindlichen
Erzählung verschmolzen. Es versteht sich von selbst, daß ich mit
alledem nicht behaupten will, dem Bericht des Kyriakos sei ein un-
bedingtes Vertrauen entgegenzubringen. Es mag sein, daß alles
falsch ist, was er zu dieser Frage sagt. Ich meine nur, man müsse
auch dem Werke eines längst dahingegangenen Schriftstellers, das
von Anfang bis zu Ende den Eindruck einer ruhigen, nUchtemen
Erzählung macht, soviel Achtung zollen, daß man seine Angaben
nicht ohne jeden Grund beanstandet. Die wiederholt aufgeworfene
Frage, woher Kyriakos das alles wisse, läßt sich überall stellen und
Nenes Ter-Mikaelian, Das armeniBche Hymnariom. 247
bringt einen doch wohl übertrieben wohlfeilen Skeptizismus zum
Ausdruck. Woher weiß z. B. derselbe Eyriakos das kleine, sicher-
lich leicht der Vergessenheit ausgesetzte Ereignis, daß der Patriarch
Photios Yon Konstantinopel seinem Briefe an den König Aschot I.
ein Stückchen vom Kreuze Christi beilegte oder wenigstens etwas,
was er dafär hielt oder ausgab? Das weiß der Verfasser wahrschein-
lich auch nicht, und ich weiß es auch nicht. Aber das weiß ich,
daß Kyriakos etwas durchaus Wahres erzählt Denn der nur armenisch
erhaltene Brief des Patriarchen Photios (IlpaBocJiaBHUJt IlajecTHHCRUt
GdopHHR'L, ToitbXI, BunycRX nepBBifi 210—213, ^h^/i^ P^iß'^s
279—282) schließt mit den diesen Bericht bestätigenden Worten:
^mi^btA ft t^m^maiuiükm^ Wßtmniju^plb^m^ i|iiiiiim.iiifitf2Er (fim^u >Wir
schicken Deiner tapferen Familie und hohen Persönlichkeit das An-
denken des Segens von dem angebeteten gottempfangenden, verehrten
Kreuzet. So dUrfte aber wohl noch manches bestätigt werden, was
heute, wenn's nicht in den Kram paßt, kurz beiseite geschafft wird,
und auf jeden Fall ist das die Aufgabe, die entlegensten Winkel
nach Zeugnissen zu durchstöbern, nicht das billige Prunken mit
Nichtwissenkönnen. Auch hinsichtlich des Gebrauchs der Ausdrücke
MVft/oir »Psalm<, Irpf ^iifLap >geistliches Lied< und anderer dürfen
wir uns, glaube ich, nicht einfach mit den Ergebnissen des Verfassers
beruhigen. Er weist auf eine Stelle hin, wo der Ausdruck >geist-
liches Lied< auf einen Psalm angewandt wird, und schließt nun, daß
dieser Ausdruck immer diese Bedeutung habe. Ist es nun aber
nicht auffällig, daß wiederholt von Psalmen und geistlichen Liedern
geredet wird? Ich gebe zu, es kann einfach Tautologie sein, was
namentlich bei Faustus von Byzanz naheliegt, dessen umqJnu^i^ L
^üvL^ W^/*®*^ III 11 noch nicht sein schlimmstes Beispiel sein
würde. Ich gebe auch zu , daß Koriuns umqJhu^i.^ L op^L%p-lrutir^
L Irpfo^ ^nfLnpo^ »mit Psalmou, Lobgesang und geistlichen Liedern <
(S. 42. 45) auffällig an Eph. 5, 19 und Kol. 3, 16 erinnert. Aber man
hat doch sicherlich auch im alten Armenien nicht nur in Zitaten
geredet und sie vor allem doch sicherlich nicht immer angewandt,
wenn sie nicht paßten. Und sollte nicht eine andere Stelle bei
Koriun, wo er sagt, Mesrop habe kluge und lernbegabte Knaben mit
zarter Stimme und langem Atem (jirpiwpnf^u) um sich versammelt
(S. 21), durch den Ausdruck jirptucft ^^P^ziell auf den Hymnen-
gesang hinweisen? Es ist zuzugestehen, daß der Ausdruck nicht ini
348 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
Entferntesten zwingend ist. Aber der lange Atem spielt bei der
Psalmenrezitation eine so yerhältnismäßig bescheidene, bei dem
armenischen Hymnengesang mit seinen außerordentlich lang hin-
gezogenen Tönen eine so große Rolle, daß ich meine, man denkt bei
der Lektüre von Koriuns Bericht unwillkülich an Hymnen. Zur Be-
antwortung der Frage nach den Verfassern der einzelnen Hymnen
werden sieben Quellen ausgenutzt: die Verfasserliste am Ende des
heutigen, in Etschmiadsin gedruckten Hymnariums, Angaben des
Martyriologiums, Berichte von Geschichtsschreibern, der die Hymnen
behandelnde Abschnitt aus dem Buch der Fragen von Gregor von
Tathey, ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gedicht eines
Priesters Stephanos, die Verfasserliste am Anfang des gedruckten
Hymnariums und endlich Angaben in verschiedenen Handschriften.
Die ersten beiden Quellen fertigt der Verfasser, und hinsichtlich der
ersten unbedingt mit Recht, als wenig bedeutend kurz ab. Wichtiger
erscheinen ihm die Historiker und unter diesen vor allen der kurz
vorher noch so unfreundlich behandelte Eyriakos, dessen Bericht
über die Erweiterung des Hymnariums durch Nerses Schnorhali
> völlig zuverlässig ist«. Der Abschnitt aus dem Buch der Fragen
ist im Grundtext und einer Uebersetzung angeführt, das Gedicht des
Stephanos leider nur im Urtext, da eine Uebersetzung nach des Ver-
fassers leider nicht begründeten Ansicht überflüssig ist, und die Ver-
fasserliste am Anfang des gedruckten Hymnariums, die merkwürdiger-
weise als die maßgebende Quelle bezeichnet wird, ebenfalls nur in
der Grundschrift. Die Randnotizen der Hymnarienhandschriften werden
nur ganz nebenbei kurz behandelt, was zu bedauern ist. Denn ge-
rade da läßt sich noch neues finden. Das Ergebnis der ganzen
Untersuchung ist im wesentlichen wieder weise Beschränkung: was
nach Nerses Schnorhali geschieht, liegt klar vor, das frühere weiß
man nicht.
Alles in allem muß ich sagen: die vorliegende Arbeit ist ver-
früht und übereilt. Das soll nicht besagen, daß sie schlecht sei,
keine Leser verdiene. Leser möchte ich ihr im Gegenteil recht viele
wünschen, und ich bezweifle auch nicht, daß heute, wo es in Europa
noch so jämmerlich um eine armenische Philologie bestellt ist, mancher
aus dem Buche Gewinn ziehen wird. Uebereilung zeigt schon äußerlich
die Fülle von Flüchtigkeiten, die der Verfasser leicht hätte vermeiden
können. Ich rede nicht von den Mängeln des Ausdrucks, die man
dem Ausländer nicht allzusehr verübeln darf und die ich in letzter
Linie aufbauschen möchte, da ich mir bewußt bin, wie ich selbst in
fremden Sprachen rede und schreibe. Das aber konnte vermiedeii
Nerses Ter-Mikaelian , Das armenische Hymnarium. 249
werden, daß armenische Wörter bald in Originalbuchstaben, bald in
Umschrift erscheinen, und zwar ohne jeden erkennbaren Plan, daß
der Titel Vardapet einigemal, wie es sich auf deutsch gehört, vor
dem Namen steht, meist aber diesem folgt, daß Eigennamen ganz
nach Laune bald in armenischer, bald in griechischer, bald in latei-
nischer Form angeführt werden und dergleichen mehr. Diese Plan-
losigkeit zeigt sich aber auch in größerem Stil trotz scheinbar
scharfer Gliederung in den drei Kapitelüberschriften, und vor
allem darin, daß das Buch keinem bestimmten Leserkreis angepaßt
ist. Leuten, die ohne Kenntnis des Armenischen an das Buch heran-
treten, nützt es nichts, daß ein ihnen unverständliches langes und
langweiliges Gedicht und gar über drei Seiten des gedruckten
Hymnariums ohne Uebersetzung vorgelegt werden. Für die Mit-
forschenden aber enthält das Buch viel zu viel des Elementaren, ist
es übermäßig in die Breite gezogen. Man kann sich überhaupt des
Eindrucks nicht erwehren, daß eben ein Buch um jeden Preis schnell
fertig gemacht und dabei doch auf einen stattlichen Umfang gebracht
werden sollte. Und das ist schade. Es wäre besser gewesen, der
Verfasser hätte alles das, was er hier niedergelegt hat, noch einige
Zeit als eine Vorarbeit zurückbehalten und sich dann tief in die
vielen Hymnarienhandschriften versenkt, die Etschmiadsin ihm zur
Verfügung stellen konnte. Da würde sich sicherlich noch manches
Rätsel gelöst haben und vielleicht schon ein grundlegendes Ergebnis
möglich geworden sein. Wie die Sache nun aber einmal liegt, kann
man nur wünschen, daß er das Studium nicht für abgeschlossen
halten möge, weil sein Buch abgeschlossen ist, und sich selbst daran
mache, es durch ein anderes Werk zu ersetzen, das dasselbe Problem
auf breitestem Grunde behandelt. Der Dank, den man ihm auch
jetzt schon für seine Mühe schuldet, wird ihm dann in bedeutend
erhöhtem Maße dargebracht werden können.
Groß-Lichterfelde. Franz Nikolaus Finck.
Glti. f«l. Ans. 190e. Nr. S. 17
250 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 8.
Reeneil des Historlens des Gaules et de la Franee. Tome vingt-quatri^me,
contenant les enqu^tes administratives du r^gne de Saint-Louis
etla Chronique de 1 'Anonyme deB^thune, p.p. Leopold Delisle.
Premiäre et seconde parties, Paris 1904. 885* and 940 S. folio.
Es ist eine gewaltige Fülle bisher unbekannten Materiales, die
Delisle mit gewohnter Meisterschaft hier vor uns ausbreitet, und es
wird geraume Zeit dauern, bis es gelingt, die überreiche Gabe zu
verarbeiten und in den gangbaren Hilfsmitteln zur allgemeinen
Kenntnis zu bringen. Der Inhalt des zur Bequemlichkeit der Be-
nutzer in zwei Halbbäude gegliederten Bandes (mit fortlaufender
Seitenzählung) gliedert sich folgendermaßen: Im Vorwort gedenkt
Delisle in ehrenden Worten seines Lehrers Natalis de Wailly, auf
dessen Anregung die Aufnahme urkundlicher Quellen in die letzten
Bände des Recueil zurückzuführen ist. Unter diesen waren be-
sonders in Aussicht genommen die Protokolle der Umfragen, die
König Ludwig der Heilige veranstalten ließ, um den fortwährenden
Klagen der Untertanen über Beamtenwillkür möglichst gründlich ab-
zuhelfen. Die Geschäftsführung der ordentlichen Beamten mußte
durch außerordentliche, durch Königsboten, wie man in Erinnerung
an karolingische Zeit sagen würde, geprüft und dem König unmittel-
bar Bericht erstattet werden. Solche 'Königsboten waren unter
Ludwig fast sämtlich Geistliche, zumeist Dominikaner und Franzis-
kaner. Die beiden neuen Orden stellten sich demnach durchaus in
den Dienst der werdenden modernen Monarchie. Die politische
Bedeutung guter Verwaltung war natürlich auch den Vorgängern
Ludwigs nicht entgangen. Seinem Großvater Philipp August werden
schon in den Briefstellern aus dem ersten Regierungsjahrzehnt sehr
beherzigenswerte Grundsätze zugeschrieben. Aber erst seit dem
Anfang des 13. Jahrhunderts, seit der ganz unverhältnismäßigen
Gebietserweiterung des französischen Staates durch die vormals eng-
lischen Besitzungen auf dem Festlande, mußte die Frage brennend
werden, ob es gelingen würde, die neu gewonnene Bevölkerung mit
der Veränderung der Dinge auszusöhnen und zu guten Franzosen
zu machen. Bemerkenswert und in hohem Grade rühmlich erscheint
für die französische Verwaltung , daß die von Richard Löwenherz so
furchtbar ausgesogene Normandie gar keinen Versuch gemacht hat,
bei England zu bleiben, diese Landschaft, auf der doch die Kraft
des anglo-normannisch-angevinisch-aquitanischen Reiches vornehmlich
ruhte. Delisle hat alle Klagen-Protokolle, deren er habhaft werden
Recueil des Historians de« Gaules et de U France. XXIV. 251
konnte — die meisten sind verloren gegangen — in diesem Bande
vereinigt. Die Absicht des Königs ging dahin, die schlechten Ver-
walter zu strafen und aus seiner Tasche den angerichteten Schaden
zu ersetzen, ein Streben, das heute etwa bei den Erwägungen über
Entschädigung unschuldig Verurteilter in Erinnerung gebracht werden
kann. Waren die Geschädigten selbst oder ihre Erben nicht aufzu-
finden, so wandte Ludwig ihren Anteil den Armen zu. Aus der Er-
laubnis, die ihm der Papst dazu gewährt, ersehen wir, daß es dem
König in vollkommen idealer Auffassung seines Fürstenamtes darum
zu tun war, sein Gewissen zu entlasten und das in seinem Namen
geschehene Unrecht wieder gut zu machen. Die Nachfolger des
frommen Herrschers entsandten auch ihrerseits Kommissare, aber der
Geist war jetzt anders. Es war nicht mehr von Billigkeit und Er-
barmen mit dem kleinen Mann die Rede, sondern von den Mitteln,
durch hohe Geldstrafen den Fiskus zu bereichem. Delisle versäumt
nicht, ausdrücklich zu betonen, daß die Klagen ein durchaus ein-
seitiges Bild der königlichen Verwaltung geben, weil darin nur die
Mißbräuche zur Sprache kommen.
Eine ganz ungeheure Arbeit steckt in dem Verzeichnis der
königlichen Baillis und Seneschalle von den Anfängen bis zum
Regierungsantritt Philipps von Valois (S. 15*--270*). Es wird immer
allen, die sich mit der inneren Geschichte Frankreichs befassen, die
wertvollsten Dienste leisten. Einzelheiten herauszugreifen ist kaum
möglich. Ich erwähne nur, was über die Pr^vöts von Paris gesagt
wird, da diese gelegentlich eine politische Rolle gespielt haben«
Recht schwierige verfassungsgeschichtliche Fragen mußten dabei ge-
streift werden.
Vom Standpunkte der deutschen Geschichte sei hingewiesen auf
die Baillis der Freigrafschaft und der Stadt Lyon (S. 179*flF.). Im
Jahre 1296 urkundet ein Ritter als Bailli Philipps des Schönen in
der Grafschaft Burgund. In Lyon setzt derselbe König 1292 einen
>gardiator< ein, der gleich seinen späteren Amtsgenossen die An-
gliederuug des ehemaligen kaiserlichen Gebietes an Frankreich
wesentlich förderte.
Als »Preuves de la Preface (S. 271*— 368*) sind 262 Urkunden
und Aktenstücke zusammengestellt, von denen nur weniges schon ge-
druckt war. Ein alphabetisches Verzeichnis [Register] (S. 373* bis
385*) erleichtert Nachforschungen nach einzelnen Beamten der
Zentralverwaltung.
Dann beginnen die Texte. S. 1—750 werden die Klagen, queri-
moniae, und die Umfragen, inquisitiones, abgedruckt. Die meisten
17*
252 Gott gd. Anz. 1906. Nr. 3.
stammen aus dem Jahre 1247, sonst 1248. Die übrigen Stücke,
darunter gewahrte Entschädigungen (restitutiones) , Einwände gegen
erhobene Klagen (exceptiones) , Urteile der Eönigsboten (sententiae
a regiis nunciis prolatae), reichen von 1254 — 1269.
Ganz besondere Beachtung verdienen für die allgemeine Kirchen-
gescbichte jene Einwände gegen die Klagen, die in den albigensischen
— wenn der Ausdruck gestattet ist — Gebieten gemacht wurden.
Die Sache verhielt sich so: die Feinde des nordfranzösischen
Königtums waren teils nach der ersten Eroberung teils nach den
wiederholten Aufständen ihres Besitzes beraubt worden. Sie reichten
Vorstellungen gegen das ihnen gegenüber geübte Verfahren ein und
diese . wurden geprüft. Oft handelt es sich darum , ob einer ein
faiditus gewesen, das heißt seinem alten Herrn treu geblieben war.
Der vereidigte Zeuge bekundet beispielsweise gegen die Klage der
Rica : dixit se vidisse fratrem Ricae faiditum tempore comitis Montis-
fortis (2, 245 ; Nr. 1). Ein andermal heißt es : Arnaldus fuit immuratus
pro haeresi, ipso teste viOente (Nr. 7). Aus dem Munde von Augen-
zeugen bekommen wir auch Mitteilungen über die großen Ereig-
nisse während der Eroberung des ketzerischen Südens durch den
Norden.
Völlig anderer Art ist die S. 750 — 775 erstmalig abgedruckte
Chronik des Anonymus von B^thune. Delisle nimmt an,
worin man ihm beipflichten wird, daß der Verfasser derselbe ist, wie
der der sogenannten Histoire des dues de Normandie et des rois
d' Angleterre , und eben dieser ist, wie Holder -Egger in den MGH.
SS. 26, 699 gezeigt hat, ein Anonymus von B^thune. Der Wert der
Chronik ist nicht gering. Für die Geschichte der Schlacht bei
Bouvines hat Luchaire sie schon für seine anziehende Schilderung in
der Histoire der France, die Lavisse herausgibt, benutzt. Ueber den
Tod^) Kaiser Friedrichs des Rotbarts bringt der Anonymus S. 755
einen kurzen Bericht, der zusammengefaßt werden mag: Der Kaiser
schlug sein Zelt am Ufer eines Flusses auf, der nicht sehr groß
war. Mehrere Ritter nahmen der Hitze wegen ein Bad und er auch.
Er sah, wie einer der Ritter dem Ertrinken nahe war, und keiner
Hilfe zu bringen wagte. Da wollte er selbst es tun, aber der Er-
trinkende klammerte sich an ihn und beide kamen um. »Es war
einer der schmerzlichsten Unglücksfälle, die der Chri.9tenheit zustoßen
konnten.« \.
1) Infolge eines Versehens ist der Todestag in der Anmerkt jng 5 falsch an«
gegeben worden. Es maß heißen: 10. Jon! 1190. \
Recadl des Eistoriens des Gaules et de la France. XXIV. 253
Was die Herkunft des Berichtes anlangt, so ist zu bemerken,
daß Robert V. yon Bethune auf dem Wege nach dem heiligen Lande
in Sutri starb (S. 756), wohin er in der Begleitung des Grafen
Philipp von Flandern gegangen war.^) Der Anonymus dürfte sich
im Gefolge der Herren befunden und den Grafen in das christ-
liche Lager vor Äkkon begleitet, hier auch die Kunde vom Tode
des Kaisers gehört haben. In der grundlegenden Abhandlung
Riezlers^ finde ich diese Todesursache, nämlich infolge des Ver-
suches, einen anderen zu retten, nicht erwähnt und meine daher,
daß sie sonst nicht quellenmäßig belegt ist. Auch sie dient wohl
dem Zwecke, den zufällig beim Bade erfolgten Tod des Kaisers
moralisch wertvoll zu machen.
Von den Mitarbeitern Delisles ist Simeon Luce während des
Druckes gestorben. Elie Berger, der Verfasser der Werke über
Blanka von Kastilien und die Beziehungen Ludwigs IX. zu Innocenz IV.,
hat sich durch die Anfertigung der ausgedehnten Register kein ge-
ringes Verdienst erworben. Nicht anders als mit aufrichtigem Danke
kann man von der trefflichen Veröffentlichung scheiden. Nur eines
vermißt man : jede Andeutung über eine Fortführung des Recueil des
Historiens de la France. Möchte es dem Altmeister der französischen
Geschichtsforschung vergönnt sein, die weitere Sammlung der fran-
zösischen Chronisten nach neuem Plane auf Grund seiner einzigen
Quellenkenntnis in die Wege zu leiten !
Jena. Alexander Cartellieri.
1) Ueber die Beteiligung Philipps von Flandern am dritten Ereozzuge
habe ich im zweiten, soeben erschienenen Bande des Philipp Aognst gehandelt.
Vgl. S. 161.
2) Der Kreuzzug Kaiser Friedrichs I., Forsch, z. d. Gesch. 10 (1870), Bei-
lage 2, S. 126.: Das Ende des Kaisers in Geschichte und Sage.
954 Gdti gel. Ans. 1906. Nr. 3.
JeM TMw, Vie d'alHadjdj&dj ibn Yousof, d'apr^s les sources
a r ab es. Paris 1904, Ubrairie E. Bouillon. XXI, 364 S. 13 fr.
In der Einleitung beißt es, Musa b. NuQair im Occident und
Haggag b. Jusuf im Orient seien, von den Cbalifen abgesehen, die
beiden hervorragendsten Gestalten in der islamischen Geschichte
während der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach der Higra.
Musa sei in Europa bekannt, Haggag dagegen kaum, jedenfalls nicht
nach Verdienst und nicht nach dem Maße der reichen Kunde über
ihn in den arabischen Quellen. Diese Lücke solle durch das vor-
liegende Buch ausgefüllt werden.
Das erste Buch behandelt die Herkunft, die Kindheit und das
erste Auftreten des Helden. Das Material darüber wird sehr voll-
ständig und sehr ausführlich zusammengestellt. Es sind meist ten-
denziöse Anekdoten, in denen sich das Urteil der Späteren abspiegelt
Niederer Abkunft war Haggag schwerlich, da seine Mutter eine vor-
nehme Frau war; zum Schulmeistergehilfen wird er vielleicht deshalb
gemacht, weil er sich später Verdienste um die Lesung des Korans
erwarb. Auch sein Debut in dem Feldzug gegen Mug'ab liegt im
Dunkeln; es ist sehr zu bezweifeln, daß er als Jüngling schon der
Pädagoge gewesen sei, der die Disziplin im verlotterten Heere des
Abdalmalik hergestellt habe. Eigentümlich ist die Meinung P^riers,
daß Haggag seine Vaterstadt Tftif der Vergessenheit entrissen habe.
Aus Täif stammten doch auch Abu Ubaid (Muchtftrs Vater), Ziäd b.
Abihi (der Vater Ubaidallahs) , Mughira b. Schu'ba. Der letztere
soll allerdings bloß ein Poet gewesen sein, und zwar offenbar kein
po^te remarquable; denn es wird nicht wie bei Ka'b al Aschqari
gerügt, daß Brockelmann ihn in seiner arabischen Literaturgeschichte
anzuführen vergessen hat. Die ältesten Genossen des Propheten
sollen >Missionarec betitelt sein; man wußte das bisher nur von
Zubair, dem ^j]y^ (abessinisch = Apostel). Ebenso hat man bisher
unter ^li^l ^IJ^I nicht rejetons des serpents verstanden, sondern
Söhne von unverehelichten Müttern.
Das zweite Buch handelt von Haggag als dem Zuchtmeister des
Iraq, namentlich von der Niederwerfung der Chavärig und des Ibn
Asch'ath, und von den Kämpfen in Choräsan und Indien. Die mili-
tärischen Berichte der Quellen werden viel ausführlicher reproduziert
als es für eine Biographie des Haggag erforderlich war, der zwar die
Heere ausrüstete und die Befehlshaber instruierte, selber aber ge-
Pdrier, Vie d'alHadjdjftdj ibn Yonsof. 265
wohnlich nicht mit ins Feld zog. Erst im dritten Buch tritt seine
Person wirklich in den Vordergrund. Wichtige Maßnahmen seiner
Verwaltung kommen zur Sprache, die wichtigste aber, sein Versuch
zur Steuerreform, wird keineswegs nach Verdienst gewürdigt. Mit
Liebe wird dagegen aber seine Beziehungen zu dem Herrscherhause,
zu seiner Verwandtschaft und zu den Dichtern geredet; zum Schluß
über seinen verschieden beurteilten Charakter, Über seinen Tod
und über die Reaktion gegen seine Partei unter dem Ghalifen
Sulaiman.
Parier versichert öfters, er habe die Absicht, sich nur auf das
wesentliche zu beschränken. Das ist ihm indessen nicht gelungen.
Er ist zu sehr an die Tradition gebunden und erhebt sich nicht über
den Rohstoff. Er stellt das Unbedeutende und Nichtige auf eine
Linie mit dem Wesentlichen. Er übt auch keine literarische Kritik.
Er bevorzugt nicht grundsätzlich die älteren Berichte vor den
späteren, die immer parteiischer und anekdotischer werden; er unter-
scheidet bei Tabari nicht dessen Autoritäten, auch wenn dieser
sie angibt — das ist zwar manchmal nicht nötig, aber auch,
wo es nötig ist, wird es unterlassen. Die großen Probleme der
inneren Geschichte des Islams, die in der Zeit des Haggag spielen,
werden nur oberflächlich berührt und meist ganz unselbständig nach
der herrschenden Meinung gelöst; sie werden weder klar gestellt
noch klar beantwortet. So z. B. das Verhältnis der politischen und
religiösen Parteien zu einander ; die Rivalität der Kalb und Qais, der
Jemen und Mudar und die Verallgemeinerung der partikularen Zwiste
zu einem großen Stammdualismus, der das ganze Reich durchzieht;
die Stellung der Mavftli zu den arabischen VoUbUrgem; der Anta-
gonismus zwischen den Provinzen, besonders zwischen Syrien und dem
L:&q. Es kommt alles nicht recht heraus. Wäre das Werk vor
einem halben oder einem ganzen Jahrhundert erschienen, so wäre
es als Stoffsammlung willkommen gewesen. Im Jahre 1904 bedeutet
es keinen Forschritt über Weil hinaus, es ist schon beim Erscheinen
veraltet. Einer ausführlichen Begründung dieses Urteils an dieser
Stelle bin ich überhoben, weil sie schon vorliegt in meinem Buche
über das arabische Reich und seinen Sturz (Berlin 1902) und in den
Vorarbeiten dazu, den Prolegomena zur ältesten Geschichte des Is-
lams (Berlin 1899), dem Referat über die Kämpfe der Araber mit
den Romäern (Göttingen 1901) und der Abhandlung über die religiös-
politischen Oppositionsparteien im alten Islam (Berlin 1901). Parier
ist indessen noch jung, ä^ve diploma de P^cole pratique des hautes
^tttdes, und die Schuld am Mißlingen sdner Arbtit, als einer hiMo-
256 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 3.
rischen Leistung, liegt zum größten Teil daran, daß es ihm an der
nötigen Wegweisung gefehlt hat. Man kann es bedauern, daß so
viel Fleiß und Eifer ihn nicht zum Ziel geführt bat; aber er hat
sich doch einigermaßen in die Quellen hineingelesen, und diese
Arbeit wird für ihn nicht verloren sein. Was er nicht ist, ein
Historiker, kann er noch werden.
Göttingen. Wellhausen.
Berlchttgang.
Man lese:
S. 99 Z. 12 V. 0. satun statt sätun.
S. 112 Z. 18 y. u. fi-Deklination statt a-Deklination.
S. 134 Z. 6 V. 0. HaerutoulaftR statt Haerutoulafir.
S. 146 Z. 10 v.o. tel statt tel.
S. 148 Z. 12 y. 0. und daß statt und das.
Czemowitz. Th. y. Grienberger.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Rudolf Meißner in GGttmgen.
April 1906. No. 4.
Friedrieh Spitta, >Ein feste Burg ist unser Oott«. Die Lieder
Luthers in ihrer Bedeutung für das evangelische Kirchen-
lied. Gottingen, Vandenhoeck und Ruprecht 1906. ¥111,410 S. Mk. 12.—.
Zwei traditionellen Anschauungen will Spitta mit diesem Buche
den Todesstoß geben: 1. der Anschauung, als sei die klassische
Periode des evangelischen Kirchenliedes der Reformationszeit, wie
sie vor allem durch den Namen Luther gekennzeichnet werde, die
Periode des objektiven Bekenntnisliedes. Dem stellt Spitta die These
entgegen: Das Neue im evangelischen Eirchenliede gegenüber der
Objektivität der dogmatischen und liturgischen Formen der katho-
lischen Kirche besteht in dem Ausdruck des religiösen Indivi-
dualismus. 2. Die hergebrachte Anschauung, als sei Luther erst
1623/24 unter der Aufgabe, für die Gemeinde Kultuslieder zu dichten,
zum Dichter geworden, ist falsch. Vielmehr stammen die meisten
seiner 1524 ans Licht getretenen Dichtungen aus früherer Zeit. Da-
mit nimmt Spitta eine These wieder auf, die schon Achelis in einem
Marburger Programm 1883 durchzuführen gesucht hatte, ohne dafür
Zustimmung zu finden. Seine Entstehung verdankt das Buch der
Kontroverse zwischen Größler und Tschackert über die Entstehungs-
zeit des Lutherliedes: >Ein feste Bürge. Daher steht dieses Lied
im Mittelpunkt der Untersuchungen Spittas, daher gibt dieses Lied
auch dem Buche den Titel.
Mir ist nicht zweifelhaft, daß Spitta mit der ersten These voll-
kommen recht, mit der zweiten ebenso unrecht hat. Das lahme
Schlagwort von der Objektivität des reformatorischen Kirchenliedes,
das sich von Handbuch zu Handbuch schleppt, wird hofifentlich in
Zukunft verschwinden. Uebrigens hat schon Nelle, das sei nicht ver-
schwiegen, in seinem Schriftchen: Geschichte des deutschen evan-
gelischen Kirchenliedes (Hamburg 1904) einer neuen und richtigeren
Betrachtung, wenigstens Luther gegenüber, Raum gegeben (S. 24fif.;
Spitta S. 373). Man kann der ersten These Spittas zustimmen, ohne
deshalb auch die zweite annehmen zu müssen. Er selbst glaubt
Ottt f^l. Ins. 190«. Nr. 4. 18
258 Gott gel Anz. 1906. Nr. 4.
f reilich, daß aus der ersten die zweite folge, weil er Eultuslied und
persönliches Lied in einen strikten Gegensatz stellt. Wir werden
uns davon überzeugen, daß er damit unrecht hat. Das Buch ist
nun so temperamentvoll und mit Aufbietung eines so reichen ge-
lehrten Apparates und mit soviel Geist geschrieben, daß ich über-
zeugt bin, daß nicht wenige ihm auch in dieser zweiten These zu-
fallen werden. Und so ist zu befürchten, daß an Stelle einer
glücklich ausgemerzten falschen Anschauung eine neue falsche sich
eindrängen wird. Dem entgegenzuwirken, ist vor allem der Zweck
der folgenden Zeilen. Denn mit Bedauern muß ich es aussprechen,
daß die Methode Spittas irreführend und unzuverlässig ist und seine
Resultate daher mit äußerster Skepsis aufzunehmen sind. Ich kann
nicht allen Aufstellungen und Beweisführungen Spittas nachgehen.
Dazu fehlt der Raum. Aber ich glaube, daß meine Untersuchungen
über nur einzelne, und zwar die wichtigsten Partien seines Buches
meine ablehnende Stellung hinreichend begründen und die Methode
Spittas in genügendes Licht rücken werden. Spitta ist von seiner
These so fasziniert, daß er Möglichkeiten für Tatsachen, Vermutungen
für Beweise nimmt. Jede Selbstkritik fehlt. Andere Möglichkeiten
als die, die gerade zu seiner These passen, werden nicht erwogen.
Wo kämen wir in der historischen Forschung hin, wenn wir auf
diese Weise mit den Stoffen umspringen wollten ! So stehe ich nicht
an, das Buch im wesentlichen für verunglückt zu erklären. Das
schließt nicht aus, daß es nicht da und dort Richtiges und Beachtens-
wertes bietet. Möglich bleibt es gewiß, daß Luther schon vor 1523
gedichtet hat, aber es fehlen uns bisher dafür alle Beweise, und
auch Spitta ist nicht imstande, stichhaltige Gründe dafür anzuführen.
Uebrigens, das bleibe nicht unausgesprochen, würde sich unser
Lutherbild in nichts wesentlichem ändern, wenn wir wirklich die
Achelis-Spittasche These annehmen müßten. Um eine Frage ersten
Ranges handelt es sich also nicht. Trotzdem sollen sich nicht Irrtümer
festsetzen, denn wie leicht können aus ihnen, nimmt man sie für
bare Münze, weitere Folgerungen gezogen werden.
Ich nehme mir die Freiheit, von der Ordnung des Buches ein
wenig abzuweichen. Sachlich macht das nichts aus. Auch werde ich
mich nur auf die Psalmdichtungen Luthers beschränken.
L »Aus tiefer Not schrei ich zu dir< (S. 16—28; 42—51).
Spitta behauptet, daß dieses Lied, und zwar in seiner längeren
Rezension, sicher vor 1523, ehe Luther noch daran dachte, fttr die
Gemeinde und den Gottesdienst zu dichten, entstanden sei, vielldcht
schon im Jahre 1510.
Spitta, Ein feste Burg Ist unser Gott 259
Welche Beweise hat er für diese Behauptung?
Als > ausschlaggebende bezeichnet er es zunächst, daß dieses Lied,
das man mit Recht als die >Erone der Psalmenlieder« Luthers an-
sieht, nicht aus dem > Gefühl eigener Unfähigkeit < (S. 16), »aus einer
Stimmung dichterischer Mutlosigkeit < (S. 17; vgl. S. 354; 355), wie
sie Luthers Vorrede zur Formula missae und sein Brief an Spalatin
vom Anfang des Jahres 1524^) aufweisen, stammen könne. Es fragt
sich zunächst, ob diese beiden Schriftstücke wirklich auf eine solche
Stimmung bei Luther schließen lassen. In der Formula missae sagt er :
>Poetae nobis desunt, aut nondum cogniti sunt, qui pias et spiri-
tuales cantilenas (ut Paulus vocat) nobis concinnent, quae dignae
sint in ecclesia dei frequentari<. Und ein wenig später: >Haec dico,
ut, si qui sunt poetae germanici, extimulentur et nobis poemata
pietatis cudant<.^) Eine weitere Stelle dieser Vorrede kann nicht
in Betracht kommen. Ich kann aber in den angeführten Worten
schlechterdings nicht einen Ausdruck > dichterischer Mutlosigkeit«,
des »Gefühls eigener Unfähigkeitc entdecken. Denn von sich selbst
spricht Luther überhaupt nicht. Und aus der Tatsache, daß er
andere zur Arbeit auf dem Gebiete der Liederdichtung anregen
will, folgt doch nicht, daß er selbst zu dieser Aufgabe keine Neigung
und Freudigkeit habe. Er kann doch nicht ganz allein diese Riesen-
aufgabe übernehmen wollen. Für Luthers persönliche Stimmung ist
also aus dieser Stelle gar nichts zu schließen. Wer etwas kühn im
Schlüsseziehen wäre, könnte vielleicht aus diesen Worten heraus-
lesen — was ich aber nicht tue — , daß Luther auch sich selbst
nicht unter die Dichter rechne, also überhaupt noch nicht gedichtet
habe. Dieser Schluß wäre aber nicht weniger gewagt als der, den
Spitta daraus zieht.
Es kommt zweitens der Brief Luthers an Spalatin von Anfang
1524 in Betracht. Hier kann Spitta zunächst nur an die Worte
denken: >Quaerimus undique poetas< und sodann an das Sätzchen:
>Ego non habeo tantum gratiae, ut tale quid possem, quale vellem<.
Der erste Satz wiederholt aber nur, was wir schon in der Formula
missae gelesen haben, und der zweite sagt nur: Ich habe nicht so-
viel Gabe, um das, was ich gern möchte, auch wirklich zu leisten.
Damit ist nur gesagt, daß Luther fühlt, er bleibe mit seinen Lei-
stungen selbst hinter seinem Ideal zurück, nicht aber, daß er keinerlei
Lust verspüre, jetzt zu dichten. Auch Bachmann liest nichts anderes
ans diesen Worten heraus, als > Luther tat mit diesen ersten Ver-
suchen . . . sich selbst und der ihm vorschwebenden hohen Aufgabe
1) de Wette, Luthers Briefe n, 590 =s Enders, Luthers Briefwechsel IV, 273.
2) Werke Luthers ErL A. opp. v. a. VII, 17 = W. A XU, 218.
18*
260 Gott gel Anz. 1906. Kr. 4.
keineswegs geüug<.^) Man kann auch nichts anderes in ihnen finden.
Und wenn Luther in diesem Brief die Abfassung von Gemeindeliedem
geradezu organisiert, indem er die sieben Bußpsalmen auf ver-
schiedene Leute, darunter auch Spalatin und Hans von Dolzig, ver-
teilt, so heißt es doch diese Tatsache wieder nicht richtig deuten,
wenn Spitta sagt, Luther weise die Tätigkeit in dieser Richtung von
sich ab und anderen zu. Daß er selbst nicht mittun wolle, davon
steht im ganzen Brief kein Wort. Im Gegenteil: wer unvoreinge-
nommen den Brief liest, kommt nur zu dem Eindruck, daß Luther
auch mit bei der Sache ist. Sagt er doch ausdrücklich: >Oro, ut
nöbiseum in hac re labores<. Wenn nun auch der Ausdruck nobis-
cum nicht auf Luther allein sich bezieht, sondern auf jene Gruppe
von Männern in Wittenberg, die diese Aufgabe gemeinsam in die
Hand genommen hatten — man beachte den Anfang des Briefes:
Concilium est — ,') so folgt daraus keineswegs, daß sich Luther
nicht als Mitarbeiter fühle, sondern das Gegenteil. Legt er doch an
Spalatin eine Probe seiner Dichtkunst bei, nach dem sich Spalatin
richten solle: >sicut hie habes meum exemplum<. Mit Recht sagt
Spitta, daß man nicht entscheiden könne, welches Lied das gewesen
sei, und sicher hat Enders,') Bachmann*) folgend, völlig unrecht,
wenn er es als unmöglich bezeichnet, daß darunter das Lied >Aus
tiefer Not< verstanden werden könne. Und wenn Luther endlich
am Schlüsse des Briefes sagt, den sechsten Bußpsalm (130. Psalm)
habe er selbst schon übersetzt, so ist es das Nächstliegende, anzu-
nehmen, daß er eben damals das Lied »Aus tiefer Not< gedichtet
habe, wenn nicht entscheidende Gründe dagegen vorgebracht werden
können.
Aus den beiden Schriftstücken Luthers also auf ein > Gefühl
eigener Unfähigkeit« oder auf eine > Stimmung dichterischer Mut-
losigkeitc bei ihm damals zu schließen, ist völlig unmöglich. Und
isomit fällt auch der weitere Schluß dahin, Luther' habe damals das
wundervolle Lied >Aus tiefer Not< nicht dichten können. Aber
Spitta hat noch einen zweiten Grund für seine These ins Feld zu
führen. Wir besitzen bekanntlich das Lied >Aus tiefer Not< in zwei
Rezensionen, in einer kürzeren und einer längeren. In jener sind
die beiden Strophen 2 und 3 der längeren in eine, die zweite,
Strophe, zusammengezogen. Spitta meint nun, die längere Rezension
1) Ztschr. f. kirchL yTissensch. Y (1884), S. 165.
2) Vgl. Enden zur Stelle, S. 274 Anm. 3 und Bachmann in Ztschr. f. IdrchL
Wissensch. V (1884), S. 164.
8) A. a. 0. S. 274, Anm. 4.
4) Ztschr. f. Urchl. Wlssensch. V (1884), S. 165.
Spitta, Ein feste Barg ist unser Gott. 261
sd die ältere, die Luther früher als 1523 gedichtet habe, und die
kürzere sei eine von Luther veranstaltete Bearbeitung der längeren.
Zn dieser Behauptung sieht er sich durch einen Vergleich der
beiden Rezensionen gedrängt. Die kürzere Rezension bietet — das
dürfte das Durchschlagende sein — an einer Stelle einfach Un-
logisches, das sich nicht aus der Vorlage des Psalms, sondern allein
aus der längeren Rezension erklärt. Die Stelle lautet:
Den so du wilt das sehen an,
wie manche sund ich hab gethan,
wer kan, herr, fur dir bleiben. ^)
Die logische Folgerung aus der Tatsache, daß der Dichter
manche Sünde begangen hat, ist doch nicht, daß niemand vor dem
Herrn bleiben, bestehen kann. Wie diese unlogischen Verse ent-
stehen konnten, erklärt sich nur aus der längeren Rezension:
Denn so du willt das sehen an,
was sund vnd vnrecht ist gethan,
wer kan, Herr, fur dyr bleyben?*)
Indem die mittlere Zeile verändert wurde, entstand der Unsinn.
Und noch eine zweite Stelle scheint erst aus der längeren Form
ganz verständlich zu werden. Die kürzere Form liest:
Es steht bey deyner macht allein,
die Sunden zu vergeben,
das dich forcht beide, gros vnd kleyn,
auch yn dem besten leben.
Was soll hier der letzte Vers bedeuten? Die Macht Gottes,
allein Sünden vergeben zu können, zwingt jeden zur Furcht vor
ihm. Der Vers wird nur verständlich, wenn man ergänzt: Und
Sünder sind sie doch alle, auch wenn sie das beste Leben führen.
Diesen Gedanken bietet denn auch die längere Rezension:
Bey dyr gillt nichts den gnad und gonst,
die Sunden zu vergeben.
Es ist doch vnser thun vmbsonst
auch yn dem besten leben.
Also mit der Behauptung, daß die längere Rezension die ältere,
die jüngere die kürzere sei, scheint mir Spitta völlig im Recht zu
sein. Man lese seine Darlegung.
Allein wenn er als Grund für diese Kürzung des Liedes durch
Luthers Hand anführt, Luther sei dazu durch sein im Brief an
1) Wackemagel, Kirchenlied, III, S. 7 Nr. 5.
2) Waekemftgd, a, a. 0. S. 7 Nr. 6.
262 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Spalatin aufgestelltes Ideal für die Psalmenumdichtung veranlaßt
worden, so kann ich ihm darin leider wieder nicht folgen. Er be-
hauptet nämlich, Luther fordere Freiheit vom Wortlaut der Originale
nur, um für das einfache Volk den Sinn klar und bestimmt wieder-
zugeben; dabei aber solle man sich ganz an den Psalm halten. Oder
er formuliert jene von Luther gestellte Aufgabe auch so: > Enger An-
schluß an das Original, Freiheit von dessen Form nur soweit, als es
die Verständlichkeit des Ausdrucks erfordert« (S. 26; vgl. S. 22;
172; 354). Um dieser Aufgabe selbst zu genügen, habe Luther seine
ursprüngliche längere, vom Original sich durch Aufnahme von allerlei
anderen biblischen Gedanken entfernende Dichtung gekürzt, und so
sei die kürzere Rezension entstanden (S. 38).
Ganz offenbar deutet Spitta auch hier jenen Brief an Spalatin
ganz falsch. Er liest aus ihm gerade das Gegenteil von dem heraus,
was drin steht. Da er aber auf diese seine Auffassung sehr viel auf-
baut, da sie geradezu einer der Hauptpfeiler seines Gebäudes ist, so ist es
nötig, der Frage genauer nachzugehen. Was sagt jener Brief? Nach-
dem Luther Spalatin mit der Aufgabe, daß es sich um die deutsche
Umdichtung von Psalmen handele, bekanntgemacht und seine Bitte
um Mitarbeit vorgebracht hat, fährt er fort: >velim autem novas et
aulicas voculas omitti, quo pro captu vulgi quam simplicissima vulga-
tissimaque, tamen munda simul et apta verba canerentur, deinde
sententia perspicua et psalmis quam proxima redderetur. Libere
itaque hie agendum et accepto sensu, verbis relictis, per alia verba
commoda vertendum«. In diesen Worten ist im wesentlichen zweierlei
gesagt: 1. Hauptsächlich kommt es bei der Umdichtung darauf an,
den Sinn des Psalms genau zu treffen^); und 2) in der sprachlichen
Form gilt es, sich frei zu bewegen und wirklich volkstümlich zu
sein. Nicht das ist die Sorge Luthers, man möchte sich zu weit vom
Original entfernen, sondern umgekehrt: er fürchtet, daß man bei
zu ängstlicher Wörtlichkeit in der Wiedergabe in eine unvolkstüm-
liche, höfische oder gelehrte Ausdrucksweise verfalle.^) Ich meine,
daß sich ein Widerspruch zwischen dieser Anweisung und der län-
geren Rezension von >Äus tiefer Not< nur künstlich herausstellen
1) Das geht auch aus folgender SteUe des Briefes an Spalatin herror:
»Habes autem meos Septem Psalmos poenitentiales et commentarios, e quibns
sensum psalmi capere poterisc.
2) Auch Bachmann (a. a. 0. S. 164) umschreibt diese SteUe ganz in dem-
selben Sinne: ». . . nachdem er ausgeführt, wie es sich ihm dabei um freie
Wiedergabe des Sinnes ohne sklavisches Festhalten der Worte und um einfältigen,
volkstümlichen Ausdruck unter Vermeidung höfischer Redeweise handle . . .c Vgl.
dazu auch S. 2D9. Ebenso Küstlin-KaweraUi Martin Luther ^ 1, 536.
Spitta, Ein feste Barg ist nnser Gott. 263
läfit, SO viel wörtlicher auch die Umdichtungen des 67. Psalms:
>£& wollt uns Gott genädig sein«, des 128. Psalms: >Wohl dem,
der in Gottes Furcht steht < und des 124. Psalms: >Wär Gott
nicht mit uns diese Zeit< sein mögen. ^) Daß sich Luther in: »Aus
tiefer Note ein wenig mehr von der Vorlage frei gemacht hat, ohne
doch den Grundgedanken des Psalms zu alterieren, erklärt sich
aufs beste daraus, daß dieser Psalm seiner inneren Stimmung ganz
besonders lag. Indessen selbst wenn Spitta mit seiner Deutung der
Briefstelle Recht hätte, so folgt daraus noch keineswegs, daß sich
Luther unbedingt mit peinlicher Aengstlichkeit an diese Anweisung
sollte gehalten haben. Es würde den Eindruck des Pedantischen
machen, wenn Luther um seiner Theorie willen sollte sein älteres,
ein wenig freieres Lied geradezu verstfimmelt haben. Aber die
Theorie gab dazu nicht einmal einen Anlaß.
Wie aber, so wird man fragen, ist denn dann die kürzere Re-
zension entstanden? Diese findet sich in den beiden Erfurter Enchi-
ridion und im sogenannten Achtliederbuch — alle drei aus dem
Jahre 1524. Keines dieser Bücher hat Luther selbst herausgegeben.
Die beiden Enchiridion hat vielleicht Justus Jonas besorgt, der aber
jedenfalls den Druck nicht überwachte,^ während das Achtlieder-
buch, in Nürnberg oder Augsburg gedruckt, ein Auszug aus diesem
ist.^ Erst das Walthersche Ghoralbuch, das unter Luthers Mitarbeit
zu Wittenberg 1524 nach jenen drei Büchern erschien, bringt Luthers
>Ans tiefer Not< in der längeren Form. Man kommt angesichts
dieser Tatsachen und im Hinblick auf die schwer verständliche
Fassung der kürzeren Form zu der Vermutung, daß die Kürzung
des echten Lutherischen Textes nicht von Luther selbst, sondern von
einem Dritten herrührt, der Gott weiß aus welchen geschmackvollen
Gründen Luthers Lied verstümmelte. Dieser Gedanke scheint auch
Spitta, der doch Luther selbst als Bearbeiter annimmt, gelegentlich
vorgeschwebt zu haben. Denn S. 20 redet er sehr unbestimmt:
»Dabei, nämlich bei dieser Umarbeitung, übersah man< — und we-
nige Zeilen weiter spricht er von einem >Korrektor<, der die Aende-
mngen angebracht habe ; Luther scheint er hier ganz aus dem Auge
verloren zu haben. Eine solche Yerballhornisierung einer Dichtung
Luthers ist bei den damaligen literarischen und buchdruckerischen
1) Andere haben freilich auch hier den Eindruck, daß sich Luther sehr
firei Ton der Vorlage halte. Vgl. Schneider in Luthers Werke, B. A. 8 (1892),
S. SO Anm. 1.
2) ZeDe, Das älteste luthersche Haus-Gesangbuch, 1524. Göttingen 1903.
8. 8. Vgl. auch Köstlin-Eawerau, Martin Luthers >^I, S. 781. Anm. 1 zu S. 538.
3) Zelle, a. a. 0., S. 8.
264 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Verhältnissen dorchans keine Unmöglichkeit. Zeigt doch auch das
Lied >Ach Oott, vom Himmel sieh darein<, in den Erfurter Enchi-
ridion eine unechte Schlußstrophe, ^) während in dem Lied: >Ein
neues Lied wir heben an« zwei Strophen fehlen.')
Aber Spittas Gründe, das Lied nicht in diese Zeit zu setzen,
sind noch nicht erschöpft. Um eine sichere Datierung zu gewinnen,
zieht er noch Luthers Uebersetzungen und Erklärungen des 130.
Psalms heran. Es kommen in Betracht: Die sieben Bußpsalmen von
1517,') in neuer Bearbeitung 1525;^) seine Psalmenübersetzung von
1524;^) seine > Glossen <: dictata super Psalterium von 1513 — 16.^
Außerdem sind die Uebersetzungen der Vulgata, des Hieronymus
und Reuchlins heranzuziehen.
Was findet Spitta durch die Vergleichung des Liedes mit diesem
Material?
1. Die Meinung Bachmanns, daß sich im Liede leise schon die
Uebersetzung von 1524 anbahne, sei Illusion. Darin hat Spitta, so-
viel ich sehe, recht
2. Die Zusammenklänge des Liedes mit der Uebersetzung von
1517 fielen nicht ins Gewicht, da sich die fraglichen Wendungen
auch in Vulgata, bei Hieronymus und Reuchlin finden. Dem kann ich
nicht zustimmen. Denn es handelt sich doch im Lied und in der
Uebersetzung von 1517 um deutsche Wendungen. Treffen sie zu-
sammen, so liegt an sich der Schluß nahe, daß auch die Ab&ssnngs-
zeit des Liedes und die der Uebersetzung nicht weit von einander
liegen werden. Indessen kann sich Luther auch bei einer späteren
Abfassung des Liedes noch an die Uebersetzung von 1517 gehalten
haben. Verweist er doch auch Spalatin in jenem Brief auf diese
Uebersetzung. Es liegt nahe, daß er sich dieses frühere Werk
seiner Feder gerade zu dem Zwecke der Umdichtung für die Ge-
meinde eingehend und prüfend wieder angesehen habe. Trifft dies
auf seine Psalmenübersetzung von 1517, so ebenso auf die bei-
gefügte Erklärung. Von ihr sagt Spitta, und dies ist eine dritte
Folgerung, die er zieht, daß sie dem Liede näher stehe als die
Uebersetzung. Namentlich verwertet er einen Punkt für seine Thesen
nämlich die Erklärung des Wortes Israel. Er stellt fest, daß Luther
1) ZeUe, a. a. 0. S. 103 Anm. zu Z. 1.
2) Ebenda, S. 121 Anm. zu Z. 11. Woher weiß ZeUe, daB Luther diese
beiden Strophen später hinzugedichtet habe?
3) ErL A. 37, 340 ff. ; W. A. 1, 154 ff. Psalm 130 : S. 420 ff. und S. 206 ff.
4) ErL A. 37, 340 ff. mit aufgenommen; noch fehlend in der W. A.
5) Erl. A. 37, S. 104 ff.; Psalm 130: S. 230.
6) W. A. III und IV; Psahn 130: IV, p. 418 ff.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott 265
dafUr eine doppelte Erklärung habe: 1. Israel bedeute den Mann,
>der Gott siebet oder der von Gott ist richtig«, >denn<, fügt Luther
hinzu, > directus cum Deo oder directus Dei seu Deo heifit einer,
der da richtig ist zu Gott. Darum wartet Niemand Gottes, denn die
da recht Israel sind, das sind die Richtigen Gottes«.^) Man sieht,
in dem Begriff >richtigc, wie Luther ihn hier braucht, steckt der
Begriff der > Richtung« (directus) darin: Israel ist der, der die
rechte Richtung hat. Diese Erklärung erscheint im Kommentar des
130. Psalms von 1517. Luther habe sie bis 1520 festgehalten. Von
da ab trete eine neue Erklärung dieses hebräischen Namens auf.
Israel werde von jetzt ab als der Gotteskämpfer gedeutet. Nun be-
hauptet Spitta, daß in den Worten des Liedes:
>So thu Israel rechter Art,
der aus dem Geist erzeuget ward
und seines Gotts erharre«
jene erste Auffassung von Israel vorliege. Allein das ist zu viel ge-
schlossen. Mag zwar das: Israel rechter Art an das >von Gott
richtige erinnern, so geht es doch nicht an, darin jene sprach-
liche Erklärung wiedererkennen zu wollen. Auch hat Luther in
der zweiten Bearbeitung der Bußpsalmen-Erklärung von 1525 folgen-
des geschrieben: >Denn Israel war das sonderlich Volk Gottes, dem
solch Harren gebührt. Dazu stimmt auch der Name. Denn Israel
heißt ein Kämpfer mit Gott. Alle, die nun so fest harren, daß sie
gleich mit Gott drüber kämpfen, das sind rechte Israeliten«. *) Man
sieht, daß diese Stelle ganz gut die Grundlage für jene Stelle im
Liede hätte abgeben können. Wie Luther das Wort Israel auch
deute, das rechte Israel harrt auf Gott, darauf kommt es an. Keines-
wegs kann man also den Schluß ziehen, den Spitta zieht: Im Liede
liegt die erste Auffassung von Israel vor, folglich kann das Lied
nicht nach 1520 entstanden sein. Der Obersatz ist falsch.
Es bleiben endlich 4. einige Anklänge an die Glossen von 1516
übrig, die auf Spitta, vereint mit seinen sonstigen Gründen, einen
solchen Eindruck gemacht haben, daß er keinen Grund sehe, der
uns veranlassen könnte, nicht mit der Zeit der Abfassung von »Aus
tiefer Not« bis zu 1516 hinaufzugehen. Allein, wiegen die wenigen
Stellen wirklich so schwer, daß sie allein vermögen, die Wagschale
zugunsten der These Spittas niederzudrücken? Mir erscheinen sie
so gut wie ganz belanglos.
Das sind Spittas Gründe für seine Datierung des Liedes >Aus
1) W. A. I, p. 210; Erl. A. 37,426.
2) Erl. A. 37,426.
266 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
tiefer Not schrei ich zu dir«. Es fragt sich nun: Hat Spitta auch
alle Instanzen berücksichtigt, die gegen ihn sprechen?
Es ist ihm eine Stelle entgangen, die die ernsteste Berück-
sichtigung bei der ganzen Frage verdient und die nicht wenig zu-
gunsten der Ansicht ins Gewicht fällt, nach der das Lied in den
Anfang des Jahres 1524 gehört. In einer Predigt, die Luther am
1. Sonntag nach Epiphanias, am 10. Januar 1524, über Luk. 2,41 ff.
gehalten hat und die wir in einer kurzen Rörerschen Nachschrift
haben, ^) zitiert er den 130. Psalm. Die Stelle lautet: >Tutus es,
quamdiu fides in corde, sed interim potest ein schändlich opinio ein-
reißen, quasi deus velit tibi omnia exhibere propter tuam guet, ho-
nestam [sc. vitam]. Quare fit, ut sinat te iaci in peccatum, quod
non cognoscis esse peccatum, et hoc facit, ut gratiam suam nobis
notam faciat. 'Si iniquitates observaveris, domine' etc. [Psalm 130,3]
si lege^ vis erigere, quis sanctus potest coram te consistere? nee
mater ipsa,') quae omnium sanctissima fuit. Postquam deus incipit
eam sentire, quid possit, illico cadit, 'quia apud te propitiatio' (Psalm
130,4), du hast beschlossen bey dir, ut nemo accedat, nisi qui
sperat in gratiam q. d. si veniret ex nostris operibus, diceremus:
fidem habemus et opus, quod facio, deo placet, sicut praedicavimus
de calice aureo Laurentii.^) Non est scriptum 'tecum operatio', sed
'propitiatio', es gilt nichts den gnad haben. Oportet cogitemus:
her, es leyt an deiner gunst, gnaden; quam sanctus sum et probus,
nihil iuvat, oportet timeo<.^) — Noch einmal kommt Luther kurz auf
denselben Psalmen zu sprechen: »Quare voluit deus, ut nos raperet
ab illa opinione operum. Naturaliter sie geniti sumus, ut respiciamus
ista, et iudicamus secundum illa. Si cogitarem 'tecum propitiatio'
etc. non meritum«.^ Diese ausgehobenen Stellen, die sich unmittel-
bar mit dem 130. Psalm beschäftigen, bringen unverkennbare wört-
liche Anklänge an unser Lied. Man vergleiche miteinander:
Predigt: >quis sanctus potest coram te consistere?« Lied: >Wer
kann, Herr, vor dir bleiben?« — Predigt: >Du hast beschlossen bei
dir, ut nemo accedat, nisi qui sperat in gratiam ... es gilt nichts
den gnad haben. Oportet cogitemus: her, es leyt an deiner gunst,
gnaden; quam sanctus sum et probus, nihil iuvat, oportet timeo«. —
Lied:
1) W.A.XV,414ff.
2) SoUte nicht legem zu lesen sein?
8) Gemeint ist Maria, die Matter Jesu.
4) Vgl. ErLA.XV«, S. 499.
6) W.A.XV, S.416,19C
6) W.A.XV, S. 416,36 ff.
8pitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 267
>B6y dyr gillt nichts den gnad vnd gonst,
die Sunden zu vergeben.
Es ist doch vnser thun vmbsonst
auch ynn dem besten leben. ^)
Fur dyr niemant sich rühmen kan,
des mus dich furchten yederman,
vnd deyner gnaden lebenc
Predigt: »Si cogitarem *tecum propitiatio' etc. non meritum<. —
Lied:
>Darumb aufif Gott will hoffen ich,
auff meyn verdienst nicht bawenc
Vor allem aber ist diese ganze Predigt einfach eine Ausführung
der mitgeteilten Liedstellen, oder umgekehrt: wer eine authentische
Erklärung dieses Liedes überhaupt bei Luther sucht, der greife zu
dieser Predigt. Wahrlich, die Geschichte vom zwölQährigen Jesus bietet
an sich nicht leicht Anlaß, diese Gedanken zu entwickeln. Luther muß
schon tief von ihnen bewegt gewesen sein, wenn er diesen Text be-
nutzte, um sie vor der Gemeinde auszuführen. Man kommt auf den
Gedanken, daß unmittelbar vorher das Lied »Aus tiefer Not< ent-
standen sein muß. Denn umgekehrt, aus der Predigt ist es keines-
falls erwachsen.
Wie weit liegt nun aber auch diese ganze Auffassung des
130. Psalms ab von der der Auslegung von 1517. Hier die Gegen-
überstellung des alten und des neuen Menschen, von dem im Liede
nicht die Rede ist, dort aber wird die Erfahrung des Heiligen, des
Gläubigen geschildert, den Gott tief fallen läßt, um in ihm und
durch ihn in anderen den Glauben an die Gnade allein zu be-
festigen.
Ein Moment spricht aber nicht wenig für die Annahme, daß die
Abfassung von >Au8 tiefer Not< und die Predigt vom 10. Januar 1524
zeitlich nahe liegen müssen, nämlich die auffallende Tatsache, daß
Luther in den uns bekannten früheren Predigten den 130. Psalm nicht
erwähnt. Wenigstens habe ich keine Stelle finden können. Aber ge-
rade am 10. Januar 1524 taucht er auf und beherrscht eine ganze
Predigt. Auch am 20. März desselben Jahres zitiert Luther wieder
Psalm 130,4^) und wieder ganz im Sinne des Liedes: »Coram dec
kan nyemant besthen, quantumvis sanctus, nisi confiteatur se pecca-
1) Vgl. dazu auch die Worte p. 415, Z. 21 : »propter toam gaet, honestam
[sc. Yitamjc und p. 416, Z. 17 f.: »Patamos nos optime yivere et sine peccato
esse: tum autem sentimus, quando tentat«.
2) W.A.XV,482.
268 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 4.
torem. 'Apud se propitiatio', qui coram te agere vult, oportet ex
corde dicat: nisi tu misericorditer velis nobiscum agere, perditi
essemus«. Und die entsprechende Stelle in der Schrift: »Ein Sermon
von der Beicht und Sakrament«, die auch auf dieser Predigt beruht,
lautet: >fur Gott kan nyemand bestehen, er bringe denn dise beicht
mit sich, wie der 129. psalm sagt 'Bey dyr ist gnad, auff das du
gefurchtet werdist'. Das ist: wer fur dyr handeln will, mus also
handeln, das solche beycht von hertzen gehe, die also spreche : Herr,
bistu nicht barmhertzig, so ist es verloren, wie frum ich auch seyn
kan. Solchs müssen alle heyligen bekennen.^)
Alles in allem — Spitta hat nach meiner Meinung keinen stich-
haltigen Grund angeführt, der die Abfassung des Liedes >Aus tiefer
Not< gegen Anfang des Jahres 1524 unmöglich oder unwahrschein-
lich machte. So lange keine zwingenderen Gründe als die vor-
getragenen vorliegen, wird man im Blick auf die Predigt Luthers
am 10. Januar 1524 und auf die Briefnotiz an Spalatin Anfang 1524,
daß er den sechsten Bußpsalm übersetzt habe, die Datierung des
Liedes auf jene Tage wohl wagen können, ohne sich zu großer
Kühnheit schuldig zu machen. Zeigen sich im Liede Anklänge an
die Uebersetzung oder die Erklärung der Bußpsalmen von 1517,
so ist dafür die einfachste Erklärung, daß Luther jenes Werk zum
Zwecke der Umdichtung dieses Bußpsalms noch einmal eingesehen
hat Die Predigt aber zeigt aufs deutlichste, wie falsch es ist,
zwischen der rein subjektiven, persönlichen Poeterei Luthers und
seinem Dichten für die gottesdienstlichen Zwecke einen Gegensatz
anzunehmen. Beides verträgt sich sehr wohl miteinander. Damit soll
nicht gesagt sein, daß bei jeder Umdichtung Luthers Seele in so
starke Glut geraten ist, wie gerade bei diesem wundervollen Lied.
2. >Ein feste Burg ist unser Gott< (S. 28—34; 85—169).
Spitta ist der Ueberzeugung, daß das größte Lutherlied 1521
auf Luthers Reise nach Worms, und zwar am wahrscheinlichsten in
Frankfurt entstanden sei.
Sein Beweis stützt sich auf ein Vierfaches:
1. Auf die Bibelübersetzung, die dem Liede zugrunde liegen
soll; 2. auf die im Liede angedeutete Lage des Dichters; 3. auf die
Anklänge an dieses Lied in Luthers Schriften und 4. auf das Urteil
von Männern des 16. Jahrhunderts.
Der Frage nach der Grundlage des Liedes nachzugehen, sieht
sich Spitta durch Bachmann veranlaßt. Dieser hatte nämlich be-
hauptet, daß das Lied auf Luthers deutscher Uebersetzung des 46.
1) W.A.XV,482.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 269
Psalms ans dem Jahre 15240 beruhe 0. Spitta erbringt nun zu-
nächst den Erweis, daß diese Uebersetzung auf Hieronj^mus, nicht auf
der Vulgata beruht. Luther habe sich überhaupt immer mehr von
der Vulgata entfernt und sich Hieronymus bezw. dem Grundtext bei
seinen Uebersetzungen zugewendet. Ein Lied also, so schließt Spitta
weiter, das nach 1524 auf Grund von Psalm 46 gemacht worden ist,
muß wesentlich auf Hieronymus, bezw. auf dem Grundtext, und darf
nicht auf der Vulgata beruhen. Das ist aber bei >Ein feste Bürge
nicht der Fall. Vielmehr liegt ihm die Vulgata zugrunde. Also kann
das Lied nicht nach 1524 gedichtet sein.
Wie steht es mit den Anklängen des Liedes an die Vulgata?
In sorgfältiger Untersuchung stellt Spitta fest, wo sich Berührungen
des Liedes mit dieser Uebersetzung finden. Zugegeben, er hätte hier
in allen Einzelheiten recht — in vielen hat er es ohne Zweifel — ,
folgt daraus mit Sicherheit: Luther kann das Lied nicht nach
1524 gedichtet haben? Auch daraus glaubt Spitta einen sicheren Beweis
für seine These gefunden zu haben, daß das Lutherlied die Uebersetzung
von 1524 ignoriert. >Für ein Psalmlied<, sagt er S. 109, >das nach
1524 gedichtet worden sei, müßte man dementsprechend annehmen,
daß es die Vulgata weit hinter sich gelassen habe. Ja, wenn dieses
erst in der Zeit von 1527 bis 1529 verfaßt wäre, so wäre zu be-
denken, daß damals Luthers Uebersetzung bereits derartig Allgemein-
gut geworden war, daß ein Psalmlied, das auf sie keine Rücksicht
nähme, einfach undenkbar wäre<. Diese Schlüsse würden nur zwin-
gende Kraft haben, wenn sich zeigen ließe, 1. daß Luther immer
mehr die Vulgata überhaupt, und nicht nur in seinen Psalmenüber-
setzungen, auf die Seite geschoben habe, und 2. daß Luther nach
1524 (bis zur neuen Psalmenausgabe 1528) die Psalmen in seinen
Predigten und erbaulichen Schriften nur nach seiner Uebersetzung
von 1524 zitiere, eben weil er — Spittas Meinung nach — auf die
Verbreitung seiner Psalmübersetzung im Volke Rücksicht nehmen
musste.
Prüfen wir nun, ob sich diese beiden Tatsachen bestätigen!
Was zunächst den Gebrauch der Vulgata durch Luther betrifft,
80 ist das Gegenteil von dem der Fall, was Spitta annimmt: Luther
hat sich fortgesetzt sehr viel mit der Vulgata beschäftigt. Schon
1523, wenn nicht früher, beginnt er eine Revision dieses alten
lateinischen Textes.') Als Frucht dieser Arbeit erschienen 1529 bei
Nikolaus Schirlentz in Wittenberg in lateinischer Uebersetzung einige
1) Erl. A. 37, 8. 150.
2) Ztschr. f. kirchl. Wissensch. V (1884), 8. 299 ff.
8) Vgl W.A. 23, 435 f.
270 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Bttcher des alten Testaments (bis zn den Büchern der Könige ein-
schließlich), ^) und 1527 gab er den 119. Psalm heraus.^ Im Jahre
1529 erschien auch der ganze Psalter lateinisch, unter dem Titel : Psalte-
rium translationis veteris correctum (bei Joh. Luft). Wahrscheinlich
stammt auch diese Ausgabe von Luther.') Zwar steht er nicht auf
dem Titel als Herausgeber, aber das ist auch bei jener anderen
lateinischen Ausgabe von 1529 nicht der Fall, die bei Schirlentz er-
schienen ist und die doch sicher auf Luther zurückgeht. Für Luther
als Herausgeber dieses lateinischen Psalters spricht, daß ihm seine
Psaltervorrede von 1528^) in lateinischer Uebersetzung vorgedruckt
ist.^) Es wäre der Mühe wert, diese seltene Ausgabe, die mir nicht
zur Hand ist, mit der Vulgata zu vergleichen, speziell den Text des
46. Psalms. Aber wie es auch um die Autorschaft Luthers und
um das Verhältnis dieser Uebersetzung zur Vulgata stehen mag,^
jedenfalls ist die Tatsache, daß Luther sich dauernd mit der Vul-
gata beschäftigt und sie nicht als wertlos zur Seite gelegt hat,
— hielt er sie doch sogar für so ehrwürdig, daß er sie keineswegs aus
dem öffentlichen, gottesdienstlichen Gebrauch verdrängen wollte,
wie er ausdrücklich erklärte — für die These Spittas : ein Lutherlied,
das auf der Vulgata beruht, kann nicht nach 1524 entstanden sein,
einfach vernichtend. Mag sich Luther auch in seinen deutschen
Uebersetzungen immer mehr an Hieronymus und den Grundtext an-
geschlossen haben, so haben wir doch kein Recht, zu folgern, daß er
seinen Umdichtungen von Psalmen nur seine deutschen Uebersetzungen
zugrunde gelegt habe, und es ist nicht angängig, die Grundsätze,
die für diese gelten mögen, schlankweg auch auf jene zu übertragen.
Wenn seine großartige Neuschöpfung des 46. Psalms da und dort
einige Anklänge an die Vulgata zeigt, so ist das auch dann ganz
verständlich, wenn er sich sonst in den Uebersetzungen von der
Vulgata entfernt. Klingen im Liede einzelne Töne an die Vulgata
an, so empfahl sie sich eben an diesen einzelnen Stellen seinem
dichterischen Empfinden.
Wie wenig sich aber Luther in seinen Predigten und in seiner
erbaulichen Schriftstellerei von der Vulgata, die doch ebenso wie
1) Abgedruckt als Anhang des XIV. Bandes der Walchschen Ausgabe der
Werke Luthers.
2) W.A.23,436f.
3) ErL A. 37, 245 u. 247.
4) ErL A. 63, 27 ff. Hier ist die Angabe, daß diese Vorrede ins Jahr 1531
gehöre und zuerst lateinisch 1529 erschienen sei, zu verbessern.
5) Zur ganzen Frage ygl. Köstlin-Eawerau, Martin Luther ^11, S. 157.
6) Die obenerwähnte Ausgabe eines Teils des Alten und des Kenen Testa-
ments ist nur eine revidierte Vulgata.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 371
seine Lieder aufs Volk berechnet waren, emanzipiert hat, dafür
dient zum Beweis schon die Tatsache, daß er Auslegungen einzelner
Psalmen unter dem Anfangswort des betreffenden Psalms in der
Vttlgata herausgibt. So erscheint 1530 seine Auslegung des 118.
Psalms unter dem Titel: >Das schöne Confitemini< ^) entsprechend
dem Anfangswort dieses Psalms in der Vulgata, und die Auslegung
des 147. Psalms von 1532 trägt als Stichwort am Anfang: Lauda
Jerusalem,') ebenso läßt Luther 1539 die Auslegung des 110. Psalms
unter dem Titel erscheinen: Dixit dominus.') Wenn jemand um
jeden Preis die Vulgata zur Seite schieben will, so tut er das nicht.
Wer aber so arglos an die Vulgata, an ihre Psalmanfänge sich an-
schließt, der kann auch zu derselben Zeit ein Lied dichten, das an die
Vulgata da und dort anklingt, so gut wie er as unter dem Titel:
>Der XLVL Psalm, Deus noster refngium et virtus« erscheinen läßt.
Ja, es verdient beachtet zu werden, daß es auch gerade der An-
fang des 46. Psalms nach der Vulgata ist, der offenbar im Luther-
lied am deutlichsten anklingt. Die Vulgata-Anfänge hafteten am
festesten im Kopfe, und wenn ein Lied den Anfang eines Psalms
nach der alten lateinischen Uebersetzimg bot, so war damit das
ganze Lied charakterisiert.
Femer hat Luther seiner Auslegung des 82. Psalms den latei-
nischen Vulgatatext, wenigstens zur Hälfte, vorausgesetzt.^) So gut
Luther das tun kann, kann er auch bei seiner Dichtung der Vulgata
einen Einfluß gestattet haben.
Femer als Beweis datür, wie sehr er persönlich mit seinem
Innenleben mit der Vulgata verwachsen war, kann es dienen, daß
er auf der Koburg 1530 den 17. Vers des 118. Psalms — nicht
deutsch, nicht hebräisch, sondern im Wortlaut der Vulgata an die
Wand geschrieben hat, um sich daran zu trösten: >non moriar, sed
viyam, et narrabo opera domini<.*) Wieder sage ich: wer 1530
noch so in der Vulgata lebt, der sollte nicht auch 1527 ein Lied,
das aus tiefster Seele kam und offenbar die Lösung eines starken
seelischen Druckes war, mit Anklängen an den Vulgatatext haben
dichten können?
Endlich, wirft man einen Blick in Luthers Predigten etwa aus
dem Jahre 1526, so findet man, daß er sich in seinen Psalmen-
zitaten gar nicht an seine Uebersetzung von 1524 bindet, sondern
1) Erl. A. 41, 1 ff.
2) Erl. A. 41, 161 ff.
8) Erl A. 40, 38 ff.
4) ErLA. 89,225.
5) ErLA. Dp. ex. 17,804.
ä72 Gott. gel. Anz. 1906. Kr. 4.
auch hier ganz naiv und arglos nach der Vulgata zitiert. Schlägt
man allerdings die Drucke von Predigten, wie über Jerem. 23, 5 — 8 ^)
vom Jahre 1526 oder aber das 1. Buch Mose vom Jahre 1527 (ge-
halten sind die Predigten 1523/24)^ auf und prüft die darin vor-
kommenden Psalmstellen, so sind sie durchgängig in dem Texte der
Lutherschen Uebersetzung von 1524 gegeben. Aber diese Drucke
sind nicht von Luther selbst, sondern von anderer Hand, die Predigten
fiber 1. Mose sicher von Grutziger besorgt worden. Sie fallen also
für unsere Frage aus der Diskussion heraus. Daß aber Luther noch
1526 den Psalter auf der Kanzel im Vulgatatext zitiert hat, dafür
bietet die Trinitatispredigt dieses Jahres über Joh. 3,1—15 eine
schlagende Stelle. Denn nicht nur bringt die Rörersche Nachschrift
die Stelle Psalm 135,7 mit den Vulgata werten : >Qui producit ventos
etc.«, sondern auch der Predigtdruck, der vielleicht von Luther
selbst stammt, bringt erst dieses lateinische Vulgatazitat, nur aus-
führlicher, und darauf eine deutsche Uebersetzung, die aber nicht
die Luthers von 1524 ist.^ Damit ist bewiesen, daß Luther die
Vulgata auch 1524 noch auf der Kanzel zitiert hat. Aber auch sonst
läßt sich zeigen, daß Luther in den Predigten nach 1524 nach der
Vulgata und nicht nach seiner Uebersetzung oder dem Grundtext
den Psalter zitiert. Man vergleiche z.B. die Stellen: Psalm 91,9
und 10 in W.A. 20,230; Psalm 116,15, ebenda S. 265.
Daß sich Luther aber nach 1524 keineswegs bei seinen Psalmen-
zitaten an seine Psalmenübersetzung aus diesem Jahre gehalten hat,
ist ebenso schlagend noch auf andere Weise zu beweisen. Ich habe
mir die Mühe genommen, die Psalmstellen in Luthers: > Der Prophet
Jona ausgelegt < vom Jahre 1526^) zu prüfen, und es ergab sich,
daß unter 19 angeführten Psalmstellen (eine wird dreimal zitiert,
nämlich Psalm 32,3) nur eine einzige, nämlich Psalm 16,10 im Wort-
laut mit der Uebersetzung von 1524 übereinstimmt, alle anderen
weichen davon ab, und oft recht bedeutend. Wenn also Luther in
einer für das breite Volk bestimmten Erbauungsschrift des Jahres
1526 seine Psalmenübersetzung von 1524 so gut wie völlig ignoriert,
wird man es dann mit Spitta noch für > undenkbar < erklären können,
daß ein Psalmlied Luthers, das 1527 entstanden wäre, auf jene Ueber-
setzung keine Rücksicht nähme, da diese bereits Allgemeingut ge-
worden sei? Auch in seinen deutschen Briefen aus späterer Zeit
zitiert Luther den Psalter einfach nach der Vulgata, weil sich ihm
1) W.A. 20, 547 ff.
2) W.A. 24, Iff.
8) W.A. 20,424.
4) W.A. 19, 186 ff.
Spitta, Ein feste Borg ist unser Gott. 273
dieser Text am leichtesten einstellt, so z.B. Ps. 110, 1 und 4 in
einem Brief an den Fürsten Joachim von Anhalt vom 19. Juni 1533 ^),
oder Ps. 57, 9 in einem Brief an denselben vom 18. Juni 1534^, oder
in einem Brief an einen Ungenannten vom 25. Oktober 1536 '). Doch
genug der Beispiele!
Alles in allem: der Beweis Spittas, den er aus der dem Liede
zugrunde liegenden Uebersetzung des 46. Psalmen für die Abfassungs-
zeit vor 1524 hat erbringen wollen, ist als gescheitert zu bezeichnen. —
Nun dehnt aber Spitta die biblische Grundlage des Lutherliedes
über den 46. Psalm noch viel weiter aus. Er nimmt außerdem nicht
nur noch etliche alttestamentliche Stellen als Grundlagen an, was
auch schon Bachmann getan hatte , sondern auch drei neutestament-
liehe, nämlich Apok. 12, 7— 11, Wendungen aus den Reden Jesu im
Johannesevangelium c. 14 ff. und Eph. 6, 10—20. Von diesen Stellen
behauptet Spitta nicht etwa nur, daß sie möglicherweise Luther
bei Abfassung des Liedes im Sinne lagen, nein, das soll wirklich
and zweifellos der Fall sein (S. 104). Aber Spitta scheint mir
hier von einer ganz unbewiesenen Voraussetzung auszugehen. Da
flir das folgende viel davon abhängt, ob man ihm hierin zustimmt
oder nicht, muß ich darauf kurz näher eingehen. Mit Apok. 12, 7 — 11
soll das Lied folgende wörtliche Berührungen gemeinsam haben:
Apok. 12,9 ist die Rede von der alten Schlange (6 Scpig 6 ip-
Xaioc; Vulg.: serpens antiquus) und im Liede Str. 1,5 vom > alten
bösen Feinde Apok. 12, 11 ist die Rede vom Xö^og t^c (taptopCag
a&Tfldv; das soll sich berühren mit Str. 4, 1 : >Das Wort sie sollen lassen
8tan<. Endlich Apok. 12, 10 ist die Rede von der ßaoiXeCa too dsoö
iffj&yf; das soll wiederklingen in dem Satze Str. 4, 9: >Das Reich
muß uns doch bleiben <.
Aus dem Johannesevangelium sollen — und das hatte auch
schon Bachmann behauptet^) — die Wendungen 14, 30: >Es kommt
der Fürst dieser Welt und hat an mir nichts <, und 16, 11: >daß der
Fürst dieser Welt gerichtet ist< im Liede ihre Parallelen haben,
nämlich in der 3. Str.: >Der Fürst dieser Welt, wie sauer er sich
stellt, tut er uns doch nicht, das macht, er ist gericht.<
Endlich sollen Beziehungen zwischen dem Liede und Eph. 6, 10—20
bestehen. Eph. 6, 11 und 13 ist von der Waffenrüstung Gottes
(il acavoicXCa too dsoö) die Rede; das soll wiederklingen in den Worten
des Liedes Str. 1,7: »groß Macht und viel List sein grausam
1) ErL A. 55, 21 ; vgl. S. 49 and Enden, IX, 814.
2) ErL A. 55, 51.
3) ErL A. 65, 112.
4) Ztachr. f. kirchl. Wusensch. Y (1884), S. 301 Anm. 6.
G«tt. fL Abs. 19(M. Kr. 4. 19
274 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.{
Rüstung ist<. Die Formel: >das Feld behaltene in Str. 2, 9 braucht
Luther auch in der Uebersetzung von Eph. 6, 13. Einen weiterem
Zusammenklang nimmt Spitta zwischen Eph. 6, 19, wo vom X670C die
Bede ist, und Str. 4,1 des Liedes an: >Das Wort sie sollen lassen
stan<. Gedanklich sollen sich Lied und Brief berühren, wenn es
Str. 1,9 und 2, If. heißt:
»auf Erd ist nicht seins Gleichen.
Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verlorene
und Eph. 6, 12, sofern hier von den bösen Geistern betont werde,
daß sie in der überirdischen Begion sich befinden. Die letzte Ent-
lehnung des Liedes aus der Epheserstelle soll in der Formel: »der
alt böse Feind< stecken; vom >Bösen< ist auch Eph. 6, 16 die Beda
Ich muß angesichts dieses aufgeführten Materials offen gestehen,
daß es mir nicht in den Kopf will, daß Luther, als er sein Lied
dichtete, > wirkliche und »zweifellose diese drei neutestamentlichen
Stellen im Sinne hatte. Am ehesten kann man annehmen, daß ihm
einige Wendungen aus Joh. im Sinne lagen. Aber die anderen zwei
Partien? Ich glaube, in der Zuversicht, die Spitta hier zeigt, werden
wenige ihm folgen. Jedenfalls heißt es ein Haus auf Sa^d bauen,
wenn man die Annahme , dem Lutherlied lägen neben Ps. 46 auch
noch jene drei neutestamentlichen Partien zugrunde, zur Grundlage
weiterer Schlüsse macht.
Wenn man aber einwenden wollte, die Gesamtsituation im Liede
und in jenen Abschnitten entspräche sich doch völlig, wo anders her ab
aus diesen könnte Luther also sein Gedankenmaterial entlehnt haben,
so antworte ich : Wenn ein modemer Dichter einmal solch' einen Kampf
zwischen Teufel und Christus darsteUt, dann kommt man wohl auf
den Gedanken, daß er sich durch eine oder mehrere ähnliche Bibel-
stellen werde haben anregen lassen. Aber Luther? Man versetze sich
nur einen Augenblick in den ganzen massiven Teufelsglauben Luthers
und seiner Zeit, in die allen geläufige Vorstellung, daß fortgesetzt
der Teufel und sein Heer das Beich Christi und seiner Bekenner zu
zerstören drohe, daß der ganze Geschichtsverlauf ein steter gewaltiger
Kampf zwischen dem Teufel und Christus ist, und man wird nicht
nötig haben, dieses Gemälde, das Luther in seinem Lied entwirft,
erst durch eine bewußte Bezugnahme auf jene neutestamentlicbeii
Stellen zu erklären, man mag, wie Spitta tut, noch so sehr betonei,
daß es sich eben um einen großen Entscheidungskampf handle. Wer
will beweisen, daß Luther wirklich in diesen Stellen bei Abfassung
des Liedes ganz gelebt und gedacht habe?^)
1) Da ich überhaupt die Abh&ngigkeit dee liedee von jenen Beatestament-
Spitta, Ein fette Borg ist unser Gott 276
Aber vieUeicht kann uns Spitta doch noch davon überzeugen,
daß LntlTer mn großes Lied mit dem festen Blick auf jene neu-
teatamentlichen Stoffe geschaffen habe.
2. Von seiner entschiedenen Meinung aus geht Spitta dazu über,
die Lage zu schildern, in der der Dichter sich befunden haben müsse,
als er das Lied dichtete. Lagen ihm die Reden Jesu bei Johannes
(Joh. 14, 30; 16, 11) im Sinne, so muß seine Lage der Lage Jesu
entsprochen haben, als dieser vor seinem Leiden den letzten Ansturm
des Teufels zu bestehen hatte; wie dieser so muß auch der Dichter
>yor einer entscheidenden Stunde stehen, auf die Satan seine ganze
Hoffiiung gesetzt hat, ihn zu Falle zu bringen«. Steht Luther bei
der Dichtung seines Liedes Eph. 6, 10 — 20 vor der Seele, so muß
seine Lage entsprechend der des Paulus gewesen sein, als dieser
jene Stelle schrieb. »Noch steht Paulus vor der Entscheidung, wo
et öffentlich sich verantworten soll. Er hat sich auf den Kaiser be-
rufen ; so soll er denn auch vor den Kaiser gestellt werden (Apg. 25, 12).
Man soll für ihn beten, daß er i^e, wie sich's gebührt: nicht zag-
haft, nicht sich und seine Sache entschuldigend, sondern mit freudigem
Auftun des Mundes als der, welcher Christi Sache vertritt, die siegen
muß. Und so ist es ihm auch gegeben worden, wie er selbst davon
berichtet IL Tim. 4, 17.< In ganz der gleichen Lage zeigt das Lied
unsem Luther: >Auch er steht vor der einen Verantwortung des
Eyangeliums, bei der ihm wohl das Zagen ankommen kann und für
die er in besonderem Maße der Fürbitte der Gläubigen bedarf«.
Daß Luther endlich vom 46. Psalm auch auf Apok. 12, 7 — 11 geführt
wurde, erklärt sich nur aus der eigentümlichen Stimmung, in der
er sich bei Abfassung des Liedes befand. Luther erlebte ein irdisches
Gegenstück zu jenem apokalyptischen Vorgang. »Jetzt wird die große
Ekitscheidungsschlacht geschlagen, und der Dichter des Liedes selbst
ist es, dem die göttliche Sendung geworden ist, in diesem Kampf
mit Menschen und Teufeln unter dem Feldherm Jesus Christus zu
fechten«. — Alles sehr geistreich, in einer Predigt sehr wirkungs-
voll, aber haben alle diese Ausführungen nur im geringsten festen
Boden unter den Füßen? Sind alle Ausleger des Lutherlieds blind
gewesen, daß sie das alles nicht gesehen haben?
Welche Lage aber läßt sich im Leben Luthers bis 1521 finden,
so fährt Spitta fort, die auf die aus dem Liede sich ergebende
Situation so vollkommen paßt, als die Lage, in der sich Luther auf
Stenen leugne, so ist f&r mich die Frage, die Spitta besonders interessiert, ob
nimlich diese neatestamentlichen SteUen nach dem Urtext oder nach der Yolgata
oder nach der Lutherischen Deb^setzung von 1622 im Liede benntst seien,
gegenstandslos.
19*
276 Gott gel. Am. 1906. Nr. 4.
seiner Reise zum Reichstag nach Worms befand? Dies sucht Spitta
so zu erweisen, daß er zunächst gegen die These Tschackerts sich
wendet, der namentlich aus sprachlichen Zusammenklängen zwischen
Predigten Luthers Über Joh. 17 und dem Liede den Schluß gezogen
hat, das Lied sei zur Zeit der Packschen Händel entstanden. Daß
mit solchen sprachlichen Beweisen allein nichts zu machen ist, zeigt
Spitta meiner Meinung nach ganz schlagend, indem er aus der Schluß-
strophe des Liedes >Nun freut euch lieben Christen gemein« durch
Vergleichung mit jenen Johannes-Predigten den Beweis erbringt, daß
das Lied, das sicher 1524 erschienen ist, nur 1529 entstanden sein
könne. Damit beweist er tatsächlich, wie unzulänglich die Methode
ist, die Tscbackert verfolgt.
So hat sich Spitta die Bahn freigemacht, um aus der Lage und
den Schriften Luthers vor und während seiner Wormser Reise den Be-
weis zu erbringen, daß sie in so und soviel Stellen nicht nur an den
46. Psalm, sondern auch an jene neutestamentlichen Stellen, vor
allem an Eph. 6 anklingen. In der Tat, wenn Spitta dies gelänge,
wenn er uns zeigen könnte, wie sich auch damals in Luthers
Aeußerungen Ps. 46 und Eph. 6 stetig miteinander verknüpfen, so
würden wir vielleicht auch glauben, daß hinter dem Lied jene
paulinischen Gedanken stünden. Sehen wir zu, was Spitta uns zu
sagen hat.
3. Zunächst zieht Spitta den Brief Luthers an Spalatin vom
21. Dezember 1520 heran ,^) der schon deutlich die Grundlinien von
»Ein feste Burg< enthalten soll. Hier soll von Wichtigkeit sein, daß
zwar nicht der 46., wohl aber der ihm nahe verwandte 2. Psalm von
Luther zitiert wird. Aber sieht nicht Spitta, daß dies gerade stark
gegen ihn, nicht für ihn spricht? Wenn Luther, als er den Brief
schrieb, von starker Glaubenszuversicht erfüllt war und er drückt diese
mit Worten nicht des 46., sondern des 2. Psalmen aus, so ist damit
eben bewiesen, daß er damals den 46. Psalm absolut nicht im Sinne
hatte. Nun soll auch bereits Eph. 6 in den Brief hereinwirken:
Luther schreibt: >Ita me conf ortet Dominus Jhesus<; und >VaIe et
esto robustus in Domino«. Darin soll eine Beziehung auf Eph. 6, 10
liegen: >de cetero fratres confortamini in domino et in potentia vir-
tutis ejus«. (Vulg.). Das erste Wort aus dem Briefe kann gar nicht
in Betracht kommen. Denn hat Luther etwa auch Eph. 6 , 10 im
Sinne gehabt, als er einen Brief vom 1. Oktober 1520 mit den
Worten schloß: >Vale jn Domino Jhesu Christo, qui conf ortet et
1) de Wette, Luthers Briefe, 1, 584f. == Enders, Luthers Briefwechsel, in, 93f.
Der Brief ist vom 29. Besember, wie Enaake in Stud, und Krit. 1900, 274 ne-
^eigt hat.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 277
serret spiritum et intelligentiam nostramc ? ^) Und das zweite Wort
ist schon deshalb nicht aus der Epheserstelle geflossen , weil eben
dieVnlgata, die doch 1521 für Lather noch gelten soll, confortamini
hat, während Luther schreibt: esto robustus. Und sodann: Wieviele
Briefe Lnthers schließen nicht mit der Formel: Vale in Domino!
Wenn er hier das esto robustus noch hinzufügt, so braucht das
wahrlich nicht aus der Epheserstelle zu fließen! Oder ist's etwa
auch ein Anklang an dieses Bibelwort, wenn er einen Brief an die
Evangelischen in Leipzig am 11. April 1533 mit den Worten schließt:
>Christas, unser Herr, der stärke euch und sei mit euch, Amen<?')
Nun soll auch dieser Brief schon an die Situation des Paulus
erinnern, die Luther als der seinen ganz analog erkennt! War doch
Paulus von der Zuversicht erfüllt, vor dem Kaiser zu seinem Rechte
zu kommen, wie Luther zu Karl V. das beste Zutrauen hegte, wovon
der Brief Zeugnis gibt! Ferner soll Luther an Paulus (vgl. Köm. 13)
gedenken, wenn er im Rufe des Kaisers zugleich einen Ruf des
Herrn sieht! Sind das nicht alles Willkürlichkeiten und wertlose Re-
flexionen? Es ist ein andres, ob sich uns zwischen den Situationen
zweier Männer eine Analogie aufdrängt, ein andres ist der wirkliche
Beweis, daß der spätere dieser Männer selbst tatsächlich diese Ana-
logie zu seiner Lage empfunden habe. Wenn Luther damals von
Paulus und dessen Schicksal wiederholt spräche, dann wäre die Sache
klar. Aber aus so schwachen Anklängen, die einer Prüfung absolut
nicht Stand halten, kann man gar nichts folgern.
Spitta glaubt nun aus den weiteren Briefen Luthers vor dem
Reichstag zu Worms immer deutlicher die Töne des Liedes heraus-
zuhören. Gewiß, die Briefe werden immer satter und stärker von
Glaubenszuversicht. Aber wenn man nicht von vornherein überzeugt
ist, das Lutherlied gehöre in jene Tage, so sind alle von Spitta vorge-
brachten Anklänge ohne zwingende Beweiskraft. Ich kann nicht
jedem einzelnen Punkt nachgehen, um nicht zu breit zu werden, nur
einzelnes sei herausgehoben. So will z. B. Spitta in dem Briefe
Luthers an Spalatin vom 14. April (?) 1521 ") wieder die Epheserstelle
heraushören. Schreibt doch Luther: »intrabimus Wormatiam invitis
omnibus portis infemi et potestatibus aeris«. Das soll eine Nach-
wirkung von Eph. 6, 12, verbunden mit Eph. 2, 2, unter Berührung
1) Enders, a. a. 0. ü, 486.
2) £ri A. 55, 8. Ueberhaupt findet sich dieser Gedanke: »Gott stärke«
(oder ahnlich) angezählte Male in den Briefen Luthers, zumal am SchluB. Ich
ferweise beispielshalber nur noch auf folgende Stellen: Erl. A. 58, 58. 184. 144.
167. 172. 179. 182. 204. 268. 276 u. s. f.
3) De Wette, Lutherbriefe I, 568 f.; Enders, Luthers Briefwechsel in, 120 f.
278 Göte. gel. Anz. 190$. Nr. 4.
mit Ps. 24,7 sein! Daß Luther schreibt: »dispone ergo hospitimn«
soll ein Beweis dafür sein , daß Luther an die Lage des Paulus
denkt, denn in der Zeit seiner Gefangenschaft schreibt er Philem. 22 :
>simul autem et para mihi hospitium<! Als Luther in Worms aus
dem Wagen stieg und das Wort sprach: >Gott wird mit uns sein<,
soll ihm Ps. 46, 8 im Sinn gelegen haben: >Der .Herr Zebaoth ist
mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutze! Der Schluß seiner
Wormser Rede: »Gott helfe mir — Gott, komme mir zu Httlf< soll
aus Ps. 46, 2: »Gott ist eine Hülfe in den großen Nöten« geflossen
sein! Auch als Luther 1546 (man beachte das!) von seiner Wormser
Reise sprach , ^) soll er unwillkürlich in Wendungen aus Ps. 46 und
Eph. 6 hineingekommen sein! Er sagt: > denn ich war unerschrocken,
fürchte mich nichts, ... Ich weiß nicht, ob ich jetzt auch
so freudig wäre.< Ps. 46, 3 ist zu lesen: >Darum fürchten wir
uns nichts« und Eph. 6, 19. 20: >auf daß mir gegeben werde das
Wort mit freudigem Auftun meines Mundes; daß ich darinnen
freudig handeln möge und reden, wie sichs gebühret. c Ich
glaube, keine dieser angeblich deutlichen Beziehungen von Worten
Luthers zu den biblischen Stellen, die nach Spitta damals Luther
im Sinne lagen, werden auf einen Historiker einen Eindruck
machen. Auch die Anhäufung verfehlt ihres Eindrucks. Denn mit
gleichem Recht könnte man auch zeigen, daß Luther irgend eine
andre oder mehrere andre Schriftstellen damals im Sinne lagen. Mit
gleichem Rechte könnte ich etwa behaupten, daß Luther, als er in
dem Brief an Spalatin vom 14. April 1521 die Worte schrieb:
>Christus vivit«, IL Korr. 13, 4 im Sinne gelegen habe. Oder warom
soll ihm nicht bei der Formel: >Ich weiß nicht, ob ich jetzt auch so
freudig wäre« ebenso gut I. Thess. 2, 2 vorgeschwebt haben? Bfit
Recht hat Spitta Tschackert gegenüber auf die Gefahr aufmerksam
gemacht, die ein Haschen nach sprachlichen Anklängen für die
Datierung unsres Liedes in sich schließt. Ist er selbst dieser Gefahr
entgangen oder ist er ihr erlegen?
Und nun vergegenwärtige man sich einmal, ob es psychologisch
denkbar ist, daß ein normaler Mensch seine Gedanken in drei oder
vier Bibelstellen so verstrickt, daß er auch nicht das einfachste Wort
schreiben oder sprechen kann, ohne daß ihm dabei nicht eine Phrase
aus jenen Stellen in den Mund oder in die Feder kommt. Rein un*
erträglich ist dieser Gedanke. Jeder weiß, daß Luthers Rede von
biblischem Sprachgut gesättigt ist. Wollten wir seine Schriften nach
Anklängen etwa an Eph. 6 durchmustern, wir würden wahrscheinlich
überall und immer auf Formeln stoßen, die an auch dort vorkommende
1) £il. A. 64, 368.
Spitta, Ein feste Barg ist onser Gott. 279
Wendnngen erinnem. Also auf diesem Wege kann man nichts er-
reichen.
Blicken wir zurück! Weder hat uns Spitta davon überzeugen
können, daß dem Liede selbst neben Psalm 46 deutliche Benutzung
von Apok. 12, Eph. 6 und den Johanneischen Jesusreden zugrunde
liegt, noch davon, daß Psalm 46 und Eph. 6 wirklich Luther vor und
in Worms lebhaft beschäftigt haben, noch davon, daß er seine Situa-
tion deutlich als die des Paulus oder die von Jesus empfunden habe.
Möglich ist natürlich alles dies. Aber Möglichkeiten sind keine Be-
weise, und so muß ich leider auch hier erklären: Auch von dieser
Seite her ist Spitta der Beweis, daß Luther sein Lied auf der Reise
nach Worms gedichtet habe, nicht gelungen.
Es bleibt endlich das Zeugnis der Zeitgenossen. Mit Recht
scheidet Spitta die Angaben von Sleidan, Seinecker und Walter
(gegen Orößler) aus, die wertlos für die Sache sind. Aus den Be-
richten des Chytraeus (und Coelestin) stellt er in sorgsamer Unter-
suchung fest, daß sie angeben, Luther habe das Lied >Ein feste
Burg« vor dem Augsburger Reichstag — nicht verfaßt — , sondern
veröffentlicht (evulgavit). Das stimmt gewiß mit dem, was bis-
her über die Veröffentlichung des Liedes bekannt ist. Allein diese
Angabe besagt gar nichts für die Entstehung des Liedes. Damach
kann es 1521 oder 1527 oder 1529 entstanden sein. Nun hat
Größler als Zeugen für das Jahr 1521 als Abfassungsjahr den
Rostocker Professor und Superintendenten Simon Pauli (f 1591) ins
Feld geführt.^) An drei Stellen seiner iPostillac behauptet dieser,
das Lutherlied sei 1521 in Worms von Luther gedichtet worden. Um
diesem Zeugnis ein möglichst großes Gewicht zu verschaffen, hat
Größler auf die Bedeutung dieses Mannes als Gelehrten und speziell
als Hymnologen nachdrücklich aufmerksam gemacht. Ja, er legt be-
sonderen Wert darauf, daß Pauli vier Jahre in Wittenberg (wohl
seit 1555) verbracht habe, und zwar als treuer und vertrauter
Schüler Melanchthons. Von wem anders als von Melanchthon, so
schloß Größler weiter, kann er die dreimal mit so viel Sicherheit
vorgetragene Angabe über die Entstehung des Lutherliedes haben?
Mit Recht macht Spitta darauf aufmerksam, daß dieser Schluß nicht
zwingend ist und daß die an allen drei Stellen von Pauli zitierten
bekannten Worte Luthers, er werde nach Worms gehen, wenngleich
dort so viele Teufel wären als Ziegel auf den Dächern, dem Einwand
immer wieder Boden geben, die Ansicht Paulis von der Entstehung
des Liedes im Jahre 1521 beruhe einzig auf dem Zusammenklang
1) Vgl. Mansfelder Blätter XVU (1903), S. 123 f. und: Wann und Wo ent-
stand das Lutherlied Ein feste Burg ist unser Gott? Magdeburg 1904, S. 26 ff.
280 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
jenes Lutherwortes mit der dritten Strophe des Liedes (S. 163).
Nun glaubt aber Spitta das Zeugnis Paulis dennoch retten zu können.
Pauli habe von anderer Ansicht über den Ursprung des Liedes ge-
wußt, speziell yon Sleidans Ansetzung desselben ins Jahr 1530. Wenn
Pauli trotzdem eine abweichende Meinung vertrete, so müsse er
seine guten Gründe gehabt haben, es müsse eine bestimmte Tradition
gegeben haben, die die Abfassung des Liedes in die Wormser Zeit
verlegte. Wäre nur die Parallele des Liedes zu jenem Lutherwort
maßgebend gewesen, so hätten sich aus der Augsburger Zeit eben-
soviele Parallelen zum Liede finden lassen. Es liege also nicht der
geringste Grund vor, Paulis Angabe zu mißtrauen.
Ist dieser Schluß zwingend? Keineswegs. Denn wenn Pauli
wirklich einen anderen Grund für seine Datierung des Liedes ge-
habt hätte als jenes Lutherwort von den Ziegeln auf den Wormser
Dächern, so würde er es ganz offenbar gesagt haben, um die andere
Meinung als nichtig zu erweisen. Jedenfalls hat zu Paulis Zeiten
niemand mehr etwas sicheres über die Entstehung des Liedes ge-
wußt, und der eine nahm die Wormser, der andere die Augsburger
Zeit an, je nachdem ihm dieser oder jener Grund einleuchtete. Von
einer wissenschaftlichen Untersuchung der Frage kann damals nicht
die Rede sein. So fällt mit dem Zeugnis Paulis auch das des Luther-
biographen Seidel (1581) dahin, der das Lied in Oppenheim vor
Luthers Einzug in Worms entstanden sein läßt. Endlich hat Spitta
durch Heranziehung des handschriftlichen Textes das Zeugnis Saxes
in seiner > Beschreibung von Eyderstedt, Everschop und Uthholm usw.<
aus dem 17. Jahrhundert, auf das Achelis und Qrößler mehr oder
weniger Gewicht gelegt haben, als gegenstandslos erwiesen.
So ist denn aus der Bezeugung des 16. Jahrhunderts für die
Frage nach der Datierung des Lutherliedes nichts stichhaltiges zu
entnehmen.
Abschließend ist also zu sagen, daß uns die eingehenden Unter-
suchungen Spittas in Wirklichkeit um keinen Schritt in jener Frage
vorwärts gebracht haben. Wir sind heute noch ebenso im ungewissen
über die Entstehungszeit von >Ein feste Burg«, wie wir es bisher
waren. Spittas Untersuchungen leiden an methodischen Fehlern, und
daher geht ihnen die überzeugende Kraft ab.
Es wäre wohl möglich, daß das Lied 1521 entstanden sei. Dann
bliebe freilich höchst auffallend, warum Luther, als er 1524 so eifrig
nach Beiträgen für den evangelischen Qemeindegesang sich bemühte,
sein früheres Lied nicht damals schon hervorgeholt und herausge-
geben hätte. Spitta will das damit erklären, daß diese Dichtung
Luthers Ideal einer Psalmenumdichtung, wie er es im Brief an Spa-
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 281
latin aufstellt, nicht entsprochen habe. Dieser Grund löst sich in
sich selbst auf, weil Spitta, wie wir gesehen haben, dieses Ideal
sicher falsch konstruiert. Und selbst wenn Spitta recht hätte, so wäre
sein Qrund nur dann stichhaltig, wenn wir Luther als einen klein-
lichen, schulfuxigen Pedanten kennten. Uebrigens sei zum Ueberflufi
gegen Spittas Auffassung auch noch geltend gemacht, daß die Ent-
Wickelung, die er in diesem Punkte Luther zuschreibt, höchst un-
natürlich und im Widerspruch mit allem ist, was wir in dieser Be-
ziehung von ihm wissen. Nach Spitta soll Luther in den Jahren
1516—1521 dem biblischen Text völlig frei gegenüber gestanden
haben, aber 1524 soU er auf einmal das entgegengesetzte Prinzip
verfolgt haben, nämlich möglichst engen Anschluß an den Wortlaut.
1528 bez. 1529 aber gibt er das Ein feste Burg endlich heraus, also
muß er damals wieder anderer Meinung über das Ideal eines Psalmen-
liedes geworden sein. Was für ein Zickzackweg! Verfolgt man aber
seine Uebersetzertätigkeit am Psalter, so zeigt sich, daß er nicht
nur, wie Spitta selbst sagt, immer mehr der Vulgata den Abschied
gibt und sich dem Grundtext zuwendet, sondern er ringt sich auch
immer mehr von diesem los und gestaltet auch in der Prosaüber-
setzung den einzelnen Psalm immer mehr zu einer freien, selb-
ständigen Dichtung.^) In diese Entwicklung paßt ganz und gar
hinein, was Luther an Spalatin Anfang 1524 schreibt, wenn man die
Stelle nur richtig interpretiert. Spittas Auffassung dagegen schafft
eine völlig unverständliche Entwickelung. Schon daran geht sie in
die Brüche. Damit fällt aber für Spitta selbst ein Hauptgrund
seines Datierungsversuches dahin, denn er gibt selbst zu, daß, hätte
>Ein feste Burg< Luthers Ideal entsprochen, sich allerdings kein
Grund finden lasse, warum er die 1521 verfaßte Dichtung nicht
1524 und erst 1528 oder 1529 veröffentlicht haben sollte (S. 37 f.).
3. Die anderen Psalmenlieder Luthers.
a) »Ach Gott, vom Himmel sieh darein<. Psalm 12.
Spitta behauptet, daß dieses Lied nicht 1523 oder 1524, wie man
gewöhnlich annimmt, entstanden sein könne, sondern in die Zeit vor
der Erklärung Luthers in den Operationes, ^ also auf das Jahr 1519
oder 1518 zu verlegen sei.
Prüfen wir seine Gründe!
Zunächst geht er daran, Bachmanns Behauptung, in dem Liede
klinge die Psalmübersetzung von 1522 nur noch in einzelnen Spuren
1) Vgl. darüber besonders G. Keyssner, Die drei Psalterbearbeitongen
Luthers von 1524, 1528 und 1531. Meiningen 1890.
2) VIT. A.V, 368 ff.
282 Gdtt. gel. Abs. 1906. Nr. 4.
an, während ihm deutlich die Uebersetzung von 1524 zugrunde
li^fe,^) als irrig zu erweisen. Ich kann nicht behaupten, daß dieser
Beweis erbracht sei. Präft man vorurteilslos die Texte, so drängt es
sich förmlich auf, wie verwandt die Uebersetzung von 1524 und die
Dichtung miteinander sind. Spitta meint freilich, diese Verwandt-
schaft beruhe auf der Vulgata, aus der das Lied geflossen sei. Aber
diese gemeinsame Grundlage erklärt doch keineswegs die deut-
schen Gleich- und Anklänge in Uebersetzung und Lied. Femer
sagt Spitta, wo das Lied von der Uebersetzung von 1524 abweiche,
gehe es auf den lateinischen Text zurück. Diese Behauptung ist
aber nicht richtig. Denn 1., Str. 1,5: >Dein Wort läßt man nicht
haben wahre beruht keineswegs mit Sicherheit auf der Yulgata-
stelle: »diminutae sunt veritates«, sondern ist höchst wahrscheinlich
ein völlig freigebildeter Satz.^ 2., Str. 4,5: >Mein heilsam Wort soll
auf dem Plan« soll eine Wiedergabe der Vulgata: >ponam in saln-
tari< sein, aber nicht der Uebersetzung von 1524: >ich will ein
Heil aufrichten <. Warum nicht? Es ist das eine wie das andere
möglich. Endlich soll Str. 5, 7 : >und leucht stark in die Lande« die
Vulgata voraussetzen: >probatum terrae«. Wie wenig das zwingend
ist, beweist Luthers Auslegung dieses Psalmen aus dem Jahre 1530.^
Auch hier hält Luther an der Auffistssung von 1524 fest: >ein irdener
Tiegel« (in vasis fictilibus).^) Aber er sagt: >In uns exercet unser
Herr Gott das verbum, je mehr es angefochten wird, je lauterer und
reiner es wird«. Und dann: >Qui igitur verbum habet, is et crucem
habebit, debet autem crux prodesse et non obesse. Es muß also
sein, illa crux soll heißen ein purgatio et probatio. So ists auch
uns gangen: Hätten sie uns nit also gehäuet und getrieben, das
verbum war nimmermehr so lauter an Tag kommen«. Damit ver-
gleiche man:
»Es [das Wort] will durchs Kreuz bewähret sein,
da wird sein Kraft erkannt und Schein
und leucht stark in die Lande«.
Hier wie dort derselbe Gedanke, ohne daß die Vulgata herangezogen
wäre.
Aber zugegeben, das ganze Lied wäre sogar aus der Vulgata
geflossen, so wttrde das nach dem, was wir oben über Luthers Vul-
1) Zdtschr. f. kirchl. Wissensch. u. kirchl. Leben Y (1884), S. 295.
2) Vgl snr SteUe noch die Bemerkungen unten S. 284.
8) Erl. A., op. ex. 17, 104 (vgl. deutsch 88, 119).
4) Ueberhaupt h< Luther seit dem Betbüchlein 1522 (»in irdischen G«-
f&ßenc) an dieser Uebersetzung fest.
Spitta, Ein feete Burg ist unser Gott. 288
gatabenntzung gesagt haben, fUr die Datierung des Liedes gar nichts
ausmachen. Jedenfalls könnte niemand daraus den Schluß ziehen,
das Lied könne dann nicht 1523 oder 1524 gedichtet sein. Sodann
aber ist der Schluß, ein Lied, das der Psalmenttbersetzung von 1524
fernstehe, könne nicht in diesem Jahre verfaßt sein, auch aus folgen-
den Erwägungen falsch. Wir wissen nicht genau, wann die Psalter-
öbersetzung Luthers im Jahre 1524 erschienen ist. Am 1. September
1624 schreibt Luther an Heinrich von Zütphen: >Ad Michaelis festum
edetur Psalterium vemaculum parvum«.^) Damit ist unsere Ausgabe
gemeint; aber es ist auffallend, daß sie als >kleine< bezeichnet wird.
Nun ist tatsächlich Luthers Psalter — außer im dritten Teil seiner
Uebersetzung des Alten Testaments — in zwei Sonderausgaben 1524
erschienen: die erste war eine Ausgabe in Quart-, die zweite eine
in Oktavformat. ^) Die letztere meint Luther offenbar in jenem
Briefe. Dazu stimmt, daß Milich an Blaurer am 24. Juni 1524 schreibt
>Psalterium Germanicum excusum est«.^) Damit wird die erste oder
Quartausgabe gemeint sein. Also ist der Psalter doch etwa Anfang
Juni im Manuskript fertig gewesen. Diese große Arbeit muß aber
Luther in verhältnismäßig kurzer Zeit zustande gebracht haben. Denn
wir haben eine Uebersetzung des 120. Psalmen vom Februar 1524,^)
die ganz erheblich von der in der Ausgabe von 1524 abweicht.
Jene ist noch ganz von der Vulgata abhängig, wie schon darin
sich zeigt, daß sie im Präteritum gehalten ist, dagegen ist die
Uebersetzung in der Ausgabe von 1524 präsentisch und von der
Vulgata Überhaupt sehr frei gehalten. Mag immerhin dieser Psalm
mit zu den letzten gehören, die Luther neu bearbeitete, so kann
doch, wenn ein Psalmlied Luthers noch starke Verwandtschaft mit
1) Enders, Luthers Briefwechsel V, S. 15.
2) ErL A. 37, 104.
3) Hartfelder, Melanchthon. Paedag., S. 141; vgl. S. 144; Zeitschr. f. Eirchen-
gesdt XYU (1897), S. 408. Auf Grund von zwei Briefen an Steph. Roth in
Wittenberg vom 18. und vom 20. Mai 1524 (Archiv f. Gesch. d. deutschen Bueh-
faasdeli 16, 1898, 8.33) nimmt Köstlin-Kawerau, Luther" 1,572 an, der Psalter
sei schon im Mai 1524 erschienen. Indessen die Notiz im Brief: >solche bucher
hab ich antworden bis auff den aynen psalteriumc, die Buchwald in der An-
merkung mit dem Hinweis auf Luthers Sonderausgabe des Psalters glaubt erklftrt
zu haben, ist ganz dunkel Und aus der betreffenden Notiz des Briefes vom
20. Mai ist eher zu entnehmen, daß von dem dritten TeQ der Uebersetzung des
Alten Testaments noch nichts erschienen war, sonst würde wohl der Briefschreiber
eben bestimmt vom Psalter reden. Wahrscheinlich hatte ihm Both mitgeteilt, daa
etwas aus diesem dritten Teil n&chstens erscheinen werde, und nun bittet der
Briefschreiber um Besorgung dieses Stückes sofort nach seinem Erscheinen.
4) Luthers Trostschrift an die Miltenberger W. A. XV , 54 ff. Der Psalm
S. 74. Vgl. damit Erl. A. 37,226.
284 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
der Yülgata und wenig oder sogar gar keine Verwandtschaft mit der
Uebersetzang von 1524 zeigt, dieses Lied sehr gnt in den ersten
Monaten des Jahres 1524 entstanden sein.
Viel wichtiger scheint aber ein anderes Beweisverfahren Spittas
zu sein. Er nimmt nämlich die Grosse Luthers zum Psalter von
1513 ff., die operationes von 1519 ff. und die Uebersetzungen znr
Hand — ein Verfahren, das an sich sehr richtig ist — und will
durch Vergleichung mit dem Liede jene These beweisen.
Auch hier ist es unerläßlich, ins einzelne einzugehen. Folgende
Stellen des Liedes zieht Spitta in Betracht: 1. Str. 1,5: > Dein Wort
man läßt nicht haben wahr<. Durch Vergleichung dieses Verses mit
der Glosse, den operationes und den Uebersetzungen kommt Spitta
zu dem Schluß, das Lied müsse zwischen den operationes und der
Glosse, jedenfalls vor 1519 abgefaßt sein. Er geht dabei von der
Voraussetzung aus, daß jener Vers auf der Vulgata beruhe: >dimi-
nutae sunt veritates [a filiis hominum]<. Diese wird auch noch in
der Glosse, die einfach scripturarum hinzufügt, anerkannt. Lied und
Glosse sollen also auf Seiten der Vulgata stehen. Dagegen habe sich
Luther in den operationes von der Auffassung der Vulgata losgesagt
— hier ersetzt er die veritates durch fides = fidelitas, Treue —
und sich angeschickt, zur Auffassung der deutschen Uebersetzungen
fiberzugehen. Dagegen ist folgendes geltend zu machen: Es ist gar
nicht erwiesen, daß jener Vers auf der Vulgata beruht. Vielmehr
hat Luther offenbar, als er das Lied dichtete, bereits die Erkenntnis
der operationes gehabt, denn er singt: >Der Glaub ist auch ver-
loschen gar, bei allen Menschenkindern < — eine Stelle, die sich auf-
fallend mit einem in den operationes zweimal erscheinenden Satz be-
rührt, der die betreffende Stelle (Psalm 12,22) so wiedergibt: >inter
homines non est amplius fides < und >Vult enim dicere non esse
amplius fidem in hominibus<.^) Daß Vulgata, Glosse und Lied zu-
sammengingen, kann man also nicht behaupten, vielmehr stehen
Lied und operationes zusammen. Daraus folgt aber mit Bestimmt-
heit, daß es falsch ist, zu sagen: das Lied muß vor 1519 gedichtet
sein. Es kann nach dem Gesagten sehr gut nach 1519 gedichtet
sein. Die Uebersetzungen von 1522 und 1524 haben nun beide nicht;
»der Glaubec, sondern >die Gläubigen<. 1522 liest: »und die Gläu-
bigen haben abgenommen« (deutlich wirkt in dem >haben abge-
nommen« noch die Phrase aus der Vulgata: »diminutae suntc nach),
1524: >und der Gläubigen ist wenig«. Das scheint unser Lied von
den Uebersetzungen ab und den operationes zuzuschieben. Aber'
1) W. A. V, 370, 6 u. 14.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 285
wenn man keine weiteren Gründe hat als diesen, so wird er allein
fichwerlich ausreichend für eine solche Datierung sein.
2. Str. 4, 5—7 : »Mein heilsam Wort soll auf den Plan,
getrost und frisch sie greifen an
und sein die Kraft der Armen<.
Spitta behauptet, und mit Recht, daß Luther in den operationes
der Vulgata: >ponam in salutari, fiducialiter agam in eoc zwei Ge-
danken entnehme: der Glaube an Christus als Heilsgrund und die
furchtlose Verkündigung des Wortes von selten der Gläubigen. Dieser
doppelte Gedanke habe auch den Ausdruck in den hier vorliegenden
drei Uebersetzungen bestimmt: 1522: >Ich will ein Heil aufrichten,
davon man soll freudig wider sie handeln<; 1524 und 1528: >Ich will
ein Heil aufrichten, das (so! nicht daß) getrost darin handeln soll<.^)
Später: >Ich will eine Hülfe schaffen, daß man getrost lehren solle Im
liede aber fehle der Gedanke; das Wort, die Verkündigung er-
-scheine hier nicht als Folge des Glaubens, sondern allein als gött-
liche Gabe. Daraus folge ebenfalls, daß das Lied zwischen die
Glossen und die operationes zu setzen sei. Wenn nur Spitta die
Uebersetzung von 1524 richtig zitiert hätte! Liest man, wie er
irrigerweise angibt: >Ich will ein Heil aufrichten, daß getrost darin
handeln soll<, so hat man zwar das erwünschte ut consecutivum,
aber einen Satz, der keinen Sinn gibt. Liest man aber richtig, so
ist hier genau der Gedanke ausgesprochen, wie im Lied: das von
Gott aufgerichtete Heil, d. i. sein Wort, soll getrost (wie im Lied)
darin, d. h. in der Not der Armen, also wider ihre Feinde handeln.
1526 zitiert Luther diese Psalmstelle auch in seiner Auslegung des
Propheten Habakuk, und zwar in derselben Weise: >Ich wil ein heil
auffrichten, das soll frei drynnen handeln <. Er fährt dann fort:
>wilchs alles so viel ist gesagt: die weissagunge von Christo, wenn
sie nu erfüllet werden, so wird freigehen und erausbrechen, das
itzt verborgen ligt, das man ynn aller weit davon predigen und
sagen wird, also das auch niemand hindern kan, wenn sich gleich
die pforten der hellen dawiddersetzten. Denn das ist die art dieses
Ebraischen worts *Frey handeln', das es heist: frei offinbar erans
faren mit reden und getrost und kecklich von eim dinge sagen,
niemds angesehen<.^) Also auch hier die Gedanken des Liedes. Ganz
auf dieser Linie liegt auch die Erklärung von 1530: >£r, d.i. Gott
selbst, soll frisch und fröhlich (vgl. das >frisch< im Liede) wider
1) Erl A. 37,118; BindseU-Niemeyer, Martin Luthws Bibdabersetcung III
(1850), S. 78.
2) W.A.XIX,392f.
286 Gott. gel. Ans. 1906. Kr. 4.
sie reden<.^) Endlich kehrt dieselbe Auffassung auch in den Sum«
marien von 1533 wieder. ') Also auch hier liegt keinerlei Grand vor,
das Lied vor 1519 zu setzen. Gerade die angezogenen Verse stimmen
trefflich zur Uebersetzung von 1524.
3. Str. 5, 1—7 : Das Silber, durchs Feuer siebenmal
bewährt, wird lauter funden.
Am Gottes Wort man warten soll
Desgleichen alle Stunden.
Es will durchs Kreuz bewähret sein,
da wird sein Kraft erkannt und Schein
und leucht stark in die Lande.
Die Vulgata liest: >Eloquia domini casta, argentum igne exami-
natum, probatum terrae, purgatum 8eptuplum<. Spitta Mt die
Phrase: »probatum terrae« als für ihn wichtig ins Auge. In der Glosse
deutet Luther diese Worte mit: »separatum a terrae^ wie Hieio-
nymus. In den operationes wendet sich Luther von dieser Erklärung ab
und Reuchlin zu, denn einmal sei terrae im Hebräischen Dativ, so-
dann lehre Reuchlin, daß »aelil« eine Bezeichnung für ein Gefäß sei,
worin die Metalle geschmolzen und gereinigt werden. Man könne,
sagt Luther, die Stelle etwa so übersetzen: > Argentum liquatum in
liquatorio terrae, sive ad terram, quod sonat in rem et ad usnm
terrae, hoc est quo utantur qui in terra sunt, scilicet hominee«.^)
Er führt dann weiter aus, daß das Gefäß die Gläubigen seien; in
ihnen muß das Wort geläutert werden, und zwar in der Anfechtung.
Die Gottlosen wollen von solcher Läuterung nichts wissen. >Non ergo
intelligitur nee fructificat eloquium dei nisi mortificatis et tribulatis
nobis, hoc est nisi propter verbum fortiter impugnatis et tentatis,
non enim tam nos quam verbum patitur in nobis«. ^) Die lieber-
Setzungen nun lauten folgendermaßen: 1522: »Das Wort Gottes ist
lauter, wie ein durchfeuert Silber in irdischen Gefäßen, siebenfältig
ist es gereinigt«,^ 1524: >Die Bede[n] des Herrn sind lauter wie
durchfeuert Silber im irdenen Tiegel, bewährt siebenmalc ^ Seit 1528:
>Die Bede des Herrn ist lauter, wie durchläutert Silber im erdenen
Tiegel, bewähret siebenmal«. In den Uebersetzungen ist also das
>terrae< genetivisch gefaßt: >irdener Tiegel«. Nun sagt Spitta: Im Ued
1) Erl. A. op. ex. 17,104.
2) ErLA.87,278.
S) W.A. in,96,15 n. 88.
4) W.A.V,880,28ff.
5) W.A. Y, 881. ISC
6) ErLA.87,444.
7) ErL A. 37, 118.
Spitta, Ein f«8te Barg ist miser Gott. 287
fehlt die Vorstellung vom irdenen Tiegel, dagegen ist die dativische
Fassung des terrae deutlich erkennbar. >Auch hier also«, so schließt
er, »versteht sich der Text des Liedes nur aus der Zeit zwischen
Glossen und Operationen <. Auch dieser Schluß ist yorschnell. Hätte
Spitta die Auslegung des 12. Psalms von 1530 zur Hand genommen,
80 hätte er sich überzeugen können, daß seine Meinung, das Lied
zeige die > dativische < Auffassung des terrae wegen der beschriebenen
Wirkung des Wortes, falsch ist. Wie 1522, so hält auch Luther 1580,
wie überhaupt immpr, an der genetivischen Auffassung fest. Ausdrück-
lich erklärt er den Ausdruck >in vasis fictilibus« mit den Worten:
>ya8a terrae seu terrena et fictilia vasa nos sumus«.^) Dann aber
spricht er trotzdem von dem Kreuz und von dessen Erfolg vor der
Welt, wie ich oben schon gezeigt habe. Also ist aus dem Verhältnis
der fünften Strophe zu den operationes gar nichts für die Abfassung
des Liedes zu schließen, am wenigsten, daß sie vor die operationes
zu setzen sei. Diese fünfte Strophe kann in der Zeit von 1519 bis
1530 und auch noch nachher gedichtet sein.
4. Str. 6,1: >Das wellst du, Gott, bewahren reine Hier ist
Spitta ein handgreiflicher Irrtum untergelaufen. Er meint, Luther
habe die in den operationes vorgetragene Auffassung: »servabis eos<
» die Heiligen oder auch die Gottlosen zwar noch nicht 1522, aber
1624 in seiner Uebersetzung und später vorgetragen. Allein das ist
nicht richtig. Die Auffassung in den operationes hat Luther über-
haupt verlassen und als Objekt des >Bewahrens< 1522, 1524, 1528
und im Lied das »Wort< angesehen. Wenn die Uebersetzung von
1524 lautet: >Du, Herr, wollest sie bewahren« (1522: Gott, du
wollest es erhalten), so bezieht sich das auf die >Beden des Herrn«
zurück, die vorherstehen. Das Lied schließt sich also weder der
Glosse noch den operationes, sondern der Auffassung von 1522, 1524
und später ^ an. Auch mit diesem Beweise hat Spitta also daneben-
gegriffen.
5. In Str. 6,7 sollen die Worte »in deinem Volk« im Wider-
spruch mit den Uebersetzungen und mit der in den operationes vor-
getragenen Exegese stehen. Hier begleitet Luther die Erklärung der
diesbezüglichen Vulgatastelle : >filios hominum«, die die Väter bieten,
darunter nämlich die »filii dei< zu verstehen, mit der halb ablehnen-
1) Erl. A., op. ex. 17, 104; deutsch 38, 119.
2) YgL ErL A. 87,444; 118; BindseU- Niemeyer, M. Luthers Bibelflber-
setznng III (1850), S. 79; op. ex. 17, 105 erklärt Luther die betr. Worte: „Lieher
Herr, laS uns dabei (d. h. bei den Reden des Herrn, eloquia domini) bleiben, wir
könnens aUeine nicht erhobene. Also von den Heiligen ist gar nieht die Rede. —
Vgl. auch das Zitat Ps. 12,7 in der Schrift: Wider die himsdisdieD Propheteo,
wovon unten noch die Rede sein wird.
'ä88 Gatt. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
den Bemerkung : > Quorum sententiam non damno, sed literalem esse
non credo<.^) In den Uebersetzungen bietet Luther 1522: >unter
den Leuten«, 1524 und 1528 »unter den Menschenkindern«; später,
seit 1531: > unter den Menschen«. ^) Luther könne also, so meint
Spitta, wohl kaum nach 1519 die Worte >in deinem Volke« ins Lied
gesetzt haben, die er doch 1519 als mit dem Schriftbuchstaben
streitend bezeichne. Nun hat aber Luther in seiner Erklärung des
12. Psalmen 1530 das >inter filios hominum« von dem Volke Gottes
verstanden. Er schreibt: »Wo die n^>T ins Predigtamt kommen,
so kann Niemand das Volk erhalten . . . Est insigne nomen, quasi
diceret: Devorant populum meum, quaerunt suum ventrem pascere«.^
Wer will also aus den Uebersetzungen von 1522 (»Leute«) und 1524
(»Menschenkinder«) den Schluß ziehen, er habe dabei nicht ebenso
gedacht? Endlich hat aber Spitta hier plötzlich die Glosse, die ge-
rade recht ¥Fichtig ist, ganz außer acht gelassen; hier versteht
Luther unter den >filii hominum« die principes nach Prov. 28, 2.
Hätte Spitta mit seiner Annahme recht, so ergäbe sich also folgende
Kette für Luthers Deutung der >filii hominum« : 1. in der Glosse 1519:
die Fürsten; 2. im Lied: das Volk Gottes; 3. in den operationes: die
Gottlosen; 4. 1522 und 1524 dasselbe; 5. 1530: das Volk Gottes. Ist
das eine wahrscheinliche Reihe? Spricht nicht alles dafür, daß das
Lied zwischen der Uebersetzung von 1524 und der Auslegung von
1530 anzusetzen ist? Zu alledem kommt hinzu, daß gerade die letzten
Verse des Liedes deutliche Verwandtschaft mit der Uebersetzung
von 1524 und der von 1528 zeigen. Hier übersetzt Luther: »Es
sind Gottlosen umb und umb, wenn unter den Menschenkindern die
Losen erhöhet werden«.
6. Str. 2,5—7 (richtiger 3—7):
»Hur Herz nicht eines Sinnes ist,
in Gottes Wort gegründet.
Der wählet dies, der andre das,
sie trennen uns ohn alle Maß
und gleißen schön von außen«.
Die Vulgatastelle : »in corde et corde [locuti sunt]« erklärt die
Glosse durch den Zusatz: »vel duplici, alitor sciebant, alitor docue-
runt«.^) Diese Auflassung läßt Luther in den operationes als möglich
gelten, zieht aber die Deutung auf verschiedene Personen vor: die
1) W. A. V, 884, 20.
2) ErLA. 87,444; 118; 88,116.
8) ErL A. op. ex. 17,105; deuUch 88,120.
4) W.A.ni,96,l.
Spitta, Ein feste Borg ist unser Gott. 289
impii sind unter einander uneins: »quia vera et unica fides deest,
impossibile est, ut uno corde sint, sed necesse est, partium studia
factionesque inter eos abundare. Nunquam enim orta est secta, ex
qua non mox aliae sint natae . . . Quare divisionem istam sectarum per
divisionem cordis intelligendam putoc!^) 1522 übersetzt Luther:
»sie predigen wider ihr Gewissenc;') 1524 und 1528: »und reden
Heuchelei mit uneinigem Herzen«; 1531: >und lehren aus uneinigem
Herzen«;^ 1530 gibt er dazu die Erklärung : »Id est, diverse corde,
sie haben ein falsches Herz, sie gebens blande für mit Worten, und habens
anders im Herzen, sie sind eitel Lügner. Ratio est, quia sunt incerti
in corde.« ^) Es läßt sich nicht leugnen, daß das Lied der Auffassung
Luthers in den operationes am nächsten steht. Daß es aber vor
diese falle, zu dieser Annahme liegt keinerlei Grund vor. Aber auch
das kann man nicht behaupten, daß die Auffassung des Liedes im
Widerspruch stände mit Luthers Uebersetzung, bez. Erklärung von
1524 und 1530. Gewiß denkt Luther 1530 nicht an eine Meinungs-
verschiedenheit der Sektierer untereinander, sondern an die Glaubens-
unsicherheit der Einzelnen in ihrer Mitte. Aber wie nahe liegt
diesem Gedanken jener! Auch hier steht es so: Einen Beweis da-
für, daß das Lied nicht 1524 gedichtet sein könne, hat man nüt
dieser Sachlage nicht in der Hand. Wer wollte behaupten, Luther
habe unmöglich 1524 so dichten können, wie die Worte lauten?
Offenbar war er in der Auffassung der Stelle nicht völlig sicher.
Das sind die Stellen des Liedes, aus denen Spitta durch Ver-
gleichung mit Glosse usw. den Beweis erbringen will, daß das Lied:
»Ach Gott, vom Himmel sieh darein« zwischen 1513 und 1519 ge-
dichtet sein müsse. Unsere Prüfung der einzelnen Beweise wird ge-
zeigt haben, ob Spitta ein Recht hat, mit aller Zuversicht zu be-
haupten: »Aus den obigen Untersuchungen ergibt sich, daß von
einer Abfassung des Liedes im Jahre 1523 keine Rede sein kann.
Es wird vielmehr in das Jahr 1518 oder 1519 zu setzen sein« (S. 64).
Dieser Beweis ist nicht erbracht. Im Gegenteil können wir nach un-
seren Untersuchungen entschieden behaupten: zwischen der Glosse
und den operationes kann das Lied unmöglich entstanden sein. Zu-
zugeben ist, daß das Lied in manchen Einzelheiten den operationes
nahesteht. Ich wiederhole, daß die Verse Str. 1,6 f.:
»Der Glaub ist auch verloschen gar
bei allen Menschenkindern«
1) W.A.V, 371,2eff.
2) Erl.A. 37,444.
3) Bindseil-Niemeyer, a. a. 0. S. 78.
4) Erl. A. op. ex. 17,103; deutsch 38,117.
Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 4. 20
290 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 4.
an den Satz in den operationes erinnert: »inter homines non est
amplius fides« ; und daß Str. 2, 5 f. :
»Der wählet dies, der andre das,
sie trennen uns ohn alle Maße
der Auffassung der operationes entspricht. Ich füge hinzu, daß sich
in den operationes zu Psalm 12,9 der deutsche Satz findet: »Sie
sammeln sich mit hauffen und gehn dahync,^) was an den Vers
Str. 6,5 anklingt: »der gottlos Hanf sich umher findtc. Aber damit
ist auch die Verwandtschaft zwischen Lied und operationes, die hier
in Betracht kommen könnte, erschöpft. Diese parallelen Stellen
kommen aber gegen die Verwandtschaft des Liedes mit der Ueber-
setzung von 1524, die man, noch einmal sei es gesagt, nicht mit der
Bemerkung abtun kann, sie beruhe lediglich auf der beide Male be-
nutzten Vulgata, und mit der Auslegung von 1530 gar nicht in Be-
tracht. Zieht man noch die allerdings nicht häufigen Zitate des
12. Psalmen in den Jahren 1525 und 1526 in Betracht, so findet sich,
daß sich hier die Auffassung immer mit der des Liedes deckt. Von
der wichtigsten Stelle aus dem Habakukkommentar von 1526 war
schon die Rede. In der Vorlesung über Sacharja 1525/26 führt
Luther Psalm 12,7 an, um daraus zu beweisen, daß unter argentum
das ministerium verbi zu verstehen sei.^ Denselben Vers zitiert er
in den Predigten über das 2. Buch Mose (1526), um damit den Satz
zu belegen: > Argentum praedicatio Christiana est<.^) In den Vor-
lesungen über Maleachi von 1526 zitiert Luther dieselbe Stelle und
fügt hinzu: »Verbum dei in se quidem purissimum est, at in nobis
purgatur de die in diem, quia nos purgamur per ipsum<. Das
stimmt freilich auch mit der Auffassung des argentum in den opera-
tiones, aber ebenso mit der im Lied. So kann man jedenfalls daraus
keinen Grund gegen die Abfassung des Liedes im Jahre 1524 ent-
nehmen.^)
Nun hat aber Luther, und das ist wichtig, den 12. Psalm schon
in der Schrift: »Wider die himmlischen Propheten« 1524 angeführt,
und zwar gleich im Eingang. »Erstlich«, so sagt Luther da, »daß
jedermann mit ganzem Ernst Gott bitte um rechten Verstand und
um sein heiliges, reines Wort, angesehen, daß unter so mächtigen
Fürsten und Gott dieser Welt, dem Teufel, gar nicht in unsrer
Macht stehet, weder den Glauben noch Gottes Wort zu erhalten,
1) W.A. V,88S,19.
2) W.A. Xni, 609, soff.
8) W.A. XVI, 599, 29 f.
4) Dem Zitat Ps. 12,5 in den iVorlesangen über Zephania 1626, W.A.
Xni, 468, ist nichts zu entnehmen.
Spitta, Ein feste Borg ist unser Gott 291
sondern es muß allein göttliche Gewalt da sein, die es beschirme,
wie der 12. Psalm gar fein bet und spricht: die Wort Ootts sind
rein, durchläutert siebenmal: du Herr wolltest sie erhalten und be-
hüten für diesem Geschlecht ewiglich. Denn Gottlosen herum und
um sind, wo die losen Leute aufkommen. Vermessen wir uns, daß
wirs haben und sorgen nicht, wie wirs behalten, so ists bald ver-
loren«.^) Nicht allein, daß auch hier die Auffassung des Psalmen mit
der im Liede sich völlig deckt, diese Stelle legt auch die Vermutung
nahe, weshalb Luther gerade diesen Psalm zu einem Lied umge-
dichtet habe.
Spitta sagt, auch dieses Lied verdanke seine Entstehung nicht
dem Wunsche Luthers, der Gemeinde Psalmenlieder zu verschaffen,
sondern seinem rein persönlichen Bedürfnis. >Aus den Operationen
sehen wir, in welchem Maße der 12. Psalm Luther als ein Lied aus
seiner eigenen Lage gedichtet erschien. Dieser Empfindung verdankt
der 12. Psalm auch seine Aufnahme in das Betbüchlein von 1522
unter der Ueberschrift : ,Der elft Psalm, zu beten um Erhebung des
heiligen Evangelien'. Gegen die Annahme einer für den Gottes-
dienst bestimmten Psalmendichtung spricht auch, daß Luther gleich
in der ersten Zeile den Wortlaut des Psalms ,Hilf, Herr' verläßt
und Psalm 14,5 ,Der Herr schauet vom HimmeP herübemimmt . . .
Auch sonst geht das Lied mannigfach über den Rahmen einer bloßen
Uebersetzung hinaus. Vor allem ist es eine stark leidenschaftliche
Stimmung, die das ganze Lied durchflutet und es im Verhältnis zu
dem Psalmoriginale nicht kirchlich stilisiert, sondern im Gegenteil
ihm noch einen starken Zusatz persönlicher Stimmung gibt« (S. 64 f.).
In diesen Worten ist mit Recht der stark persönliche, ja leidenschaft-
liche Charakter des Liedes hervorgehoben. Es muß aus einer sehr
erregten Stimmung Luthers hervorgegangen sein. Und zwar muß
sich diese Stimmung gegen Verfälscher des Evangeliums gerichtet
haben, die er nicht nur auf selten der katholischen Kirche sucht.
In keiner Zeit aber trat ihm die neue Irrlehre so erschreckend ent-
gegen, regte sie ihn so tief auf, als in den Jahren 1523 und 1524.
Karlstadt, Münzer, Strauß forderten damals gerade Luthers ganze
Gegenwirkung heraus. In dieser Stimmung schrieb er seine kraftvolle
Schrift: Wider die himmlischen Propheten, und was liegt näher als
die Annahme, daß er damals auch die Umdichtung des 12. Psalmen
vornahm? Denn Zufall ists doch nicht, daß er gerade diesen Psalm
und daß er ihn gerade so umdichtete. Dann ist, wendet freilich
Spitta ein, das Psalmlied nicht eine Zweckdichtung, nicht aus dem
1) Erl. A. 29, 137.
20*
292 Gott gel. AnE. 1906. Nr. 4.
Wunsche geboren, der Oemeinde nur Lieder zn geben; das aber bat
Luther bei seinem Dichten 1524 bestimmt. Also kann das Lied nicht
in diese Zeit gehören. Hier stoßen wir auf eine jener vorgefaßten
Meinungen Spittas, die sich durch sein ganzes Buch hindurchziehen
(z. B. S. 77) und die äußerst yerhängnisvoU sind. Er hat sich einen
Begriff von > gottesdienstlichen c Liedern zurechtgemacht, der völlig
verkehrt ist. Als ob eine Dichtung, die offenbar aus starker persön-
licher Erregung heraus geschaffen ist, nicht zugleich zu dem Zweck
gedichtet sein könnte, der Gemeinde damit zu dienen! War die
Schrift: Wider die himmlischen Propheten eine aus persönlichster
Erregung heraus geborene Schrift? Ganz gewiß! War diese Schrift
nicht eine Zweckschrift im vollendetsten Sinn des Wortes, entstanden,
um die Gemeinde vor Irrlehre zu warnen? Ganz gewiß! So gut
nun eine Schrift diese Doppelseitigkeit tragen kann, so gut auch
eine Dichtung, zumal Luther ja, noch einmal sei es wiederholt,
keineswegs eine sklavisch treue, wörtliche Uebersetzüng bei den
Psalmdichtungen im Auge hatte, wie Spitta irrig und sich selbst
irreführend annimmt. Luther, in tiefer Erregung über die neuer-
lichen Vorgänge, will mit diesem Lied die Gemeinde zum Gebet
wider die Verwirrung des Wortes Gottes aufrufen, ihr dies Gebet
in den Mund legen. Man vergleiche nur zu diesem Gedanken die
eben angeführten Worte aus Luthers großer Streitschrift.^)
Also auch die Vergegenwärtigung der Lage Luthers 1524 kann
uns nur in der Annahme bestärken, das Lied sei 1524 (oder 1523)
entstanden. Wenn ich im vorstehenden einen Grund Spittas, den er
fUr seine Datierung des Liedes noch angeführt hat, unberücksichtigt
gelassen habe, so geschah es deshalb, weil er einer ernsten Wider-
legung nicht wert ist. Der Vollständigkeit halber, und weil eine
dabei vorgelegte Konjektur wohl Beachtung verdient, sei er aber
angeführt. Spitta schlägt vor, in Str. 3, 1 zu lesen : Gott wollt aus-
rotten alle gar, statt: alle Jahr. Diese Lesart scheint sich um der
Beseitigung einer logischen Verworrenheit des Textes willen tat-
sächlich zu empfehlen. Lasen doch auch einige beachtenswerte Drucke
des 16. Jahrhunderts ebenso.^
b) >Es spricht der Unweisen Mund wohl.« Ps. 14.
Um die Entstehungszeit dieses Liedes festzustellen, schlägt Spitta
den gleichen Weg wie bei dem eben untersuchten Liede ein. Er
prüft zunächst das Verhältnis zwischen dem Lied, der Uebersetzüng
1) Vgl. auch Luther über den 12. Ps. in den Summarien (1638) ErL A.
37, 278.
2) Vgl. Zelle, Das älteste lath. Haus-Gesangbuch S. 102, Anm. zu Z. 7.
Spitta, Ein feste Barg ist unser Gott. 298
von 1524 und der Vulgata. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß
das Lded keineswegs die Uebersetzung von 1524 voraussetze, und
daraus folgert er: > Somit ist die Zeit vor 1524 zunächst frei für
das Datum der Abfassung des Liedes < (S. 70). Zugegeben, er hätte
mit der ersten Behauptung recht, so folgt daraus keineswegs schon
die zweite. Spitta tut so, als wäre die Psalmenübersetzung am
1. Januar 1524 fix und fertig gewesen. Wir haben oben gesehen,
daß das nicht richtig ist und daß wir vielleicht gut zwei, drei Monate
des Jahres 1524 offen haben für die Entstehung eines Psalmliedes
Luthers.
Aber auch die erste Behauptung steht auf schwachen Füßen.
Wieder muß ich sagen, daß Spitta so tut, als sei die Vulgata
eine alte deutsche Uebersetzung. Wäre sie das, dann hätte er
wohl ein Recht zu sagen: Klingen Lied, Uebersetzung und Vulgata
zusammen, so ist anzunehmen, daß jene beiden ersten aus der Vulgata
geschöpft haben. Aber wenn man fest im Auge behält, daß es sich
bei der Vulgata um eine lateinische Uebersetzung handelt, die
sowohl im Lied wie in der Uebersetzung verdeutscht wird, so
muß es doch ins Gewicht fallen, wenn Lied und Uebersetzung für
einen lateinischen Ausdruck ein und denselben deutschen Ausdruck
bringen. Es gibt doch für ein lateinisches Wort wahrlich nicht nur
ein einziges entsprechendes deutsches! Wenn z. B. die Vulgata
Ps. 14, 1 liest: >corrupti sunt«, so läßt sich das Wort doch wahrlich
noch anders, als nur durch > verderbte übersetzen. Hätte Luther
dafür nicht ganz gut auch > verkehrte setzen können? In der Aus-
gabe des Psalters von 1528 setzt er dafür: > verdorbene; seit 1531
übersetzt er es mit: >sie taugen nichts <.^) Im Lied und in der
Uebersetzung lesen wir aber beidemale: »verderbet«. Oder kann
Spitta nachweisen, daß Luther überall und immer das lateinische
>corrupti€ so und nicht anders wiedergibt? Oder das folgende Wort
der Vulgata: >abominabiles< übersetzt Luther in der Psalter- Ausgabe
1524 und 1528 mit: > greulich«; im Lied sagt er: [ihr Wesen] ist
für Gott ein > Greuel« gar.^ Beidemale also dasselbe Wort. Hätte
er nicht auch dafür >abscheulich« und >ein Abscheu« setzen können?
Oder läßt es sich nachweisen, daß Luther >abomiDabilis« immer mit
>greulich« übersetzt? Den Ausdruck >prospexit« in Ps. 14, 2 übersetzt
Luther im Lied und in der Uebersetzung 1524 und 1528 mit >sah«
(Praeteritum) ; spätersetzter dafür > schauet« (Praesens). Also läßt
sich jenes Wort doch auch noch anders als durch das einfache >8ah«
1) Bindseil-Niemeyer, a. a. 0., S. 80.
2) Diese Wendung hat denn auch seit 1531 seine Uebersetzung bestimmt.
Ebenda.
294 Qött gel. Anz. 1906. Nr. 4.
wiedergeben. So könnte ich fortfahren. Was ich sage, sind ja
Binsenwahrheiten. Aber sie sind eben yon Spitta ignoriert worden
und er droht damit Verwirrung anzurichten. Deshalb muß ich sie
hier aussprechen und energisch hervorheben.
So fallen in der Tat die wörtlichen Uebereinstimmungen zwischen
Lied und Uebersetzung von 1524 ins Gewicht und sie sind nicht mit
der Bemerkung abzutun: es liegt ihnen die Vulgata zugrunde!
Ferner sagt Spitta, in einer Reihe von Stellen stehe das Lied
mit der Vulgata der Uebersetzung von 1524 gegenüber. Prüfen wir
diese Stellen! Zunächst soll in Betracht kommen Str. 1, 1 : >£s spricht
der Un weisen Mund wohl«. Das soll auf der Vulgata beruhen:
>Dixit insipiens<, während die Worte der Uebersetzung von 1524:
>die Narren sprechen c für sich stehen sollen. Aber das ist offen-
bar fehlgegriffen. Denn erstens steht in der Vulgata die Einzahl
(insipiens), im Lied und in der Uebersetzung aber die Mehrzahl
(die Unweisen — die Narren); zweitens steht in der Vulgata das
Perfektum (dixit), dagegen im Lied und in der Uebersetzung das
Präsens. Was in aller Welt berechtigt also zu dem Schluß: Lied
und Vulgata stehen gegen die Uebersetzung? Kann > insipiens« etwa
nicht ebenso gut mit >Narr« wie mit > Unweise« übersetzt werden?
Also scharf zugesehen gehört Str. 1, 1 zu den Stellen, in denen das
Lied gegen die Vulgata zur Uebersetzung steht. — Ferner soll
Str. 5, 1 : > Darum ist ihr Herz nimmer still« mit der Vulgata über-
einstimmen: >Illic trepidaverunt timore«, während wieder die Ueber-
setzung für sich stehe: >Daselbst furchten sie sich«. Wie das be-
wiesen werden soll, kann ich nicht einsehen. Auch hier verdient es
Beachtung, daß das Perfectum der Vulgata in Lied wie Uebersetzung
ins Präsens verwandelt ist. »Ulic« aber heißt nicht »darum«, sondern
> daselbst« ; also Uebersetzung und Vulgata, die beide den Grundtext
richtig wiedergeben, gehen hierin zusammen. — Nicht besser steht's
mit den Stellen Str. 6, 1 und 6 f.: >Wer soll Israel dem armen zu
Zion Heil erlangen?« Vulgata liest: »Quis dabit ex Sion salutare
Israel?« Die Uebersetzung: >Wer wird Israel zu Zion helfen?«
Daß das »dare salutare« im Lied mit »Heil erlangen« übersetzt ist
und 1524 mit: »helfen«, ist das ein so großer Unterschied? Viel
mehr kann man es betonen, daß das ex 8ion in Lied und Ueber-
setzung (gegen den Grundtext) mit z u Zion wiedergegeben ist. Also
auch hier besteht Spittas Behauptung nicht zurecht. — Endlich die
letzte Stelle: Str. 6, 6 f.: ^ Davon wird Jakob Wonne han und Israel
sich freuen«. Auch hier begreife ich nicht, warum diese Uebersetzung
dem Vulgatatext entsprechen, die von 1524 ihr aber entgegen sein
soll. Vulgata liest: »exsultabit Jacob et laetabitur Israel«; 1524:
Spitta, Ein feste Borg ist unser Gott 296
»SO wird Jakob fröhlich sein and Israel sich freuen <. Umgekehrt
scheint mir auch hier wieder Lied und Uebersetzung von 1524 zu-
sammenzustehen, denn beide Male findet sich das Yerbum: >sich
freuen <, und 1524 ;hat ein >80< am Anfang des Satzes, dem das
> davon c im Liede durchaus entspricht, während die Vulgata kein
entsprechendes Wort aufweist. Also kann ich nicht begreifen, ¥Fie
Spitta sagen kann, hier stehe Lied und Vulgata der Uebersetzung
gegenüber. Er wird doch nicht behaupten wollen, daß »exsultare<
nicht ebenso gut mit >fröhlich sein« wie mit >Wonne haben« über-
setzt werden kann?
Endlich soll noch die Tatsache, daß eine Reihe von Stellen im
Liede ganz selbständig ist, das Recht zu der Behauptung begründen,
das Lied ruhe nicht auf der Uebersetzung von 1524. Ich gestehe,
daß mir dieser Grund erst recht nicht einleuchten will. Er setzt
voraus, daß Luther eben so gedichtet haben müsse, wie sich das
Spitta als notwendig denkt.
Ziehe ich das Ergebnis aus unsrer Nachprüfung, so liegt auf
der Hand, daß sich das Gegenteil von Spittas Behauptung ergibt:
das Lied steht offenbar in enger Verwandtschaft zur Uebersetzung
von 1524, und alles spricht dafür, daß sie beide auch zeitlich nahe
beieinander liegen.
Indessen, hören wir weiter, was Spitta gegen diese These vor-
zubringen hat!
Wieder zieht Spitta die Glosse und die operationes heran, um
aus dem Vergleich mit ihnen und dem Lied Schlüsse auf dessen
Abfassungszeit zu ziehen. Da faßt er denn hier zuerst Str. 1 , 1
ins Auge, einen Vers, den er, irrigerweise, wie wir sahen, an die
Vulgata heranrückt. In den operationes soll Luther die Vulgata
verlassen haben und außerdem soll eine Auffassung des hebräischen
Wortes bia vorliegen, die es kaum soll begreifen lassen, wie Luther
darnach noch die Wendung: >Es spricht der Un weisen Mund< habe
brauchen können. Luther erklärt nämlich das Wort mit: >stultu8 et
idolatra, ignarus dei<.^) Dazu passe wohl die Uebersetzung von
1524: >Die Narren (Toren) sprechen«, nicht aber die >Unwei8en<.
Hätte Spitta die Behandlung des Psalmen von 1530 zur Hand ge-
nommen, so würde er diese Behauptung kaum gewagt haben. Dort
erklärt nämlich Luther auch jenes hebräische Wort; er sagt, man
habe es mit >insipiens< wiedergegeben, und er fährt dann fort: >signi-
ficat omnem hominem, qui est sine sapientia Christi et sine verbo.
1) W. A. V, 392, 35.
396 Oött gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Tarca, papa et sapientissimi in mundo.. <^) Hier hält also Luther
auch an dem Begri£f der >Unweisen< fest. Wenn er das aber 1530
konnte, so doch auch 1524 im Lied. Ein Grund also, die Dichtung
vor die Operationen zu stellen, liegt in Str. 1, 1 keineswegs vor.
Noch eine Reihe andrer Stellen führt Spitta an, in denen das
Lied sich im Gegensatz zu den Glossen und in Uebereinstimmung
mit den operationes befinden soll, und daraus folgert er, daß das Lied
etwa in das Jahr 1518 zu setzen sei. Jene Tatsache, an deren
Richtigkeit nicht zu zweifeln ist, drängt aber viel eher zu dem
Schluß, daß das Lied nach den operationes entstanden ist. Zeigte
sich, daß das Lied bald mit der Glosse, bald mit den operationes
eins sei, so wäre der Schluß Spittas richtig. Nun kommt aber hinzu,
daß alle die Stellen des Liedes, die eine deutliche Verwandtschaft
mit den operationes zeigen, auch mit der Auslegung von 1530 über-
einstimmen. Daraus folgt, daß wir keinen Grund haben, das Lied
zeitlich den operationes möglichst nahe zu legen. Wüßten wir zu-
fällig nicht, daß es 1524 veröffentlicht ist, so könnte ich es mit dem-
selben Grund, mit dem Spitta das Lied an die operationes heran-
rückt, ans Jahr 1530 rücken.
Also auch hier das gleiche Ergebnis wie bisher: Spittas Datierungs-
versuch schwebt in der Luft.
Von den drei weiteren Psalmliedern Luthers: >Es wollt
uns Gott genädig sein« Ps. 67, >Wohl dem, der in Gottes
Furcht steht« Ps. 128 und >Wär Gott nicht mit uns diese
Zeit« Ps. 124 gibt auch Spitta die Verwandtschaft mit der Ueber-
setzung Yon 1524 zu, auch will er sie ihr zeitlich nahe setzen; nur
setze keines der Lieder diese Uebersetzung voraus. Ich will mit
Spitta darüber nicht rechten. Die Sache ist zu wenig wichtig, als
daß es sich lohnte, auf Einzelheiten einzugehen. —
Damit bin ich am Schluß meiner Nachprüfung. Mit dem Ver-
such Spittas, vier von den sieben Psalmliedem Luthers vor das
Jahr 1523/24 und zwar in die Zeit um 1518 bezw. 1521 zu setzen,
ist es also nichts. Gegen ihn spricht schon die oben erwähnte Tat-
sache, daß Luther in seinen Prosaübersetzungen des Psalters immer
freier nicht nur von der Vulgata, sondern auch von dem Grundtext
wurde, daß er den einzelnen Psalm inmier persönlicher, gegenwärtiger
faßte, ihn immer entschiedener aus dem Präteritum ins Präsens um-
setzte. Man kann nicht annehmen, daß er hierin in seinen Dichtungen
andre Wege eingeschlagen haben sollte.
Ich muß es andren überlassen, die Datierungen der weiteren
1) Erl. A. op. ex. 17, 108.
Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. 297
Lieder Luthers durch Spitta nachzuprüfen. Sie scheinen mir ebenso
gewagt und unsicher, wie die behandelten. Doch möchte ich nicht
schließen , ohne auszusprechen , daß Spitta in Bezug auf das Lied :
»Wir glauben all an einen Gott< mir etwas Richtiges gesehen
zu haben scheint. Er scheint mir mit vollem Recht der traditionellen
Anschauung, das Lied sei eine Verdeutschung des Credo in der
Messe, also des Nicaeno-Constantinopolitanum, die andre entgegen-
zusetzen, daß das Lied die Erweiterung einer deutschen und lateini-
schen Vorlage eines unbekannten Verfassers sei. Wenn auch hier
Spitta oftmals so tut, als habe er Luther bei seiner Arbeit über die
Schulter, ja sogar ins Herz gesehen — ein einziger literarischer
Fund kann seine Rekonstruktion der Entstehung des Liedes völlig
aber den Haufen werfen — , so scheint er mir doch in der Haupt-
sache völlig recht zu haben. Jedoch kann ich auch hier nicht um-
hin, die Datierung des Liedes für äußerst gewagt zu erklären. Wie
er behaupten kann, daß bei dieser Dichtung Luther ein Gedanke an
die Gemeinde ganz fem gelegen habe, ja wie er die Sätze nieder-
schreiben kann: »In diesen Jahren (1523 oder 1524) der Bemühungen
Luthers um Eultuslieder konnte eine solche Dichtung gar nicht ent-
stehen. Wie früh sie zu setzen ist, läßt sich überhaupt nicht be-
stimmen. Sie kann leicht zehn Jahre älter sein, als man bisher an-
genommen hat« (S. 186) , ist schlechterdings nicht einzusehen. Hier
spukt immer wieder seine verkehrte Auffassung von der Eultuslieder-
dichtung Luthers. Hätte Luther diese Dichtung bereits lange fix
und fertig im Kasten liegen gehabt, so begreift es sich nicht, warum
er nicht schon 1523 damit herausgerückt ist. Denn in der formula
missae läßt er nur wenige der gebräuchlichen deutschen Lieder
gelten; er zählt deren nur drei auf, unter denen die Vorlage seines
Glaubensliedes bemerkenswerter Weise fehlt. ^) Also entweder hat
man diesen »deutschen Glauben« in Wittenberg nicht gesungen, oder
Lother hat das Lied nicht gebilligt. Warum er aber zu einer Um-
diditnng schritt, ist aus den Verhältnissen von 1523 oder 1524 ganz
gut verständlich. Was sollte ihn denn etwa 1515 zu dieser Um-
dichtung veranlaßt haben? —
Wir scheiden von Spittas Buch bei allem Dank für die Förderung
im einzelnen und für die empfangene Anregung doch mit dem leb-
haften Bedauern, daß Spitta, dem wir sonst so reiche Förderung auf
hymnologischem Gebiet verdanken, so viel Kraft und Geist an eine
irrige These gewendet hat. Das Gute hat aber wohl sein Buch, daß
niemand sobald seine These wieder aufnehmen wird. Denn was sich
1) Erl. A. op. T. a. 7, 17; W. A. XII, 218.
298 Gdtt gfiL Anz. 1906. Nr. 4.
for sie sagen läßt, das hat Spitta gesagt. Und es ist immer dankens-
wert, wenn jemand eine auch falsche Hypothese mit aller Energie
durchführt.
Gießen. Paul Drews.
J. Tolkelt, System der Aesthetik, Bd. I. München 1905, C. H. Becksclte
Verlagsbachhandlung (0. Beck). XYIII, 692 S. Mk. 10.50, geb. Mk. 12.—.
Seit dem Zusammenbruch der spekulativen Aesthetik mußte
naturgemäß einige Zeit vergehen, bis die neue psychologische Rich-
tung den großen Leistungen der alten Schule zusammenfassende
und in ihrer Art abschließende Werke an die Seite stellen konnte.
Nach einer Zeit langer sorgfältiger Arbeit, in der das neue psycho-
logische Prinzip nach allen Seiten gewandt und die einzelnen Pro-
bleme der Aesthetik von ihm aus erhellt und gedeutet worden waren,
scheint nunmehr der Zeitpunkt erreicht zu sein, wo die neue Methode
ihrer selbst sicher dazu schreiten kann, die gewonnenen Bausteine
zum stattlichen Ganzen zusammenzufügen. Binnen weniger Jahre
sind in Deutschland vier große zusammenfassende Werke erschienen
oder haben wenigstens zu erscheinen begonnen : die Werke von Groos,
Lange, Lipps und Roetteken; denn auch die Poetik von Roetteken ist in
ihrem ersten Band den grundlegenden Fragen der Aesthetik gewidmet
Nun gesellt sich zu ihnen auch Volkelt mit dem ersten Band einer
umfänglichen auf zwei starke Bände angelegten Aesthetik, in der er
die Früchte einer fast 30jährigen Beschäftigung mit den Problemen
der Aesthetik niedergelegt hat.
Und in der Tat ist sein Buch ein ausgereiftes Werk. Volkelt
beherrscht das ganze Gebiet der Aesthetik mit souveräner Sicherheit.
Ueber alle die behandelten Probleme ist er zur vollen Klarheit
durchgedrungen; er überrascht durch eine Fülle von selbständigen
Lösungen der einzelnen strittigen Fragen und wie von selbst wächst
aus den einzelnen Ergebnissen seine Gesamtauffassung des Aestheti-
schen hervor. Aber auch ohne das Neue, das er bietet, würde sein
Buch doch gegenüber den eben erwähnten Darstellungen der Aesthetik
ein Werk eigenen Gepräges sein. Während die andern Aesthetiker
im wesentlichen nur ihre eigene Ansicht begründen und auf fremde
Aufstellungen nur eingehen, soweit sich an ihnen die eigene Ansicht
deutlicher aussprechen läßt, strebt Volkelt darnach, einen Ueberblick
über den Gesamtstand der Aesthetik zu geben. Mit dankenswerter
Knappheit und mit erstaunlicher Vollständigkeit findet die gesamte
ästhetische Literatur unserer Tage und von der vergangenen alles,
Volkelt, System der Aesthetik. I. 299
was inhaltlich von Bedeutung geblieben ist, bei ihm Berücksichtigung
und Beurteilung. Wie seiner Zeit Vischer die ganze spekulative
Aesthetik zusammengefaßt und seine Auffassung als Abschluß der
ganzen ästhetischen Zeitbewegung hat erscheinen lassen, so hat es
Volkelt verstanden, seine eigene Aesthetik auf dem Untergrund der
ästhetischen Arbeit unserer Tage aufzubauen und so ein glänzendes
Seitenstück zur Vischerschen Aesthetik zu schaffen. Uebertrifft ihn
Vischer auch an stilistischer Meisterschaft und in der feinen halb-
dichterischen Analyse der Kunstwerke, so ist doch auch Volkelts
Ueberblick über die künstlerische Produktion, namentlich über die
poetische bewundernswert und auch sein Werk ist reich an feinen
Bemerkungen, die seinem Kunstverständnis ein rühmliches Zeugnis
ausstellen. Und in einem tut er es dem alten Meister der Aesthetik
zuvor: die Klarheit seiner Erkenntnisse teilt sich seinem Stil mit
und gibt seiner Darstellung eine sichere Bestimmtheit, eine wohl-
tuende Ruhe und eine Leichtigkeit im Ausdruck, die sich von dem
Ringenden und Springenden bei Vischer kräftig abhebt und die
Lektüre seines Werkes zu einem relativ mühelosen Genuß macht.
Die eigene Ansicht als die Frucht der ästhetischen Entwicklung
hervortreten zu lassen, ist Volkelt nach seiner ganzen Stellung und
geistigen Eigenart besonders befähigt. Volkelt steht noch mit der
Zeit der spekulativen Aesthetik in lebendiger Fühlung und ist dabei
doch einer der Bahnbrecher der modernen psychologischen Aesthetik
geworden. Er ist sich dieser Doppelstellung wohl bewußt: >Wie
ich mich<, sagt er (S. 290), >in den grundlegenden psychologischen
Betrachtungen den Psychologen unter den modernen Aesthetikern
nahe verwandt fühle, so bin ich mir in den normativen oder teleo-
logischen Erwägungen der Verwandtschaft mit Schiller und den
spekulativen deutschen Aesthetikern bewußt. Es steht mir in der
Aesthetik das Ziel vor Augen, die moderne eindringende psycho-
logische Art mit der älteren durch Wertbegriffe bestimmten Be-
trachtungsweise zu verbinden.« In besonnener Prüfung hat Volkelt
aus dem Alten das Wertvolle herausgefunden und beibehalten und
hat ohne Bruch das Neue ans Alte angeschlossen, indem er das
Alte aus seinen spekulativen Höhen in die psychologische Wirklich-
keit herabgezogen und es im Wesen der Seele verankert hat. Sein
maßvoller Sinn ist aller Schroffheit und Ausschließlichkeit feind; er
liebt in der Wissenschaft nicht das > Entweder-Oder <. Eine peinlich
sorgfältige Beobachtung der Wirklichkeit hat ihn gelehrt, wie mannig-
faltig die Wirklichkeit ist und wie wenig sie sich beugen läßt unter
scharfe logische Alternativen; er sucht ihr durch möglichste Weite
der ästhetischen Forderungen gerecht zu werden. In dieser Hinsicht
300 Gott. sei. Anz. 1906. Nr. 4.
ist sein Werk auch von einem nicht unbeträchtlichen methodologischen
Wert and eine wahre Schule der Besonnenheit. Referent gesteht,
daß er sich in manchen Stücken, in denen er sich mit einem
Entweder-Oder abgemüht hat, befreit gefühlt hat durch Volkelts
unbefangene Anerkennung zweier Möglichkeiten. Eine Kehrseite hat
freilich die Fähigkeit Volkelts, an den verschiedensten Standpunkten
das Berechtigte herauszufinden und der Vielseitigkeit der Wirklich-
keit gerecht zu werden: die Analyse glückt ihm besser als die
Synthese des Analysierten; die strenge innere Einheit, als welche
auch nach seiner Ansicht das Aesthetische erscheinen soll (S. 375),
kommt nicht so überzeugend zum Ausdruck, als er es wohl selbst
glaubt und als es auf Grund seiner eigenen Voraussetzungen mög-
lich wäre.
Volkelt stellt vier nicht weiter aus einander ableitbare Grund-
normen auf, die zusammenwirken müssen, wenn das Aesthetische als
ein Reich von eigenartigem und unersetzlichem Wert begriffen werden
soll. Volkelt ist ein warmer Verfechter der normativen Aesthetik.
Die Psychologie, so lehrt er, kommt mit ihren Mitteln niemals über
die Feststellung, Zergliederung und Verknüpfung des Tatsächlichen
hinaus. Wenn also ein seelisches Gebiet mit dem Anspruch analysiert
wird, daß es einen bestimmten menschlichen Wert darstellt, so ist
dieser Beweis neben der Analyse noch besonders zu führen. In den
ästhetischen Normen wird festgestellt, welchen Bedür&iissen unserer
Seele durch die psychischen Vorgänge, die als die ästhetischen er-
kannt sind, Befriedigung zu teil wird (S. 367/8). Volkelts Werk zer-
fällt daher außer einem vorbereitenden Abschnitt, der sich mit der
Methodologie der Aesthetik befaßt, in eine beschreibende und eine
normative Grundlegung der Aesthetik. Beide Teile hängen aufs
engste zusammen ; die Beschreibung der Vorgänge beim ästhetischen
Verhalten bildet die Grundlage, auf welcher sich die Lehre von den
Normen erhebt. Und die Entwicklung der ästhetischen Normen gibt
die Rechtfertigung dafür, daß gerade diese bestimmten seelischen
Vorgänge als die ästhetischen abgegrenzt und zergliedert worden
sind (S. 74). Man trifft daher das Ganze seiner Aesthetik, wenn man
sich für die Kritik an seine Lehre von den ästhetischen Normen hält
Die erste seiner Normen verlangt die Einheit von Form und
Gehalt. Für Volkelt ist alle Form sinnliche Form, sie ist die für
den ästhetischen Betrachter vorhandene Außenseite der Gegenstände,
sie ist die Oberflächenerscheinung der Gegenstände. Das Aesthetische
kommt bei ihm so zustande, daß sich der Betrachter der Form
gegenüber einfühlend verhält und ihm also der Gegenstand den Ein-
druck macht, als ob die Form, die sinnliche Seite des Gegenstandes
Volkelt, System der Aesthetik. I. 801
voll Leben und Seele sei (S. 392/3). In der Verschmelzung von
Schauen und Fühlen, im gefuhlbeseelten Anschauen tritt eine in sich
wertvolle Richtung des menschlichen Verhaltens zutage, die weder
in der wissenschaftlichen noch in der sittlichen oder religiösen Be-
tätigung vorhanden ist, sondern ihnen gegenüber etwas Eigenartiges
zu besagen scheint (S. 389).
Volkelt verhehlt sich selber nicht, daß die Poesie dieser Auf-
fassung des Aesthetischen Schwierigkeiten bereitet. Anläßlich der
Frage, ob die erwähnte Norm auch für die Poesie Gültigkeit habe,
befaßt sich Volkelt auch mit meinem Buch über das Stilgesetz der
Poesie (Leipzig 1901), in dem ich die Definition der Kunst als gehalt-
erfüllter Sinnenform im Hinblick auf die Poesie bestritten habe, die
ihrem Wesen nach als Kunst der abstrakten Sprache überanschaulich
sei. Volkelt findet es verdienstlich, daß ich die wesenhafte Bedeutung
der Sprache für die Dichtkunst mit starker Betonung dargelegt habe,
er bedauert aber zugleich, daß ich auf einen verhängnisvollen Irrweg
geraten sei, indem ich die Phantasieanschaulichkeit nicht als Aufgabe
der Dichtkunst anerkannt habe (S. 88). Nun habe ich nicht geleugnet,
daß den Aufnahmeprozeß des dichterischen Kunstwerks allerlei
Phantasieanschauungen, optische, akustische und motorische, oder
wie ich sie nenne, mimische begleiten (vgl. Stilgesetz S. 52). Darüber
kann also zwischen uns kein Streit sein. Aber ich habe bestritten,
daß das Darstellungsmittel der Poesie sinnliche Formen sind.
Damit ist ausgesprochen, daß weder der Dichter den Gehalt, den er
uns übermitteln will, in sinnlich-anschauliche Formen niederlegt, noch
daß wir den Gehalt aus solchen Formen erheben, wie wir dies in
den übrigen Künsten tun. Die Phantasieanschauungen, die den Auf-
nahmeakt der Poesie begleiten, haben nicht die Bedeutung, daß sie
uns den Gehalt vermitteln, der vielmehr restlos ausgedrückt ist
in den gedanklichen Vorstellungszusammenhängen, die durch die
Worte der Dichtungen gebildet werden. Nicht also, ob Phantasie-
anschauungen sich während der Lektüre der Dichtungen einstellen,
sondern ob sie die Form der Poesie sind, ist die Frage, die zwischen
uns schwebt. Form ist in allen Künsten das vom Künstler Gegebene,
in das der Gehalt niedergelegt ist, in das die Einfühlung zum Zweck
der Gehaltsaneignung stattfindet — anders sieht es auch Volkelt
nicht an: In was findet also in der Poesie die Einfühlung statt, in
die sinnliche Form, in die > Oberflächenerscheinung der Gegenstände«
oder in einen überanschaulichen Zusammenhang sprachlicher Vor-
stellungen? Es will mir als der eigentliche Mangel der Volkeltschen
Auffassung erscheinen, daß er diese Fragstellung nicht als den Kern
des Streites erkannt hat. Hätte er es getan, so wäre seine Ent-
302 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Scheidung anders ausgefallen und er hätte es nicht nötig gehabt,
seinem sonst klar und folgerichtig ausgebildeten Begriff der Form
als des Objekts der Einfühlung im Abschnitt, der von der Poesie
handelt, eine verschwommene und widerspruchsvolle Verwendung zu
geben.
Es ist kein Zweifel, daß Gefühle und Stimmungen, die mit
einiger Lebendigkeit durch die Worte des Dichters in uns erregt
werden, die Neigung haben, in Bewegungsempfindungen, in vor-
gestellte oder in wirkliche, ja selbst in eigentliche Bewegungen
auszumünden. Bei mimisch veranlagten Naturen ist der 6enn£
der Poesie vielfach von einem heimlichen inneren Agieren und
Deklamieren begleitet. Volkelt ist der Ansicht, daß diese Be-
wegungsempfindungen als relativ selbständige vom Leser hinzugefügte
Stimmungsverleiblichungen eine wesentliche Seite der dichterischen
Anschaulichkeit ausmachen und er macht mir den Vorwurf (S. 419),
diese Art der Verleiblichung , die nicht auf direkte Anregung der
Dichterworte, sondern selbständig auf Grund der in den Dichter-
worten enthaltenen Stimmungen vorgenommen werde, sei gar nicht
in den Umkreis meiner Erwägungen getreten. Ich begreife diesen
Vorwurf nicht; ich rede mehrfach von diesem Drang, das seelische
Miterleben sich entladen zu lassen ins Körperliche (vgl. z. B. Stilgesetz
S. 52, 108). Aber wenn ich auch diese Bewegungsempfindungen als
Begleiterscheinungen der Poesie anerkenne, so kann ich doch nicht
zugeben, daß sie zu den Darstellungsmitteln der Poesie gehören, daß
sie ein Stück ihrer Form seien. Im Gegenteil, die Einfühlung muß
vollzogen sein, wir müssen durch die Einfühlung in den Besitz der
Stimmung gelangt sein, dann erst kann unter dem Einfluß des
mimischen Triebes, d. h. des Verlangens, das empfundene Seelische
sich entladen zu lassen ins Körperliche, die Bewegungsempfindung
sich einstellen. Die Lektüre von Goethes Prometheus soll nach
Volkelt (S. 421) die Phantasiebewegungen des straffen Sichempor-
reckens und kraftvollen Sichzusammenfassens begleiten. Das mag
bei vielen Lesern der Fall sein. Aber ehe wir uns emporrecken,
ehe wir uns zusammenfassen können, müssen wir den königlichen
Trotz des Prometheus gegen die Götter und seinen entschlossenen
Willen, sich die eigene Welt zu schaffen, gefühlt haben. Die Be-
wegungsempfindungen sind also das Produkt der Einfühlung, statt
ihr Objekt zu sein. Ist dem so, dann gehören sie nicht zur Form,
unter der wir doch das vom Künstler Gegebene verstehen, in das
die Einfühlung stattfindet. Erzeugen die Worte des Dichters nicht
unmittelbar das Anschauliche, aus welchem wir durch Einfühlung den
Gehalt erheben, haben wir vielmehr den Gehalt, ehe wir im Besitz
Volkelt, System der Aesthetik. I. 303
des Anschaulichen sind, so liegt die Form ganz wo anders als in
diesem Anschaulichen. Sie liegt in dem, in das die Einfühlung statt-
findet, in den überanschaulichen Worten des Dichters, in denen die
Stimmung ausgeprägt und dem Leser gegeben ist. Volkelt verschiebt
seinen eigenen Begriff der Form, wenn er Anschauungselemente, die
er selbst als selbständige Verleiblichungen der vom Dichter erregten
Stimmungen durch den Leser bezeichnet, als Bestandteile der poeti-
schen Form betrachtet wissen will.
Daraus folgt aber sofort ein weiteres. Würden diese motorischen
Entladungen zur Form gehören, ohne die uns ja der Gehalt vom
Künstler nicht gegeben ist, so wären sie notwendig und wo wir sie
nicht hätten, hätten wir eben den Gehalt auch nicht. So aber be-
steht die Form in überanschaulichen sprachlichen Vorstellungs-
zusammenhängen und der Genießende hat hier, wie überall, seine
ästhetische Aufgabe erfüllt, wenn er die Form mit Gefühl beseelt
und durchdrungen hat. Ist er einmal im Besitz der gefühlbeseelten
Form, dann ist es ästhetisch relativ belanglos, ob das Gefühl sich in
Bewegungsempfindungen verleiblicht oder nicht. Persönlichkeiten von
starker motorischer Veranlagung mag die Gewähr dafür, daß sie die
vom Dichter ausgedrückte Stinmiung lebhaft erfaßt haben, im Auf-
tauchen von Bewegungsempfindungen liegen, die bei ihnen eben immer
zutage treten, wo sie lebhafter fühlen ; sie werden sich voll in ihrem
Gefühl erst da angesprochen glauben, wo sich zum Seelischen das
Körperliche gesellt. Bei andern mit schwächerer motorischer Phan-
tasie werden die Bewegungsempfindungen seltener sein; ihr Eintreten
wird zudem stark abhängig sein von der Verfassung , in der sie sich
augenblicklich befinden. Auf Grund sorgfältiger Selbstbeobachtung
kann ich versichern, daß bei mir sich an derselben Stelle bald Be-
wegungsempfindungen einstellen, bald nicht, ohne daß ich im ersten
Fall den Eindruck hätte, einen höheren ästhetischen Genuß zu haben
oder zu einem tieferen Erfassen des Gehalts gelangt zu sein, als im
zweiten. Der Aesthetiker hat allen Grund, diese Tatsachen zu be-
tonen. Er muß kräftige Einsprache dagegen erheben, daß den
Personen mit starkem motorischen Vermögen allein der Zutritt zum
Tempel der Poesie verstattet werde. Es wäre in der Richtung von
Volkelts sonstigem Verfahren gelegen, wenn er auch den Bewegungs-
empfindungen gegenüber sein besonnenes > Sowohl -Als aucht zur
Geltung gebracht und anerkannt hätte, daß auch motorisch mäßig
Veranlagten ein adäquates Erfassen der Poesie vergönnt sei. Das
hätte er aber nur vermocht, wenn er eingesehen hätte, daß die Be-
wegungsempfindungen als die Produkte der vom Dichter erregten
304 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Stimmung unmöglich ein Element der poetischen Form ausmachen
können.
Bewegungsempfindungen sind nicht die einzigen sinnlichen Be-
gleiterscheinungen der Poesie, wenn auch vielleicht die häufigsten,
dazu kommen optische und akustische Bilder. Bilder dieser Art stellen
sich ein teils auf Veranlassung der Anschauliches wiedergebenden
Worte des Dichters; sie mögen aber auch ohne direkte Anregung
durch den Dichter selbsttätig von unserer Anschauungsphantasie ge-
schaffen werden als Umsetzung empfangener seelischer Eindrücke in
Anschauung. Die ältere Aesthetik wußte nicht genug zu erzählen
von der Raschheit und plastischen Bestimmtheit, mit der unsere
Anschauungsphantasie selbsttätig die seelischen Eindrücke der Poesie
in Anschauungsbilder umsetzt. Ich begrüße es lebhaft, daß Volkelt
diese ganze Selbsttätigkeit der Anschauungsphantasie preisgegeben
hat; auch er muß die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ihre
Leistungen beim Durchschnittsleser kaum nennenswert sind. Es
bleiben also nur diejenigen optischen und akustischen Bilder, die
auf Anlaß der sinnlichen Worte des Dichters entworfen werden.
Volkelt räumt ein, daß es mit ihnen beim gewöhnlichen Leser
schlimm steht (S. 416); das gewöhnliche Lesen sei selten von der
Art, daß dabei eine Annäherung an das Ideal künstlerischen
Betrachtens stattfinde. Aber meint er, wo man eindringlich, hin-
gebend, mit Verweilen, Wiederholen und Rückblicken lese, da ent-
spreche der Leser den auf Anschaulichkeit angelegten Worten der
Dichtung weit häufiger und deutlicher mit seinen Phantasieanschau-
ungen. Ein solches Lesen entspreche erst den höchsten Ansprüchen,
die an das ästhetische Betrachten zu stellen seien. Es ist kein
Zweifel, daß bei verweilendem Lesen öfter Phantasieanschauungen
auftauchen als beim raschen, und wenn es feststeht, daß im Aestheti-
schen Anschauen und fühlendes Erleben einen innigen Bund mit-
einander schließen (S. 309), so ist der Vorzug des verweilenden
Lesens infolge der häufigeren Phantasieanschauungen, die es gewährt,
selbstverständlich. Aber heißt das nicht mit vorgefaßtem Maßstab
messen? Das Ideal ästhetischen Betrachtens ist da erreicht, wo in
die vom Künstler gegebene Form all der Gehalt eingefühlt ist, der
in sie eingefühlt werden kann und nach den Absichten des Künstlers
eingefühlt werden soll. Diesem Ideal vermag sich einer, der Uebung
hat im poetischen Genießen, auch beim rascheren Lesen zu nähern,
zumal bei der Lektüre einer Dichtung, die ihm durch mehrmaliges
Lesen bekannt ist, und sein Genuß wird nicht beeinträchtigt durch
den Umstand, daß ihm die sinnlichen Bestandteile der Dichtung nur
selten zu optischen und akustischen Bildern aufquellen.
Volkelt,, System der Aesthetik. L 806
Im übrigen macht ja auch Volkelt den Genuß der Poesie nicht
davon abhängig, daß dies überall und unter allen Umständen geschehe.
Er gesteht zu (S. 417), daß die Aufnahme des Dichtungswerks auf
weite Strecken ohne wirkliche Phantasieanschauungen verläuft, aber
er meint, wir empfinden als Phantasieanschaulichkeit nicht bloß das
ausdrückliche Phantasiesehen und Phantasiehören, sondern auch die
betonte Gewißheit der Phantasieanschauungsmöglichkeit. Auch wenn
wir die Anschauungen, auf welche die Worte und Wendungen des
Dichters angelegt sind, nicht wirklich vollziehen, so haben wir doch
die Gewißheit, daß die Worte und Wendungen auf Anschauung an-
gelegt sind und daß wir fähig sind, diese in den Worten gleichsam
eingewickelt liegenden Anschauungen auch wirklich mit unserer
Phantasie zu vollziehen. An Stelle der wirklichen innem Anschauung
tritt die Gewißheit von ihrer Möglichkeit. Das ist etwa, was auch
ich sage, daß nämlich in der Poesie an Stelle des tatsächlichen
Innern Wahrnehmens von optischen und akustischen Bildern der
Eindruck, die Illusion trete, als nähmen wir innerlich wahr (Stil-
gesetz S. 59, 156, 157, und Abschn. X). Ich beschreibe diesen Ein-
druck innerlich wahrzunehmen als ein starkes Gefühl davon, daß das
Sinnliche in der Poesie unmittelbar vor uns zu stehen, daß es uns
greifbar und gegenwärtig zu werden scheint« während es in der Prosa
uns fern bleibt, und ich mühe mich redlich ab, die psychologischen
Ursachen aufzudecken, durch welche dieser eigentümliche Schein der
Gegenwärtigkeit erzeugt wird, ein Versuch, den ich der Beachtung
ganz besonders empfehlen möchte (Stilgesetz, Abschn. X). Der Schein
der Gegenwärtigkeit wird — und darin gehe ich sogar über Volkelt
hinaus — bisweilen so lebhaft und stark, daß wir ehrlich überzeugt
sind, innere optische und akustische Bilder, Geschmacks- und Geruchs-
empfindungen zu haben, obwohl wir sie nicht haben, und jedenfalls
verknüpft sich mit ihm leicht der Glaube, daß wir das Sinnliche, das
uns gegenwärtig geworden zu sein scheint, auch wirklich anschaulich
vollziehen können, wenn wir nur wollen. Ich sage der Glaube,
Volkelt die Gewißheit. Das scheint ein kleiner "Unterschied, ist aber
ein ganz wesentlicher und geradezu entscheidender. Ich bin nämlich
der Ueberzeugung, daß dieser Glaube in zahllosen Fällen trügt und
daß es aus verschiedenen Gründen ein wahres Glück ist, daß wir
uns statt des anschaulichen Vollzugs mit der Illusion der Gegen-
wärtigkeit begnügen. Mir will nichts verkehrter erscheinen als der
Satz Volkelts: >es bedarf nur eines kleinen Schrittes und die Phantasie-
anschaunng ist in voller Wirklichkeit da< (S. 418). Dieser Schritt
kann häufig nicht gemacht werden und er darf häufig nicht gemacht
werden. Einmal würde uns an vielen Stellen, falls wir ihn machten,
0«tt. gtü Ans. 1906. Nr. 4. 21
806 Gatt. s^l. Anz. 1906. Nr. 4.
das Unbehagen über die Mangelhaftigkeit unserer Anschauungs-
phantasie peinigen. Ich gestehe, daß meine Anschanungsphantasie
den Versen von Heine:
>Die dankle Lockenfülle — Wie eine selige Nacht
Von dem flechtengekrönten Haupt sich ergießend
Ringelt sich träumerisch süß um das süße blasse Antlitz«
völlig ratlos gegenübersteht und daß ich froh bin, daß bloß die
Aesthetiker verlangen, ich müsse den Schritt zur innem Anschauung
machen können, nicht aber der Dichter, der mir ohne innere An-
schauung alles gibt, was er zu geben hat. Der Umstand, daß der
Dichter seine Aufgabe vollständig erfüllt hat, wenn er uns die Illusion
der Gegenwärtigkeit erzeugt hat, befreit uns von der Qual, unserer
Anschauungsphantasie Aufgaben zumuten zu müssen, der sie nicht
gewachsen ist; er befreit aber auch den Dichter von allen Fesseln
der Anschauung und das ist noch viel wichtiger. Der Dichter braucht
bei seiner Verwendung des Sinnlichen sich nicht darum zu kümmern,
ob der Schritt von der Gegenwartsillusion des Sinnlichen zur wirk-
lichen Phantasieanschaulichkeit gemacht werden kann; so kann er
sinnliche Gebilde schaffen, die den Gesetzen der Anschauung spotten,
die weder innerlich noch äußerlich besehen werden können; er malt
Dinge, die für die innere oder äußere Anschauung zu klein sind, als
daß man sie noch deutlich sehen könnte, mit voller Deutlichkeit; er
schildert Dinge, die zu groß sind, als daß sie innerlich oder äußer-
lich übersehen werden könnten; er entwirft Bilder, deren Verhält-
nisse für die Anschauung häßlich unproportioniert sind, ohne daß wir
bei ihm etwas von dieser Häßlichkeit spüren; er schafft lebensvolle
Gemälde von einer Allgemeinheit, die die Anschauung, die immer
individuell ist, unmöglich macht; er geht in der metaphorischen Be-
seelung und Personifikation des Unterseelischen über alles Anschau-
bare hinaus, u. s.w.; ich müßte die betreffenden Stellen meines Buches
(S. 173—184, 188—193) vollständig ausschreiben, wenn ich alle Be-
weise dafür beibringen wollte. Wie könnte der Dichter das, wenn
der Dichter darauf zu achten hätte, daß >die Phantasieanschaunng
im Bereich unseres Könnens liegtt (S. 418)?
Und noch in einem andern Punkt ist der Dichter frei von den
Bedingungen der Anschauung: er schafft sinnliche Gebilde, die den
Charakter dessen nicht tragen, was man anschaulich heißt und was
auch Volkelt unter diesem Begriff versteht. Auch Volkelt versteht
unter Anschauung gehalteHüUte Sinnenform; anschaulich ist, was
uns auffordert, uns einzufühlen in seine sinnlichen Formen. Nun
gehe man mit dieser Anweisung an den Dichter heran und man wird
Volkelt, System der Aesthetik. I. 807
finden, daß viele von den sinnlichen Zügen, die er gibt, der Ein-
fühlung nichts zu tun geben oder aber, daß die Einfühlung in ihre
sinnlichen Formen einen ganz andern Gehalt abgibt, als den, den
der Dichter erfaßt wissen will. Es hat vielfach gar keinen VT'ert,
sich einfühlend zu verhalten zu den sinnlichen Gegenständen, die der
Dichter berührt, weil die Einfühlung in ihre Sinnenformen nichts-
sagend oder irreführend wäre. Der Dichter verfügt über eine Ver-
wendung des Sinnlichen, die jenseits der Anschauung liegt. An
vielen Stellen der Poesie dürfen wir uns nicht anschauend verhalten
wollen, unter Anschauung immer Einfühlung in die sinnlichen Formen
der Gegenstände verstanden. Der Schritt von der Illusion der Gegen-
wart des Sinnlichen zur innem Phantasieanschauung des Sinnlichen
darf nicht gemacht werden, weil ihn der Dichter nicht gemacht
wissen will, weil er das Sinnliche so verwendet, daß seine sinnlichen
Formen unserer einfühlenden Phantasie nichts zu sagen haben (vgl.
im Stilgesetz Abschnitt VII, S. 11 4 ff. und daraus besonders 116/117,
132—134, 140—142 und außerdem S. 65). Weil der Dichter keine
Rücksicht zu nehmen braucht auf die Möglichkeit der Anschauung
und weil er über eme unanschauliche Verwendung des Sinnlichen
verfügt, deshalb steht ihm das Reich des Sinnlichen nach allen Seiten
offen. Die ganze ungeheure Freiheit, die der Dichter in der Ver-
wendung des Sinnlichen vor dem bildenden Künstler voraus hat,
wäre dahin, wenn er dafür zu sorgen hätte, daß die Phantasie-
anschauung im Bereich unseres Könnens liegt. Das scheint mir einer
der entscheidenden Punkte in der Frage nach der Anschaulichkeit
der Poesie zu sein. Wer meine Auffassung der Poesie bestreiten
will, müßte mich, wie ich meine, an diesem Punkt widerlegen und
ich wundere mich, daß Volkelt ihn auch nicht einmal berührt hat.
Indes gesetzt, es gelänge Volkelt, mich darin zu widerlegen, es
gelänge ihm, nachzuweisen, daß der Dichter ängstlich bestrebt ist,
seine sinnlichen Gebilde so zu halten, daß die Möglichkeit der innem
Phantasieanschauung erhalten bleibt, und daß er keine andere Ver-
wendung des Sinnlichen hat, als die, die die Einfühlung in seine
Oberflächenerscheinung verlangt und gestattet, was wäre damit ge-
wonnen? Es bleibt dann eben doch dabei, daß wir an vielen Stellen
uns mit der Gewißheit begnügen, innerlich sehen und hören zu
können, ohne aber in Wirklichkeit innerlich zu sehen und zu hören,
es bleibt dabei, daß in unserem Innem keine sinnlichen Formen,
keine sinnlichen Gebilde vorhanden sind. Was wird dann aber aus
der sinnlichen Frische des Schauens, die Volkelt als wesentliches
Merkmal des ästhetischen Aufnahmeaktes rühmt (S. 389) und was
wird aus der Einfühlung in die sinnliche Form? Man kann sich
21*
308 Gdit gel Anz. 1906. Nr. 4.
doch in sinnliche Formen nicht einfühlen, die nicht vorhanden sind.
Es ist klar, die Art der Gehaltsaneignnng muß in der Poesie eine
andere sein als in den Künsten, in welchen die Sinnenform gegeb^i
ist. Wo die Sinnenform schauend von uns wahrgenommen wird, da
erarbeiten wir uns den Gehalt durch einfühlende Versenkung in die
Anschauung. In der Poesie wird die Sinnenform nicht (oder häufig
nicht) wahrgenommen, wir werden nur an sie erinnert, wir können
uns also auch nur erinnern, daß wir an ihr einen bestimmten Gehalt
erlebt haben. Dieses Verhältnis bedeutet aber eine Herabsetzung
des Anschaulichen aus dem Unmittelbaren ins Vermittelte und auch
aus diesem Grund, weil sie das Anschauliche nicht in seiner Un-
mittelbarkeit zu schaffen vermag, muß sie ihre Stärke anderswo
suchen als im Anschaulichen (vgl. die ausführliche Darlegung im
IX. Abschnitt meines »Stilgesetzt).
Mit dem Beweis, daß die Poesie sinnliche Form ist, ist die Auf-
gabe, die Volkelt sich stellen muß, nicht erschöpft; angenommen, er
wäre ihm geglückt, so müßte dazu noch des weiteren gezeigt werden,
daß in dieser Form der Gehalt restlos seinen Ausdruck findet Ad-
äquater Ausdruck des Gehalts in der Form ist eine selbstverständ-
liche Forderung der Aesthetik. Gehalt, der nicht in der Form ist,
ist nicht vorhanden; er kann dem Kunstwerk nicht entnommen, er
kann nur erraten werden. Der Gehalt muß also vollständig heraus
in die Form. Auch Volkelt sieht dies nicht anders an und da für
ihn alle Form Sinnenform ist, so muß bei ihm der Gehalt auch voll-
ständig heraus in die Sinnenform. Man kann diesen Grundsatz nicht
schärfer formulieren, als Volkelt es getan. Man höre ihn selber
(S. 394): >in der Einheit von Form und Gehalt liegt, daß im ästhe-
tischen Gegenstand kein Gehalt vorkommt, der nicht sinnlich geformt
wäre. Der ästhetische Gegenstand ist durchweg und restlos form-
gewordener Gehalt, sinnlich gestaltetes Innere, verleiblichte Seele<.
>Es ist in allen Fällen ein ästhetischer Mangel, wenn zum ästhetischen
Gegenstand, und wäre es selbst nur in nebensächlicher Weise, Vor-
stellungen und Gefühle gehören, die nicht in Wahrnehmung oder
Phantasie ihre Verleiblichung gefunden haben, c Es erhebt sich also
die Frage, vermag die Poesie, auch die kräftigste Anschauungs-
phantasie in der Seele des Genießenden vorausgesetzt, diesem Ideal
irgendwie zu genügen. Volkelt hat sich merkwürdiger Weise mit
dieser Frage nicht genauer befaßt. Er konstatiert bloß das Vor-
handensein sinnlicher Elemente beim Aufnahmeakt der Poesie. In-
wieweit diese Elemente dem Gehalt anschaulich gerecht zu werden
vermögen, hat er auch nicht in einem einzigen Fall untersucht. Ich
habe der Frage im Stilgesetz (Abschn. IV, S. 60—65) eine ausfuhr-
Volkelt, System der Aesthetik. I. 309
liebe Behandlang gewidmet. Dieses Unternehmen hat mir von Volkelt
den Vorwurf eingetragen, ich nähme den Maßstab, den ich an die
Phantasieanschauung anlege, einzig von der sinnlichen Wahmebmung
und fände so natürlich nur Kläglichkeit in ihr (S. 414). Das triSt
nicht ganz zu. Ich nehme den Maßstab nicht von der sinnlichen
VT'abrnebmung , sondern wie es natürlich und selbstverständlich ist,
von der Aufgabe adäquater Verkörperung, restloser Verleiblichung
des Gehalts (Stilgesetz S. 50) und da finde ich allerdings nur Kläg-
lichkeit in ihr. Habe ich so gar Unrecht mit diesem Urteil? Nach
Volkelts eigenen Aeußerungen kaum: »das Yeranschaulichungsmittel,
das der Poesie zur Verfügung steht«, sagt er (S. 412), >die Phantasie,
vermag der Forderung der Veranschaulichung nur in stark ermäßigtem
und vermindertem Grade nachzukommen. Die Phantasie kann nur in
bescheidener Weise Vorstellungen und Gefühle, welcher Art sie auch
sein mögen, in Anschauung übersetzen. < Ja Volkelt geht noch einen
Schritt weiter; er erkennt an, daß in der Poesie geradezu anschauungs-
arme Stellen begegnen; so namentlich in der Gefühlslyrik, in der
Gedankenlyrik und in der Schilderung ursächlicher Beziehungen
(S. 425/426). Goethes >Herz, mein Herz, was soll das gebeut, >Edel
sei der Mensch, hilfreich und gut< (S. 395), »Der du von dem Himmel
bist< und der Anfang des Faustmonologs >Habe nun ach! Philosophie <
(S. 427) > ragen nicht gerade durch sinnliche Ausgestaltung der Ge-
fühle und Vorstellungen hervor«. Bei solchen Zugeständnissen sollte
man meinen, Volkelt müßte denselben Schluß machen wie ich; er
müßte erklären, der Satz, Kunst ist restlos Sinnenform gewordener
Gehalt, paßt auf die Poesie nicht und ist deshalb notwendig falsch.
Er tut es nicht; er erklärt, die Forderung des formgewordenen Ge-
halts sei ein Ideal, dessen Verwirklichung mit Hindernissen, die aus
der Natur einzelner Künste und Kunstzweige stammen, zu kämpfen
habe. Es müsse von jener Forderung ein gewisser Abzug gemacht
werden, wenn es überhaupt diese bestimmten Gebiete der Kunst
geben solle. Zwar befriedigen jene Kunstzweige die ästhetischen
Bedürfnisse nicht unbedingt und in jeder Hinsicht, aber doch in über-
wiegender Weise ; den aus jenem Verstoß entstehenden ästhetischen
Mangel müsse man um der überwiegenden ästhetischen Vorzüge
willen ruhig hinnehmen. Daß aber jene Forderung auch für solche
Künste ihre Giltigkeit habe, sei aus dem Bestreben der betreffenden
Kunstzweige ersichtlich, der Forderung adäquater Verkörperung so
viel als möglich gerecht zu werden (S. 398/399). In der Poesie, in
der unter allen Künsten die Anschaulichkeit den stärksten Be^*
schränkungen unterworfen sei, seien die echten Dichter aller Zeiten
und Völker bemüht gewesen, ihren Worten und Sätzen möglichst
310 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 4.
reiche und zwingende Anschauungs werte zu geben (S. 418). Um mit
den letzteren zu beginnen, so weiß der Leser, daß ich die Gleich-
setzung von sinnlich und Anschauungswert in der Poesie nicht zu-
geben kann (vgl. oben S. 307); aber auch wenn ich an Stelle der
Yolkeltschen Fassung die andere angemessenere setze, alle echten
Dichter haben sich um möglichst kräftige Sinnlichkeit gemüht, so ist
der Satz auch in dieser Fassung zum mindesten mißverständlich.
Um was sich die Dichter gemüht haben, war vielmehr höchste kraft-
vollste Lebendigkeit. Es ist ein Fehler, wenn man, wie Volkelt tut,
abstrakt und anschaulich als Gegensätze einander gegenüberstellt.
Die Gegensätze lauten vielmehr abstrakt und lebendig und das
Lebendige zerfällt wieder in die Unterabteilungen des anschaulich
Lebendigen und des unanschaulich Lebendigen. Die echten Dichter
haben nie das geringste Bedenken getragen, den unanschaulich
lebendigen Zug oder Ausdruck dem anschaulichen Zug da vorzu-
ziehen, wo jener der lebensvollere war. Es ist nicht wahr, daß das
Vorkommen von unsinnlichen Bedeutungsvorstellungen unter den
Gesichtspunkt des Notbehelfs, des unvermeidlichen Uebels fällt (S. 137),
falls nämlich nur die unsinnliche Bedeutungsvorstellung nicht abstrakt,
sondern lebensvoll ist. Verse, wie: >Da steh' ich nun ich armer Tor!
und bin so klug als wie zuvor < sind kein Notbehelf, sondern voll
und echt. Lessings lyrische Gedichte sind nicht wegen ihrer An-
schauungskahlheit minderwertig (S. 395), sondern wegen ihrer abstrakt
unlebendigen Formgebung und ihres Mangels an Gefühlswärme. Wenn
kräftige Sinnlichkeit ein Reiz vieler Dichtungen ist, so rührt dies nicht
daher, daß in der Dichtung das Prinzip der Anschauung gilt, sondern da-
her, daß das Sinnliche vielfach das Lebensvollere, Kraftvollere, Unmittel-
barere gegenüber dem Unsinnlichen ist. Wo aber umgekehrt das rein
Seelische den Vorzug höherer Lebendigkeit hat, da greifen die Dichter
ohne jedes böse Gewissen, ohne jedes Gefühl, unter der höchsten Aufgabe
der Kunst zu bleiben, zum Unanschaulichen (Stilgesetz S. 73—75).
Und weil das auch in den höchsten Dichtungen so häufig ge-
schieht, deshalb ist die Spannung eine so gewaltige, in die die Poesie
zur Forderung des restlos Anschauung gewordenen Gehalts kommt
Ist es in allen Fällen ein ästhetischer Mangel, wenn zum ästhetischen
Gegenstand Vorstellungen und Gefühle gehören, die ihre Verleib-
lichung nicht gefunden haben, so ist dieser Mangel in der Poesie
nach Volkelts eigenen Zugeständnissen beträchtlich, am beträcht-
lichsten und, sollte man meinen, ganz unerträglich in der ansch&v-
ungsarmen Lyrik. Und doch, wer empfindet diesen Mangel? Auc^
nicht einmal Volkelt selber; es ist merkwürdig, wie weit seine Nei-
gung zur Ermäßigung der Anschaulichkeitsforderung geht, sobald er
Volkelt, System der Aesihetik. I. 311
an die Poesie kommt. Auch in der Programmmusik findet Volkelt
— und wie ich glaube mit Recht — einen Ueberschuß der Vor-
stellung Über die Anschauung und er betrachtet das als einen spür-
baren Mangel dieser Art von Musik. Freilich ist der Mangel an
Anschaulichkeit bei der Programmmusik verschwindend gegenüber
dem Mangel bei der Lyrik. Die Musik vermag uns etwa nicht zu
sagen, woher die Melancholie Tassos stammt, aber diese Melancholie
selber muß sie vollständig mit ihren sinnlichen Mitteln zu verleib-
lichen vermögen, sonst taugt eine solche Musik überhaupt nichts.
Die Programmmusik vermag Aeußerlichkeiten nicht mit ihren musi-
kalischen Mitteln zu veranschaulichen , umso peinlicher sucht sie
dem Innern, dem Empfindungsgemäßen an den Dingen gerecht zu
werden. In der Lyrik dagegen ist gerade das Innere, die Stimmung
höchst mangelhaft verleiblicht. Der Lyriker Göthe vermag nach
Volkelt z. B. die Sehnsucht nach Frieden nur höchst mangelhaft zur
sinnlichen Form werden zu lassen. Hier ist also ein ganz anderer
Mangel als in der Programmmusik. Hier greift die Unfähigkeit im
Ausdruck aufs Innere über. Hier greift sie bis ins Zentrum der
Kunst. Wäre Volkelt konsequent, so müßte die Poesie tief unter
der Programmmusik stehen; sie müßte als Kunst höchst zweifel-
hafter Art erscheinen und die Lyrik, in der der Mangel so gewaltig
ist, könnte höchstens noch unter die Grenzerscheinungen der Kunst
wie etwa das Lehrgedicht gerechnet werden.
Indes Volkelt ist weit entfernt, so zu urteilen. Je größer der
Mangel wird, desto weniger spürt man ihn nach Volkelts Urteil. Die
sonstigen künstlerischen Vorzüge der Lyrik sind so bedeutend und
eindrucksvoll, daß man sich jenen Mangel gerne gefallen läßt oder
ihn vielleicht überhaupt nicht bemerkt (S. 426/7). Zweifellos ist
dieses Urteil Volkelts von der richtigen Empfindung eingegeben.
Zweifellos spürt in der Poesie, obwohl ihr die Fähigkeit restloser
Verkörperung des Seelischen abgeht, kein Mensch einen Mangel und
Produkte wie Goethes >Der du von dem Himmel bist<, erscheinen,
»trotzdem man nicht gerade starke Anschauungswerte in ihnen
findet«, doch als schlechthin vollkommene Leistungen. Was ist aber
das für eine Norm, deren Verletzung in allen Fällen ein ästhetischer
Mangel ist, nur daß dieser Mangel gerade da, wo er groß, ja riesen-
groß ist, nicht gespürt wird?
Und nun bedenke man noch eine weitere Konsequenz von
Volkelts Standpunkt. Die Poesie vermag die Veranschaulichung nur
mangelhaft durchzuführen; der Gehalt wird nicht restlos zur Form,
die Poesie ist also — das ist eine notwendige Folgerung — mangel-
haft in der Form und insbesondere Gedichte, wie >Der du von
312 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 4.
dein Himmel bistt, sind wegen ihrer anschaulichen Schwäche, mögen
sie auch inhaltlich noch so individuell und tief sein, in Hinsicht der
Form geradezu ungenügend. Die Poesie und vor allem die Lyrik
erscheint als unfähig, den strengen Anforderungen der Form zu ge-
nügen. Uns andern will das anders erscheinen! Göthes »Der du von
dem Himmel bist«, ist uns ein unvergleichliches Muster höchster
künstlerischer Formvollendung. Ob nicht auch für Volkelt in den
Augenblicken, in denen er sich von der Auffassung frei macht, als
müsse Form auch in der Poesie anschauliche sinnliche Form sein?
Man kann die Poesie eben nicht verstehen, so lange man nicht er-
kennt, daß bei ihr die Form überanschaulich ist. Göthe hat in dem
erwähnten Gedicht den Gehalt restlos in überanschauliche, sprach-
liche Vorstellungszusammenhänge niedergelegt als in dasjenige Mittel,
das der Poesie eigentümlich ist und deshalb ist das Gedicht form-
vollendet.
Wie stehen nun also die Dinge? Volkelt will beweisen, daß
auch die Poesie gehalterfüllte sinnliche Form ist. Dabei muß er aber
den Begriff der Form verschieben und sinnliche Begleiterscheinungen
zu ihr rechnen, die das Produkt der Einfühlung sind, während doch
sonst für ihn die Form das Objekt der Einfühlung ist. Er muß zu-
gestehen, daß das Sinnliche in der Poesie im Bewußtsein des Ge-
nießenden häufig nicht als sinnliche Form, als Anschauung vorhanden
ist, sondern nur als Gewißheit der Möglichkeit der Anschauung; er
muß im Widerstreit mit den Tatsachen dem Dichter eine Verwen-
dung des Sinnlichen vorschreiben, die jederzeit die Umsetzung in die
anschauliche Form gestattet; er muß der Poesie die Fähigkeit zur
vollen Verwirklichung der Norm von der gehalterfüllten Sinnenform
absprechen und obendrein erklären, daß man diesen Mangel nicht
spüre. Er macht endlich auch nicht einmal den Versuch darzutun,
daß die sinnlichen Elemente, die er für die Poesie herausrechnet,
auch wirklich sinnliche Form sind. Denn sinnliche Form ist ohne sinn-
liche Ordnung und sinnliche Einheit nicht denkbar. Wo ist aber in dem
Haufen verschwommener optischer und akustischer Bilderchen, An-
schauungsmöglichkeiten und Bewegungsempfindungen, der die Vor-
stellungszusammenhänge der Poesie begleitet, irgend welche sinn-
liche Ordnung oder sinnliche Einheit? Diese ganze Masse sinnlicher
Elemente sind keine Form, sondern höchstens die elenden Trümmer-
stücke einer solchen. Wäre es unter solchen Umständen nicht besser,
Volkelt würde einfach zugestehen, daß die Norm der gehalterfüUteo
Sinnenform nur für die außerpoetischen Künste gilt, auf die Poesie
aber nicht anwendbar ist? Volkelt hat den Feind zu weit in die
Festung eingelassen, er wird sie nicht halten können. Hat er doch
Volkelt, System der Aesthetik. I. 318
das entscheidende Wort der üebergabe schon ausgesprochen. Die
Unfähigkeit der Poesie, dem Ideal der gehalterfüllten Sinnenform zu
genügen, stört auch bei ihm nicht; und warum und inwieweit stört
sie nicht? sofern dieser Mangel zum Zurücktreten gebracht wird
durch die Lebendigkeit, Echtheit und individuelle Prägung im Aus-
druck der Gefühle (S. 427). Was heißt das anders, als daß es in
der Poesie nicht auf Anschaulichkeit, sondern einzig und allein auf
Lebendigkeit ankommt: denn Echtheit und Individualität ist im Be-
griff Lebendigkeit schon enthalten. Ist nur volle Lebendigkeit da,
die nach Volkels Versicherung auch bei starkem Mangel an An-
schaulichkeit vorhanden sein kann, so wird >jener Mangel überhaupt
nicht mehr bemerkt«. Das Gesetz der restlosen Veranschaulichung
mag die Poesie verletzen, wenn nur das Gesetz der Lebendigkeit
gewahrt bleibt. Nicht anders habe ich es auch gesagt.
Es ist also klar, entweder ist die Poesie keine Vollkunst oder
der Satz, die Kunst ist restlose Verleiblichung eines seelischen Ge-
halts ist mit Rücksicht auf die Poesie falsch. Wie ist aber Kunst
dann zu definieren? Ich habe vorgeschlagen: Leben in seinen wirk-
lichen oder scheinbaren Aeußerungen dargestellt. Diese Definition
befaßt die Volkeltsche Definition: Kunst = durch Einfühlung mit
Gehalt erfüllte Sinnenform in sich : »In jeder Einfühlung« sagt Volkelt
(S. 310) > erhalten wir den Eindruck, als ob das Innere des Gegen-
standes in seiner Oberfläche zutage träte, als ob die Seele in seiner
Außenseite lebte ; in der Form als solcher scheint sich uns die Seele
der Gegenstände zu offenbaren <. Auch bei ihm erscheint die Form
als die Aeußerung, als die Offenbarung eines in ihr waltenden seeli-
schen Lebens. Einfühlung ist nach ihm nichts anderes als der Akt,
in dem wir die Form als Lebensäußerung eines hinter ihr liegenden
und in ihr sich bekundenden seelischen Lebens verstehen und ge-
nießen. Aber unsere Definition ist in vieler Hinsicht weiter.
Volkelt versteht unter Leben immer nur seelisches Leben. Zwar
erkennt er an, daß wir auch die physischen Körperbewegungen nach-
zuempfinden vermögen, aber er will dieses Nachempfinden der phy-
sischen Körperbewegung nur als Erleichterung und Beförderungs-
mittel der seelischen Einfühlung gelten lassen und er spricht dem
Nachempfinden der dynamischen Kraftbetätigung jeden selbständigen
ästhetischen Wert ab, das Aesthetische beginnt bei ihm erst, wo
seelisch nacherlebt wird (S. 231—236). Ohne mich bei diesem Punkt
länger aufzuhalten, möchte ich im Vorübergehen doch bemerken, daß
mir der Ausschluß der dynamischen Kraft vom eigentlich Aestheti-
schen übertrieben erscheinen will. Der graziöse Sprung des Rehs
ist als eine physische Kraftbetätigung von höchster Mühelosigkeit,
814 Q6it gel. Ans. 1906. Nr. 4.
Leichtigkeit und Zweckmäßigkeit für sich voll Anmut, er ist nicht
blos als Unterlage für die Einfühlung eines seelischen Gehalts
ästhetisch bedeutsam. Leichter müheloser Fluß des Lebens besitzt
auch schon im Unterseelischen, im Gebiet der physischen Kraft
ästhetischen Reiz. Sodann ist bei Yolkelt das Seelische, das sich im
Sinnlichen äußert, rein aufs Gefühl beschränkt. Er haftet zusehr am
Ausdruck »einfühlent. Seine Aesthetik hat auf dem Gebiet des
ästhetischen Miterlebens nur Raum für Gefühle und Stimmungen und
für Strebungen, die in ihrem Gefolge auftreten (S. 204 ff.). Deshalb
machen ihm die gefühlsarmen Stellen, die sich so häufig in den
vollendetsten Dichtungen finden, Schwierigkeiten. Aber auch in der
bildenden Kunst, in der Porträtmalerei z. B. muß unter dieser Vor-
aussetzung manches bedenklich erscheinen. Merkwürdigerweise fehlt
ihm unter den ästhetisch vollwertigen Bestandteilen der Lebens-
schilderung die Kategorie des Charakteristischen, die doch für die
Kunst so bedeutsam ist. Das Charakteristische ist eine selbständige
Seite des Seelenlebens und kann nicht auf Gefühl und Stimmung
zurückgeführt werden. Im großen Kurfürsten von Schlüter ist nicht
blos die Stimmung des fürstlichen Selbstgefühls, sondern auch eine
ungewöhnliche Energie des WoUens dargestellt; das ist eine Cha-
raktereigentümlichkeit, also eine dauernde Beschaffenheit und Ge-
staltung der Lebenskräfte, die nichts mit Stimmmungen irgendwelcher
Art zu tun hat Die Kunst und die Poesie ist überall lebensvoll,
wo sie Charaktereigentümlichkeiten abmalt; sie braucht nicht not-
wendig Gefühlsinhalt zu haben. Denn auch das Charakteristische er-
fassen wir nicht mit dem Verstand, das wäre vollständig unästhetisch,
sondern mit unserer eigenen inneren Lebendigkeit, der der Zu-
sammenhang zwischen Lebensgrund und Lebensäußemng aus sich
selbst verständlich ist Aus der charakteristischen Lebensäußemng
machen wir den nicht verstandesmaßigen, sondern höchst lebensvoDeQ
Schluß auf die Charaktereigentümlichkeit als auf den Lebensgrund,
der die Aeußerung hervorgetriebea. Allerdings kommt die Diditnng
ohne Gefühlserregungen im ganzen nicht aus (vgl. hinsichtlich der
Gründe für diese Tatsache mein Stilgesetz S. 204 ff.), aber fur ein-
zelne Stellen in ihren größeren Zusammenhängen hat sie nur die
Aufgabe, alles mit Leben zu durchdringen und zum Leben gehört
auch das Charakteristische; es gehören des weiteren dazu die Ur-
sachen, die die Lebensprozesse in Bewegung setzen, auch wenn djeae
Ursachen selbst nicht gefuhliger Natur sind. Aesthetisch Cnssen wir
fiberall auf, wo wir aus dem uns unmittelbar gegebenen Zusammoi-
hang von Lebensäußemng und Lebensgnind, von lebenaerregender
Unache and Lebenserregnng heraus die Encheinungen des Leben
Volkelt, Syttem der Aesthetik. I. 316
verstehen. Das ästhetische Erfassen des im Kunstwerk uns entgegen-
tretenden Lebens ist vielfach nicht geftthliger Natur. Der Ausdruck
Einfühlen, den man sich als Bezeichnung des intuitiven Charakters
der ästhetischen Auffassung gefallen lassen kann, führt leicht zu
Mißverständnissen. Auch Volkelt hat sich in seiner Analyse des Be-
griffs nicht ganz frei davon gehalten.
Leben als Inhalt der Kunst ist also weiter als Volkelts > gefühl-
beseelte Sinnenform < hinsichtlich des Umfangs des Lebensgrundes, dessen
Schilderung der Kunst offen steht, es ist aber auch weiter in Hinsicht
der Lebensäußerungen, die dem Künstler für die Schilderung der ver-
schiedenen Lebensgestaltungen zur Verfügung stehen. Volkelts De-
finition gestattet dem Künstler nur die Verwendung der wirklichen
oder scheinbaren sinnlichen Lebensäußerungen der Seele ; neben diesen
gibt es aber, so eindrucksvoll sie immer sind, auch rein seelische
Lebensäußerungen, bestehend in den Gedankenvorgängen, in denen
sich die Gefühle und Strebungen und die GharaktereigentUmlichkeiten
der Individuen offenbaren. In diesen seelischen, sinnlich unan-
schaulichen Lebensäußerungen tritt, falls sie nur in einem dazu ge-
eigneten Mittel wiedergegeben werden, ebenfalls Leben in die Er-
scheinung, sie vermögen ebenfalls Form zu sein. Die Poesie besitzt
in der gedankenhaften überanschaulichen Sprache dieses Mittel und
der Dichter schildert daher entsprechend der Natur seines Mittels
das Leben mit Vorliebe in seinen seelischen Aeußerungen. Seelische
Lebensäußerungen bilden denn auch den Inhalt derjenigen Göthe-
schen Gedichte, die Volkelt als wenig anschauungshaltig bezeichnet
hat. In Göthes >Der du von dem Himmel bist< treibt die Sehn-
sucht nach Frieden eine Folge von Gedanken hervor; in ihr findet
das Lebensmoment, das im Gedicht zur Darstellung gelangt, seine
vollendete adäquate Aeußerung und in sie, als in die Form, findet
daher die Einfühlung statt. Die Poesie als Vollkunst macht keine
Ausnahme und darf keine machen von der Regel, daß der Gehalt
restlos Form geworden sein muß, weni\ er voll erfaßt und genossen
werden soll. Form ist eben überall da, wo Leben vollständig in die
Erscheinung tritt, mag diese Erscheinung nun anschaulich sein oder
nicht.
Wenn Volkelt das Aesthetische als gehalterfüllte Form be-
zeichnet, so leitet ihn dabei zugleich auch die Absicht, jede forma-
listische Erklärung aus der Kunst auszuschließen. Die bloße leere
Form, die Form an sich ist unfähig einen ästhetischen Eindruck
hervorzurufen (S. 429). Ich will mich auf den Streit nicht einlassen,
ob nicht doch auch die reine gehalt- und inhaltlose Form einen
ästhetischen Reiz haben könne, ich glaube, daß das nur in ganz
316 Qött. gel Anz. 1906. Nr. 4.
untergeordnetem Maße der Fall ist. Trotzdem bedaaere ich es, daß
Volkelt von einem Formprinzip in der Kunst nichts wissen will. Die
Anerkennung eines solchen scheint mir von einem doppelten Ge-
sichtspunkt aus geboten, sowohl von dem des schaffenden Künstlers
aus, wie von dem des Genießenden. Der Künstler will den Stoff,
der ihn ergriffen hat, so aus sich heraussetzen, daß er von anderen
erfaßt und genossen werden kann; er will ihn darstellen. Darstellen
heißt, einem Inhalt die Gestaltung geben, die für seine Erfassung
die zweckmäßigste ist. Jedes Darstellen besteht darin, daß man den
Zwiespalt, der zwischen den Anforderungen des Stoffes und der Ab-
sicht der zweckmäßigen Darbietung besteht, auszugleichen sucht.
Wie schwer das mitunter werden kann, davon weiß jeder Künstler
zu sagen. Zweckmäßig dargeboten ist aber ein Stoff dann, wenn er
so gestaltet ist, daß sein Inhalt sich uns mit höchster Klarheit und
Nachdrücklichkeit und doch zugleich mühelos darbietet. Der Akt des
Erfassens selbst muß zum Vergnügen und Genuß werden und das
wird er nur, wenn das Dargestellte der Natur und den Funktions-
gesetzen unserer auffassenden Organe entgegenkommt. Soll ein In-
halt durchs Auge angeeignet werden, so muß er in einer Gestaltung
vorgeführt werden, in der der Akt des Sehens sich kraftvoll und
doch relativ mühelos vollzieht; deshalb erreicht auch der Sehvor-
gang am malerischen Kunstwerk einen Höhepunkt seines Funk-
tionierens; ebenso ist es in der Musik hinsichtlich des Gehörvorganges
und in der Poesie hinsichtlich der sprachlichen Vorstellungstätigkeit.
Und da jedes Kunstwerk infolge des geistigen Inhalts, den es hat,
sich immer zugleich auch an unseren Intellekt wendet, so muß es
sich auch den Bedingungen fügen, die für die Auffassungstätigkeit
unseres Intellekts gelten. Es muß zum Beispiel Abwechslung haben:
denn Einförmigkeit stumpft die Aufnahmelust und Aufnahmefähig-
keit ab; und es muß andererseits Einheitlichkeit besitzen, denn das
Mannigfaltige verwirrt nur dann nicht, wenn es sich zugleich als
Einheit darstellt.
Der Zweckmäßigkeit der Darstellung durch den Künstler ent-
spricht auf Seiten des Genießenden die Freude an dieser Zweck-
mäßigkeit. Wir genießen am Kunstwerk nicht blos die Tiefe, die
Lebensfülle, das Bedeutungsvolle seines Gehalts, sondern auch die
Zweckmäßigkeit seiner Form. Wenn uns das Kunstwerk den Bnf
abnötigt: wie herrlich ist das gemacht, wie wunderbar kommt das
alles heraus, so ist das der Ausdruck nicht eines materiellen, sondern
eines formellen Wohlgefallens. Zu solchem formellen Wohlgefallen
bietet aber jedes Kunstwerk und auch das Schöne der Natur, sofern
eben seine Gestaltung den Gesetzen unserer auffassenden Organe
Volkelt, System der Aesthetik. I. 817
entgegenkommt, den reichsten Anlaß. Volkelt ist diese Seite am
Aesthetischen fast ganz entgangen. Nur eines der wesentlichen
Formelemente behandelt er, ohne jedoch seinen Formcharakter be-
sonders zu betonen, ausführlich und treffend in seiner vierten Norm,
die Einheit des Kunstwerks. Aber so gewiß die Einheit des Kunst-
werks eine formelle Forderung ist, so gewiß ist sie nicht das ein-
zige Formgesetz des Kunstwerks. Die Absicht des Künstlers, den
Stoff darzubieten und zwar so, wie es für die das Kunstwerk erfassen-
den Organe am zweckmäßigsten ist, unterwirft ihn einer Fülle von
Formbestimmungen, deren Durchführung im Kunstwerk vom Ge-
nießenden mit immer neuem formellen Wohlgefallen beantwortet
wird. — Diese Andeutungen über die Form in der Kunst mögen
genügen, zumal ich die Notwendigkeit eines so gefaßten Formprinzips
näher begründet habe in einem Aufsatz im Archiv fur systematische
Philosophie Bd.X S. 330 ff. 1904 (Ueber das Formprinzip des Schönen),
der etwa gleichzeitig mit Volkelts Aesthetik erschienen ist.
Wir wenden uns von der ersten zur zweiten Norm Volkelts.
Die erste Norm genügt nach Volkelts Ueberzeugung nicht für sich
allein, das Wesen des Aesthetischen zu beschreiben. Wohl ist über-
aU, wo wir ästhetisch wahrnehmen, die Forderung der gehaltbeseelten
Form erfüllt; aber bliebe das die einzige Forderung, dann könnten
auch langweilige, törichte, nichtige Zustände, sobald sie nur ent-
sprechende Sinnenform gewonnen haben, den Anspruch auf ästheti-
schen Wert erheben — , dann würde das Aesthetische aus der Reihe
der großen menschlichen Güter ausscheiden. Im ästhetischen Gehalt
muß deshalb etwas zu uns sprechen, was für menschliches Dasein
und menschliche Entwicklung typisch und charakteristisch ist. Da-
bei ist zu überlegen, daß unsere gefühlsmäßige Auffassung von der
Natur des Menschlichen schließlich immer in einer Ueberzeugung von
dem Zweck und Wert des menschlichen Daseins mündet. Volkelt
schafft für dieses Typische, das etwas vom Sinn und Wert des
Menschlichen offenbart, den Namen des Menschlich-Bedeutungsvollen
und seine zweite Norm besteht daher in der Forderung des Mensch-
lich-Bedeutungsvollen für die Kunst. Dieser Begriff ist weiter als
das Sittlich-Gute. In einer feinen Ausführung und mit trefflichen
Gründen wird die vielgehörte Behauptung widerlegt, das Schöne habe
zu seinem einzigen Inhalt das Gute. Nicht blos nach seinem sitt-
lichen Werte, meint Volkelt, sondern auch nach seinen religiösen,
künstlerischen und wissenschaftlichen Gütern, sodann nach seiner
metaphysischen und eudämonistischen Bedeutung kommt das Leben
für die Kunst in Betracht (S. 462/3). Zunächst erweckt Volkelts
Darlegung den Schein, als solle das nur heißen: der Künstler greift
318 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
das Typische und Charakteristische aus allen Gebieten des Lebens,
nicht blos aus dem sittlichen heraus und zwar insoweit, als es von
Bedeutsamkeit und Gewicht fürs Menschenleben ist, insoweit als sich
darin wesenhafte Bestimmtheiten des Menschenlebens aussprechen.
Gegen eine solche Fassung des Volkeltschen Begriffs des Menschlich-
Bedeutsamen wüßte ich nichts zu erinnern. Das Typische und Cha-
rakteristische in diesem Sinn macht die ganze eine Seite der Kunst
aus. Der erste Eindruck, den wir jedem höheren Kunstwerk gegen-
über haben, ist der: so ists! Diese Gebilde sind ewig, denn sie
sind! Was wir vom Kunstwerk zuerst verlangen, was uns zuerst an
ihm entzückt, ist Wahrheit und ich wundere mich, daß dieser Be-
griff, der in der Aesthetik eine so grundlegende Stellung einnimmt
und eine ausführliche Behandlung verdienen würde, bei Volkelt so
wenig hervortritt. Ich wäre daher auch nicht so abgeneigt wie
Yolkelt (S. 538), unter die echt ästhetischen Wirkungen der Kunst
das zu rechnen, daß sie uns das Verständnis für alles Menschliche
erschließt. Ich sehe nicht ein, wie diese Wirkung ausbleiben kann.
Die Kunst erschließt uns die charakteristischen typischen Formen
und Gestaltungen der menschlichen Leidenschaften und Gefühle, Zu-
stände und Geschicke, Veranlagungen und Eigentümlichkeiten; sie
erschließt diese Gestaltungen nicht unserem erkennenden Verstand,
sondern unserer nacherlebenden Phantasie; wie sollte sich in diesem
Nacherleben nicht unsere Lebenserfahrung erweitern und warum sollte
diese Wirkung der Kunst, die auf schlechthin ästhetischem Weg zu-
stande kommt, nicht auch ästhetisch sein? Aber andererseits spricht
nun Volkelt doch auch wieder so, als solle der Begriff des Mensch-
lich-Bedeutungsvollen mit dem Typischen und Charakteristischen in
der angegebenen Fassung nicht erschöpft sein, als solle immer zu-
gleich eine Gefühlswertung Platz greifen, die auf Zweck und Ziel des
Menschenlebens bezogen ist. Nun leugne ich nicht, daß mit dem
Aesthetischen, das wir nach seiner einen Seite als das Typische,
Charakteristische und Wahre empfinden, auch eine Gefühlswertung
verbunden ist, aber sie geht meines Erachtens nicht auf Zweck und
Ziel des Lebens. Man vergegenwärtige sich unzählige Eindrücke von
musikalischen Kunstwerken, von lyrischen Gedichten, von Gemälden,
namentlich von Porträten; ist es denn wahr, daß, was wir an ihnen
erleben, von der Wertung begleitet ist : das ist wichtig für Sinn und
Ziel des Lebens nach seiner eudämonistischen oder seiner sittlichen
oder seiner religiösen oder sonst einer Seite oder auch: hier haben
wir das Gegenteil eines Wertes und dieser Unwert ist wichtig fiir
die Anschauung von Sinn und Ziel des Lebens (S. 477/8)? Wer fragt
sich denn beim Schlußsatz der Cis-moll-(Mondschein-)Sonate Beethovens,
Volkelt, System der Aesthetik. I. 319
ob das Aufwallen wilder Leidenschaft, das wir vernehmen, als Wert
oder Unwert wichtig ist für Sinn und Ziel des Lebens; genug, daß
dieser Ausbruch der Leidenschaft wahr und echt und zugleich er-
haben ist. Ja, selbst bei Gedichten, wo die Wertung nach der Be-
deutung für Sinn und Ziel des Lebens möglich wäre, fehlt sie bei
mir. In Mörikes verlassenem Mägdlein könnte man die treue An-
hänglichkeit der Verlassenen an den treulosen Geliebten als sittlich
wertvoll beurteilen; aber ich bilde diese Wertvorstellung nicht, noch
weniger kommt mir etwa das Urteil: der Schmerz der Verratenen
stellt das Gegenteil eines eudämonistischen Wertes dar, er offenbart
mir, daß der Liebende das Verlassen werden mit Leid bezahlt; wohl
aber fühle ich mich getroffen durch die unvergleichliche Wahrheit
der Darstellung des herben Liebesleids und zugleich gerührt von der
Tiefe des seelischen Lebens, das sich mir hier in aller Schlichtheit
enthüllt. Ueberall gewahren wir neben dem Eindruck der Tatsäch-
lichkeit, der Wahrheit ein Wertungsgefühl, aber dieses Wertungs-
gefuhl bleibt ganz im Aesthetischen, es erstreckt sich nicht auf die
sittliche, religiöse oder eudämonistische Bedeutung des Lebens. Es
geht einzig und allein auf den Lebendigkeitswert, d. h. wir werden
im Nacherleben gefühlsmäßig gewahr, ob das Leben, in dessen An-
schauen wir begriffen sind, sich in Fülle oder Aermlichkeit, in Kraft
oder Schwäche, in Tiefe oder Oberflächlichkeit bekundet. Je nach-
dem das eine oder andere uns im Aesthetischen gegenübertritt, fühlen
wir uns in unserem eigenen Lebensgefühl emporgehoben oder ge-
drückt. Auch das Sittliche wird im Aesthetischen nicht nach seinem
sittlichen Wert beurteilt, sondern nach seiner Kraft oder Anmut,
also nach dem Grad und der Art seiner Lebendigkeit. Die Kategorie
des Lebensvollen ist weiter als die des Schönen und Erhabenen. Sie
befaßt auch das Derbe und das im besonderen Sinn Charakteristische
und den Humor in sich, ja auch das Schmerzliche und Wehmütige,
sofern es nur seelisch-tief ist. Im Schmerzlichen erscheint die seeli-
sche Tiefe gerade im Kontrast zu der Lebenshemmnis, aus der sie
hervorgeht, besonders lebensvoll. Wertung nach der Wahrhaftigkeit
und Wertung unter dem Gesichtspunkt des Lebensvollen sind die
beiden zusammengehörigen Seiten am Aesthetischen. Sie werden an
jedem Kunstwerk und an jedem schönen Gegenstand der Natur wirk-
sam, wobei freilich bald die eine, bald die andere Art der Wertung
überwiegt In der Architektur und Musik und im Kunstgewerbe tritt
die Wahrheit und Naturtreue zurück, sie verlangen desto mehr einen
Gebalt, der durch harmonische oder kraftvolle Lebensgestaltung der
Forderung des Lebensvollen zu genügen und unser Lebensgefühl zu
erhöhen vermag. Die nachahmenden Künste, vornehmlich die Poesie,
820 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
befriedigen durch die naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit, die
sie verlangen, in erster Linie unser Bedürfnis nach Ausweitung un-
seres Lebensgefühls; aber da das Leben überall, wo es der ächte
Künstler packt, tief ist, so vermögen sie auch der zweiten Seite des
Aesthetischen, dem Verlangen nach dem Lebensvollen zu entsprechen
und uns in einen Zustand erhöhten Daseinsgefühls zu versetzen. Ge-
wiß ist Volkelt im Recht, wenn ihm nicht jedes Moment des sich
äußernden Lebens als Inhalt eines Kunstwerks ausreichend zu sein
scheint. Der Künstler muß vom Wahren weitergehen zum wahrhaft
und wesentlich Wahren, zum Typischen und vom Lebendigen zu dem,
was in irgend einer Hinsicht lebensvoll ist. Diese Forderung des
Lebensvollen ist auch dann erfüllt, wenn etwa die Schilderung des
Trivialen dem Dichter dazu dient, den schwermütigen Eindruck her-
vorzubringen, daß das menschliche Leben einen ziel- und sinnlosen
Verlauf darstelle (S. 466). Denn indem die Wiedergabe des Trivialen
zu ihrem Untergrund die Schwermut des Dichters über die Sinn-
losigkeit des Weltlaufs erhält, kommt im Gedicht die Persönlichkeit
des Dichters mit zur Darstellung; und diese Persönlichkeit erscheint
in ihrem tiefen regen Schmerz über die Unvernunft des Lebens als
eine Natur von tiefem Gemüt und warmer Empfindung, sie zeigt
eine Feinheit der seelischen Organisation, die die Dumpfheit, mit
der andere durchs Leben gehen, weit überragt und in dieser Fein-
heit der psychischen Organisation, in ihrem leidenschaftlichen, durch
die Wirklichkeit enttäuschten Verlangen nach gehaltvoller Existenz
bekundet sie eine das Gewöhnliche weit hinter sich lassende Lebendig-
keit. In solchen Fällen erreicht der Dichter durch die Behandlung,
was er durch den Stoff nicht zu leisten vermag.
Sieht man in diesen beiden Punkten das eigentliche Ziel, dem
das Aesthetische zustrebt, dann ist die zweite Norm des Aesthetischen,
die den Charakter des im eminenten Sinn Aesthetischen ausspricht,
von der ersten, die nur die allgemeinen Grundzüge alles Aestheti-
schen feststellt, nicht mehr so verschieden. Die zweite Norm ist
dann die Entwickelung der ersten. Lautet die erste, das Aesthetische
ist überall da, wo Leben in seinen Aeußerungen erscheint und ist
darin schon enthalten, daß das Aesthetische an die Wirklichkeit ge-
bunden ist, daß es wahr sein muß, so erscheint diese Eigenschaft
der Wahrheit gesteigert, wenn in der zweiten Norm verlangt wird,
daß in der Kunst nicht zufälliges, sondern typisch charakteristisches
Leben geschildert werde; wie nach der anderen Seite die Forderung
der Darstellung von Leben gesteigert ist, wenn als das im eigent-
lichen Sinn Aesthetische das Lebensvolle erscheint. Aber auch zur
dritten Norm Volkelts ergeben sich von der ersten und zweiten die
Volkelt, System 4er Aeethetik. I. 821
ZusammenhäDge leicht. In ihr behandelt Volkelt die Herabsetzung des
Wirklichkeitsgefühls in der ästhetischen Betrachtung. Er betrachtet
diesen Ausdruck als die tre£fiende Bezeichnung für diejenigen Eigen-
tümlichkeiten der Kunst, die man meint, wenn man vom Schönen als
einer Welt des Scheines oder Bildes, vom Künstlerischen als einer
Art des Spiels, von der reinen stofflosen Form, von der künstlerischen
Kontemplation oder vom interesselosen Wohlgefallen redet. Diese
Norm gibt nun aber — und damit ist ihre Verbindung mit der ersten
und zweiten Norm hergestellt — die Bedingungen an, unter denen
ästhetische Betrachtung zustande kommt. Man kann den Gehalt aus
der Sinnenform oder wie ich lieber sagen möchte, den Lebensgrund
aus der Lebensäußerung auch entbinden aus praktischen Bücksichten
oder im Interesse der theoretischen Erkenntnis. Mit praktischer Ab-
zweckung fühlt man sich in die unwillkürlichen sinnlichen oder
seelischen Lebensäußerungen einer Persönlichkeit ein, wenn man ihre
Stimmung oder ihren Charakter entziffern möchte, um diese Persön-
lichkeit irgendwie zu bestimmen und zu beeinflussen. Ein theoretisches
Interesse aber waltet ob, wenn man sich in den Charakter von
Persönlichkeiten oder Literaturwerken einfühlt, um ihn wissenschaft-
lich festzusetzen und darzulegen. Ein solches Einfühlen im Dienst
von praktischen oder theoretischen Zwecken ist kein ästhetisches
Einfühlen. A'esthetisches Einfühlen ist nur da, wo wir das Leben um
seiner selbst willen betrachten, also da, wo wir es in seiner Wesen-
heit erschauen und in seinem Lebendigkeitswert genießen.
Im übrigen ist der ganze Abschnitt, in dem sich Volkelt mit
seiner dritten Norm befaßt — von der vierten ist schon oben die
Rede gewesen — ein deutlicher Erweis von der Meisterschaft Volkelts
in der Behandlung ästhetischer Fragen. Seine Ausführungen über
diese Seite am Schönen sind besonders edle Früchte der maßvollen
Besonnenheit, der klaren Keife und eindringenden Kraft seines Denkens,
die seinem ganzen Werk den Charakter gegeben und es zu einer so
hervorragenden und fördernden Leistung auf dem Gebiet der mo-
dernen Aesthetik gemacht haben.
Stuttgart. Theodor A. Meyer,
06ii. gel. Ans. 1906. Nr. 4. 22
S22 'Gatt geL Anz. 1906. Nr. 4.
Ito BniDS, Vorträge und Aufsätze. München 1905. C. H. Beck'sche
Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck). 8,50 Mk.
Am 16. Mai 1901 erlag Ivo Bnins der Krankheit, der er die
letzten sieben Jahre seines kurzen Lebens hatte abringen mttssen.
Th. Birt, den eine ungetrübte Jugendfrenndschaft bis zuletzt mit
ihm vereinigte, hat ihm mit dieser Sammlung ein Denkmal ge-
setzt; daß der vornehme Inhalt eine ungewöhnlich geschmackvolle
Form gefunden hat, ohne daß der Preis die bei >0pu8cula< übliche
Höhe erklimmt, sei der Verlagsbuchhandlung an dieser Stelle noch
besonders gedankt.
Die Auswahl aus den schon gedruckten Sachen ist der Haupt-
sache nach eine glückliche zu nennen. Lateinische Programme und
Abhandlungen streng wissenschaftlichen Inhalts sind mit Recht aus-
geschlossen; ich hätte die Lucianea Nr. 14.22.26 des Schriftenver-
zeichnisses zu diesen gerechnet, um so mehr als die Fortsetzung von
Nr. 14 doch hat weggelassen werden müssen. Dagegen würde ich
Nr. 39, die Anzeige von Schmekels Philosophie der mittleren Stoa
aufgenommen, und lieber gesehn haben daß an Stelle des Teildmcks
von Nr. 35 [Neueste Darstellungen der griechischen Geschichte] Nr. 8,
> Wandlungen innerhalb der klassischen Archäologie« , eine sichere Unter-
kunft gefunden hätte. Von der Meisterschaft, die Bruns besaß,
Lebensbilder von Zeitgenossen zu entwerfen, legt nur die Gedächtnis-
rede auf Peter Forchhammer Zeugnis ab, fireilich ein klassisches: hier
war dem Takt des Redners eine besonders schwere Aufgabe ge-
stellt, und so fein hat wohl niemals ein Enkomion das Delikateste
geleistet was es gibt, mit schonender Wahrheitsliebe das Lob bis an
die Grenze zu führen, wo es umschlägt. Aber Bruns entfaltete sein
pietätsvolles Können doch anders, wenn er mit der Seele dabei war;
er hat es auch fertig gebracht, was ihm so leicht keiner nachmacht,
seines Vaters Leben mit plastischer Anschaulichkeit zu erzählen.
Im Schriftenverzeichnis fehlt diese Nummer; und wenn es nicht
möglich war, sie abzudrucken — sie steht in den Kleinen Schriften
von C. G. Bruns — , so dünkt mich, wäre es wohl angängig ge-
wesen, das als Manuskript gedruckte Lebensbild von Theodor Bnuis
einem größeren Kreise zugänglich zu machen: dem Herausgeber
hätte das schwerlich jemand als Pietätlosigkeit angerechnet.
Indeß, ich will nicht rechten und nicht mäkehi: wer die Ent-
sagung besitzt, die Aufsätze Verstorbener zu sammeln, kann es nie
allen recht machen und hat auf zu viel Dank Anspruch, als daß
jeder ihm eigene Wünsche vorrechnen dürfte. Die gefährliche
Ivo Brans, Vorträge and Aafs&tze. 823
Klippe, an der so oft gerade die treuen Freunde scheitern, daß aus
dem Nachlaß Unfertiges und Ungereiftes veröffentlicht wird, ist von
Birt vermieden; was er aus Manuskripten hinzugefügt hat, kann
alles das volle Tageslicht vertragen. Nur der Titel von Nr. 1 >Eult
historischer Personen c hätte wohl geändert werden müssen, um we-
nigstens einen Teil des Widerspruchs zu beseitigen, der gegen den
Aufsatz, soweit er von der Antike handelt, erhoben werden kann.
Der Philologe kann unter dem Kult historischer Personen nur die
Heroisierung oder die Apotheose im konkreten Sinne verstehen und
erwartet eine Auseinandersetzung über eins der allerwichtigsten Ka-
pitel aus der alten Geschichte; der Ausdruck ist aber im abge-
schwächten, modernen Sinne gebraucht, wie Carlyle hero worship
und die Franzosen la legende sagen, und wäre besser durch >Das
allgemeine Urteil über historische Personenc ersetzt. Erheblich wert-
voller, ja in mehr als einer Hinsicht das reifste Stück der Samm-
lung ist Nr. 5 > Maske und Dichtung < ; es ist besonders erfreulich,
daß es dem Herausgeber gelungen ist,* hier die Schwierigkeiten zu
überwinden, die ein mehrfach redigiertes Konzept bereitet. Und
endlich sollte nur eine Stimme des Lobes und der Anerkennung
darüber herrschen, daß die > Musikalische Plauderei« der Vergessen-
heit entrissen ist, in die ihr Schöpfer sie freiwillig versteckt hatte.
Sie ist im Winter 1877/78 entstanden, als Bruns in seiner Jugend
Höhe stand und, sehr verschieden von dem jetzigen, früh mit sich
fertigen Geschlecht, bedrückt das wirkliche Leben auf sich zukommen
sah, das während der, ungewöhnlich glücklichen Studentenjahre im
rosigen Dämmerschein vor ihm gelegen hatte. Er hatte das Ma-
nuskript schon einer Redaktion angeboten, und diese begierig zuge-
griffen, ihn aufgefordert, weiter zu schreiben: da zog er zurück, um
durch solche Allotria den noch zarten Schößling seines wissenschaft-
lichen Rufes nicht zu gefährden. Die Befürchtung war vielleicht
nicht ganz grundlos; als er bald darauf, im Sommer 1878, seine
erste wissenschaftliche Reise nach Paris antrat, gab ihm ein Kollege
seines Vaters allen Ernstes den wohlgemeinten Rat, seine Geige da-
heim zu lassen.
Mich mit dem wissenschaftlichen Inhalt des Buches auseinander-
zusetzen ist hier nicht der Ort. Ich kann an dem Todten nicht
Kritik üben und noch weniger alles bedingungslos loben ohne Wider-
spruch laut werden zu lassen. Aber ich will doch ausdrücklich darauf
hinweisen, daß die Wissenschaft, die hier entgegentritt, eine sehr ernste
und fruchtbare ist. Es muß festgelegt werden, daß die Rede über
die atticistischen Bestrebungen in einer Zeit gegen den Klassicismus
Front machte und für den Hellenismus eine Lanze brach, in der das
22*
324 Gute, gel Anz. 1906. Nr. 4.
keineswegs, wie jetzt, die allgemeine Parole war. Der Aufsatz fiber
die attischen Liebestheorien ist das geistvollste, das seit langer Zeit
^äber das Verhältnis von Piaton und Xenophon geschrieben ist, weil
er die platonische Auffassung der Liebe von einer, meines Wissens
bis jetzt übersehenen Seite anfaßt. Wandelt Bruns hier auf Bahnen,
die ihm von dem ersten Anfang selbständiger Arbeit her vertraut
waren, so ist die eindringende Beschäftigung mit der Tragoedie eine
Eroberung des Mannesalters; noch als junger Doktor sprach er von
Euripides im Ton der Schlegel, und es ist ihm sauer geworden zu
ihm in ein Verhältnis zu kommen. Mit um so tieferer Wehmut las
ich diese schon der Krankheit abgewonnenen Aufsätze, in denen mir
der, ich möchte sagen, medizinische Gesichtspunkt am meisten ein-
leuchtet, von dem aus Euripides dramatische Darstellungen der
Leidenschaft betrachtet werden, und die Aeschylos Mythopoeie sehr
beachtenswerten, künstlerisch -technischen Erwägungen unterwerfen:
denn diese Früchte sind nur der erste Anfang einer Ernte, die
Bruns eine eigenartige Stellung unter den Fachgenossen anweisen
sollte und angewiesen hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen
wäre die Aehren von den Halmen zu schneiden, die er gesät Er
ist ein ergreifendes Beispiel für den aristotelischen Satz, daß zur
ebSaijtovta ein Leben gehört, das nicht zu früh gekürzt wird; die
Chans, die ihn so verschwenderisch ausgestattet hatte, hat ihn eben
durch den Reichtum ihrer Gaben daran gehindert eine so konzen-
triert und ausschließlich von früh an auszubilden, daß er bei seinem
frühen Tod ein so fertiges Tagewerk hinterließ, wie es bei geistigen
Virtuosen oft der Fall ist. Mit seiner musikalischen Begabung
konnte er ein mehr als mittelmäßiger Künstler werden, wenn er von
der Kunst nicht zu hoch gedacht hätte. Welch glänzender Schrift-
steller in ihm steckte, verrät die musikalische Plauderei ; mit so hin-
reißendem und originellem Schwung ist seit E. T. A. Hoffmann nicht
über Musik geschrieben und die in der Schwebe gehaltene Antinomie
der wissenschaftlichen und dilettantischen Kritik ist eine jugendlich
kühne Wiedergeburt sokratisch-platonischer Kunst, die in unserer
Literatur ihresgleichen sucht. An seinem Können lag es nicht, wenn
er den Sprung ins Literatentum nicht wagte: er wollte nicht, weil
ihn das literarische Treiben der Gegenwart abstieß, weil er fühlte,
daß jetzt eine vornehme Literatur aus nichts anderem ihre Nahrung
holen kann als aus der Wissenschaft. Er war zur Philologie nicht,
wie viele, gekommen aus Hang zu den Büchern und zur Gelehrsam-
keit, oder durch angeborenes kritisches oder sprachliches Talent ge-
drängt, sondern weil er für seine sehnende, schwärmende, SchönheR
ahnende Seele einen Inhalt suchte. Lange wollte dem Suchen das
Ivo Brans, Vorträge und Aufsätze. 325
Finden nicht folgen, und wer weiß ob er nicht hungrig und durstig
vor der halb geöffneten Tür wieder umgekehrt wäre, wenn nicht
Buechelers strenge Eleganz ihn immer wieder gebannt, Useners^
wuchtiges Menschentum nicht unter seine Schwingen genommen hätte.
Und auch dann kam es ihn hart an mit seinem romantischen Künstler-
sinn, der verlangte ein organisch wachsendes Ganze wenn nicht zu
schaffen, so doch zu betrachten, sich an das kritische Zerren und
Zausen, an das bewußte Kombinieren, an die secierende, forschend
zerstörende Art, kurz an all das zu gewöhnen, was den meisten am
philologischen Handwerk besonderen Spaß macht. Von den zwei
Seelen, die der Philologe nun einmal haben muß, war die künstlerische
bei ihm zu lebenswarm gerathen um die kühle kritische Schwester
gerne neben sich zu sehen, und seine Verbindung mit der philo-
logischen Wissenschaft ist lange eine Vemunftehe geblieben, der er
gern für einige Stunden entschlüpfte, nicht etwa des Müssiggangs —
er war einer der fleißigsten Menschen, die ich gekannt habe — ,
sondern literarischer Liebhabereien. Bruns kam spät nach Italien,
zuerst zweimal nach Venedig als willkommene Unterbrechung seiner
Göttinger Privatdocentenzeit , die für ihn in jeder Hinsicht eine
Leidenszeit war, dann, schon als Kieler Professor, auch nach Florenz
und Rom. Es ist bezeichnend, daß ihn die Renaissance erheblich
stärker anzog als die Antike; leider sind nur die Skizzen über
Marullus, Montaigne, Erasmus aus diesen Nebenbeschäftigungen
hervorgewachsen: er hätte das Zeug gehabt eine Geschichte des
Humanismus zu schreiben.
Und doch ließ er sich von der philologischen Wissenschaft nicht
abdrängen; die er als Jüngling so manches Mal gemieden, hat er als
Mann zäh und beharrlich umworben. Um die Sprache wirklich zu
lernen, nahm er sich in strenge Zucht; welch Quantum resignierter,
gleichmäßig energischer Arbeit in den Editionen des Alexander von
Aphrodisias steckt, kann nur der ermessen, der Bogen für Bogen,
wie der Schreiber dieser Zeilen, nachgeprüft hat. Bruns gehörte
nicht zu den Aesthetikern , die auf das Handwerk hochmütig herab-
sehen; so sehr es seiner Natur zuwider war, er zwang sich dazu,
sich mit einer Meisterarbeit in die strenge Zunft einzuführen, weil
er wußte, daß nur der ein Philologe wird, der einmal einen Text
gemacht hat. Aufgehn konnte er freilich nicht darin; er wollte
mehr, wollte sich seinen eigenen Weg zu * den Alten bahnen,
sich von gewandter Apperception fremder Gedanken und Methoden
mit jener Scheu zurückhaltend, wie sie echten Künstlernaturen eigen
ist. Es konnte nicht ausbleiben, daß das wissenschaftliche Publikum
sich zunächst etwas spröde zurückhielt; es fand nicht das, was es
SX G6ti. ^1. Ans. 1906. Nr. 4.
ZU finden gewohnt war. Wie alles, was echt und von innen heraus
gewachsen ist würde seine Weise sich durchgesetzt haben : aber der
Lohn ist seinem Ringen mit sich selbst versagt geblieben. Die Ge-
danken, die er ausgesprochen, werden weiter wirken, aber seine
eigenen werdens nicht mehr sein ; denn diese mit sich kämpfende und
sich selbst bezwingende Charis kann nicht wiederkommen.
So hat dies Leben, auf dessen Beginn die Sonne so fröhlich
schien« mit einer Dissonanz ohne Auflösung geschlossen. Voll und
rein dagegen ist die Wirkung seines Stils, die hoffentlich recht viele
empfinden: Birt stellt ihn mit Recht als deutschen Schrifsteller vor.
Diesel ^1 hat Bnns nicht gelernt; das ist er selbst. Noch immer
ist unter uns die akademische färb- und marklose Schreibweise nicht
ausgestorben« die den Ursprung aus dem Latein nicht verleugnet,
obgleich das Lateinschreiben eine tote Kunst geworden ist; und daß
der im Gegensatz dazu erwachsene Philologenstil mit seiner Auf-
regung, dem hastigen Hin- und Herstoßen, der Streitbarkeit, die
sidi auch dann einen Feind setzt, wenn keiner da ist, uns viel
Freunde machte, wird niemand behaupten wollen. Dagegen macht
Rnias nie von starken Mitteln Gebrauch und weiß bei ganz einfacher
Diktion doch zu überraschen; er predigt nicht über den Kopf des
Le^i^HT^ hinweg und fahrt ihn auch nicht an, sondern unterhält sich
mit ihm wie man sich mit einem gebildeten Manne unterhält, ihn so
(Uhr^nd. da£ er es nicht merkt und eben darum mitgeht. Schneller
ixter lan^^mer taucht das Problem auf, deutlich, aber nicht unter-
strichen : dann füigt sich leicht und zwanglos eine Linie an die andere,
bis die l.v'^ung sich wie spontan heraushebt Der Fehler, an dem
Uterar^r^^sv^hiohtliche Aufeätze fast immer leiden, nur über das Objekt
und nicht vom Objekt zu reden, ist sorgfältig vermieden; es wird
immer klar und anschaulich der Gegenstand der Untersuchung ge-
schildert s\^ \la^ auch für den zum Lernen und Genießen etwas übrig
bleibt, der die Resultate der Untersuchung ablehnt. Ich wüßte in
der phiIokHi:ischen Literatur diesem sublimierten Plauderstil nichts
an die Seite «u stellen; verwandt ist in mancher Hinsicht P. Heyses
Schrtnhart in seinen Essays, deren er leider viel weniger geschrieben
hat als Novellen.
Birt hat der Sammlung einen Lebensabriß vorausgeschickt, für den
ihm die Fri'unde. die Bruns in ungewöhnlich großer Zahl besaß,
dankbar sein werden, um so mehr, je schwerer es für den Zurück-
gebliebenen ist, das Bild des Todten ans dem Heiligtum des Herzens
herauszunehmen und hinzustellen vor die kalt gaffende Menge, der
koine Erinnerung die schönen Züge belebt. Die Charis, mit der
Bruns dio Herzen zwang, war eine seltene Reinheit und Originalititt
Ivo Bnm0, Vorträge und Aufsätze. 327
des Empfindens. Er war ein Romantiker ohne alles Manierierte und
Gemachte; ihm strömten die Wunder der Schönheit bis zuletzt so
reichlich zu, verschmolzen sich so mit seinem eigenen Wesen, daQ
er nicht durch Absperrung, durch künstliches Sicheinspinnen in einen
einmal gewonnenen geistigen Besitz seine Individualität zu sichern
brauchte. So leicht und sicher wie im Reich der Künste, bewegte
er sich auch zwischen den Menschen. Sein Urteil konnte streng sein,
alles Falsche, Protzenhafte wies er bestimmt ab, ohne je aggressiv
zu werden; aber es war erstaunlich, wie er überall das Echte und
Lebendige zu finden wußte, gerade bei einfachen und anspruchslosen
Menschen. Niemals erzog er bewußt; so ernst er das Leben em-
pfand, er ließ jedem sein Recht und war ein abgesagter Feind eines
schellenlauten Rigorismus. Femerstehende mochten ihn für einen
Epikureer im antiken Sinne nehmen; wer einmal in seine Seele ge-
schaut hatte, der hatte eine Erinnerung, die das Schlechte in ihm
zurückdrängte, und so viele ihn gekannt zu haben glauben, was er
war, das wissen doch nur die, denen er in der goldenen Zeit des
Werdens die Wunder seines Inneren erschloß, die schlummernde
Flamme ihres Herzens am eigenen Feuer entzündend.
Göttingen E. Schwartz
Carl Michael Bellman, der schwedische Anakreon. Von Felix
Nledner. Berlin, Weidmannsche Buchhandlnng. 1905. YlII, 398 S.
Seit Atterboms erster kritischer Darstellung der Bellmanschen
Dichtung (1812) sind wohl die bedeutendsten skandinavischen Literar-
historiker darüber einig, daß Bellman nicht nur als der ursprünglichste
aller schwedischen Dichter, sondern auch als eine der bedeutsamsten
Erscheinungen der Weltliteratur betrachtet werden muß. Freilich
war es kaum zu erwarten, daß seine Dichtergröße auch weltbekannt
werden könnte. Die Meisterwerke der Sprache einer kleinen Nation
dringen natürlich nur mit großen Schwierigkeiten durch und dies gilt
vor allem von den lyrischen Gattungen, bei denen es weniger auf
Ideen als auf das, was fast unübersetzbar ist, ankommt: auf das
Wort, den Klang, das ganze innere Leben der Sprache, das von
einem Fremden nur selten verstanden oder genossen werden kann.
Dazu kommen bei Bellman ganz besondere Schwierigkeiten. Man
merkt nicht selten, daß die eigenen Landsleute des Dichters, wenn
sie auch einen ziemlich richtigen Gesamteindruck seiner Schöpfungen
haben, doch viele Einzelheiten nicht verstehen, worüber man sich
828 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
kaum wundem kann, wenn man in Betracht zieht, daß Bellmans
Sprache trotz aller Ungebundenheit und Leichtigkeit doch oft ver-
schieiert ist und seine Gredichte voll von Anspielungen und Züg^
einer Vergangenheit sind, die nicht einem jeden unmittelbar vor
Augen steht. Daß Bellman unübersetzbar sei, ist ein alter Glaubens-
artikel unter den Skandinaviern. Die Schwierigkeiten scheinen un-
überwindlich. Bellmans Virtuosität der Behandlung von Reimen und
Rhythmen ist etwas Einziges. Die Kunst ist in solch wunderbarer
Weise in Natur umgewandelt, daß man das überaus Kunstreiche
ganz übersehen kann. Man nehme z. B. folgende erste Strophe der
Fredmans Epistel 9. Auch wer die Sprache nicht versteht, kann die
Wirkung der Reimstellung nachfühlen.
Käraste bröder, systrar och vänner!
Si fader Berg! Hau skrufvar och spänner
strängama pä fielen,
och sträken han tar i hand.
Ogat är borta, näsan är klufven.
Si, hur han star och spottar pä skrufven!
Ölkannan star pä stolen.
Nu knapper han lite grand,
v:ccüo--- grinar
mot solen,
v:ceUo--- piuar
fielen.
v:ceUo-- Hau sig förvillar,
drillar
ibland.
Käraste bröder, dansa pä tä!
Handskar i hand och hattama pä!
Si pä jungfru Lona!
Röda band i skona,
nya strumpor, himmelsblä!
Man bemerke u. a., daß das Wort hand (Z. 4) mit grand (Z. 8)
und ibland (Z. 15) reimt, und daß die folgenden Strophen nicht nur
mit Rücksicht auf den Reim, sondern auch metrisch auf jede einzige
Silbe vollständig korrespondieren. Solche Beispiele sind zahlreich.
Man könnte geneigt sein, zu glauben, daß solche Verse einen ver-
künstelten Eindruck machen, aber das ist so wenig der FaU, daß
man sich im Gegenteil keine natürlichere, keine weniger gezwungene
poetische Sprache denken kann. Und diese Sprache ist gar nicht
trivial. Die Wortwahl ist oft sehr originell, immer poetisch wirksam,
Niedner, Carl Michael Bellman. 829
weshalb Bellmans Dichtung auch in sprachlicher Hinsicht den Kenner
ansprechen muß, ebenso wie ihre Natürlichkeit sie in gewissen Hin-
sichten der Volksdichtung nähert.
Und das ist noch nicht alles, was eine richtige Würdigung Bell-
mans von Seiten eines Fremden hindert. Der Text, pflegt man zu
sagen, ist wenig mehr als die eine Hälfte der Bellmanschen Poesie.
Er war ein Sänger, und keiner, der nicht Bellmans Lieder hat
singen hören, kann von dem vollen Zauber dieser Lieder gefangen
werden, was freilich nicht ausschließt, daß auch beim bloßen Lesen
sich die Ursprünglichkeit seiner poetischen Schöpfungen kundgibt.
Sollte Bellmans Dichterruhm außerhalb des skandinavischen
Nordens allgemeiner verbreitet werden, wäre nichts wünschenswerter
als eine große deutsche Monographie, worin auch gut übersetzte
Proben seiner Gedichte in erläuterndem Zusammenhange mitgeteilt
werden könnten. Und das ist was Niedner gegeben hat. Wie weit
es ihm gelingen mag, die alte Vorstellung zuschanden zu machen,
daß »wo Bellman nicht verstanden werden kann, Skandinaviens Grenze
geht« — wird sich zeigen. Daß er selbst den schwedischen Dichter
verstanden hat, soll ohne Rückhalt anerkannt werden.
Lange war Bellman eine halb mythische Gestalt. Sowohl sein
Leben als seine Dichtungen waren von einem Helldunkel umwoben,
in dem man nach persönlichen Neigungen entweder mehr das Dunkle
(wie Fryxell) oder mehr das Helle (wie Atterbom) sah. Die For-
schung hat jedoch während der letzten Jahrzehnte beträchtliche An-
strengungen gemacht, den Schleier zu heben, was auch zum großen
Teil gelungen ist. Das Niedner an Tatsachen nicht mehr als die
bahnbrechenden schwedischen Untersuchungen darbietet, ist selbst-
verständlich, aber von den Resultaten dieser Forschungen hat er
eine sehr gute und zuverlässige Darstellung gegeben, so wie er im
allgemeinen eine vollständige Kenntnis der ganzen, freilich auch
nicht allzu umfangreichen Bellmanliteratur an den Tag legt Viel-
leicht wäre es wünschenswert gewesen, daß er in gewissen Fällen
einen selbständigeren Standpunkt einzunehmen gewagt hätte. So
bringt er, wie Nils Erdmann in seiner großen Bellmanmonographie,
einen Abschnitt >Bellman in Upsala«. Darüber weiß er freilich nicht
viel zu sagen. Nach Erdmanns Vorgang schildert er in kurzen
Zügen das wissenschaftliche und das Studentenleben der kleinen
Universitätsstadt und läßt so ohne weiteres Bellman >in den Taumel
sich stürzen <, wobei er ein paar Lieder heranzieht, in denen die
gelehrte Pedanterie und die akademischen Zeremonien bespottet
werden. Dabei ist aber zu bemerken, daß diese Lieder mit Sicherheit
aus späteren Jahren herrühren. Was wissen wir aber von Bellman
no Gott. pL Ajtt. 1906. Xr. L
ia Uptak? Ganz ond gar nicbte: ist es ja sogar bezweifelt voriea,
dafi er titb j^nals als Stadent in Upsala anfgehalten hat ADerdmgi
ist er immatrikoliert worden, aber darauf kann sich auch
akademische Laufbahn beschrankt haben.
Größere Selbständigkeit hat Niedner in der Giarakteristik :
kennen, die anch auf voOes Verständnis and einen warmen Ek-
thnstasmos gegrändet ist. Dies ist nicht so za Terstehen, als ob er
eine ganz nene and amsturzende Erklarang der Dichtung BeüiiiaBS
geliefert hätte, was auch nicht ohne irrefahrende Konstmktiooai
möglich gewesen wäre. Was er aber geleistet hat, ist, daß er in
ToUkommenster Harmonie mit den besten schwedischen Auslegon
sich in den Geist der Bellmanpoesie eingelebt hat; das ist aneh
wörtlich zu verstehen, insofern er durch wiederholte Reisen nach
Stockholm die von Bellman so unübertrefflich besungenen Lokalitäten
kennen und mit dem Auge des Dichters ansehen gelernt hat &
hat dem Bellmanfest am 26. Juli beigewohnt, wo auch, wie er sagt
(S. 12), »der ganz Phantasielose mitten in dem ganz modernen
Stockholm in das gustavianische Zeitalter hineinversetzt wird, wo
der Dichter, neugeboren wie der Gott des Weines und der Liebe
selbst, mitten unter seine lieben Stockholmer trittc.
Wer eine so lebendige Vertrautheit mit seinem Gegenstande
sich erworben hat wie Niedner, kann es nicht an gewissen Nuancen
und Ergänzungen der bisherigen Auffassung fehlen lassen. So zeigt
sich bei ihm eine viel größere Wertschätzung von Bellmans >Bacdii
Tempel, geöffnet bei eines Helden Tod< (1783), als man im Vatw-
lande des Dichters gewöhnt ist. Bei aller Anerkennung einzelner
schöner Lieder haben die schwedischen Beurteiler sich über diese
Arbeit als einheitliches Kunstwerk ziemlich geringschätzend ausge-
sprochen* Auch Niedner hat gewisse berechtigte Einwürfe vorzu-
bringen. Aber, sagt er (S. 276), >wer die Mühe nicht scheut, sich
durch den Urwald der eintönigen französischen Verse, in denen die
burleske Handlung sich abspielt, hindurchzuarbeiten, der wird über-
rascht durch den unerschöpflichen Reichtum grotesker und anmutiger
dichterischer Bilder, die überall zwischen dem konventionellen Schling-
pflanzengewächs der Erzählung auftauchen. Wiederholt schafft die
glühende Phantasie des Dichters ihre Monotonie mit dem blühenden
Fleisch junger Mädchenleiber und dem alten Firnewein zechender
Greise zu dichterischen Oasen von wunderbarer Schönheit um<. Und
von einem gewissen Auftritt desselben Gedichts beißt es (S. 279):
>Das nun folgende Bild ... ist mit einer dichterischen Anschaulichkeit
und Lebendigkeit vorgeführt, die uns ganz wie in Aristophanes Vogel-
stadt, wie auf Shakespeares phantastischer Insel, wie in Goethes
Niedner, Carl Michael Bellman. 331
hellenischer Märchenebene vergessen läßt, daß wir es nicht mit wirk-
lichen Vorgängen, sondern mit den ergötzlichsten und doch sinn-
vollsten Sprüngen einer großen Dichterphantasie zu tun haben <.
So etwas zu denken, viel weniger zu sagen hätte ein schwedi-
scher Kritiker kaum die Kühnheit gehabt. Damit ist gar nicht be-
hauptet, das Niedner völlig im Unrecht ist. Man darf vielmehr an-
nehmen, daß Bellman mit dem genannten Werke einem anderen
Geschmack als dem nordischen mehr gefällt. Eine gewisse Stimmungs-
ähnlichkeit mit der älteren attischen Komödie hat freilich schon
Atterbom in den hervorragendsten Dichtungen Bellmans, wenn auch
nicht gerade im >Bacchi Tempel«, gefunden. Mit wem ist übrigens
Bellman nicht schon verglichen worden, von den Eddadichtem, von
Anakreon, Pindaros und Hafiz bis zu Shakespeare, Rabelais, Geliert,
Bums und B6ranger, wobei, wie Niedner auch richtig bemerkt, doch
der ungeheure Abstand, der ihn besonders von den letztgenannten
trennt, deutlich hervortritt. Auch mit einer Reihe* von Malern ist
Bellman verglichen worden, die nicht minder bunt zusammengesetzt
ist, z.B. mit Hogarth, Teniers, Bembrandt, Correggio, Watteau; und
Niedner spricht von »satten Böcklinschen Farben«, was mindestens
eben so gut wenn nicht besser paßt. Daß solche Vergleichungen aus
ihrem Zusammenhange gerissen, widerstreitend und unsinnig scheinen
müssen, kann nicht verwundern. Eine jede kann freilich ein Köm-
chen von der Wahrheit haben: was sie zusammen beweisen, ist
eigentlich nur, wie inkomparabel jedes ursprüngliche Genie ist.
Mag nun auch das der Dichtung »Bacchi Tempel < gespendete
Lob etwas übertrieben sein, so kann es doch als ein Beweis gelten,
daß Bellmans Dichtung, allen nationalen und historischen Eigentüm-
lichkeiten zum Trotz, den vertrauten Fremden jedenfalls nicht minder
als die eigenen Landsleute Bellmans ansprechen kann. Ein weiteres
Zeugnis dafür ist auch besonders die Charakteristik von Bellmans
Hauptwerk »Fredmans Epistlar«, die sehr gut geschrieben ist.
Die Grundzüge dieser Charakteristik auch in den äußersten Um-
rissen wiederzugeben, wäre ein vergeblicher Versuch. Wer könnte
in wenigen Zeilen die Bestandteile des Fredmanbildes, >den schiff-
brüchigen Uhrmacher, den göttlichen Apoll, den spöttelnden Loki«
malen, oder der Mollbergsgestalt, worin Bellman >zu geradezu staunens-
werter Harmonie ein urbuntes Gewirr idyllischer, romantischer, genre-
artiger, komischer, satirischer und patriotischer dichterischer Bilder
und Motive zusammengewoben hat<.
Es wäre selbstverständlich ein leichtes, bei einem ausführlichen
Werke über Bellman, wo so vieles noch näherer Feststellung bedarf,
etliche Einzelheiten hervorzuziehen, in denen man anderer Ansicht
S82 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
ist als der Verfasser. Dasselbe gilt ja auch von seinen schwedischen
Vorgängern. Wie Ljunggren spricht Niedner z. B. von »Fredmans
wehmütiger Todesbetrachtung bei Gharons Herannahen < (Epistel 80).
Aber da hat nach meiner Ansicht der sonst fein beobachtende
Ljunggren nicht das Richtige getrofifen. Hier ist keine Wehmut,
sondern die tiefste Verzweiflung! Ist doch der Inhalt dieser Epistel
die bald cynische, bald grausig-schöne Schilderung der Höllenfahrt
Fredmans und der elenden letzten Stunden eines Menschen, der
doch bis zum Ende sich selbst getreu ist. Und hier könnte zu allen
übrigen Vergleichen noch einer hinzugefügt werden: der mit Don
Juan !
Streng hat Niedner über Bellmans > Verfall« geurteilt. Die
Wahrheit ist, daß Bellmans letzte Jahre voller Sorgen, Armut, Krank-
heit waren, daß er sogar sich selbst mit den Kindern seiner Phan-
tasie zuweilen identifiziert hat, aber daß es auch ein so tiefer
geistiger Verfall gewesen sei, wie Niedner annimmt, ist nicht fest-
gestellt. Als Beweis führt Niedner an, daß >BeIlman sich so tief
erniedrigen konnte, daß er jenen trocken moralisierenden Künstler
(Hogarth) sich als Vorbild aufstellte . . ., daß er Apollo anflehte, er
möge ihm Hogarths Auge, Feuer und Geist schenken und ihm dessen
Zeichenkunst im Liede gelingen lassen < (S. 304). »Und dieser so-
zialen und geistigen Depression entspricht es denn auch, wenn er,
der an Phantasie Ueberreiche, zuletzt nicht nur an eine Ueber-
setzung Gellertscher Fabeln sich macht, sondern sogar diesen nüch-
ternen und ihm so unebenbürtigen Poeten, dem die Lehrhaftigkeit
genau wie Hogarth in allen Poren sitzt, in begeisterten Versen
feiert, die unglücklicherweise nicht einmal verloren sind< (S. 305).
> Diese Selbstverkennung des eigenen dichterischen Vermögens wirkt
im höchsten Grade widerwärtig <.
Diese Ansicht kann Referent nicht teilen, wenigstens nicht in
einer so kategorischen Form. Es ist doch wohl keine so ungewöhn-
liche Erscheinung, daß ein Dichter sich selbst nicht vollends ver-
standen hat. Und wie könnte man voraussetzen, daß gerade Bellman,
diese unreflektierte Natur, die volle Größe seiner dichterischen
Schöpfungen hätte würdigen müssen, die doch auch keiner seiner
Zeitgenossen erkannte? Berühmt war er freilich und schon im Leben
> unsterblich« genannt, seine tiefe Ursprünglichkeit aber konnte man
in einer Zeit, wo alles Eigenartige verdammt wurde, gewiß nicht
nach ihrem wahren Werte schätzen. Kein Wunder, daß er, als er
zuletzt über die Natur seiner Dichtung zu reflektieren begann, auch
als ein > größere moralischer Dichter zu gelten wünschte. Man kann
es nicht einmal eine verblendete Bescheidenheit nennen, mit dem,
was die Zeit als das Höchste schätzte, wetteifern zu wollen.
Kiedner, Carl Michael Bellmann. 838
Was fur den nichtskandinayischen Leser der BeHmanmoiiographie
Niedners einen besonderen Wert gibt, sind, wie schon angedeutet
ist, die eingestreuten Uebersetzungen, die inbezug auf die unge-
heuren Schwierigkeiten erstaunlich gut gelungen sind und jedenfalls
alles was Ton früheren Uebersetzem geleistet ist, weit übertreffen.
Freilich sind es oft nur einzelne Strophen und keine ganzen Lieder;
als charakteristische Beispiele reichen diese Strophen aus, um in
die Poesie Bellmans einzuführen. Neben dem vielen Lobenswerten
findet man nur selten Gelegenheit zu Ausstellungen, wie bei der
Uebersetzung des Fredmanliedes über Haga (S. 152). Hier glaubt
Niedner, daß es sich um »einen satten woIIustdurchglUhten Sommer-
mittag< handle. Die vier ersten Zeilen hat Niedner folgendermaßen
übersetzt:
In des Mittags Dunst und Schwüle
Schwebt der kleine Schmetterling,
Sucht in Hagas Park sich Kühle,
Küßt die Blütenkelche flink.
Das ist ganz verfehlt. Der schwedische Text lautet in wörtlicher
Uebersetzung:
Fjäriln vingad syns pä Haga
Der Schmetterling beflügelt wird geschaut in Haga
Mellan dimmors frost och dun
Zwischen der Nebel Frost und Daune
Sig sitt gröna skjul tillaga
Sich sein grünes Obdach bereiten
Och i blomman sin paulun.
Und in der Blume sein Zelt.
>Zwischen der Nebel Frost und Daunec ist hier sprachlich besonders
originell und bedeutet so viel als: > Zwischen den frostigen, weißen
und weichen Nebeln c Wie auch die Fortsetzung deutlich bezeugt,
haben wir hier gar keine Mittagsstimmung, sondern eine frühe
Morgenstunde des Frühlings. Dagegen kann als eine Probe der
hohen Uebersetzungskunst Niedners die Strophe angeführt werden,
die auf Bellman selbst angewendet, immer gesungen wird:
Wer denkt nicht unsers Bruders gern,
Ist auch sein Schatten ewig fern?
Schwieg seines Waldhorns Klang auch gar,
Im Hain noch tönt er immerdar.
884 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 4.
Vöglein mit leichten Schwingea
Wird leis sein Lied noch singen
Und Jäger bei den Schlingen
Soirn jauchzend Antwort bringen,
Wie unter Orpheus Söhnen,
Die Bacchus Gaben krönen.
Er ohnegleichen war.
Von dem reichen Inhalt der Schrift Niedners, die verschiedene
Seiten des skandinavischen Geisteslebens der Vergangenheit und der
Gegenwart berührt, eine vollständige Rechenschaft zu geben ist hier
unmöglich. Das Gesamturteil darf man dahin zusammenfassen, daß
der Verfasser, der mit sichtbarer Vorliebe sich seiner Aufgabe ge-
widmet hat, berechtigtes Lob und sein Werk viele Leser verdient.
Örebro. Richard Steffen.
Die Lyrik des Andreas Gryphius. Stadien und Materialien. Von
Yiktor Manheimer. Berlin, Weidmannsche Bachhandlang, 1904. XYII, 886 S.
Diese umfangreiche und doch noch bei weitem nicht das Ganze
angreifende Vorarbeit zu einer Biographie des schlesischen Dichters
rechtfertigt ihre Veröffentlichung durch eine Reihe von eindringenden
Untersuchungen und Ergebnissen an einem durch Originalität, Tiefe
und Beziehungsreichtum gleich anziehenden Stoffe. Denn daß die
Persönlichkeit des einzigen Dichters großen Stiles in einer fast
zweihundertjährigen Periode der deutschen Literaturgeschichte einen
solchen abgibt, vermag diese philologisch angewandte psychobiologische
Studie recht nahezubringen, grade indem sie von der landläufigen
literarhistorischen Rubrizierung des > Dramatikers < Andreas Gryphius
nicht ausgeht. Der wahrhaft Goethische Gelegenheitsdichter in-
mitten der Gelegenheitsreimerei des poetischen Zeitalters der Hoch-
zeits-, Eindtaufs- und Leicheuschmäuse ; der Wolframisch schwer-
flüssig mit dem Ausdruck ringende Gehaltsmensch unter den seelen-
losen Formalisten der Schulpoetik; Gnadensucher aus Logik wie
Pascal und Geisterseher aus Gewissen wie Shakespeare inmitten von
ä-la-mode-Religion und Jesuitismus; paradigmatisch für das Element
der Melancholie, das dem Dichtergenie auch in besseren Zeiten und
lichteren Köpfen behagt: er wird uns greifbar in den metrischen
Analysen, textgeschichtlichen und literarhistorischen Entwicklungen,
biographischen Illustrationen dieser an sein Leben gewendeten kleinen
Lebensarbeit
Was jene erste, die formale Seite anlangt, so erhellt der Gegen«
Ma&heimer, A. Gryphius. 336
satz des durchwegs > persönlichen Tones c dieser selbst im Yerstakt
schweren (die Schwachtöne belastenden), »bewußt archaisierenden <,
rhetorisch, ja choralmäßig accentuierenden, gelegentlich gradezu pol-
nisch konsonantenhäufenden Solostimme gegen die strikte Observanz
der Schuldeklamation seiner Zeit. Doch kam ihr bedenklicher
Normalvers, der Alexandriner, G.'s grüblerischer, zur Antithese
neigender Natur entgegen. Die Spielregeln und Verbote (Cäsurreim,
Engambement, Vers- und Sbrophenformen) ihres Kanons beachtet er
gewissenhaft, löst lieber binnenreimende Alexandriner in selbständige
Verse auf, reimt auffallend rein grade im Sinne der Sprachst a mm-,
richtigkeit. Ihre Klangspielereien erweisen sich auch dem Biographen
heute wieder so suggestiv, daß er in den Wirkungen der dichterischen
Klangfarbe (Gefühlsassoziationen der Vokale) > komplizierte Probleme
der experimentellen Psychologie < sehen möchte, die reine Empfindungs-
lehre doch auf sehr einfache Richtungsbezüge zurückführen kann.
Doch rügt M. mit Recht die Weichlichkeit der wieder herrschenden
Ausschweifung nach dieser Richtung. Spielerei und Künstelei sind
nicht Sache des ernsten Lebensdichters im poetischen Gesellschafts-
spiel jener Zeit. In der klanglichen Unterstützung seiner pathetischen
Pointen greift er gern zu der den Echo- lyid Assonanzreimem ab-
handen gekommenen, männlicheren Alliteration. Die damaligen Lehr-
jahre der neuen deutschen Dichtersprache werden an der Hand der
Textgeschichte einer so ganz anf sich selbst gestellten, gegen sich
selbst strengen, geistig und gesellschaftlich hochstehenden Erstlings-
kraft trefifend veranschaulicht. In der Prosa könnte die schleppende
und wirre Unbehilflichkeit der Perioden bei einem vielbegehrten und
gefeierten Redner seiner Zeit doppelt befremden. Allein hier scheint
mir weniger eine individuelle, als eine Zeiterscheinung vorzuliegen,
deren Untersuchung der deutschen Syntaxforschung eine besondere
Aufgabe stellt. Es gilt bei diesen ersten Ansätzen zum vornehmen
und gelehrten Prosastil (im Unterschied von der volksmäßigen Prosa
der Reformationspublizistik) nicht bloß die fremdsprachlichen Muster
(Lateinisch, Italienisch, Spanisch, Französisch) zu berücksichtigen,
sondern auch die Mittel, zunächst die ganz elementaren der Inter-
punktion, dazu ins Verhältnis zu bringen, mit denen die junge
moderne Bildungssprache an die ihr neu gestellten Aufgaben ging.
Auf manches Hierhergehörige, wie die in größerer Ausdehnung schon
verwirrende lateinische Enklave des Genitivs (>in der letzten des
Opitzius Odec und dergleichen) habe ich schon früher hingewiesen
(Poetik der Renaissance in Deutschland S. 148 und öfter). Wie aber
der lebendige Atem romanischer, nicht bloß die Schulform lateinischer
Periodisierung mit ihren Partizipialkonstruktionen, absoluten Ablativen,
836 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 4.
selbständigen Infinitiven jetzt wieder, wie in der althochdeutschen
Zeit ihres ersten Schulunterrichts, auf die Sprache eindrang, davon
vermögen die Prosaübersetzungen eine anschauliche Vorstellung zu
geben. Ein Erzeugnis, wie die Münchener Uebersetzung vom Corte-
giano des Castiglione vom Jahre 1565 wird man nur an der Hand
des Originals und jedenfalls viel schwerer als dies verstehen. Die
Perioden reichen da gewöhnlich über Seiten. Man hat den Eindruck,
daß der Uebersetzer seine völlige Ratlosigkeit über ihre Gliederung
durch ungewisse (stetig invertierende) Wortstellung und Interpunktion
.(das Abstrichzeichen |, das, oft weit stärker als ein Komma, doch
nie die Bedeutung des Schlußpunkts erreicht) verdecken wolle. Er
setzt den Schlußpunkt beinahe im Sinne unseres Absatzes im
Druck. Ohne Zweifel hat der weite Periodenbau lateinischer und
italienischer Rede den bildungssüchtigen Deutschen damals stark
imponiert und sich mit dem Tone vornehmer Ueberlegenheit ver-
bunden, den sie dann auch in ihrer Sprache — zunächst mit unzu«
länglichen Mitteln und übertrieben — anzuwenden suchten. Der
deutsche Amtsstil noch des ganzen achtzehnten Jahrhunderts krankt
daran, bis die Napoleonische Zeit hier einen heilsamen Umschwung
herbeiführte. Begriffliche Bestimmungen und Verklausulierungen, wie
sie — in der Sprache Kants und im Juristendeutsch — die deutschen
Perioden übermäßig beschweren und verdunkeln, kommen endlich
bei Andreas Gryphius von Seiten seiner Natur und seines Amtes
auch in Betracht.
Eine Anzeige des Weltischen Neudruckes der Sonn- und Feier-
tagssonette, mit der Referent sich vor nun mehr als zwanzig Jahren
in die Literatur einführte (Beil. z. Allg. Z. v. 1883, No. 41), bezweckte
wesentlich den Hinweis auf die persönliche und biographische Be*
deutung des Lyrikers in dem unterdrückten deutschen Shakespeare
des dreißigjährigen Krieges. Er findet nun manches, was er dort
und in seiner Literaturgeschichte nur eben hinstellen konnte, bestätigt,
breit ausgeführt und belegt: so in den — auch durch künstlerisdie
Bezüge — bereicherten Nachweisen zu den niederländischen Studien-
verhältnissen des Dichters, seine Abwendung von Daniel Heinse (dessen
akademische Geckenhaftigkeit mit der A. W. Schlegels verglichen
wird) und seinen Anschluß an Saumaise ; den auch darin wie in vielen
kleinen Zügen (wie dem Protest gegen die Opitzische Zugabe seines
Frankfurter Nachdruckers Hüttner) hervortretenden Gegensatz gegen
Opitz, der durch eine treffliche Gegenüberstellung (S. 123 ff.) der
beiden Charaktere begründet wird. Dagegen stellt Manheimer das
wohl grade allgemein bekannte Faktum der Lebensgeschichte des
Pastorensohns aus dem 17. Jahrhundert, das subjektiv jedenfalls vtm
Manheimer, A. Gryphios. 337
ihr nicht abzutrennen ist, nämlich den Verdacht einer Vergiftung
seines Vaters durch einen Kollegen, zu den Legenden dieser für der-
gleichen natürlich sehr empfänglichen, düsteren Zeit. Ueberraschen
mvd den näheren Kenner des 17. Jahrhunderts der (durch sprechende
Parallelen anaphorischer Versbildungen) gelungene Abhängigkeits-
nachT?ei8 von dem Thüringer Plauen (S. 129 ff.), dem stereotyp be-
spöttelten >Mag. Playiusc der Poetiker. Manheimer erkennt Plauen
mit Recht als (zu seinem Nachteil verspäteten) Ronsardianer. Neu
und willkommen als Anbruch einer viel zu wenig ausgenutzten Haupt-
ader im Literaturgeschiebe jener Zeit, wird die lateinische Tages-
poesie, besonders Jakob Baldes, aber auch der polnischen Jesuiten
(Sarbiewski, >Baldes Vorbilde, Kochanowski), des Belgiers Bauhuis,
des Schwaben Biedermann herangezogen (I 3 Kap. 7. 8, S. 138 ff.).
Ueber eine andere damalige Stütze der lateinischen Muse auf dem
deutschen Parnaß, den in Danzig zum Nestor der Poeten heran-
wirkenden, von Morhof hochgehaltenen Professor J. Peter Titz (Titius)
wird höchst abschätzig geurteilt (S. 223: > dürftig wie der ganze
Mensch wart). Als Poetiker hat ihn Referent — auch mit dichte-
rischen Proben, falls diese von ihm sind — in anderer Erinnerung
(vgl. Poetik der Renaissance in Deutschland S. 282 ff.). Als Dichter hat
hat ihn neuerdings das freilich nicht eben frische Buch von L. H. Fischer
(Halle 1888) aufgefrischt. Da kontrastiert seine spießbürgerliche
Art seltsam mit seinen Motiven: Lucretia, die dann etwa so heraus-
kommt, wie ein gleichzeitiger deutscher Maler diesen Lieblings-
gegenstand des italienischen Barock hausbacken breit mit allem
Familienumstand behandelt haben könnte; die romantische Philister-
geschichte von der durch Erweckung aus dem Orabe ihrem Ehemanne
abgewonnenen Geliebten nach Boccaccios (Decam. 10, 4) Erzählung
bei Jacob Cats (Proefsteen vun den Trouwring het derde Deel) ; und
ebendaher gar eine Heroide (Knemon an Rhodope, Liebesabschied
eines Dichters an eine Dichterin mit angehängtem poetischem Liebes-
tagebuch und einer romanhaften Einleitung in Prosa)^ 1647 die Ein-
führung dieser Gattung in Deutschland vor Hofimannswaldau. Als
Uebersetzer des Owen muß Manheimer (S. 170) Titz neben seinem
Helden nennen: obwohl nicht von ihm akademisch bevorzugt, so
doch (S. 205) »beachtet< und (S. 223) unter seinem poetischen Trauer-
gefolge. Ich möchte durch diese Hinweise verhüten, daß eine literar-
historisch beachtenswerte Stimme dieser Zeit der Nichtbeachtung
anheimfiele. Wenn man allen bürgerlich schmiegsamen Geistern,
namentlich in solch trauriger Zeit, gleich die literarischen Ehrenrechte
absprechen wollte, würde die Literaturgeschichte freilich erheblich
entlastet werden.
0«tt. gtA. Ant. 1906. Nr. 4. 23
388 Gott gel Am. 1906. Nr. 4.
Auch den italienischen (römischen) Beziehungen Gryphius' ist
Manheimer, hier schon einer Fährte L. Parisers (Z. f. vgl. Lit. N. F.
V, 212) folgend, nachgegangen. Doch sind sie nicht so vollständig
und zureichend aufgefaßt, wie die niederländischen. Schon die Ein-
führung Kirchers (S. 243 f.) scheint der >curiösen€ Bedeutung dieses
yielgewandten Geistes, dessen Name, noch für Goethe ein Schlagwort^),
auch heute mindestens in seinem Museum zu Rom lebt, nicht ganz
angemessen. Für die Kirchhofsgedanken hätte Manheimer (S. 157
A. f.) nicht den >mittelalterlichen Kultus der Gerippe< und ein Titel-
kupfer bei Cats, sondern die italienischen Skelettkirchen (wie die
Kapuzinerkirche S. Maria della Concezione in Rom) und Skelett-
sarkophage (zu dieser Zeit ein formlicher Unfug, wie man sich in
italienischen Kirchen leicht überzeugen kann) heranziehen müssen.
Auffallender als an dieser Stelle wird auf S. 131 eine wichtige
Charakteristik (Danzigs, der geistigen Hauptstadt des damaligen
Ostens als Spiegel der konfessionellen Toleranz) in die Anmerkung
verwiesen. Wir heben das jedoch nur hervor, um auf den mannig-
fachen Inhalt des Buches aufmerksam zu machen. Denn es wiU ja
eben nur Vorarbeiten zu einer formal abgerundeten Biographie geben
und beweist nicht blos durch seinen Ertrag für die Spezialforschung,
daß wir eine Bereicherung der Fachliteratur in ihr erwarten können.
Der Verfasser, der im Vorwort seinem Lehrer sein Heranreifen vom
Dilettanten zum Philologen dankt, bekennt (S. XVH), daß >das Er-
staunen über die Modemität< jener unpoetischen Zeit ihn zu ihr
hingefühlt habe. Wenn er nun ihren wahrhaften Dichter als leben-
digen Gewinn aus ihr zurückbringt und diesen > selbstquälerischen
und scheuen Geist, der der Oeffentlichkeit nicht hold ihr viel ver-
bärge (S. 135) in der Zeit beschwört, die zu der damaligen Poesie-
fremdheit die vollendete Poesiereklame gefügt hat, so hat er — nicht
im schlechtesten modernen Sinne! — auch ein gutes Werk getan.
München. Karl Borinski.
1) »Wo käme denn ein Ding sonst her,
Wenn es nicht längst schon fertig war*?
So ist denn, eh man sich's versah.
Der Pater Eircher wieder da.«
Zahme Xenien VI (zu den Hypothesen über das Feuer und Wasser im Erdinnem).
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwarts hi GWingai
Mai 1906 No. 5
Fr. PovlMi, Die Dipylongräber and die Dipylonyasen. Mit 8 Tafeln.
Leipng, B. Q. Teabner, 1905. 188 S.
Das Buch ist schon im vorigen Jahre zum Zweck der Habilitation
in dänischer Sprache erschienen, da der zweite Teil dort jedoch nur
skizziert war, ist die deutsche Ausgabe eine wesentliche Bereicherung.
Der Verfasser hat einem dringenden BedUrftds in dankenswertester
Weise abgeholfen. Wer sich bisher nicht damit begnfigen wollte,
Ton der ersten eigenartig und geschlossen auftretenden attischen
Eulturepoche nur ein entwicklungsloses AUgemeinbild zu haben, der
mußte sich durch mehrere, z. T. sehr weitschweifige Ausgrabungs-
berichte ohne zusammenfassende Abschnitte hindurcharbeiten, an einem
von diesen eine umständliche Kritik üben und sich schließlich doch
sagen, daß so zwar das altattische Sepulkralwesen geschichtlich be-
griffen, die so wichtige Entwickelung des Dipylonstiles dagegen nicht
erkannt werden könne ohne eingehende Studien in Athen und Eleusis;
daß auch solche nicht jeden zum Ziele führten, hat Wides Mißerfolg
gezeigt. Erschwert wurde die Arbeit noch dadurch, daß die vor
acht Jahren am Westabhang der Akropolis gemachten wichtigen
Orabfunde noch nicht einmal provisorisch veröffentlicht worden sind
— eine Unterlassung, an der auch Poulsens Darstellung natur-
gemäß etwas leidet. Von diesem unverschuldeten Mangel abgesehen
hat der Verfasser seine Aufgabe vollkommen gelöst, und zwar nicht
mit jener billigen historischen Methode, die sich durch den Nachweis
einer Entwickelung des Eingehens auf das Wesen der Dinge ent-
hoben glaubt, sondern mit der echten, die im Werden das Wesen
sucht.
Das Buch zerfällt in zwei Hauptabschnitte. Der erste behandelt
die Gräber im Zusammenhange des antiken Sepulkralwesens , selbst-
verständlich im Lichte vergleichender Volkskunde. Den Boden fur
die Darstellung bereitet eine Untersuchung über die Leichenver-
brennung, die diese Erscheinung als Glied eines großen Ganzen von
Vorstellungen und Gebräuchen zu fassen sucht. Der zweite Teil ist
G«lt gel Au. 1906. Nr. 6 24
840 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
nicht minder großzügig angelegt. Als Vorbedingung für ein Ver-
ständnis des Dipylonstiles wird im ersten Abschnitt der geometrische
Stil an Hand der Geschichte seiner Erforschung ästhetisch und histo-
risch besprochen. Für die griechischen geometrischen Stile ist die
Literatur zusammengestellt. Im zweiten und dritten Abschnitt werden
die Dipylonvasen behandelt, und zwar im zweiten Abschnitt die
älteren, am Westabhang der Akropolis und in Eleusis gefundenen,
im dritten die jüngeren, der Hauptmasse nach aus dem Kerameikos
stammenden Gefäße. Es ist der Sorgfalt und dem Stilgefühl des
Verfassers gelungen, eine in den Grundzügen durch die Fund-
tatsachen gesicherte Entwickelung nachzuweisen. Die Darstellung
hat er zu einem systematischen Handbuch der Dipylonkeramik aus-
gestaltet.
Der Abschnitt über die Leichenverbrennung soll angesichts der
religionsgeschichtlichen Bedeutung dieses Brauches ausführlich be-
sprochen werden. Poulsen geht aus von der Tatsache, daß die
Leichenverbrennung trotz der großen Zähigkeit der animistischen
Vorstellungen bei den verschiedensten Völkern entstanden ist, und
zwar nicht nur innerhalb des asiatisch - europäischen Kulturkreises,
sondern auch da, wo Entlehnung so gut wie ausgeschlossen ist, z. B.
bei den nordamerikanischen Indianern. Einzige Bestattungsweise ist
die Verbrennung bei Homer, in Assarlik bei Halikamass und in
Thera, wo auch die sonstigen Bestattungsbräuche den homerischen
sehr ähneln. Daß der Friedhof von Assarlik von griechischen An-
siedlern herrührt, ist wohl jedem Kenner ältester Keramik eine sub-
jektive Gewißheit.
Im folgenden werden die Spuren »vorhomerischerc Leichenver-
brennung zusammengestellt. Mit Recht abgewiesen wird im Anschluß
an Tsuntas und Dragendorff die Auslegung, die Skias seinen ältesten
eleusinischen Funden gegeben hat: es handelt sich hier sicher nicht
um Brandgräber, sondern um Hüttenböden. ^ Die Aufzählung der
mykenischen Leichenverbrennungen ist nicht ganz vollständig, denn
außer den argivischen Gräbern spätmykenischer Zeit wäre das erste
Kuppelgrab von Dimini zu nennen gewesen; jetzt kommt noch eine
spätest mykenische kretische Grabkammer hinzu, in welcher die Ver-
brennung vereinzelt neben der Bestattung erscheint (Ef. ipx- 1904,
S. 22 ff., T. 3; der Herausgeber nennt die noch rein mykenisch ver-
zierten Gefäße freilich geometrisch, weil er gelernt hat, daß es in
1) Wenn Poulsen angibt, daß auch in Thorikos Reste von Holzhütten ge-
funden seien, so ist das wohl ein Versehen. Dagegen kommen jetzt in BOotlen
Hüttenböden zutage, die hoffentUch mit ähnlicher Sorgfalt wie die italischen unter*
sucht werden.
Ponlsen, Die Dipylongr&ber 841
mykenischer Zeit keine Leichenverbrennung gibt ; daneben tritt schon
die Bogenfibel auf). — Allzu kurz macht Penisen die trojanischen
Funde ab; denn außer den vereinzelten Brandgräbern der sechsten
Stadt haben wir ja doch die gleichzeitige mächtige Brandschicht im
Hanai-tepe. Mir scheint hier ein wichtiges ELriterium vorzuliegen,
das freilich der Bekräftigung durch neue Funde bedarf: zur Zeit der
mykenischen Expansion hatte die in Mesopotamien schon lange ver-
breitete Leichenverbrennung an der kleinasiatischen Küste Fuß gefaßt;
von dort griff sie schon vor der Kolonisation nach Hellas über, von
den Ansiedlem aber haben dann wenigstens die oberen Schichten,
losgerissen von heimischer Ueberlieferung und in engerer Berührung
mit der hohen Kultur der Euphratländer, den neuen Brauch durch-
weg angenommen und daraus alsbald die Folgerungen gezogen, die
wiederum schon die Babylonier gezogen hatten : nach der Beisetzung
hörte der Kultus auf. Wie sehr die Unterwelt der Chaldäer dem
homerischen Hades ähnelt, hebt Poulsen hervor, aber er läßt die
Frage offen, ob die Verbrennung bei den Griechen selbständig ent-
standen oder aus dem Orient entlehnt ist. Nach Lage der Dinge
scheint mir mehr für Entlehnung zu sprechen : der Strom des orien-
talischen Einflusses war kontinuierlich. Wäre aber auch die Her-
leitung aus Mesopotamien erwiesen, wir müßten doch, wie Poulsen
es tut, allgemeine Gründe für die Entstehung der Verbrennung
suchen.
Poulsen kritisiert zunächst Rohdes Annahme, die Verbrennung
folge aus dem Schwinden des Seelenglaubens und bezwecke geradezu
eine Bannung der Seelen, in Dragendorffs Sinne; aber er bleibt nicht
stehen bei dem negativen Ergebnis, daß solches nur in den Kreisen
der Aufgeklärten denkbar sei, sondern er hat mit Hilfe vergleichender
Volkskunde erkannt, wo weitere Ueberlegung anzusetzen hat. Kon-
sequenter Animismus verlangt Erhaltung des Körpers und dauernde
Speisung, ferner Beigabe alles dessen, was der Tote im Leben
brauchte. An die beiden Hauptpunkte, Erhaltung des Körpers und
dauernde Speisung, knüpft Poulsen an. Selbst die Aegypter gestanden
sich die Unmöglichkeit ewiger Ernährung der Toten zu und hörten
nach einigen Generationen damit auf (aber sie suchten doch noch
Auswege: so gaben sie den Toten Hohlformen zur Herstellung
tönerner oder wächserner Schlachttiere und andrer nützlicher Dinge
bei). Andere Völker beschränkten sich auf Terminopfer, d. b. auf
eine symbolische Ernährung. Die Leiche endlich ließ sich nirgends
so erhalten, wie in dem trocknen Niltale: sie zerfiel und selbst das
Skelett erwies sich als vergänglich. Was wurde nun aus der Seele?
Viele Völker fanden unabhängig voneinander die Antwort: sie ging
24*
342 Gott gel Anz. 1906. Nr. 5
in ein Totenreich. Das war die beste Lösung; daneben gab 6B
andere, so den Glauben an die Seelenwanderung, der auch in der
ägyptischen VolksUberlieferung Spuren hinterlassen hat (Erman, Aeg.
Rel. S. 192 f.). Glaubte man an das Totenreich, so war es am folge-
richtigsten, den Toten für die Reise dorthin auszustatten und dann
keinen Kultus mehr zu üben (so die Radikalen in Babylon und im
homerischen Kreise). Häufiger war natürlich eine Vermengung der
alten und der neuen Vorstellung: auch im Totenreich bedurfte die
Seele noch der Gaben oder war doch dafür empfänglich; damit war
das Gewonnene eigentlich wieder preisgegeben. Es ist das ein ?oIl-
kommener Parallelismus zu den mit der LeicheuTerbrennung ver-
bundenen Vorstellungen, den Poulsen jedoch nicht hervorhebt.
Die Vermengung alter und neuer Gedanken führt nun zu einer
weiteren Frage: wann wird die Reise angetreten bezw. vollendet?
Darauf antwortet man entweder mit einem runden Zeitmaß, oder man
denkt ernstlich nach, und zwar sagen die einen: wenn die Speisen
zum erstenmal unberührt auf dem Grabe stehen — dafür, dafi dies
nicht stets geschieht, sorgen natürlich die Tiere, in denen man
eventuell die Seele erkennt — , die anderen: wenn das Fleisch von
den Knochen gefallen ist. Dieser letztere Gedanke bietet den
Schlüssel zum Verständnis der Leichenverbrennung. Er hat die ver-
schiedensten Bräuche nach sich gezogen: die sekundäre Beisetzung,
das scamimento, die Aussetzung der Leiche zur Skelettierung durch
Raubtiere und Sonnenhitze, endlich zur Verbrennung, die mit den
genannten Bräuchen durchaus gleichwertig ist; die Bräuche kreuzen
sich sogar, indem die beim scamimento abgeschabten Fleischteile
verbrannt werden. Von diesen Bräuchen setzen alle die, welche eine
künstliche Beschleunigung der Verwesung enthalten, einen Fortschritt
des Gedankens voraus, den Poulsen für die Verbrennung sehr richtig
dahin definiert, daß die Befreiung vom Fleische ein Pietätsakt, der
Eintritt ins Totenreich eine Wohltat für die Seele geworden sei, wie
das z. B. Elpenor ausspricht.
Die Vernichtung der vergänglichen Leichenteile,
meist in rationellster Weise durch Feuer, ist also eine
Folge der Reflexion, die hervorgerufen wurde durch
die Beobachtung, daß der Leichnam mit der Zeit doch
von selbst zerfiel. Dies das Hauptergebnis der Untersuchung,
das Poulsen gut getan hätte, selbst kurz zu formulieren.
Im folgenden weist der Verfasser darauf hin, wie der alte Ani-
mismus sich nicht nur neben den neuen, ihm ungünstigen Gedanken
gehalten, sondern sich ihnen auch angepaßt und sie sogar seinerseits
dahin beeinflußt habe, daß das Lebw in der Unterwelt bei den vw-
Poulieii, Die Dipylongrftbtr 848
Bchiedensten Völkern als ein sehr schlechter Ersatz fur das diesseitige
Leben galt Diesem letzteren Gedanken kann ich ebenso wenig bei-
stimmen wie einem anderen, wesensverwandten: dafi sich in derVor-
stellnng von den vielfachen Schwierigkeiten und Gefahren der Reise
ins Jenseits die Schwierigkeiten wiederspiegelten, die der neue
Glaube zu überwinden hatte. Letzteres möchte ich so erklären: die
Unterwelt, die nie ein Lebender betreten, nie ein Toter verlassen
hat (so ursprünglich), denkt man sich naturgemäß als ein sehr schwer
zugängliches Land oder als Festung, womöglich als beides zugleich.
Für die Aegypter lieferte die westliche Wüste, hinter deren Rande
die Sonne versank, für die nordamerikanischen Indianer die Rocky
Mountains das natürliche Vorbild, sei es für die Unterwelt selbst, sei
es für die Grenzzone, die Lebende und Tote trennt. Gegen den
erstgenannten Gedanken ist einzuwenden, daß das kräftige Diesseits-
gefühl homerischer Ritter und nordischer Helden ebenso wie die
reife Kultur eines reichen orientalischen Volkes an sich genügt, um
ein tiefes Mißtrauen gegen das Jenseits zu erklären; umgekehrt
hoffen grade die Armen und Elenden am meisten auf ein besseres
Jenseits. In solcher Weltlichkeit ist aber natürlich ein unbedingter
Verzicht auf die Seligkeit nicht enthalten ; vielmehr verschlingen sich
die Fäden in der Weise, daß man schließlich doch wieder grade für
die Größten eine Ausnahme macht: Achill, den die Nekyia in den
Hades bannt, wird im Volksglauben zum typischen Bewohner der
seligen Insel. Wie diese Insel mit der wachsenden geographischen
Kenntnis des Volkes immer weiter rückt, sehen wir bei den Babyloniem
besonders deutlich: vom Euphratdelta rückt sie bis in den Himmel,
wo schon die Aegypter sie in den Flecken der Milchstraße, des
himmlischen Nils, erkannten. So geht bei den Griechen Herakles
nicht zu Achill und Menelaos, sondern zu den himmlischen Göttern
ein. Schließlich weist Penisen auf die weitere Differenzierung des
Jenseitsglaubens hin, die zur Verheißung der Seligkeit für die An-
gehörigen einer kirchlichen Organisation oder endlich für die sittlich
Guten führt. Das Korrelat des Lohnes ist die Strafe, wie sie uns
schon vor der Nekyia die heiligen Schriften der Babylonier und
Aegypter zeigen. Zu wie rein sittlicher Auffassung bereits die
Aegypter gekommen sind, ist zu wenig bekannt, und es sei deshalb
Ermans Uebersetzung der entscheidenden Stelle des Totenbuches
hier wiedergegeben: >Ich habe getan, was die Menschen sagen und
worüber die Götter zufrieden sind. — Ich habe dem Hungrigen Brod
gegeben und Wasser dem Durstigen und Kleider dem Nackten und
eine Fähre dem SchiflGslosen. Ich habe Opfer den Göttern gegeben
und Totenspenden den Verklärten.« (Aeg. Bei. S. 106),
344 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
Endlich sei noch eine einzehie Aeußerung besprochen, weil sie
eine Prinzipienfrage berührt: >In Griechenland könnte die Verbreitung
des olympischen Götterglaubens von Thessalien aus, wie der Jahve-
kult im alten Palästina, den Ahnenkult in Schatten gestellt haben<
(S. 8). Ganz abgesehen davon, ob man grade dem thessalischen
Olympglauben eine solche Rolle zuweisen mag, möchte ich ebenso
wie vor der Herleitung von Götterkulten aus dem Seelenkultus warnen
vor dem Gedanken, daß diese beiden Kultkreise leicht miteinander
kollidierten. Wenn sich die Verehrung eines großen Gottes ver-
breitet, pflegen verwandte Lokalgötter aufgesogen, d. h. zu Dienern
oder gar zu Beinamen des neuen Gottes zu werden; der Ahnenkultus
aber wird meist gar nicht berührt, höchstens mit der neuen Religion
so verbunden wie die Familienkulte der attischen Adelsgeschlechter
mit den Staatskulten.
In dem Abschnitt über die Dipylongräber wird zunächst ein
Ueberblick an Hand der Geschichte ihrer Erforschung gegeben (jetzt
etwas zu vervollständigen: Judeich, Topographie S. 356 f.), wobei
bereits angedeutet wird, daß die eleusinischen Gräber von älterem
Typus sind als die Kerameikosgräber ; noch älter scheinen die Gräber
am Westabhang der Akropolis zu sein. Von allgemeinem Interesse
ist die Feststellung , daß die von Skias als Grabgehege aufgefaßten
Mauern höchst wahrscheinlich von Häusern herrühren: die Gräber
scheinen also ebenso wie vermutlich die am Westabhang der Akropolis
innerhalb der Ansiedlung gelegen zu haben. Penisen erinnert an die
bekannte Stelle des pseudoplatonischen Minos, die durch die Aus-
grabungen in Thorikos, Aegina und Orchomenos illustriert wird: ur-
sprünglich begrub man die Toten im Hause, dann wenigstens inner-
halb der Stadt, so noch später in dorischen Städten, endlich legte
man Friedhöfe außerhalb der Stadt an. Daß letzteres, wie Penisen
vermutet, zur Entstehung der Idee vom Totenreich beigetragen habe,
ist mir bei dem Alter dieser Vorstellung unwahrscheinlich; man
könnte sich den Vorgang mindestens ebenso gut umgekehrt denken.
Im einzelnen ist manches nachzutragen, zunächst zur Bestattung im
Hause. Dieser Brauch hat sich als Ausnahme lange gehalten : so in
Griechenland bei Kindern noch auf der Burg von Mykenae (über das
Archaisieren im Kinderritus siehe Penisen S. 25, 45), in Mesopotamien
bei den Königen, die man in alten Palästen beisetzte : dies der erste
Schritt zur Isolierung der Toten, mit denen man ursprünglich die
Familiengemeinschaft aufrecht erhalten hatte. Ein weiterer Schritt
ist die Erbauung einer Grabhütte, die man verschüttet (so in Latium,
Not. sc. 1898 S. 170), der nächste die Anlage eines nur mehr haus-
ähnlichen Grabes. Als Beispiel hierfür sind die vormykenischen
Poolsen, Die Dipylongr&ber 845
Gräber von Syros wichtig: ihre Taren liegen öfters derart im Ab-
hang, daß sie nicht benutzt werden konnten; die Hausform ist also
rein rituell. Dem entsprechen die mehrräumigen Orabhäuser der
Babylonier, bei welchen sogar der Brunnen nicht fehlt. Die dorische
Beisetzung in der Stadt ist dagegen kein Tollgültiges Zeugnis, da z. B.
Sparta nachweislich xo>(i.if]8bv bewohnt war wie das alte Mykenae;
ähnlich scheinen die Dinge in Tarent und in den benachbarten Italer-
städten zu liegen (Not. sc. 1898 S. 196). Desto wichtiger sind die
Heroengräber im Buleuterion von Megara. Auffällig ist die Anlage
von Gräbern in der Stadtmauer selbst, wie sie in Kreta beobachtet
worden ist (Tsuntas-Manatt S. 116, 1). Vielleicht sollten die Toten
dort als Schutzgeister dienen (vgl. Hock, Griech. Weihegebräuche
S. 81 , und ähnliches bei den Festungsbauten afrikanischer Völker).
Im folgenden weist Penisen Punkt für Punkt den älteren
Charakter des eleusinischen Friedhofs gegenüber dem vom Dipylon
nach, zunächst an den äußeren Zeichen der Gräber. Solche erkennt
er unter Ausschaltung der von Skias vermuteten Sandtumuli in einer
rechteckigen Steinsetzung in Eleusis, einer runden in Athen; sein
Vergleich mit Aphidna trifft jedoch nicht zu , denn dort handelt es
sich um Verstärkung des Grubenrandes, auf welchem die Deckplatten
ruhten. Vollgültige Analogien hätte Penisen bei den Eykladen-
gräbem finden können, wo die rechteckige wie die runde Form be-
gegnet CE(p. ipx- 1898 S. 144, 146) — letztere ein >Vorläufer< des
mykenischen Plattenringes.
Nach Erwähnung der einfachen Stelen geht Poulsen zu den
keramischen Denkmälern über. Er zeigt den jüngeren Charakter des
Dipylonfriedhofs daran, daß die dort als Hohlaltäre für die Spende
in den Opfergruben stehenden Monumentalamphoren mit ihrem vor-
wiegend sepulkralen Bilderschmuck am Areopag gar nicht, in Eleusis
nur in den oberen Schichten vereinzelt nachzuweisen sind, während
in der untersten Schicht Hohlaltäre wie über dem vierten Burggrabe
von Mykenae vorkommen, und dort wie am Areopag kleine schmuck-
lose Kannen und Amphoren über dem Grabe stehend gefunden
wurden. Poulsen kommt noch zweimal hierauf zurück (S. 42 , 45),
weshalb eine Zusammenfassung seiner Ausführungen nicht unnütz
sein wird. Wichtig ist die Beobachtung, daß die Urnen mit ver-
brannten Gebeinen in sehr flachen, nie mit Platten bedeckten Gruben
beigesetzt wurden; die Schalen, mit welchen ihre Mündung gewöhn-
lich verschlossen war, lagen also wahrscheinlich frei, wie das ur-
sprünglich auch bei den Schalen an den Pithoi von Aphidna der
Fall gewesen sein wird. Wenn in solchen Schalen einmal ein
Eännchen, ein andermal Reste des Brandopfers gefunden wurden, so
846 Qdtt gel. Anz. 1906. Nt. 5
mne das zwar nach Ausweis der theräischen und anderer» 2. K
babylonischer Gräber kein Beweis dafiir, daß sie dauernd als Opfer-
grube dienten^); aber es haben sich auch Kannen mit einer Schale
in der Mündung auf dem Grabe gefunden. Dieses Eultgefaß finden
wir auf dem Dipylonfriedhof in hieratisch erstarrter Form wieder:
Napf oder Kännchen sind mit dem Deckel fest yerbunden. Die
Kannen haben in der Regel ursprünglich auf der Bretterdecke des
Grabes, nicht im Grabe selbst gestanden, und ihre Mündung hat
herausgeragt; sogar Stierknochen sind darin gefunden worden, ob-
wohl sie im allgemeinen gewiß nur der Spende dienten. UeberdieB
begegnen die Kannen nur in solchen Gräbern, wo die großen Denk-
malvasen fehlen. Penisen weist also mit gutem Recht Brückners
Vermutung ab, daß diese Gefäße das Heroenbad enthalten hätten.
Die ProthesisTase, aus der zuletzt die Lutrophoros wird, knüpft viel-
mehr naturgemäß an die spätere Entwickelungsstufe, die große Monu-
mentalamphora , an; von dieser entlehnt sie die sepulkralen Dar-
stellungen. Dies Kultgefäß hielt sich nun wieder bei jungen Leuten
besonders zäh, und die besondere Trauer um den Tod der »untcdl-
eudet< Gestorbenen legte es nahe, ihm jene neue Bedeutung der
Lutrophoros unterzuschieben. Diese Auffassung überzeugt yoU-
kommen; es bleibt höchstens zu bemerken, daß Penisen die Ton
Brückner angeführte Henkel- und Halsyerzierung mit Schlangen gegen
Brückner selbst hätte geltend machen können ; denn daß sie ursprüng-
lich sinnvoll war, ist gewiß und wird jetzt durch eine Neuerwerbung
des Berliner Museums sehr deutlich: eine altrhodische Spenderöhre
zeigt jederseits eine plastische Schlange (vgl. auch Jahrb. 1905 S. 85).
Femer zeigt Poulsen, daß auch in der Anlage der Leichengräber
der jüngere Charakter des Dipylonfriedhofs hervortritt. An der Bau-
art des Grabes ist der Zusammenhang von den Kykladengräbem an
(Etp. 1899 S. 74) über die mykenischen Burggräber und das spät-
mykenische Familiengrab von Eleusis herab bis zu den geometrischen
Einzelgräbem deutlich; in Eleusis lockert sich die Form bereits; in
Athen ist das Grab nach Einführung des Sarkophages zur einfachen
Erdgrube geworden (Spuren der alten Weise in klassischer Zeit
bei Poulsen S. 22, völlige Erneuerung in der Spätzeit 'Ef. 1904
S. 63-79).
Poulsen bespricht dann die verschiedenen Grabformen im An-
schluß an Skias: Pithoi und andre Gefäße (für Kinder), Leichen-
1) Zeitschr. f. Assyriologie 1887, S. 412. Bemerkenswert ist, daß noch in
rftmischen Nekropolen, so bei Garmona in Spanien, die Urnen mit dorchbofartMi,
also sicher der Spende dienenden Schalen verschlossen waren (R6v. arch. 1899,
n, 8. 260).
PoolBen, Die Dipylongr&ber 847
gräber, Brandgräber und Urnen. Ich gehe nur anf einzelne Punkte
ein. Die Regel, daß man den Pithos mit der unverbranaten Leidie
legte, nicht aufrecht stellte, erleidet Ausnahmen, wie in Thorikos
und in Aegina (auf Anfrage freundlichst bestätigt von Herrn Sta'is).
Hinzuzuf&gen ist jetzt der eretrische Einderfriedhof, wo die Gefäße
alle mit der Mündung nach Osten lagen und die Toten nach Westen
sahen C%- ^^^^ S- ^^O- ^ den eleusinischen LeichengriUbem ist
noch oft die im Kerameikos schon seltene mykenische Sitzbestattung
nachzuweisen. Wenn die Leichen gelegentlich auf der Seite liegen,
80 ist das schwerlich mit Penisen so zu erklären, daß der Tote in
nähere Berührung mit den Beigaben gebracht werden sollte: er ist
vielmehr schlafend gedacht wie in allen ältesten Nekropolen von
Aegypten bis Deutschland. Bemerkenswert ist übrigens, daß in einer
altbabylonischen Brandnekropole selbst die unvollkommen (symbolisch?)
verbrannte Leiche eines Kindes noch in dieser Lage gefunden wurde
(Koldewey, Zeitschr. f. Assyriologie 1887 S. 411).
Die Beigaben behandelt Poulsen ausführlich in sehr ansprechen-
der Darstellung; der Leser erhält ein typisches Bild der ursprüng-
lich so einfachen und klaren, dann immer mehr teils abblassenden,
teils mit einander und mit neuen Gedanken verschlungenen Vor-
stellungen, die zur Beigabe praktischer und symbolischer Dinge ver-
schiedenster Art geführt haben. Auch auf die Handelsgeschichte fäDt
gelegentliches Licht. So findet sich in dem an der Heerstraße ge*
legenen Mensis viel mehr protokorinthische Ware als in Athen, wo
Poulsen nur ein importiertes Gefäß kennt; ein zweites bei Collignon-
Couve Nr. 403. Zu Poulsens Ausführungen über den Bronzedreifuß
vom Dipylon ist jetzt Furtwängler, Sitzungsber. d. bayer. Akademie
1905 S. 269 f. zu vergleichen.
Die Beigabe kleiner Pferdchen bringt Poulsen wieder, wie man
das früher tat, in Verbindung mit der Reise ins Jenseits. Die Ana-
logie mit den tönernen Schuhen und Füssen, deren ursprünglicher
Sinn klar ist, drängt sich allerdings auf, so daß dieser Gedanke
immerhin mitgespielt haben mag. Andrerseits ist aber an die chtho-
nischen ffncot zu errinnem, und schließlich ist das Pferd audi Standee-
symbol wie später bei den römischen equites singulares; auf diesem
Wege dürfte es zu dem allgemeinen Heroensymbol gewordm sein,
«Is welches wir es in klassischer Zeit finden: den xpeittovec gebührt
^bu3 Roß ebenso wie die WafTenrüstung; deshalb heißt auch Hades,
der Herr aller Toten, Khyz67cviko<; (Stengel, Archiv f. ReligionswisB.
Vni 8. 208 ff.). Hierher gehört auch die Beigabe von Waffen, die
in Attika noch in klassischer Zeit wenigstens in der Form der
Weihung am Grabe üblich war. Poulsen geht deshalb zn weit« wenn
348 Gott. geL Anz. 1906. Nr. 5
er sagt, die Beerdigung mit Waffen sei sicher nur ein Vorrecht vor-
nehmer Herren gewesen (S. 40 f.).^
Granatapfel, Hahn (s. jetzt Weicker, Ath. Mitt. 1905 S. 207 ff.)
und Ei stellt Poulsen richtig in eine Reihe mit dem Grabphallos,
der mitgegeben oder auf dem Grabe als Sema aufgepflanzt wurde.
Das entscheidende Zeugnis dafür, daß die kleinasiatischen, griechi-
sehen, etruskischen Phalloide mit Recht so genannt werden, ist mir
bei meiner neulichen Besprechung, Jahrbuch 1905 S. 90 f., noch ent-
gangen: in den babylonischen Brandnekropolen von Surghol und el
Hibba hat Koldewey viele Phalloi aus Ton gefunden, alle ohne
Hoden, teils »kraß naturalistische, teils stilisiert, aber noch kennt-
lich, endlich bis zu völliger Unkenntlichkeit stilisiert (»Nagel-
zylinderc)^) Diese Phalloi steckte man in die Luftziegelwände der
Grabbauten, mit der Spitze etwas aufwärts gerichtet; sie dienten
sicherlich zur Faszinierung der zahllosen Dämonen, die den Babylonior
im Leben und im Tode bedrohten. Uebrigens gab man dort auch
tönerne Eier mit ins Grab.
Schließlich bedarf es einiger Worte über die elfenbeinemod
Frauenfiguren vom Dipylon, die Poulsen für attische Arbeiten hält
— gewiß mit Recht — und als Göttinnen ansieht. Die Frage : Göttin
oder Frau, ist im Einzelfalle selten zu entscheiden, so auch hier
nicht, so lange weder feststeht, von wann ab der Polos im Allgemeinen
nur noch von Göttinnen getragen wird, noch ausgeschlossen ist, daß er
als Brautkrone dient. Das ^pcotov ^eöSo^ der meisten Erklärungen liegt
darin, daß sie alle weiblichen Figuren als gleichwertig betrachten
ohne zu fragen, ob deren äußere Gleichartigkeit nicht etwa nur auf
mangelndem Differenzierungsvermögen der primitiven Künstler be-
ruht. In archaischer Zeit, als die Sprache der Kunst deutlich ge-
worden ist, finden sich Göttinnen und Sterbliche in den mannig-
fachsten Funktionen neben einander — warum nicht auch früher?
Sehr lehrreich ist eine ägyptische Grabbeigabe N. R. (Erman, Aeg.
Rel. S. 146): eine nackte Frau auf einem Bette, neben ihr fein
säuberlich ihre Sandalen und ein kleines Kind. Hierdurch wird klar,
erstens, daß die Nacktheit nicht immer nur scheinbar zu sein braudit
wie Poulsen annimmt; sie kennzeichnet die Frau als Genußmittel des
Mannes, als welches sie von den steatopygen oder ganz im Fett er-
stickenden Figuren des vorzeitlichen Aegypten, Frankreich, Malta,
Sparta bis zu den Gefährtinnen auf den TotenmahlreliefB zu be-
trachten ist; zweitens, daß die Kurotrophos sehr wohl auch eine
Sterbliche sein kann — nicht muß, denn grade hier ist sicher oft
1) Zdtschr. f. Assyriologie 1887 S. 416 S.
Poolsen, Die Dipylongr&ber 849
genug eine Gottin gemeint; man erinnere sich nur der eigenartigen
Nekropole von Capua (Annali 1876 S. 126 ff.). Neben Göttin and
Beischläferin erscheint spätestens in mykenischer Zeit die Vertreterin
des Totenkultus, sei es Klageweib, sei es Adorantin. Auf den Kultus
darf man wohl schon die Musiker der Kykladenkultur beziehen (vgl.
den bemalten Sarkophag von Phästos); Klageweiber sind dort nicht
kenntlich, denn es ist ein Anachronismus, wenn man in der roten
Tätowierung des Gesichtes naturalistisch dargestellte Kratzwunden
findet (vergl. die spartanische Figur mit Rhombus und Zickzack,
sowie den mykenischen Kopf mit den roten Punktrosetten). Daß man
dem Toten den im Leben verehrten Fetisch beigab, ist mir unwahr-
scheinlich; das Zerbrechen großer Idole hat andere Gründe und die
Sitte läßt sich ja bis zu den Terrakotten von Myrina verfolgen.
Auch die speziell ägyptische Idee des Reserveleibes möchte ich fern-
halten; wenn man später (schwerlich schon zur Zeit der Kykladen-
kultur, wie Dragendorff, Thera II S. 122, will) Porträtstelen und
-Statuen der Toten errichtete, so beabsichtigte man gewiß nicht, damit
der Seele ein SSoc im fetischistischen Sinne darzubieten; dieser Ge-
danke lebte nur noch im Unterbewußtsein des Volkes. Alle anderen
Vorstellungen aber kann man sehr wohl schon in ältester Zeit neben
einander mit den Figuren verbunden haben. ^)
Penisen schließt den Abschnitt über die Gräber mit der Be-
merkung, daß an ihnen der Uebergang aus der mykenischen in die
Zeit des geometrischen Stiles sich deutlich verfolgen lasse. Man ver-
mißt hier einen Hinweis darauf, daß dieser Uebergang sich in Kreta
trotz des dorischen Einfalls noch viel organischer, sozusagen vor
unseren Augen vollzieht.
In dem Abschnitt über den geometrischen Stil gibt Penisen zu-
nächst die Geschichte der Erforschung. In kurzen Strichen ist hier
ein lebensvolles Bild eines Menschenalters wissenschaftlicher Arbeit
entworfen. Mit wenigen Worten nimmt Penisen zu den vorgeführten
Meinungen Stellung. So spricht er sich mehrfach, wie das schon
Conze getan hatte, gegen den beliebten Schluß von der Kultur auf
die Rasse aus. In der Tat kann man auf diesem Wege gut und
gern nachweisen, daß die Buschmänner Nachkommen der Mykenäer
seien; wenn Penisen freilich auch den loniern dies Verwandtschafts-
verhältnis nicht recht zugestehen mag, so geht das doch zu weit;
denn hier beruht der Schluß in erster Linie auf historischen Erwä-
gungen.
1) In der Korrektur kann noch hingewiesen werden anf das Bach von
Walter A. Müller, Nacktheit and EntblöBang in der altorientalischen and älteren
griechischen Eanst
S60 Gott gel Anz. 1906. Xr. 5
Poul86DS eigene Meinung über Entstehung und Wesen des geome-
trischen Stils ist enthalten in seinen Ausfuhrungen über die Dorar-
hypotbese. An sich brauchte die Frage, ob die Derer den geometii«
sehen Stil nach Griechenland gebracht haben oder nicht, mit der
Frage nach der Entstehung des Stiles nicht verquickt zu werden.
Das geschieht erst dadurch, daß man sich den Stil in Sempera Sinn
an Webereien und anderen Arbeiten der >arischen Urkultnr<, welche
die Derer angeblich mitbrachten, spontan entstanden dachte. Poulsou
Standpunkt ist imgrunde nicht allzu verschieden von dem, welchen
Conze einnahm, nachdem Riegl die Unhaltbarkeit der Semperschen
Theorie gezeigt hatte. Mit Recht betont Poulsen, daß Ornamente
auf die allerverschiedenste Weise entstehen können und daß es meist
ganz vergeblich ist, nach dem Woher zu fragen. Von diesem rich-
tigen Prinzip weicht er aber selbst ein wenig ab, wenn er im Biegl-
sehen Sinn bei entwickelten geometrischen Stilen die Möglichkeit der
Uebemahme von Einzelheiten aus einer Technik in die andere gani
von der Hand weist. Da das Tongefäß oft genug bewußte Nach-
ahmung eines Metallgefäßes ist, so werden auch der Treibtechnik»
wenn nicht entstammende, so doch angepaßte Ornamente gelegentlich
einfach kopiert, nachweislich z. B. in Thera (Ath. Mitt. 1903 S. 134 f.).
Das steht ja doch nicht im Widerspruch mit dem von Penisen ge-
schilderten freien Verfahren der Dipylontöpfer, die alles mögliche in
Ton nachahmten, sondern stimmt gerade dazu.
Mit der Abweisung der Semperschen Theorie entzieht Penisen
der Dorerhypothese eine wesentliche Stütze. Zwei weitere Gegen-
argumente kommen hinzu : auf Kreta, wo Furtwängler und Löschcke
sich seiner Zeit die Hauptblüte des geometrischen Stiles gedacht
hatten, spielt er eine ganz geringe Rolle; noch ist die übermächtige
mykenische Ueberlieferung nicht überwunden, als bereits wieder
orientalisierende Motive auftreten. Diese Erscheinung ist ganz na-
türlich angesichts der Tatsache, daß rohe Sieger die Kultur der
Besiegten mehr oder minder anzunehmen pflegen, nicht aber umge-
kehrt. Penisen sieht also in den Dorern höchstens Zerstörer der
mykenischen »Herrenkunst« und erklärt das Aufkommen des geome-
trischen Stils mit Wolters, Böhlau, Wide dadurch, daß eine ans
ältester Zeit stammende Unterströmung volkstümlicher Ornamentik
jetzt hervortrat. Dem gegenüber scheint mir Furtwänglers bedingtes
Festhalten an der Dorerhypothese doch sehr berechtigt; es enthält
eine Warnung davor, von einem Extrem ins andere zu fall^i.
Penisen selbst sagt an anderer Stelle, die neu entdeckte altthessali-
sche Keramik würde der Dorerhypothese neuen Glanz verleihen, >and
zwar mit Recht <. Das widerspricht eigentlich seiner sonstigen Auf-
Poulsen, Die Dipylongr&ber 8SI
fusiing, scheint mir aber den Weg zu weisen. Die Derer haben
sicher einen geometrischen Stil mitgebracht, wahrscheinlich roh und
systemlos, aber nicht weniger reich als an jenen thessalischen Ge-
fifien. Das war ein starker Zufluß zu dem alten Strome bäuerlicher
Ornamentik, der nun wenigstens in Hellas die letzten Reste des
Mykenischen mit sich fortriß.
Daß dieser Strom wirklich von ältester Zeit an kontinuierlich
gewesen ist, sucht Poulsen an Beispielen zu zeigen, besonders aus-
fBhrHch an der trojanischen Keramik. Die Elemente der Entwicke-
tamg, einfache Linearomamente und Ansätze zu anthropomorpher
Gestaltung der Gefäße, bietet die erste Stadt. Wenn Poulsen diese
imt >Troja und Ilionc für steinzeitlich hält, so ist daran zu er-
imem, daß dem neuerdings mehrfach widersprochen worden ist, zu-
tet Ton Vollgra£f, B.C.H. 1905 S. 40 ff.; mir ist das Vorkommen
baoalter Yasen besonders verdächtig, da diese im allgemeinen später
alB das Kupfer auftreten. An der Menschenvase bildet sich zur Zeit
dsr zweiten Stadt das erste, zunächst noch rein naturalistische Deko-
ntioBBsystem aus; aber schon dort beginnt der Sinn f&r Symmetrie
dm Naturalismus entgegen zu wirken. Mit der Einflihrung der
Scheibe wird die >Pntzdekoration< immer omamentaler, so wird aus
tai Halsband mit Anhängern ein Metopenstreifen : die Horizontal-
ÜBie setzt sich durch und tötet allmählich das lebendige Empfinden.
Bttte aber halten sich bis in den nachmykenischen geometrischen
BfflvonTroja: die alte Oesichtsvase ist unvergessen und manche
BiseDimt erinnert an die Ornamentik der zweiten Stadt. — Daß
te kjprische geometrische Stil seine Eigenart von der Kupferzeit
Ui in die Eisenzeit nicht verändert hat, hebt Poulsen an anderer
KflBe herror. Die gleiche Kontinuität an den Kykladenvasen zu
Mitoi vermag er nicht, zumal er die Excavations atPhylakopi
Mt mehr benutzen konnte. Ohne darauf eingehen zu wollen, möchte
vk doch hervorheben, daß ein einfacher geometrischer Stil sich in
UoB stets gehalten hat, selbst neben dem starken Naturalismus der
htiriereaden Vasen. Der zweite Band des Argive Heraeum
^PMsen auch noch unzugänglich; immerhin kann er die Heraion-
fade ab Zeugen der Tradition auf dem griechischen Festlande an-
tkn. Wenn er auch VoUgraffs Funde von der Aspis hierher zieht,
'^lit er damit gewiß Recht; Vollgraff selbst will freilich nichts
^ wissen (a. a. 0. S. 29 f.). Schließlich geht Poulsen auf die
IhdeQ geometrischen Vasen der Bronzezeit ein. Bei denen von
' ^imha deutet er mit Recht an, daß sie den mykenischen gleich-
^imiL Er würdigt das Auftreten des Mäanderhakens auf einem
t^ Q^ßtße und gibt zwei Erklärungsversuche dieser zuknnfts«
j
S60 Gott gel Anz. 1906. Xr. 5
Poulsens eigene Meinung über Entstehung und Wesen des geome-
trischen Stils ist enthalten in seinen Ausführungen über die Derer*
hypotbese. An sich brauchte die Frage, ob die Dorer den geometri-
sehen Stil nach Griechenland gebracht haben oder nicht, nüt der
Frage nach der Entstehung des Stiles nicht verquickt zu werden.
Das geschieht erst dadurch, daß man sich den Stil in Sempers Sinn
an Webereien und anderen Arbeiten der >arischen Urkultur<, welche
die Dorer angeblich mitbrachten, spontan entstanden dachte. Poulsens
Standpunkt ist imgrunde nicht allzu yerschieden von dem, welchen
Cionze einnahm, nachdem Riegl die Unhaltbarkeit der Semperschen
Theorie gezeigt hatte. Mit Recht betont Poulsen, daß Ornamente
auf die allerverschiedenste Weise entstehen können und daß es meist
ganz vergeblich ist, nach dem Woher zu fragen. Von diesem rich-
tigen Prinzip weicht er aber selbst ein wenig ab, wenn er im Biegt
sehen Sinn bei entwickelten geometrischen Stilen die Möglichkeit der
Uebemahme von Einzelheiten aus einer Technik in die andere gani
von der Hand weist Da das Tongefäß oft genug bewußte Nach-
ahmung eines Metallgefäßes ist, so werden auch der Treibtechnik,
wenn nicht entstammende, so doch angepaßte Ornamente gelegentlich
einfach kopiert, nachweislich z. B. in Thera (Ath. Mitt. 1903 S. 134 f.).
Das steht ja doch nicht im Widerspruch mit dem von Poulsen ge-
schilderten freien Verfahren der Dipylontöpfer, die alles mögliche in
Ton nachahmten, sondern stimmt gerade dazu.
Mit der Abweisung der Semperschen Theorie entzieht Poulsen
der Dorerhypothese eine wesentliche Stütze. Zwei weitere Gegeiir
argumente kommen hinzu : auf Kreta, wo Furtwängler und Löschcke
sich seiner Zeit die Hauptblüte des geometrischen Stiles gedacht
hatten, spielt er eine ganz geringe Rolle; noch ist die übermächtige
mykenische Ueberlieferung nicht überwunden, als bereits wieder
orientalisierende Motive auftreten. Diese Erscheinung ist ganz na-
türlich angesichts der Tatsache, daß rohe Sieger die Enltnr der
Besiegten mehr oder minder anzunehmen pflegen, nicht aber umge-
kehrt. Poulsen sieht also in den Dorern höchstens Zerstörer der
mykenischen »Herrenkunstc und erklärt das Aufkommen des geome-
trischen Stils mit Wolters, Böhlau, Wide dadurch, daß eine ass
ältester Zeit stammende Unterströmung volkstümlicher Omamentik
jetzt hervortrat. Dem gegenüber scheint mir Furtw'änglers bedingtsi
Festhalten an der Dorerhypothese doch sehr berechtigt; es enthiK
eine Warnung davor, von einem Extrem ins andere zn lallflii
Poulsen selbst sagt an anderer Stelle, die neu entdeckte altthessali-
sehe Keramik würde der Dorerhypothese neuen Glanz verleihen, >iind
zwar mit Rechte. Das widerspricht eigentlich seiner sonstigen Anf-
Ponlsen, Die Dipylongr&ber 8SI
fassimg, scheint mir aber den Weg zu weisen. Die Derer haben
sicher einen geometrischen Stil mitgebracht, wahrscheinlich roh und
systemlos, aber nicht weniger reich als an jenen thessalischen Ge-
fäßen. Das war ein starker Zufluß zu dem alten Strome bäuerlicher
Ornamentik, der nun wenigstens in Hellas die letzten Reste des
Mykenischen mit sich fortriß.
Daß dieser Strom wirklich von ältester Zeit an kontinuierlich
gewesen ist, sucht Poulsen an Beispielen zu zeigen, besonders aus-
ftthrlich an der trojanischen Keramik. Die Elemente der Entwicke-
hmg, einfache Linearomamente und Ansätze zu anthropomorpher
Gestaltung der Gefäße, bietet die erste Stadt. Wenn Poulsen diese
mit >Troja und Ilionc für steinzeitlich hält, so ist daran zu er-
imiem, daß dem neuerdings mehrfach widersprochen worden ist, zu-
letzt Ton VoUgraff, B. G.H. 1905 S. 40ff.; mir ist das Vorkommen
bemalter Yasen besonders verdächtig, da diese im allgemeinen später
als das Kupfer auftreten. An der Menschenvase bildet sich zur Zeit
der zweiten Stadt das erste, zunächst noch rein naturalistische Deko-
rationssystem aus; aber schon dort beginnt der Sinn f&r Symmetrie
dem Naturalismus entgegen zu wirken. Mit der Einflihrung der
Sdieibe wird die >Pntzdekoration< immer omamentaler, so wird aus
dem Halsband mit Anhängern ein Metopenstreifen : die Horizontal-
linie setzt sich durch und tötet allmählich das lebendige Empfinden.
Reste aber halten sich bis in den nachmykenischen geometrischen
Stil von Troja: die alte Gesichtsvase ist unvergessen und manche
Einzelhdt erinnert an die Ornamentik der zweiten Stadt. — Daß
der kyprische geometrische Stil seine Eigenart von der Kupferzeit
bis in die Eisenzeit nicht verändert hat, hebt Poulsen an anderer
Stelle hervor. Die gleiche Kontinuität an den Kykladenvasen zu
zeigen vermag er nicht, zumal er die Excavations atPhylakopi
nicht mehr benutzen konnte. Ohne darauf eingehen zu wollen, möchte
ich doch hervorheben, daß ein einfacher geometrischer Stil sich in
Melos stets gehalten hat, selbst neben dem starken Naturalismus der
kretisierenden Vasen. Der zweite Band des Argive Heraeum
war Poulsen auch noch unzugänglich ; immerhin kann er die Heraion-
funde als Zeugen der Tradition auf dem griechischen Festlande an-
fahren. Wenn er auch VoUgrafiFs Funde von der Aspis hierher zieht,
so hat er damit gewiß Recht; Vollgraff selbst will freilich nichts
davon wissen (a. a. 0. S. 29 f.). Schließlich geht Poulsen auf die
attischen geometrischen Vasen der Bronzezeit ein. Bei denen von
Aphidna deutet er mit Recht an, daß sie den mykenischen gleich-
zeitig sind. Er würdigt das Auftreten des Mäanderhakens auf einem
dieser Gefäße und gibt zwei Erklärungsversuche dieser zuknnfts«
362 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
reichen Form. Alsdann zeigt er das sehr augenfällige Weiterleben
des Alten in der monochromen Miniaturware der Eisenzeit. Hier
knüpft der folgende Abschnitt an; wir wollen jedoch noch einige
Einzelheiten besprechen
In der Darstellung der Erforschungsgeschichte stellt Poulsen die
Hauptliteratur für die verschiedenen geometrischen Stile zusammen
(bis 1903) und gibt eine kurze Charakteristik jedes Stiles. Dem
böotischen Stil scheint mir dabei zu viel Ehre angetan zu sein. Von
Reichtum und Vielseitigkeit, sowie von starkem Export böotischer
Vasen (S. 60) kann Poulsen nur sprechen, weil er jene von Dragen-
dorff und mir Euböa zugewiesene Gattung als böotisch betrachtet ^)
Ich habe aber die Zuverlässigkeit mehrerer zusammentrefifender tech-
nischer Kriterien zu oft erprobt, als daß ich jene Vasen ohne weiteres
für böotisch halten könnte, um so weniger, als wir ja böotische Nach-
ahmungen haben. Mir stellt sich die Sache so dar: alle in Böotien
gefundenen und nicht offenbar importierten geometrischen Vasen
bilden technisch eine leicht kenntliche Einheit trotz der großen Ver-
schiedenheit der lokalen Stile. Poulsen spricht mit Recht von der
armseligen geometrischen Ornamentik der Böoter; die Folge dieser
Armut ist Aufnahme von allerlei Fremdem. So scheinen die Vogel-
schalen durch argivisch-korinthische Metallarbeiten beeinflußt, so haben
wir Nachahmungen der Dipylonvasen und eben unserer >euböischen<
Gefäße. Soll man nun annehmen, daß nur eine von allen uns be-
kannten böotischen Werkstätten — man könnte dabei an Anus
denken — eine ganz andere, überlegene Technik besaß, und daß
ihre Erzeugnisse den Stil, nicht aber die Technik anderer Werk-
stätten beeinflußten? Unmöglich ist das ja nicht, aber es liegt doch
näher, jene Werkstatt in einem Nachbarlande von höherer Kultur
zu suchen, entsprechend dem nachgewiesenen Verhältnis Böotiens zu
Attika und zu Argos-Korinth. In Eretria haben wir nun technisch
unserer Gattung ganz gleichartige, wenn auch künstlerisch minder-
wertige, wohl lokale Ware. Aus diesen Data scheint sich mir Dragen-
dorffs Annahme als wohllegitimierte Hypothese zu ergeben. — Wenn
Poulsen beim theräischen Stil bemerkt, daß Pflanzenformen nie vor-
kämen, so trifft das nicht ganz zu: wir haben das Vierblatt, imd
davon sind die Blattsteme nicht zu trennen. Daß die theräischen
Vasen ihres allzu strengen Stiles wegen anderwärts nicht gekauft
worden seien, glaubt Poulsen wohl selbst nicht ernstlich.^)
In der Auffiassung der thessalischen Keramik herrscht in dem
1) Die Publikatioii der eretrischen Gef&ße in der '£<p. 1908 8. 1 ff. konnte
Poulsen nicht mehr benatzen; sie ersetzt überdies in keiner Weise die Autopsie.
2) Eine ther&ische »Hydriac aus Rheneia? J. hell. stud. 1902 S. 48.
Poolsen, Die Dipylongräber 353
Boche ein Widerspruch. S. 66 heüSt sie eine Barbarenkeramik, ähn-
lich der italisch-geometrischen, >mit tollen Nachahmungen von Dipylon-
mustem, besonders der schwierigsten Mäanderformen <, S. 93 wird sie
prämykenisch genannt, S. 76 wird die Fundschicht richtig als neo-
lithisch bezeichnet (so die untersten Schichten; die oberen äneolithisch).
Letztere Tatsache könnte man im Sinne Sophus Müllers als > peri-
pherischen Archaismus < auffassen, aber tiefer als bis in frühmykeni-
sche Zeit wird man mit der Datierung schwerlich herabgehen dürfen.
Neue Ausgrabungen, auch in Böotien, werden darüber bald ent-
scheiden.
In dem Abschnitt über die älteren Dipylonvasen geht Penisen
im Gegensatz zu seinen Vorgängern aus von dem richtigen Grund-
sätze, daß man sich die Entwickelung nicht schematisch einfach und
gradlinig denken dürfe. Wer das voraussetzt, steht dann den Fund-
tatsachen ratlos gegenüber. Wo eine solche Eontrole fehlt, wird ja
freilich oft genug das Schema zur Grundlage weiterer Untersuchungen
gemacht, ohne daß man sich bewußt bliebe, wie problematisch der
Wert so luftiger Bauten ist. — Penisen behandelt zunächst die
Akropolisvasen. Die Gattung hat nur wenige primitive Formen
und einen sehr beschränkten Omamentvorrat. Wichtig ist, daß zwar
die Kannen und Näpfe bis auf einige Streifen und ein kleines Bild-
feld gefimist sind (T. II), wodurch sie die Verbindung zwischen dem
Monochromen und dem Schwarzdipylon herstellen (Penisen vergleicht
die älteste Eamaresware), die Büchsen dagegen ganz von Ornament-
streifen umzogen werden. Daß die Verzierung mit Streifen nicht
jünger ist als die mit Feldern, lehrt übrigens schon ein Blick auf
die älteste monochrome Keramik. Einige Kannen gleichen in Form
und Verzierung noch völlig denen aus dem spätest mykenischen
Friedhof von Salamis: ein hochwichtiges Zeugnis für das Alter der
Gattung. Aehnliche Gefäße, zumal Kannen, finden sich vielerorts, bis
nach Kreta. Penisen sieht hierin Export und Nachahmung. Daß zum
Nachweise einer starken Ausfuhr genügende technische Kriterien vor-
liegen, bezweifle ich; und Form und Ornament sind zu einfach, als
daß Einfluß der einen Landschaft auf die andere angenommen werden
müßte: bei dem Verfall des Spätmykenischen blieben hier wie dort
die selben einfachen Formen übrig. Wenn sich dagegen in Eleusis,
und zwar besonders in den unteren Schichten, Akropolisvasen finden,
so ist das natürlich ein wertvolles Zeugnis für den Zusammenhang.
Auf einem solchen eleusinischen Gefäß ältester Art treten nun zum
ersten Mal die einander entgegengestellten Mäanderhaken auf, die
Penisen sich gewiß mit Recht aus den einfachen Haken, welche schon
in Aphidna und noch im Schwarzdipylon vorkommen , durch den
854 Gfött gel. Anz. 1906. Nr. 5
Trieb ZU symmetrischer Ausgestaltung entstanden denkt Der bei
bleibende Qrund stellt nun einen fortlaufenden linksläufigen Mäander
dar (T. in*). Der älteste Dipylonmäander ist aber regelmäßig links-
läufig; die Entstehung aus den Haken durch Vertauschung Ton hell
und dunkel hat also sehr viel fär sich. Penisen weist daher unmittelr
bare Abhängigkeit vom ägyptischen Mäander mit Recht ab; der
Mäander findet sich ja auch bei den alten Amerikanern; mittelbare
Abhängigkeit über Ereta-Mykenae wird man aber doch erwägen
müssen : der Mäander tritt in Kreta sogar in der dekoratiyen Wand-
malerei auf (6. S. A. Vin 104). Auch die Entstehung aus der Spirale
weist Poulsen ab; daß der Mäander, einmal geschaffen, hier und da
bewußt an Stelle der Spirale gesetzt wurde, wird er dabei gewifi
nicht bestreiten wollen (s. Thera II 8. 158). In Eleusis verschwinden
die Vasen der Akropolisgattung in den oberen Schichten, weil die
Entwickelung weitergeht. Wie Poulsen diese Entwickelung in Technik,
Formen und Ornamentik aufweist, ist in der Hauptsache durchaus
äberzeugend. Poulsen stellt ein Gesetz fest, daß sich übrigens anoh
in anderen Stilen, wie dem theräischen, belegen läßt: den engen
Zusammenhang zwischen Gefäßform und Dekorationsprinzip. Finrmen
und Ornamente werden in diesem wie im folgenden Abschnitt einz^
ausführlich besprochen. Wir erhalten dadurch zum ersten Mal einen
systematischen Ueberblick, der um so wertvoller ist, als die eleusini-
schen Vasen schwerlich je in extenso veröffentlicht werden. Die
Masse der eleusinischen Vasen zusammen mit denen aus zwei be-
sonders altertümlich ausgestatteten Kerameikosgräbem erweist sich
als geschlossene, aus der primitiven Akropolisgattung entwickelte
Gruppe, deren Ornamentik in der Hauptsache nur geometrisches All-
gemeingut neben vielen mykenischen Reminiszenzen enthält; nur der
Mäander beginnt schon auffällig hervorzutreten. Daneben erscheint
bereits Tier- und Menschendarstellung, letztere noch ziemlich un-
sicher und stillos, aber dadurch wichtig, daß an Stelle der alten
Umrifizeichnung Silhouettenmalerei tritt. Mit Recht sagt Poulam,
daß man hier noch von einer Bauemkeramik sprechen könne.')
Ein ganz anderes Bild gewähren die Vasen vom Eerameikos.
Zwar wahren die Gefäße aus den beiden genannten altertümlichen
Gräbern und noch manches andere den Zusammenhang — umgekehrt
finden sich ja auch Vasen der Kerameikosgattung schon in den oberen
Schichten in Eleusis — , aber die Hauptmasse der Gefässe zeigt jenen
reich entwickelten Stil, der das erste großartige Zeugnis des grieehi-
sehen Sinnes für Rhythmus und Symmetrie ist. Poulsen unterscheidet
1) Zur N^u^theit der FigoreB vgl jetet Walter A. Müller a. a. 0.
Poolflen^ Die Dipylongräber 866
vier (Jattungen, deren zeitliches Verhältnis zu einander klar scheint.
Jene großen Kannen, die sich im ersten Teil als Vorläafer der monu-
mentalen Amphoren erwiesen, sowie fast alle Gefäße aus den selben
Gräbern zeigen einen reifen strengen Stil, der die grade Linie liebt,
leere Flächen vermeidet und sich durch wohlerwogene Verteilung der
das ganze Gtefäß bedeckenden Ornamente auszeichnet. Figürliche Dar-
stellungen kommen vor, ordnen sich jedoch unter. Als gleichzeitig
sieht Penisen mit Recht die entwickelte Schwarzdipylongattung an,
obwohl die Fundumstände keinen Anhalt dafür bieten; denn in den
Monumentalamphoren findet er Eigentümlichkeiten des strengen Stils
und des Schwarzdipylon vereint. Noch schwerer scheint mir der alte
Parallelismus beider Gattungen zu wiegen: schon im Akropolisstil
haben wir ja ein primitives Schwarzdipylon und daneben die ganz
mit Omamentstreifen bedeckten Büchsen, und in Eleusis sehen wir
wieder beides neben einander. — Nicht glücklich gewählt ist übrigens
der Name > Krateramphoren c statt des bisher üblichen > Amphoren
mit Doppelhenkel < ; denn das Gefäß ähnelt ohne Hals nicht einem
Krater, sondern den Pithoi, wie wir sie in Kreta in allen Größen
besitzen (Ath. Mitt. 1903 S. 156).
Die großen Grabamphoren endlich fassen alle früheren Errungen-
schaften zusammen und es entstehen ganz hervorragende Schöpfungen.
Wenn Penisen geneigt ist, die &x|tij im strengen Stil zu sehen, so
ist das jener Geschmack, der das spätere Quattrocento bevorzugt;
mir scheint die Höhe des altattischen Schaffens in den Monumental-
amphoren zu liegen. Die figürlichen Bilder treten hier mehr hervor,
aber die strenge Stilisierung läßt sie nicht störend wirken. Gefäße
wie Wide, Abb. 69 sind in ihrer Art wahrhaft klassische Werke.
Naturgemäß folgt der Höchstleistung unmittelbar die Ermüdung, über
die man sich auch hier, wie so oft, durch Unruhe hinweg zu
täuschen sucht. So fällt man einerseits in alte Formen zurück, an-
dererseits häuft man figürliche Darstellungen und überladet sie mit
Füllomamenten ; der feste Stil des Figürlichen artet aus. An den
gleichzeitigen kleinen Gefäßen ist die Zersetzung noch auffälliger;
der Sinn für die grade Linie verliert sich immer mehr, so daß
Penisen gradezu von einem Kreisstil sprechen kann. ^) Damit ist
fremdem Einfluß Tür und Tor geöffnet. Spuren zeigt bereits die
Schale mit den geflügelten > Kentauren <, anderes findet sich auf den
1) Poulsen schließt hier die groBe Vase aus Koriam an ; diese ist aber nach
Fnrtwängler, Sitzungsber. d. bayer. Akad. 1905 S. 279, aus technischen Gründen
sicher kein Dipylonge^, sondern »hängt mit der protokorinthisch-geometrischen
Klasse zosammenc — etwa auf die Weise, daß sie eine attische Nachahmung
protokorinthischer Ware ist, wie solche in Eleusis vorkommt?
Göii. ffel. Ans. 1906. Nr. 5. 25
356 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 5
Fibeln, die Poulsen für Attika in Anspruch nimmt, und die breiten
Goldbänder endlich gehören zu den Vorbildern des Frühattischen,
soweit sie nicht etwa selbst frühattische Arbeiten sind: die erste
Epoche selbständigen attischen Schaffens ist vorüber. Daß wir sie
jetzt ganz anders verstehen können als früher, verdanken wir Poulsen;
er zeigt uns nicht nur die Entwickelung des Dipylonstiles, sondern
weiß uns auch sein inneres Wesen nah zu bringen. Damit hat er
sich ein bleibendes Verdienst um das vielverkannte Jugendwerk der
attischen Kunst erworben.
Göttingen Ernst Pfuhl
Berliner KUssikertexte, hrs. von der Generalverwaltung der Egl. Museen zu
Berlin. Heft I. Didymos* Kommentar zu Demosthenes (Pap. 9780)
nebst Wörterbuch zu Demosthenes' Aristokratea (Pap. 5008), be-
arbeitet Ton H. Di eis und W. Schubart. Mit zwei Lichtdrucktafeln. Berlin,
Weidmann 1904. gr. 8. LIII und 95 8. — Dazu ebenda Lichtdrucke des Didy-
mos-Papyms, vier Tafeln.
TolumlD» Aegyptiftca. Ordinis IV, grammaticorum pars L Didymi De De-
mosthene commenta cum anonymi in Aristocrateam lexico post
editionem Berolinensem rec. H. Diels etW. Schubart. Lipsiae 1904. Bibl.
Teubn. VIII und 56 8.
Die Veröffentlichung der Museen, deren zweiter und dritter Teil,
der Theätetkommentar und höchst interessante Stücke medizinischen
und naturwissenschaftlichen Inhalts, im Herbst 1905 bereits er-
schienen sind, ist ebenso erfreulich wie die Teubnersche Sammlung,
die in die Serien Dichter, Redner und Historiker, Philosophen und
Aerzte, Grammatiker, Varia zerfallen soll und deren Ausdehnung
auch auf andere als die Berliner Publikationen in Aussicht genommen
ist. Der Wissenschaft könnte nicht besser gedient werden, als wenn
unter den Varia dieser Sammlung die Urkunden der Ptolemäerzeit
erschienen. Der größeren Ausgabe ist rasch die kleine gefolgt, und
doch gibt sie auf Grund der SeoTspat fpovTlds^ der Editoren, der
Beiträge anderer, besonders einiger glänzender Herstellungen von
Blass einen erheblich gebesserten Text. Man kann sich einmal
wieder ganz dem lehrreichen Genüsse hingeben, einen Text schritt-
weise zu immer größerer Vollkommenheit geführt zu sehen. Ueber
die Aeußerlichkeiten des der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
angehörenden Papyrus (auf der Rückseite steht das Pflichtenbuch des
nach Diels der zweiten Hälfte^) angehörenden Stoikers Hierokles)
verweise ich auf die vortrefflichen Vorreden und auf das Referat von
1) Frachter, der Stoiker Hierokles S. 106, setzt ihn in die erste H&lfte.
YieUeicht erhalten wir aus dem Papyrus neue Aufklärungen.
Berliner Klassikertexte. I 367
Blass. ^) Die Rolle ist wie der Theätetkommentar Ende 1901 yen
Borchardt in Kairo gekauft und stammt nach der Aussage des Händlers
aus den Trümmern eines Hauses in Eschmunto. Die Subskription
lautet
At5&(Loo
ffSpl A7](L00^iV00(
Und dann folgen noch unter ^, f, lä, iß die Anfänge der IH. und
IV. Phil., der Rede gegen Philipps Brief und der Rede Hspl oov-
td^ecoc. Unsere Rolle, die am Anfang verstümmelt ist und daher nur
den Schluß des Kommentars zur III. Phil, enthält, enthielt also den
Kommentar zu diesen vier Reden, wie die beiden vorhergehenden
Rollen den zu I— IV, V—VIH unseres Korpus. Darum ^iXiiwcixcbv
7. Diels bezieht nun die Zahl 28 nicht auf die Rollen des Didymos,
sondern auf die Reden des Demosthenes oder die Unterabteilungen
der Rollen, die bico^vfi^aza zu den einzelnen Reden, und nimmt an,
daß dem Kommentar zu den 28 Reden, die er S. XXV festzustellen
sucht, eine zweite Serie des Demostheneskommentars gegenüberstand.
Blass und Fuhr geben unabhängig von einander die einfachere Deu-
tung, daß das Werk des Didymos 28 Rollen umfaßte, eine Abteilung
des Werkes den Sondertitel 4^iXticicixd trug und von dieser Abteilung
unsere Rolle die dritte ist. Ihre Erklärung hat den Vorzug, daß
beide Zahlen auf einen Begriff bezogen werden. Ich gebe dieser
natürlichen Deutung auch den Vorzug vor der Leos.') Er bekämpft
wie Blass und Fuhr Diels' Annahme, daß die tetralogische Ordnung
aller Reden bei Didymos durchgeführt sei. Aber er übersetzt die
Unterschrift: > Didymos' 28. Buch über Demosthenes, gleich dem
dritten über die philippischen Reden« und vergleicht die Art, wie
Athenäus VII 281 Apollodors Buch zitiert: iv T(p f ^spl Iib^povoc t(p
elc tooc avSpeiooc |ti(ioog, d. h. >im dritten Buche über Sophron, das
von den Männermimen handelt«. Mit Recht bat Wilcken (bei Blass
S. 285 Anmerkung und unabhängig von ihm Fuhr) gegen den ersten
Teil dieser Deutung der Unterschrift eingewandt, »daß, wenn wie
hier fünf Zahlen, die sicher Ordinalzahlen sind, mit einem Strich
darüber geschrieben sind, die sechste (28) ohne Strich geschriebene,
kaum Ordinalzahl sein kann, sondern Kardinalzahl sein wird«. —
Wenigstens einige Anhaltspunkte haben wir um zu bestimmen, welche
1) Archiv für Papyrusforschung III 2 S. 284 ff. Eine inhaltreicbe Anzeige
gibt auch Fuhr, Berl. phüol. Woch. 1905 Sp. 1121 ff.
2) Didymos IIcpl A7)(Aood<vouc, Nachrichten der Göttinger QesellBchaft 1904
S. 264—261.
25*
358 Gdtt gel Ans. 1906. Nr. 5
SteUiing nnsere und die beiden yorhergehenden Rollen im Gesamt-
werke eingenommen haben. Ans dem Hinweise auf die Besprechung
der Kranzrede Kol. XII 36. 41 haben Leo nnd Blass mit Wahrschein-
lichkeit geschlossen, daß diese vorher behandelt war. Und die Notiz
zur Rede Ilepi oovtd^ecoc» Kol. XTTT 62 Cviteitau S* h tcp Xöfcp o62^
8 Tt (Li) Xö^oo Tivöc h toic «pö too t^teo^ev. Z\fM^ «epi rijc öp^dSoc sfc
ßpoxo 87]XiDtdov zielt, wie Blass gesehen hat, auf die Behandlung you
Rede XXITI und den olynthischen, in denen ein gutes Stück von
Xm enthalten ist. So kommt auch Blass zu demselben Schlüsse
wie Leo, obgleich er die 28 nicht als Ordinalzahl faßt, daß die
philippischen Reden wohl erst am Ende des Gesamtwerkes zur
Sprache kamen. Und wenn auch Diels (Kl. Ausgabe S. VI) den
Schluß aus dem Hinweise auf die Besprechung der Kranzrede mit
dem Argumente entkräften kann, daß solche Folgerungen aus dem
Gebrauch des Perfektum bei Didymos (SeSiQXcoxaiiev, eljpijtai) für Schul-
schriften nicht beweiskräftig sind — das läßt sich ja bekanntlich an
Aristoteles und vielen späteren Beispielen in der Tat beweisen^)
— , so scheint mir doch der Wortlaut der zweiten Stelle gegen die
von Diels für Didymos angenommene Folge zu sprechen.
Eine höchst angenehme Enttäuschung hat uns dies Werk des
Didymos bereitet. Wir schätzten ihn bisher wesentlich als Wort-
philologen. Und nun gibt dies Werk das erlesenste Material zur
Sacherklärung, eine wahre Schatzgrube von Historikerfragmenten, die
schon die ältere alexandrinische Erudition, wie Diels gezeigt hat, zur
Exegese zusammengebracht haben muß; es hat auch ein Urteil über
den Stil des Didymos ermöglicht (Diels S. XXIX. XXX). Daß die
Gelehrsamkeit erborgt ist, macht uns das Buch nur um so wert-
voller. Bei Didymos selbst hat der Ballast der Gelehrsamkeit das
gesunde Urteil erstickt. Das Sprachliche wird nun auffallenderweise
nur ganz gelegentlich, zum Teil zur Entscheidung von Echtheits-
fragen, berücksichtigt. Diels hat denn auch sofort die Konsequenzen
der neuen Erkenntnis für den Kommentar zum Oedipus Koloneus
gezogen, dessen grundgelehrte Sacherklärung auf Didymos zurück-
zuführen man immer noch eine gewisse Scheu trug. Aber das
Fehlen der Spracherklärung in der Behandlung des Demosthenes
stellt ein Problem, das man bereits sehr verschieden zu lösen ver-
sucht hat. Diels ist geneigt, die Erklärung in der Hypothese zu
suchen, daß die Schrift durch die Hand eines Exzerptors gegangen
sei, der die Erklärungen des Didymos nur in einer durch historisches
Interesse bestimmten Auswahl mitgeteilt habe, wenn er auch glück-
1) Für Proklos ist die Frage zuletzt behandelt von Frachter in diesen An-
zeigen 1906 S. 531. 632.
Berliner Klassikertexte. I 859
licherweise die von ihm ausgewählten nicht gekürzt habe. So soll
sich die willkürliche Auswahl der Lemmata, das Fehlen mancher
sicher zu erwartenden Scholien, so soll sich vor allem die auffallende
Erscheinung erklären, daß der Kommentar zur letzten Rede der
Rolle im stärksten Mißverhältnis zum Umfange des Kommentars der
beiden voraufgehenden Reden steht. Aber für die Kürze der Be-
handlung der letzten Rede gibt uns Didymos in der schon ange-
führten Note eine authentische Erklärung: Er hat vieles, was schon
in der Erklärung der früheren Reden zur Sprache gekommen war,
hier übergehen können. So hat denn Blass diese Exzerptenhypo-
these bekämpft und in ihr nur insofern einen richtigen Kern ge-
funden, als manche Inkonvenienzen auf die Exzerpiermethode des
Didymos selbst zurückzuführen sind. Leo schließt aus eben jener
Notiz, daß Didymos selbst in unserer Schrift nur die historischen
CT]t^|tata habe behandeln wollen, und findet in der Unterschrift Ilepl
AiQiLoodivooc eine Bestätigung dieser Annahme. Nach Leo gehört das
neugefnndene Buch gar nicht zu den offO(Lvij|Lata zm AiQitoo^ävooc
X6y(ov, auf die einige zu den hier kommentierten Reden gehörige
Artikel Harpokrations zurückgehen. Es gehört zu den Schriften
üepl too Selva, die, wie an lehrreichen Beispielen gezeigt wird, viel-
fach die Form eines Kommentars hatten, aber auf die sprachlichen
Einzelheiten nicht eingingen.^) Als unterscheidendes Merkmal be-
zeichnet Leo, daß solche Bücher unabhängig vom Text gelesen
werden können, während das bn6^yyi^a als Teil der kommentierten
Ausgabe mit dem Texte in engster Verbindung steht.
Die nächste Analogie zum Werke des Didymos gibt Asconius'
Kommentar zu Ciceros Reden. Leo hat auf die Gleichartigkeit der
Anlage hingewiesen. Wilamowitz^) stimmt ihm mit den Worten bei:
>das hat der neuentdeckte Demostheneskommentar doch gelehrt, daß
wieder ein lateinisches Buch, dem man es nicht zutraute, in der
Form ganz von dem griechischen Vorbilde abhängt; der Gicero-
kommentar des Asconius ist nach diesem Demostheneskommentar ge-
arbeitet. Das nimmt dem Asconius nichts von seinem Werte, denn
er arbeitet aus den Quellen, während Didymos kompilierte. Wir be-
dürfen dringend einer Untersuchung der Technik und der Formen
1) Ein neues Beispiel bieten jetzt die Berliner Klassikertexte in S. 28
'AicoXXcuvtoc V 6 *P6lioi [iv Ttjj Ttepl *A]vTip.cExoü TrpodeU [t6 >inicu)] TcainoX^T] . . .c
Schöne S. 27 hebt schon hervor, daß auch diese Schrift wohl in den Kreis der
Ton Leo besprochenen gehört.
2) Kultur der Gegenwart IBS. 155, vgl. KroU, Die Altertumswissenschaft
im letzten Vierteljahrhundert S. 45. Nur muß man naturlich mit der Möglichkeit
rechnen, daß dem Asconius auch andere Didymos verwandte Schriften als Vor-
büd dienten.
360 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 5
der antiken Exegese, die die Gesichtspunkte Leos in erweiterter
Fassung durch die Literatur verfolgen muß. Die Untersuchung wird
am besten ausgehen von der reichen uns erhaltenen späteren Lite-
ratur, den Kommentaren zu Plato und Aristoteles, der gesamten
christlichen Exegese, fortschreiten zu den uns erhaltenen Scholien-
kompilationen, ihrer Grundlage, dem Trümmerfelde der alexandrbi-
sehen Exegese. Zu der »Üepl-Literatur« ist vor allem hinzuzunehmen
die reiche Literatur der C^ti^itata, an die die S. 358 angeführte Didy-
mos-Stelle und die Fassung der Kolumnenüberschriften erinnert,
icpoßXi)|iata, iicopCai. Ich beschränke mich darauf, aus der späteren
Literatur einige sichere Beispiele eines ähnlichen Nebeneinander
zweier konmientierender Werke, wie es Leo für Didymos postuliert,
anzuführen. Alexander hat zu Aristoteles Ilepl ala^aecoc xocl alo^
t&v außer dem uns erhaltenen Kommentare noch gegeben Ai^ecbv
ttv(0V ix too Elepl alodii]oea>c xai alo^toö i^i^YTjoic xal imSpofii), viel-
leicht eine nachgeschriebene Vorlesung, und einzelne iicopCai oder
Cigti^ocic* 0 Augustin hat dem Heptateuch je sieben Bücher Locu-
tionum und (ausgewählter sachlicher) Quaestionum gewidmet. Für
das Verhältnis beider Werke ist sehr lehrreich, was er in der Vor-
rede der Quaest. (vergl. Retract. 1154.55) ausführt.^) Daß dies
Verfahren parallel laufender, nur durch die Tendenz geschiedener
Arbeiten zu einem Text selbständig von den Späteren erfunden sei,
ist unwahrscheinlich. Wo es uns auch begegnet, dürfen wir es ge-
wiß aus der auf diesem Gebiete besonders starken Kontinuität der
Tradition erklären. Und so meine ich auch Diels' Bedenken heben
zu können, daß vielleicht die Vergleichung des Didymos mit Asconius
voreilig die römische Art auf den griechischen Grammatiker übertrage.
Den Ertrag für die Textkritik des Demosthenes haben nach den
Herausgebern Fuhr und Blass besprochen. Neues hat sich nicht er-
geben, aber daß das eklektische Verfahren der Textkonstitution
durch Didymos wie durch andere Papyrusstücke bestätigt ist, ist
1) Commentaria in Aristotelem III 1 S. V, SnppL 112 S. Vff.
2) Ueber die Titel der exegetisch biblischen Arbeiten des Origenes kann
man sich bei Bardenhewer, Gesch. der altkirchlicben Lit. II 89 ff. orientieren. Meine
Bemerkung über den Zusammenhang der Textkritik des Origenes mit der alexan-
drinischen, über den inzwischen Schwartz und Wilamowitz sich ähnlich geäußert
haben, halte ich gegen Bardenhewer (S. 85^) aufrecht. — Ich verweise noch auf
Quint I 2, 14 grammaticus quoque si de loquendi ratione disserat, si quaestiones
explicet. Das lose Nebeneinander zwischen Darlegung des Gedankenzusammen-
hanges, dcu>p(a genannt, und der sprachlichen Einzelerklärung in den Kommen-
taren Olympiodors hat Frachter G. G. A. 1904 S. 382 ff. vortrefflich erläutert. Die
ganz äußerliche Verbindung beider regelmäßig wechselnden Teile erklärt sich
vielleicht daraus, daß Olympiodor zwei Methoden der Auslegung, die er in ver-
schiedenen parallel laufenden Kommentaren getrennt fand, verbunden hat
Berliner Klassikertexte. I 361
auch ein Oewinn. »Damals also, sagen wir im ersten Jahrhundert,
scheint in diesen Reden der Text unserer Handschriften schon dage-
wesen zu sein< sagt Blass und setzt dabei voraus, daß die von ihm
angenommenen schweren Korruptelen schon vorher eingedrungen sind.
Wir werden durch Didymos in dem Vertrauen bestärkt werden, daß
die konservative Richtung der Textbehandlung, die Butcher im Gegen-
satz zu Blass eingeschlagen hat, einen Fortschritt bedeutet.
Eine Uebersicht über den reichen Ertrag der aus den neuen
Bruchstücken der Historiker gewonnenen Erkenntnis gibt Blass, und
das meiste hat Stähelin^) gründlich behandelt. Ich beschränke mich
daher darauf, auf einzelne Probleme genauer einzugehen. Kol. XI 10 ff.
wird berichtet, manche hätten die Rede gegen Philipps Brief dem
Anaximenes zugeschrieben, vöv Sk (Blass ta6(ry]v), S[i6], s. dagegen
die kleine Ausgabe) stehe sie im siebenten Buch der ^tXiinrixd des
Anaximenes. Abweichend von den Versuchen, die Diels und ich ge-
macht haben, die befremdende Antithese zu erklären, legt sich Blass
die Sache so zurecht: Didymos (und ähnlich Dionysios, Libanios)
habe sich in seinem Gewissen beruhigt mit der Annahme, daß die
Rede doch dem Demosthenes angehöre. > Warum sollte nicht Anaxi-
menes die echte Rede genommen haben?« Ob Didymos wirklich so
wenig die antike Praxis kannte? Aber darin trifft Blass mit mir
zusammen, daß er die Autorschaft des Anaximenes für sicher hält.
Im Urteil über den Brief des Philipp gehen wir wieder auseinander.
Blass hält die in der Demosthenischen Sammlung uns erhaltene
Fassung des Briefes für echt — er ist auch nach brieflicher Mit-
teilung durch meine Beweisführung^ nicht vom Gegenteil überzeugt
worden — , schreibt dagegen die abweichende Fassung, aus der
Didymos den Schlußsatz zitiert und in der nach seinem Zeugnis
Aristomedes erwähnt war, dem Anaximenes zu. Ich vertraue auf die
1) Die griechischen Historikerfragmente bei Didymos, Beiträge zur alten
Geschichte V S. 55— 71. 141— 154. Daß dem Anax. S. 151 nur acht Zeilen ge-
widmet werden, daB das yon Didymos gesteUte Problem verschwiegen wird, kann
mit dem Termin der Einlief erung des Aufsatzes nicht entschuldigt werden. ^
Ebenda S. 280—282 behandelt A. Körte das Orakel über die Upa opydfc. — Das
Eol. 11, 28 ff. zitierte Hafenwerk des Rhodiers Timosthenes, des Admirals des
Ptolemaios Philadelphos, behandelt V^Tachsmuth, Rh. M. LIX 471—473, den Text des
aristotelischen Päan Gereke, Hermes XXXYII 424.
2) Anaximenes von Lampsakos, Berlin 1905 (zum Teil schon im Hermes
1904 veröffentlicht). Zugestimmt haben mir Gercke in KroUs Sammelwerk S. 477,
Körte Rh.M. LX393, Wilamowitz, Kultur der Gegenwart 18 S. 70. — Warum
Blass S. 288 meint, nur Caecilius könne die undemosthemschen V\rendungen der
Rede XI besprochen haben, verstehe ich nicht. Die Bemerkung ebenda, daß der
Brief in der uns überlieferten Form als echt anerkannt sei, ist nach meinem
Anaximenes S. 14^ zu berichtigen.
362 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 5
Kraft meiner guten Gründe (vergL Diels große Ausgabe S. L) und
führe hier nur noch ein von mir S. 14 nur angedeutetes Argument
genauer aus: Wir sehen, daß Anaximenes in der Rede den Text
seiner Vorlagen zu verfeinern und zu glätten versucht hat. Ist es
denkbar, daß derselbe Rhetor den Text des Briefes vergröbert hat?
Denn daß die Fassung des Schlußsatzes bei Didymos die rauhere
und ungeschicktere ist, kann niemand leugnen.
Eol. 10,53 berichten mehrere Historikerfragmente über die von
Philipp 340 in großem Maßstabe bei Hieron getriebene Kaperei. Auf
die Bedeutung der bisher nur durch dunkle Anspielungen bekannten
Tatsache ist von verschiedenen Seiten hingewiesen worden; ich
möchte daran erinnern, daß schon 1839 Droysen (s. jetzt Kleine
Schriften I 168. 171. 192) die Tatsache ziemlich richtig eingereiht
hat (vergl. Schäfers Demosthenes U ^ S. 504) und S. 183 sogar nahe
daran war, Hieron am Eingange des Bosporus als den Ort der
Kaperei zu erschließen.
Die Schlüsse, die sich aus dem von Didymos mitgeteilten histo-
rischen Material für die Frage nach der Zeit und Echtheit der
vierten philippischen Rede ergeben, hat A. Körte, Rh.M.LX S. 388 ff.
scharfsinnig gezogen. Didymos setzt sie 341/0 an, kennt aber einen
anderen Ansatz 342/1, dessen Begründung leider aus den geringen
Kol. 2, 2 ff. erhaltenen Resten sich nicht wiederherstellen läßt, der
sich aber durchaus bestätigt. Spätestens Anfang Juni 341 muß die
Rede fallen. Das von Philochoros 342/1 bei Didymos berichtete Vor-
gehen der Athener in Oreos und Eretria ist der IV. Philippika (§ 9)
noch unbekannt. Femer ermöglichen die Angaben der Historiker bei
Didymos, wie Körte gezeigt hat, den sichern Schluß, daß der Sturz
des Hermias 342/1 (wohl im Winter) erfolgt ist; die IV. Philippika
(§ 32) weiß aber nur von seiner Verhaftung, nicht von seinem Tode.
Daß der Abschnitt über die Theorika und die Verleugnung der
früheren Politik durch die frisch geweckte Hoffnung auf das persi-
sche Oold sich erklärt^), hat Kör^e gezeigt, und ich kann jetzt eine
Beobachtung mitteilen, die ich in meinem Anaximenes zurückgehalten
habe, weil ich mir über die vierte Philippika noch nicht klar ge-
worden war. Anaximenes sagt in der Rhetorik S. 22, 4, die Demo-
kratie müsse darauf achten, Sicok ol vd|ioi zb (liv icXf^d'oc aicotpd4Moot
tote t&c o6oiac l/oootv lictßooXebeiv, toic Sh icXotycoöoiv sie tac xoiva^
1) Die Ereignisse mdssen sich rasch gefolgt sein. In der m. PhiL 71 wird
zwar eine Gesandtschaft an den Perserkönig gefordert, aber die Episode aber
Arthmios von Zeleia schließt den Gedanken an persisches Gold noch aus. Bafi
dies in der fingierten Demosthenesrede des Anaximenes erwähnt wird (§ 6), ist zn
beachten. Ich vermute, daß Anax. hier wie in der Rhetorik die 4. PhiL be-
nutzt hat.
Berliner Klaeeikertezte. I 863
XscfODpYloc ixoodav Sicaoay (Sicaoiv?) fiXott|iCav i|i9coii)ooioi , vergl.
Z. 12.13, S. 23, 10. 102, 25. Er wiederholt damit einige Grundge-
danken des Demosthenischen Abschnittes, dessen Echtheit mir übrigens
auch durch die Berührung mit der Leptinea § 24 gesichert scheint
Ich zähle die Stelle zu den aktuellen Beziehungen auf die Rede-
kämpfe der Gegenwart, die ich auch sonst in der Rhetorik des
Anaximenes nachgewiesen habe. Die Angabe des Demosthenischen
Abschnittes § 38, die athenischen Einnahmen betrügen in der Gegen-
wart 400 Talente, hatte Bedenken erregt; jetzt wird sie durch das
Zitat aus einer Rede des Demagogen Aristophon bei Theopomp be-
stätigt ; vergl. auch Demosthenes IK 40. 70. IV 40. ^) Besondere Schwierig-
keiten bereitete endlich die Invektive gegen Aristomedes. Blass
(in 1 S. 391) hielt sie für eine (leXitn]. Er muß es, da er die Moral
des Staatsredners wenigstens durchaus retten will, der in Volksreden
persönliche Schmähungen nicht vorbringen soll. So soll Aristomedes
eine fingierte Person sein. Ihre Realität und die Echtheit der In-
vektive ist jetzt durch das reiche Material bei Didymos erwiesen.
Nicht so zuversichtlich wie Körte S. 403 möchte ich der Hypo-
these zustimmen, die die etwas lockere Komposition der Rede und
ihr Verhältnis zur chersonitischen erklären soll, der Hypothese, daß
sie eine politische Flugschrift sei. > Zuzugeben ist,< sagt Körte
S. 402, >daß die Rede unmöglich in der Volksversammlung gehalten
sein kann, denn es ist undenkbar, daß Demosthenes zwei Monate
nach der Chersones-Rede vor dem Volke so große Partien aus ihr
mit geringen Aenderungen zu wiederholen wagte«. »Natürlich kann
Demosthenes VIU damals noch nicht veröffentlicht haben«.
Die Frage der Doubletten und der öfter nur aus inneren Gründen
zu erschließenden Uebemahme früher ausgearbeiteter Stücke in einen
nicht ganz passenden Zusammenhang bedarf dringend einer neuen
umfassenden Untersuchung. Jedes nur auf subjektivem Geschmack
beruhende Urteil scheint mir auf diesem Gebiete verfrüht. Der Ge-
schmack des Demosthenes muß erst festgestellt werden. Moderne
Beispiele können zur Vorsicht mahnen. Wem begegnete es nicht,
daß er bewußt oder auch unbewußt Gedanken oder auch den Wort-
laut von Sätzen einer früheren Darstellung in einem anderen Zu-
sammenhang übernimmt?^) >Ueber die Fähigkeit eines Menschen,
abhängig von sich selber zu sein, sind die Untersuchungen noch
nicht abgeschlossen« heißt es in Jülichers Einleitung in das N. T.
1) Die Rede bei Theopomp, dessen Verhältnis zu Demosthenes endlich ein-
mal gründlich untersucht werden sollte, bietet manche Anklänge an Demosthenes
(▼gl. auch Demosthenes IV 42 dvavSp{av).
2) YgL Gercke, Nene Jahrb. Vn & 12. 18.
364 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
1906 S. 56. Auch bei modernen Gelehrten läßt sich gar nicht selten
das Verfahren nachweisen oder erschließen, daß sie früher gedruckte
oder ausgearbeitete Stücke in einen neuen Zusammenhang aufge-
nommen haben und daß mitunter die Komposition des Ganzen darunter
gelitten hat. Auch die Doubletten bei Xenophon und bei Eusebius kann
man zum Vergleich des Demosthenischen Verfahrens heranziehen. Eörtes
Schluß scheint mir auch darum nicht zwingend, weil wir überhaupt nicht
wissen, welches Aussehen die wirklich gehaltenen Volksreden des
Demosthenes gehabt haben, ^) weil wir nicht wissen, wie weit die
wirkliche Chersonesrede von unserer Buchform abwich. Ich wüßte
nicht, was man mir entgegenhalten könnte, wenn ich die Vermutung
ausspreche, daß gerade die IV. philippische Rede uns wohl den Ton
einer wirklich gehaltenen Rede kennen lehrt. Die Breite mancher
Ausführungen, die zu der Prägnanz und Gedrängtheit der demosthe-
nischen Sprache in Widerspruch steht, manche drastische Ausdrückei ^
endlich die lose Aneinanderreihung der Teile, die freilich in dem
Ziele, das sie alle verfolgen, die innere Einheit haben, könnte dafür
angeführt werden. Die lose Komposition ist ja eigentlich für die
Staatsrede natürlich, da der Redner einige Gedanken von Hause mit-
bringt, andere ihm durch die Debatte und die Reden der Gegner an
die Hand gegeben werden. — Jedenfalls wäre, wenn die IV. Philippika
eine Brochure wäre, die Fiktion der wirklichen Rede durch das
Ganze durchgeführt worden.
Doch auch meine Vermutung ist nichts als eine Möglichkeit,
und Zweck dieser Ausführung ist nur, darauf hinzuweisen, wie
schwierig die Beurteilung der IV. Philippika ist, da sie von der Ant-
wort auf Probleme abhängt, die vielleicht mit unseren Mitteln über-
haupt nicht sicher gelöst werden können. Viel ist schon damit ge-
wonnen, daß die Echtheit jetzt feststeht. Und ganz ähnlich steht es
mit der dreizehnten Rede Hspi ooytdSecDc* Auch hier ist der Haupt-
stein des Anstoßes die nicht immer geschickte Einarbeitung der
Doubletten. Auch hier ist der Redaktor der Sündenbock, der aber
durch Körte für die IV. Philippika beseitigt ist. Für die Echtheit
auch dieser Rede ist Wilamowitz eingetreten, ^) und wir wissen jetzt,
dank Didymos und trotz seiner unglaublichen Konfusion, daß die
1) Vgl. Diels' Anmerkong zu Eol. 13, 59, Wilamowitz a. a. 0. S. 73.
2) § 6 {xavSpajfipav Tztnuix6<sis lo(xa{jt.ev, § 1 1 itpooOi^CFco hk xal toI« ht x^ icAn
dcolc, o?7rcp a&Tov i^okiatia^/ (VIII 40 nicht so grob), § 19 Siaondoaodai icapapoXiitt,
§ 49 TouToi« xcxi^Xrjafte, § 54 xexrjXTjfiivoi (xtjXcTv nur in dieser Rede), § 63 diTcotu|&i»-
v{(jai (wie in der Chers.) und to6tou (die inneren Feinde) woTccp irpoß<iXou npooictaf-
oavrac. Wir wissen ja, daß Demosthenes in der wirklichen Rede stärkere Ans-
drücke als in den Schriften zu gebrauchen liebte.
3) Aristoteles und Athen II 215. 216.
Berliner Elassikertexte. I 365
Rede, wenn sie echt ist, bald nach 350/49 fallt. Denn auf dies Jahr
ist jetzt durch die neuen Bruchstücke des Philochoros und des An-
drotion der Auszug nach Megara festgelegt. Böhnecke, der die Rede
nach der olynthischen ansetzte, wird diesmal der Wahrheit nahe ge-
kommen sein ; vgl. auch Droysen a. a. 0. S. 225 ff. Blass (und zum
Teil ähnlich Diels zu EoL 13, 59) setzen sie früher an. Aber Blass'
Erwägungen (Att. Ber. lU 1 S. 399) sind keineswegs zwingend. Er-
halten ist uns noch, wie Körte gezeigt hat, das Kol. 13, 57. 14, 47
erwähnte <|>i^io|jLa des Philokrates (Dittenberger, Syll. 789). Es fällt
ins Jahr 352/1. Ganz unwahrscheinlich setzt nun Blass noch früher
den Xin32 von Demosthenes erwähnten Beschluß an: otov & icpöc
tooc xatapdtooc Me^apiac i^yfpiaaa^^ iicot6|iyo(i^vot>c r))y ipfd^Sa,
i^iivat, xtf>X6ciy, it*^ imtpdiceiv . . . Diese Beschlüsse sind ja ganz schön,
T& SpYa Sk tducb zobxm o&Sa|ioö. Also, meint Blass im Archiv S. 289,
weiß Rede XIII noch nichts von dem III Ol. 20 (nicht 30) erwähnten
Feldzuge nach Megara. Er wurde etwa 353/2 beschlossen, aber aus-
geführt erst 350/49. Und Rede XIII wird also nach diesem Beschluß
und vor seiner Ausführung angesetzt. Ich glaube, die Worte des
Demosthenes gestatten durchaus, die Rede nach dem Feldzuge an-
zusetzen. Nach dem Zitate des Philochoros bei Didymos gaben die
Megarer beim Anrücken der Athener sofort nach, und im Einver-
ständnis wurden die Grenzen geregelt. Daraus und wohl nicht nur, wie
Bruno Keil vermutet (Suppl. S. 66), aus der den Megarem freundlichen
Gesinnung wird es sich erklären, daß Androtion den Feldzug nicht ein-
mal erwähnt. Und bei solchem Sachverhalt konnte Demosthenes auch
nach dem Auszuge sagen. Taten seien aus diesem Beschlüsse nicht
herausgekommen. Jedenfalls ist jetzt die Ansicht, diese Stelle der Rede
Xm beruhe auf grobem Mißverständnis der III. Ol., endgiltig widerlegt.
Endlich gebe ich noch einige Erklärungen und Vermutungen
zum Text einzelner Stellen, die freilich meist nur Möglichkeiten
bezeichnen; denn die sichere Ausfüllung von Lücken ist, wo sie
überhaupt möglich ist, wohl meist schon gefunden. Kol. 4,13
xai [ß6ßaio6|ieyoc toörja ^Apiotot^XTjc- 5, 4 [&|iio<;] oder [ßapdax;],
vergl. das Supplement. 5, 18 iCGtpaoxtt>v. [ivd' &v] ivdairaoto<;. Stähelin
und Blass sind in der richtigen Beobachtung zusammengetroffen, daß
in der Lücke 5,35 — 43 das Zitat aus Theopomp abgeschlossen, ein
neues Zitat eines dem Hermias freundlich gesinnten Autors einge-
führt war, dessen Schluß wir Z. 57—63 lesen. 6a oTcspßdltoo ^pdoecoc
xatdotaoic« vergl. 7,1, ist offenbar grammatischer terminus technicus,
ich finde gerade nur einen ganz späten Beleg bei Michael, Comm.
in Aristotelem XXII 1 S. 23, 1. 6,12 «apA8oS[oc «apa rJjv oovij*6ta]v *)
1) Aehnliche Aasdrücke s. z. B. in Dittenbergers Indez zur Sylloge S. 411.
866 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
tÄv ßapßApcüV Tpöffwv, 15 [ip]eox[ö|ievoc], 6,55 i[xövta *av(€tv)] oder
mit Wilamowitz ootöv ifafaYeiv. 7, 16 to6v[ayTiov icpioßeoiv] a&totc
iweÄoavto «ap' [ä]vo[tav, &c] ^tXöxopoc iyigifei'cat. 8, 15 8c xal tot* sIks
wird wohl ohne Grund in dem Supplement wieder in Zweifel ge-
zogen, »der damals auch den Antrag 8tellte< (vergl 14,49). 8,41
spielt wohl an auf das die Theorika betreffende Gesetz des Eubulos
(Schäfer 1208), 8,43 ßXao77](ieiv auf Demosthenes X36 8,64 [«a-
[petoi XiY<^]v taöta. 9, 32 ff. wohl Demosthenes IX 55 benutzt Den
Schluß des Briefes Philipps Kol. 10, 27 glaube ich jetzt ziemlich
sicher herstellen zu können: xal [ivox]X[o&]vt[(oy] l(ii 9co[XXa &|u]v
icpötspov o[in]peti)oayTa]. ^) Philipp selbst sagt im Brief § 10 l|ii S'
IvoxXeits (vergl. Demosthenes X 14). 12,42 ist kaum eine Lttcke
anzunehmen. Den Hinweis auf seinen Kommentar zur Eranzrede
(§ 67) hat Didymos wohl ausgelassen, weil dieser Kommentar un-
mittelbar vorher zitiert ist. 9,34 wird vielleicht noch der auf*
fallende Anklang an 5,15 zur Ausfüllung helfen. 10,2 haben wu*
in den Versen des Timokles xataß^ßijxev Soiievoc» x^P^C^P*^^ T^
ein neues Beispiel des oft behandelten pleonastischen y^^p« das Blass
hier mit Unrecht in f wandeln möchte. — Beigegeben sind die bei
Harpokration erhaltenen Bruchstücke der Kommentare des Didymos
zu Demosthenes. An einigen lehrreichen Beispielen läßt sich jetzt
wieder der Uebergang alexandrinischer Gelehrsamkeit in die Lexika
verfolgen. Diesen Prozeß der Kürzung und Verdünnung, der die
ganze gelehrte Literatur, seit sie sich kn das römische Publiknm
wendet, beherrscht, stellt das Lexikon zur Aristokratea dar (Berliner
Pap. 5008), von dem hier eine neue Ausgabe gegeben wird. In der
ersten Ausgabe hat Blass erheblich mehr gelesen. Zum Teil muß
damals manches wirklich lesbarer gewesen sein, zum Teil scheint
Blass wie mehr oder weniger jeder, der sich mit der ersten Lesung
schwer zu entziffernder Texte beschäftigt, der Suggestion erlegen zu
sein, die der Verstand auf das Auge ausübt. Neben das Lexikon
zur Aristokratea sind dann neuerdings die spärlichen, aber wertvollen
Reste eines Lexikons zur Midiana getreten, die Crönert in Wesselys
Studien zur Paläographie und Papyruskunde IV bearbeitet hat —
Die größere Ausgabe gibt auch ein Wortregister von Schubart.
Kiel Paul Wendland
1) Aehnliche Ausdrücke z. B. bei Dittenberger 8. 425.
Nachschrift: Nach Autopsie des Originals, bei der Dr. Scbubait
mich unterstützte, bemerke ich, daß 5,18 äXX' die Lücke füllt, 10,27
lvoxXo6vt(ov ganz unsicher ist.
noXfn)c, IlapaS^otic. I. 11 867
N. r. noX{Ti]c, MtX^xai lit pi TOÜ p{ou xa\ xijc yXciiooTjc toü 4XXi]vixou
Xaoü. (Untertitel:) FlapaS^oeic M^poc A' xal B'. (BißXio^xi] MapaoX^,
napdpxTifM dp. 5). h 'Ad^vaic, t6uo(c II. A. £axcXXap{ou. 1904. 1348 S., 6 Tafeln.
Der auch in Deutschland durch seine religionsgeschichtlichen
und auf die Kunde vom neugriechischen Volkstum gerichteten
Forschungen seit langer Zeit bekannte und geschätzte Verfasser er-
zählt uns in der Einleitung kurz, daß ihm der Umzug der athenischen
Bibliothek in ihr neues prächtiges Heim für längere Zeit die vier
bis fünf BUcher geraubt hat, die ihm für die Vollendung seiner
Sprichwörtersammlung unentbehrlich waren. Statt zu klagen nahm
er frisch ein anderes Werk vor, an dem er auch schon lange ge-
arbeitet Dem verdanken wir diese üapaSöcsic.
Der erste Band umfaßt die Texte der >Ueberlieferungen<, 977
an der Zahl, der zweite den Kommentar zu Nr. 1 — 644. Der dritte
wird also den Schluß des Kommentars und die Einleitung, sowie
hoffentlich die nötigen Indices geben. Für den Beurteilenden wäre
es also besser, das Erscheinen dieses Bandes abzuwarten, der zu
manchem erst den Schlüssel enthalten wird. Aber das Werk verdient
es, daß man schon jetzt darauf aufmerksam wird, was sich in ihm
an wissenschaftlichen Schätzen findet.
Die Geschichten sind auf 38 Kapitel von sehr ungleichem Um-
fange verteilt. »Alte Geschichten< stehen zuerst, und die beiden
ersten Nummern erhält Homer, nach chiotischer Ueberlieferung. Der
Kommentar gibt dazu ausführliche Literaturnachweise. Es zeigt sich
schon hier der Vorzug des ganzen Buches: überall genaue Angabe
des oder der Orte, an denen die Geschichte erzählt wird. Wenn es
mehrere sind, spricht dies manchmal für engere Volkszusammenhänge;
so haben Syros und die kleine, wenig bekannte Insel Psara bei Chios
mehrere Ueberlieferungen gemein, weil Hermupolis, die Hauptstadt
von Syros, ihre neueren Stadtviertel einer Besiedlung von Flücht-
lingen aus Psara verdankt. Wo es möglich war, ist der Dialekt des
Fundortes treu wiedergegeben, wodurch auch der Linguist wert-
volles Material erhält. Auf die »alten Geschichten« folgen >die
Stadt«, d.h. Konstantinopel, und »die heilige Sophia<, zu der man
gern auch die anderen an die christliche Kirche anknüpfenden Ab-
schnitte: > Christus und seine Leiden«, »Heilige«, > Kirchen« und
den davon unzertrennlichen >Teufel< hinzugefügt sähe, die jetzt
zum Teil in weitem Abstände folgen. So würde auch der Altertums-
forscher nicht ungern alle die hübschen Erzählungen zusammenfinden,
die sich an Personen und Ueberreste aus dem klassischen Altertum
368 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
finden. Jetzt steht > Homere im ersten, der Ableger der Sappho-
geschichte vom leukadischen Felsen im dritten Abschnitte, in dem
freilich aus der Dichterin eine Königin gemacht ist — so wie der
parische Volksmund aus Archilochos, dem armen Kerl, der aus»
wanderte und oft ein recht kümmerliches Dasein fristete, einen
icXo6otoc Syd'po»coc macht, dem das ganze Land gehörte; beiläufig
eine Geschichte, die es, nachdem Ref. (Ath. Mitt. XXV 1900, 15) und
J. Svoronos AteO-v^c i^TfiJieplc rjjc vo|tto|tattx^c ipxatoXoifCac IH 1900,
59 ff., besonders S. 65, darüber in verschiedenem Sinne gehandelt
haben — der Berliner aus Autopsie, sein in Mykonos geborener ge-
lehrter Freund wunderbarer Weise nur vom grünen Tische aus —
wohl verdiente, noch einmal von einem Unparteiischen, der die
Sprache des Volkes genau kennt, an Ort und Stelle nachgeprüft zu
werden. VI > Hellenen, tapfere Männer (avSpsKoiiivot, Giganten)« und
VII > Antike Gebäude und Marmore < enthalten auch viel für den
Archäologen; besonders hebe ich die Märchen von den alten Wart-
türmen auf Naxos (166/167) hervor, die auch mir beim Besuche des
wundervollen 7c6p7o<; too X6t|idppot) von Michael Erispi erzählt wurden;
ähnliche Geschichten knüpfen sich an andere solcher Warttürme, wie
den runden Turm von Seriphos. Gern sähe man mehr von diesen
schönen, wenig gekannten Denkmälern auch im Bilde vor sich. Dies
hat der Verfasser empfunden und was er konnte getan: der Löwe
vom Hymettos, der Schneider von Porto Raphti, das delphische Logari
und manche andere Denkmäler und Oertlichkeiten sind abgebildet;
für andere sind zum Teil vorzügliche Photographien vom Institut
und von Privaten, z. B. von Alfred Schiff, aufgenommen, aber leider
noch nicht veröffentlicht. Vielleicht könnten hier die Prolegomena
noch nachhelfen; >die Personen und Denkmäler des klassischen Alter-
tums im heutigen Volksmunde der Griechen< wäre ein schöner Ab-
schnitt.
Es folgt die Natur: >Himmel, Gestirne, Erde<, >Wetter< (xaipol
sind meist die Winde, aber auch Blitz und Donner finden hier Platz
— es greifen hier schon die Neraiden ein, denen ein späterer Ab-
schnitt gewidmet ist), > Versteinerungen <. Hier wäre den Erzählungen
vom versteinerten Schiff passend das xapdßt toö Köoto hinzuzufügen,
an das sich der Volks witz knüpft >|iä tö xapdßi toö Köoto ^ä ird'{|c<,
den 0. Rubensohn in Paros gehört hat. Nach den Pflanzen kommen
die Tiere, die mannigfach abgestuft immer schrecklicher werden:
C^a, ^pia, Spdxovtec xal 6(pBi<;, Spdxot. Es könnte mutatis mutandis
bei Diodor im Inselbuche (V) gestanden haben, was man Nr. 389
von Andres liest: yUpG^xa -^tav 'c tö vtjoI ol Apdxoi, oottpa ol TlXXijvec,
xatöici -Jitav ol Btvetoävot, xal teXtotaioi ot Toöpxot« — nur daß dort
rioX^TT^c, flapa5^0£u. I. II 369
beispielshalber von Schlangen, Telchinen, Karern und Hellenen die
Rede gewesen wäre.
Diese Fabelwesen leiten schon über zu den lebendigen über-
irdischen Mächten der Volksreligion und Mythologie, dem sogenannten
Aberglauben. Damit betritt man das Lieblingsgebiet des Verfassers.
Schon die >vergrabenen Schätze und Mohren« gehören dahin. Spielen
sie doch eine große Rolle allerorten (43 Nummern). In Astypalaia
zeigte man mir eine Kirchenruine; dorthin mußte man mit einem
Mohren kommen und einen schwarzen Hahn schlachten, um den
Schatz zu heben. Nr. 412 knüpft an ein antikes Denkmal, die Porta
von Paläopolis auf Andres, an; dort sind zwei Gruben unter den
Pfosten, eine voll Schätze, die andere voll Schlangen — so wagt es
keiner, nachzugraben. Dann die Gespenster (atoixeta) von Land und
Meer, über hundert Geschichten; die Xa(toSpdxia, KoXXixdvtCapot (65),
'AvaoxeXddec , welche die Eselgestalt anzunehmen belieben, um die
Menschen zu plagen, NepdiSec (155 Nummern; der größte Abschnitt),
AA|iiaic, StpiYT^C, *H|iipatc — nur die Freitagsheilige napaoxeoij und
das Donnerstagsweib, die U&pxap'^d (von der Ui^icxii so genannt).
Dann Zauberer; der Teufel; eine andere Art Gespenster, die $av-
tdoitaxa; der Alp, die Krankheiten, die Moiren, Tote und Seelen, die
BpixdXaxsc (mit 145 Nummern). Es ist für diese letzte weitver-
breitete Gattung bezeichnend, daß unter den sechs Geschichten aus
Thera fünf den BpixöXaxec gewidmet sind. Wurde doch einmal in
der politischen Debatte, ob Naxos oder Thera die Hauptstadt einer
neuen von den Kykladen loszutrennenden Provinz werden sollte,
durch den naxischen Abgeordneten der Umstand geltend gemacht,
daß Thera der Wohnort aller von den übrigen Inseln vertriebenen
BptxöXax6c sei. Ein Theräer, der dagegen schrieb, hatte den Humor
und den Mut, diese gefährlichen Geister herauszufordern und sich
sie iictxivSovoc BpixöXaS zu unterzeichnen. Die Terminologie dieser
Wesen findet der Deutsche unter anderem in B. Schmidts bekanntem
> Volksleben der Neugriechen«.
Auf Einzelheiten weiter einzugehen würde zu weit führen. Wohl
aber interessiert ein allgemeiner Gesichtspunkt. Woher stammen die
Geschichten? Darüber ist mit großer Gewissenhaftigkeit Buch geführt;
wir wünschen aber in der Einleitung eine Bibliographie und ein
Ortsregister. Zahlen sind zunächst trocken, doch lehren sie manches,
wie schon eine Betrachtung der Inseln zeigt. Von den ionischen
Inseln hat Zakynthos den Löwenanteil, 61 (ich lege keinen W^ert
darauf, daß diese Zahlen genau stimmen) ; Kepballenia 5, Leukas 3,
Ithaka 1 , das viel besuchte Korfu nur 2. Kommt das wirklich nur
von der nivellierenden italienisch- englischen Kultur, oder hängt es
870 Gott gel Anz. 1906. Nr. 5
an mangelnder Beobachtung? Kythera scheint nnvertreten. Von
den Inseln bei Attika und der Argolis haben Salamis 2, Aigiiia,
Hydra, Spetsai und Porös je 1 ; wer von Porös in angenehmer Weise
mehr erfahren will, möge das hübsche Buch >In ArgoUsc von Greorge
Horton (London 1903) in die Hand nehmen. Dann die Eykladen im
modernen Sinne, d. h. die griechische Provinz : Syra, die Hauptstadt^
19; Naxos, wo einige tüchtige Lokalforscher, Markopolis und Erispi,
wohnen, 9; Kythnos 8; Melos 7; Thera 6; Andres, Mykonos, Amorgos 5;
Tenos 4; los 3; Siphnos 2; Sikinos, Seriphos und das große Paroe 1;
Eeos, Pholegandros , Kimolos 0. Hier sieht man, daß Eeos und
Paros, beide so bequem zu erreichen, in nicht zu rechtfertigender
Weise vernachlässigt sind, ein Vorwurf, der nicht den gelehrten
Verfasser, sondern in erster Linie die Bewohner selbst tri£ft. bt
keiner unter ihnen, der hier sammelt, bevor es zu spät ist? Für
Pholegandros findet sich, freilich sehr wenig, in den kleinen Mono-
graphien von Gabalas (1886) und Charilaos (1887); für Thera hat
P. Eretschmer einige Märchen als Dialektproben aufgezeichnet (1896X
aber noch nicht veröffentlicht. — Von den türkischen Inseln hat das
kleine Syme, reich durch Schwammfischerei, aber auch auf geistige
Eultur bedacht, 19; Earpathos 2 (die Bücher von Manolakakis würden
mehr ergeben); das große Rhodos nur eine! Hier ist also noch
überreiche Arbeit zu tun! Biliotti et Cottret L'ile de Rhodes 629 ff.
geben nur einige Andeutungen. Gerade die von der Hauptstadt ent-
fernten Dörfer von Rhodos sind infolge des Druckes der Türken-
herrschaft, die nirgends schwerer lastet als auf dieser einst so
gesegneten Insel, noch weit zurück — um so besser für den Folklo-
risten. Vielleicht ist von Earl Dieterich, der dort gewesen ist, mehr
zu erhoffen. Ganz zurückgeblieben und deshalb besonders zu
empfehlen ist auch Astypalaia undEasos (je l)', Easos ist nur durch
L. Roß vertreten, aber gerade dort wuchert noch fröhlich die Sage;
1892 hatte dort ein Weib von einem Ereuze geträumt und Aus-
grabungen veranstalten lassen, an einem Platze, der t6 ""Ap^oc hieß.
Noch war das Ereuz nicht da, aber die Arbeiter, die zurückkehrten,
fanden, daß die Erde, die an ihren Hacken geblieben, sich in Mehl
verwandelt hatte. Ich sollte aus meinen Büchern den genauen Plats
bestimmen und dadurch der Wohltäter der Insel werden, habe aber
diese Rolle abgelehnt. Der türkische Eaimakam, der aus Adrianopel
strafversetzt war, spottete natürlich darüber, als aufgeklärter Mann.
Und doch hat die Insel, so hafenarm sie ist, eine beträchtliche Zahl
Schiffe und regen Handelsverkehr mit Aegypten und Frankreich. —
Das reiche Ealymnos ist nnvertreten ; für Eos würde R. Herzog mehr
liefern können, so die hübsche Geschichte von dem Drachenkampfe
noXfn)c» Ua^h^an^. I. n S71
— der Drache war die verwandelte Tochter des Hippokrates! Da-
gegen haben Samos 39, Chios 13, Lesbos 6, Psara 4, Patmos, Ikaria 2,
und auch die nördlichen Insehi sind vertreten, nicht nur durch Conzes
Aufzeichnungen, sondern auch durch griechische Forscher : Imbros 8,
Thasos und Samothrake 3, Lemnos dagegen 0. Daß schließlich Kreta
durch 46 und Kypros durch 22 vertreten sind, ist kein Wunder.
Oewiß würde eine weitere Erforschung in hundert Fällen nur
ergeben, daß eine Geschichte nicht an einem oder zwei Orten, sondern
>coXXaxoö« vorkommt. Aber es würden sich sicher noch viele
originelle Züge feststellen lassen, und mit den Geschichten würde
die Sprache genauer bekannt werden. Es ist schon viel geleistet,
durch Griechen und durch Ausländer, Engländer, Franzosen, Deutsche
— aber es kann noch mehr getan werden, und nicht zum wenigsten
durch Griechen, welche die Lebensweise und die Sprache kennen
und dadurch so viel leichter und billiger reisen als der Fremde.
Natürlich gehört scharfe Schulung dazu, die Laute und Wendungen
richtig aufzufassen. Das sind Betrachtungen, die man bei der
Durchsicht eines solchen Sammelwerkes anstellt, die aber unseren
Dank und unsere Anerkennung nicht mindern. Diese gelten auch
der äußeren Ausstattung, dem Papier und dem Drucke — man denke
daran, daß die Brauchbarkeit der Sammlungen des braven Manola-
kakis durch die Unmasse von Druckfehlem in seinen Kapicadiaxdc
fast gänzlich illusorisch gemacht ist, um den Abstand nach oben zu
begreifen. Die weiteren Veröffentlichungen des Verfassers werden
überall Anerkennung und, was mehr ist, Benutzung finden.
Berlin F. Hiller von Gaertringen
GeoTfli Monaehl Chronicon edidit Carolas de Boor. Vol. I: Textum
genainum usque ad Yespasiani imperiam continens. Vol. II:
Teztum genainum inde a Vespasian! imperio continens. Leipzig,
B. G. Tenbner, 1904. LXXXUI, 804 S.
Die Chronik des Mönches Georgios, des Sünders, wie er sich
nach dem Brauch der Zeit in der Ueberschrift genannt hat, in der
Schätzung des Verfassers ein (tixpöv xal icaveoteXlc ßtßXiSApiov — es
umfaßt nicht weniger als 800 enggedruckte Oktavseiten! — ist ein
sonderbares Buch. Es soll die Weltgeschichte geben von der Er-
schaffung Adams bis zu des Georgios eigener Zeit. Allerdings mag
man dazu 800 und mehr Seiten brauchen. Das Kuriose ist aber,
dafi von der Weltgeschichte ^ tt {) o&^iv in der Chronik zu finden
0«ti fd. Ani. 1906. Nr. 5 26
372 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
ist. Wenigstens von Weltgeschichte in unserem Sinne. Die biblische
Geschichte, später auch die kirchliche wird ziemlich ausführlich er-
zählt; alles was außerhalb dieser Gebiete liegt, hat für den byzan-
tinischen Mönch so gut wie gar kein Interesse. Sogar bei der Be-
schreibung der von ihm selbst erlebten Zeit wird dies nicht anders.
Xpovtxbv o6vto|ioy ix Sia^ (ipoiv xpovo^pd^ (ov te xal iSTjYTjtdöv ooXXrriv
xal oovted'^y bjtb FecDpYtoo i^apxiäikob (tovaxoö: so der Titel. Der
Nachdruck muß gelegt werden auf die iiifcrizaL In der Tat iat das
Erbauliche die Hauptsache in dem Buche des Georgios. Behalten
wir das im Auge und verlangen wir nicht von dem Mönch, was er
weder geben wollte noch konnte, so werden wir gerechter über die
Chronik urteilen, und auch besser verstehen können wie das Buch
so viel gelesen worden ist und so große Nachwirkung hat henror-
rufen können.
Allerdings wird auch dem modernen Leser, der in diesem Sinne
an Georgs Chronik herantritt, eine schwere Zumutung gestellt durch
den ebenso schwülstigen und gekünstelten wie ungelenken und un-
gefügigen Stil und die pretenziöse Art und Weise des Georgios, das
wenige was er zu sagen hatte, in einem entsetzlichen Wortschwall
zu ertränken. Da er aber in der Regel nur Exzerpte an Exzerpte
reiht, so hat man es meistens. nicht mit ihm selbst, sondern mit den
von ihm ausgezogenen Autoren zu tun, und wenn ein Athanasios,
ein Johannes Chrysostomos , einer der drei großen Kappadoker das
Wort hat, lauscht man gerne dem mächtigen Geist, der in den
Vätern der werdenden Kirche wohnte.
Was den Georgios am meisten interessiert hat, lehren die von
ihm selbst in der Vorrede namhaft gemachten Stücke seines Werkes:
Eopotc Toivov 5 YS «totöc xal voi>V6X«c te xal i^övcoc S|jLa xal duct-
pt^PYCDc xal ÄdoTfjc SticXÖTfjc xal ^ofStoopifiac 4Xet)*§p<oc IvtoYX^vcov ivraö^
8t' iXquDV [1] tac twv elScoXwv eop^oetc xal avatpoicac Jvt^xvwc xal im-
tsteoY(iiva>c 9 '^^C tcbv cpiXoaö'fCDV 'EXXi^vcov ip^tr/Bkia^ xal (todoicXaoTiac
xal *p7)oxs[ac Stt xal iooii^covooc tepatoXoiftac, tac Stayöpwv i^vAv
8ö£ac xal «oXod-etac ^ [idXXov ekeiv a*6tac xal xaxovoiac, [2] icöc tt
■^ xm [lovaxöv ^pfiato StaYtoT*^ xal tASt? i«6 too vö|toi> xal dti vffi
XptoToö ^avapioToi) «oXttslac xal StSaoxaXCac o(|^7)Xotdpa xal f aiSpotipa
xal «Xatotdpa (tdXa elxötcoc ivaic^yijvev, xal äXXa «Xtlota xal Stdfopa
oa>T7]p[av (|)0X(2»y 6&7vai|iöva>y xal ipO-oSöScov a>Stvovta xal StSdoxovta «ol
fcotiCovta, [3] o& li^jv 8ä iXXa xal rijv IxyoXov xal dsoowrij x% xal
«ajtß^ßYjXov TÄv Mavixatwv X&ooav, iy' t^^ ßoTcep Ix tivoc Xoooävtoc
xovöc rJ]V aloxioTYjv te xal xdxtotov ^ZBikrfpma vöoov avsf 6y] i^ t6v
aXtnjpicüv xal xaxooxöXwv slxovoftdxwv litßpövnjtoc afpsotc, xal 8*tv
iTc^pfiato xal «oö xat^XYjEev, ^ttc y^ "^oöC «pooidiac aitijc xal ooviotopac
Oeorgii Monachi chronicon ed. de Boor 373
iXXotpiooc 4x «sptoooCac t^c opS-oSöSoo ictoteoi^ xataamjoaoa oov tote
6(idf pooiv a&t(ov äxSi^Xcoc S|ta xal td tootcov X7]pii^|iaTa xal ßX7]X'V](iata
tijc i&xAotoo SCxTfjc ojcsod-ovooc xal IvStxooc (& tfjc iicdnjc xal «apa-
icXi]£Cac t&v 7r6f 6vaxio|isva>y xal (lataiof pövcov) &)c^f yjvs xo(itS^ xal tcp
ala>y(c|> icopl icap^:r6|i(|^sv, [4] n^v ts Tiby itaoddXcov xal xaxofpövcDV
SapaxTjvfibv xataY^Xaotov 8ö£av xal rJiv xtifjvwSi) Cw'Jlv xal (t^vtci xal
rJjv SiSaoxaXtav toö XaoTcXdvoo (l^eoSoicpo^i^too ahxm xal Sd-ev xaxcoc
ivaStösixtat, [5] xal Tcpbc to&toic tr^v toö ^dpovtoc Oa>(id vecoteptodeioav
icaiSoicpsici) (tataiof poGÖVYjy t£ xal icapdvoiav xal t:f]v ap^oiX^av Tgata-
otpof -ijv toö icavad-Xloo xal toiXaiica>poo (S. 2, 24 bis 3, 29).
Es sind in dieser, als Probe von Georgios' Redeweise in extenso
mitgeteilten, Aufzählung die folgenden Stücke, die ungefähr ein
Siebentel des ganzen Werkes umfassen, gemeint :
1 = p. 57—92 ...... 35
2 = p. 327—364 37
3 = p. 467—476, 737—744 . 16
4 = p. 697—717 20
5 = p. 793-797 4
112 Seiten.
Aus alter Zeit also der Ursprung des Götzendienstes und die
Mythologeme der Griechen, aus späterer Zeit die Entstehung des
Mönchtums und der Manichäismus , aus den letzten Jahrhunderten
der große Bilderstreit und das Auftreten des Mohammed und des
Isl&ms, aus der jüngsten Vergangenheit endlich die Empörung des
alten Generals Thomas gegen Michael IL, mit vielen Bibelzitaten als
ein Ansturm gegen die Gottstadt (Theopolis) Konstantinopel geschildert,
dem Ansturm Senacheribs gegen Jerusalem vergleichbar: man sieht,
nur für das Geistliche hat er ein Auge. Und dies gilt nicht nur für
diese Partien ; in der ganzen Chronik mrd das Weltliche, wie gesagt,
vollkommen vernachlässigt.
Das Ganze ist in neun Bücher geteilt. Mit vollem Recht hat
de Boor die von de Muralt eingeführte Buchteilung verworfen, welche
der handschriftlichen Grundlage entbehrt und der von Georgios selbst
in der Vorrede deutlich angegebenen und in der bessern Ueber-
lieferung gewahrten Einteilung widerspricht.
Tfjc 8fe xP^v^*^^ 7cpaY(iat6ia<;, sagt er (S. 4, 1), ttjv o«ö*60tv &<; 4v
tifist T|iif]iLdta>v 8ta tö eüoovoictov xal e&|iVTfijiöv60T0V ^reicomjxaiLev.
26*
BU
Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
iffö |t4v if4p TOO 'A84|i ipSA-
|i6V0i xal |i.^pt njc 'AXeSAvSpoo
teXsoryJ^ IXd'ovrec ^v at)Vtö|JL(|)
icdXiv &yd:roiXiv diTcb toö 'ASa|i
xata rJjv a&riiv inv/Biptiav^ xal Iv-
votav Si' iiravoiXi^tl^ecoc tooc xpdvooc
£et(; &c otöv te 8ta ßpax^cov aice-
(tV7](iove6oa(tey Scoc 'I'vjooo toö Nao*}],
eita ffdXiv Sia oovTO)itac toöc
xpitac (i^i too :rpof Tjtoo Xa|iooiijX,
xal 6t*' oStcDc a6t(xa tobe
ßaoiXslc t(bv 'looSatfiov anb SaooX
1(0^ SeSexiot) xal t^c aXa>oea><; "Is-
poDoaXujIi, Iv oU 'tal xata 'looSatov
Ix «apöSoo 8ta ßpa^oXo^ta?.
[nicht erwähnt]^)
iTTEita 8^ toöc Tü)(iat(DV t^y^"
(iövac, &os8p 8y] xal touc ^aXai
uspGioy xal MaxsSöviov HeXe&xcov
ts xal 'Avtiöxcov xal IltoXsiiaUttv
iv ^rapexßdoet SiefsXd'övtsc ip^ac
xal 8t)vaotstac ODtw xal too? *Pö>-
(lalcov 14 'EXXi^vcov xataYO(i.^yooc
xaöoXixoö^ ßaoiX^a^ S|ia xal tac
ip^aola^ xal toö^ ^avdtoo^ anb
'looXtoo Kaioapoc V^^i AioxXnjtia-
voö xal Ma£i|iiavoö tä)V avoouov xal
Buch I (S. 6— 43)0 : AD-
gemeine Uebersicht bis zum Tode
Alexanders. — Grundlage Malalas.
Buchn(S. 43— 145): BiWi-
sehe Geschichte bis Josua.
Buch m (S.145— 166): Bibl
Geschichte, Richterzeit bis Samuel
Buch IV (S. 166—251):
Biblische Geschichte, Saul, David,
Salomo und die Könige Judas bis
Zedekia.
Buch V (S. 251—264): Bib-
lische Geschichte, Könige Israels.
Buch VI (S. 264—285):
Könige Babylons, Persiens.
Buch Vn (S. 286-293):
Seleuciden (nur Antiochus Epi-
phanes und Antiochus Eupator,
aus Daniel und den Makkabäer-
büchem).
Buch Vm (S. 293—489):
Römische Kaiser von Augustus bis
Diokletian.
Xptoto|iÄx^^>
1) Eigentlich nur bis S. 39, 10, wo wir lesen : (icxd Si t^v 'AXti^pou ttXtuxijpi
tii TzoXkäi dpjoLi ii ßaatXc(a aOxou Si^p^Or), xal 'ApivSaloc [itt 6 dStX^c 'AXcfdvipott, 6
xal <I>{Xi777roc , MaxcSov{ac dcpT^yciTai x. t. X. xal o6 Si^ticov diel xax' dXXi^Xcnv iicovtoirf*
fxevoi, lu)c o\) ii *Pu>fjLa{u)v dp^^ xd; Toicap^{ac Tzdaai xaT^uoiv. Es folgt dann: To&mv
hk o5tu) xal inX ToaoÜTOv e{p7]|Aivu)v ScTv ({>i^8T)fUv Jiiav^i]^tv iröti^aao^i xal died 'AW[|ft
TtdXiv dp^dfovoi xal ixdaxou tu>v finoi^|i.Q)v xal dvayxa^iov dvSpAv xouc x^c C«»^ jf&io^c
hiä ßpax^cov fmcnijpiTjvdfuvoc xal f&ivToi xal xouc xa^t^jc dfpxovrdc xt »al (ktoiXdc tti
'lopai^X dv iic(TOfJi{ dTTopLVYjpiovcuoavTcc ouTU)C audic T^v dxoXoudfov T^c ^vcx^ icp«||M-
Tt(ac JTuauvd^aL S. 40, 8 bis 8. 43 setzt er dann auseinander , weshalb er die
Mosaische Chronologie befolgt habe. Dies Stück gehört also in der Tat eigent-
lich zu Buch II— y. — Auf die zuletzt zitierten Worte nimmt er Bezug 8. 285, 9:
xal Taura (Uv ^l xoaouTov * tt^c hk irporipac dxoXoudfac (i>c &m9x^fa9a icdXiv i^pOE<|NSi|ult.
2) Vgl. aber in der Anmerkung 1 die Worte touc xadeE^c dfp^ovtdc tt «d
ßaotXttc Toü 'lopa^X, welche das Ganze umfassen.
GeorgH Monachl chronicon ed. de Boor 875
8&Mc ts KfldVotavTivov tbv e&ae- B u c h IX (S. 489-803) : Rö-
ßtotatov xal icpAtov ßaaiXda tc^v mische und oströmische Kaiser
Xptottav&v Tcal toöc xa^eSijc Scoc von Konstantin bis Michael III.
T0& ttXeotatoo Mix^'^jX otoö Oeof (Xoo.
Daß Buch 2 — 5 nur biblische Oeschichte enthalten, ist an sich
klar, dasselbe gilt von den Bttchem 6 und 7. Und ebenso bieten
Buch 8 und 9 in der Hauptsache nur Christliches, Märtyrergeschichten
und dergleichen. Als Probe mag der Inhalt der Kapitel August bis
Nero (S. 293—382) kurz angegeben werden :
Augustus (S. 293,20 bis 311, 13): 16 ZeUen (293,20 bis 294, 14)
über Augustus; alles andere handelt von der Geburt Christi und
darauf bezfiglichem.
Tiberius (S. 311, 15 bis 323, 4) : 7 + 22 + 19 Zeilen (311, 15 bis 21;
318,21 bis 319,18; 322, 11 bis 323,4) über Tiberius; sonst Jesu
Tod und damit zusammenhangendes, die Abgarlegende.
Gaius (S. 323, 6 bis 326, 17): 26 Zeilen (323, 6 bis 324, 11)
über Gaius; weiter, außer einigen kleineren Notizen, über Johannes
den Täufer.
Claudius (S. 326, 19 bis 364, 11): zwei Zeilen (326, 19—21)
über Claudius; sonst, außer einigen kleineren Notizen, die Entstehung
des Mönchtums (Essener, Therapeuten u. s. w.).
Nero (S. 364, 13 bis 382, 9): 16 Zeilen (381, 19 bis 382, 9) über
Nero; übrigens weitläuftig über Simon Magus; sonst noch Tod des
Petrus, Paulus, Jakobus und Anfang des jüdischen Krieges.
Der im Mittelalter nicht ganz mit Unrecht viel benutzten und
viel gelesenen, in der Neuzeit nicht ganz mit Recht viel geschmähten
Chronik des Georgios ist, obwohl sie seit der Renaissance bekannt
war, erst im Jahre 1859 eine Ausgabe zuteil geworden, die des
rassischen Gelehrten E. de Muralt.
An Eifer und gutem Willen hat es de Muralt nicht gefehlt.
Nicht weniger als 27 Handschriften hat er untersucht oder unter-
suchen lassen; dabei ist er aber so unsystematisch vorgegangen, daß
er nicht einmal die gleichen Stücke in den verschiedenen Hand-
schriften hat kollationieren lassen. Auf diese Manier würde er, auch
bei größerer kritischer Befähigung als er hatte, von der Beschaffen-
heit der handschriftlichen Ueberlieferung schwerlich eine richtige
Vorstellung haben gewinnen können. Daß man es bei Georgios, wie
bei so vielen byzantinischen Chronisten, nicht nur mit Abschriften,
sondern auch mit Rezensionen des Textes zu tun hat, ist ihm völlig
entgangen. Schreibt er doch in der Vorrede S. X: ^Codicum XXV
qui hucusque innotuerunt huius chronographi variae lecHanes nee plures
376 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
nec graviores sunt nee inter sese magis discrepant quam ceteris in
scriptoribus saepius descriptis evenire solet, vel librariarum incuria vd
eorundem augendi et emendandi studio, qui nunc lineas integras ex
homoiotdeuto omittunt — , nunc glossas marginales in textum recipiimt.
Da er nun Überdies das Unglttck gehabt bat in dem ihm leicht
zugänglichen und deshalb als Basis genommenen Codex Mosquensis
die wohl mit am stärksten interpolierte Handschrift seiner Ausgabe
zugrunde zu legen, so hat, wie der neue Herausgeber mit Recht be-
merkt, die Muraltsche Ausgabe den byzantinischen Studien nicht nur
nicht genutzt, sondern erheblich geschadet.
Karl de Boor, dem schon mancher der byzantinischen Chronisten
und Historiker eine zugleich grundlegende und abschließende Aus-
gabe verdankt, wurde durch die Vorarbeiten für seinen Theophanes
auch auf dessen Ausschreiber Georgios geführt, und hat sich, obgleich
er anfänglich nicht beabsichtigte den Georgios neu heranszugebeo,
nachträglich, als ihm die Unzulänglichkeit der Petersburger Ausgabe
immer deutlicher geworden war, doch dazu entschlossen, sich auch
dieser mühe- und entsagungsvollen Arbeit zu unterziehen, ut obseurae
cJiTonographarum Byzantinorum historiae aiiquid lucis afferatur (Praef.
S. XII).
Denn die Chronik des Georgios hat die Grundlage gebildet ffir
eine ganze Reihe späterer Kompendien der Weltgeschichte, deren
Verhältnis untereinander und zu ihm endgültig nur klargelegt werden
kann, wenn der ursprüngliche Text des Georgios festgestellt ist
Dies getan zu haben ist das Verdienst de Boors. Die 27 von
de Muralt ausgewählten Handschriften und etliche mehr, welche znm
Teil den Georgios allein, zum größeren Teil aber die Chronik mit
Fortsetzungen enthalten, und den Text, wie schon erwähnt, in viel-
fach variierter Gestalt bieten, sind alle von ihm genau untersucht
worden, und werden in der Vorrede ausführlich und umständlich be-
schrieben und auf ihren Wert geprüft. Hätte auch meines Erachtens
in dieser Praefatio durch Einteilung in Paragraphen, durch Lemmata
am Rande, vor allem durch eine klarere Disposition, die Schärfe und
Uebersichtlichkeit wesentlich gewinnen können, dem Ergebnis der
Untersuchungen wird man sich in der Hauptsache gerne anschließen
wollen.
In den seinem Text zugrunde gelegten Handschriften unter-
scheidet de Boor zwei Familien, beide von einem verlorenen Arche-
typus abgeleitet. Der beste Vertreter der ersten Familie ist ein
Coislinianus 310(A); außer diesem gehören zu ihr nur der Parisinus
1705 (B), etwa vqn S. 419 an, und der Vindobonensis 83 (G) ffir
S. 4—237. Alle übrigen Handschriften, sowie der erste Teil von B»
Georgii Monachi chronicon ed. de Boor 877
der zweite von G bilden die zweite Familie. In der Regel verdient
die Lesung der ersten Familie den Vorzug.
Es ist schwer, ohne die Handschriften selbst gesehen oder den
ganzen Apparat durchgearbeitet zu haben, über die Richtigkeit dieser
Einteilung zu urteilen, da ihre ausführliche Begründung noch aus-
steht. Es ist aber, wenn sie richtig sein sollte, befremdlich zu sehen,
wie oft wo A und 6^ voneinander abweichen, die schlechte Lesart
von A oder G^ in einem oder mehreren der der zweiten Familie zu-
geteilten Handschriften vorkommt, und umgekehrt schlechte Les-
arten, die von einigen Codices der zweiten Familie, in Abweichung
von den übrigen Handschriften dieser Familie, geboten werden, auch
in der ersten Familie sich finden. Ich möchte daher bezweifeln ob
man sich bei dieser Einteilung beruhigen darf.^)
Uebrigens hat diese Frage für die Texteskonstitution nur geringe
Bedeutung: die ursprüngliche Lesart des Georgios läßt sich, da so
viele Zeugen vorhanden sind, fast immer mit annähernder Sicherheit
feststellen, besonders deshalb, weil neben den schon erwähnten, noch
ein sehr alter Codex, in der Tat der älteste von allen, existiert,
über dessen Eigenart und Wert de Boor S. LXff. ausführlich berichtet.
Es ist der Codex Coislinianus 305, von de Boor P genannt, saec.
X/XL«)
1) Uebrigens sagt de Boor S. LXIT : constcU proxime , , ab hoc (den ver-
lorenen Archetypus) ACDE abesse y BFGLBV mültifariam esse räractatos et
auetoi.
2) Die Handschrift, welche mir vorgelegen hat, ist von de Boor S. LX f. be-
schrieben. Es mag vieUeicht nicht gar''? ohne Nutzen sein einige Kleinigkeiten
der Beschreibung hinzuzufügen. Die Zeilenzahl ist auf den verschiedenen Folien
ungleichmäßig: ich zählte 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37 Zeilen. Das nach-
träglich am Anfang zugefügte Stück beginnt auf fol. 1 verso. Nicht nach fol. 43,
sondern zwischen 42 und 43 ist ein Blatt ausgeschnitten, das dritte von Quatemio ^.
Der vor dem zweiten Buch (S. 43, 13) freigelassene Raum umfaßt drei Zeilen.
Wichtiger ist die Frage ob die Handschrift am Ende vollständig erhalten ist.
De Boor läßt sie unentschieden : huius narrationis clausulam cum ultimum qua-
temUmis folium contineat usque ad finem completum , incertum est utrum librarius
hie scribendi finem fecerit, an plures quatemiones olim adiecti hodie perditi sint.
Ich glaube aber, daß sie unbedingt zu verneinen ist. Die letzten Zeilen der
letzten Seite (f. 340^) sehen in der Handschrift so aus :
80 nctit
81 liyt xaxaxf^pcua pvatxofjiavfa xai divSpo
88 fiav{a fiETif^vTsa tua Iwofxov ol d^vofiot xäo
88 aiayu^oMpytiao xal dxoXaafaa ^f^youvrar
So, mit hohem Punkt, ohne jedwedes Zeichen des Schlusses (+ oder •:• oder ähn-
liches) endet kein griechischer Codex. Vollständig ist die Handschrift jedenfalls
nicht, da Georgios selber in der Vorrede angibt, daß seine Chronik bis Michael III,
378 Gott gel Ans. 1906. Nr. 5
Diese Handschrift hat die Eigentümlichkeit, dafi sie in aUge-
meinen mit dem Archetypus der übrigen übereinstimmt bis xom To4e
Julians (S. 548), von da an aber so mannigfach Ton diesein abweicht
— in ihm Vorhandenes nicht hat, ganze Studie einfugt, andere Ter-
schiebt, in den gleichen Partien ganz yerschiedene Lesartoi gibt — ,
daß unbedingt anzunehmen ist, daß wir es hier mit einer andern
Rezension zu tun haben.
Es fragt sich, wie man sich zu diesem in der ältesten Hand-
schrift überlieferten Text zu stellen hat
Früher hat de Boor angenommen, daß in P eine Umarbeitang
der Chronik vorliege, deren ursprügliche Gestalt in der Vorlage der
sonstigen Ueberlieferung bewahrt sei. Jetzt glaubt er omgekehrti
daß der in P erhaltene Text der ursprüngliche, der andere dagegen
eine Bearbeitung desselben ist und zwar von Georgios' eigener Hand
Auch von dieser Meinung soll die ausfuhrliche Begründung eist im
dritten Bande gegeben werden, aber ihre Hauptstützen findet man
jetzt schon in der Vorrede.
Es sind die folgenden:
a) Wo dasselbe in P und X vorliegt (X nenne ich den Arche-
typus der übrigen Ueberlieferung), ist der Text, speziell in den Ex-
zerpten aus den kirchlichen Schriftstellern, in P besser, dem Wort-
laut der ausgezogenen Autoren näher. Diese Auszüge sind in der
ganzen Chronik ausführlicher in P als in X.
Böte X den ursprünglichen Text, so müßte man annehmen, daß
der Redaktor von P die öfters nicht einmal namhaft gemachten
Quellen verglichen und so die bessere resp. ausführlichere Fassung
der Exzerpte hergestellt hätte. Es ist dies im höchsten Maße un-
wahrscheinlich.
b) Der lange Exkurs über den Götzendienst der Griechen
(S. 58—92), eine Exzerptenmasse aus Athanasios und Theodoret,
gehe, während sie fol. 340^ mich dem Tode des Konstantiiios Kopronymos abbricht
AUerdings wäre es möglich anzunehmen, der Schreiber hätte zwair bis zum Ende
weiterschreiben woUen, sei aber dnrch irgend einen ZnfaU Terhindert worden den
noch übrigen Tefl hinzozofngen. Wie viel wahrscheinlicher es aber ist, daa der
Codex wie vorne, so anch am Ende einige Blätter verloren hat, springt in die
Augen.
Auf dem letzten Blatt, das ich nachverglich, fand ich folgende Abweichuiigai
Ton den Angaben de Boors:
S. 721 adn. Z. 12: ^m fx« sUtt &m V Ijtu
S. 722 adn. Z. 15—17: -rik %tTa statt cic ta tea.
S. 723 adn. Z. 12 : SuDpcaiOvoc statt ScvpiaHivaK (rieUdcht als orthogn^hiKlMr
Fehler nicht notiert, wie de Boor auch in der Setzung oder Weglaasug des
V i^xuTcaiov der Handschrift nicht immer gefolgt ist).
Georgii Monachi chronicon ed. de Boor 379
findet sich gleichmäßig in P und X. P hat aber überdies noch ein
großes Stück desselben Inhaltes aus Cyrill ganz in der Weise des
Georgios exzerpiert. Es ist begreiflich, sagt de Boor, daß der
Redaktor des X die Cyrillusexzerpte als überflüssig ausgelassen, nicht
umgekehrt, daß der Redaktor des P diesen Ueberschuß dem ur-
sprünglichen Text zugefügt hat.
c) S. 132, 10 lesen wir in einem Exzerpt, wo von der Trübsal
des Moses die Rede ist, diese Worte : ob ifAp äv, sl ji-J] oyöSpa a&töv
ioxÖTo>oe xai äx ßd^pcov a&toö t^v ^^ox^jv SoTpe^l^ev 6 ti]c aOi>|jLiac ixslvoc
tdpaxoCf t&c ^eoYpdfooc ^Xdxa^ Sppif|)cv kicb tddv x'^^P^'^ ^^^ aov§Tpif|)6V.
lvvÖ7)oov a 78 itpöc TOOTOtc olov icop rJ]v a&Toö ^l^ox'Jlv Ävfj^pe x. t. X.
Mitten in diesem Passus hat X nach oovdtpc^psv die Worte äv alc
5irf)pXov 767pa{i{idva taöta und darauf den ganzen Dekalog. Wie un-
passend dieses Einschiebsel hier ist, sieht man auf den ersten Blick.
P hat es nicht, es rührt von dem Redaktor des X her.
d) In der Darstellung endlich der Konzilien ist X ausführlicher
als P. Bietet P nur die Zahl der Bischöfe, den Namen der Stadt,
wo das Konzil gehalten worden ist, und die Namen der Häretiker,
so hat X daneben die Namen der Patriarchen, das Regierungsjahr
der Kaiser, dann einen kürzeren oder längeren Abriß der von dem
Konzil verdammten ketzerischen Lehre. Anzunehmen, daß diese
nicht sehr großen Stücke, welche einem der in verschiedener Fassung
vorhandenen Bücher über die sieben Konzilien entlehnt zu sein
scheinen, von P ausgemerzt worden seien, liegt gar keine Veran-
lassung vor. Dagegen konnte es wünschenswert erscheinen, die
mageren Notizen von P ausführlicher zu gestalten.
Auch in dem späteren Teil der Chronik ist das Verhältnis
zwischen P und X analog und derartig, daß es für die Priorität von
P spricht, wie noch an einem Beispiel illustriert wird.
Indes auch für das umgekehrte Verhältnis sind Argumente bei-
zubringen. Diese Argumente hatten de Boor früher bewogen für die
Priorität von X einzutreten. In X sind verschiedene Exzerpte aus
einer Epitome von Theodorus Lectors Kirchengeschichte besser über-
liefert als in P; die Excerpte aus den andern kirchlichen Schrift-
stellern sind zwar in der Regel in P dem ursprünglichen Wortlaut
näher, aber doch auch öfters in X, endlich sind in P in diesen Ex-
zerpten häufig auf sonderbare Weise Bibelzitate eingemischt worden.
Diese Schwierigkeit glaubt de Boor durch die Annahme lösen zu
können, daß in P der ursprüngliche Entwurf der Chronik bewahrt ist,
den Georgios nachträglich mit Randnotizen versah, daß hingegen X den
von ihm selbst revidierten und erweiterten Text enthält, der als der end-
gültige anzusehen ist. Er stützt sich für diese Hypothese auch auf zwei
380 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
merkwürdige, die eine ganz, die andere halb in den Text eingefügte,
Randnotizen ^), welche sich in dem Coisl. 305 f. 7V v. 23 nnd fol. 7V
V. 24 vorfinden : 1. icoXXoi totYapoöv iroXXdxK; o«' avoloc xal fucOucayjfa^^
f epöjievot xal stts siel icXoot(|> xai Sovaotsto^ eirs Isl (^\) ocAfiatoc ettt
i«' iXX^j tivl ßoTjdeiof xal Sv eic tö ßtßXtov tö «ateptxöv, and 2. fijot
S^ xal OscoScopijtoc ttv^c (liv Spaootv v elc tö jjiaopov ßißXCov. Die Vor-
lage von P qit^i primam quandam et rudern chranici, qnod scribendum
sibi praposuerat chronographus ^ descriptionem continens wnrde von
Georgios mit Lesefrüchten, meist aus der Bibel, zur Illustrierang des
im Texte gesagten am Rande versehen. Dieses Exemplar schrieb
der Librarius von P ab, wobei die Randnotizen von ihm in den Text
eingeschoben wurden.
Indes hat Georgios selber rudern excerptarum meiern besser redi-
gieren und eine zweite verbesserte Ausgabe seiner Chronik geben
wollen. Inceptum opus ita absolvä^ ut magnum eottectaneorum d
twtarum marginalium numemm tolleret, hoc retractaret, iUud adderel.
In quo quod excerpserat non ad verbum repraesentavit , sed ut lümü
mutavit vel eontraxit, nonnvXlos denique fontes vduti Theodari Leetoris
historiae ecdesiastieae epitomam denuo inspexit^ alios ante neglectos
adhibuit. Das ist der Archetypus von X.
Obgleich mir de Boor, was den wichtigsten Teil seiner Hypothese,
die Priorität von P, betrifft, durchaus im Rechte zn sein scheint,
will es mir noch nicht einleuchten, daß die Redaktion des X von
Georgios selbst herrühren soll. Ist die Redaktion P in ihrer nr-
sprünglichen Gestalt gegenüber der Redaktion X als eine prima et
rudis chronici descriptio zu charakterisieren? Ist es wahrscheinlich,
daß Georgios selbst den Wortlaut der von ihm früher ausgeschriebenen
Exzerpte nachträglich so vielfach änderte? Ist es nicht sonderbar,
daß er den Auszug aus Cyrillus erst gemacht, nachher wieder fort-
gelassen hat? Ist es glaublich, daß er selbst den Dekalog an so
unpassender Stelle eingefügt hat? Ich sage nicht, daß dies anzn-
nehmen unmöglich ist, aber dieser Teil der de Boorschen Hypothese
hat für mich etwas Gekünsteltes, und ich möchte es für wahrschein-
licher halten, daß die Redaktion P von Georgios ist, X dagegen die
Ueberarbeitung eines Unbekannten gibt.
1) De Boor bemerkt mit Recht, daS diese Randnotizen vom Schreiber dei
Codex P aus seiner Vorlage übernommen sind , und sagt weiter : sunt hae natae
scriptoris cuiusdam qui, cum in compilando opere muUa ex müMs libris excerptO»
hie illie adnotasst satis hahuit locorum inäia, guos postea integros reprauetdart
animum induxit.
2) So, wie S. 170 angegeben ist, nicht fAcXo^x^^^» ^^ ^- L^^HI irrt&mlich
steht, liest P.
Georgii Monachi chromcon ed. de Boor 381
Uebrigens ist auch diese Frage im Grunde von geringer Be-
deutung, da ja Georgios uns eigentlich ebenso unbekannt ist wie der
Redaktor, der meiner Meinung nach vorauszusetzen wäre, und die
Redaktion X, auch wenn sie nicht von Georgios selbst verfaßt ist,
doch seinen Namen mit mehr Recht tragen würde, wie den des
Redaktors. Worauf es aber ankam war dies: die Entscheidung zu
treffen, welche von den beiden Redaktionen als der Haupttext zu
edieren, welcher von beiden nur subsidiär zu verwenden war. Und
da hat de Boor ohne jeden Zweifel recht daran getan, sich für die
Redaktion X zu entscheiden, da diese und nicht jene auf die spätere
historische Literatur eingewirkt hat, und der Hauptzweck der Aus-
gabe gerade dieser ist, den Zusammenhang der byzantinischen Chrono-
graphie mit dem Buche des Georgios erkennen zu lassen. Von der
Fassung P ist, so weit bis jetzt bekannt, nur einmal eine Stelle
zitiert bei Constantinos Porphyrogennetos in seinem Werke de ad-
mtmVfr. imp. p. 90, 13 Bonn.
Unter dem Text gibt de Boor in der adnotatio critica die haupt-
sächlichsten Lesarten der handschriftlichen Ueberlieferung und über-
dies in einem besondem Teil die Eigenheiten von P. Die in diesem
gänzlich abweichenden Stücke und die größeren Zusätze werden im
dritten Band abgedruckt werden.
Die Recensio machte, nachdem einmal das Fundament gelegt
war, keine Schwierigkeit mehr: die richtige Lesart war in der hand-
schriftlichen Ueberlieferung leicht zu finden. Von Emendatio kann bei
einem Werk des 9. Jahrhunderts, von welchem Handschriften saec. X/XI
voriiegen, kaum die Rede sein.
Sehr dankenswert ist die Angabe der Quellen, aus denen Georgios
geschöpft hat. Hierin war de Muralt zwar vorgegangen, aber in
durchaus ungenügender Weise. Und wenn auch an ziemlich vielen
Stellen die Lappen des Cento ihr Ursprungszeugnis noch nicht be-
kommen haben, so ist doch das größte Stück der Arbeit geleistet
und mit Recht darf de Boor für das noch nicht Ermittelte die Hülfe
der Theologen anrufen. Uebrigens wäre es vielleicht zweckmäßig
gewesen, die von Georg aus seinen Quellen übernommenen Bibelzitate,
etwa durch Einklammerung oder kursiven Satz, von denen zu unter-
scheiden, die er selbst anführt.
Gerne hätte man unter dem Texte neben den Quellennachweisen
auch die Ausschreiber gefunden. Statt aber von dem Herausgeber
mehr zu verlangen , als er bereits gegeben hat und dazu etwas, was
er beim besten Willen kaum hätte geben können, da die Texte dieser
Ausschreiber noch sehr im Argen liegen, steht uns vielmehr zu der
382 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
Ausdruck des aufrichtigen Dankes für seine aufopfernde Tätigkeit
und ein Wort der Freude , daß er seine Aufgabe in so Yorzüglicher
Weise gelöst hat.
Groningen U. Ph, Boissevain
Proeopü Caesarlensis opera omnia, recognovit Jacobus Haary, toI. 1,11,
De bellis libri I— VIU. Lipsiae, B. G. Teubner, 1905. LXHI, 552, 678 S. 24 M.
Die aus einer Preisaufgabe der Münchener Akademie hervor-
gegangene Ausgabe ist die erste, die von der bis dahin zum größten
Teile unbekannt gebliebenen Ueberlieferung genauere Kunde gibt
Ueber die Handschriften hatte der Herausgeber bereits in den
Sitzungsberichten der genannten Akademie (1895) in ziemlicher Aus-
führlichkeit gehandelt. Nachdem dann der russische Gelehrte
KraSeninnikov mancherlei Ausstellungen gemacht und besonders die
Vernachlässigung der konstantinischen Exzerpte gerügt hatte (Vizant.
Vremennik Bd. V, 1898), ist von Haury in der Vorrede zum ersten
Bande ein kürzerer, aber in vielem umgearbeiteter Ueberblick über
die Ueberlieferung der Geschichtsbücher gegeben worden. Ehe ich
an die Prüfung der Textunterlagen herantrete, muß ich eine kurze
Anmerkung über die Zeichen machen. Gomparetti (in der Ausgabe
des Gothenkrieges), Kraäeninnikov und Haury bezeichnen ihre Hand-
schriften auf verschiedene Weise, der letzte hat sogar seine in dem
Münchener Aufsatz angenommenen Buchstaben wieder etwas geändert.
Da muß nun ein fester Brauch gewählt werden, und das kann nur
der sein, den Haury in seiner Ausgabe befolgt. Ingleichen muß nun
auch die von ihm gegebene Einteilung der langen Kapitel (er hätte
besser die ganzen Bücher durchlaufend in kleine Abschnitte zerlegt,
wie man es jetzt oft mit Vorteil tut) maßgebend werden, wenngleich
er selbst nach den Seiten und Zeilen seiner Ausgabe rechnet.
Es ist nun zunächst von den Prokopauszügen der kon-
stantinischen Sammlung (e) zu reden, da sie einen festen
Angelpunkt für die Behandlung der vollständigen Ueberlieferung
bieten. Haury hat zwei Handschriften herangezogen, den Monacensis
267 (M bei d. B., H bei H.) und den Ambrosianus N 135 sup. (A bei
d. B., W bei H.), jenen für die Römergesandtschaften, diesen für die
andern. Bei dem zweiten Teile nun hat er sich in der Tat die beste
Ueberlieferung verschafft, denn aus der Mailänder Handschrift sind
alle übrigen abgeschrieben, wie schon Kraäeninnikov fand, aber erst
de Boor methodisch erwies (Berl. Sitz.-Ber. 1902, S. 163). Der ge-
hässige Angriff, den dann jener gegen diesen richtete, indem er ihn
Procopios rec. Haury. I, II 388
der Aneignang und Verschweigung fremder Verdienste bezichtigte,
ein. Unrecht , an dem auch der teilnimmt , der die Schmähworte un-
besehen und ohne die andere Seite zu berücksichtigen wiedergibt
(E. Kurtz in der Byz. Zeitschr. XIII 583) , ist vielen bekannt (vgl.
de Boors Abwehr, Byz. Zeitschr. XIV 402—406). Es stimmen aber
nicht alle Angaben, die Haury über den Ambrosianus macht, mit dem
Text de Boors überein, vgl. z. B. I9s rjj iß^Sij H., rj 'AjiiSiQ B.,
Ibtxpoircov H., Ixpoictov B. , 4 ^ivovtat oov iv ijiyotdpotc X6700C H., —
Xd^oi B., XCtpac XP^^Q^^ X^^^^^ H., X. xpoo^oo x- B., 21 jnjxovooji^voo
H,, {tTjxovojilvoo B., 10 9 Äpoiövtec too xp^voo H., icpoiövtoc t. x- B-i
o&voc H., oowoc B., 11 f IfisXXe H., g{ieXXev B., 7 etta IXaoooftjievot H.,
efce B., 8 xataotiijoaodat H., -eodat B., 9 sIotcoitjtöv H., eloTcoiijtov B.,
16 o«iLV(ü H., 06{iV(^ B. u. s. w. Ein Teil der Verschiedenheiten mag
sich daraus erklären, daß de Boor auf Kleinigkeiten, wie zum Bei-
spiel das stumme Jota , wenig geachtet hat (s. praef. S. XX) , an
anderen Orten aber wird Haury sich versehen haben, wie es sich
1 11 i ganz sicher feststellen läßt. Denn hier führt er C<&ilt]v als Lesart
des Ambrosianus an, während es sich aus der Ausgabe de Boors (S. 490)
ergibt, daß die betreffende Stelle beiseite gelassen wurde, die Zurecht-
stutzung der angrenzenden Teile aber bestätigt die Lücke. So ist
denn die Leipziger Ausgabe in diesen Stücken nicht frei von Fehlern.
Schlechter ist es um die Römergesandtschaften bestellt, weil hier
eine solche Handschrift von Haury benutzt wurde, die unter denen
de Boors (EVRBMP ; e = de Boor) geringen Wert hat , der Mona-
censis. Ich gehe ein größeres Stück durch: I 21 27 Iltta x] aittav E,
oCt« MP, oitav B; 22 5 Iv ic6Xat^ Kaoiciaic z] xaoTcCac y, xaicoCatc
e nach d. B., xaicoiac M nach H.; s inif('{slXE'^ xE] -eiXev BMP;
9 ^eXXsv xe] ijnsXev M nach H.; 10 ahxoi ts xE] ahzoi n PMB;
12 ivvoia xe] Svva M; le iv T(|)Se t(j> TcoX^iicp xE] iv t^Se t«^ itoi^in
mki^if BMP; iSdSoxto xE] ivSdSoxto BMP; 19 Siafspdvtox; i^a^öc xE]
i'fa^b^ 8iaf epövTox; BMP. Also hat überall dort, wo die beste Hand-
schrift (E) mit der vollständigen Ueberlieferung (x) zusammengeht,
der andere Zweig (BMP) keinen Wert und führt, wenn er allein er-
wähnt wird, unnötig in die Irre. Während des Druckes der Leipziger
Ausgabe erschien die de Boors (s. Band I , S. LIII) , gleichwohl hat
Haury von einer Vergleichung der nun bequem vorgelegten, voll-
ständigeren Ueberlieferung abgesehen.
Er gibt ferner keine Kunde davon, obwohl er es bei EraSeninnikov
hätte finden können, daß Prokop auch noch für andere Abteilungen
der konstantinischen Sammlungen ausgezogen wurde. Zwar sind in
den nur zum Teile erhaltenen Auszügen üspl licißooXdöv xata ßaotXIcov
yt^ovotAv (jetzt von de Boor herausgegeben, Berlin 1905) und Utpl
384 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
aperäv (hier bediene ich mich einer freundlichen Mitteilung desselben
Gelehrten) die Prokopstücke verloren gegangen, aber in Ilepl ^yt^my
liegen sie noch zu einem beträchtlichen Teile vor. Durch die große
Güte des Bearbeiters, U. Ph. Boissevains, besitze ich eine genaue,
nach der Bonner Ausgabe angefertigte Uebersicht über die Lesarten
des Vatikanischen Palimpsestes (Vat. gr. 73), in dem schon Mai
(Script, vet. nov. coli. II 464) den Prokop angezeigt hatte. Nur der
mittlere Teil des den Prokop enthaltenden Abschnittes ist erhalten
(in der Hs. S. 117f., 153 f., 165 f., 199 f., 225 f., 335 f.), er umfaßt Bell.
III 10 12 (lici']fsvo]|idv7) icdvia xaXbicrsi tot zob 9coX^{ioo icddi], Ende eines
Stückes) — VII 2521 (icXfjdoc 8^ ävapxov £XXo)c ts xal töv ivapuilmv
OÄOoicaviCov ivSpa^a^iCeo^ai rpLiaxa [ic^oxev). Die Blätter haben die
langwierige, mühsame Entzifferung besonders durch einen glücklichen
Gewinn belohnt. VII 25 16 liest Haury nach yz paiov ^ap ol ^aocic
sStoXiioi xdxXTjvtai r^ ol icpo{i7]deic äafpoLksX^. 6 {liv ^ap icapa t& xa^-
oxmoL ToX{iii^oac ivvolai too Soxoövto^ Spaoryjpioo T6tC{iT]Tat, 6 8k icpo-
{iiQ^et fvwjiTji iÄ0Xvii5^a<; töv xivSovov iicotoxwv ts rJ)v altCav imcncäxai
ToÄv £o{i9Ci9CTÖVTa>v xttl icpd^a^ xata voöv o&S^v s&tbc toic 7^ &|fcadioiv
Ip^doaodai Soxei. Man merkt leicht, daß hier etwas fehlen müsse,
denn ein sorgfältiger Stilist wie Prokop hätte die überschießenden Teile
der zweiten Hälfte nicht ohne Gegenstück gelassen. Und nun sehreibt
der Palimpsest: 6 {i^v ^ap icapa ra xadeotcoTa toX{iii^aac e&7)iL8pcbv fe (1. t«)
t^v inb TOD gp7oo Söfav (pdperai £6(i7caaav (dies Wort hat Boissevain
zuerst vermutet, dann aber später ganz sicher gelesen) xal a^oXelc 6&vo(ai
TOO SoxouvToc Spaoryjpioo ieTi{iY]Tai. Nun ist das Gleichgewicht wieder
hergestellt, und auch die Quelle des Verderbnisses ist offenbar: der
Schreiber war von s&ir]{i6p(öv zu e&voCai übergesprungen, dann wurde
auch dies noch entstellt. Aus dem übrigen, das der Vaticanus bietet,
greife ich folgendes heraus. III 21 u hat Haury ox; xh ^d^^ Siģst
Tb ßfjTa, xal icAXiv ahzb ßfjTa (so zP, a&Toic 0) im^i xb 7^(141^ und
teilt als Vermutung Christs ndXiy ao[Tb] ß. mit. Aber hier liegt wohl
ein Mißverständnis vor, da der Artikel gar nicht entbehrt werden
kann; auch der Vaticanus (e) hat a&Tö, also, wie schon Boissevain
richtig sah, ao x6. Ein größeres Stück ist in III 22i-i2 ausgezogen,
doch ohne neues zu bringen, nur daß n die Umstellung imnii^mothLi
&icpdxTooc mit 0 und e vorzunehmen ist. IV 1 17 ergänzt e alox6vi]
Yap Toic TS voöv Sx^^^^ ^^ <oäö> oyöv aÖTwv f^oodtodat. hs wird eine
Vermutung Haurys (a&TÖv statt ahxm) bestätigt. 1622 aS 8k irpd^stc
. . ^[Xooc, äv ooTCö xbxoii t) icoXejitooc <^«> iXXnj^ooc äoioöoiv (iXXi^Xooc
y, was nun durch e ergänzt wird, olXXh^Xok; z, eine falsche Verbesserung
des Fehlers). V 10 «i wird ebenso ein Notbehelf der Abschreiber auf-
gedeckt: 6iTa el |iiv (pnb) toic ßapßdpoic iifeTÖvsi TdiicpdY(iaTa (6& i^f -
Procopius rec Haury. I, JI 385
fövety, aber ifSY^vei in z bestätigt den Ausfall von bn6). 1621 1. mit
e xp'^oeo^at, das dem folgenden iJieveiv entspricht. VI 3 17 ist aus e
icdvtcov ifap elxÖTCdc avtapöxaTO? eivat 80X61 jiTfjxovöjievoc tote o6x e&f pai-
vo(iivoic 6 ßCoc zu lesen (o&x so fspoiidvoi^ x). 3 26 ist das ebne Be-
ziehung stehende oTad(La>(Lsvoc durch 0Tad{ia>{idv7)t (aTad(Loo|jLdvT] e) zu
ersetzen. 625 wird durch eine überzeugende Lesart von e die Ueber-
lieferungsgescbichte aufgehellt: man lese nach e oifiai Sk g-foi^s tbv
t6 ßiaad(Levov xal 8^ £v za too icdXac Ixoooico^ (dies fehlt in e, ist
aber nicht zu entbehren) {i-i] &9co8i8üi)i Iv Ibcoi sivat (ibov 73 elvai z, tbv
a&töv ixiov 7e etvai y, worin £K<a)N aus QG^\ entstand, dann durch
das ans dem Inhalt sich ergebende rbv a&röv verbessert, aber irrtüm-
lich daneben weitergeführt wurde, während z kürzer toov schrieb).
18 2 1. Sstvfidc mit e (86ivöv x). 18 5 wird wieder eine Verbesserung
Haurys bestätigt: icoXXcoi a{isivot>c (oov) tote ipxoooiv S(|^eadai. I816
entspricht 8det 8i tb Xoiicbv xal 7povti8t icoXX^i nicht dem folgenden
irdvoc 8^ 4&V |jLspC{jivir]i und (isX^ry], man lese also mit e i^ Sk tb XoiTcbv
f povtlSi icoXXfji (äv 9povt. e, aber äv entstand aus ON von Xoiicöv durch
Doppelschreibung). 29si gibt e eine richtige Umstellung und Er-
gänzung : äii6i8')] Sicavtac inl tt}^ ic6X7)c (so besser statt TcöXecdc) xadi]-
|iivooc 8180V, (5c t6> ti Tcpöowita twv avSpwv icätoat iicdAtoov xal taic
X^palv xtX. Vn 48 1. mit e xatafp6vir]|jLd ttocv oh% h 8dovTi i^YeveSiievov,
vgl. J^Y'^^P-svov y. 4 4 hat e töxt] 7 ap ic iitö'fvwotv a^a^wv iXic[8a>v i^
6&toX{iiac ifopfi'^v (o^spßoX-Jiv x) iceptiaiatai , woraus ich unter Be-
nutzung der Besserung Haurys , der nach iXici8Q>v das Wort iX^ooaa
einsetzt, folgenden Text gewinne : — iX^i8o)v io^eXdaaaa Ic) shzok\Lia^
iufop\ii{^ icspiiotatac (daß die toxt] zu einer s&toX(Lia<; oicspßoXi^ um-
schlägt, ist falsch gesagt, da tox?] und s^ToXfiia sich nicht entsprechen).
820 wird abermals die Verderbnis der handschriftlichen Ueberlieferung
und die falsche Verbesserung aufgedeckt: -^v (dies fehlt in e irrtüm-
lich) fjjiiv xat ' apxa^ toöSe toö 7coX^|ioo . . Tcdvia Soa Iv fs 'ItaXtcotatc
^Xopd^iiatd iotiv, sX tcoc xal taura o^x axpeia icavidicaoiv slvai 8oxel roic
ic fföX8|i.ov xadiata|i^voic i^68ia (ootco xal tauia oh% axpsia z, xal
taöta Y«? 0^^ axpeta y Haury). Ebenso 13 10 xal jtoi SSofisv t) BsXt-
o^lptov iXdadai ta x^-P^' ^^^'^ XP^^ '^^''^^ Twjialotc ^svdodat xaxd^c* t^
ßeßooXsöo^ai |iiv a&tbv ta ßeXticd, l[i7Cö8tov 85 0&6' &^ zm dsÄt ^sfo-
vlvai, wo 068' 2)<; sehr am Platze ist, da doch auch die andre Mög-
lichkeit auf den Ratschluß Gottes zurückgeführt wird, man ändere
nur i{i9cö8iov in ivdöiicov (ä{iicö8iov 8i xal &<; y, liiicö8iov ii z); auch
ist bald hernach ]3i6 die von e bestätigte Stellung äiicaviidoei o&86v
ans y aufzunehmen und n e&ßooXla ({i^v) o&8aiif2 mit e zu lesen.
20 28 hat e taÖTKji ts statt icavtC ts tp6ico)c (so y), was in Verbindung
mit icavtl te (z) auf 9cdvnr]i ts hinweist. 25 19 liest e tb Iv o&Sevl
386 Gott gel Anz. 1906. Nr. 5
o^pdXXeo^t ^00 {i6vov TScov 7^cto, worans sieb die Bestätiguog der
Lesart von y ergibt : . . o^dXXeodat )y)6va>c d«oö äv {lövoo l8iov f ivato.
Es erübrigt noch, das Verhältnis zd berühren, in dem die Aus-
züge zu den beiden Hauptzweigen (yz) der vollständigen Ueberliefernng
(x) stehen. Wenn, wie es ganz gewiß ist, e nicht auf x zurückgeht, so
muß ey gegen z und ez gegen y die Ueberliefernng ergeben. Dieser
Satz wird durch einige Ausnahmen nicht erschüttert, vgl. z.B. Illio
8c St] ahxm xal r^v ßaotXecav IxS^^eodai iiciioio^ ipf G] IxS^faadat ze,
kxSiyBabaLi P ; 1 1 28 ootüo toCvov too? icpdoßeic 'loootfvoc ßaoiXe&c i«-
^^|i.4)ato . . 7pd{i{iaai te KaßA8T)v xata taotö -^(teC^^ato zG] xati taöt«
Pe ; 1 1 26 Sicpaooov, 2ica>c ta . . Scd^opa StaXooooot z] X&ooom QSuid.,
SiaXboa>oi P, ^oaxjtv e; V 10 43 olc 8^ eßvoiav . . JvstSCCst^ y] 81' eSvocücv
ze (Ilepl YV«)|i.Äv); VI 18 4 twt twv iicoppi^tflov ßaotXsi xotvcovoovti y] tÄv
&. ß. X. ze (Tl. Y.); 5 ßooXo{idv(oi 8d ot y] ßooXo|iiva>i ol z, ßooXojUvtti
e (ü. 7.). Denn man muß erwägen, daß nicht selten auch die Ab-
schreiber etwas richtig verbessern können und femer, daß in der
Urhandschrift, auf die x und e zurückgehen, durch eine Verbessemog
die Ueberliefernng undeutlich geworden sein kann, so daß auch die
Fortpflanzung nicht einheitlich wurde. Um ein Beispiel zu geben,
so kann VI 18* TOON mit darübergeschriebenem T<ü>l in der Urhand-
schrift gestanden haben. Diese Schreibung übernahm auch x, worauf
z das TW| fallen ließ, da TCON besser zu passen schien, während y
richtig erkannte, daß TO)! nicht verbessern, sondern ergänzen sollte,
e hingegen wählt wiederum die andere Auflösung. Auch Lesarten,
die am Rande standen, konnten zu einer falschen Uebereinstimmung
von ye oder ze führen, der rein orthographischen Abweichungen, die
nichts beweisen (vgl. VIO48), ganz zu geschweigen. Immer handelt
es sich um unbedeutende Dinge, und so bleibt in der Hauptsache
der schon von Haury erkannte und recht angewendete Grundsatz
bestehen.
Die nächste Untersuchung gilt den Stücken, die Suidas (S)
aus Prokop ausgezogen hat. Die Wiedergabe seiner Lesarten ist
nicht ganz genau , indem manchmal bei einem Zwiespalt zwischen J
und z die Lesart von £ fehlt, meist auch der kritische Apparat
Bemhardys, dessen man in Ermangelung eines besseren nicht eat-
raten kann, nicht eingesehen wird. Ich ziehe aus dem großen Stück
unt. 'A{iaXaoobvda (V 23-12) einige Auslassungen und Fehler zum
Vergleiche heran: 25 t'fjv Ic Ixelvooc aSixCav zl (AB, das ist die beste
Ueberliefernng)] t. IxeCvwv i8. y und die Vulgata von S; 8 t1}c T^>]
ti]i fdp y£; n ohSi iji 6o(i^^p6t töv ßadtXda TcaiSeösa^t z] o&8iti ttv
ß. i. K. y, o6846i töv ßaoi TcaiSdodai SA, ohBk ot töv ßaoiXSa taiStbtota
£ VHlgo; 12 8i8aoxaX{ac z£ vulgo] -Xiav £A, X(a y; n ip^i^nnoi jC
Procopius rec. Haary. I. II 387
vulgo] -ooKst z£A. Daraus ist von Wichtigkeit, daß £ durch ti^i fop
• io einem kleinen Fehler mit y übereinstimmt, ferner n durch OYA€€l
statt 0YA6H (ebenfalls itazistische Verschreibung) und daß es end-
lich 12 mit y den Singular bezeugt, den man in den Text setze,
w&hrend an anderen, schon von Haury erwähnten Stellen £ mit z
gegen y das Richtige zeigt. Kleine Fehler, die £ mit einem der
beiden Zweige teilt, sind z. B. auch I II12 oSte — - oSie ti y] oKte —
Mi u z£, VI27 Sovtescoc t6 y] i> ts ^dp z£, 29 tb ii ^PX'Q^ ^1 ^^
ipxtjc y£i und man macht somit die nämliche Beobachtung, die
schon vorhin aus den konstantinischen Auszügen gewonnen wurde,
dafi die außenstehende Ueberlieferung mit y oder z vereint im all-
gemeinen die Ueberlieferung ergibt, in Kleinigkeiten aber hin und
wieder fehlgeht.
Das Verhältnis von £ zu e wird verschieden beurteilt. KraSe-
ninnikov läßt £ und e unabhängig, wie auch x, aus einer Urhand-
schrift gewonnen sein, nach de Boor hingegen ist £ aus e abgeleitet
Nui ist für diese Frage I lln herangezogen worden: xp^|id^a>v Sta-
favöc iSttpötatoc (vgl. Thuk. II 658 xp'^lP'^'^^v ts Sia^ avwc dScbpötaioc
YCmS^lsvoc) yz £ vulgo] yiptiifAza^'^ Sia^avAdv iScüpötaroc £A, xpijiidtcov
Sutfov^ iSo^ötatoc e. Es ist gar nicht nötig, mit de Boor anzu-
ndunen, daß Suidas hier nicht aus Ilepl icpsaßsicdv, sondern aus Ilepl
äpetAv auszog, denn &So£ötatoc ist gewiß erst ein späterer Schreiber-
fehler, im übrigen aber stimmt die gute Ueberlieferung von £ mit e
in einem auffiUligen Fehler überein. Die Abhängigkeit wird aber
noch mehr durch Il4ii bewiesen: i^vlxa Xoopöoo 9coXe{i7)oeCovtO(; 'loo-
otivtavöc ßoioiXe&c ijo^sto yz] Xoopöoo 8k Jt. a>c ^o^sto 'loootiviavöc e£,
wo der Verfertiger der Auszüge eine etwas gefälligere Fassung ge-
wählt hat. Femer durch VI 28? ^vovtec 8k ol 4>pdn<AV ipxovtec ta
«Oio6|Uva irpooicoisio^aC ts d]V ^ItaXiav i^^Xovtec yz] Sti yvövtsc ol
^pirffmv Spxovtec ta icoto&{i6va, a>c BsXiodpcov s&toxeiv, ic. t. t. 'I. i.
e, Tfvdvtec ol ^pA^Y^^ ^C BeXiodptoc eötoxei, ic, t. t. 'I. i. £, wo die
Besetzung von ta icoio&iteva durch (Sx; BeXtadpio; e&toxsi wieder den
Enerptor verrät. VI 2824 xal BiidXiov (tiv h BsvetCooc lövta . . . i^d-
7i9dat ... ixiXeoev yze (E und B nach der Verbesserung, PM)]
Umoc 6 (E und B vor der Verbess.) £ zeigt, daß ehedem in einer Hand-
Behrift der Exzerpte die Lesung lövtac war, deren Verbesserung sich
Ifar cto denkenden Abschreiber sofort ergab. Es wäre weiter sehr
renmnderlich, daß Suidas unter ""AXicsiov (aus VI 2828) den wichtigen
ZuaCx Prokops Soicep ""AXiceK; Kot>t(a<; nLokobai Ta>(Laroi ausgelassen
lOtte, wenn er nicht aus begreiflichen Gründen in e fehlte. Sehr be-
lehreod ist wieder VI 294 si (tu) tc<; ahzby i&i-q icapbv o&Sevl ic6va>t tö
ti «pdcoc toD fcoX^pioo icavtöc f dpeo^ai y z] el {ii^ ti^ a&iöv vscov (so AV,
t^ die YolgaU) «opöv £, si (t'!) ttg a&t6v ixioti] icapöv e, denn man
em. fri. iB. IMS. ii. s 27
388 Gott. gel. Änz. 1906. Nr. 6
sieht daraus, daß in der Urhandschrift von e £CdH in €G)N Terderbt
war, was sich in der guten Ueberlieferung von £ ziemlich erhielt
(die Vulgata ist hier wie an manchen anderen Stellen aus Prokop
interpoliert), während ein späterer Abschreiber von e, um ein rich-
tiges Satzgefüge herzustellen, iniozri einsetzte. So geht es fort.
Sehr oft treten e S gegen x auf, wo sie aber bei einer Spaltung von
yz auch selbst auseinandergehen und teils zu y, teils zu z stehen,
wie I2O9 (Zitiü^ ... 91011^00)01 y£, xocu^ooooi ze), handelt es sich tun
geringfügige Dinge.
Weder Haury noch Erageninnikov haben sich des Photios (^)
erinnert, der cod. 63 die acht Geschichtsbücher beschreibt Es
folgen ziemlich umfängliche Auszüge aus den beiden Büchern der
Perserkriege, und Photios hatte wohl die Absicht, das ganze Werk
in seinem Hauptinhalt mitzuteilen, aber mit dem 19. Kapitel des
zweiten Buches bricht er ab, nachdem er schon vorher einige Lacken
gelassen hatte (116,19—20,119). Da Photios vor der konstantini-
schen Sammlung liegt (die Bibliothek ist im Jahre 857 geschrieben,
vgl. G. Wentzel, Die griechische üebersetzung der Viri illustres des
Hieronymus S. 57), so stellt seine Handschrift die älteste von denen dar,
die wir genauer erkennen können. Man wird nun zunächst darnach
fragen, wie sich <> zu x und e stellt: I2i2 töv lijc Sco (ycparff(6^ x]
T. ti)<; l(«)ta(; otp. 4>e, 9«* 'AoicsßÄSoo yG] 'AoiceoÄSoo 4>e, IO9 Oowoc
jjL^v fdvoi; x] Oowoc {täv zh ^dvoc 4>e, ii tote ic6Xac So^ev x^] fa^e
tac TcoXac e, 11 10 ixSdfaodat ^e] -eodai G, i%iiyto^^i y, 25 Ms-
ßöSY]<; y e nach de Boor (aber (leoöSiQc si e)] ßeßöSTjc G , |uß<il8t]c e
(nach Haury aus dem Monac), ßsöSijc ^ (ßecbS-yjc die Vulgata von $),
22i8 4>apA7Ytov x4>] OaXd^Tiov e, BäXov y], BöXcov 4>e, BöXov z, 11 10m
{i7)8dv y Oe] |iY]8d z. Es zeigt sich also, daß 4> und e einander recht nahe
stehen und wenn einer gar behauptete, e sei aus der Vorlage von $
geflossen, so ließe sich nichts entgegnen, denn ^^aXd^fiov ist ein leicht
erklärlicher Schreibfehler und auch die Umstellung Soxs tac «6Xac
beweist nichts. Doch ist diese Frage bei der Spärlichkeit der ein-
schlägigen Stellen nicht von großer Bedeutung. Aber wichtiger ist
wieder die Vergleichung mit yz: 18* Ta>|iaiot(; z4>] ToijiaCooc y, lOi
T(üv üspoapiisvUov xaXot>(L§vo)y z] xaX. om. y4^, *AXßavo&c te xallßijpac
y] TS om. z4>, 4 aSnj Si z] aSn] te y4>, icXiijv y« S^ 5ti yO] äXiJv ft
S-fi z, Ttva xetpoÄofiQtov «oXtSa y 0] ... TcokdSa, z, 7 4c ti Hepcdv tt
xal Ta)[iai(i)v ^dt] z] te om. y4>, axpat(pvdoi te tolc tiwcotc z] tt om.
y4>, oloTcep z] olTcsp y4>, to6c 'IßTjptooc 2potK y] t. 'IßTjptac 8. O, t,
'Ißnjpooc 2. z, 18 JäsiStj Vy] ^^^^ CrO, frjfdvovTo a^tSi ... at oicovSal z]
a&Töt om. yO, ^x^pdv z] 4x- ^» ^C- 7» 12? 1^ 7^)« ti)c Tcojtatwv iox^ti]
eoTtv z4>] ^) Y- Tjjc 4c 'P. 4. 4. y, t« töts S-J) aköt g&pißooXoc i^i^
z$] t. 8. a&toö €• i^ip. y, 15i t6 8^ otp&tsoita to6to IIfpoo(p{itvh»y tt
Procopios rec. Hacu^. I. 11 889
xfltl £ot)vit&v ^oav y V] ... -JJv G4>, 22i8 ta AaCixfjc ypoftpia yG] ...
X<op^ V, . . . 8pta 4>, OÖX if avfj SvSpa z 4>] SvSpa oix iy. y, 23$ Soooc
tcAV iz* ahzm ßsßooXsoitdvcov t) £p£ai iq (letaXa^slv tpöTccoi S-)] Stcoi T6t6-
X>]X6v y6] {letaoxeiv V, (LetaoxövTflov Ö. Läßt man die Auslassungen
fort, die darum nichts beweisen dürfen, weil doch in ^ sehr stark
gekürzt ist, so geht ^ sechsmal mit y gegen z, dreimal mit z gejgen
y, außerdem noch einmal an einer lehrreichen Stelle mit V gegen
yG (1236). Nun wird man folgende Wahl vorschlagen: entweder ist
Oy (oder $z) die üeberlieferung , das andere aber spätere Ver-
mutung, oder aber es bestanden schon zur Zeit des Photios zwei
Aeste der erhaltenen Prokopüberiieferung. Im letzteren Falle würde ^
mit y zusammengestellt werden können und das wäre nichts unmögliches,
denn I84 und 12? (ic T.) liegen in y Schreibfehler vor, I22i8 zeigt
eine Veränderung der Wortstellung am Satzende, wie sie in y öfter
beobachtet wird und 236 ließe sich dadurch erklären, daß V und ^
in gleicher Weise zu dem sehr nahe liegenden (istaoxstv überge-
sprungen sind.
Wie man aber auch urteilen mag, so verdient doch Photios in
jedem Falle eine aufmerksame Beachtung, wobei man jedoch auch
dies in Betracht ziehe, daß Photios beim Kürzen mitunter sogar pro-
kopische Ausdrücke gebraucht, da sie ihm doch geläufig waren.
Kleine Besserungen ergeben sich hin und wieder, so ?evtai 1 10? für
das blassere laai, das aus dem vorhergehenden Icooi genommen ist.
An zwei Stellen finden sich wichtige Zusätze, näiJulich I3i üepöCiQC
6 Hepafi^v ßaoiXeoc 'loSi^dpSYjv £XXov töv O&apapdvoo icalSa
SiaSe^^lievoc irpbc tb Ot>vvo)v ... S^og ... 9cöXs(lov ... Steeps und
I4i2 (üepöC'vic) Sie^ddpT] td^poc^ ti3l xal Si(opo£i 9cepiir8od)v 8i£0X60-
ao(iivotC9 titaptov 8h xal elxootöv tf^c ßaotXsiac a6toö IXa&-
vwv ivtaotöv. Sie sind indessen nicht ohne weiteres in den Prokop-
text aufzunehmen, da sie auch aus Randbemerkungen stammen können.
Hier muß noch die Sachforschung entscheiden.
Wenn man von Suidas absieht, sind die Zeugnisse der Lexiko-
graphen und Grammatiker nur gering. Ohne Bedeutung sind
diejenigen, die aus Suidas schöpfen, nämlich Zonaras, bei dem unter
iic(8ooiv fälschlich Prokop angeführt wird (der Fehler entstand aus
dem Worte icpoxom^ des Suidas) und das Lexikon Vindobonense.
Nicht einmal als Ausschreiber des Suidas hat Schol. Aristoph. Acharn.
519 (s. Ill 818) Wert, da es sich, was Haury entgangen ist, um einen
Zusatz aus humanistischer Zeit handelt. Aus ziemlich früher Zeit
stammen die Auszüge, die der Verfasser des AlfKoSeiv-Lexikons machte
und von denen einiges in die beiden Hauptetymologika wanderte.
Darüber hat de Stefani, der dies entdeckte (vgl. Byz. Zeitschr. XIV 639),
elQe eindringliche Uiitersuehung in Aussicht gestellt; wer etwa von
27*
890 Gott gd. Anz. 1906. Nr. 5
dem cod. Darmstad. 2773, der die Hauptmasse enthält, eine Nach-
prüfung wünscht, wird gut tun, sich an Herrn Bibliothekar Dr. L.
Yoltz in Darmstadt zu wenden. Aus der Einleitung der Geschichta-
werke hat sich Eustathios eine Angabe über das Bogenschießen (I li^)
gemerkt und zweimal erwähnt (zu A 118 und zu 9 33); die merk*
würdige Titelangabe Iv toic Aißoxoic beweist, daß der Bischof ans
dem Kopfe zitiert. Bei Tzetzes Chil. 1358 und Schol. ad Lyc. 688
ist der Geschichtsschreiber mit dem Rhetor von Gaza verwechselt
(Chr. Harder, De Tzetzae historiarum fontibus quaest. sei. S. 62),
Chil. HI 317—338 ist das tragische Ende des Gelimer, vielleicht nach
Prokop IV 6—9, geschildert. Andere kennen den Prokop gamicht,
SQ das dritte Bekkersche Lexikon, das z. B. den Prokop von (Jasa
häufig ausschreibt, Thomas Magister, Moschopulos und das Lexikon
Hermanni (De emend, gramm. I).
Hier muß eine Untersuchung über die Satzschlüsse einge*
schoben werden. Da wir wissen, daß zu Prokops Zeit der akzen-
tuierte Satzschluß sehr in Uebung gewesen ist, so wird es uns nicht
erstaunen, auch bei Prokop einige Spuren zu finden. So ist gleich
die große Periode, mit der die Einleitung der Geschichten beginnt,
ganz fehlerlos nach dem herrschenden Brauche gebaut: die Schlüsse
sind 7coXd|ioog (ovd^patl^ev , ßapßdpooc Sii^ve^xe, l(otooc xal ioxtplooct
SovTiv^X^T] 76V^odat, lpY)|JLa x^^pcix'^P-svoc, aita xataicpöiitai, &€(n]Xa
^i^tai, (li^a ti loso^ai, S^reita Ysvif]oo|i^oi^, av&YX'viv St&^otto. Aber
im nächsten Satze folgt auf lotoplac liclSetSic und ir((A)fla^ &x^P^^^*
a>c tö elxöc S£et. Und nun beobachtet man, wie sich Prokop während
des Schreibens immer mehr von dem Satzschlußgesetz befreit nnd
zwar meist dadurch, daß er an den Enden gerne die Akzente zu-
sammenstoßen läßt. Die ersten 20 Satzschlüsse des zweiten Baches
der Geschichten sind: XoopÖ7]c (i«ad(oy, icpooicoieiv ijpSato, istvociv
^deXev, tag o^rovSag X6osi6V, xoivoXo^iijoiiievog 'AXafioovSdpcDt, icoXi|MiD
akCag, 6p[(i>v ßiiCoito, Iv OTTOvSaic '^Xds, xata^siv ^pSato, Tctt|La(i»v
OTCovSdc, o&8^T8pot loe7p(i(|)ovto, xal -J^v 8h (1. 8*) oStcoc, iv o«ov8aic ^i-
Y0V6V, To>|iaCo>v övö|iatt, £apaxY]V(öv avczk^^xoj Htp&ta \kkv xixXi]t«t,
Sv6|iov xitpanzai, o^Saitf] f ^poooa, o^repf ook Ioti, &V6t|iivt] voiiak, die
ersten 20 von HI 8: SieSi^ato rf]v ipx^v, &vdp(biCQ>v afavio^ivtoc« Q&*
S^va 3iv^p(lbiC(ov, Maopoooiooc l^^eto, Tcpö too ol Maopo6oioi, ixeivoc
I76YÖV8I, xal a&Tol Sicadov, iv^pco^rcDV diTcdvtcov, itstarldeodai SöCav, otb-
td^i sYxovtag, ISiaic Si^^sips, aic' a^f^c ?ipo770c, ixpoi^el ti)t ^vljt,
l9raio^avö|isvoi, TcXijoiÄCetv i'f'^iüoa)^, tö Xomcöv loyooav, itsXeonjoe vöottc,
Äpsi d)ix7i|iiv<ov, a&tovöp)v Ävtwv, KapxT^Sövog 8t^ov, von VH 11: y**
v^odai SovdTceoe, Ic Tdßevvav oif txö|isvoc, ^s£e toidSe, Sieppoijxivai &)|i->
ßdß7]X£v, &T6xv(bc icpdYiiaot, &ifad(ov icpdSsic, Ixavcac Ibxooey, xpdx|Lata
So^ii]Xey, iiravopdoöv (liXei, xo&tttv icoto6|Lsvoc sie &|i^ ifyMXty, ftim^
ProcopioB rec. Haary. I. n 391
xal Üoctt|iai, eic Fördooc etp^aotai, ötoooov dcjiaptdveo^ai, f ooecoc
iSoy Siapxfldc icp^TTOv, ixavo^g ££ioy, aTraXXa^'^vai £o(ißii)o6tai, a&tixa
irpooiotaiy tAv icdvrcov XPW^'^^'^' Cf^setze und Regeln lassen sich
nicht aufstellen, da nicht selten auch Satzschlüsse vorkommen, bei
denen zwischen den beiden letzten betonten Silben nur eine unbe-
tonte ist, aber man wird soviel sagen, daß auf Prokop zwar der
Schriftgebrauch seiner Zeit nicht ohne Einwirkung gewesen ist, daß
sich aber der Mann durch häufige Verstöße eine selbständige Stellung
sicherte. Dabei ist wiederum das Zusammentreffen der letzten be-
tonten Silben bevorzugt, offenbar darum, weil es am deutlichsten
dem herrschenden Stile widersprach. Und diese Wirkung war darum
beabsichtigt, weil Prokop altertümlich schreiben wollte; was er von
Thukydides vernachlässigt sah, durfte er selbst nicht befolgen. Es
ist merkwürdig, daß schon Philostratos und Aelianus, vornehmlich
aber der erstere, die Akzente gern im Satzschlusse zusammenstoßen
lassen, sicher aus demselben Grunde. Denn auch ihre Sprache soll
archaisch sein, schon zu jener Zeit aber läßt sich das Vordringen
der Meyerschen Satzschlüsse beobachten, so z. B. bei Clemens von
Alexandreia.
Nun wird man auch nicht mehr gutheißen, was Th. Preger
sagte (Berl. phil. Wochenschr. 1901, S. 1481): »Da Prokop sich an
das Meyersche Satzschlußgesetz nicht gehalten zu haben scheint, so
ist es beispielsweise fraglich, ob wir t&v tc&vtcdv äv^pcoTccov Ixavög eliQ
oder Ixavöc etr] t&v ic&vtcov &v&p(i>7co>v schreiben müssen. In diesen
and ähnlichen Fällen wird eine Entscheidung mit diesen Hilfsmitteln
nicht möglich seine. Gewiß ist sie möglich, wenn man verfolgen
kann, daß in einem Zweige der Ueberlieferung eine Umstellung der
Satzenden zur Bildung eines gefälligeren Schlusses öfter vorgenommen
wird. Ich nehme nun die Lesarten des ersten Buches der Ge-
schichten vor.
Die Handschrift G macht oft die Satzschlüsse auf eigene Faust
flüssiger : Sie tö Xoitcöv Sx^vtsg] S/ovteg tö Xoitcöv G, 6? IvoxXsiv Iy^ö^"
oav] ly^woav ivoxXsiv G, llii apx'^iv fx^^] ^X^^ <^PX^^ ^» ^6^- ^^^^
166, ITso; 172 Ildpoai Tcpötepov] Tcpötepov Il^poai G, 34 to^x^vei 000a]
oSoa tt>7x4vei G; Ss ponX-^t Iäoisito] ßooXiJt iTceicoirjto G, 26? riQvtxaöta
Jov^pYj] njvtxaöta oov4;teoev G ; in ätciotoc 6 XÖ70C Söjetev eivat] 6 Xö^oc
£iriOTOc SöSeiev eivai G, ISss t&i tcövcoi toutcoi iicd^avov] x&i Se tcöi
icövttt iirfdavov G, 47 öirfocü aodtg imJXaovov] JtcLoü) dTci^Xaovov aS^t^ G,
1927 1^ 'EXeyavrivT) xoiXoo[iiv7] olxsttat] t^ IXe^avttv?] (so) xaXooiiivi]
olxeltai G. Doch liegt solchen Aenderungen nicht immer ein fester
Plan zugrunde, vgl. 626 töv Trsptjraxov 8Xov] tooc TceptTcitoog 8Xooc G,
7t ofCoiv StLetvov etvat] $|i6ivov of (oiv elvat G, 15i6 ic iXXijXoog Ix&tspoi]
ix&T8poi ic iXXi^Xooc 6) 26» Sovißir] Y^vdodai] ^ev^odat SovdßY] G u. a.,
392 Gdtt gel. Ans. 1906. Nr. 5
nur soviel ist sicher, daß 6 nie einen Zusammenstoß von Akzenten
neu in den Text bringt.
Ein ähnliches Urteil ist über P abzugeben: 11 26 so ^oovtat] A
8tadTiJo<ovtat P, 12io Xö^oo icoXXoö äStov] Xd^oo ä^tov icoXXod P, vgl
1746, 22i8, 23i; lOi taonQt ätXYjvtat] JdiXYjvtat taonjt P, vgl. 13i; Ö6
TcavtdÄaotv oSoav] oooav icavtdicaotv P, llsi xal äXXa xan^TOpoövnc]
xaryjYopouvteg xal £XXa P, 19x8 iTrlTcpoodev 686v i^fiepcov] i^|t6p&v it^pciv
l3c[3cpoo^£V P, 21x4 Sidfop« SiaX&ooooi] Siöüfopa X6oooot P, 25s4 eö^
tÖV ÄV^pCüÄOV llCaVTjSoOOt] TÖV ÄV*p<OÄOV $&Mc ^ÄaVTjSoOOt P; 79 TOO
IpYoo 6 KaßdSijg lßo6X£to] 6 KaßdSyjc toö Ip^oo IßooXeto P, 15to tot
Ix8ivif]t IdvT] 8i7]x<i)v] ta J*vTf] lxeCvY)<; Smjxcöv P. Weniger verstehen wir
10l6 T(OV af£T^pü>V 6pC(0v] 6p((l>V tCOV OfST^pCOV P, 12l5 icoXX'^t t^o^jtwiQ]
ixop'^votc ÄoXXfJiP, 17* otaStotc Siiyo"^] 8t^ov otaSlotc P, ig o684v tö icopi*
9cav |i6taßaXövT8c] tö Tcap&icav o&S&v [istaßaXövtec P, 2458 ij^Y] too 8i^|iOO
iroXoc] too Si^(too fjSY] 7coX6c P. Aber nicht nur an Satzschlüssen, sondern
auch im Innern sind wie bei 6 öftere Umstellungen vorgenommen.
Während nun in allen vorher erwähnten Fällen entweder 6
gegen PV oder P gegen 6V' steht, so daß die Entscheidung gar
nicht zweifelhaft ist, kommt es nur selten vor, daß sich OP gegen
V vereinigen: Ih ^ äv (olüxv G, xäv e) . . . Ixavat tX-q PG] -ij . . . Ixov^
Sv £l7] V, wo die ausgelassene Partikel Sv an falscher Stelle nachge-
tragen ist, 128 Jicsl a&TÄi ivavti(i>|ia totövSs Sovtjv^^y] Yevdodoi GP],
ItcsI lvavT((0|ia totövSe Sovijv^dY] aätöt ^ev^o^at V, ISse 6 ßaoiXsoc t^
vixTjv GP] T^jv vixTjv 6 ßa3tX66c V, 23? a&töv ßidCeo^ai el^sv] ßiiCeoto
a^tbv eixsv V. Man sieht, daß das Maß der Umstellungen gering ist
und daß der beliebte Tonfall U***^t>^ gar nicht vorkommt, so da6
wir die wichtige Beobachtung gewinnen, daß V im allgemeinen die
ursprüngliche Stellung bietet. Auch 23? ist mit V ßtdCe<J^ai aitiv
si/ev zu schreiben, es ist die einzige Stelle, an der GP in einer
Aenderung zusammenstoßen und wir erkennen nun zwei Abschreiber,
die dem akzentuierten Satzschlusse deutlich zuneigen, einen des
Zweiges P und einen anderen des Zweiges G.
Ein dritter ist der Verfertiger der Auszüge, vgl. 1 2is sivai otpa-
ryj^bv IfaoavJ 0Tpary]7Öv sivai S^aoav e, lOis toc n6Xac So^cv] fop
T&c TCoXac e, lU 9capa3cd|i(|)ai t-^jv apx'i]v SfieXXe] r))v &px^ TeapaaifJ^ti
gfieXXE e, 10 'loootivog ßaoiXsoc eiSev] ßaoiXe&c 'loootlvoc elScv e,
12 gXege toiaSs] SXege &S8 e. Dazu aus späteren Teilen, z. B.
VIII 18i9 yupii^aza ^or^dka xofiiCojisvot ava ääv Itoc] avd icfty fcoc
Xpi^liata [is^iXa xo|iiCö|i£vot e, 24x2 Ic o{Lac iivai] eivai ic ^t^ftc 6. Di
doch bei dem Ausziehen oft die Worte gekürzt oder nmgestaltit
werden mußten, so ist es ganz erklärlich, daß sich dabei die Siti^
Schlüsse ein wenig dem herrschenden Gebrauche anpaßten.
Es ist jetzt an der Zeit, über die Bewertung und AuswaU
Procopios rec. Haury. I. n S93
der Prokopfaandschriften zu reden. In der ersten Tetrade ist
es ganz richtig, daß Haury die Grundlage aus den beiden Haupt-
stämmen y und z gewinnt. Bei dem Stamm y wird P und außerdem
im dritten und vierten Buche 0, bei dem Stamm z Y und dazu im
ersten und zweiten Buche G herangezogen. Der Grundsatz, daß GP
gegen V, PV gegen G, VO gegen P, VP gegen 0 den Vorzug ver-
dienen, ist ganz verständig, nur bei Kleinigkeiten und bei Satz-
scfaliissen (wie 123?) kann hin und wieder eine Ausnahme eintreten.
In der Folge wird man darnach trachten müssen, die Ueberlieferung
der einzelnen Zweige, virenn sie nicht durch einen deutlich herzu-
stellenden Stammbaum auf eine einzelne Handschrift beschränkt wird,
durch eine Reihe von Zeugen wiederzugeben, was besonders für y
zu bemerken ist, das z. B. in den beiden ersten Büchern nur durch
P dargestellt wird. Doch läßt sich, da reichere Handschriftenproben
mangeln, noch nichts genaueres angeben.
Etwas unklarer liegen die Verhältnisse in der zweiten Tetrade.
Hier ist y nun nach L, z aber nach E(V) und auf eine kleine Strecke
noch nach A aufgezeichnet. Aber Haury ist mit sich selbst uneins,
wenn er für den Text nur die Stämme y und z benutzt, in der Vor-
rede aber außer z und y noch einen dritten Stamm, yi, unmittelbar
aus X ableitet. Denn dann müßte doch yi einen großen Wert haben,
wenigstens in den Fällen, in denen y und z auseinandergehen. Eine
Nachprüfung von yi ist nun, da Haury nirgends eine Lesart mitteilt,
zunächst auf das wenige angewiesen, was Rostagno in der Com-
parettischen Ausgabe aus Vi (cod. Vat. 152, fol. 222,229,309—312,
316 ff.) macht. VHI 256 liest Haury nach e o&x Ix^v tö Xoitcöv Sätj
Koth a&to&c ivaoT^XXot Siaßaivovtac 7COTa|i6v ""lotpov if^ &i XYjioovtat
rJjv T<o{ia((öv ipx^Jv, y) Sov zalq a)f8Xtaic r?]v Aroicopeiav (iicopiav e)
9coioo|iiyooc iv^^Ss, in z fehlen die Worte nach ipx^^v, L hat . . .
ipX'Jlv alyvt8[av (xal alyv.?) fjjv inonopiay 7coioo(i.§vooc Iv^^vSe, Vi ip-
Xijv xal alyvi8tav &z rfiv aicopeiav n. i, die Vulgata Apx^^v, xal alyvt-
Slav d)v &9coirop£(av n. i. Es ist klar, daß hier x sehr schlecht zu lesen
war. Die Handschrift y, die nach Haurys gegründeter Vermutung
zuerst geschrieben wurde (Münchn. Sitz.-Ber. 1895, 128), las von ^ 5öv
talc gar nichts mehr und setzte statt cof eXiaic, mit dem nun nichts
mehr anzufangen war, alfviSiav ein, als z entstand, war die Zer-
rüttung noch weiter fortgeschritten, so daß eine viel größere Lücke
gelassen werden mußte. Man sieht also, daß Vi von y nicht zu
trennen ist, wenn die Handschrift auch von L unabhängig ist (&c
ist vielleicht der Rest einer Verbesserung). Aber hier sind noch
langwierige Untersuchungen notwendig.
Eine Vermischung der beiden Stämme, die dadurch entstanden
ist, daß in eine Handschrift des einen Stammes Lesarten des andern
994 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 5
eingetragen wurden, hat Haury in dem ersten Teile des Paris. 1699
(ci) gefunden, sie kommt auch für die Lesarten des von DanuarioB
geschriebenen Ambros. 52—55 sup. (e bei Haury, D bei Comparetti)
in Frage. Man vergleiche z. B. Y 6i8 toGtoiv y^P V*oi o&Sitepov iv
i^Sov^i loTiv zc] obSkv Stepov L, 9i9 icpbc ^ö Ip^ov licirvjSeCoc icdcyn]t
l/ovrag zc] iTTiryjSsboc L, IO34 ic neipav IX^övta zc] äXMvtac L«
VI 52 ivejtlYVovTO zc] ivefiC^voto L, Hz xadtoavtec L richtig] xadt-
oTdvtsc zc u. a. Doch scheint es geratener, c einem besonderen Zweige
von y zu geben (bei Haury ist c auf L zuriickgeleitet), wofür auch
diejenigen Stellen sprechen, an denen c zwischen z und L steht:
Y 58 icpoo7)Sixii)xaoiv z] TcpooYjSixujoaoiv c, TcpoTjSixi^xaotv L, 619 ftv t6i
BoCaviioo ßooXsonjpCcDi Haury nach L] Iv t. BoCavti(i>i ß. z, ftv c6
ßuCavtio) c, YI li7 ivaßa[v7]i z] Imßaivei c, iTcißaCvot L, 82 Xopodc|iavTK
L (und so heißt der Mann sonst immer)] Xopoofidv z, x^P^P^^^ ^
29 tä>v ßapßdpcov ta x^P^'^^V'^'^^ z] mv ß. x* c, tot tcbv ß. x- L Q- &•
Besonders überzeugend müssen Lesarten sein, die die Verderbnis in
L verständlich machen : V ls4 Sie v£(i>tdpoic 7cpdY|taotv iifx^V^^^^ ^
ävSpe tooTO) Ixt£iv8 Comparetti] i^x'^ipob'^zat richtig c (ai = s), was
in X gestanden zu haben scheint, woraus dann z Iyx^^P^^^*^' ^ ^7X^*
poövTac machte, 62 Iv o^ioiv z] Ic T^oiv c, ic (s^Coiv L (also war y in
SoftoLv verderbt, ein Fehler, der öfter vorkommt); 21i6 ircepotc (livta
oh Toig ela>^öoiv Iv^x^*^^^ ^1 Iv^PX^''^^^ c> avipxstat L ; VI 4s Ic ta Kocpr
Ttaviac usw.
Diese Stellen werden dazu auffordern, die Verzweigungen in
dem Stamme y genauer zu untersuchen. Der Monacensis 87 (m bei
Comparetti, n bei Haury) steht dem eben behandelten Ambrosianns
ziemlich nahe. Die zweite Hand des Monac. 513 (f bei C, d bei H.)
ist mit z verwandt, vgl. V4i8 Sovobeiv, 21 A6X(bvi.
In den Fragen der Rechtschreibung schließt sich Haoiy
gewöhnlich den Handschriften an, und dies ist durchaus zu billigen.
Genauere Untersuchungen hat er nicht angestellt, er hätte auch nur
etwas sehr Unvollkommenes erreicht, während man jetzt die Aufgabe
stellen muß, den Schreibgebrauch des Prokop mit dem seiner stilisti*
sehen Vorbilder, seiner Zeitgenossen und der späteren byzantinischen
Schriftsteller zu vergleichen. ^) Es ist sehr löblich, daß Haury jede
Buchstabenverschiedenheit der von ihm herangezogenen Handschriften
1) Es tut mir leid, daß K. Krambacher in der Anzeige meiner Memoria
Graeca Herculanensis (Byz. Zeitschr. Xin595) gar nicht erwähnt, was doch f&r
ihn das Wichtigste waf, dafi ich mich bemüht habe, wo es nur anging, die Ge-
schichte der Rechtschreibung bis zu der ausgehenden byzantinischen Zeit zu ▼er-
folgen. Das tat ich vornehmlich darum, damit man bei den Lesarten der mitt^
alterlichen Handschriften antiker Werke herausfinden könne, was aus byzaatiiiischer
Scbrdbersitte entstanden sei und was auf älterer UeberUeferung beruhe. la eia*
Procopins rec. Haary. I. n 896
wiedergegeben hat, und ich will an zwei Beispielen zeigen, was man
daraus lernen kann. I 325 schreibt V, die beste Handschrift, iccoppon
tdToi. Wir wissen schon, daß ic(opp(o statt TröpptD in hellenistischer
Zeit, besonders in den herkulanensischen Rollen, in Gebrauch war,
während es später wieder unterging. Wenn nun Herodianos im
Philetairos icöppo) xal icd>pp«> &|jLf otdpcoc schreibt, so muß man damals
in den Handschriften der Attiker auch die seltenere Form gelesen
haben, und dies bestätigt Prokop, der vielleicht in seinem Thuky-
dides das «o vorfand, wo es heute nirgends mehr überliefert ist.
Assimilation am Wortende kleiner Partikeln wie h, und S&v, ist nicht
selten und wo sie vorkommt, in den Text zu setzen. So ist auch
immer ^ «]f6itöv(i>v zu schreiben, denn in dieser von Prokop oft ge-
brauchten Redensart ist iv ysitövcov trotz Sauppes Verteidigung (El.
Sehr. S. 148) eine schlechte Auflösung der assimilierten Form, die
mit dem falschen Sv^ovoc (statt Ix^ovoc, aus Iy^ovoc) auf gleicher
Stufe steht. Die Redensart ist wie Ix Se^idtc, ii aptotspäg u. a. zu
verstehen und ganz richtig findet sich nun auf einem ägyptischen
Papyrus: ifovTj E&8at(iovlg tö Avofia ix Yß^'^^^vcov i^fiÄv olxoöaa Pap.
Erzh. Rain. 12329 aus der Zeit des Severus.
Mit eigenen Text Verbesserungen hatte Haury in dem Münchner
Programm (Procopiana II. Teil, Kgl. Realgymnasium 1893) einen
guten Anfang gemacht. Manche seiner Vermutungen sind inzwischen
von den besseren Handschriften bestätigt worden, so 149 Sv für &v
(von G), 7i8 tö ÄoXaitfv für töv iraXaiöv (VG), si (tot für \ii (VG),
Iha Sei für 8t^ (P), I486 Iv icepitpoTr^t für Iv icpotpoicijt (VG) usw.,
andere wurden durch bessere Lesungen hinfällig, andere wieder hat
Haury nach neuen Erwägungen zurückgezogen, so die zu I9i, wo
er in icoXXd das Adverbium verkannte, 16« too (liv — too 8i für t6
piiv — tö Si, 1781 xal toö für xal a&toö usw. Ebenso hätte er die
Procopiana II S. 11 vorgeschlagene Aenderung Illss Sti Sei, &<; ßap-
ßdpcoi icpooi^xoi fallen lassen sollen, denn es ist schlechterdings in
den Worten oug S*}) Sei^aei icovdavoiiivcot zm KaßdSifjt xad' Zu Set d]v
ianoltfliv Y^v^odai SiappiJSYjv iTcoxplvaodai, 8tt 8-}j xäc ßappipwi wpoo-
i[Mi< alles in Ordnung. Nach jener Zeit nun kam Haury in den
Besitz eines reichen Schatzes guter Lesarten, aber er hat sich doch
meist darauf beschränkt, die auswählende Kritik zu betreiben, während
er die suchende vemacbrässigte. Richtig ist von den neuen Aende-
Hingen im ersten Buche der Geschichten a^tc&v 1 1 124, toö 'Oopöoo 1784, ^v
und ol £XXot ISss, 2t(oi Sy) 236, an den übrigen Stellen (es sind etwa
seinen werde ich wohl öfter, wie es bei diesen noch kaum begonnenen Unter-
suchimgen unvermeidlich ist, in die Irre gegangen sein, aber es wäre nun zu
wünschen, daß einer, von den byzantinischen Scbriftstellem ausgehend, die aus
der Antike hinübergezogenen Fäden aufgreift, ordnet und vermehrt.
896 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 5
ein Datzend) war die Ueberlieferung beizubehalteD. Der Text selbst
ist noch ein ziemlich jungfräuliches Feld für die Kritik (die Holländer
z. B. haben sich bis auf van Herwerden von Prokop femgefaalteD),
und eben die vielen neuen Lesungen, die aus z und e gewonnen sind,
müssen beweisen, daß die Ueberlieferung gar nicht sehr rein ist^)
Eine Prüfung der teils unabhängigen, teils aus Prokop ge-
flossenen geschichtlichen Nebenüberlieferung, die von Haury sorg-
fältig eingesehen worden ist, war nicht beabsichtigt. Wir sind ihm
für seinen Eifer und seine Hingabe recht dankbar und wünschen der
Ausgabe den besten Erfolg, den sie haben kann, daß nun die Prokop-
untersuchungen einen neuen Aufschwung nehmen. Viele Fragen, wie
z. B. die Quellen des Prokop in der Geographie und der Mythologie,
sind noch kaum beantwortet. Aber eine zukünftige wissenschaftliche
Ausgabe wird die Unterlagen des Textes von Grund auf nenbe-
arbeiten müssen.
Oöttingen Wilhelm Crönert
Paal Sokolowskl, Dr., ord. Professor an der Universität Moskau, Die Philosophie
im Privatrecht: Sachbegriff und Körper in der klassi-
schen Jurisprudenz und der modernenGesetzgebung. Halle
a S. Max Niemeyer 1902. XV u. 616 S.
Verfasser ist vielleicht der bedeutendste unter der stattlichen
Reihe romanistischer Dozenten, die das von Dernburg, Eck and
Pernice geleitete, kaiserlich russische Seminar in Berlin um 1890
während seines kaum fünfjährigen Bestehens ausbildete.') Sein
moralisch, ästhetisch und intellektuell zum Höchsten strebender
1) Van Herwerden hat denn auch nicht verfehlt, die neue Aasgabe in der
Mnemosyne mit einem reichen Bündel Ton VerbesserungSTorschlägen zu be-
grüBen. Sie bringen yiel Richtiges und Brauchbares, manches aber erweist sidi
bei genauerem Zusehen als hinfäUig. So gleich die erste, zu I2is ausgesprocheM
Vermutung, daß tJL<$voc hinter Titttoc zu streichen sei. Denn das Wort ist not-
wendig, damit der Leser den Gegensatz scharf erfasse: der römische Feldherr
tritt ohne Truppen und ohne Begleiter dem Feinde keck entgegen, der Perserkönig
wendet sich mit seinem ganzen Heere und kehrt um. Der Fehler steckt an einer
anderen Stelle: xaxaTrXayeU ouv täi uTrepßaXXovn xffi xtfi^; 6 ßaacXtiK aCrro« orptf^
Tov TzTTOv ird^to dTr/^Xouve, 1. t^c xoXfjiTjc.
2) Vergleiche über diese interessante Episode der Geschichte der Bechts-
wissenschaft im vorigen Jahrhundert die offenbar sachkundige, tief aber kaum in
tief pessimistische anonyme Skizze über »das römische Recht in Bnßlandc ia
Leonhard, Stimmen des Auslandes über die Zukunft der Rechtswissensdiaft
(Breslau, Marcos 1906, S. 72—77).
p. Sokolowski, Die Phflosopbie im Privatrecht 397
Idealismus bat sich otfenbar noch verschärft inmitten der radikal
materialistischen und kollektivistischen russischen Gesellschaft und
so fühlt er sich, wie viele ernste Denker heute, wesensverwandt den
letzten Philosophen der christlichen Eaiserzeit, die inmitten der neuen
bildungsfeindiichen und unduldsamen Massenreligion einsam und stolz
für sich standen. So geht ein sehnsüchtiger, romantischer Grundzug
durch sein Buch und läßt ihn die einstige Herrscherstellung der
Philosophie grösser und schöner sehen, als sie der nüchternen Kritik
erscheint. Aber ohne diesen begeisterten Glauben wäre sein Werk
kaum entstanden und da es trotz mancher Uebertreibungen und Fehl-
griffe wegweisend und bahnbrechend auf lange wirken wird, wollen
wir mit dem Verfasser nicht wegen dieser Illusionen rechten. Nur
schreiben wir daneben ein Wort von Moramsen, dem Sokolowski
dieses Buch gewidmet bat: »So wurden denn die Römer in der
Philosophie nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler t.
Sokolowski macht allenthalben Front gegen den positivistisch-
nur praktischen Zug, der die jüngstvergangene deutsche Zivilistik
beherrschte und der sie auch die klassische Jurisprudenz der Römer
als ausschließlich praktisch und kasuistisch-positiv einschätzen ließ.
Die heutige Jurisprudenz soll zur wahren ^divinarum atque hutna*
narum rerum notitia<, zur Trägerin und Gewährleisterin aller höchsten
Bildungsideale werden und gerade dadurch' den römischen Eaiser-
juristen nacheifern, in denen er die rechten Söhne ihrer bildungs-
frohen und bildungsstolzen Zeit sieht, überzeugte und energische
Vertreter der griechischen Philosophie, die ihnen den Schlüssel für
alle Probleme des Erkennens und der praktischen Lebensführung zu
bieten schien. Dieser Einfluß der Philosophie auf die klassische
Jurisprudenz ist von Sokolowski nicht zuerst, aber doch am zu-
sammenhängendsten und energischsten betont worden, und vollends
ganz ihm allein gehört die höchst plausible Vermutung, daß dieser
philosophische Einschlag der klassischen Rechtslehre der beschränkten
und unduldsamen Orthodoxie Kaiser Justinians als törichte und ge-
fährlich heidnische Afterweisheit erscheinen mußte (S. 183). Wer
aus Haß gegen die griechische, in ihrem innersten Wesen heidnische
Philosophie die altehrwürdige Schule von Athen aufhob, der wird in
der . Tat die philosophischen Anschauungen nach Möglichkeit auch
von seinen Pandekten fem gehalten haben, als dem »Li nomine Do-
mini Dei nostri Ihesu Christi« zu errichtenden Templum lustitiae.
Diese philosophische Beeinflussung der klassischen Rechtswissen-
schaft wäre also ein für deren eigenes Sein und Denken allerwich-
tigster, wesengebender Faktor und zugleich ein Punkt, in dem die
Eürzungstätigkeit von Justinians Kompilatoren aufs stärkste ein-
setzen mußte. Sokolowskis These verspricht mithin, unsere An-
898 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
schauung vom römischen Recht nach den beiden Richtungen hin zn
bereichern, in denen sich heute die Hauptarbeit der romanistiscfaen
Forschung bewegt : Klarstellung des Wesens und Wirkens der klassi-
schen Jurisprudenz und als Mittel hierzu Feststellung dessen, was
an Verstümmelung und Entstellung der klassischen Rechtstexte den
byzantinischen Juristen mit Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden
kann. Nach beiden Richtungen hin hat man seit der Auffindung
des Gaius (1816) den Formularprozeß und seine Eigentümlichkeiten
umfassend gewürdigt. Dazu träte nun als weiteres, von den Byzan-
tinern systematisch weginterpoliertes, für die Klassiker entscheidend
wichtiges Moment die griechische Philosophie.
Die >Bildung< in der Kaiserzeit war nach Sokolowski die Zugehörig-
keit zu einem der, allerdings stark eklektisch getrübten, griechischen
Philosophensysteme. Dieses System, welches seinen Anhängern die
Wahrheit zu geben versprach und zu geben schien, habe auch den
Juristen jener philosophischen Jahrhunderte die Auskunft geboten
über alle die Vorfragen und Voraussetzungen ihrer Berufswissen-
schaft, für die der moderne Jurist die Naturwissenschaften und die
Beobachtung von Leben und Wirtschaft heranzieht. Gleichzeitig aber
habe die philosophisch-begri£fliche Schulung und Gewöhnung ihrem
ganzen Denken eine systematisch-deduktive Richtung gegeben, die es
scharf unterscheide von dem empirisch-induktiven Verfahren der mo-
dernen Jurisprudenz. Allerdings sei diese systematische Art des
klassischen Rechtsdenkens vielfach verwischt durch die Byzantiner,
die von jeher nur die unmittelbar verwendbaren, positiven Ent-
scheidungen geschätzt und gesammelt hätten, nicht ihre Begrün-
dungen und deren systematische Zusammenhänge. >Der sogenannte
juridische Geist gelangt hier zu einem zentralisierten Ausdruck, hinter
welchem alle philosophischen Erwägungen absterben« (S. 183). So
biete Justinians Chrestomathie ein schiefes und ungenaues Bild von
Denkart und Tätigkeit der klassischen Juristen und überdies dnrch
die verständnislose Häufung des kasuistischen Materials (S. 131)
unter Weglassung der begründenden Begriifszusammenhänge, massen-
hafte heillose Dunkelheiten und Widersprüche, deren Klärung nor
zu gewinnen sei durch hypothetische Feststellung der für jede dieser
auseinandergehenden Entscheidungen maßgebenden juristisch -philo-
sophischen Motivierung.
Daß das Denken der Kaiserjuristen im weiten Maß philosophisch
beeinflußt war, das ist an der Hand des in diesem Buch zusammen-
gestellten massenhaften Materials in der Tat nicht zu verkennen,
auch ohne das Wort Ulpians von der Rechtslehre als >vera philo-
sophia« (D. 1, 1. 1 § 1). Anleihen bei den griechischen Denkern finden
sich z. B. in der allgemeinen Rechtslehre : fUr das ins naturale, fBr
p. Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht 999
die Behandlung und Auslegung des Positivrechts (die Theophrast-
zitate im Titel de legibus), femer für die Schuld- und Zurechnungs-
lehre, endlich und vor allem für den Begriff der Sache und des
Körpers, für ihren Fortbestand trotz Wechsels von Bestandteilen
oder Form und für das Problem der Identität oder Nichtidentität
der Sachen, die als Gegenstand von Geschäften in Frage kommen.
Gerade in diesen Problemen des Sach- und Körperbegriffs treten
philosophische Ausdrücke und Anschauungen am auffallendsten her-
vor. Hier versuchten daher schon Göppert und Fischer philosophische
Einflüsse auf die Gestaltung der römischen Rechtsdogmen nachzu-
weisen und so untersucht denn auch Sokolowski >die Philosophie im
Privatrecht < zunächst nur für > Sachbegriff und Körper in der klassi-
schen Jurisprudenz und der modernen Gesetzgebung <, wie der Unter-
titel seines Buches lautet.
Nach einer Einleitung über die Bedeutung der Philosophie für
die Rechtswissenschaft in Rom und heut (S. 1 — 27), erörtert Kap. I:
Begriff und Einteilung der Sachen und Körper (S. 28—68), Kap. II:
Entstehung, Untergang und Veränderung der Körper (S., 69— 232),
Kap. Ill: die Lehre von der Identität der Körper (Irrtumsprobleme)
(S. 233—330), Kap. IV: Sachbegriff und Sachbestandteile (S. 331—404),
Kap. V: Teilbarkeit der Sachbegriffe und Körper (S. 405—442), Kap.
VI: den Zuwachs der Körper und Sachbegriffe (S. 443—498). Dann
folgen nach der modernen, geschmackvolleren, aber schwerlich zweck-
mäßigeren Art die vom Fuß der Seiten verbannten > Anmerkungen c:
S. 499-616.
Für alle jene Rechtsdogmen glaubt nun Sokolowski die Beein-
flussung durch ganz bestimmte philosophische Systeme zu erkennen,
besonders das peripatetische und das stoische. Seine Kenntnis der
antiken Systeme entnimmt er neben Zellers Geschichte der griechi-
schen Philosophie besonders einem Buch von Bäumker über das
Problem der Materie. ' Während nach Göppert die Stoa für die
Juristen von Anfang an fast ausschließlich maßgebend war, scheint
sie ihm erst in der Kaiserzeit bei den Juristen Bedeutung erlangt
zu haben, als Dogma der sabinianischen Schule und weiterhin der
sämtlichen spätklassischen Juristen, von denen Paulus »vielleicht
mehr stoischer Philosoph als Juristc gewesen sei. Dagegen seien
Servius, Alfenus, Trebatins sowie dessen Schüler Labeo und mit
diesem die ganze prokulianische Schule Peripatetiker gewesen. Labeo,
bei dem man wiederholt stoische Schulangehörigkeit suchte und zu
finden glaubte, hat nach Sokolowski >für den Eklektizismus jener Zeit«
auffallend wenig stoisches (S. 11), während die Grammatik und die
anderen von Gellius ihm zugeschriebenen Studiengegenstände durch-
weg Aristoteles zugehörten. Ueberdies setzt ein Brief Ciceros den
400 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 5
Lehrer des Labeo, Trebatius, in ein unzweifelhaftes Abhängigkeits-
verhältnis zu Aristoteles und seinen Lehren. Sollte nun Sokolowskis
These sich bewahrheiten, so wäre in diesem philosophischen Gegen-
satz zwar natürlich nicht >die< Ursache, aber doch eine der Ur-
sachen des vielerörterten Schulgegensatzes gewonnen.
Daß Labeos Schule wirklich peripatetisch war, ist nach den
vom Verfasser beigebrachten Indizien in der Tat wahrscheinlich. Vor
endgültiger Entscheidung möchte aber Referent, als Laie in philo-
sophicis, Nachprüfung und motiviertes Urteil Sachkundiger abwarten.
Was die Frage besonders erschwert, ist der ziemlich wilde Eklek-
tizismus der kaiserzeitlichen Philosophie. So erkennt Verfasser wieder-
holt >peripatetische Lehren in stoischer Terminologie < oder »stoische
Lehren mit peripatetischen Entlehnungen«, z.B. S. 116: der >Erz-
stoiker« Paulus gibt eine peripatetische Lehre mit ihren peripateti-
schen Beispielen (daß in den Beispielen viel mehr als in den Lehr-
sätzen die Eigenart und Kraft der antiken Systeme lag, macht Ver-
fasser sehr plausibel!), aber er gibt sie in stoischer Terminologie:
statt elSoc: S^g = propria qualitas. Dazu kommt, daß dasselbe Wort
species bald das peripatetische elSoc, bald die stoische ISic zu be-
zeichnen scheint.
Da liegt die Gefahr der petitio principii denn überaus nahe.
Dazu kommt, daß Verfasser anscheinend mitunter die philosophischen
Dogmen mißverständlich auffaßt und handhabt, meist im Sinne allzn
großer Vereinfachung. Wenigstens wurden die in Rabeis Kritik gegen
einige Aufstellungen Sokolowskis erhobenen Bedenken mir von fach-
männischer Seite als in der Tat zutreffend bezeichnet.
Daß es auch bei der Auslegung und Ausbeutung der juristischen
Quellen nicht an gelegentlichen Mißgriffen fehlt, ist bei der Behand-
lung so vieler, oft widerspruchsvollster Probleme kein Wunder.
In der Akzessionsfrage z. B. nimmt Verfasser S. 127 ff. eine von
Gassius (unter Nero) vertretene, recht beschränkte, ältere sabinianisch-
stoische Theorie an, der »spätere, streng stoisch gesinnte Juristen«,
insbesondere Paulus (unter den Severen) entgegengetreten seien, die
zwar >vom älteren Stoizismus des Gassius < ausgingen, aber genau
wie in der spätstoischen Spezifikationstheorie den Untergang des
Eigentums und die Entstehung neuer Rechte > nicht nur auf einer
Verschmelzung der o&o(a, sondern auch auf der sieghaften Kraft der
neuen iiu;< beruhen ließen. >Accessioni esse, heißt nach dieser
neuesten Theorie nicht allein im Stoff, sondern vor allem in der
Igte — dem Spiritus — der maior species einer anderen Sache auf-
gehen <. Und bei der > maior species < gibt Note 328 die Ulpianstelle'
D. (34,2) 19 § 13: >Perveniamus et ad gemmaa inclusas argento aurO'
p. Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht 40^
que. Et ait SabinuSj auro ai-gentove cedere: ei enim cedit, cuius
maior est species. Quod rede expressit*. Danach stammt
also der für jene (angebliche !) Theorie mit Recht als charakteristisch
angeführte Begriff der > maior species < schon von Sabinus (unter
Tiber)! Wie soll sie da eine nachkassianische, neueste, hauptsächlich
durch Paulus zur Geltung gebrachte Reform sein?
Fehl geht femer z. B. die Ausführung über den Grenzbaum. Er
werde streng nach aristotelischen Lehren behandelt: »da der Baum
stofflich von den beiden an einander grenzenden Schollen erzeugt
ist, 80 hat natürlich jede . . . nach Maßgabe ihrer Größe und Er-
giebigkeit zur Entstehung und zum Wachstum der Pflanze beige-
tragene und so richte sich das Miteigentum an dem durch Fällung
zum Rechtsobjekt gewordenen Baum >nach dem Größen Verhältnis
der benachbarten Parzellen < (S. 149, 151 f.), >der benachbarten Grund-
stücke« (S. 152, 154). Wenn also eine Grenzeiche mit neun Zehntel
des Stammes auf einer Bauernstelle steht, mit einem Zehntel auf
einem vielleicht hundertmal so großem Rittergut, so wäre sie wie
eins zu neunundneunzig zu teilen, statt wie neun zu eins nach der
bisherigen Deutung der einschlägigen Stellen, besonders D. (17,2)83
Paulus: >sed naturali convenit rcUioni, et postea tantam partem
utrumque habere tarn in lapide quam in arbore, quantam et in terra
habd)at€. — Wir bleiben bei der bisherigen Deutung (auch schon
wegen des >habebat« — das Grundstück hat er ja noch!) und halten
jene praktische Monstrosität selbst bei Paulus für undenkbar, so
stark philosophisch >belastet< er auch erscheinen mag (u. S. 406).
Auch die tatsächlichen römischen Verhältnisse werden nicht
immer genügend gewürdigt. So erscheint S. 358 das S. C. Aviolanum
(122 n. Chr.), welches verbot, >ea quae aedibus iuncta sunt, legari*^
als »in erster Linie den Schutz der Kunstt bezweckend, während es
tatsächlich hineingehört in die durch die ganze Kaiserzeit sich hin-
ziehenden »Fassaden- «Gesetze, die nach dem Rezept der Potemkin-
schen Dörfer den Schein allgemeiner Blüte auch in den zurück-
gehenden Teilen des Reiches vortäuschen sollten, vgl. die S. C. unter
Claudius und Nero bei Bruns fontes VI Ed. p. 190 mit Mommsens
Note über eine gleichartige epistula Hadriani. S. C. von 44 : die
>felicitas saeculi instantis€ verbietet >ininiicissimam pace faqiem
inducere ruinis domum villarufnque< ; S. C. von 56 : yhoc praecipue
8aeeulo€ bei der neuen yfelicitas orbis ierrarutn< dürfen keine Häuser
mehr auf Abbruch verkauft werden, wie während des Gehenlassens
ypriorum temporum< (eben unter Claudius) >tVa ut diceretur senectute
ae tumfulo iam rem Romanam perirej. Dazu die späteren Verord-
nungen von Alexander bis Valens im Cod. 8,10 (de aedif. priv.)
402 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
2, 3, 6, 7, 8 mit ihrer Sorge für die facies civitatis und den publicus
adspectus.
Wenn es ferner S. 357 (vgl. S. 363) beißt: >das sogenannte in*
strumentum' verdankt seine Entstehung ohne Zweifel dem Erb-
recht und gelangte in ihm vorzugsweise zur Anwendung<, so wird
hier nicht beachtet oder wenigstens nicht betont das das ganze römi-
sche Leben beherrschende Buchungswesen. Die Inventare (libellus
patrimonii u. s. w.) bestimmten und ergaben für die tagtägliche Ver-
waltung, was an Sklaven und anderen res zum instrumentum dieses
oder jenes fundus instructus u. s. w. gehörte: vgl. z. B. D. (32) 99 pr.;
D. (33, 10) 1, 10. Wenn diese Aufzeichnungen für den Erbfall nütz-
lich waren, so waren sie doch ganz und gar nicht dafür bestimmt
Die allgemeine Entwickelung des römischen Rechts denkt sich Soko-
lowski so, daß bis gegen Ende der Republik die Juristen das Recht
fast nur prozessualisch au&ßten und behandelten, dann aber auch be-
grifflich >im Zustand der ruhigen Wirksamkeit, unabhängig von An-
griff und Verteidigung, in seinen Beziehungen zum Verkehr und zur
Natur. Der klassische Jurist erhebt das Recht zu einem Zweige der
allgemeinen Erkenntnistheorie« (S. 351). >In der Verbindung der
philosophischen Begrifßslehre mit den gegebenen Formen des alt-
römischen Zivilprozesses liegt die reformatorische Bedeutung der
klassischen Rechtswissenschaft« (S. 339).
Diese klare und plausible Orundauffassung führt Sokolowski fttr
die sämtlichen, meist bestbestrittenen Gegenstände seiner Unter-
suchung (oben S. 399) durch, mit umfassenden Kenntnissen, Scharf-
sinn und vorsichtiger Methode (vgl. z. B. S. 241 gegen »unhistorische
Verstümmelung der Quellenzeugnisse ... von einem vorgefaßten
Standpunkt aus<). Trotzdem bleiben natürlich mancherlei Zweifel und
Bedenken. Darunter das allgemeine, daß er wieder und wieder die
Entwickelung so auffaßt oder wenigstens so darstellt, als ob vor den
Eindringen der griechischen Philosophie für zahlreiche Rechtsfiragen
volle tabula rasa bestanden hätte. Ein Beispiel unter vielen: sollte
eine altrömische Bauern jury wirklich wegen »arbores< furtim caesae
den verurteilt haben, der seines Nachbarn eben eingesteckte Weiden-
ruten abschnitt, weil sie noch nicht von Aristoteles gelernt hatten,
>daß Gewächse, welche noch keine Wurzel getrieben haben, un-
möglich Bäume genannt werden können« (S. 149). Das dürften sie
von sich aus gerade so empfunden haben, wie ihre heutigen von
Aristoteles auch nichts ahnenden Kollegen!
Aber trotz dieser Beanstandungen gibt Referent bereitwillig za,
daß nach den von Sokolowski aus den Pandekten zusammengestellten
technisch-philosophischen Ausdrücken und Gedankengängen der
p. Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht 403
floß philosophischer Systeme auf das Denken und Schlußfolgern der
klassischen Juristen sehr viel stärker war, als man bisher anzunehmen
pflegte. »Praktiker war der Römer, aber nicht Philosoph«, sagt
z. B. eine neueste tüchtige Schrift von den Pandektenjuristen, und
Referent selbst bezweifelte die von Sokolowski behauptete philo-
sophische Orientierung der klassischen Jurisprudenz, als er 1897
einen ersten Abschnitt des jetzigen Buches anzeigte. Die jetzigen
§§ 4 und 8 über die Spezifikation erschienen nämlich schon 1896 in
der Zeitschrift der Savigny-Stiftung. Doch hat Verfasser seine Auf-
stellungen in wichtigen Punkten ergänzt und Referent benutzt seiner-
seits gern die Gelegenheit, auf Grund des vollständigeren Materials
noch einmal zu diesen interessanten Problemen Stellung zu nehmen.
Sokolowski hat zunächst seine Ausfuhrungen de lege ferenda stark
verändert. Er macht nach wie vor, und in noch schärferer Tonart,
Front gegen den §950 BGB., der selbst an gestohlenem Material
dem verarbeitenden Diebe oder Hehler Eigentum zuspricht, und
empfiehlt statt dieses > manchesterlichen < , das Eigentum >mit einem
Judasküsse verratenden Spezifikationsrechts, daß der Stoffeigentümer
Herr der Situation bleiben und entscheiden soll, ob er das Produkt
anter Zahlung der Werterhöhung nehmen oder es dem Vorarbeiter
gegen Leistung des Stoffwerts lassen (und aufzwingen) will. Dies
um so mehr, als wir mit den naturphilosophischen Systemen auch
jede Möglichkeit aufgegeben haben, die Frage der Wesen sänderung
(nova species) sicher zu lösen. — Aber wenn er so nach wie vor
meine Arbeit gegen fremdes Eigentum zurücktreten läßt, so er-
kennt Sokolowski jetzt das Spezifikationsprinzip doch an zu Gunsten
der Idee, als > Funktion ihres Urhebers. Was sie verschlang, führt
sie ihrem Autor zu.< Hier handle es sich in der Tat um Höheres
als das Eigentum, nämlich >um die Stellung der Person im Privat-
recht und um den Schutz ihrer rechtmäßigen Handlungen<. Daher
wünscht er statt des § 950 folgende sehr beachtenswerte Bestimmung:
>Wer durch Verarbeitung u. s.w. ein Werk der bildenden Kunst her-
stellt, erwirbt das Eigentum an dieser neuen Sache. Die gleiche
rechtliche Wirkung hat die Abfassung eines originalen Schriftwerkes
auf fremdem Material.«
Für die Geschichte der Spezifikation in Rom läßt er auf die
ursprüngliche, rein prozessuale Behandlung, in der Kaiserzeit eine
vorwiegend begrifflich philosophische folgen. Da bei strenger Formel-
auslegung der verarbeitete Stoff nicht mehr als solcher vindiziert werden
konnte, so habe ursprünglich mit der Eigentumsklage auch das Eigentum
als erloschen gegolten. So sei das Produkt (z. B. aus fremdem Mehl
gebackenes Brod) herrenlos gewesen und Eigentumsklage und Eigen-
GMi f «1. Am. 1906. Nr. 6 28
404 Göü gd. Anz. 1906. Nr. 5
tumsrecht daran dem Spezifikanten zugesprochen worden, nicht erst
nach »Okkupationsrechtc, sondern schon weil Eigenbesitz an res
nullius (nach römischem Recht) Eigentum sei. Letzteres wird sich
halten lassen : dominium verum a possessione coepit. Daß an herren-
losen Dingen regelmäßig nur die Ergreifung des Eigenbesitzes
(Okkupation) Eigentum verschaffte, war wohl kein grundsätzliches
Erfordernis, sondern nur ein tatsächliches. Ich muß Besitz der res
nullius erlangen, um ihn zu haben, dann aber bin ich Eigent&mer,
nicht weil ich Besitz erlangte, sondern weil ich Besitz habe!
War diese vorwiegend prozessualische Auffassung der Frage
wirklich die ursprängliche , so wäre von den beiden kaiserzeitlichen
Spezifikationslehren die durchgehend als die neuere, fortschrittliche
aufgefaßte der Prokulianer, wonach das aus fremdem Mehl gebackene
Brot dem Bäcker gehört, im Gegenteil die altrömische; die sabinia-
nische dagegen, die das Brot dem Mehleigentümer zuspricht, eine
den Eigentumsbegriff folgerechter durchführende Reform. Und zwar
läßt Sokolowski sie die Stoff Vindikation (farinam meam esse) für
zulässig erklären (mit freierer, ausdehnender Auslegung von farina),
genau wie schon republikanische Juristen die actio arhorum furtim
caesarum auch für vites, die actio de tigno iuncto auch für eae-
menta zugelassen hätten (S. 96). Die Prokulianer dagegen hätten
sich durch den Formelwortlaut (farinam meam esse) für gebunden
gehalten, genau wie in der Frage der >iudicia absolutaria< , wo sie
gleichfalls der formalen Logik der Formel sich unterwarfen, während
die Sabianer mit freierer Auslegung die materielle Gerechtigkeit zur
Durchführung brachten. Auch die von den Sabinianern vertretene,
von den Prokulianem verworfene Ausdehnung der Kauf klagen auf
den Tausch (weite Auslegung der Worte quod emit, quod vendidif)
ließe sich wohl daneben stellen.
Sehr hübsch ist, was Sokolowski hier und in anderen Originir-
erwerbsfällen über die praktische Bedeutung der condemnatio pecuniaiia
ausführt; wie dank ihrer die oft schroffe Regelung der Eigentnms-
frage doch zu durchaus billigen Vermögens- und Entschädigungsfolgen
führte.
Als treibendes Motiv für die Schultheorien in den Spezifikations*,
Accessions- u. s.w. Fragen vermutet er philosophische Theoreme, da-
gegen verwirft er völlig das Motiv des Arbeitsschutzes. Für die
klassischen Juristen gewiß mit Recht. Sie waren ja keine Gesetz-
geber, die Willensentscheidungen durch Zweckmäßigkeitserwägongoi
hätten begründen können, sondern eben Juristen, also darauf be-
schränkt, aus anerkannten Obersätzen mit (wirklichen oder schein-
baren) logischen Gründen Folgerungen abzuleiten. Zudem tritt die
p. Sokolowflki, Die Philosophie im Priyatrecht 405
Arbeitsschutztheorie in keiner klassischen Stelle auf und Labeos be-
kannte Entscheidung über das Wollefarben (nach Verfasser S. 80 ein
peripatetiscbes Schulbeispiel) widerspricht ihr aufs schärfste.
Aber ob nicht die Kompilatoren die Arbeitsschutzidee hatten?
Sie waren ja Gesetzgeber und in der byzantinischen j wirtschaftlich
und sozial der klassischen entgegengesetzten Gesellschaft (vgl. z. B.
die Gestalt des Johannes Lydus), mit dem ausgesprochen arbeiter-
freundlichen Christentum ist diese Tendenz der Gesetzgebung sogar
a priori zu vermuten. Nur ist mit der doppelten Schwierigkeit zu
rechnen, die sich hier wie allenthalben den Kompilatoren für das
Kundgeben etwaiger eigener, byzantinischer Rechtsanschauungen bot.
Sie sollten möglichst viel klassisches Material erhalten und mußten
durchgehend in einem Mosaik klassischer Aussprüche sich ausdrücken.
So schließen denn arbeitsfeindliche klassische Rechtssätze (das Wolle-
färben, die media sententia) die Arbeitsschutzidee bei den Byzan-
tinern nicht aus, während die vereinzelten arbeitsfreundlichen Wen-
dungen der Institutionen in der Tat für diese Tendenz sprechen.
Sokolowskis philosophische Herleitung der drei Spezifikations-
systeme, die 1897 dem Referenten als* in der Luft stehend erschien
(o. S. 403), findet in dem jetzt auch für zahlreiche andere Fragen
vorgelegten Quellenmaterial durchaus genügende Anhaltspunkte. Es
wird also als wahrscheinlich anzunehmen sein, daß die Prokulianer
ihre (wohl römisch-hergebrachte) Lehre vom Eigentumserwerb des
formgebenden Spezifikanten philosophisch motivierten mit den aristo-
telischen Lehrsätzen von der alleinigen Bedeutung des siSoc, während
die Sabinianer ihre (neue) Theorie vom Fortbestand des Stoffeigen-
tums auf die stoische Idee der alleinigen Bedeutung der o&a[a ge-
stützt haben werden.
Die media sententia sieht Sokolowski als Weiterbildung nicht
der prokulianischen, sondern der sabinianischen Theorie an, als raffi-
niertere Durchführung des stoischen Gedankens, daß nur materielles
existiere, alles existierende daher materiell sei. So auch die Form,
die formgebende Seele (i€tc: species, format ffV6ö(ia: Spiritus). Von
hier aus habe man die Spezifikation als Verbindung des Formkörpers
mit dem Stoffkörper aufgefaßt und sie den stoischen Lehrsätzen über
die Körperverbindungen unterstellt. Nach diesen zerstörte nun nur
die die Körper unwiderruflich vernichtende Verschmelzung (o&rx^^^^
nach manchen auch schon die xpaotc) Sache und Eigentum. So denn
auch bei der Spezifikation, falls die Verbindung von Formkörper und
Stoff körper unwiderruflich war: die unrückführbare Spezifikation der
media sententia.
Daß jede Formgebung als solche eine Körper Verbindung sei,
28*
406 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
sagen nun die angeführten Philosophenstellen nicht, sondern nar —
ebenso wie die Juristen — daß ooyxooic (bezw. xpdatc) flüssiger Stoffe
zur Herstellung von Arzneien u. s. w. Schaffung einer neuen Sache,
also Spezifikation ist. So könnte nun das Ganze immer noch als
geistvolle, aber luftige Kombination erscheinen, wenn nicht Paolos
D. (32) 78 § 4 diese Vorstellungen so gut wie sicher bezeugte.
Eine höchst wertvolle Stelle ! 1896 würdigte Sokolowski sie noch
nicht ; er führte sie an (a. a. 0. S. 282 A. 2), aber nur für den Recbts-
satz, daß ein Silber -Vermächtnis auch > factum argentum« omfafit,
während das Marmor -Vermächtnis nur auf Unverarbeitetes gebt,
nicht aber für die von Paulus dazu gegebene, technisch philosophische
Begründung: >cutu5 haec ratio tradituTy quippe ea^ quae talis naturae
sint, ut saepiiis in 8ua redigi possint initia, ea materiae potentia viäa
numquam vires eius effugiani.t Hier scheint in der Tat die Form-
gebung als Verbindung zweier Körper aufgefaßt zu werden.
Aber auch über die Spezifikationsfrage hinaus scheint mir die
Stelle nach doppelter Richtung lehrreich.
Einmal für das Verhalten der Kompilatoren. Diese ausführlichste
und prinzipiellste philosophische Ausführung zur Eigentumslehre steht
im Vermächtnisrecht versteckt ; sollten in den für die Eigentomstitel
(D. 6,1; D. 41, 1} ausgebeuteten klassischen Büchern nicht ähnlich
ausführliche Darlegungen gestanden haben? Dann sind sie eben
dort als superflua, frivola, ridicula, wie Justinian zu sagen liebt,
gestrichen worden, während hier im Vermächtnisrecht ond in
einem überlangen (B. 30—32: de legatis) und nach mancherlei
Spuren auch überhasteten Titel diese Ausführung durchschlüpfte.
Dies berechtigt zu der Vermutung, daß die Kompilatoren gerade von
solchen grundsätzlichen, philosophischen Darlegungen viel gestrichen
haben werden, die philosophischen Einflüsse also bei den SJassikem
selbst (oder doch bei manchen Klassikern) noch viel ausgedehnter
und bedeutungsvoller waren, als die Pandekten sie jetzt zeigen.
Sodann wirft diese philosophisch-technische Darlegung ein neoes
und helles Licht auf ihren Verfasser Paulus, den Jhering als >wü8ten
Fanatiker im Konstruieren«, als Begriffisijuristen und >Pnchta des
Altertums« verspottete. Jhering konstatierte mit Recht seine auf-
fallende Abneigung gegen das positive Moment im Recht, die ihn
z. B. gesetzliche Neuerungen unter Totschweigung des Gesetzes (lex
Scribonia) als begrifflich notwendig darlegen läßt. Dies erscheint
nun nicht mehr als Folge bloß persönlicher Anlage, sondern als das
Ergebnis intensiver philosophischer Schulung und Betätigung.
Genau so untersteht er dem Einfluß »philosophischer Zwangs-
vorstellungen«, wenn er den Satz ytabtdam picturae cedere* verwirft»
p. Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht 407
weil > streng stoisch gedacht« dem Bilde als solchem keine Realität
zukommt (S. 168—174). Hier findet Sokolowski scharfe Worte gegen
die in der Tat fast kindlichen Ausführungen Neuerer: »daß schon
die klassischen Juristen eine gewisse Vorstellung vom Werte jeder
produktiven Kunst gehabt hätten — wie wenn es gälte die ersten
Anfänge der Civilisation bei Zulukaffern und Buschmännern festzu-
stellen«. — Und sehr richtig, gegenüber manchen neueren Aus-
fährungen geradezu erlösend, betont er, daO >der klassische Jurist
weit mehr als universeller Denker, denn als Rechtspraktiker« »künst-
lich Tatbestände konstruierte, die in der Praxis der Gerichte vielleicht
gar keine Rolle spielten, um nach dem Vorgange der Philosophen
an der Hand jener Schulbeispiele leitende prinzipielle Sätze zu er-
örtern«. — Auch daß sie die typischen Schulbeispiele der Philosophen
unverändert beibehalten, selbst wenn sie juristisch gar nicht passen,
ist eine vielsagende und durchaus zutreffende Wahrnehmung (S. 118f.:
als Beispiel der Sach Verbindung die caementa, ungeachtet des für
sie bestehenden positiven Sonderrechts des tignum iunctum ; als Bei-
spiel für das corpus ex distantibus in der Us ukap ions lehre: po-
pulns, legio!).
Paulus war also wirklich > vielleicht mehr stoischer Philosoph,
als Jurist«, aber Philosophen (oder Philosophen schule r) waren doch
auch seine mehr juristischen Kollegen. So z. B. sein Zeitgenosse,
der »Deipnosophist« Ulpian, der auch mehrfach technisch-philosophische
Erörterungen bietet, vor allem in D. (18, 1) 9 § 2 — Kauf von Essig
statt Wein — die berühmte o&oia- Erörterung. Gegen Sokolowskis
Erklärung der Stelle (S. 239 ff.) beruft sich Ehrlich (studi in onore
di V. Scialoja 1904) auf D. (33, 6) 9 pr. etc. über das Vermächtnis
von Wein ; aber mit Unrecht , da nach der hier geübten Auslegung
des Testator -Willens das legatum vini alles von ihm >vini numero<
gehabte umfassen soll, also außer Essig, auch Bier. Dies aber fällt
natürlich nicht unter die eadem prope ohoia jener Ulpianstelle. Ana-
logien vom Vermächtnisrecht für andere Rechtsgebiete sind eben
immer bedenklich und trügerisch. So wohl auch bei Sokolowski
selbst die Verquickung von eigentumsrechtlichem »rei cederet und
erbrechtlichem >legato cedere«, auf der seine Accessionstheorie
(S. 114 ff.) im wesentlichen beruht.
Sokolowskis Buch ist im Verhältnis zu seiner Bedeutung bisher
wenig besprochen worden, das scheint die resignierte Voraussage des
Vorworts zu bestätigen, welches >in erster Linie auf das Interesse
philosophischer Spezialistenc hoffte, auf >die Teilnahme der Juristen«
dagegen >nur ausnahmsweise, oder doch erst in späteren Zeiten . . .,
wenn wieder einmal jenes Mistrauen gegen die Macht der Ideenwelt,
408 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 5
welches unsere Tage als vorübergehende Erscheinung kennzeichnet,
überwunden sein wird«.
Indes jenes Versagen vieler Rezensenten erklärt sich genügend
durch das Zurückhalten mit kritischem Urteil bei einem fortgesetzt
über die Fach- und Fakultätsgrenzen hinausgreifenden Thema, denn
mehrfache Stellungnahmen zu dem Buche zeigten, daß es schon jetzt
gewürdigt wird. Und bei der unverkennbaren Neubelebung der
romanistischen und gleichzeitig der rechtsphilosophischen Studien
ist zu hoffen, das diese für die Entwickelung des Rechts und der
Philosophie gleich bedeutenden Probleme auf Sokolowskis Sparen zahl-
reiche Bearbeiter finden werden. Für das moderne Recht wird da-
durch immer deutlicher die absolute Verschiedenheit in Voraussetzungen
und Mitteln hervortreten zwischen unserer naturwissenschaftlich-
empirischen Rechtsbehandlung und der naturphilosophisch-spekulativen
der Römer. Die vielfach noch im BGB. fortwirkenden Reste jener an-
tiken Auffassung (die wesentlichen Bestandteile, Eigenschaften
U.S.W.) sind leere Gespenster, die um so gefährlicher sind, als uns
die geschmeidige, römische condemnatio pecuniaria abgeht. Welch
verhängnisvolle, gradezu ungeheuerliche Wirkung diese toten, natur-
philosophischen Dogmen ausüben, das wurde neuestens für eines
davon unter teilweiser Anlehnung an Sokolowskis Buch zahlenmäßig
dargelegt. ^)
Münster i. W. H. Erman
Theodor Mommsen, Gesammelte SchrifteD. I. Abteüang: Juristische
SchriftBD. I. Band mit Mommsens Bildnis und zwei Tafeln. VI, 479 S.
II. Band mit zwei Tafeln. VIII, 459 S. Berlin, Weidmannsche Bachhandlong,
1905.
Der Wunsch nach einer Sammlung von Mommsens in so vielen
Zeitschriften verstreuten kleineren Schriften war wohl schon bei
manchem wach geworden, ehe der Meister der Altertumsforschung
selbst ihn empfunden. Otto Hirschfeld berichtet uns über die Ent-
stehungsgeschichte der anzuzeigenden Sammlung im Vorworte des
ersten Bandes, daß Mommsen bereits mehrere Jahre vor seinem Tode
mit der Absicht umging, >die ungeheure Masse seiner weitzerstreuten
Abhandlungen gesammelt und gesichtet herauszugebenc. 1902 hatte
er selbst mit der Sammlung der Juristischen Schriften begonnen und
Bernhard Kubier als Mitarbeiter für diese Sammlung gewonnen. In
seinem aus demselben Jahre datierten Testamente bat er Otto Hirschfeld
und Karl Zangemeister für den Fall, das ihm die Arbeit selbst zu
1) Von Krückmann, Wesentlicher Bestandteil a.8.w. 1906, S. 64f.
Mommsen, Juristische Schriften. I. 11 409
tan nicht mehr vergönnt sei, sie nach seinem Tode zu verrichten.
Zangemeister starb vor Mommsen, so blieb Hirschfeld allein die
Aufgabe fQr die Vollstreckung des letzten Willens zu sorgen. Wenn
die Herausgabe der Schriften Bernhard Kubier übernahm, so ist
damit nicht bloß vom objektiv wissenschaftlichen Standpunkte die
Arbeit in die besten Hände gelegt, sondern auch der subjektive
Wille des Testators erfüllt, wie er denselben in der Annahme von
Kühlers Mitarbeit zum Ausdrucke gebracht. Hirschfeld, Dessau, Mitteis
und Wilcken haben bei der Drucklegung unterstützend mitgewirkt:
Namen, die den Fortbestand von Mommsens schönstem Vermächtnis
bezeugen, der Vereinigung von Philologie und Jurisprudenz, die der
Tote in seiner Person verkörpert hatte.
Die Juristischen Schriften sind schon von Mommsen auf drei
Bände berechnet worden. Der erste sollte die von Mommsen be-
handelten antiken Oesetzestexte mit den Kommentaren enthalten, der
zweite »die Abhandlungen über römische Juristen und römische
Gesetzbücher«, der dritte die > sonstigen Beiträge zur römischen
Rechtsgeschichte«. Mit dem Drucke des ersten Bandes war im
November 1902 begonnen worden, aber körperliche Schwäche und
die Mommsen dringender scheinende Fertigstellung des Theodosianus,
die er ja auch nicht mehr erleben sollte , brachten den Druck bald
ins Stocken. Nach seinem Tode hat Kubier das Werk so rasch ge-
fördert, daß schon im November 1904, ein Jahr nach Mommsens
Tod, Hirschfeld die Vorrede zum ersten Bande unterzeichnen konnte
und wiederum ein Jahr später, Oktober 1905, Kubier selbst das
Vorwort des zweiten Bandes. Es ist nicht alles unverändert zum
Abdrucke gekommen, so wie es Mommsen beim ersten Erscheinen
der Abhandlungen geschrieben hatte. Er selbst hatte die Absicht
ausgesprochen. Fehlerhaftes und Beseitigtes zu korrigieren, sowie die
Literatur, soweit sie von Bedeutung sei, bei den einzelnen Abhand-
lungen zu registrieren. Dies sowie die Nachprüfung und Umschrift
der Quellen nach den kritischen Ausgaben neuesten Standes war für
den Herausgeber keine kleine Aufgabe. Aber schon Mommsen selbst
hatte zahlreiche Zusätze in späteren Jahren seinen Aufsätzen bei-
gefügt. Auch diese muüten Berücksichtigung finden. So sind die
Abhandlungen denn alle in dem uns gewohnten neuesten Gewände
erschienen und so tritt zu dem großen Vorteil, den die Form der
Sammlung fur die Benutzung überhaupt bietet, noch der Vorteil
hinzu, überall über den neuesten Quellen- und Literaturstand unter-
richtet zu sein.
Die Inhaltsverzeichnisse der vorliegenden zwei Bände zeigen,
dafl der Herausgeber Mommsens Absicht, von wenigen notwendig
410 Göti gel Anz. 1906. Nr. 5
gewordenen Ergänzungen abgesehen, genau entsprochen und daß er
den Tendenzen des Toten überall treu geblieben ist. Die Aufgabe,
ein solches Sammelwerk anzuzeigen, ist keine ganz einfache. Der
Referent befindet sich da in einer eigentümlichen Lage. Wieviel
lernt man doch aus dem erneuten Studium von Mommsens Aufsätzen
und wie wenig hat man dazu zu sagen. Wer eine Monographie zu
besprechen hat, wird vielleicht durch großzügige oder detaillierte
Inhaltsangabe, je nachdem es der Zweck erfordert, eine dankenswerte
Aufgabe erfüllen. Er kann damit jenem einen Dienst erweisen , der
sich über den Inhalt eines seinem Studiengebiete nicht unmittelbar
naheliegenden Buches informieren will, damit er wisse, was dort zu
finden ist, was nicht. Er kann schlimmstenfalls jenen einen Gefallen
tun, die nach der Lektüre des Referats nicht mehr zur Lektüre des
Buches greifen. Aber welcher Altertumsforscher kennt und benutzt
nicht tagtäglich Mommsens Werke von den großen Gesamtdarstellungen
an bis zu den kleinsten, wenige Seiten umfassenden Aufsätzen ? Und
wer vermöchte es, den alten Meister an knapper Darstellung zu über-
treffen und aus seinen Schriften Auszüge zu machen, da doch darin
so oft der reiche Inhalt die enge Form zu sprengen scheint? So
bleibt nicht viel anderes übrig, als das Inhaltsverzeichnis wiederzu-
geben und hier und da eine Randglosse zu verzeichnen, die man
sich beim Studium gemacht hat.
Der erste Band enthält Mommsens Kommentare zur lex repe-
tundarum, zur lex agraria, zur lex municipii Tarentini in lateinischer
Sprache, Abdrücke aus dem Corpus und der Ephemeris, dann den
Kommentar zum rubrischen Gesetzesfragment aus Bekker und Muthers
Jahrbüchern des gemeinen Rechts (1858), einer Zeitschrift, die auch
sonst wiederholt mit Mommsens Aufsätzen geschmückt ward, femer
den Kommentar zum atestinischen Fragment (Hermes 1881), einer
Bronzetafel, die Mommsen bekanntlich als Bruchstück des rubrischen
Gesetzes angesprochen hat. Auf Bedenken gegen diese Annahme
haben verschiedene Gelehrte hingewiesen: Kariowa, Rom. Rechta-
geschichte I 442, in besonderen Abhandlungen Esmein, Melanges
d'histoire et du droit et de critique (1886) p. 269 ss. und Appleton,
Revue gön^rale du droit (1900) p, 193 ss., Krüger, Gesch. d. Quellen 73,
Kipp, Quellenkunde^ 39 und Girard, Textes' 76 s. haben sich diesen
Bedenken angeschlossen. Kühler hat es unterlassen, seine eigene
Rezension über Appletons Schrift in der Z. Sav. Stift. 22, 200—204
im Literaturzitate bei Mommsen S. 175 zu erwähnen. Ich möchte
diesen Hinweis hier nachtragen, weil Kubier nicht bloß Appletons
Arbeit gewürdigt hat und ihr in alle feinen Details gefolgt ist, sondern
weil er auch selbst manche wertvolle Bemerkung in anspruchloser
Mommsen, Jaristische Schriften. I. n 411
Form eingefügt hat. Mommsen bat an seiner Ansicht fiber die
> wahrscheinliche« Zusammengehörigkeit des atestinischen mit dem
veleiatischen Fragment der vierten Tafel des rubrischen Gesetzes
festgehalten, woffir die kurze Abhandlung im Bormannheft der Wiener
Studien zeugt, die nunmehr S. 192 f. abgedruckt ist. Es folgt die
zuerst in der Ephemeris erschienene, mit ausführlichem sprachlichen
und sachlichen Kommentare in lateinischer Sprache versehene Aus-
gabe der lex Coloniae Juliae Genetivae (Ursonensis) , sowie aus den
Abh. d. Sachs. Akad. (1855) die bekannte Abhandlung über die
Stadtrechte der latinischen Gemeinden Salpensa und Malaca in der
Provinz Baetica. Das Wichtigere der seither zu diesen Munizipal-
gesetzen erschienenen Literatur ist S. 267 in der Note * zusammen-
gestellt. Mommsen selbst hat gerade hier durch eine zahlreiche
Anzahl von Zusätzen den Aufsatz erweitert (S. 282^). S. 327 f. N. 129
polemisiert er in einer seine frühere Anmerkung vervollständigenden
neu hinzugefügten Ausführung gegen die »Behauptung, daß die legis
actio ausschließlich dem römischen Bürger zugestanden habe und den
Peregrinen ausschließe«. Mommsen vertritt, wie auch schon früher,
die Ansicht, daß die Legisaktionen durch magistratisches Imperium
auf die Peregrinen erstreckt worden seien. Er führt für sich an,
daß beim Diebstahl der Bestoblene wie der Dieb vor demselben
Praetor erschienen, ob sie nun Römer oder Peregrinen gewesen, und
daß >die beiden ältesten und hauptsächlichsten Formen der Legis-
aktionen, die Prozeßbuße wie der Handgriff, nicht spezifisch nationalen
Charakter an sich tragen, sondern allgemein anwendbar sind.« Daraus
folgert er, daß die Nichterstreckung der Legisaktionen auf die Pere-
grinen »geradezu undenkbar« sei. Aber weder dieses noch eine
Reihe anderer Argumente, die Mommsen anfuhrt, scheinen mir gegen
das von Wlassak über die rein bürgerliche Natur der Legisaktionen
wiederholt Ausgeführte den Ausschlag geben zu können (vgl. Wlassak,
Prozeßges. II, 86 ff., Pauly-Wissowa I, 303), und wenn Mommsen in
derselben Note die Frage dahingestellt läßt, ob die nach seiner An-
schauung zulässige Uebertragung der Legisaktionen auf Peregrinen
einfach dadurch geschah, >daß der Praetor die an sich auf den
Bürger gestellte Formel kraft seines Imperiums auch von dem Pere-
grinen vorbringen ließ, oder ob man, wie es später im Formular-
prozeß geschah, in einer diesen Ordnungen entsprechenden Weise den
Peregrinen durch eine Fiktion des Bürgerrechts prozeßfähig machte
(Gai. 4, 37)<, so würde die letztere Alternative ja für die zivile
Natur der Legisaktion sprechen. — Durch die gelegentlich in papy-
rologischen Aufsätzen angeregten Fragen über das Vormundschafts-
recht im römischen Aegypten sind die über die Vormundsemennung
412 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
nach den Stadtrechten von Salpensa nnd Malaca (S. 330 ff.) gegebenen
Ausführungen vom neuen in den Vordergrund des Interesses gerückt
worden. Die für Aegypten zwischen H. Erman und anderen strittige
Frage ist die, ob der Strateg im eigenen Wirkungskreise die Vor-
mundsemennung veranlassen konnte. Erman hat in einem bei
Mommsen (N. 137 a. E.) zitierten Aufsatze diese Frage bejaht und
ist für die munizipale Vormundsbestellung und infolgedessen für die
analoge Kompetenz des Strategen hierzu eingetreten. Aber schon
Mommsen hat bemerkt, daß die Quellen sich nicht genau ausdrücken,
sondern bald von statthalterlicher, dann aber auch von munizipaler
Vormundsernennung sprechen. Zu letzteren Quellen gehört vor allem
die Hauptbeweisstelle für Erman, Ulp., Dig. 26, 5, 3 : ius dandi tutores
datum est omnibus magistratibus municipalibus eoque mre
utimur. Mommsen löst die anscheinende Zwiespältigkeit der Quellen
dadurch, daß >nach dem julisch-titischen Gesetz in den Provinzen
die Statthalter jeden Vormund ernannten, natürlich gewöhnlich nach
Vorschlag (nominatio) der betreffenden Gemeindebeamten<, daß femer
»zur Abkürzung der Sache nachher den Gemeindebeamten bei ge-
ringeren Sachen die Ernennung geradezu überlassen wird (Inst 1,
20, 4. 5), daß aber die formelle datio dennoch virtuell als eine nomi-
natio betrachtet ward.« Und gerade diese Lösung des Problems
bestätigen, glaube ich, nunmehr die Papyri. Die beiden hier haupt-
sächlich in Betracht kommenden Quellenstellen sind ein Genfer Papyms
Nicoles, den Wilcken (Arch. f. Pap.-Forsch. III, 368 ff.) neupnbliziert
hat und der von Grenfell - Hunt (Arch. Ill, 61 ff.) ebenfalls nen-
publizierte, von P. M. Meyer eingehend besprochene Pap. Cattacoi
Verso. In beiden Texten übt der Strateg eine Ingerenz auf die
Vormundschaftsernennung aus und der Zusammenhalt beider Texte
zeigt, daß geradeso wie die römischen Quellen auch die Papyri sich
nicht ganz präziser Ausdrucksweise für diese Ingerenz bedienen.
Der Pap. Nicole ist von Wilcken auch in sachkundiger Weise inter-
pretiert worden. Danach hatte die Mutter Petronilla >nach dem
Tode ihres Mannes zwei Männer zur Tutel für ihren unmündigen
Sohn L. Herennius zur Auswahl vorgeschlagen (II, 18 t<o6>c &[«4]
— üetpcövlXXTfjc — av[a]8[o]*^VTa(; sie rJiv lictTpoTnJv)« (Wilcken S. 376).
Dieser Vorschlag war an den Juridicus gerichtet, der nun seinerseits
beim Strategen des Domizils der Petronilla anfragen ließ, welcher
von beiden der äiSiomoTÖTspoc sei. Vergleiche dazu die causae cognitio
über die Tauglichkeit des vorgeschlagenen Vormunds bei Mommsen
S. 334. Der beauftragte Strateg ersuchte nun seinerseits den Strategen
des Domizils der beiden Vorgeschlagenen um die Auskunft, welche
dieser an den Stadtschreiber zur Beantwortung weiterleitete. Im
Mommsen, Juristische Schriften. I. II 418
umgekehrten Weg gelangt die Antwort an den Juridicus zurück.
Hier hat also der Strateg bei der Vormundsbestellung nur ganz in-
direkt mitgewirkt. Anders im Pap. Gatt. Da ist seine Tätigkeit
eine weitergehende. Der Juridicus erklärt (II, 17flf.): Tpd^tA tip too
vo|i[oo atpaxiQ'jfjcp iva toig iraiSioig Sbo inl[xponoi] diroxataoTad'iooi und
weiter (III, 9 ff.) heißt es: Xsipotovyjd'ifioovTai 8h Ivt&c x il)|i6p(bv oici
too otpanjifoö (too) vo(ioö xal (teta rijv xsipotoviav xtX. Der Strateg
hat hier also allerdings den Tutor zu erwählen (xsipotoveiv), aber er
tut dies nur auf Befehl des Juridicus hin als dessen Delegat, wie
denn der Juridicus wiederum als Delegatar des Praefekten handelt.
Zum Terminus xsipotovsiv vgl, P. M. Meyer, a. a. 0. 105. Also wohl
auch in den Papyri die Inkompetenz der Lokalmagistratur zur Vor-
mundsernennung trotz faktischer Einflußnahme auf dieselbe : ein ganz
ähnliches Ergebnis wie für Rom. Und so trifft das von Erman an
einer anderen Stelle (Z. S.-St. 22, 248 f.) über die Analogie der Tätig-
keit der Strategen zu der der Duovirn in diesem Punkte Gesagte, aller-
dings in einem anderen Sinne, als es Erman meinte, doch zu. Datio und
nominatio sind eben nicht genügend genau auseinandergehalten worden
(Mommsen S. 335 N. 148. 331 N. 137) und es mögen wohl in der
Tat Schwankungen vorgekommen sein. — Daß durch staatsrechtliche
Mandierung der Gewalt nicht Stellvertretung im juristisch - privat-
rechtlichen Sinne erzeugt wird, sondern Ersatz für den nichthandelnden
Beamten durch einen anderen ohne die Merkmale der Stellvertretung
— Wirkung der Vertreterhandlung, als ob sie der Vertretene selbst
vollzogen hätte, Berechtigung und Haftung dieses letzteren — ,
darüber wird ausführlich im ersten Abschnitte eines bald erscheinenden
Buches über die Stellvertretung im Rechte der Papyri gehandelt
werden. Dasselbe gilt auch für die Mandierung der Gewalt nach
den Kapiteln 25 und 26 des salpensanischen Gesetzes (Mommsen
S. 336) und für die Stellung des praefectus duoviri (S. 339 ff.). Aus
dem privatrechtlichen mandare darf darum meines Erachtens auf das
staatsrechtliche kein Analogieschluß gezogen werden (näher ausge-
führt a. a. 0.). Als Organ der Gemeinde in vermögensrechtlichen
Angelegenheiten derselben erscheinen die actores municipum, die
Illviri ad publicam causam agendam oder auch patroni causae
(S. 343f.), die Prozeßführung übernimmt aber stets ein einzelner. So
gewiil richtig Mommsen S. 344 N. 178. Einen Beleg für die Tätig-
keit der Aktoren in einem Grenzprozesse zwischen der Commune
Histonium und einem Privatmanne, wobei denn der Einzelne,
M. Paqulus Aulanius als actor municipi Histoniensium die Gemeinde
als Prozeßpartei vertritt, bringt eine Inschrift aus dem Gebiete dieser
Stadt, die Mommsen im Anhang an die Abhandlung über die Stadt-
414 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 5
rechte wieder publiziert und kommentiert hat (S. 374 — 378). Vgl
auch S. 344 N. 180. — Das große Material, das sich nunmehr aus
den Papyri zur Eutwickelung der römischen Eidesformel (lex Salp.
25. 26, Mal. 59, Mommsen S. 351 f.) ergeben hat und das die Beein-
flussung Roms durch den Hellenismus in diesem Punkte deutlich
macht, habe ich, soweit es damals bekannt war, Z. S.-St. 23, 239 ff.
zusammengestellt. Seither ist auch hier manch Neues hinzugekommen,
ohne indes die dort (S. 244 f.) gegebenen Grundlinien der Entwickelang
zu verändern. — Die Ausführungen über die Popularklagen (S. 352 ff.)
haben nur eine Erweiterung und Bestätigung in dem Aufsatze über
dieses Thema gefunden, der kurz nach Mommsens Tode als posthumes
Werk in der Z. S.-St. 24, 1 ff. erschienen ist. — Die Frage des domi-
nium litis des prozessualen Stellvertreters (S. 356 , N. 26) ist jetzt
von Koschaker, Translatio iudicii 119 ff. einer genauen Durchsicht
unterzogen worden. — Der Praes steht in neuester Zeit wieder im
Vordergründe rechtshistorischer Diskussion. Das letzte Wort hat zor
Zeit Schloßmann, Praes, vas, vindex (Z. S.-St. 26, 285 ff.). Ich will
hier nur auf einen Punkt hinweisen, den Mommsen in der Behand*
lung der Kautionen praedibus praediisque (S. 357 ff.) deutlich hervor-
gekehrt hat. Wenn die Schuld, für die der Praes die Bärgschaft
übernommen, nicht eifüllt wird, so geht >die Gemeinde nicht an den
Hauptschuldner, sondern unmittelbar an den Praes < (S. 361). N. 41
verweist Mommsen hierzu auf den > Eigentumsprozeß, wo der ob-
siegende Teil, wenn er die Sache nicht zurückerhält, gar gegen den
Unterliegenden nicht klagen konnte, sondern nur gegen die praedes
litis et vindiciarum (Gai. 4, 16. 94) c Ferner sind dort andere Quellm
zitiert, die beweisen, »daß das praedes dare der Zahlung vollständig
gleichsteht und den Schuldner befreit<. Ja es ist gerade >die
ältere Ordnung, welche den eigentlichen Schuldner nur auf einem
Umwege der Verpflichtung unterwarft (S. 369). Darauf sei zu und
gegen Schloßmanns Bemerkung (a. a. 0. S. 296, Anm. 1 ex 294)
verwiesen, welcher Gelehrte meint, >daß aber in irgend einem Rechte
die Haftung des Bürgen jemals die prinzipale, die des Hauptschuldners
die subsidiäre gewesen wäre, dafür läßt sich schwerlich ein Beispiel
anführen«. Sachlich ist also die Deutung des praes als des >in
erster Linie vor dem Schuldner haftenden Bürgen« (a. a. 0. 295)
gewiß nicht a priori abzulehnen. Auf das schwierige auch die Schuld-
und Haftungsfrage im römischen Recht betreffende Problem selbst
kann hier im Vorbeigehen natürlich nicht eingegangen werden. Auf
die sprachliche und sachliche Analogie der in den Papyri vor-
kommenden YvcAGtfjpsc zu den cognitores praediorum hat Mitteis bei
Mommsen S. 368 N. 54 b aufmerksam gemacht. Die Vermutung, daß
Mommflen, Jnristische Schriften. I. 11 415
das Verschwinden der praedes sich vielleicht einfach daraus erkläre,
daß in der Kaiserzeit an Stelle des aerarium allmählich der fiscus
getreten ist und dieser, »der bekanntlich dem Privatrecht und dem
Privatprozeß unterlag, dementsprechend stets die Bürgschaft in privat-
rechtlicher Form sich hat stellen lassen c, ist von Mommsen neu ein-
gefügt (S. 369). Es wäre dies eine interessante Parallelerscheinung zur
Ersetzung des vindex der klassischen Rechtssprache durch den fide-
iussor iudicio sistendi causa datus in Justinians Digesten, also gleich-
falls der Ueberleitung eines besonders gearteten Bärgschaftsverhält-
nisses in das der gewöhnlichen Stipulationsbürgschaft. Allerdings
ganz trifft auch dieser Vergleich nicht zu. Der praes wird nach
Mommsens Hypothese ein gewöhnlicher Bürge, der vindex dagegen
wird nur darum später als fideiussor bezeichnet, weil sein Ver-
sprechen in die Form einer (entarteten) Stipulation gekleidet wurde.
Mommsen hat allerdings diese (Rechtsh. Papyrusstud. 38 ff.) aus der
juristischen Struktur einiger Gestellungspapyri gewonnene Hypothese
für unwahrscheinlich erklärt (Z. S.-St. 23, 353^ ex 352), aber gerade
durch diese seine eigene Hypothese über die Ersetzung des praes
durch den einfachen Bürgen scheint sie mir eher eine Stütze er-
halten zu haben.
In einem Anhange zu den Stadtrechten ist der Schiedsspruch
von Histonium publiziert (S. 374 ff.), eine Inschrift, auf die bereits oben
verwiesen wurde ; dann ist aus dem Inschriftenkorpus die Publikation
und der Kommentar zur Sententia Q. M. Minuciorum inter Genuates
et Viturios wiederholt (S. 383 ff.), ein von Senatskommissären zwischen
Qenua und dem Dorf derViturier gefällter Schiedsspruch. Es folgen
die in den Abb. Bert. Akad. 1863 erschienenen zwei Sepulkralreden
aus der Zeit Augusts und Hadrians. Gegen die Beziehung der
ersteren auf Turia, die Gemahlin des Konsuls Q. Lucretius Vespillo
haben Vaglieri und Hirschfeld in den S. 395'*' angeführten Abhand-
lungen sich ausgesprochen.
Den Beschluß des ersten Bandes machen die dem Papyrologen
wohlbekannten Kommentare ägyptischer Papyri vornehmlich erbrecht-
lichen Inhalts. Zunächst das ägyptische Testament vom Jahre 189
n. Chr. (BGU 1 326) aus den Sitz.-Ber. Berl. Akad. 1894 und mit
korrigierter Lesung aus Z. S.-St. 16, 198 ff. Hierzu nur die eine Be-
merkung, daß der x6pioc doch auch für den Geschlechtstutor der
Bömerinnen wiederholt in den Papyri belegt ist, was Mommsen S. 434
bezweifelt. Ich erinnere nur an den unzweifelhaften Fall aus der
Zeit nach der Constitutio Antonina Grenf. II 69 (anno 265 n. Chr.),
wo die Schuldnerin Aurelia Senosiris aeta xopCoo handelt. Aber es
fehlt nicht an anderen Quellenbelegen, die in meinem Buche über
416 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 5
die Stellvertretung zur Erörterung kommen werden. Demselben
Sprachgebrauche entspricht übrigens auch das xpiQC^'^^Cetv x^P^^ xopfa»
xata ta Ta>|ia(o>v S^y] t§xva>v Sixaicp z. B. B6U IQ 920 (anno 180/1
n. Chr.). Es fogt der ägyptische Erbschaftsprozeß aus dem Jahre
124 n. Chr. (CPR 1 18) aus der Z. S.-St. 12, 284 ff. und der ägyptische
Erbschaftsprozeß vom Jahre 135 n. Chr. (BOU 119) aus derselben
Z. S.-St. 14, 1 ff., sowie der Aufsatz »Aegyptische Papyric (Z. S.-St
16, 181 ff.) mit den beiden Abteilungen I. der ägyptische icpoooSo-
iroiöc und IL die zehn- und zwanzigjährige Verjährung. Der Au&ats
über den irpoooSonoi&c knüpft an B6U II 338 (Ende des zweiten Jahr-
hunderts) an. Zu den in dieser Urkunde genannten Freilassungen
bemerkt Mommsen (S. 474^) mit Recht, daß die Akte, da der Frei-
lasser Römer war, nach römischem Recht beurteilt werden müssen.
Wenn Mommsen aber weiter die im Papyrus genannte Urkunde auf
ein Beweisdokument über Vindicta-Freilassung beziehen zu müssen
glaubt, und dies damit motiviert, daß »soviel wir wissen, wenigstens
um diese Zeit die bloße Ausstellung einer Urkunde für die Frei-
lassung nicht genügen konnte«, so hat demgegenüber Wlassak in
seiner Untersuchung über die prätorischen Freilassungen (Z. S.-St
26,420^) auf ein zuverlässiges Zeugnis über die Zulässigkeit der
prätorischen Freilassung per epistulam aus dem zweiten Jahrhundert
im Ps. Dosith. 15 hingewiesen und darum mit Recht gefolgert, daß
die Manumissionen des Papyrus nicht notwendig Stabfreilassnngen
und die erwähnten Urkunden nicht notwendig bloße Beweisdokn-
mente gewesen sein müssen. Der Aufsatz über die Veijährong be-
trifft BGU 1 267, einen Erlaß der Kaiser Severus und Antoninus vom
29. Dezember 199.
Der zweite Band umfaßt »die Arbeiten über Juristenschriften
und Gesetzbücher c. Die Entstehungszeit der einzelnen Aufsätze liegt
auch hier weit auseinander. Der Aufsatz über die Wiener Frag-
mente von Ulpians Institutionen (Nr. VIII) ist 1850 im 15. Bd. der
Zschr. f. gesch. Rechtswiss. erschienen, der Aufsatz über die Sanctio
pragmatica (Nr. XXXIV) fand sich in Mommsens binterlassenen Pa-
pieren vor »und ist, wie die Schrift zeigt, wohl erst kurz vor seinem
Ende geschrieben wordene Von den biographischen Arbeiten zu
den römischen Juristen Salvius Julianus, Sextus Pomponius, Gains,
Papinian ist die bekannteste und am meisten erörterte die über
Gains (S. 26 ff.), zuerst in Bekker und Muthers Jahrb. 1859, 1 ff. er-
schienen. Mommsen kommt in seinem Aufsatze über Julians Digesten
(Zschr. f. Rechtsgesch. 9, 82 ff.) noch einmal auf die Frage zurück,
besonders um seine These gegen Huschke zu verteidigen (S. 19^.
Er ist auch durch den seither von vielen und gewichtigen Stimmen
Ucmamtn^ Juristische Schriften. I. II 417
verstärkten Widerspruch (S. 26*) in seiner Ansicht nicht wankend
geworden, wie der unveränderte Abdruck des Aufsatzes sowie der
Bemerirang S. 20 zeigt, daß er diese Behauptung > soweit aufrecht zu
hüten sich getraue, wie überhaupt ein Indizienbeweis sich aufrecht
erhalten lißt«. Unter den Aufsätzen über die Juristenschriften und
deren Verarbeitung im Digestenwerke Justinians nimmt der bekannte
vor nicht langer Zeit erschienene Aufsatz (Nr. XIII S. 97 fif.) Hof-
mann versus Blume (Z. S.-St. 22, 1 ff.) ein hervorragendes Interesse
f&r sich in Anspruch.
Die Zusammenstellung führt deutlich die große Anzahl von Auf-
s&tien vor Augen, die Mommsen über das kaiserliche Recht
geschrieben hat. Schon 1859 ist eine kleine Abhandlung über eine
fränkische Interpolation im Theodosischen Kodex erschienen (Bekker
und Huthers Jahrb. 1859, 454 ff.) (S. 408 f.), 1862 hat sie Mommsen
in derselben Zeitschrift (V, 129 ff.) verteidigt (S. 410 f.) und 1900 er-
schienen in der Zeitschrift S.-St. 21, 149 ff. unter dem Titel >Das
Theodorische Gesetzbuch« (S. 371 ff.) jene Prolegomena zur kritischen
Ausgabe des Theodosianus, die Mommsens letzte Arbeits- und Lebens-
zeit in Anspruch genommen und die selbst erscheinen zu lassen ihm
nicht mehr vergönnt war. — Eine der umfangreichsten Abhand-
lungen ist die über die Zeitfolge der Verordnungen Diokletians und
seiner Mitregenten (Abh. Beri. Akad. 1860, 349 ff.) (S. 195—291). Mit
Recht hat Kubier schon im Vorwort (S. VI) auf diese Abhandlung
verwiesen, nicht bloß als ein Zeugnis größter Gelehrsamkeit, sondern
auch vor keiner Schwierigkeit und Mühe zurückschreckenden Forscher-
triebs. — Wie wenig Mommsen sich mit der einmaligen Bearbeitung
einer Frage zufrieden gab oder etwa, selbstgefällig davon Abschied
nehmend, auf dem einmal Gesagten beharrte, zeigt unter anderem
die wiederholte Behandlung von Diokletians Edikt über die Waren-
preise: Nr. XXII (S. 292 ff.) aus den Ben sächs. Ges. d. Wiss. 1851, 1 ff.,
Nr. XXII^ (S. 312 ff.) aus demselben Jahrgange dieser Zeitschrift
383 ff., Nr. XXIP (S. 323 ff.) aus Hermes 25, 17 ff. (1890). Aber
Mommsen hat sich, wie die Literatur über diese Frage S. 323* aus-
weist, noch an zwei anderen Orten damit befaßt.
Gordians Dekret von Skaptoparene (Z. S.-St. 12, 244 ff.) (S. 172 ff.)
gibt den Anlaß zu den bekannten und wertvollen Erläuterungen über
die Ausfertigung kaiserlicher Reskripte mit der Rektifikation in dem
oben genannten Aufsatze über die Verjährung (Bd. 1, 478 f.). Zu
dieser Frage ist auch Mitteis, Hermes 30, 612 ff. zu vergleichen.
Mommsen hat hier bekanntlich auf die Bedeutung der offiziellen
Promulgation hingewiesen, die in der Zeit zwischen etwa Hadrian
und Konstantin den Eaiserreskripten gleich kaiserlichen Konstitutionen
418 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
Überhaupt legis vicem verschaffen konnte. Es sind dies Ausführungen,
die sich auch die moderne staatsrechtliche Literatur zunutze machen
kann.
Auch in diesem Bande spielt der Papyrus eine Rolle. Schon
1863 (Bekker und Muthers Jahrb. 398 ff.) hat Mommsen die Frag-
mente zweier lateinischer Kaiserreskripte auf Papyrus (S. 342 ff.)
kritisch behandelt, 1879 bandelt er (Abb. Berl. Akad. 501 ff.) über zwei
vom königlichen Museum erworbene Pergamentblätter aus Aegypten
de iudiciis (S. 68 ff.) und Nr. XVI bringt den Separatabdruck aus
der Berliner Festgabe für Dernburg >Das ägyptische Gesetzbuch«
(S. 144 ff.), einen Aufsatz, der durch die Petition of Dionysia (Pap.
Oxy. II 237, anno 186 n. Chr.) veranlaßt ist.
Fähren die meisten dieser Aufsätze uns in die Zeit des Prinzi-
pats und der Monarchie, so fehlt es auch nicht an Arbeiten, die
Mommsens Forschungen auf frühmittelalterlichem Boden bezeugen.
In dem bereits mehrfach genannten Aufsatze über die Veijährung
berichtigt er seine früher geäußerte Meinung über die den amtlichen
Erlassen häufig beigefügten Formehi rescripsi, recognovi dahin, daß
der Beamte selbst diese Formeln beigefügt. Mommsen kommt zo
diesem Ergebnis auf Grund zweier Papsturkunden aus dem sechsten
Jahrhundert (Bd. 1, 479). Andere Arbeiten, die ins Mittelalter hinein-
führen, sind am Schlüsse des II. Bandes zusammengestellt. Sie sind
meist polemischer Art, gegen Fittings »Juristische Schriften des
früheren Mittelalters« (1876) gerichtet.
Ein Aufsatz in französischer Sprache in den Melanges Boisder
1903 erschienen (S. 141/3) betrifft die lex, d.L die zwölf Tafeln xat'
Hox^"^' In diesem Aufsatze haben wir auch eine wertvolle Aeußerung
Mommsens über die in neuester Zeit von italienischen und franzSsi-
schen Gelehrten aufgeworfene und viel verhandelte Frage über die
Echtheit der Zwölftafelgesetzgebung. Mommsen läßt über seine
Stellungnahme zu diesem Problem keinen Zweifel, wenn er mit Be-
zug auf Girards Verteidigungsschrift (L'histoire des Xn tables; Noov.
r^v. bist. 1902) die Worte spricht: par M. P. Fr. Girard dans am
excellent sauvetage des Douees Tables^ comhattues et malmenees par
notre chere jeunesse, plus eeUe que rifl&chie. In fast monographischer
Breite hat Lenel diese Frage in der Z. S.-St. 26, 498^-524 in einer
Rezension von Lamberts Schriften eben erst besprochen. Auch er
ablehnend. Aber wenn Lenel sich dagegen verwahrt, daß es eine
6cole allemande oder 6cole de Mommsen in dem Sinne gebe, daß
diese die rechtsvergleichende Methode etwa a priori ablehne, so hat
er damit Mommsens wissenschaftliches Testament gewiß im Sinne des
Verstorbenen erfaßt.
MonmneD, Juristische Schriften. I. II 419
Und so dürfen wir, an diese Einzelheit anknüpfend, von Mommsens
Schriften Abschied nehmen, nicht um sie nach eingehendem Studium
beiseite zu legen, auch nicht, um in verba magistri zu schwören,
sondern um sie wieder und wieder zu lesen, Einzelheiten zu er-
gänzen und zu verbessern und aus der Fülle von Mommsens Ge-
dankenwelt stets neue Anregungen zu schöpfen, neue Quellen im
Sinne des Dahingegangenen zu verarbeiten und der antiken Forschung
im gleich lebendigen Sinne fort zu dienen, wie es Mommsen getan.
So werden wir die Zinsen der Dankesschuld abtragen, sie selbst je-
mals zn tilgen vermögen wir nicht, wir wollen es aber auch nicht,
denn sie ist uns eine liebe Schuld und ein teures Vermächtnis.
Qraz Leopold Wenger
Albert Thuik, Handbuch des Sanskrit. Mit Texten und Glossar. Teil 1:
Grammatik. Heidelberg 1905, Carl Winter. XVIII,605S. 14 M. (Sammlon«
indogermanischer Lehrbücher, hrs. von H. Hirt. 1. Reihe: Grammatiken 1).
Dafi die >Sprache der Götter« nicht gerade leicht genannt
werden kann, ist eine bekannte Tatsache, die treffend durch das
den Sanskritisten geläufige Scherzwort illustriert wird, dem zufolge
es keine Sanskritgrammatik geben soll, die nicht die eine oder an-
dere falsche Form enthielte. Das ist nun gewiß übertrieben; aber
ebenso sicher ist es auch, daß keines der bisher veröffentlichten Hand-
bücher des Altindischen so wie das von Thumb den Vorwurf verdient,
von Fehlem und Ungenauigkeiten geradezu zu wimmeln. In beson-
derem Maße gilt dies von den Uebungsstücken, die 57 Seiten füllen :
kaum ein Fünftel davon ist ganz einwandfrei! Mit Recht ist daher
aus den Reihen der Sanskritisten lauter Widerspruch gegen Thumb
erhoben worden; und wer das Buch durchgelesen bat, wird dem
harten Urteile beistimmen müssen, welches Pischel kürzlich darüber
gefiült hat. Man weiß nicht, hat Thumb seine Arbeit überhastet oder
ist er noch nicht hinreichend mit der Grammatik des Sanskrit ver-
traut, um den Stoff ohne so grobe Schnitzer darstellen zu können?
Wir Sanskritisten sind denn doch durch vorzügliche ältere Arbeiten
zu sehr verwöhnt, und so lebhaft wir eine Darstellung des Altindi-
schen vom Standpunkte vernünftiger Linguistik aus stets begrüßen
werden, so sehr wäre es zu wünschen gewesen, wenn sich Thumb
Bat und Beistand eines Sanskritisten von Fach gesichert hätte; es
wären ihm dann die vielen, zum Teil elementaren Fehler erspart ge-
blieben. Um mit Aeußerlichkeiten zu beginnen, so betrübt es den
Kenner, daß Thumb in der Umschreibung des gutturalen n (n), des
09tt. gel. Ans. 1906. Nr. §. 29
420 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
Palatalen und lingualen s (& und 9), des Anusvära) (m), sowie der
von e, ai, 0 und au linguistische Sonderpfade wandelt. Ungebräuch-
lich ist die Umschreibung von Sanskrit- Wortgefügen ohne Trennung
des zu Trennenden. Thumb umschreibt z. B. ityuväca, devyftha,
madhviva, pibatväufiadham (p. 126), statt zu trennen ity uväca etc.
Jenes ist die Art des Anfängers, der, jeglicher Wortkenntnis er-
mangelnd, froh ist, wenn er die Nägari-Buchstaben lesen und um-
schreiben kann, und nun im Glossar sich hilfesuchend umschaut. Das
sollten wir aber doch nicht mehr nötig haben! Mein Sprachgefühl
sträubt sich auch gegen Schreibungen wie ätma-näm p. 179. 186,
während wir doch p. 185 ein balin-ä finden. Thumb eigentümlich
sind ferner Zusammensetzungen wie ^I^T^mTH (transkribiert aber
na äaknomü), r|[ct)pqrl (nakjcitü) p. 473; ?^FfSf^?FT i^^ kevalam),
^rf (naca!) p. 474, worin ich kein Prinzip entdecken kann. Häufig
sind diese Fälle in den Uebungsstücken : 'qi]>$^Q||«ii«i (p. 1),
fft^ (p. 2), ^*jyHH^ (p. 4), fe (p. 5, 21). gnrf^ (p. 8),
rl)&||T| (p. 11), lOi^i^HTi (p. 33). Dazu seien die merkwürdigen
bezw. falschen Schreibungen S|7rFr EpT (p. 9) und M«^H!^|H 1^5515
(p. 10) gestellt.
Zusätze erklärender oder einschränkender Art wären nötig ge-
wesen zu p. 131 tarn daridram > diesen Armen <: »Acc. Sing.«. Bei
der Bemerkung über den Gebrauch des Pronomens sab fehlt die
Angabe, daß diese Form stets am Ende des Satzes verwendet wird
(p. 247). Nomina darf man durchaus nicht in > beliebiger Variation
mit einander zu Composita< vereinigen, wie Thumb p. 447 behauptet:
die indischen Grammatiker würden damit ganz gewiß nicht einver-
standen sein! Im zweiten Teile wäre eine Erläuterung der Strophe
svämimülä® p. 21 manchem Leser sicherlich erwünscht; ebenso zu dem
Satze FTrfl'Fr^nSRfn^J^^JJ^
auf derselben Seite, Z. 8/9 v. o., dessen Subjekt nicht ohne weiteres
klar ist. Im Glossar fehlt bei ^rf^ der Zusatz >Gott des Reich-
tums<; bei CTQCr die Bedeutung >religiöses Verdienst«; bei L|i |ij|
> Titel von Werken <; bei CTITIJT > Zwischengegend (Nordosten etc.)«,
weil der Gegensatz zu |?OT sonst nicht zur Geltung kommt.
Nun aber die wirklichen Fehler! Auf p. 25 steht »das Kum&-
rasambhava 'die Geburt des Eumära (d. h. Liebesgottes)'«. Zwei
Versehen auf einmal ! Erstens muß es heißen der Kum&rasambhava,
Thumb, Handbuch des Sanskrit. I 421
da sambhava masculini generis ist, und zweitens ist Eumära nur
insofern dem Liebesgotte gleich, als auch er wie dieser Streit und
Kampf liebt; im übrigen aber ist er der Eriegsgott. Der indische
Amor wird im Eumärasambhava nicht sowohl geboren, als vielmehr
zu Asche verbrannt. Einen zweiten mythologischen Irrtum begeht
Thumb im Glossar, indem er p. 86/87 Stab und Strick »Attribute
Vis^usc sein läßt. Was soll dieser welterhaltende Gott mit solch
mörderischen Werkzeugen? Sie gehören vielmehr dem Herrn der
Unterwelt, Yama. räjendrab >= räja-indraU *Eönig Indra'<? Nein;
aber, »ein Indra unter den Eönigen< (p. 125). Satsaritaf^ (p. 128) sind
nicht > sieben Flüsse«, sondern bloß sechs, paropakäraf^ pu^ySiya
muß man unbedenklich übersetzen mit > Dienstleistung gegenüber
dem Nächsten bedeutet ein religiöses Verdienst«, wie sich aus dem
Gegensatz päpäya parapidanam > Schädigung des Nächsten bedeutet
Sünde« (Teil II, 7, Z. 10 v. o.) klar ergibt; nicht aber, wie Thumb
p. 163 will, >höchster Lohn (gebührt) dem Frommen«. Die lieber-
Setzung von akrtyei^u niyojyante mit >sie hängen an Dingen, die un-
tunlich sind« (p. 165) ist besonders deshalb unverständlich, weil im
Glossar ganz richtig bei niyojayati die Bedeutung >anhalten, zwingen
zu etwas (Loc.)« angegeben wird. Da nun niyojyante das Passivum
vom Eausativum ist, kann man doch nur übersetzen »sie werden an-
gehalten« oder mit Böhtlingk, I. Spr. 5884, »lassen sich gebrauchen
zu . . .«. Auf p. 173 finden wir das falsche Wort vähava n. > Zug-
tier«, welches im Glossar als >Zugtier; das Fahren« wiederkehrt; es
verdankt seine Existenz also nicht etwa einem Versehen des Setzers.
Ebenso wenig kann dies mit dem Worte sena >Dieb« auf p. 174 der
Fall sein: denn sowohl im Nägari- als auch im Transkriptionssatz
fehlt das t hinter dem s, welches unbedingt nötig ist, wenn aus dem
sena etwas richtiges werden soll. Die Bedeutung > Gegenstand« von
västu p. 190 ist durch die Verwechslung mit vastu geschaffen worden,
p. 299 steht: >tyaj6t k§udhärtö mahiläsvaputram 'der von Hunger
gequälte verläßt wohl Weib und Eind'«. In § 658 b, Anm. werden
wir dann belehrt, daß >mahilä-svaputram 'Weib und Eind' = 'Fa-
milie'€ sei. Thumb scheint aber dieser Deutung doch nicht recht
getraut zu haben, denn in den Uebungsstücken p. 20 erscheint die
Stelle in dieser Form : rMJlr^I^IFtt •ll^rif ^SPTST, was sich schon
eher hören läßt, da man ja zur Not ein ^ ergänzen kann. Die richtige Les-
art hat bereits Böhtlingk, I. Spr. 2628 : FTsIr^MHI Hf^HlfM J^f-
— Das Eompositum am Ende von p. 449 wird man für gewöhnlich
nur mit >Brahmanen . . .« statt mit >ein Brahmane .. .« wiedergeben
müssen. Besonders böse ist der »kavi-vira 'Mann, Held, der ein
29*
422 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 5
Dichter istW p. 452. Zunächst möchte ich bezweifeln, daß es gutes
Sanskrit ist, wenn man sich so ausdrückt. Der Fall bekommt aber
eine erhöhte Bedeutung dadurch, daß dies kavi^ira sein Dasein — proh
dolor — einem Druckfehler verdankt ! In den Uebungsstücken p. 52,
Z. 1 V. 0. steht nämlich: ?T?Tf% H" ^fo|q)^| icm|lr|<Ml^Cr ...
Wie man sich auf einen Blick überzeugt, ist c^joioii^i metrisch
unmöglich, da hier statt uu vielmehr uuu. stehen muß, was
man sofort erhält, wenn man die einzig richtige Form cf)|Q|c|i|
xlie trefflichsten unter den Weisen < einsetzt. Von dichtenden Helden
ist keine Rede: die Ueberschrift des betreifenden Gedichtes »Die
>Stärke des Weibes« hat Thumb wohl verführt, dieser weiblichen
Kraft gegenüber auch die männliche zur Geltung zu bringen, p. 478
übersetzt der Verfasser das päkarasäsvädanapräyam sukham mit
>ein Glück, dessen Hauptsache das Kosten des schlichten Genusses
ist« = »ein Glück, das nur während des Genusses süß ist<. Wie er
zu dieser Interpretation kommt, ist mir völlig dunkel. Der Zu-
sammenhang, in welchem die Stelle steht, hätte ohne weiteres den
Sinn aufhellen müssen, wenn er nicht an und für sich schon klar
wäre. Es handelt sich um die Affen, die am Hofe des Königs yen
dessen Söhnen mit mancherlei Speisen fettgefüttert werden, die jene
selber als nektargleich empfinden (Teil 11,12). Der Afife, der an
ihrer Spitze steht, warnt nun seine Genossen mit den Worten:
f^ ?T qi*{HIMI<HUIMHHriJisl t|F(UIIH RlNolifamiH
>Wird nicht am Ende dieses Glück, welches hauptsächlich im Ge-
nüsse auserlesener Gerichte besteht, wie Gift wirken?« Der Gegen-
satz ist p&karasa, dem das bhaksyaviäesa (p. 12 Z. 1 v.o.) entspricht,
und die ch^m*^(Hrhyi(lTrf*hHl[H (Z. 3): die Affen ziehen
eben die Delikatessen der Hof küche den zusammenziehenden, scharfen,
bittern, ätzenden und rauhen Früchten des Waldes vor. Wäre
Thumb nicht bei dem ersten m^ im pw stehen geblieben, welches
freilich auch »schlicht« bedeuten kann, sondern hätte auch das zweite
besehen, so hätte sich ihm das richtige sogleich ergeben. Aber
außerdem kann man doch die Schlemmerei der Affen keinen > schlichten
Genuß« nennen, auch wenn man noch so verwöhnt ist: sie werden
ja fett davon, was ihnen später (C4UUIIH) ^^ verhängnisvoll wird!
Zu den Uebungsstücken wäre etwa folgendes zu bemerken: p. 1,
Anmerkung vajralepa bedeutet nie > Schminke«, sondern, wie das
Glossar richtig angibt, >eine Art Mörtel«. Wollte man sich genau
an das Wort halten, so könnte man etwa »Diamantkitt« übersetaen.
Thumb, Handbuch des Sanskrit. I 42S
Begierig wäre ich, mir von Thumb die Zeile 11, p. 22 erklären zu
lassen. Dort steht chägalo, im Glossar kehrt das Wort wieder und
wird richtig als > Ziege c gedeutet. Da ich nun die Texte sehr genau
durchgenommen habe und mit Bestimmtheit sagen zu können glaube,
das Wort sonst nicht gefunden zu haben, muß Thumb also annehmen,
daß diese Form an unserer Stelle richtig ist. Und doch ist sie
falsch; es muß natürlich chägato heißen: >. . . der wird betrogen,
wie der Brahmane von den Schelmen um die Ziege (geprellt
wurde)«, p. 26, Strophe 43 findet sich ein chandobhaiiga : man lese
^ lSl4^tr1Tr ST^FT* Ebenso auf der nächsten Seite in Strophe 44,
wo im Gegensatz zur vorigen Stelle eine Silbe zu wenig ist. Lies
MIMIHm ^ ^T^rTf WJ^IT. Eine Silbe fehlt auch in der Strophe
kalahäntäni p. 11; man fuge ^ ein hinter kuväkyäntam; und in
Strophe 45, p. 48 : hinter yajnasya ergänze man ca. Zu Strophe 37
(p. 26) reicht das Glossar nicht aus, indem es zu mj^ä nur die Be-
deutungen > umsonst, vergeblich« bedeutet, die hier nicht passen. Es
fehlt die Bedeutung > fälschlich« oder > vorgeblich«, p. 93 ist die
Angabe bei STtFT^TtfT >blaufarbig« für die Stelle p. 1, Z. 4 v. u.
falsch. Es kann nur heißen >blaue Farbe«, p. 102 begegnet das in
den Texten nicht vorkommende Wort beäa »Bordell«. Ich weiß
nicht, wie das Wort dahin geraten ist; jedenfalls aber vermißt man
diese Bedeutung unter veäa, wo nur >Tracht, Gewand« steht. Da-
für schreibt man aber richtig ve^al mayükha p. 106 kann auch
> Pflock« heißen; es kommt aber in unseren Texten nur in der Ver-
bindung tuhinamayükha vor, deren Bedeutung (>Ealtstrahler« =
Mond) Thumb nicht erkannt zu haben scheint. Der gröbste Schnitzer
aber ist wohl auf p. 132 im Glossar: »i^iTCn (hari-) m. Gazelle«.
Natürlich ist cj^u gi gemeint. Der Kenner des Nägari-Alphabets
weiß ja, daß bei einer gewissen Schreibung des TJT die Verwechs-
lung mit Cn sehr leicht gemacht wird. Aber höchst bedenklich ist
die Tatsache, daß Thumb dabei das Geschlecht angibt. Er sagt aus-
drücklich am Anfang des Glossars, p. 61 : >Das grammatische Ge-
schlecht (m. f. n.) ist nur da angegeben, wo es nicht durch die
Stammform eindeutig bestimmt ist . . . bei a-Stämmen ist femer nur
das neutrale Geschlecht bezeichnet«. Setzt also Thumb hinter
A Jim ein >m.«, so tut er es doch nur, weil ein Unkundiger das
Wort für einen Femininstamm halten könnte, was eben vermieden
werden soll. Thumb sieht also offenbar in f^i^m eine Bildung wie
z. B. in viÄvapä.
424 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 5
Nicht im Glossar erwähnt ist parärtha p. 7, Z. 6 v. o., hier ==
Coitus. Zu narakapätaka p. 8, Z. 3 y. o. yermißt man unter pfttaka
die Bedeutung »Sturz (in die Hölle) verursachend«. Es fehlt sva^^stri
(p. 31, Strophe 87) == > Himmelsfrau, Apsarase<. Ebenso animisa
>Fisch< (p. 36, Strophe 50). Andere Mängel des Glossars sind be-
reits oben erwähnt worden.
Dazu eine Menge Druckfehler, von denen übrigens Thumb selbst
schon eine ganze Reihe verbessert hat. Ich nenne aus dem ersten
Teile: p. 129 zweimal chatracchayä ; aus dem zweiten: p. 6 Vcn^^q"
undqR|ir4;p7RjUM^I°; p 9HHI|Q>H|>sM1;p i4H«lljf«H;
P 16 IMHHM* HlHtH" ; p i7 WTt^, ^^«^n' und ^:^ ;
p. 21 iflcJH; P- 22 sfcOfH ohne Interpunktion und <V^; P- 23
"FJfT; p. 24 gl^TOTT; p. 25 HNNI%I|[hHI; p- 27 ^Hg* und
sr^TpTR^"; P- 30 ^r^IW und JTT^; P- 32 ^; p. 38
MIHHIWT: und «Hli^HH; p- 39 gn^itlMlPd und HH»|ilH";
p. 24 vr^TTFT; P. 43 sraHT»; p- 44 q[o|r^H und cn^ft^;
p. 45 |lslHJl?>J<Hl(M; p 46 MHIHIHIHH^IH; p- «
^TFTJ^n^; p. 50 H5iHMH*lflHIH; p 56 mrmi p. 93
rH(iq*H; p. 101 jftS:.
Doch genug. Ich habe durch die zahlreichen von mir beige-
brachten Ausstellungen bewiesen, daß ich Thumbs Arbeit gründlich
geprüft habe, wie es sich geziemt, wenn man sich ein richtiges Ur-
teil bilden will. Ich brauche Thumb nicht zu versichern, daß ich
diese Prüfung nicht etwa do^adr^tyä vorgenommen habe; im Gegen-
teil bewundere ich den Fleiß, den er auf den so schwierigen Stoflf ver-
wendet hat, und wünsche, daß sein Buch, als linguistische Leistung
angesehen, höher bewertet werden möge denn als indologische. Trotz-
dem bleiben uns Sanskritisten immer noch die Grammatik von Pischel
und für eingehenderes Studium die von Kielhorn die beste Hilfe.
Halle Richard Schmidt
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwarti in QWingeB
Juni 1906 No. 6
Liido Moritz Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter, Bd. 11, 2.
Die LoslOsung Italiens yom Orient Mit einem Personen- and
Sachregister üher den L und II. Bd. Gotha, Fr. A. Perthes, 1903. IX, 887 S.
10 M.
Der nene Band des großartigen Werkes beginnt mit einer Dar-
stellung der langobardischen Verfassung. Der Grundgedanke, den
der Verfasser im ersten Teil des zweiten Bandes angeschlagen hat,
die fast durchgängige Beseitigung der römischen Verfassungselemente,
die Ausbildung des langobardischen Staates zu einem vollständigen
Nationalstaat, ist hier in das einzelne durchgeführt. Der Referent
ist nun hier in einer üblen Lage: er arbeitet selber an einer italie-
nischen Verfassungsgeschichte und hält den Gedanken von der Be-
seitigung der römischen Elemente für ganz unzutreifend : nach seiner
Meinung hat sich die römische civitas mit allen ihren Elementen, mit
dem kommunalen Großgrundbesitz der curiales, der Mittelklasse der
negotiatores, den zünftigen Handwerkern, dann den halb- und un-
fi*eien Bauern in die langobardische Zeit herein erhalten und es ist
selbst in den langobardischen Provinzialämtem durchaus nicht alles
langobardisch, wenn auch hier das langobardische Element überwiegt.
Natürlich ist es aber unmöglich, diese Meinung jetzt im Detail zu
begründen und es sei erlaubt nur einige besonders auffällige Momente
hervorzuheben. Immer wird aber auch der Gegner an der klaren
und minutiösen Durcharbeitung der in Deutschland herrschenden
Lehre, so wie sie Hartmann gibt, lernen können. —
I. Es soll nun gefragt werden, worauf denn überhaupt der Satz
Yon der Rechtlosigkeit der Romanen in der früheren langobardischen
Zeit sich gründet.
1. Zunächst werden dafür die beiden bekannten Stellen bei
Paulus II 32, m 16 herangezogen. Vor allem kommt hier zunächst eine
allgemeine Bemerkung in Betracht: II 32 schildert den Unfrieden,
die Unsicherheit, welche durch die Vielherrschaft der Herzöge herbei-
geführt wurde, m 16 den in allen Germanenstaaten widerkehrenden
Mtt. ftl. Abs. 190«. Nr. 6 30
426 Q6it gel. Anz. 1906. Nr. 6
legendarischen Frieden, welchen die Durchführung der Eonigshen^
Schaft mit sich brachte. In 1132 liegt die üble Romanenbehand-
lung deutlich in der Linie der Schilderung überhaupt. In ini6
kann der Satz populi tarnen adgravati per Longobardos hospUa
partiuntur nicht eine Einschränkung zu dem vorausgehenden und
nachfolgenden bedeuten, sondern muß damit in Einklang stehen.
Anders Hegel Städteverfassung I S. 354. Allerdings steckt in tarnen
ein Gegensatz, aber keiner zur Schilderung im ganzen, sondern nur
zum Yorausgehenden Satz, weil dieser unvollständig ist und nor einen
Teil der Friedensarbeit schildert. Von den beiden Unfrieden stiftenden
Elementen ist das eine die starke Beteiligung der duces an der
Staatsgewalt, welcher durch eine Abteilung zwischen König und dnees
das Ende gemacht ward. Der zweite Streitpunkt >aber€, die un-
klaren Verhältnisse zwischen Langobarden und den populi worden eben-
falls durch eine Abteilung gelöst. Es war das »eben« (sane) wunder-
bar im Langobardenreich: es herrschte allgemeiner Frieden. Dieser
letzte Gedanke nimmt mit sane deutlich das vorausgehende anf:*
dann aber muß in dem populi tarnen yadgravatU per Langobariot
hospites partiuntur eine Friedenstat stecken. Es scheiden damit
alle Meinungen aus, welche in III 16 nur den Fortgang des in 1132
geschilderten sehen: also namentlich das, was Hegel I S. 353 ausführt.
Betrachtet man die einzelnen Stellen für sich, so kann ledig-
lich der grammatischen Interpretation nach 1132 zweifach ausge-
legt werden: a) viele nobiles Romani werden getötet: die Romanit
welche nicht nobiles sind , werden tributarii der Langobarden , denen
sie ein Drittel der Früchte zu zahlen haben, b) Viele nobiles Romani
werden getötet, die andern nobiles Romani werden tributarii. Eine
kurze Ueberlegung zeigt, daß nur die zweite Deutung denkbar ist.
Denn sonst würde Paulus über die Lage der nobiles Romani, welche
überlebten, nichts aussagen und das ist undenkbar. Redet dann aber
einmal die Stelle von den nobiles Romani, so kann sie unmöglich
sagen, daß diese nobiles Romani Unfreie, aldiones, wie Hartmann
annimmt, geworden sind. Dem steht nicht nur die allgemeine Er-
wägung entgegen, daß eine solche Veränderung sozial einfach unmög-
lich ist; man kann eine herrschende Klasse, die bisher nicht mit
eigener Hand gearbeitet hat, zerstören; aber man kann ihr nicht den
Pflug in die Hand zwingen. Vielmehr ist so etwas auch rechtlich
unmöglich: sind die Romani wirklich aldiones und damit Unfreie
eines Herrn geworden, so lag die Bestimmung der Abgaben in der
Hand des einzelnen Herrn und es war ganz unmöglich die Höhe der
Abgaben allgemein und mit rechtlichem Zwang zu begrenzen. Die
Last der tertia setzt mit juristischer Notwendigkeit die FreOmt
Hartmann, Geschichte Italiens U, 2 427
der Romani voraus (so schon Schupfer istit. pol. S. 71). Wie dann
im Detail diese Abgabe zu deuten ist, wurde schon früher (G. 6. A.
(1903 S. 207) besprochen und berührt unser Problem nicht unmittel-
bar. Ich will meine Meinung nur dahin zusammenfassen, daß in der
Longobardenzeit neben die alten Abgaben, welche die Romanen-
bevölkerung an die civitas zu zahlen hat, die Last der tertia trat,
welche gerade die römischen possessores den Longobarden gegen-
über* zu tragen haben. — III 16 ist dann die Lösung der entstan-
denen Communion. Sprachlich ganz unmöglich ist die Deutung
Hegels (I S. 353) und anderer: >in der Lage des bedrückten Volkes
änderte sich dennoch nichts: sie waren und blieben verteilt«. Paulus
ist sprachlich sehr korrekt und die Fehler, die sich in den einzelnen
Handschriften da und dort finden, fallen nur den Abschreibern zur
Last. Von da aus muß man unter dem partiuntur einen einmaligen
Vorgang verstehen, der jetzt stattfindet und im Gegensatz steht zu
adgravatij was in der Vergangenheit liegt. Damit stimmt dann auch
der Zusammenhang von IH 16, der, wie gezeigt, einen Gegensatz
zu II 32 enthält. Ob dann partiuntur passivisch oder medial ist
— sprachlich beides möglich — steht dahin, und ebenso ist nicht
sicher, ob man unter den popuH die romanischen Leute als einzelne
oder (cf. Rothari 176; Memorie di Lucca V. 2.3 700; auch 1. Visi-
goth. XII. 1. 2) als die zusammengefaßte Einwohnerschaft der einzelnen
dvitates (dafür vielleicht gerade Paulus H. 32) ansehen soll. Hier
kann das dahingestellt bleiben. Für die Frage, um welche es sich
jetzt handelt, ergibt sich dann das Resultat, daß die Ansiedelung
der Langobarden im wesentlichen nicht weiter eingrifif, als die der
Gothen. Damit stehen die Nachrichten über die > Wildheit« der
Langobarden nicht in Widerspruch. Mir scheint, daß man damit viel
zu ungezwungen operiert hat. Denn was Paulus Diaconus darüber
berichtet, ist eigentlich nur die Stelle II. 32 : was sie sagt, geht z. B.
nicht über die Schilderung bei Gregor Tur. IL 27 hinaus. Dann
bleiben noch die Nachrichten Gregors des Großen, der in einer Zeit
des offenen erbitterten Krieges zwischen Römern und Langobarden
lebte: natürlich haben hier die Römer fliehen müssen, und es sind
eine Menge von Gewalttätigkeiten vorgekommen. Allein es wider-
streitet allen Regeln, wenn man aus den Lamentationen über solche
Vorgänge irgend welche Rechtssätze für die Lage der Römer ab-
leiten würde.
Mir scheint, daß die spätem geschichtlichen Nachrichten auf eine
ganz andere Stellung der Langobarden zum Römertum hinweisen,
als sie Hartmann mit der herrschenden Lehre annimmt. Man weiß,
welche Bedeutung in dieser Uebergangszeit das Porträt und die In-
30*
Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
-v:ULit JLiii der Münze haben, daß der als SouTeritn betrachtet wird,
A^!<!<u Bildnis und Name auf den Münzen erscheint: das zeigt sich
u ^ieicher Zeit im Westen, später im Süden von Italien selber. Bei
;cu Ldugobarden aber wird die byzantinische Münze bis herein in die
Hicce des siebenten Jahrhunderts beibehalten (Engel et Serrure I
S^ J2 ; Hartmann U. 2 S. 33), viel länger als bei den Franken. —
Die katholische Hierarchie dauert neben der arianischen fort. Paulas
IV. 42 hat ganz allgemein davon geredet, daß in den arianischen
Zeiten der Langobarden in jeder Stadt ein orthodoxer und ein
arianischer Bischof einander gegenüberstanden. Diese Stelle hat
Uartmann (IL 1 S. 278) für unzuverlässig angesehen, während er mit
der herrschenden Lehre auf IL 32 und lU. 16, die doch ihrem Inhalt
nach der Zeit und dem Gesichtskreis des Paulus viel femer liegen,
als jene Mitteilung über die Bischöfe, allen Wert legt Hartmann
ist zu seiner Meinung offenbar gekommen, weil er mit Hegel
(I S. 359 ff.) aus den Briefen Gregor H. herausliest, daß der Bischof
und die Geistlichkeit von Mailand zur Zeit Gregors in Genua resi-
dierte (Hartmann IL 1 S. 87, S. 264; ähnlich Lumbroso stdla storia dd
Genovesi S. 11; so jetzt auch Duchesne in melanges iVarehiologie d
d'histoire XXIII S. 83 f.) Das ist nun aber direkt falsch. Die meistea
Stellen, welche von der Mailänder Kirche handeln, sind fur die
Frage, wo sich der Bischof aufgehalten hat, neutral. Zu den neo-
tralen Stellen mag selbst noch (gegen Ewald) lU. 26 gerechnet
werden, wenn es auch Schwierigkeiten macht sich zu denken, daB
die in Genua weilenden Laien aus Mailand als populus bezeichnet
sein sollen. Zwingend spricht aber XL 6 für den Aufenhalt des
Mailändischen Bischofs. Der bisherige Bischof hatte sich nicht nur
ausgezeichnet in Beachtung der ecclesiasticae regulae discifüiioei
sondern auch in der iuüio civitatis vestrae. Es handelte sich also
um Betätigung im geistlichen und im weltlichen Gebiete und zwar
im letzteren um ein Eintreten für die civitas Mailand. Wie man dtf
machen soll, ohne am Ort zu sein, scheint mir undenkbar. Daio
kommt aber die Nachricht, daß Agilulf einen Kandidaten als Bischof
vorgeschlagen hat und seine Designation damit zu stärken snAU
daß er die Entziehung der Eirchengüter innerhalb des langobardi'
sehen Reiches droht. Zunächst setzt das voraus, daß der mailändischei^
Kirche bisher ihr Kirchengut innerhalb des langobardischen Beich«*
geblieben ist. Ist es nun denkbar, daß einem Bischof, der üb^^
die Reichsgrenze geflohen ist und dort residiert, doch noch d^
Kirchengut innerhalb des Reiches zur Verfügung stehen wDt^
Und ist es glaublich, daß der Langobardenkönig den Versuch S^
macht haben sollte, einem in Genua residierenden Bischof von Vail^
i
Hartmann, Geschichte Italiens 11,2 429
einen Nachfolger zu setzen; daß es sich dabei nicht allenfalls um
den arianischen Bischof handelt, ist klar, und wird auch nirgends
behauptet. — Weist XL 8 mit Sicherheit auf die Residenz eines Bischofs
in Mailand, so auch wohlverstanden diejenigen Stellen, welche man ge-
wöhnlich für den Aufenthalt in Genua anführt. So vor allem lU. 30.
Hier ist zunächst nur gesagt, daß viele Mailänder in Genua sich
aufhalten, coacti barbarica feritcUe. Gregor erklärt nun, ihm sei ein
Bericht des Klerus von Mailand zugekommen, daß sie einmütig den
Bischof Constantius gewählt hätten. Da es aber an der kanonischen
Wahlform — der einmütigen Subscriptio — fehlt, so soll der Kom-
missar doch noch prüfen : er soll zunächst die genuesischen Emigranten
befragen und die Vornahme der Ordination anordnen, ^t nulla eos
diversitas ah electionis unüate determinat. Der Sinn ist also doch
der: der Papst ist zweifelhaft, ob denn die Genuesischen Emigranten
der gleichen Meinung sind, die in den übermittelten Wahldekreten
zum Ausdruck gekommen ist. Er hält die Meinung der genuesischen
Emigraoten und die angeblich einheitliche Wahl für mögliche Gegen-
sätze. Dann kann natürlich die einheitliche Wahl nicht in Genua
zustande gekommen sein, und es bleibt nichts übrig, als dieselbe
nach Mailand zu setzen. Die Situation ist eben einfach die, daß zwei
Parteien bei der Wahl konkurrieren, die in Mailand gebliebene Masse
des Klerus und die Emigranten-Gruppe, die politisch und kirchlich
ganz verschieden beeinflußt waren; der Papst traute naturgemäß
den Emigranten mehr, als den Zurückgebliebenen. Auf das gleiche
fuhrt IX. 235. Hier wird ein Blinder gezwungen collata inter alios civi-
tcUis Genuensis habitatores et ipse dcire. Der Bischof von Mailand soll
das nicht erlauben, ab eo per quem libet exiyi vestra sanctitas non per-
mittat. Die Stelle setzt also voraus, daß der Bischof von Mailand
irgendwelches Gebotsrecht in bezug auf die collatio hat. Mag es
sich nun um eine kirchliche oder, wie ich glaube, ohne es hier
weiter zu begründen, um eine weltliche Abgabe handeln, das ist
beide Male sicher, daß der Bischof von Mailand nicht über eine
Steuer von Genua zu bestimmen hat. Sondern es muß sich
ein Emigrant, der sich in Genua aufhält, mit seinem in Mailand
belegenen Vermögen (er hat nach dem Brief auch an anderen
Orten Vermögen) zur Steuer herangezogen worden sein und hier soll
der Bischof helfen. — Daß in XI. 14, das zu XI. 6 gehört, der Notar
des Papstes nach Genua geschickt war, um dort (Hegel I S. 360 if.)
den Bischof ordinieren zu lassen, steht nicht im Text. Es steht
nur darin, daß der Notar nach Genua reisen sollte und dann
nach Untersuchung der Wahl die Ordination anordnen soll. Wo
die Ordination erfolgen soll, ist nicht gesagt, so wenig als in III. 30.
480 Oött gfü. Am. 1906. Nr. 6
Es ist eigentlich nicht einmal gesagt, daß der päpstliche Gresandte
das Ermittelungsverfahren in Genua vornehmen soll, wiewohl das im
Hinblick auf III. 30 und die Territorialverhältnisse sehr wahrschein-
lich ist. Freilich ist der Bischof von Mailand zu Beginn der Lango-
bardenzeit nach Genua geflohen (Paulus II. 25), die mailändischen
Bischöfe wurden fast ein Jahrhundert lang in Genua begraben (Muratori
S. S. 1. 2 S. 229) und haben in Genua später ein palatium ( Atti Liguri II. 1
S. 11.700; Lumbroso S. 59 N. 2). Daß aber daraus kein dauernder
Aufenthalt in Genua folgen muß, zeigt das Fragment von 700 (Atti
Liiguri II. 1 S. 11): der Bischof von Mailand, der jetzt doch längst
wieder in Mailand ist, amtet doch in Genua. Er hat eben dort und
auch in Luna (IX. 22) Metropolitangewalt , wie ja zu Beginn des
achten Jahrhunderts die Intensität seiner Metropolitangewalt stark
betont wird (Muratori S. S. U. 2 S. 989 ingens permanet ipsitAS dignitas
potentiae — ad quam cundi venientes praesules Atisoniae — iuxla
normam insiruuntur synodaii canone). Es ist so wohl möglich, daß
sich der Bischof von Mailand in den Fällen, wo mit dem Papst ver-
handelt werden muß, nach Genua begibt, und so gerade zum Zweck
der Ordination. Zwingende Belege dafür fehlen freilich und jeden-
falls folgt daraus noch nicht ein dauernder Aufenthalt des Biachofa
in Genua. Daß aber der Bischof noch länger in Genua begraben
wird, erklärt sich doch einfach daraus, daß allerdings der geflohene
Honoratus dort begraben wurde und man dann aus allen möglichen
Gründen an dem Grab im Reichsboden festhielt. — Sicher bezeugt
ist die bischöfliche Kirche von Como, die zur Zeit des Gregor schis-
matisch ist (IX. 186), und weiter die Kirche von Tortona (DL 235);
die Bischöfe von Nordostitalien (Clausen, Zuglio, Belluno, Concordia,
Trient, Asolo, Verona, Feltre, Treviso, Vicenza) handeln 591 (Gregor
1. 16.a]. Vom Bischof von Mailand haben sich wegen des Dreiapostel-
streites drei Bischöfe losgelöst, die nur von Oberitalien sein können:
IV. 2; einer (IX. 37) ist der Bischof von Brescia. IX. 214 erwähnt die
Aufstellung eines Bischofs von Turin. In Fiesole wird die Kirche
nach dem Friedensschluß wieder hergestellt (IX. 143). — Daß sich
keine Korrespondenz der langobardischen Bischöfe und der Päpste findet
— ein Argument, auf das Duchesne so großes Gewicht legt —
braucht nicht aus der blos fragmentarischen Ueberlieferung des Re-
gistrum erklärt zu werden; sie war einfach durch langobardisches
Beichsrecht verboten (Rachis 9) und kommt deshalb im siebenten und
achten Jahrhundert genau so wenig vor. — Anderwärts wird der
Besitzstand der Kirche von Arezzo von der Zeit des Narses bis
650 in vielen Kirchen festgehalten (c. Aretino 1.1.650). — Endlich
kommen die kremonesischen Bischöfe in betracht, deren Existenz mir
Hftrtmann, Geschichte Italiens 11, 2 431
festzustehen scheint (darüber meine Abhandlung: die angeblichen
Fälschungen des Dragoni). — Für die Behauptung, daß die katho-
lische Hierarchie zerstört worden wäre, fehlt es also an jedem Beleg.
Daß der italienische Episkopat — infolge des Dreikapitelstreites häre-
tisch und im Gegensatz zu Born und Byzanz — sich erhielt, scheint
mir ein Hauptelement der frühen Langobardenzeit
2. Eine andere Nachrichtenreihe will ich zusammen mit dem
behandeln» was die Rechtsquellen in die Hand geben. Bekanntlich
enthält das Edikt des Rothari gar nichts über die Römer; das Ge-
setz schweigt, von einer Stelle abgesehen, über die Römer genau,
wie über die zahlreichen anderen Völkersplitter, welche im lango-
bardischen Staatsverband lebten. Wenn Hegel I S. 286 mit einer
bösen Rhetorik aus Rothari 195 argumentiert, so genügt ein ein-
facher Blick auf die 1. Salica, wo auch die römischen Unfreien,
oder die Unfreien der Römer (?) im Wergeid niederer stehen; im
übrigen aber kann man auf die 1. Burgundionum verweisen, wo eben-
falls von Römern nicht die Rede ist. Es ist ja allerdings wahrschein-
lich, daß das Edikt des Rothari da und dort von der ganzen Be-
völkerung redet; es werden vor allem die exercitales in c. 23,28 die
freie Bevölkerung überhaupt, also nach meiner Meinung die Romanen,
befassen müssen (anders Hartmann H. 2 S. 5). Das ist aber auch
vollkommen möglich: in der zweiten Hälfte des siebenten Jahr-
hunderts kommt der Ausdruck exercitalis auch bei den Westgothen
vor und bezeichnete hier alle Werpflichtigen, zu denen die Römer
gerade so zählen wie die Gothen (1. Visig. IX. 2. 9). Man muß sich
deshalb vor allen voreiligen Schlüssen aus Arimannus hüten. Liut-
prand aber setzte in c. 91 für die Rechtsgeschäfte, welche der Be-
urkundung bedürfen, also vor allem und zuerst gerade für das Immo-
biliensachenrecht, ebenso das römische wie das langobardische Recht
voraus. Das Gonnubium ferner zwischen Römern und Langobarden
(c. 127) erfordert vollständige Freiheit des Römers. Wäre der Ro-
mane aldio, so würde die Frau, welche einen solchen geheiratet hat
and sich zum zweiten Mal verheiraten will, nach Rothari 216 und
Liutprand 127 zu beurteilen sein, eine Bestimmung, die mit c. 127
ganz unverträglich ist. Wenn aber irgendwo durch Gesetzgebung den
Romanen die Freiheit verliehen sein würde, so wäre das in den so
reichhaltigen und auf so engen Zeitraum zusammengedrängten lango-
bardischen Gesetzgebungen zu erkennen gewesen: ohne deutliche
Spuren in den erhaltenen Gesetzen könnte eine solche radikale
Aenderung nicht vorübergegangen sein. Bei alledem ist dann noch
gar nicht in Anschlag gebracht, daß nach der Meinung, welche ich für
richtig halte, die lex Udinensis das Recht der Römer in Italien ist, -^
432 Gott gel. Anjs. 1906. Nr. 6
Geht man nun noch einmal auf die geschichüichen Nachrichten
zurttck, 80 ergeben sie ein weiteres Moment. Neben der Frei-
lassung Unfreier zu Vollfreien, die ja in der Stammessage als ein
Mittel erwähnt wird, das Volk zu verstärken (Paulus 1. 13), steht die
Aufnahme ganzer Völker in den langobardischen Staats- und Heeres-
verband (Paulus I. 20) : im Licht der Geschichte vollzieht sich in der
zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts die Aufnahme der Bul-
garen (Paulus IV. 29). Die langobardische Form für diese Aufiiahme
muß nun aber darin bestanden haben, daß man Haar- und Kleider-
tracht der Langobarden annahm. Liutprand, welcher die römische
Campagna annektieren will: multos nobiles de Roftumis more LcmgO'
bardorum totondü atque vestivü (vit. Greg. HI c. 14). Dieselbe Form
gebrauchen umgekehrt die Spoletiner, welche sich 773 in Auflehnung
gegen Desiderius dem römischen Staatsverband anschließen: vita
Hadr. c. 33 omnes more Romanorum tonsurati sunt. Als sich der
Fürst von Benevent in eine sehr lose Abhängigheit von den Frankei
begibt, versprach er, ut Langobardorum rnentum tonderi faceret (Er-
chempert. c. 4). Man sieht aus den beiden letzten Beispielen, wie
falsch es ist, wenn Hegel I S. 423 in lebhafter Rhetorik diese Ver-
änderung der Tracht als ein Zeichen der Knechtung ansieht Da die
Form aber im römischen und byzantinischen Recht nirgends eine
Grundlage hat, und deshalb langobardisch sein muß, so ergibt sich
folgendes: es bestand bei den Langobarden eine Rechtsform, durch
welche ein ganzes Volk ohne Verlust der persönlichen Freiheit in
den Staatsverband aufgenommen werden konnte, und diese Form wird
nun gerade auch den Römern gegenüber angewendet. Da anderer-
seits in der Zeit Liutprands Freiheit und das besondere Recht der
Romanen feststeht, so sieht man, wie der ganze Vorgang aoeh
nicht bedeutet, daß das römische Recht aufgegeben wird. Es ist
mehr als unwahrscheinlich, daß die Rechtsform der Trachtenverände-
rung erst unter Liutprand aufgekommen sein sollte: die Vita Gre-
gorii III. c. 14 setzt jene als etwas bekanntes voraus. Ist die Form
aber älter, so sagt sie nichts anderes, als daß die römische Bevölke-
rung in ihrer äußern Tracht unter die Langobarden trat, daß sie in
den Langobardischen Staat aufgenommen wurde. In der Tat rechnen
sich bald nachher alle Bischöfe des Langobardenreichs zur gens Lango*
bardorum (lib. diurn. 76). Vielleicht hängt damit auch noch eiae
andere Erscheinung zusammen: es ist mit Recht von Hartmann ana*
geführt, daß die Römer weitaus die Ueberzahl über die Langobarden
hatten: dagegen sind in den Urkunden die römischen Namen wenig-
stens unter den freien Leuten rar. Soll man daraus nicht schließen,
daß der Freie, wie er Langobardische Tracht annehmen mußte, so
Hartmaim, Geschichte Italiem n, 2 498
auch einen Langobardischen Namen erhielt — ein Vorgang, wie er
gleichzeitig überall in den islamitischen Staaten spielt? —
Geht man auf die Urkunden über, so treten sich in diesen
regelmäßig die Nationalitäten innerhalb des Langobardischen Reichs
nicht gegenüber. Nur bei Troya 683, einer der dragonischen Ur-
kunden, werden für 754 Langobardi und Römer nebeneinander er-
wähnt. Wie an einem anderen Orte ausgeführt ist (M. öst. Inst.
XXVII m. Heft) halte ich gegen Hartmann (M. öst. Inst. XXVI
Su 659 f.) unbedingt an der Echtheit der dragonischen Urkunden fest.
So hätte man hier den ersten urkundlichen Beleg für die Unter-
scheidung von Langobarden und Römern innerhalb der Freien, wäh-
rend dieselbe in dem Gesetze Liutprands schon etwas früher auf-
tritt. In den fränkischen und nachfränkischen Zeiten begegnet der
Gegensatz massenhaft.
3. Fasse ich zusammen, so spricht nichts dafür, daß die Römer
unfrei geworden wären: es gibt dafür schlechterdings keinen Beleg
und noch nie ist ein so folgereiches System so sehr lediglich auf
Vermutungen aufgebaut worden.
Vielmehr ist es sicher, daß die römische Eirchenverfassung fort-
gedauert hat, daß im achten Jahrhundert die Römer als freie Staats-
angehörige gelten, daß sie aber als Langobardische Staatsangehörige
die Abzeichen der Langobardischen Staatsangehörigen überhaupt
tragen. Nimmt man noch dazu die Nachrichten des Paulus Diakonus,
nach denen die Langobarden nicht anders als die Gothen bei der
Ansiedelung gehandelt haben, die Schüchternheit mit der man zu
einer nationalen Münzprägung kommt, so gelangt man eben zum
Schluß, daß die Römer, soweit sie nicht Kolonen waren, als exerci-
tales in den Langobardischen Staatsverband übergegangen sind.
Deshalb braucht man auch nicht daran zu denken, daß im zweiten
Jahrhundert die beispiellose Entwickelung stattgefunden hatte, welche
Hartmann^(IL2 S. 21) annimmt, nämlich daß die Langobarden jetzt
Eaufleute in ihrer Mitte haben, welche gepanzert ausziehen können;
gerade die schon einmal erwähnte 1. Vis. IX. 2. 9, wo Römer und
Germanen unter der exercitales sind, zeigt, wie wenig man bei Ani-
atulf 2, 3, die vielleicht in Anlehnung an 1. Vis. IX. 2. 9 entstanden
sind, gerade nur an die Langobarden von Geburt zu denken braucht
— Ebenso wenig macht es dann eine Mühe, die magistri commacini
als freie Römer zu denken. Hier sei eine beiläufige Bemerkung ge-
stattet: wenn Hartmann (II. 2 S. 20) offenbar nicht recht an die
Ableitung des commacinus von Como glaubt, möchte ich ihm voll-
kommen zustimmen; mir scheint doch, daß das bei Isidor etym.
19. 8. 2. bezeugte Wort machio, das im Italienischen häufig als Eigen-
434 Oött gel. Anz. 1906. Nr. 6
namen vorkommt und offenbar die Wurzel des französischen ma^on
(Diez W. B. II S. 354) ist, mit commacini zusammentrifft; weil die
commacini stets ein Verband sind (Rothari 144), so wird das Wort
macinus (macio) mit cum verbunden. Woher dann machio stammt,
mag auf sich beruhen.
Es ist im vorausgehenden nicht weiter ausgeführt worden, was von
den römischen Einrichtungen verblieben ist. Aber schon das bisher vor-
gebrachte zeigt, daß das romanische Element im Langobardenreich
nicht unfrei gewesen ist, daß ihm jedenfalls seine kirchliche Organi-
sation verblieb. Daß dabei die norditalienische Kirche Überhaupt,
nicht nur die istrische, in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhun-
derts sich dogmatisch von der Beichskirche ablöste, hat gewiß ihre
Stellung im Langobardenreich noch erleichtert.
II. S. 64—121 schildert Hartmann die Geschichte des byzanti-
nischen Italiens vom Ende des siebenten Jahrhunderts bis zu dem
Wiederauflodem des Kampfes mit den Langobarden. Es wird diese
Periode als die der italienischen Revolution bezeichnet. In der Tat
handelt es sich um die Zeit, in welcher sich die schließliche Ab-
lösung Mittelitaliens vom byzantinischen Reich vorbereitet hat. Es
handelt sich dabei nicht um eine einheitliche Bewegung, sondern zn-
meist um lokale Explosionen, die aber die Zusammenhänge immermehr
zerrissen. Als dann der Bilderstreit die Einzelfeuer zu einer großen
Flamme zusammenschlagen ließ, ist die Reichsgewalt zunächst schließlich
doch der Herr geblieben. Die Schilderung all dieser Vorgänge bei Hart-
mann gehört zum glänzendsten, was der Verfasser geschrieben hat, hier
freilich noch mehr als irgend wo anders gestützt durch eigene frühere
Untersuchungen. Es ist eine hohe Kunst, mit der er sich von einer
rhetorischen Kolorierung des geringen Materials ebenso femgehalten
hat, wie von einer dürftigen, langweiligen Aneinanderreihung. Ein
feiner Gedanke folgt dem andern ; betonen möchte ich besonders die
zutreffende Einschätzung des Bildersturms (H. 2 S. 91 f.), dessen
Bedeutung gewöhnlich nicht richtig geschätzt wird. — Den breitesten
Raum nehmen auch hier naturgemäß die Erörterungen über die
Verfassungsentwicklung ein : Hartmanns Grundgedanke, der ja bereits
in seinen Untersuchungen zum Ausdruck kam, ist der, daß im by-
zantinischen Italien die militärische Organisation die zivile voll-
kommen verdrängt hat, daß um das Schlagwort zu gebrauchen, die
Themenverfassung durchgedrungen ist. Trotz aller Genauigkeit der
Forschung scheint mir der Nachweis nicht gelungen. Wie im byzan-
tinischen Osten die Themenverfassung ausgesehen hat, wissen wir
viel zu wenig, um daraus Rückschlüsse für den Westen machen zu
können; die dalmatischen und istrischen Verhältnisse sprechen nicht
Hartmann, Geschichte Italiens II, 2 435
für eine Eliminierung des zivilen Elements. Das Gleiche gilt aber
nach meiner Meinung für Italien. Das ist ja gewiß richtig, daß die
regulären Truppen sich in eine Miliz verwandelt haben und zur herr-
schenden Klasse gehören: das ergibt sich aus dem Bericht des Ag-
nellus c. 140 über die Organisation des Georgius in Ravenna; das
folgt aus dem numerus von Triest im placitum von Risano, das
aus der Stellung der milites zu Comachio als Führer der Poschiflfe,
das in Rom aus der Gegenüberstellung des exercitus und des Clerus
bei der Papstwahl, das aus den venezianischen Verhältnissen, wo die
tribuni identisch sind mit der herrschenden Schicht, das endlich aus
der Rechtslage in Neapel und Sorrent. Allein die andere Frage ist,
ob wirklich die militärische Organisation die zivile verdrängt hat
und der numerus gebunden an ein Castell die Einheit bildete. Daß
der numerus als solcher mit dem öflFentlichen Verband zusammentrifft,
ist außer in Triest überhaupt nicht bezeugt; noch weniger aber kann
ich finden, daß die Castelle die Einheit abgegeben hätten: auch in
den byzantinischen Teilen sind die civitates die entscheidende Einheit
geblieben : das zeigt das placitum von Risano für Istrien, die verwischten
Nachrichten über die venezianischen Städte, dann für Mittelitalien der
Teilungsvertrag von 760 (Troya 741), der nach den verschiedensten
Richtungen grundlegend ist. Umgekehrt scheint mir, daß wir für
diese älteste italienische Zeit genau so wie im späteren Recht die
Stellung der Castelle zwar nur sehr undeutlich ermitteln können, aber
immerhin sehen, daß es sich höchstens um ziemlich willkürliche ünter-
bezirke der civitas handelt. Die zivilen Aemter aber haben fortge-
dauert; z.T. gilt das sogar für die Aemter der Provinzialverwaltung :
nichts anderes als das Amt des alten praeses provinciae ist in Ra-
venna bezeugt, wenn hier zu Ausgang des achten Jahrhunderts der
Consularis die Kriminalgerichtsbarkeit übt (v. Hadr. c. 14, c. 16), und
wenn in Perugia nach einer überaus merkwürdigen Urkunde noch
1034 neben den 4 judices provinciae Perusinae der proconsul civitatis
steht (Bonazzi storia di Perugia I S. 219). Es entspricht das voll-
kommen dem oströmischen Recht, wo noch viel länger als man nach
der augenblicklich herrschenden Lehre annimmt, der iTtapxoc neben
dem atpatYjYöc vorkommt. Oft hat freilich der dux die oberste
Gewalt seines Gebiets in die Hand bekommen: Venedig und Neapel
lehren das. Allein, wie steht es mit den Aemtern der civitas? Wäre
die Hartmannsche Lehre richtig, so müßte überall der tribunus und
die unter ihm stehenden Offiziere die richterliche Gewalt in die Hand
bekommen haben: allein überall zeigt sich, daß der Tribunat dem
Richteramt gegenübersteht und lediglich eine Vollstreckungsgewalt
in sich befaßt. Die richtige Lösung ist vielmehr die, daß wie im
436 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6.
«
langobardischen Gebiet die Eroberer, so im byzantinischen Gebiet
die römischen milites in den Kreis der possessores, d. h. der curiales
aufgegangen sind und die ganze Verfassungsentwicklung hier wie
dort an die Behörden der römischen civitas gebunden ist.
III. Die folgende Darstellung schildert den nunmehr aus-
brechenden Kampf des römischen Italiens und des Papstes mit der
Langobardei, das Eindringen der Franken und die Entwicklung bis
zur Kaiserkrönung Karl des Großen. Es handelt sich hier ja um
Vorgänge, welche von unzähligen Gelehrten immer wieder untersucht
worden sind und ich wüßte für Hartmanns Buch kein höheres
Lob, als daß auch hier seine Darstellung stets anziehend und inter-
essant ist. Vor allen gilt dies für jene verworrenen Vorgänge in
Rom, welche der Niederlage des Desiderius vorangehen. Eine Reihe
von Punkten, in denen ich von Hartmann abweichen zu sollen glaube,
habe ich in meiner Untersuchung über die Schenkungen Constantins
und Pipins (Zeitschrift f. Kirchenrecht III. Bd. 14, S. 1 f.) besprochen
und brauche deshalb hier, wo ich ohnedies übergroßen Raum bean-
sprucht habe, darauf nicht weiter einzugehen.
Die Anzeige des vorliegenden Bandes hat überwiegend zur
Darlegung dessen geführt, worin ich mit Hartmann nicht überein-
stimme. In einem Gebiet, das so dunkel ist, wie das siebente und
achte Jahrhundert italienischer Geschichte, wird sich ja eine voll-
ständige Einheit der Anschauungen nie durchsetzen. Aber was auf
einem so schwankenden Boden erreicht werden konnte, hat Hart-
mann erreicht: eine Darstellung, die uns weit über das bisher Er-
kannte hinausbringt und die in ihrer sachlichen Einfachheit und Fein-
heit auch immer wieder ein ästhetischer Genuß ist. Jeder Kenner der
italienischen Geschichte wird mit Spannung auf den dritten Band
warten.
Würzburg Ernst Mayer
K«A.Kelir, Die Urkunden der Norm a nnisch-Sicilis eben Könige. Eine
diplomatische Untersuchung. Mit Urkundenanhang und einer Kartenskizze.
Innsbruck 1902, Wagnersche Universitatsbuchhandlung. XIV, 512 S. Mk. 20.
Das vorliegende Buch verdankt dem Zusammenwirken verschie-
dener wissenschaftlicher Richtungen seine Entstehung. Von Schefifer-
Boichorst, dessen Andenken es gewidmet ist, erhielt der Verfasser
den Hinweis auf den Gegenstand. Die Neigung des Lehrers nach
dem Süden, die Bedeutung, die dem normannischen Staatswesen für
die spätere Stauferzeit zukommt, die eigenartigen Einrichtungen der
Kehr, Die Urkunden der normannisch-sizUischen Könige 487
normannischen Herrschaft, all das traf zusammen, um eine durch-
greifende Erforschung der normannischen Geschichte, die L. v. Heine-
mann zum Gegenstande einer zusammenfassenden Darstellung gemacht
hatte, als eine dankbare und notwendige Aufgabe erscheinen zu
lassen. Der methodischen Art des Lehrers entsprach es, durch eine
allseitige und erschöpfende Vorarbeit die Grundlage für die Aus-
fuhrung dieses Planes zu beschaffen, und hierfür war eines der ersten
Erfordernisse, die Einrichtung der normannischen Kanzlei, die Art
der Urkundenausfertigung kennen zu lernen, dadurch den festen
Boden für die Kenntnis und Beurteilung der anderen Verwaltungs-
einrichtungen, sowie des wirtschaftlichen und rechtlichen Lebens zu
gewinnen. An diesem Punkte hatte der Einfluß diplomatischer For-
schung einzusetzen, in die der Verfasser durch seinen älteren Bruder,
Paul Kehr, eingeführt wurde. Es ist bekannt und braucht ja gerade
an dieser Stelle nicht nochmals hervorgehoben zu werden, mit welch'
glücklichem Erfolge dieser die von Th. v. Sickel erdachte, an den
Urkunden der Karolinger und Ottonen erprobte und ausgebildete
Methode der Stoffsammlung in großem Maßstabe auf die Papstur-
kunden angewendet hat. Sein Beispiel hat den Bruder angeregt und
geführt, seine Vertrautheit mit den italienischen Archivbestanden und
sein Geschick haben diesem mehrfach die Wege geebnet, allem An-
schein nach ist aber auch eine gewisse Einseitigkeit auf dieses Vor-
bild zurückzuführen.
Man kann tatsächlich zwischen einer auf die formellen, äußeren
und inneren Merkmale der Urkunde gerichteten und einer vornehm-
lich dem Inhalte sich zuwendenden Urkundenlehre unterscheiden, und
diese Unterscheidung ist schon früh selbst von unmittelbaren Schü-
lern Sickels, wie z.B. Eduard Richter, gemacht, gerne auch an die
Namen Th. Sickels und Julius Fickers geknüpft worden. Namentlich
Scheffer-Boichorst hat diese Auffassung lange und in scharfer Form
vertreten, er liebte es, sich den Diplomatikern strenger Observanz,
in denen er »eine Art Byzantiner < entdeckt zu haben glaubte, gegen-
überzustellen (Gesammelte Schriften 1*, 40). Nicht ganz mit Recht
und jedenfalls nicht zum Vorteil seiner eigenen Arbeit. Es ist ja
erklärlich und durchaus in der Sache begründet, daß bei den Vor-
arbeiten für die Verzeichnung oder VeröflFentlichung von Urkunden
die formalen Merkmale, denen die ersten und wichtigsten Kennzeichen
der Echtheit, beziehungsweise der kanzleigemäßen Ausfertigung zu
entnehmen sind, in erster Linie stehen, wie sie überhaupt den eigent-
lichen Inhalt der Lehre von den Urkunden als eines selbständigen
Teiles der Quellenkunde bilden. Das schließt aber die eingehende
Beschäftigung mit dem Inhalte nicht aus. Gerade Th. v. Sickel hat
488 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6.
auch ihm stets volle Aufmerksamkeit gewidmet, die Mittel innerer
Kritik niemals vernachlässigt, unmittelbar und mittelbar vor allem
die rechtsgeschichtliche Forschung gefördert, wie es überhaupt nicht
angeht, Inhalt und Form strenge von einander zu trennen. Wohl
aber ist der Unterschied zwischen der Aufgabe des Urkundenforschers
und der des Rechts- oder Wirtschaftshistorikers, zwischen dem mit
der Methode und den Ergebnissen der Rechts- und Wirtschaftsge-
schichte vertrauten Diplomatiker und dem an der Methode der Ur-
kundenlehre geschulten Rechts- oder Wirtschaftshistoriker festzuhalten,
es ist daran zu mahnen, daß auch die Urkundenlehre ihren ihr eigen-
tümlichen Stoff besitzt, sich auf diesen zu beschränken hat. Nur
scheint mir E., worauf ich noch zurückkomme, in dieser Beschrän-
kung etwas zu weit gegangen zu sein.
In der Anordnung des Stoffes hält sich Kehr hauptsächlich an
Sickels Lehre von den Urkunden der ersten Karolinger, wie dieser
teilt er ihn in die Abschnitte: Kanzlei, Aeußere, Innere Merkmale,
Fälschungen, weicht von dem Vorbilde nur darin ab, daß er die
äußeren den inneren Merkmalen vorangehen läßt, nicht eben zum
Vorteile der Uebersichtlichkeit, da dadurch mehrfach Wiederholungen
notwendig geworden sind, die andernfalls vermieden werden konnten.
Als Einleitung schickt er eine Uebersicht über den Bestand und
die Ueberlieferung voraus, die uns seine Sammelarbeit veranschaulicht
Zur Ergänzung sind jetzt anzuführen: Ueber Patti (S. 15) die aas
Kehrs Nachlaß von Erich Caspar veröffentlichten Mitteilungen (Quellen
und Forsch, aus italienischen Archiven VII (1904), 171 ff.), über das
Archiv zu Monreale (S. 10) G. Millunzi, II tesoro, la biblioteca ed il
tabulario della chiesa di Santa Maria Nuova a Monreale (Archivio
storico'^Siciliano N. S. XXVIII (1903), 279—294 u. 387 ff.) über Gir-
genti (S. 12) G. A. Garufi, L'archivio capitolare di Girgenti (ebenda
S. 123 — 156). Für den ganzen Abschnitt kommen die Bemerkungen
Chalandons (Le Moyen Age 2« serie, VII (1903), 303) in Betracht.
Das Hauptgewicht liegt auf der Geschichte der Kanzlei und auf
der Darstellung der äußeren Merkmale. Der Verfasser ist selbst-
verständlich in der Lage, viel mehr zu bieten als Bresslau (Hdb. der
Urkundenlehre I, 426—430) und Chalandon (La diplomatique des Nor-
mands de Sicile et de Tltalie meridionale in den Melanges d'arch^
logie et d'histoire XX (1900), 155—197), deren Mitteilungen auch in
wichtigen Einzelheiten zu berichtigen.
Während der normannische Eroberer Englands und seine Nach-
folger bis auf Heinrich U. der Kanzlei entbehrten, haben die nach dem
Süden Italiens gezogenen Normannen sofort Kanzleien eingerichtet,
und dementsprechend haben auch die normannischen Könige von
Kehr, Die Urkunden der nonnannisch-sizilischen Könige 489
Sizilien und Neapel von Anfang an eine Kanzlei gehabt, aus welcher
die lateinischen und griechischen Urkunden hervorgingen, wogegen
die arabischen von den Beamten der aus der Zeit der Sarazenen-
herrschaft übernommenen Doana regia ausgefertigt wurden. Die
griechischen Notare, welche keine eigene Kanzlei, sondern nur eine
Abteilung bildeten, überließen die Ausfertigung der Urkunden zumteil
auch den Empfängern (S. 68). Neben der Kanzlei, in engem Zu-
sammenhang mit ihr, bestand die königliche Kapelle.
An der Spitze der Kanzlei stand der Kanzler, ein Großwürden-
träger des Reiches, der in der inneren und äußeren Politik eine große
Rolle spielte, sich aber an der Ausfertigung der Urkunden nicht be-
teiligte, überhaupt auf die Führung der Kanzleigeschäfte keinen un-
mittelbaren Einfluß übte. Die Kanzler mußten nicht notwendig geist-
lichen Standes sein, es begegnen uns unter ihnen auch zwei Laien
bürgerlicher Herkunft, die in der Kanzlei bis zur höchsten Würde
emporgestiegen waren (S. 94). Unter dem Kanzler stand der vice-
cancellarius , der jenen im Falle seiner Abwesenheit vertrat, und
dem die eigentliche Leitung zukam. Vereinzelt kommt ein si-
gillarius vor; der in den Urkunden der normannischen Grafen und
Herzöge übliche Titel protonotarius wird nur in wenigen Urkunden
Rogers II. noch verwendet. Die Logotheten, die mehrfach erwähnt
werden, hält Kehr am ehesten für Sekretäre des Königs. Als Vor-
stand des Kanzleipersonales erscheint der magister notarius. Die
Notare sind sehr zahlreich, unter Wilhelm II. lassen sich ihrer 23
nachweisen, es waren mehrere neben einander angestellt, unter die
aber die Arbeit keineswegs gleichmäßig verteilt war. Jeweils hatte einer
einen größeren Wirkungskreis, standen ihm andere als Hilfskräfte
zur Seite, man kann also, wie Kehr hervorhebt, eine ähnliche Arbeits-
teilung annehmen, wie sie in der kaiserlichen Kanzlei üblich war.
Zum größten Teile stammten die Notare aus Unteritalien, doch
kommen auch Sizilianer und Franzosen, zur Zeit Heinrichs VI. auch
Deutsche vor, die nach seinem Tode allerdings verschwinden. Die
Notare sind vorwiegend Laien, die ihre Schulung wahrscheinlich in
dem öffentlichen Notariat erhalten hatten. Ihre Hauptaufgabe war,
die königlichen Urkunden abzufassen und zu schreiben ; der in der
Bekräftigungsformel genannte scriptor hat die Urkunde tatsächlich
geschrieben, dadurch wird die Schriftvergleichung das wichtigste und
sicherste Mittel für die Feststellung der Echtheit. Doch waren die
Notare auf diese Verpflichtung nicht beschränkt, sie hatten auch die
Gerichtsurkunden, ja selbst deren Beilagen zu schreiben, und waren
auch außeramtlich tätig (S. 113).
In Verbindung mit der Kanzlei stand das königliche Archiv zu
440 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
Palermo (scrinea regia) unter der Leitung eines zur Kandei gehS-
rigen scriniarius. Gegen die von Bresslau (a. a. O. S. 136) YertreteM
Annahme, daß schon die normannische Kanzlei Urkundenregister ge-
führt habe, spricht sich Kehr aus, er meint, daß höchstens die Er-
lässe an die Verwaltungsämter gebucht worden seien (S. 132).
Das Aeußere der Urkunden weist in wichtigen £iii2elkeite&»
namentlich in der Schrift, dem Linienschema und der Rota den Ai-
schluß an die Gebräuche der päpstlichen Kanzlei auf. Die Rota
wurde schon von den Vorgängern gebraucht, sie wird aber niemals
zur eigenhändigen Vollziehung benutzt, für diese dient in wiehtigomi
Urkunden unter Roger IL die königliche Unterschrift, die unter der
Datierung ihren Platz findet, in welchem Falle die Rota wegbleibt
Die Urkunden sind regelmäßig auf dem landesüblichen Pergamente
mit weißer Innenseite (album) geschrieben, Papier (x^ptoc ^ofJ^
xtvoc carta cuttunea) wurde in der Kanzlei jedenfieills verwendet,
doch haben sich Papierurkunden nicht erhalten. Rote Tinte wurde
nur für die Rota, niemals zur Unterschrift gebraucht. Goldsclnrift
findet sich in den beiden Purpururkunden Rogers II. von 1139 nid
1140. Die in Holzkapseln eingegossenen roten Wachssiegel haben,
wohl entsprechend dem Gebrauche in der französischen Heimat, spits-
ovale Form, sie werden allmählich von den Metallsiegeln (Blei- und
Goldbullen) verdrängt, kommen aber unter Konstanze wieder zn
Ehren. Zuerst waren Gemmensiegel üblich, die Könige aber ver-
wenden nur Porträtsiegel, das Rogers IL zeigt den König stehend,
seine Nachfolger bedienen sich der Thronsiegel. Die Bullen bieten
auf der einen Seite das Ghristusbild, auf der anderen das Bild des
Königs in ganzer Figur, stehend in byzantinischer Tracht. Die auf-
gedrückten Wachssiegel sind in besonderer Art eingehängt, Qbenso
sind die Holzkapseln eigenartig befestigt, ohne daß jedoch eine ohne
Beschädigung der Urkunde nicht lösbare Verbindung mit dem Perga-
ment hergestellt worden wäre (S. 210). Unter Konstanze geht man
zu dem gewöhnlichen Anhängen mittelst zusammengedrehter Seiden-
fäden, vorwiegend von roter Farbe, über, für welche in die Pliea in
der Regel vier rautenförmig gestellte Löcher eingeschnitten werden.
Das gleiche Verfahren befolgte man bei dem Anhängen der Bullen.
Chirographierung wurde nur vereinzelt bei Verträgen beliebt (S. 18S).
Zeugenunterschriften sind selten, und in den wenigen Fallen haben
öfters nur die Zeugen geistlichen Standes eigenhändig unterschrieb«!
(S. 180).
Wenden wir uns den inneren Merkmalen der Urkunden (carta,
sigillum) zu. Ausgeschieden hat Kehr die Briefe, die kaum aus der
Kanzlei hervorgegangen und in der Hauptsache den Forderungen
Kehr, Die Urkunden der nonnannisch-sidÜBchen Könige 441
fürstlicher Etikette angepaßt sind, die auf dauernde Geltung berech-
neten Konstitutionen und die als Plateae bezeichneten besiegelten
Pergamentrollen urbarialen Charakters, die von den Beamten der
Doana geschrieben wurden. Verträge und Gerichtsurkunden haben
die Form gewöhnlicher, in der Kanzlei ausgefertigter Urkunden, es
bleiben also nur die beiden großen Gruppen der Privilegien und
Mandate, Vergabungen und Anordnungen, übrig. Im äußern unter-
scheiden sich die Mandate von den Privilegien durch den Mangel
des Chrismon (eines Kreuzes) und dadurch, daß sie in einem Ab-
sätze geschrieben sind, bei den Privilegien die Datierung abgetrennt
ist, im Formular durch die Inscriptio, durch das Fehlen des Re-
gierungs- und Inkamationsjahres in der Datierung, seit dem Jahre
1145 auch durch die Tagesangabe. Die Privilegien wurden in ver-
schiedener Ausstattung ausgefertigt, doch läßt sich eine feste Schei-
dung unter diesem Gesichtspunkte nicht durchfuhren.
Wie schon früher bemerkt, wurden Urkunden in lateinischer,
griechischer und arabischer Sprache ausgestellt, doch verdrängt die
mit großer Sorgfalt behandelte lateinische Sprache allmählich die
beiden anderen. Was Kehr über die in dieser Dreisprachigkeit der
normannischen Kanzlei berücksichtigten persönlichen Rechte sagt
(S. 239), kann jetzt durch die Ausführungen Karl Neumeyers (Die
gemeinrechtliche Entwickelung des internationalen Privat- und Straf-
rechtes bis Bartolus I (1901), 203, 246, 247) erweitert und vertieft
werden.
Das streng selbstherrliche Wesen des normannischen Königtums
übte seine Wirkung auch auf die Geschäftsführung der Kanzlei. Für-
bitter werden nur selten erwähnt, die von dem Bewerber um eine
königliche Vergabung gestellte Bitte wurde von dem Kanzler, be-
ziehungsweise dem Vizekanzler oder dem magister notarius über-
nommen, geprüft und an den König geleitet, der sie entweder sofort
genehmigte oder die notwendigen Erhebungen, die Prüfung der vor-
gelegten Urkunden anordnete. Da die Könige eine ständige Residenz
hatten, die Kanzlei in guter Ordnung gehalten wurde, ging das Be-
arkundungsgeschäft glatt und rasch vor sich. Der Empfänger hatte
eine Taxe zu entrichten, welche durch die im Jahre 1167 erlassene
Taxordnung, deren Inhalt uns leider nicht bekannt ist, geregelt
worden war. Die Notare entwarfen Konzepte, haben aller Wrfir-
scheinlichkeit nach auch Formeln und Formelbücher zur Hand
gehabt.
Das Formular der Urkunden verrät eine Vereinigung verschie-
dener, bunt durcheinanderlaufender Einflüsse. Der Anschluß an die
Urkunden der normannischen Grafen und Herzöge Apuliens und
06ti. gel. Ans. 1906. Nr. 6 31
442 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
Siziliens äußert sich am stärksten in dem Protokoll, so wird z. B.
die sizilische Invocatio (In nomine Dei aetemi et salvatoris nostri
Jesu Christi) gebraucht, unter Konstanze tritt zu Lebzeiten Hein-
richs VI. an ihre Stelle die den Eaiserurkunden eigentümliche, seit
jeher auch in Apulien verwendete Dreieinigkeitsformel, die nach des
Kaisers Tod wieder aufgegeben wird. Der Titel wird znerst durch
eine Verbindung der sizilischen und der apulischen Form gebildet,
gegen die Annahme, daß im Jahre 1136 nach der Eroberung Capnas
ein neuer festgestellt worden sei, den man für die Folgezeit beibe-
hält, spricht sich Chalandon (a. a. 0. S. 304) mit triftigen Gründen
aus, der annimmt, daß die Bildung des neuen Titels erst im Jahre
1139 nach der Bestätigung der königlichen Würde Rogers IL durch
Innozenz II. vorgenommen worden sei. Die Datierung steht zuerst
nach sizilischem Brauche am Anfange, seit 1137 nach apulischer Art
am Schlüsse, zu Ende des Jahres 1144 wird ein festes Schema aus-
gebildet : Data, Ort, per manum . . ., Inkamationsjahr, Tagesangabe»
Indiktion und Regierungsjahre. Wie für die Schrift, hat auch für die
Fassung die Papsturkunde mehrfach als Muster gedient, so. hinsicht-
lich der seit 1142 regelmäßig gebrauchten Apprecatio, der Arenga
in den lateinischen Urkunden, der Promulgatio, der Pönformel, deren
Gebrauch wechselt, und der Aushändigungsformel. Der byzantinische
Einfluß erstreckt sich auf die Fassung der königlichen Unterschrift
und auf die Arenga in den griechischen Urkunden. Unter Konstanze
übte die Kaiserurkunde ihren Einfluß auf einzelne Formeln, so die
Gruß- und Bekräftigungsformel.
Die gute Ordnung in der Kanzlei mußte auch auf die Datierung
einwirken, deren Angaben sich nur auf einen Zeitpunkt, den der
Beurkundung, beziehen. Beide Arten von Urkunden sind datiert,
darin liegt ein wesentlicher Unterschied von denen der englischen
Könige normannischen Stammes, die bis auf Richard Löwenherz der
Datierung entbehren. Hinsichtlich der einzelnen Angaben aber unter-
scheiden sich Mandate und Privilegien. Die Tagesbezeichnung findet
sich nur bis zum Jahre 1144 in beiden, seit 1145 wird in den Privi-
legien nur mehr der Monat genannt, ein Verfahren, das durch die
sizilische Kanzlei Friedrichs II. in die Reichskanzlei eindrang. Seit
dem Jahre 1144 wurde auch die bis dahin übliche Tagesbezeichnnng
nach dem römischen Kalender durch die fortlaufende Zählung er-
setzt. Neben den Monaten oder Monatstagen kommt hie und da die
Festangabe vor. Die Indiktion (griechische vom 1. September) wird
sowohl in Mandaten wie in Privilegien eingesetzt, dazu tritt in den
lateinischen Privilegien das Jahr der christlichen, in den griechischen
das der byzantinischen Aera, in den arabischen das der Hedacbii.
Kehr, Die Urkunden der normannisch-sizilischen Könige 443
Der in Apulien übliche Jahresanfang am 1. September wird in könig-
lichen Urkunden nur ausnahmsweise gebraucht, Regel ist nach Kehrs
Behauptung (S. 304) nicht, wie man früher annahm, der calculus
Florentinus, sondern der Umsatz zu Weihnachten. Die von ihm ange-
führten Beispiele scheinen das allerdings, wenn sie nicht etwa durch
Anwendung der Septemberepoche zu erklären sind, zu bekräftigen,
aber ebenso sicher ist nach etlichen Stücken, auf die Ghalandon auf-
merksam gemacht hat (a. a. 0. S. 307), der Gebrauch der Florentiner
Rechnung. Regierungsjahre, die sich schon in den Urkunden der
apulischen Herzöge finden, werden in den königlichen Privilegien
eingesetzt, neben den Regierungsjahren des Vaters werden auch die
Herzogs- oder Königsjahre des Sohnes angemerkt, in welchem Falle
eine doppelte Apprecatio zweifacher Fassung (feliciter amen, prospere
amen) mit der Datierung verbunden ist. Die Berechnung ist durch-
aus zuverlässig, erst als unter Konstanze noch die drei Arten von
Regierungsjahren Heinrichs VI. zu zählen waren, riß Verwirrung ein.
Wenn ich früher eine gewisse Einseitigkeit des besprochenen
Buches andeutete, so habe ich dabei eben den Abschnitt über die
inneren Merkmale im Sinne, der gegen die beiden Kapitel über die
Kanzlei und die äußeren Merkmale entschieden abfällt. Allerdings
ist sich Kehr über den Wert der vergleichenden Urkundenlehre klar
geworden, und ganz zutreffend hebt er in dem Vorworte (S. IX) die
Bedeutung hervor, die gerade den Urkunden der unteritalienischen
Normannen in dieser Richtung zukommt. Die Ausführung aber bleibt
hinter den Erwartungen, die er durch diese Worte erregt hat, zu-
rück. Zumeist begnügt sich der Verfasser damit, die Aehnlichkeiten
nur anzudeuten, wo doch, wie z. B. bei der Arenga, eingehende
Gegenüberstellung und Vergleichung von großem Nutzen gewesen
wäre. Ueber die Umgestaltung der Narratio und Dispositio, gerade
der sachlich wichtigsten Teile, geht er »als zu weit führende einfach
hinweg (S. 277). Eingehender hätten auch die Urkunden der Nor-
mandie und der englischen Normannenkönige berücksichtigt werden
sollen. Die vergleichende Forschung hat ja nicht allein die Ueberein-
stimmung, sondern auch die Unterschiede herauszuarbeiten, und es
ist jedenfalls ein sehr beachtenswerter Vorgang, daß Fürsten gleichen
Stammes und gleicher Herkunft unter dem Einflüsse der Verhält-
nisse, die sie in der neuen Heimat vorfanden, einen so wichtigen
Zweig der Verwaltung in ganz verschiedener Weise behandelten, um
so merkwürdiger, als die Normannen ihre Sprache und ihr Recht
mit nach Italien nahmen (Neumeyer a. a, 0. S. 235). Solche Auf-
gaben können ja doch nur von der Spezialdiplomatik behandelt
werden. Raum hierfür und vielleicht auch für die Beigabe einer
31*
444 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 6
schwer vermißten Schrifttafel wäre gewonnen worden, wenn Kehr
das Kapitel über die Fälschungen (S. 312—406) und die als Anhang
beigegebenen Urkunden (S. 409 — 506) weggelassen hätte. Die in dem
fünften Kapitel vereinigten Exkurse sind ja von Bedeutung als Vor*
arbeiten, aber an allgemein wichtigen Ergebnissen doch nicht sehr
reich, sie hätten wohl am besten in einer Zeitschrift Platz ge-
funden. Die im Anhange abgedruckten Urkunden werden aber an
Wert verlieren, sobald die von C. A. Garufi vorbereitete Sammlung
vorliegt. Bei geringerem Umfange wäre wohl auch der für ein der^
artiges Buch allzu hohe Preis ermäßigt worden. Im einzelnen be-
merke ich noch, daß die Urkunde für den Erzbischof v. Palermo
(Kehr S. 307) neuerdings bei La Mantia, Antiche consuetudini delle
cittä di Sicilia 225 n^ 1 gedruckt ist. Die Gründungsurkunden der
sizilischen Bistümer hat gleichfalls auf Anregung Schefifer-BoichorsU
im Anschluß an eine Arbeit Starabbas Erich Caspar zum Gegen-
stände einer Dissertation (Innsbruck 1902) gemacht, die er in sein
Buch (Roger II. und die Gründung der neuen sicilischen Monarchie.
Innsbruck 1905) aufgenommen hat. In diesem bietet Caspar aneh
ein Regest Rogers IL (S. 481—579).
Dankenswerte Beigaben sind das von Kehr zusammengestellte
Literaturverzeichnis (S. 507 — 510) und eine allerdings etwas unvoll-
ständige Kartenskizze.
Alles in allem ein Buch, das eine wertvolle Bereicherung ni-
serer Kenntnisse darstellt und die Größe des Verlustes ermesseii
läßt, welchen die Wissenschaft durch den Hingang des so bedentesd
veranlagten jungen Gelehrten erlitten hat. Schmerzlich genug, daß
diese Zeilen, die der Auseinandersetzung mit dem Lebenden dienen
sollten, ein Blatt der Erinnerung werden mußten.
Graz Karl Uhlirz
Arthur Haseloff, Die Eaiserinnengräber in Andria. Ein Beifang
zur apulischen Kunstgeschichte unter Friedrich II. Bibliothek desKgL
Preußischen Historischen Instituts in Rom. Bd. L Kernt
Loescher & Co., 1905. YIII, 61 S. mit nenn Tafeln und 25 TextabbOdnBg»
6Mk.
Der Vorstand des Historischen Instituts in Rom, P. Kehr, leitel
die vorliegende Arbeit mit folgendem Vorwort ein:
>Mit diesem Hefte erö£fhen wir eine neue Serie ?on Institnta-
publikationen, die in freier Folge erscheinen werden. Die ,BibIioth6l
des Kgl. Preußischen Historischen Instituts in Rom' soll diejeiigei
Haseloff, Die Kaiserinneogräber in Andria 445
Abhandlungen von größerem Umfang enthalten, welche den Rahmen
unserer Zeitschrift, der ^Quellen und Forschungen aus italienischen
Archiven und Bibliotheken' überschreiten und welche keinen Platz
finden können in den großen Editionen des Instituts. Sie soll vor-
nehmlich »Monumenta varia< aus allen Gebieten der mittleren und
neueren Geschichte darbieten, größere Arbeiten und Abhandlungen
früherer und gegenwärtiger Mitglieder und solcher Gelehrter, welche
mit Hülfe und Unterstützung des Instituts in Rom und in Italien
arbeiten <.
>Die Abhandlung von A. Haseloff über die Eaiserinnengräber
in Andria ist aus einem Bericht hervorgegangen, den der genannte
Gelehrte dem Preußischen Kultusministerium zu erstatten beauftragt
war. Der Besuch unseres Kaisers in Süditalien belebte die alten
staufischen Erinnerungen in diesen Landen, vornehmlich in Apulien;
aus dem Dunkel tauchten die Gestalten der beiden Kaiserinnen auf,
deren Gräber man in der Krypta von Andria entdeckt zu haben
glaubte. Ist nun auch der Beweis nicht gelungen, so sind doch
Reste an den Tag gekommen, welche für die Geschichte der staufi-
schen Kunst in Apulien nicht unwichtige Beiträge liefern. Von
ihnen handelt die vorliegende Untersuchung c.
>Sie ist angeregt durch die lebhafte Teilnahme, welche unser
kaiserlicher Herr der Geschichte und den Denkmälern des staufi-
schen Hauses und vorzüglich Friedrichs IL entgegenbringt, dessen
Urkunden herauszugeben und dessen Bauten zu beschreiben nun eine
der vornehmsten Aufgaben des Historischen Instituts sein wird. Sie
ist ermöglicht durch die Munifizenz des Herrn Ministers der geist-
lichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, welcher auf den
Antrag des unterzeichneten Direktors des Instituts dem Verfasser
ein Reisestipendium und dem Institut einen Beitrag zu den Druck-
kosten gewährtet.
Haseloff ist inzwischen zum kunsthistorischen Assistenten am
Historischen Institut in Rom ernannt worden. Somit ist das Interesse
des Kaisers der Anlaß zur Erfüllung einer alten gerechten Forde-
rung der aufstrebenden Kunstwissenschaft geworden, dahin gehend,
es möge ihr wie den Archäologen und Historikern ein Plätzchen in-
mitten der Denkmäler Italiens gegönnt werden. Die Bewilligung
einer Assistentenstelle beim Historischen Institut ist freilich ein
Tropfen auf den heißen Stein. Haseloff wird sich mit dem Mittel-
alter zu befassen haben. Am Archäologischen Institute sollte längst
ein christlicher Archäologe angestellt sein. Immerhin ist anzuer-
kennen, daß sich allmählich auch für das Kunsthistorische Institut
446 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
in Florenz einige Kapitalien zusammenfinden. Seine Studien richten
sich vornehmlich auf das Gebiet der Renaissancekunst.
Die Arbeit Haselofüs, eines auf dem Gebiete der mittelalterlichen
Kunstfprschung bewährten Gelehrten, ist frei von jedem Chauvinis-
mus; nüchtern zeigt er, was an der Mähr von den Gräbern der
beiden Kaiserinnen wahres ist: zunächst die historische Unterlage,
dann die bei den Ausgrabungen gemachten Funde und vor allem den
Ort dieser Arbeiten selbst, den alten Dom von Andria. Das Er-
gebnis der Untersuchung ist ein negatives. Man hatte zum Spaten
gegriffen, um die Gräber zweier Kaiserinnen zu finden und deutete
nun alles in diesem Sinne. Haseloif hat ganz recht, wenn er daran
erinnert, daß man hätte darauf gefaßt sein müssen, zunächst auf Reste
des mittelalterlichen Mobiliars der Kirche, d. i. Stücke von Ciborien,
Ambonen, Leuchtern, Schranken und dergleichen zu stoßen. Haseloff
stellt zusammen, was sich mit den Fundstücken von Andria Ver-
wandtes in Apulien und sonst nachweisen läßt. Zwei Marmorkapitelle
würden ihrer Entstehungszeit und der Güte ihrer Arbeit nach zwar
für das Grabmal der Kaiserinnen passen, taugen aber in den Maßen
eher für ein Tabernakel. Ebenso gehören in die Zeit Friedrichs IL
die Fragmente eines Baldachins und Kapitelle, die zu diesen gehören
dürften, wenn auch ihre Arbeit von jener der Ornamente des Bogens
abweicht. Die Rekonstruktion führt aber darauf, daß auch diese
Fundgruppe sich kaum zu einem Grabmal ergänzen läßt. Die
Untersuchung des gleichzeitigen Grabmaltypus nämlich lehrt, daß
die Bodengräber der Unterkirche von Andria sich nicht damit ver-
einigen lassen: der geläufige Typus weist immer einen Sarkophag
auf. Und wenn man auch annähme, daß an anderer Stelle noch
ein Kenotaph errichtet worden sei, so steht einer solchen Deutung
doch die quadratische Grundform des im übrigen allerdings ent-
sprechenden Baldachins entgegen. Haseloif prüft zum Schluß die
Möglichkeit, ob vielleicht alle gefundenen Stücke zu einer Kanzel
gehört haben könnten. Der Vergleich mit erhaltenen Beispielen
macht auch das unwahrscheinlich, so daß im allgemeinen gesagt
werden muß: zu den Gräbern der Kaiserinnen gehören die Fnnd-
stücke nicht; es läßt sich aber ebensowenig mit Sicherheit be-
stimmen, zu welcher Art von Kirchenmöbel oder dergleichen sie sonst
verarbeitet waren.
Haseloff hat in vorliegender Arbeit auch einige omamentge-
schichtliche Studien angestellt, auf die ich hier nicht eingehe, weil
sie in einem größeren Zusammenhange zugleich mit den von Bertaux,
in seinem Werke L'art dans Tltalie m^ridionale, geäußerten An-
sichten geprüft werden müssen. Darauf wird in einer Arbeit Über
Haseloffy Die Eaiserinnens^räber in Andria 447
eine Gruppe von Grabdenkmälern zurückzukommen sein, die für ver-
loren gelten, denen aber mit mehr Aussicht auf Erfolg nachgeforscht
werden kann, als den Gräbern von Andria.
Graz Josef Strzygowski
A« Hanek, Kirchengeschichte Deutschlands. Vierter Teil. Erste
und zweite (Doppel-) Auflage. Leipzig 1903, J. C. Hinrichs. 1015 S. Mk. 17.50.
Die Vorzüge, die anläßlich der Besprechung des dritten Teiles
zu rühmen waren (GGA. 1897, 99 — 115), sind auch dem neuen Bande
zu eigen. Auch in diesem hat der Verfasser den gewaltigen Stoff
mit starker Hand gemeistert. Wie er es verstanden hat, sich in die
Quellen zu vertiefen, uns überall selbständig erworbene Kenntnis zu
vermitteln, muß bei dem zunehmenden Reichtum der Quellenzeug-
nisse aufs höchste eingeschätzt werden. Möglich war diese Leistung
nur dadurch, daß Hauck, ohne in eine tendenziöse Richtung zu ver-
fallen, einen Standpunkt gewählt hat, der ihm die Ordnung des aus-
gebreiteten Stoffes, die Scheidung des Wichtigen von dem Neben-
sächlichen gestattete, einen Grundgedanken, der ihn über die bloße
Kompilation zu wahrhaft wissenschaftlicher Auffassung erhob: die
Trenniing der weltlichen von der kirchlichen Kultur. Es ist dies ein
Vorgang von höchster Bedeutung, dessen Anfänge schon in der vor-
hergegangenen Zeit zu erkennen waren, der in dem Zeiträume, dem
der vorliegende Band gewidmet ist, der Staufischen Periode, schon
auf allen Gebieten des politischen, kirchlichen, gesellschaftlichen und
geistigen Lebens seine Wirkung äußert. Auf diesem Wege konnte
der Verfasser, ohne sich mit so kläglichen Auskunftsmitteln, wie
etwa der potestas directa et indirecta, abquälen zu müssen, zu einer
gerechten historischen Würdigung der Ereignisse und der führenden
Personen gelangen. Es ist nun eines der lehrreichsten Schauspiele,
zu verfolgen, wie mit den ersten offenen Wirkungen dieses Vor-
ganges, der ja heute noch nicht abgeschlossen ist, und der gerade
in unseren Tagen mit dem unbestrittenen Vorrange nicht-konfessio-
neller Wissenschaft, dem kirchenpolitischen Kampfe in Frankreich
und dem Zusammenbruche der autokratisch-konfessionellen Staatsform
in Rußland an Wendepunkten von unermeßlicher Bedeutung ange-
langt ist, der Sieg des Papsttums über die in der deutschen Kirche
vorhandenen Ansätze zu einer Sonderstellung zusammenfällt.
Unaufhaltsam drang die Macht des Papsttums in die obersten
Kreise der Hierarchie ein, das erzbischöfliche und bischöfliche Amt
wurde ihm völlig Untertan, die Zurückdrängung des weltlichen Ein-
flusses bei den Bischofswahlen, die Einschränkung des Wahlrechtes
448 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
auf die Domkapitel, die Palliumsverleihungen, all das kam der Kurie
zugute und sicherte ihr einen maßgebenden Einfluß auf die Besetzung
der obersten hierarchischen Stellen, deren kirchliche Machtbefugnis
indessen vielfach von unten und von oben her eingeschränkt worden
war. Infolge ihrer in dem vorhergehenden Zeitraum begründeten
politischen Stellung waren die Bischöfe des unmittelbaren seelsorge-
rischen Einflusses auf die Bevölkerung zu nicht geringem Teile ver-
lustig gegangen, das seit dem zehnten Jahrhundert von Lothringen
her vordringende Archidiakonat hatte wichtige, früher von den Bi-
schöfen selbst geübte Befugnisse übernommen, die stete Vermehrung
dei: Bevölkerung, das Aufblühen der Städte hatten die Bedeutung
des Pfarramtes gehoben. Die von den großen Päpsten der staufischen
Zeit angestrebte und auch durchgeführte unmittelbare Regierung, die
Zentralisierung der Rechtsprechung an der Kurie mußten nicht we-
niger dazu beitragen, die Stellung der Erzbischöfe und Bischöfe za
schwächen, wogegen sie für die mannigfache Einbuße an geistlicber
Gewalt einen recht ungleichartigen und ihrer eigentlichen Aufgabe
keineswegs förderlichen Ersatz nur in der Ausbildung ihrer Stellung
als Landesherren, also auf rein weltlichem Gebiete, fanden.
Die universale Richtung des Papsttums machte sich auch in dem
Verhältnisse zur weltlichen Gewalt, vor allem zum Kaisertum geltend,
dem es Anfangs mit sachlicher und persönlicher Ueberlegenheit ent-
gegentrat. Der Kampf wurde nicht von der Kurie selbst, sondern
von den Führern des deutschen Episkopats eröffnet, die den Tod
Heinrichs V. benutzen wollten, um die Freiheit der Bischofs- und
Abtswahlen, die Unabhängigkeit von der königlichen Gewalt zu sichern,
die Fortdauer der in dem Wormser Konkordate gemachten Zugeständ-
nisse zu verhindern. König Lothar war ihnen darin zu Willen; daß
er sich, wenigstens soweit nicht sein persönlicher Vorteil in Betracht
kam, der Einmengung in geistliche Angelegenheiten enthielt, genügte
jedpch der streng kirchlichen Partei nicht, es zeigte sich sofort, daß
sie nicht die Erhaltung des durch Lothars Nachgiebigkeit hergestellten
friedlichen Zustandes, sondern die Unterordnung der weltlichen unter
die geistliche Gewalt anstrebte. Noch einmal wäre der deutsche
König in der Lage gewesen, bei der nach dem Tode Honorius II.
erfolgten Doppelwahl das entscheidende Wort zu sprechen. Lothar
ließ die Gelegenheit ungenützt vorübergehen, er vermochte von
Innozenz II. nur zu erreichen, daß den Bischöfen und Aebten ver-
boten wurde, von den Regalien ohne vorhergehende Belehnung Besitz
zu ergreifen.
Wenn die päpstliche Gewalt, die zu jener Zeit auch die theore-
tische Grundlage ihres Machtanspruches abgeschlossen und gefestigt
Hauck, Kirchengeschicfate Deutschlands. IV 448
hatte, in der Hauptsache siegreich geblieben war, mußte sie doch
noch einen schweren Angriff bestehen. Der Staufer Eonrad III. hatte
sich zwar anfangs gleich seinem Vorgänger durchaus fügsam gegen
die päpstlichen Forderungen erwiesen, allmählich aber hatte er sich
zur Umkehr gewandt, wobei er durch den Wechsel, der sich in der
öfifentlichen Meinung zu Ungunsten der hierarchischen Bestrebungen
vollzogen hatte, unterstützt wurde. Bei der Neuwahl nach seinem
Tode wurde der Papst ' übergangen, Friedrich I. nahm hinsichtlich
der Bischofswahlen eine andere Haltung als seine nächsten Vorgänger
ein und griff auf die Eirchenpolitik der fränkischen Kaiser zurück.
Der Kampf, der sich von neuem entspann und fast ein Jahrhundert
währte, endete insofern mit dem Siege des Papsttums, als am Ende
der deutsche Episkopat, die gesamte Ordens- und Weltgeistlichkeit
seinem Willen unterworfen waren, während in dem Streite zwischen
sacerdotium und Imperium dem Kaiser gegenüber die Machtmittel
des Papsttums versagt hatten, die Entscheidung zu dessen Gunsten
nur durch einen Zufall, den Tod Friedrichs IL, gefallen war.
Als ein wesentliches Mittel, um jenen inneren Erfolg herbeizu-
führen, sind die neuen Orden zu betrachten, denen Hauck den neben
dem Kapitel Theologie wohl gelungensten Abschnitt seines Buches
gewidmet hat. Trotz der Kluniazenser- und Hirschauer-Reform waren
die Benediktinerklöster in Verfall geraten, dem wirtschaftlichen Nie-
dergange, der in dem Zusammenhang der allgemeinen Verhältnisse
nicht zu vermeiden war, gesellten sich Mißstände im Innern zu, der
Orden sah sich außer Stande, das ihm von seinem Stifter gesteckte
Ziel unter völlig geänderten Verhältnissen zu erreichen; hatte Karl
der Große ihm die Pflege der geistigen Kultur als höchste Aufgabe
gestellt, damit seiner Tätigkeit neuen belebenden Inhalt zugeführt,
80 war jetzt diese Arbeit von den Universitäten übernommen worden,
die Arbeit in der Seelsorge aber löste den mönchischen Gedanken
auf, näherte den Begularkleriker dem Weltgeistlichen. Zudem waren
die Benediktinerklöster zu enge mit dem Boden, auf dem sie standen,
mit dem Volke, dem sie angehörten, verwachsen, als daß sie hätten
brauchbare Werkzeuge päpstlich-zentralistischer Politik werden können.
Da war also Raum und Anlaß zur Bildung neuer kirchlicher Gemein-
schaften gegeben, die denn auch nach einander auf den Schauplatz
treten, zuerst Zisterzienser, Augustiner und Prämonstratenser, alle
drei romanischen Ursprungs, der erste und der dritte Orden mit
internationaler Leitung, deren Schwerpunkt in Frankreich lag. Der
große Erfolg, den diese neuen Orden hatten, legte dem Papste den
Gedanken nahe, ihre Verfassung auf die älteren Körperschaften zu
übertragen; ein Versuch aber, den Innozenz lU. in dieser Richtung
450 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
machte, mißlang. Ergänzt wurden die in der Hauptsache doch auf
dem Lande wirkenden Zisterzienser und Prämonstratenser durch die
Bettelorden, Minoriten (Minderbrüder, Franziskaner) und Prediger
(Dominikaner), die sich vornehmlich in den Städten festsetzten. In
beiden überwog von Anfang an ebenfalls das romanische Wesen, beide
befolgten eine streng kurialistische Haltung.
In den neuen Orden war der Gedanke der Askese in den Hinter-
grund gedrängt, er wurde vorerst von den Frauenklöstern über-
nommen, Hauptsache war die Arbeit in verschiedener Form und auf
mannigfachen Gebieten. Namentlich die Bettelorden gewannen in
diesem Betracht die größte Bedeutung. Während die drei erstge-
nannten Orden sich mehr und mehr den Benediktinern näherten,
wurden Minoriten und Dominikaner die eigentlichen Diener und För-
derer der neuen kirchlichen Richtung. Sie nahmen eine wichtige
Stellung in dem Verwaltungsorganismus der Kirche ein, sie pflegten
in Weiterbildung früherer Anfänge die Predigt, betätigten sich auf
wissenschaftlichem Gebiete, gewannen namentlich für das Deutsche
Reich, das der Universitäten noch entbehrte, große Bedeutung, indem
sie die Aufnahme der romanischen Theologie, der Scholastik, ver-
mittelten. Sie haben sich auch an der Bekehrung der noch heid-
nischen Gebiete an der Nordostgrenze des Reiches beteiligt und mit
dazu beigetragen, daß diese Bekehrungstätigkeit, obwohl sie erst
durch die deutsche Kolonisation ermöglicht wurde, doch nicht zur
Ausbreitung deutscher Macht führte, da die kirchliche Einrichtung
Pommerns und Livlands außerhalb der deutschen Kirche unter un-
mittelbarer Leitung der Kurie durchgeführt wurde. Hatte sich die
deutsche Kirche unfähig erwiesen, die einzige große nationale Auf-
gabe, die ihr damals noch gestellt werden konnte, in der Hand zu
behalten und selbständig zu lösen, war damit die Uebermacht der
Kurie auch in diesen Fragen zum deutlichen Ausdruck gelangt, so
bereitete sich doch von unten her eine Wendung von weltgeschicht-
licher Bedeutung vor.
Neben der geschlossenen, anscheinend alles beherrschenden Kirche
erhebt sich eine neue, jeder sichtbaren Einrichtung entbehrende
Macht. Manche Aufgabe, die bisher allein der Geistlichkeit zuge-
fallen war, begannen Laien zu übernehmen, insbesondere die Bürger
der Städte. Neben der kirchlichen Wohlfahrtspflege entstand die
städtische, neben den in ihren Aufgaben immer mehr eingeengten
Klosterschulen wurden städtische Schulen errichtet, neben der Theo-
logie, die nach manchen Ansätzen zu selbständiger Entwicklung durch
die Scholastik Einheit und Methode erhalten hatte, begannen die
andern Wissenschaften sich zu entfalten, in der Dichtkunst gewann
Haack, Kirchengeschichte Deutschlands. lY 461
das Weltliche mehr und mehr Platz, und in der Baukunst drangen
neben kirchlichen rein technisch-ästhetische Forderungen durch. Nicht
daß dies Nebeneinander notwendigerweise einen Gegensatz, die voll-
ständige Loslösung von der Kirche bedeutet hätte, aber die Mög-
lichkeit einer Entwicklung in dieser Richtung war vorhanden, und sie
herbeizuführen, war der Streit der beiden höchsten Gewalten des
abendländischen Christentums durchaus geeignet, da er die Erörterung
der einschlägigen Fragen wach erhielt. Das Unbehagen, das man
aber die Einmengung der Hierarchie in alle Verhältnisse empfand,
die wirtschaftliclie Spaltung, die Verbreitung der Bildung trugen
viel dazu bei, einen Gegensatz der Laienwelt gegen die Hierarchie
hervorzurufen, wie er in der Dichtkunst der Staufischen Zeit zu
glänzendstem Ausdruck gelangt ist. Hielt sich dieser Widerspruch
innerhalb dei Kirche, war er nicht gegen sie, sondern nur gegen un-
läugbare Misbräuclie, gegen die Uebergriife der Geistlichkeit gerichtet,
so begünstigte er doch die außerhalb der Kirche sich vollziehende
religiöse Entwicklung, die in diesem Zeiträume zum erstenmal ihre
Wirkung übt, die Häresie der Katharer und Waldenser. Und da
diese Häresien ihren Nährboden vor allem in der Frömmigkeit jener
Zeit, die einen stark persönlichen Charakter trug, fanden, erhielten
sie eine innere Festigkeit, der gegenüber sich die zu ihrer Vertilgung
eingeleitete Tätigkeit um so unzureichender erweisen mußte, als das
Papsttum selbst, indem es die zentrale Reichsgewalt hemmte und
zerstörte, die Kirche einer mächtigen Hilfe beraubt hatte, für die
das eben aufkommende Landesfürstentum noch keinen genügenden
Ersatz bieten konnte. Ungleich wertvoller erwies sich die Ausbil-
dung der Bußsakramente, wenn auch darin, namentlich in der mis-
verständlichen Auffassung des Ablasses, ebenso wie in der Duldsam-
keit gegen die Wucherungen der Heiligenverehrung, gegen Hexen-
und Aberglauben die Anfänge einer für die folgenden Zeiten ver-
hängnisvollen, in ihren Aeusserungen höchst widerwärtigen Entwick-
lung sich sehr bald geltend machten.
Dies in kurzem Umriß der Standpunkt, von dem aus der Ver-
fasser eine Ansicht der kirchlichen und politischen, literarischen,
künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklung gibt, die ein Ge-
samtbild von stärkster Wirkung hervorbringt.
Gegenüber einem Werke, bei dem die geschichtliche AuflFassung
die Hauptsache ist, und das an jeder Stelle das ernste Bemühen des
Verfassers zeigt, durch eigene Forschung zu selbständigem, wissen-
schaftlich begründetem Urteil vorzudringen, geziemt es sich, mit
Ausstellungen im einzelnen zurückzuhalten ; es seien daher nur etliche
462 GGtt. gel. Anz. 1906. Nr. 6
Punkte berührt, gegen die ein Einwand zu erheben wäre, oder an
denen die neueste Forschung manches zur Ergänzung beigetragen hat.
Mit Recht ist die große Bedeutung hervorgehoben, die dem
Bürgerstande fur die Verweltlichung der Kultur zukommt, er ist ja
der erste und lange Zeit auch einzige Stand, der aus dem Kreise
der rein kirchlichen Kultur heraustrat, während Ritter und Bauern
sich durchaus innerhalb dieser hielten. Was aber Hauck über die
Entstehung der städtischen Pfarreien ausführt (S. 28 ff.), gewährt kein
richtiges Bild von dem Verhältnisse der Städte zur Kirchenverfassung.
Es war ein einschneidender Fehler, daß Hauck die Vielgestaltigkeit
der städtischen Entwicklung zu wenig gewürdigt, das Verhältnis der
Bürgerschaft zum Stadtherrn, den Einfluß des Sprengelbischofs nicht
genügend beachtet hat. Vgl. Werminghoff, Gesch. der Kirchenver-
fassung Deutschlands im Ma. 1,269 ff. und H. K. Schäfer, Früh-
mittelalterliche Pfarrkirchen, in der Rom. Quartalschrift 19 (1905),
25—54. — Durch den stetig zunehmenden Uebergang von Pfarren
an die Klöster wurde doch nicht so sehr die Bedeutung des Pfarr-
amtes für das kirchliche Leben (S. 49) geschmälert, als vielmehr die
Stellung der Weltgeistlichen beeinträchtigt. — lieber die Frage, ob
das Wormser Konkordat ein beide Teile für die Dauer bindender
Vertrag, oder ob die von der römischen Partei vielleicht schon bei
der Wahl Lothars vertretene, auch in der Chronik Ekkehards
V. Aura (SS. VI, 260) zum Ausdruck gebrachte Ansicht, daß die
päpstliche Urkunde nur als ein Heinrich V. für seine Person ver-
liehenes Privileg betrachtet werden dürfe (Ottonis Frising. Ghron.
VII, 16), richtig sei, spricht Hauck sich nicht bestimmt aus, doch
kann man aus etlichen Aeußerungen (S. 112, 119, 150, 187) schließen,
daß er der ersten Auffassung zuneigt. Während Werminghoff (a.a.O.
S. 198) die Frage unentschieden läßt, hat Dietrich Schäfer sie zum
Gegenstande einer ausführlichen Untersuchung gemacht, in der er die
römische Auffassung als die gültige zu erweisen versucht und damit
den rechten Standpunkt für die Beurteilung der von den Nachfolgern
Heinrichs V. eingeschlagenen Kirchenpolitik gefunden zu haben meint.
(Zur Beurteilung des Wormser Konkordates. Berlin 1905. Aus den
Abh. der k. preuß. Akademie der Wissensch. 4^ 95 SS.). Mit Recht
geht Seh. von der Tatsache aus, daß die Fassung der päpstlichen
Urkunde nur mit der kurialen Anschauung zu vereinen, demnach
mit dem Tode Heinrichs V. die päpstliche Verleihung hinfällig ge-
worden sei, dagegen die kaiserliche Ausfertigung ihrem Wortlaute
nach allein zu Recht bestanden, also nur die Kurie über eine ver-
tragsmäßige Grundlage verfügt habe, während das Königtum sich
allein auf das Herkommen und die staatliche Notwendigkeit berufen
Hanck, Kirchengeschichte Deutschlands. IV 458
konnte. An diesen formell unanfechtbaren Tatbestand wird man sich
halten müssen, da es an Berichten über die dem Konkordat voran-
gehenden Verhandlungen fehlt, niemand zu sagen vermag, ob und
inwieweit durch sie der Wert des kaiserlichen Verzichtes einge-
schränkt, der der päpstlichen Zugeständnisse erhöht worden ist, ob
die beiden Ausfertigungen nicht nur in einen formalen, sondern auch
in einen sachlichen, festen, ihre Rechtsgültigkeit gegenseitig bedin-
genden Zusammenhang gebracht worden waren. Alles was in diesem
Betracht gesagt werden könnte, läuft auf schwer beweisbare Vermu-
tungen hinaus. Mit dieser Frage hängt nun die andere zusammen, wie
sich der königliche Hof zu dem Konkordate verhalten, ob er sich der
römischen Auffassung anbequemt oder ob er von den Bestimmungen
des Konkordats bei der Behandlung der Abts- und Bischofswahlen
Gebrauch gemacht hat. In der Darstellung der königlichen Kirchen-
politik, die zur Lösung hauptsächlich herangezogen werden muß,
stimmen Hauck und Schäfer im wesentlichen überein, obwohl sie in
der Hauptfrage uneins sind, der erstere sich für die Geltung des
Konkordats und seine neuerliche Anerkennung durch Friedrich I.
ausspricht, Schäfer es aber als tot und abgetan betrachtet. Ich
glaube, daß man keinem von beiden ganz Recht geben, namentlich
nicht Schäfers Ansicht in aller Strenge aufrechthalten kann. Daß
weder Lothar noch Konrad III. von den ihrem Vorgänger verbrieften
Zugeständnissen folgerichtigen Gebrauch gemacht haben, ist schon
von früheren Forschern dargelegt und auch von Hauck angenommen
worden, aber ganz unbeachtet ist die Urkunde von 1122 nicht ge-
blieben. Die oft berufene Stelle über die Halberstädter Wahl
(Schäfer S. 26) bezeugt einen Vorgang, der ebenso wie der bei der
Magdeburger Wahl (Hauck S. 118) dem Konkordat entspricht, und
Schäfer vermag auch nur dadurch, daß er auf dem unbedingten
Gleichlaut der Worte besteht, sie zu beseitigen. Daß Lothar die
Anwendung des ihm bekannten Konkordatsrechtes an die Genehmi-
gung des Papstes knüpft, ist für das Wesen seiner Kirchenpolitik
bezeichnend, in der Hauptsache aber belanglos. Sein Verhalten findet
sein Widerspiel in der Auffassung, die sich am Hofe Friedrichs I.
herausgebildet hatte (Ottonis Frising. Gesta Frid. II, 6). Mag Otto
V. Freismg, der sie uns überliefert, dafür Tadel verdienen, daß er
es unterlassen hat, sich über den Inhalt der päpstlichen Urkunde
selbständig und zuverlässig zu unterrichten (Bresslau, Aufgaben ma.
Quellenforschung S. 29, Anm. 20; Schäfer S. 65, 80), aus seinem
Berichte geht mit Bestimmtheit hervor, daß man am Hofe des Stau-
fers die päpstliche Urkunde nicht als ein Privileg von bloß vorüber-
gebender Geltung betrachtet hat. Allerdings hatte man in sie viel
454 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
mehr hineingelegt, als Kalixt II. zu bewilligen gedacht hat, das aber
ist nicht befremdlich, sondern entspricht der Art, wie man während
des Mittelalters in allen Lagern Urkunden auszudeuten und zu ver-
werten pflegte. Es handelte sich dabei jedenfalls nicht um >eine
Art Qerede<, sondern um eine ganz feststehende Anschauung und
politische Ueberlieferung, (Tradit curia, autumat nicht > meint (wähnt)c,
wie Schäfer übersetzt, sondern > behauptete). Und man wird sagen
dürfen, daß diese Auffassung nicht so ganz unberechtigt war. Dem
rein formalen Standpunkte tritt der moralische gegenüber, die An-
schauung, daß was dem einen recht, dem andern billig sei. Zudem
ist die Ansicht, daß päpstliche Privilegien von vornherein keine
dauernde Geltung besitzen (Schäfer S. 94), zur Zeit Heinrichs V.
und Lothars wenigstens noch nicht allgemein verbreitet gewesen, erst
durch das Decretum Gratiani festgelegt worden (Hinschius, Kirchen-
recht 3, 732 Anm. 4). Vermag ich also Schäfers Annahme nicht in
ihrer Gänze zu teilen, so kann ich auch dem durch sie begründeten
günstigen Urteil über Lothars Kirchenpolitik nicht voll zustimmen.
Schäfer will den Abschluß des Konkordats dadurch erklären, daß
Heinrich V. darauf gerechnet habe und rechnen konnte, es werde
seinem Nachfolger gelingen, die ihm gemachten Zugeständnisse tat-
sächlich zu behaupten. Diese Voraussetzung ist schon von Lothar
nicht erfüllt worden. Allerdings hat er den Fehler, der bei seiner
Wahl begangen worden war, erkannt und auch versucht, ihn gut zu
machen, sich einen »besseren Rechtsboden < zu verschaffen. Gelung^
ist ihm das aber trotz der Gunst der Umstände nicht. Er erreichte
nur, daß der Papst im Jahre 1133 den Bischöfen und Aebten vor-
schrieb, das zu tun, was einfach ihre Pflicht als Reichsfürsten, als
Inhaber von Reichsgut war, wie wir aus der Gegenwart wissen, ein
recht bedenklicher Erfolg opportunistischer Politik. So schränkt sich
in historischem Betrachte der Unterschied zwischen der Auffassung
Haucks und der Schäfers auf die Frage ein, ob Lothar dem deutschen
Könige verbriefte Rechte aufgegeben oder ob er es nicht verstanden
hat, die seinem Vorgänger bewilligten Zugeständnisse auch für sich
in vollem Umfange zu erwerben. — Ueber Honorius v, Auton
(S. 425) hat J. v. Kelle jüngst die Ansicht geäußert, daß es sich um
einen unbekannten Autor handle, dem Werke verschiedener Verfasser
zugeschrieben worden seien, vgl. Anzeigeblatt der kais. Akad. der
Wiss. 52 (1905), 76 und die Bemerkungen von J. A. Endres im Hist.
Jahrb. 26 (1905), 783—785. — Das Prämonstratenserstift Geras (S. 361,
Anm. 4) liegt nicht in der Diözese Olmütz, sondern im Lande unter
der Enns, es ist auch im Klosterverzeichnis (S. 974) unter der Diö-
zese Passau, allerdings hier wie im Register mit der unrichtigen
Hauck, Kircheogeschichte Deutschlands. lY 455
Schreibung > Gerras < angeführt. — Ueber den Kölner Streit und den
Erzbischof Adolf ist jetzt die ausführliche Darstellung Wolfschlägers
(Erzb. Adolf I. v. Köln, Münster 1905), durch die Haucks Auffassung
in der Hauptsache bestätigt wird, zu vergleichen. — Zur Ergänzung
sind auch zwei Schriften Haucks anzuführen, seine meisterhafte Rede
über den >6edanken der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIU«.
(Leipzig 1904) und seine Abhandlung »Ueber die Exkommunikation
Philipps von Schwaben« in den Berichten der k. sächs. Gesellsch.
der Wiss. Hist.-philol. Kl. 56 (1904), 137—150, vgl. dazu die Aus-
führung K. Wencks in der Hist. Ztschr. 95, 155.
Wie in den früheren Bänden übt auch in diesem der Verfasser
die ihm eigene Kunst der Charakterisierung hervorragender geschicht-
licher Persönlichkeiten, noch reicher als seine Vorgänger ist der vor-
liegende Band an scharfumrissenen Charakterbildern. Stärker aber
als in den früheren Bänden macht sich der universale Zug der Ent-
wicklung geltend, so daß es ungleich schwerer ist, die führenden
Geister in dem Rahmen der deutschen Kirchengeschichte darzustellen.
Das kann man schon in den Zeiten Friedrichs I. (S. 683 ff.) be-
merken (vgl. K. Hampe in der Hist. Ztsch. 93, 385), vollends aber
gilt es für Innozenz HL (S. 741 ff.) und Friedrich U. (S. 783 ff.).
Wenn der Verfasser auch an den allgemeinen Verhältnissen und Be-
ziehungen durchaus nicht achtlos vorübergegangen ist, so war es ihm
doch nicht möglich, sie so herauszuarbeiten und vor allem auf die
Stellung des Papstes in Rom und Italien so genau einzugehen, als
es notwendig gewesen wäre, um ein zutreffendes Bild des gewaltigen
Mannes zu gewinnen, auch die Schwäche seines Wesens und seiner
Stellung zu erkennen, man wird für diesen Zweck eine wichtige Er-
gänzung in den Versuchen und Abhandlungen finden, die A. Luchaire
in einem anziehenden Bande (Innocent 111., Rome et Lltalie. Paris
1904) vereinigt hat. Und Aehnliches gilt für den Zögling des großen
Papstes. Auch ihm tritt Hauck mit durchaus selbständiger Betrach-
tung gegenüber, was er sagt, ist sehr zu beachten, aber es wäre doch
notwendig gewesen, den Einflüssen, die Friedrich IL auf sich wirken
lassen konnte und wirken ließ, etwas näher nachzugehen. Schon was
Dehio (Die Kunst Unteritaliens in der Zeit K. Fr. IL Hist. Ztschr.
95, 193 ff.) mitteilen konnte, ist von nicht geringem Belange; noch
wichtiger wäre es, über das Verhältnis des Staufers zum Mohammeda-
nismus ins Reine zu kommen, dessen Bedeutung für die Ausbildung
einer Kritik der Ueberlieferung jüngst Goldziher hervorgehoben hat
(Preuß. Jahrb. 121, 281).
Von hervorragendem Werte sind die dem Bande angeschlossenen
Beilagen: Bischoflisten, ein Klosterverzeichnis, eine Uebersicht über
456 Gott. gel. Änz. 1906. Nr. 6
die benutzten Quellenschriften und Bücher, ein Register. Die biblio-
graphischen und zeitlichen Angaben, die Quellenzitate im Kloster-
Verzeichnisse würden allerdings mancher Vervollständigung und Be-
richtigung bedürfen, namentlich die österreichischen Landschaften sind
etwas flüchtig behandelt. Für sie wären die kirchliche Topographie
von Niederösterreich (so und nicht Unterösterreich lautet die übliche
Bezeichnung), die betreflfenden Artikel in der von dem Verein für
Landeskunde von Niederösterreich herausgegebenen Topographie (Li-
lienfeld, Melk), endlich neuere Monographien (PröU, Gesch. des Klo-
sters Schlägl 1877; Eigner, Gesch. von Klein-Mariazell 1900), für
Wien insbesondere die vom Altertumsvereine herausgegebene Ge-
schichte der Stadt mit Nutzen verwertet worden. Kloster Altenburg
(S. 974) wurde allerdings zuerst dem h. Stephan geweiht, nahm aber
schon bald die Benennung domus s. Lamberti an. Das von Hauck
als in Oberösterreich gelegen angeführte Chorherrenstift S. Andra
(ÜB. des Landes ob der Enns I, 309 no. 66) wird wohl das Chor-
herrenstift gleichen Titels in Freising sein, doch gab es ein um das
Jahr 1150 im Lande unter der Enns errichtetes Chorherrenstift S.
Andrä an der Traisen bei Herzogenburg (Duellii Miscellan. III, 368).
Es braucht nach dem Gesagten nicht nochmals hervorgehoben
zu werden, daß Hauck auch in diesem Bande einen rein wissenschaft-
lichen Ton festgehalten hat, konfessioneller Polemik mit Glück aus
dem Wege gegangen ist. Nur an zwei Stellen (S. 336, 884) hat er
seine Eigenschaft als Protestant hervorgehoben, an der zweiten, wie
ich meine, in nicht ganz zutreffender Weise. >Es gibt kein gemein-
sames Urteil über Recht oder Unrecht der Ketzerverfolgungen. Aber
soweit auch die protestantische und die katholische Ansicht sich von
einander entfernen, daran zweifelt niemand, daß die Inquisition zu
den Einrichtungen gehört, in denen die Eigenart des mittelalterlichen
Kirchentums besonders deutlich in die Erscheinung tritt«. Der Nach-
satz kann ohneweiters zugegeben werden, sollte aber der erste Satz
in der Tat richtig sein? Sollte es über dem Streite der Bekenntnisse
nicht doch etwas Höheres geben, das allgemein Menschliche? SoUte
dieser höhere Standpunkt dem Katholiken verschlossen, eine gemein-
same Verurteilung Grauen erregender Einrichtungen und Vorgänge
unmöglich sein? Mag auch der Blick auf manche Erscheinungen
unserer Zeit sehr trübe stimmen, so tief sind die sittlichen Anschau-
ungen der Gegenwart nicht gesunken, daß man sich durch ein viel-
gestaltiges, aber immer höchst unerfreuliches Demagogentum, durch
das anscheinend wissenschaftliche Gerede von dem Rechtsbewußtsein
der Vergangenheit, von der Beurteilung einer Zeit aus sich selbst
heraus, von theologischen und juristischen Spitzfindigkeiten verwirren
Hauck, Eirchengeschicbte Deatschlands. IV 457
lassen müßte, in Eetzeirerfolgung nnd Inquisition nicht eine der
traurigsten Verirrungen menschlichen Geistes, die unglückseligen
Mittel einer dem Untergange geweihten Gesellschaftsordnung erblicken
dürfte.
Graz Karl Uhlirz
Nachtrag. Gegen Dietrich Schäfers Abhandlung über das
Wormser Konkordat hat sich Hauck (Kirchengesch. Deutschlands IIP,
1047 — 1049) ausgesprochen, ohne jedoch seinen Gegner überzeugt zu
haben, vgl. Neues Archiv XXXI (1906), 481. Die Entscheidung in
der Hauptfrage scheint mir die bisher von allen übersehene Stelle
in Gerhohs Libellus de ordine donorum s. Spiritus (Mon. Germ. bist.
Libelli de Ute III; 280) zu bringen, welche Schäfer, von H. Bloch
auf sie hingewiesen, mitteilt. Aus ihr geht zunächst hervor, daß auf
der Lateransynode vom 27. März 1123 nicht, wie Schäfer (S. 31) be-
hauptete, nur die kaiserliche, sondern auch die päpstliche Urkunde
verlesen wurde. Während die erste mit großer Freude angenommen
wurde, erhob sich gegen die zweite heftiger Widerspruch, endlich
wurde die Sache dahin entschieden, quod propter pacem reformandam
talia essent non approbanda, sed toleranda. Schäfer meint allerdings,
daß seine > Auffassung vom Konkordat durch diese Richtigstellung nur
eine weitere Bestätigung < erfährt, nach meinem Dafürhalten ergibt
sich aber daraus, daß bei der Ausfertigung beide Urkunden als in
engstem Zusammenhange stehend, als ganz gleichartig betrachtet
wurden. Das ist auch Gerhohs Auffassung gewesen: Qui (sc. Kalixtus)
cum eidem regi pro facienda pace per suos legates . . . dedisset quoddam
scriptum de pontificum electione in praesentia ipsius facienda et de
regalium concessione ab ipso requirenda, multa comparuerunt capita
ydrae pridem iugulatae, quasi revixisset ex apostolicae sedis aucto-
ritate, und fur gleich gefährlich hat man das päpstliche Zugeständnis
auf dem Laterankonzil gehalten, man hat trotz der vorsichtigen Form
es als für die Dauer geltend betrachtet, denn nur so läßt sich die
große Aufregung erklären. Hätte man gemeint, daß der Kaiser ein-
fach zum besten gehalten worden sei, man hätte fein still geschwiegen.
Ob die Legaten und der Papst das Konkordat schon mit dem Hinter-
gedanken geschlossen haben, sich mit Hilfe des Konzils von der ein-
gegangenen Verpflichtung zu befreien, läßt sich nicht beweisen,
sicher aber ist, daß der Papst als verfassungsmäßig regierender Mon-
arch manches vor dem absoluten Monarchen voraus hatte. Der von
Papst und Kaiser beurkundete Vertrag wurde dem Konzil zur 6e-
0«ti. gtl. Abi. 1906. Hr. 0 32
458 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
nehmiguDg vorgelegt, die Ausfertigung in zwei sich ergänzenden
Gegenurkunden gestattete es dem verfassungsmäßigen Vertretungs-
körper, die der Kirche günstige anzunehmen, gegen die andere Wider-
spruch zu erheben. Mit Rücksicht auf die von dem Kaiser ge-
machten, in vollkommen rechtsverbindlicher Form beurkundeten Zu-
geständnisse konnte man aber nicht, wie im Jahre 1112 (s. Libelli
de Ute III, 279, 335, 405), den Papst zur Kassierung seiner Urkunde
zwingen, da man dann auch dem Kaiser Anlaß zur Zurücknahme
geboten hätte, man begnügte sich daher zunächst mit dem üblidien
Auskunftsmittel der Duldung, und des weiteren rechnete man damit,
daß von dem zugestandenen Rechte in der Praxis kein Gebrauch
gemacht werde, wie Gerhoh fortfährt: Sicut autem aecclesia in suo
primordio crescebat et confortabatur ambulans in timorem Dei, sic
et nunc per Dei gratiam, ecclesia crescente atque confortata, illa
propter pacem obtinendam extorta concessio partim est annichi-
lata, quia Deo gratias absque regis presentia fiunt electiones episco-
porum. In proximum futurum speramus, ut et illud malum de medio
fiat, ne pro regalibus, immo iam non regalibus, sed ecciesiasticis di-
cendis facultatibus ab episcopis hominium fiat vel sacramentum etc.
Hinsichtlich des einen Punktes wa^- pigo die nicht getilgte, sondern
geduldete päpstliche Verleihung nicht zur Ausführung gelangt, hin-
sichtlich des anderen erwartete man gleiches von der Zukunft. Da-
mit ist uns der Schlüssel zum Verständnisse des geschichtlichen
Verlaufes nach dem Konkordat in die Hand gegeben.
Graz Karl Uhlirz
Thomas Hodgkin, D. C. L., Litt. D., Fellow of University College, London;
FeUow of the British Academy. The history of England from the
earliest times to the Norman conquest [A. a. d. T. The poli-
tical history of England in 12 volomes edited by WiUiam Hunt and Reginald
L. Poole; vol. I]. London (Longmans, Green & Go.) 1906. XXII und 528 p.
Der Verfasser des großen Werkes Italy and her invaders hat
von Britanniens Frühzeit bisher nur die Römische Periode forschend
behandelt. Wenn er nunmehr hier die Geschichte seiner Insel bis
1066 darstellt, so brmgt er für frühestes Mittelalter eine weite
universalhistorische Kenntnis mit. Oefters bietet er zu synchronisti-
scher Orientierung lange Stücke daraus, deren Einfluß auf England
nicht überall erhellt. In neuester Literatur, auch Deutschlands,
wohlbewandert, wagt er, wo sie uneins ist, wie über Arthurs Heimat
oder die Schlacht bei Hastings, keine eigene Entscheidung. Auch
seinem Freunde Freeman gegenüber übt er unbefangen Kritik, ob-
Hodgkin, Political History of England to the Norman conquest 459
wohl er ihn nachahmt, wenn er die Oertlichkeiten aus eigener An-
schauung lebendig zu beschreiben und mit Notizen auch späterer
Lokalgeschichte zu verbinden liebt, die doch auf den früheren Punkt
kein Licht werfen können. Allein er dringt auch in die Quellen
selbständig ein. Ja, er übersetzt sie nur zu oft, wodurch freilich
dem Publikum die Bilder der Literatur ersetzt werden, die ebenso
wie die mancher anderen Kulturzweige wohl durch den Plan des
Reihenwerkes, zu dem er den ersten Band hier liefert, ausge-
schlossen waren. Ueber den Ursprung der Angelsächsischen Annalen
bewahre ich meine abweichende Meinung und stimme gegen ihn
Ewald zu, daß Beda dem Gregorbiographen folgt. Wie man die
Nordische Saga benutzen dürfe, wird p. 504 glücklich gesagt. Da
stehen im Anhang kurz Quellen und Literatur, überall verständig
und treffend beurteilt.
Wie von einem so erfahrenen Schriftsteller zu erwarten, wird
der Stoff dem Raum im allgemeinen gut angepaßt. Nur erscheinen,
während den Römern 70 Seiten zugemessen sind, mit einem Exkurs
über die von Cäsar benutzten Häfen, die Kelten zu kurz gekommen.
Von Wichtigem fehlt z. B. Gnuts Erlaß von 1020 ganz. Und viel
zu viel Mirakel werden den Chronisten nacherzählt, manche mit
dem Streben, sie natürlich zu erklären, z. B. durch Telepathie und
Hysterie. Oder wenn ein Seesturm schweigt, da Wunderöl darein
träufelt, soll das als eine laut Erfahrung moderner Schiffahrt mög-
liche Kausalverbindung gelten. Glaublich wie die Wundmale des
heiligen Franz seien auch die Striemen, die Laurentius empfing, als
er im Traum vom heiligen Petrus gegeißelt ward.
Monographische Durchforschung von Einzelheiten hätte in diesen
Rahmen, der auch Anmerkungen verbietet, nicht gepaßt: auf 500
Seiten sollte vom paläolithischen Menschen bis zu Wilhelm L geeilt
und dabei manch farbiges Bild geschildert werden. Aber das Auge
eines echten Historikers, der viele Jahrhunderte warm mitdurchlebt,
erschaut auch bei bekannten Einzelheiten Beziehungen oder Ursachen,
welche die Wissenschaft zu vermerken haben wird. — Wenn das
Zusammenwirken von Picten und Scoten meist als Ursache des Unter-
gangs römischer Macht in Britannien gilt, so macht Verfasser zum
Beweise gelegentlicher Feindschaft jener Völker aufmerksam auf die
Nachricht, Cunedag aus Pictenland habe um 380 die Scoten aus
Nordwales vertrieben. — Orosius lasse aus christlich-apologetischer
Tendenz die Kulturfortschritte des Altertums fort. — Vortigem,
höchstens ein Häuptling lokaler Macht, diene zum Sündenbock für
die Brythonen, die sich gern verraten glaubten, wie alle Besiegten,
auch die Angelsachsen unter Aethelred U. — Die Germanen zogen
32*
460 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
nach Britaimien, zum Teil aus Furcht vor den Hunnen [?]. — Nir-
gends [?] rotteten sie die Briten ganz aus; denn daß bei Anderidas
Zerstörung dies berichtet wird, beweist, daß es Ausnahme war; und
in staatlichen Einrichtungen finde man Spuren der Römer und Kelten
[welche?], sodaß sich der heutige Engländer lieber Anglokelte ak
Angelsachse nennen solle. [Mir scheint dabei der Franconormanne mit
seiner mächtigsten Einwirkung aufs Recht Englands vergessen]. —
Da die Stammbäume der Germanenfürsten vom Ende des fänften
Jahrhunderts mit etwa acht Vorfahren nur ins zweite hinaufreichen,
mußte der Römerstaat unvordenklich alt und ehrwürdig erscheinen.
— Wenn Prokop schreibt, Belisar habe Britannien den Goten sar-
kastisch angeboten, und es als Toteninsel darstellt, so muß es um
537 der Römerwelt völlig verloren gegolten haben. — Der Tiefstand
lateinischer Bildung unter den Brythonen um 500 ist zu verglichen
dem unter den Northumbrern seit dem Däneneinfall. — Spanien und
Gallien waren von Großstädten aus bekehrt worden; diesem Master
folgten Canterbury und York ; bei den Scoten dagegen übten einsame
ländliche Stätten die Mission; und diese letztere war echter [?] ond
dauerhafter [?]. — Augustins Sendung nach Kent war ziemlich ge-
fahrlos. Gregors I. Befehl an ihn, unter Laub um die Kirche heros
Feste feiern zu lassen, birgt vielleicht eine Erinnerung ans Laub-
hüttenfest der Juden. — Als die Scotenkirche der Römischen erlag,
siegte auch hierarchische Weltlichkeit über kindliches, armutfreund-
liches Christentum, und Beda fühlte diese Wandlung nicht ohne Be-
dauern. — Theodor von Tarsus erhielt durch den Papst einen romi-
schen Begleiter, vielleicht zum Schutz gegen monotheletische Neir-
gungen. Indem er die großen Sprengel zerteilte, hob er auch
Canterburys Macht; in Wilfrid bekämpfte er zum Teil den mögliehen
Vertreter erzbischöflicher Ansprüche Yorks. Dieser hatte einen Zug
ins Pomphafte und zur ästhetisch schönen Zeremonie. Zu seiner
Krypta in Hexham entnahm er Steine dem Römerwall. — Indem
die christliche Askese sich der Reinlichkeit entschlug, beförderte sie
die Ansteckung durch die Pest 664. — Noch im achten Jahrhundert
bevorzugten Northumbriens Könige Plätze alter Römerkultur. — Zu
den Rätseln der Angelsachsen vergleicht Verfasser, der auch Karl
den Großen volkstümlich dargestellt hat, die des Paulus diaconus
und Peter von Pisa. — Aus den Wikingerzügen folgte im Franken-
reiche Zersplitterung, in England Staatseinung [doch nicht in jeder
Beziehung]. Ueber ihre Seetüchtigkeit staunte Alcuin so sehr, weil
England dem Meer entfremdet war. Die mit Pallisaden ge^
krönten Erdwerke der Nordleute lehrt Regino kennen. — Oft
lockte Chester die Dänen als Ziel: vielleicht wegen der nahen
Hodgkiii, History of England to the Norman conquest 461
Irlandkäste unter nordischer Herrschaft. — Der Aufstand gegen
König Aethelwulf stützte sich vielleicht auf dessen Regierungs-
unfähigkeit. — Zu Aelfreds Boethius-Uebersetzung steuert Verfasser
eigene Beobachtungen bei. — Eadmund I. nennt sich in Urkunden
industrius, wohl das lobende dcedfruma aus der Hofpoesie übertragend,
den Gegensatz zum faineant. — Die Zange, womit Dunstan den
Teufel zwickte, zeigt man noch in Mayfield. — Die Briccius-Messe
war ein Staatsstreich gegen die Dänen nur des königlichen Hofes
und Heeres. — Die damalige Zersetzung Englands vergleicht Ver-
fasser der Wirkung des dreißigjährigen Krieges in Deutschland. —
Der frühe Tod mehrerer Könige deute auf einen erblichen körper-
lichen Verfall der Dynastie. [Dazu wäre die Vaterschaft Unreifer zu
beachten]. — Gnut der Reiche verdankte manchen politischen und
persönlichen Vorteil der Bestechung. Er wurde mit dem Erfolge ein
besserer Mensch, wozu die Geschichte selten eine Parallele bietet,
die nächste in Octavian-Augustus. — Der Schottensieg bei Carham
kostete England Lothian; ein Trost, daß dadurch die Schotten in
Sprache, Verfassung, Charakter mehr Angeln als Gaelen wurden.
Ueber Institutionen lehrt Verfasser nicht viel Neues. Indem die
Eideskraft nach Hufenzahl bewertet wurde, bekam vielleicht das Ge-
richt einen konventionellen Anhalt, wie weit der Schwörende zu
blicken, also öflFentliche Meinung zu vertreten fähig schien [V] — Nach
der nützlichen Geldwertberechnung p. 234 f. enthielt ein damaliges
Pfund Silber fast dreimal soviel Metallwert und 16— 44 mal so viel
Kaufkraft wie heute. Im allgemeinen sei also eine damalige Summe
etwa mit 20 zu multiplizieren, um sich heutigen Wert vorzustellen.
fSo die herrschende Meinung. Mir erscheint das Dreißigfache rich-
tiger]. — Die Ausdrücke der Angelsachsen für > Viehspur« und
>schuldig<, trod und fül, überlebten das Mittelalter im Recht der
englisch-schottischen Mark.
Manche Vergleiche scheinen mir unzutreffend, so der Golumbas
mit Wesley, des Glaubenseifers in Ostanglien im siebenten Jahr-
hundert mit den dortigen Puritanern, des Ealdorman mit dem Lord-
leutnant und des Bretwalda mit Preußens Stellung in Deutschland.
— Auch gegen manche Urteile möchte ich Einspruch erheben. Ein
Gefühl der Blutsverwandtschaft fehlte den Inselgermanen nicht, ob-
wohl sie sich gegen Vettern mit Rassefremden verbanden. — Das
Fortbestehen des Namens York beweist nicht die Fortdauer des Stadt-
lebens seit Römerzeit. — Verstümmelung am Feinde widerspricht
nicht allgemein dem Kulturfortschritt Merciens im achten Jahr-
hundert, den unter anderem die Münze vor Augen legt. — Die
Englische Kirche half nicht in allen Stücken zur Staatsfestigung; so
462 Gott gel. Ani. 1906. Nr. 6
trat der Hierarch Northumbriens für die Nordleute gegen Wessex
auf; 80 untergrub Habgier und staatsfremde Lehre der Geistlichen
die nationale Wehrkraft und ließ die Gesetze zu Predigten entarten.
— Die seit dem zehnten Jahrhundert erbliche Fehde zwischen Aqoa
und Blois spielt keine Rolle im Thronstreite Stephans. — Das
Wiedererstehen eines unabhängigen Northumbriens war nach 940
keineswegs ausgeschlossen. — Die Anerkennung des Westsachsen-
königs als »Herrc durch die nördlichen Nachbarfürsten ist begriff-
lich nicht trennbar von deren Vasallität; die tatsächlich baldige
Lösung des Verhältnisses widerlegt nicht dessen rechtlichen Gehalt
— Englands Vierteilung durch Gnut darf schwerlich weise beißen:
wenn beständig, hätte sie das Reich zersplittert. ~ »Schweinische
Fleischsttndec ist nicht erkennbar als Ursache der Niederlage der
Angelsachsen gegenüber Nordleuten und Normannen.
Namentlich Recht und Wirtschaft sind Gebiete, die der Ver-
fasser nicht sorgfältig genug beackert hat. An mehr als dreißig
Stellen weicht er von meiner Uebersetzung der Gesetze der
Angelsachsen ab (obwohl er das Buch schmeichelhaft erwähnt):
vielleicht stets ohne Absicht, nirgends mit Angabe eines Grundes,
weshalb ich hier Zitate fortlasse. Wie der Verfasser früher sein
großes Werk in neuer Auflage fleißig verbessert hat, so wird er bei
der zweiten Ausgabe, wie sie sich bei' diesem anregenden, lesbaren
Buche sicher erhoffen läßt, leicht manche Einzelheit berichtigen
können. Daß sich Mönche aus Not verknechteten, folgt nicht ans
Alfreds Gesetz 20. — Compurgator heißt der Eidhelfer nur des Be-
klagten. — Dreifachem Feuerordal unterzog sich nicht nur wer des
Attentats auf den König angeklagt war. — Buße für den Verletzten
ist stets zu trennen vom Strafgeld für den Richter. — Dieses stellt
Alfred nicht als allein von der Kirche eingeführt hin. — Nicht bloß
Strafgeld des hingerichteten Diebes, sondern sein Vermögen verteilt
die Stelle Hundred 2, 1. — Aus des Missetäters höherem Wergeid
folgte höhere Strafe keineswegs immer, höhere Buße nie. — Die
Versäumnis staatsbürgerlicher Polizeipflicht fällt nicht zusammen mit
der der prozessualen UrteilserfüUung. — Der Gewährsmann beim
Erwerb von Fahrhabe, keineswegs ständig ein Mann hoher Stellung,
ist nicht die Wurzel des Bürgenverbandes. — Wenn Beda die Insel
lona auf fünf Hufen schätzt, so folgt daraus kein Durchschnittsmaß
der Hufe; vielleicht wollte er sie nur etwa einem adligen Oroßgut
gleichsetzen. — Ochsengang und Rute sind vielleicht Flächenmaße
verschiedener Meßsysteme. — Dreifelderwirtschaft um 690 steht nicht
allgemein fest. — Die Angelsachsen zeigen Verwandtsdiaft mit den
Langobarden nicht bloß im Kostüm, während die vom Verfasser an-
Hodgkin, History of England to the Norman conquest 463
geführten identischen Eigennamen den Westgermanen überhaupt
eignen. — Die Goten zählen nicht zu den Niederdeutschen. — Echte
Urkunden Aethelberhts von Kent fehlen. — Eddi ist nicht der frü-
heste Anglolateiner. — Cynewulf blieb nicht bis 1857 vergessen, und
sein Name in Runen ward nicht von Leo zuerst entdeckt. — Kaiser
Heinrich II. gilt nicht mehr als Asket, und nicht das ganze Franken
mit dem Königswahlort gehört heute Bayern. — Auch nach Rußland
wanderten die verbannten Sprossen Eadmunds II. — Der Titel Be-
kenner bedeutet nicht eine nur halbe Heiligsprechung.
Wer so anregend zu erzählen versteht, wird nur ungern trümmer-
hafte Bausteine reinigen wollen, aus denen ein sicheres Haus sich
doch nicht errichten läßt; lieber fügt er Anekdote und Romantisches
in kraftvolle, oft poetische Sprache, die bisweilen leise an alte
Chroniken anklingt, doch auch scharf zuzuspitzen weiß: >Für Ehen
Nordischer Fürsten bestand als Regel nur die Unregelmäßigkeit <.
Dem populären Zwecke mag die häufige direkte Rede dienen. Hi-
storische Dichtung wird reichlich eingeflochten, so der Sang von
Brunanburh, das er mit Brunswark identifiziert, in Tennysons Ueber-
tragung, manches andere in wohl gelungenen eigenen Versen, zum
Teil gereimt. Ein trefflicher Index und zwei Karten des römischen
und angelsächsischen Britanniens sind beigegeben.
Berlin F. Liebermann
WlUlAm HttBt, The History of England from the accession of George III. to
the close of Pitt's first Administration (1760—1801) London, Longmans, Green
and Co. 1905. ^VIII,495 S. — (The political History of England in 12
yolomes ed. hy Wil^'am Hunt and Reginald L. Poole. Vol. X).
Das vorliegende Buch bildet den selbständigen Teil eines groß
angelegten Werkes über die politische Geschichte Englands, zu
dessen Abfassung sich eine Reihe tüchtiger Historiker zusammen-
getan haben. Ueber die Zweckmäßigkeit eines solchen Unternehmens,
einer solchen Arbeitsteilung mögen die Ansichten auseinandergehen.
Manche Nachteile werden sich nicht ableugnen lassen, namentlich
der, daß das Werk keine einheitliche Auffassung der Gesamtent-
wicklung aufzuweisen vermag, daß der Standpunkt, von dem die
Ereignisse betrachtet werden, ein wechselnder sein muß. Hingegen
ist es doch zweifellos, daß damit der gebildeten Leserwelt alles
Wissenswerte aus der Staatsgeschichte in bequemer Form geboten,
den Studierenden eine treffliche Grundlage für weiteres Arbeiten,
den Geschichtslehrern ein willkommenes Hülfsmittel für ihre Vor-
träge an die Hand gegeben wird. Selbstredend haben nur (Ue
464 G6tt. gel. Anz. 1906. Nr. 6
auf eigene Spezialforschung gegründeten darstellenden Werke über
bestimmte Perioden, Entwicklungen, Zustände, Personen einen grund-
legenden Wert, und sie gerade bilden die Vorbedingung für dieses
Unternehmen. Ihr reichliches Vorhandensein erst macht eine solche
dem praktischen Bedttrfhis dienende Schöpfung möglich, da den
Verfassern der letzteren nicht eine ausgiebige Durchforschung des
ganzen Quellenmaterials zugemutet werden kann. Und doch haben
wir, wie an dem vorliegenden Teil zu sehen, nicht eine bloße Kom-
pilation vor uns. Die wissenschaftliche Bedeutung der Autoren bietet
uns die Garantie, daß auch die Forschungsresultate Anderer immer
wieder an den Quellen geprüft und wo nötig mittels der Quellen er-
gänzt werden.
William Hunt, der Präsident der Royal Historical Society, ein
Gelehrter, der schon verschiedene Bücher über englische Geschichte
(speziell Eirchengeschichte) geschrieben, dem wir eine Reihe treff-
icher Artikel in dem Diction, of nation. Biography (u. A. William
Pitt d. J., Charles J. Fox, Georg HI.) verdanken, hat mit dem ge-
wählten Abschnitt keine leichte Aufgabe übernommen. Gerade für
das 18. Jahrhundert und besonders für die Regierungszeit Georgs UL
fehlt es noch gar sehr an guten, die vielen neuen Quellen ver-
wertenden Geschichtswerken, sodaß der Verfasser einen sehr wenig
günstigen Baugrund vorfand. Die alten Werke von Adolphus, Massey,
Brosch konnten, trotz ihres Umfanges und mancher Vorzüge keines-
wegs ausreichen, Leckys Meisterwerk aber bringt für die politische
Geschichte kein genügendes Tatsachenmaterial. So war Hunt in viel
höherem Maße auf eigene Forschung angewiesen, als es der Idee
der ganzen Unternehmung entsprach, und das hat, so sehr man den
Scharfsinn, den Forschungseifer und die Quellenkenntnis des Ver-
fassers anerkennen muß, dem Buche nicht immer zum Vorteil ge-
reicht. Es war bei den zeitlichen Grenzen, die jedenfalls der Ab-
fassung gesetzt waren, unmöglich, alle Quellen kritisch durchzu-
arbeiten und überall die innersten Zusammenhänge festzustellen. So
ist manche Darlegung, manche Begründung, manches Urteil als ver-
fehlt zu bezeichnen, wie noch an einzelnen Fällen nachgewiesen
werden soll. Die Zitate aus Akten und Korrespondenzen besitzen
nicht ohne weiteres Beweiskraft. Es muß in sorgfältigster Unter-
suchung ihre wahre Bedeutung erkundet werden, die oft eine wesent-
lich andere ist als die aus isolierter Betrachtung sich ergebende.
Derartige Untersuchungen aber, überall durchgeführt, hätten, wie ge-
sagt, die Arbeitslast über das zulässige Maß gesteigert.
Dieser Mangel, der der ungenügenden Vorarbeit, nicht dem Ver-
fasser schuldgegeben werden muß, ist nun zum guten Teil ausge-
Hont, History of England from the accession of George III 465
glichen durch den klaren und weiten Blick, den dieser fiir die Ent-
Wickelung des englischen Staates, namentlich der inneren Verhält-
nisse zeigt. Daraus ist ihm manches Verständnis der Vorgänge
erwachsen, das sich aus den Quellen allein nicht hätte gewinnen
lassen, und viele feine Bemerkungen geben von diesem Verständnis
Kunde. Dazu gehören namentlich die Auslassungen über die sozialen
Zustände, die Zusammensetzung der herrschenden Klassen in Eng-
land und den Kolonien, Dinge die für den Verlauf der Ereignisse
von ausschlaggebender Bedeutung wurden. Dazu gehören auch die
verschiedenen trefflichen Charakteristiken, z. B. Burkes (S. 70),
Washingtons (S. 146 f.), W. Pitts d. J. (S. 282). Weiter ist als Vor-
zug zu nennen die geschickte Art, wie oft mit wenigen Worten alles
zum rechten Verständnis Notwendige gesagt worden ist. So z. B. die
zutreffende Schilderung von Friedrichs des Großen Politik gegenüber
den Truppenwerbungen Englands in Deutschland mittels vier Zeilen
(S. 182). Hingegen wäre es wünschenswert gewesen, daß auch die
zeitlich weiter getrennten Ereignisse durch Vergleiche und Gegen-
überstellungen mehr mit einander verknüpft worden wären. Es
hätte sich dadurch eine noch tiefere Erkenntnis der ganzen Periode
gewinnen lassen, wie ich an Beispielen zu zeigen beabsichtige.
Ueberhaupt brauchte die chronologische Folge nicht so streng inne-
gehalten, konnte das Zusammengehörige in besserer Geschlossenheit
vorgeführt werden. Besonders bei den etwas verzettelten irischen
Partien ist mir dieser Wunsch aufgestiegen. Dadurch hätte das
Buch den annalistischen Charakter mehr verloren, der ihp bis zu
einem gewissen Grade anhaftet. Ich weiß ja nicht, wie weit der
Plan des Unternehmens dem einzelnen Verfasser in der inneren Aus-
gestaltung freie Hand ließ, und es läßt sich ja auch manches für
eine annalistische Stoffgruppierung gerade bei solchem Werke an-
führen. Die Darstellung ist jedenfalls klar und präzise ohne zweck-
lose Weitschweifigkeiten und doch der Anschaulichkeit, des redne-
rischen Schmuckes nicht ermangelnd.
Es ist zu bedauern, daß sich dieses Werk mit meinem > William
Pitt« ^) gewissermaßen gekreuzt hat ~ Verfasser hat letzteren ün
Quellenbericht noch nachträglich angeführt — , daß weder ich in der
Lage war, die Arbeit Hunts, noch er, die meine zu benutzen. So
war ich genötigt, den äußeren Rahmen meiner Biographie älteren
Werken resp. den Quellen selbst zu entnehmen, ohne von dieser
Zusammenfassung neuester Erkenntnis zu profitieren, er aber konnte
nicht die zum Teil recht bedeutsamen Ergebnisse meiner Unter-
1) V. Ruvme, WiUlam Pitt Graf von Chatham. Stuttgart und Berlin 1906.
3 Bde.
466 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
suchuDgen verwerten, sodaO sein Buch nun doch hinter dem gegen-
wärtigen Stand der Forschung in mancher Hinsicht zurücksteht. Ich
halte es deshalb fUr meine Pflicht, an dieser Stelle die Hauptsachen
von dem in kurzer Fassung anzuführen, worin mein Werk über die
hier niedergelegte Kenntnis und Auffassung der Ereignisse hinaus-
geschritten ist, um so den Schaden ein wenig auszugleichen. Glück-
licherweise ist es ja nur der kleinere und nicht gerade wichtigste
Teil des Pittschen Lebens, der mit dem hier behandelten Abschnitt
englischer Geschichte zusammenfällt.
Da ist zunächst zu erwähnen die Idee, aus der der Eintritt
Butes in das Ministerium Pitt im März 1761 erwuchs, eine Idee, die,
sorglich verhüllt, sich nicht aus den Worten, sondern nur mittels
genauester Prüfung der Handlungen dieses Staatsmannes erkennen
läßt. Er strebte nicht die Pläne Pitts zu stören, im Gegensatz zu
ihm auf den Frieden hinzuarbeiten, sondern nur für den Fall, d&O
es zu Friedensverhandlungen kam, sich selbst als dem Vertrauten
des jungen Königs einen wesentlichen Anteil daran zu sichern, da-
mit die aus dem Abschluß des Friedens erwachsende Popularität
dem Herrscher und nicht nur Pitt zugute kam. So ließ er sich erst
vom König und vom Herzog von Newcastle zur Uebernahme des
einen Staatssekretariats bewegen, als die Einleitung von Verhand-
lungen gesichert war.
Bei diesen Verhandlungen des Jahres 1761 hat dann Verfttsser
nicht den wichtigen und radikalen Umschlag in der Haltung des
französischen Ministers Choiseul erkannt, den dieser am 13. Juli
vollzog. Er hatte bis dahin im Gegensatz zu der Kriegspartei
an seinem Hofe und im Gegensatz zu den österreichischen und
spanischen Freunden hauptsächlich überseeische Konzessionen von
Seiten Englands erstrebt, die österreichischen und spanischen Wünsche
hingegen wenig begünstigt. Sobald er indes merkte, daß Pitt schlecht-
hin nichts dort gewähren wollte, wo er es vornehmlich wünschte,
nahm er die Fortsetzung des Krieges in Aussicht und trat, um sich
hierfür die Hülfe Oesterreichs und Spaniens zu sichern, energisch
für deren Interessen ein. Daher plötzlich die von Pitt so sehr übel
vermerkte Vorlegung der spanischen Gravamina durch den französi-
schen Abgesandten. Die Verhandlungen waren nun von Choiseul
kaum noch aufrichtig gemeint, da er auf Gewährung des Geforderten
nicht rechnen konnte. Sie dienten um Zeit zu gewinnen. Pitt hin-
gegen suchte, da er seinen Fehler erkannte, noch einzulenken, nicht
durch wesentliche Herabsetzung seiner Forderungen, aber dadurch,
daß er trotz mehrerer Siegesnachrichten keine Steigerung der Forde-
rungen eintreten ließ. Das genügte natürlich nicht.
Hont, History of England from the accession of George III 467
Den Riiktritt Pitts im Oktober 1761 hat Verfasser noch nicht
ausreichend zu erklären vermocht, wenn er auch der Wahrheit in
mancher Hinsicht näher kommt als die bisherigen Darsteller. Die
Diflferenz zwischen ihm und dem Gros der Minister war nicht, ob
Krieg ob Friede mit Spanien, sondern ob sofortiger formloser Los-
bruch oder Einhalten der völkerrechtlichen Formen. Nun fragt es
sich, warum Pitt soviel an Überstürztem Vorgehen gelegen war, daß
er sein Amt dafür opferte. Er sah darin meines Erachtens die ein-
zige Möglichkeit, mit Spanien fertig zu werden, ohne Friedrich dem
Großen die englische Hülfe zu entziehen. Wartete man, so mußte
letzteres geschehen, da sich der Krieg zu lange ausspann, dann aber
konnte Pitt nicht Minister bleiben. Die Abkehr von Preußen mußte
er Andere vollziehen lassen.
Es ist unrichtig, daß der Ausbruch des spanischen Krieges Pitts
Nachfolger ins Unrecht setzte. Der Krieg hätte sich möglicherweise
vermeiden lassen, aber Bute provozierte absichtlich die spanische
Regierung, sodaß ihr kein friedlicher Ausweg blieb. Er stellte die
Alternative: Vorlegung des Familienpakts oder Krieg, und da gab
es für das stolze Spanien keine Wahl. So trieb er Pittsche Politik,
nur ohne durch Rücksicht auf Preußen gebunden zu sein. Erst
einige Monate später wandte er das Steuer dem Frieden zu, als sich
durch verschiedene wichtige Ereignisse, unter anderem die Thron-
besteigung Peters HL, die ganze Weltlage gründlich verändert
hatte.
Den Sturz des Herzogs von Newcastle hat Verfasser etwas ein-
leuchtender motiviert als es mir gelungen ist, namentlich durch
bessere Charakterisierung der parlamentarischen Lage. Hingegen
wird er dem Verfahren Butes bei den Friedensverhandlungen von 1762
nicht gerecht. Dieser hat sich Pitt darin entschieden überlegen ge-
zeigt, wie eine Gegenüberstellung der beiderseitigen Methoden zu
beweisen vermag. Pitt wollte dem französischen Hofe die äußersten
Bedingungen aufzwingen und die Spanier durch Freundlichkeit ohne
positive Zugeständnisse vom Anschluß an Frankreich zurückhalten.
Er verdarb es dadurch mit beiden Mächten und mußte schließlich
einen Doppelkrieg provozieren. Bute ging darauf aus, zunächst
Frankreich durch verhältnismäßig große Zugeständnisse für sich zu
gewinnen, um dann mit dessen Hülfe das kriegslustige und hart-
näckige Spanien zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Er erzielte, unter-
stützt durch glückliche Kriegsereignisse, einen durchschlagenden Er-
folg, wiewohl er beständig mit der heimischen Opposition zu rechnen
hatte. Eine exakte Prüfung dieses Buteschen Verfahrens stellt ihn
in ein sehr günstiges Licht.
468 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
Der berüchtigte Passus in dem englisch-französischen Friedens-
verträge, wodurch die rheinisch-westphälischen Provinzen Preufiens
nicht ihrem Könige ausgeliefert, sondern nur von den Franzosen ge-
räumt werden sollten und zwar >aussitöt que faire se pourra«, also
beliebig spät —, dieser Passus stellt sich nicht als eine Däpiernng
Preußens, sondern als eine solche Oesterreichs dar. Er soUte nur
den Frieden mit dem französisch - österreichischen Bundesvertrag
äußerlich in Uebereinstimmung setzen, nicht aber Friedrich d^
Großen ernstlich schädigen. Bald darauf wurde denn auch von Eng-
land ein französisch-preußisches Abkommen vermittelt, das die Pro-
vinzen ihrem rechtmäßigen Herrn sicherte.
Von Wichtigkeit ist auch, daß Bute den Friedensvertrag nur
um den Preis seines baldigen Rücktritts rechtzeitig zum Abschluß
zu bringen vermochte. Das störende Einreden George Orenvilles,
das die Verhandlungen bis in die Parlamentssession hinein auszu-
dehnen und damit in ihrem Erfolg zu gefährden drohte, ließ sich
nicht anders inhibieren, als daß Bute ihm für jetzige Preisgabe seines
Staatssekretariats die künftige Nachfolge in der obersten Leitung
versprach, ein Versprechen, das im April 1763 tatsächlich eingelöst
wurde. So erklärt sich der verwunderliche Ministerwechsel im Herbst
1762 und zugleich der noch erstaunlichere Rücktritt des mächtigen
Günstlings nach dem Friedensschluß.
Außerordentlich schwer verständlich ist das innerpolitische Ver-
halten Pitts in den Jahren 1763—1765, das von Widersprüchen er-
füllt erscheint. Ich glaube den Schlüssel zu ihrer Lösung gefunden
zu haben und zwar in einer sehr einleuchtenden Hypothese. Pitt
gewann Aussicht auf die überaus reiche Erbschaft eines alten Herrn,
Mr. Pynsent, der auf die Fahne der Whigs schwor und den Friedens-
schluß verabscheute. Ihm mußte er sich mit seinen Maßnahmen an-
passen, wenn er nicht des Erbes verlustig gehn wollte, und diese
Anpassung läßt sich im einzelnen verfolgen bis zum Moment des
Erbfalls. Dann erst änderte Pitt seine Haltung, die nunmehr wieder
seiner früheren Politik entsprach. Dieser Umstand ist schuld, daß
Pitt drei Jahre zu spät sein Ministerium antrat, was die verhängnis-
vollsten Folgen nach sich zog, namentlich für die amerikanischen
Fragen.
In der äußerst verwickelten AÖäre Wilkes 1763 ff. hat Hunt die
Ereignisse klar und richtig geschildert, doch tritt die verfassungs-
geschichtliche Bedeutung der Angelegenheit und die Tendenz der
verschiedenen Beteiligten nicht genügend hervor. Auch da dürfte
mein Werk wünschenswerte Ergänzungen liefern, die ich hier nur
andeuten kann. Dem Kampfe des Unterhauses gegen den Agitator
Hant, History of England from the accession of George HI. 469
Wilkes lag die Idee zugrunde, sich gegen die wachsende Macht der
öffentlichen Meinung zu schützen und nicht zuzulassen, daß einzelne
Mitglieder ihre Privilegien als Abgeordnete zum Angriff auf den be-
stehenden korrupten Zustand des Hauses ausnutzten. Es kämpfte
also imgrunde gegen seine eigenen vormals mühsam errungenen
Vorrechte. Pitt hatte nicht das gleiche Interesse, da er gerade die
öffentliche Meinung für sich zu gewinnen hoffte, doch konnten auch
ihm die letzten Konsequenzen, die sich aus dem Vorgehen des
Agitators ergeben mußten, nicht zusagen. Einen Umsturz des herr-
schenden Regierungssystems wollte auch er nicht dulden.
Bei der Aufhebung der Stempelakte im Jahre 1766 finden wir
ein so merkwürdiges Durch- und Oegeneinanderwirken der verschie-
denen Personen und Bestrebungen, daß es dem Verfasser allerdings
sehr schwer werden mußte, in kurzen Worten ein zutreffendes Bild
des Vorganges zu entwerfen. Da würde ihm mein Buch vielleicht
dienlich gewesen sein, namentlich bezüglich der Haltung Pitts, der
hier sich in einer seltsamen Lage befand. Er mußte sich den
Ministern als Opponent erweisen und doch ihre auch ihm willkommene
Maßregel unterstützen. Er mußte diese dem König verhaßte Maß-
regel durchbringen und doch sich dem Herrscher als Minister em-
pfehlen. Und beides gelang ihm, indem er dem Ministerium gegen-
über seine Gegnerschaft in den Prinzipien und den Nebenpunkten
hervorhob, den König aber glauben ließ, die Beseitigung jenes Ge-
setzes sei das Letzte, was er den Amerikanern zu konzedieren beab-
sichtige.
Manche Unrichtigkeiten finden sich in der Darstellung der Cha-
tham-Administration von 1766—68, die sich nur bei eingehendem
Studium vermeiden ließen. Der Minister sucht seine wahren Motive
und Pläne oft so dicht zu verschleiern, daß es sich kaum unter-
scheiden läßt, was er absichtlich zugelassen, und was er sich wider-
willig hat abzwingen lassen. Ich habe mich bemüht, namentlich aus
genauer Prüfung seiner Handlungen, nicht aus seinen Worten, die
Wahrheit festzustellen, und gefunden, daß er sich immer, wenn er
in Rücksicht auf seine stets bekundeten Prinzipien den Wünschen
des Königs hätte entgegenhandeln müssen, durch Aeußerlichkeiten
von einem tätigen Eingreifen zurückhalten ließ, sodaß andersdenkende
Minister freie Hand gewannen. Ein Beispiel dafür ist die Herabsetzung
der Landtaxe, die gegen Ghathams Willen durchging, weil er auf der
Reise nach London wegen Krankheit in einem kleinen Neste liegen
blieb, bis das fait accompli gemeldet war, das er selbst nicht hätte
schaffen dürfen. Dann war er plötzlich reisefähig.
Es war bei der Mangelhaftigkeit der bisherigen Chatham-Biogra»
470 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 6
phien auch nicht zu verlangen, daß Verfasser dessen ganzes Verhalten
gegenüber dem amerikanischen Aufstande nach seinem zweiten Rück-
tritt in erschöpfender Weise darstellte. Er konnte nur die bekannten
Tatsachen berichten ohne die Motive festzustellen. Was bisher nicht
erkannt war, ist das Schwankende in dem Verhalten Ghathams, das
sich immer den Ereignissen anpaßte, sich aber so gestaltete, daß es
mit seinen bekannten Prinzipien nicht in Widerspruch trat. So er-
scheint es äußerlich als konsequent und unwandelbar, während in
Wahrheit starke Abweichungen vorhanden sind, die er nur vermied
offen zu zeigen. Er wirkte dann nicht durch Uebertritt auf die an-
dere Seite, sondern durch Schweigen oder Lässigkeit oder durch ein
Auftreten, das scheinbar seiner alten Auffassung dienen sollte, in
Wirklichkeit aber den Gegnern förderlich war. Mit großer Geschick-
lichkeit wußte er in solcher Weise zu lavieren. — Vor allem aber
müßte bei jeder Darstellung dieser Zeit die absolute Schädlichkeit
des Ghathamschen Verhaltens betont werden. Er hat ohne es zn
wollen durch sein Liebäugeln mit den Amerikanern und sein Be-
kämpfen der ministeriellen Maßnahmen sehr wesentlich dazu beige-
tragen, daß die Behauptung der amerikanischen Kolonien nicht ge-
lang, daß die Amerikaner den Kampf mit solchem Selbstvertrauen
aufnahmen und mit Zähigkeit durchführten. Man wird es dem König
nicht verdenken dürfen, daß er gegen seinen früheren Minister dieser-
halb eine untilgbare Abneigung faßte. Die vom Verfasser geäußerte
Vermutung, Chatham würde als Minister einen brauchbaren Ausgleich
zuwege gebracht haben, lehne ich durchaus ab. Realisierbare Ideen
sind bei ihm nirgends zu entdecken.
Daß Georg III. im ganzen weitsichtiger war als die Opposition,
erkennt Verfasser wohl an, namentlich daß er die Tragweite der
ersten Feindseligkeiten richtiger einschätzte und sich nicht in vagen
Versöhnungs-Hoffnungen wiegte, von denen sich Ghatham nicht los-
zureißen vermochte. Hingegen beurteilt Hunt die Anwerbung der
deutschen Truppen durch England, gegen die Chatham so energisch
auftrat, zu milde. Das Recht zu solchen Werbungen konnte man
ja nicht bestreiten und die Immoralität des Untertanen- Verkaufs, die
man auch nicht mit heutigem Maße messen darf, fiel wohl, wie Ver-
fasser hervorhebt, allein den deutschen Fürsten zur Last. Man muß
aber doch sagen, daß diese Anwerbungen ein schlechtes Licht auf
die Wehrfähigkeit Englands warfen und seine moralische Position den
Amerikanern gegenüber schwächten. Gerade die Verwendung fremder
Truppen erweiterte den Riß zwischen Mutterland und Kolonien be-
trächtlich, machte diese weit hartnäckiger im Widerstand und legte
es ihnen nahe, selbst fremde Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Hont, History of England from the accession of George III 471
Trotzdem hat Verfasser Recht, wenn er Chathams Behauptung,
Amerika könne unmöglich erobert werden, für unrichtig erklärt. Es
jhätte bei etwas geschickterer Kriegführung und ohne die beständige
Ermutigung durch die englische Opposition wohl unterworfen werden
können, denn es kam so schon nahe ans Ende seiner Kräfte. Den
Vergleich mit dem Burenkrieg würde ich allerdings nicht, wie Ver-
fasser tut, heranziehen, da in beiden Fällen das Kräfteverhältnis
doch ein gar zu verschiedenes war.
Sicher hätte die Bedeutung des Krieges, namentlich der ruhm-
vollen Seekämpfe der letzten Jahre für die ganze Zukunft Englands,
kräftiger hervorgehoben werden können. Die englische Regierung
hatte mit nicht weniger als vier Mächten und dazu mit inneren Geg-
nern zu kämpfen, ohne wirklich besiegt zu werden. Das gab Kraft
und Selbstvertrauen, das war die beste Vorbereitung für die weit
schwereren Wirren der Revolutionszeit. Führer zu Lande und zur
See bildeten sich aus, die Flotte wurde wesentlich verstärkt und
verbessert, der schwächende Gegensatz zwischen Mutterland und Ko-
lonien fiel hinweg. So wurde die scheinbare Depression der engli-
schen Macht gerade zum Motiv und Ausgangspunkt gewaltigsten Auf-
schwungs, wie ihn selten eine Nation erlebt hat.
Ich habe die Hauptpunkte, in denen mein >W. Pitt« wesentlich
Neues bringt und somit auch von dem vorliegenden ViTerke abweicht,
hervorgehoben und möchte nun noch verschiedenes andere aus dem
reichen Inhalt des Hunt'schen Buches einer näheren Betrachtung
nnterziehn.
Mehrfach lenkt Verfasser unsre Aufmerksamkeit auf das eigen-
tämliche Regierungssystera, das Georg III. in einer langen Zeit seiner
Herrschaft zur Anwendung brachte, jenes System, das in der Haupt-
sache darin bestand, durch korrupte Mittel das Parlament zu be-
herrschen und durch das Parlament eine Art absolutistisches Regi-
ment zu führen. Verfasser vertritt wie die bisherigen Darsteller
dieser Zeit die Anschauung, daß der König von Anfang an dieses
System ins Auge gefaßt und unter bewußter Bekämpfung der bis-
herigen Machthaber, des bisherigen Verwaltungsmodus allmählich
durchgeführt habe. Er tadelt ihn wiederholt scharf, daß er in solcher
Weise sich in einen Gegensatz zum wahren Willen des Volkes ge-
stellt und damit dessen Zuneigung verscherzt habe. Meines Erach-
tens war Georgs Bestreben von Anfang an nur darauf gerichtet, die
Parteiherrschaft einer bestimmten Gruppe von Whigs, wie sie bisher
bestanden hatte, zu beseitigen, dann aber mit Hülfe tüchtiger Mi-
nister ganz loyal nach konstitutionellen Maximen zu regieren. Die
Privilegien und die Machtstellung des Königtums, soweit sie noch
472 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
bestanden, wollte er aufrecht erhalten, aber es widerstrebte ihm dardi-
aus, den Boden der Verfassung zu verlassen oder auch nur ihran
Geiste zuwider zu handeln. Aber dieser Versuch, aufrichtig loyal im
Sinne der Ideen von 1688 zu regieren, mißglückte vollständig. Schon
um 1762 den durchaus notwendigen Frieden zustande zu bringen,
mußte er die Hülfe eines Staatsmannes in Anspruch nehmen, der
vor den korruptesten Mitteln nicht zurückscheute, das Erforderlidie
durchzusetzen, des Henry Fox. Und als er dann sich noch einmal
von diesem und seiner Methode befreite, merkte er von Jahr zu Jahr
mehr, daß es in der 'gewünschten Weise unmöglich war, em dauer-
haftes Ministerium zustande zu bringen. Kabinet folgte auf Kabinet
und jedes trug bereits bei seiner Einsetzung den Todeskeim in sidi,
bis der König endlich in Chatham den ersehnten Königs- und ve^
fassungstreuen Minister gefunden zu haben glaubte. Ihm war er be-
reit völlig die Zügel zu überlassen, in der Hoflhung, durch ihn von
dem verderblichen Parteiwesen befreit zu werden, aber gerade er
versagte vollständig, gerade unter ihm steigerte sich der Wimnurr
aufs höchste. Es blieb bei den wachsenden kolonialen und auswi^
tigen Schwierigkeiten gar nichts anderes übrig als zu dem System
des Henry Fox, jetzt Lord Holland, zurückzukehren, als durdi das
altgewohnte Mittel der Korruption die ganz unentbehrliche Stabilität
herbeizuführen. Georg konnte das bedrohte Staatsschiflf nicht in der
bisherigen Weise hin- und hertreiben lassen. Daß er die Kormption
nicht zu Gunsten einer Partei sondern des Königtums und des konig*
liehen Ministers zur Anwendung brachte, wurde ihm zwar sehr ttbd
genommen, war aber im Grunde selbstverständlich. So trat der Staat
innerlich gefestigt in den schweren amerikanischen Krieg ein, desaeD
unglücklichen Ausgang man keineswegs aus diesem unvermeidlichen
Regierungssystem ableiten darf. Da entschieden ganz andere Gründe
und Verhältnisse. Man wird demnach sagen müssen : die politisdien
und moralischen Qualitäten der höheren Klassen machten es dem K5-
nige unmöglich, anders als durch Korruption den Staat im Sturme
zu regieren.
Damit erledigen sich auch die Vorwürfe, die Verfietsser dem Lord
North machen zu müssen glaubt. Er war eben damals in Ermange-
lung einer genialen Persönlichkeit, der Georg die ganze Leitung hätte
überlassen können, aus verschiedenen Gründen der geeignetste, um
die Durchführung jenes Systems zu übernehmen. Daß er dabei als
Mandatar des Königs, nicht als selbständiger Premierminister fungierte,
wird man wohl vom Standpunkt des heutigen Parlamentarismus, nicht
aber von dem des damaligen Staatsrechts tadeln dürfen.
Das absolutistische Regiment brach, wie Ver&sser darlegt, xn*
Hnnt, History of England from the accession of George III 478
sammen im Jahre 1782, als der amerikanische Krieg durch die Ka-
pitulation von Yorktown eine böse Wendung genommen hatte. Im
Parlamente überstimmt trat North zurück und der Führer der oppo-
sitionellen Whigs, Lord Rockingham, übernahm die Regierung, dem
aber Lord Shelburne als Vertrauensmann des Königs zur Seite ge-
stellt wurde. Es wäre, meine ich, sehr wünschenswert, wenn dieser
wichtige Vorgang einmal einer recht genauen Prüfung auf Grund
aller Akten und Korrespondenzen unterworfen würde, und zwar unter
dem Gesichtspunkt, ob nicht der König selbst diesen Umschlag ge-
wünscht und gefördert hat. Es war ja ein oft geübtes Verfahren,
bei unangenehmen Notwendigkeiten das Parlament vorzuschieben.
Sollte das nicht auch hier von Georg IIL angewendet worden sein?
Dann würde man nicht sagen können, daß er mit seinem inneren
System Schiffbruch gelitten hätte. Er brachte ja auch bald wieder
ihm zusagende Persönlichkeiten an die Regierung, erst Shelburne,
später Pitt, und wenn diese nicht wie vorher Lord North als bloße
Gehülfen des Herrschers, sondern sehr selbständig auftraten, so muß
man sich ins Gedächtnis rufen, daß dem Könige das persönliche Re-
giment niemals die Hauptsache, sondern nur ein Notbehelf in stür-
mischen Zeiten gewesen war. In dem Sohne Pitt fand er, was er in
dem Vater Chatham vergeblich gesucht hatte, den der Lage gewach-
senen Premierminister, dem er sein Vertrauen schenken, seinen Ein-
fluß zur Verfügung stellen konnte. Indem ich dies als meine Auf-
fassung kundgebe, möchte ich damit die Notwendigkeit exaktester
Untersuchung der ganzen Vorgänge betonen, wie sie mir auch in
dem soeben erschienenen zweiten Teil der Pitt-Biographie von Felix
Salomon nicht vollzogen zu sein scheint, einem Werk übrigens, dessen
Nichtbenutzung durch Verfasser gleichfalls zu bedauern ist. ^)
Wenn ich soeben schon eine Vergleichung mit früheren Vor-
gängen angeregt habe, so dürfte eine solche auch weiterhin von
Nutzen und einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge förder-
lich sein, und zwar nicht blos hinsichtlich der Stellung Georgs zu
seinen Ministerien, Grenville, Rockingham, Chatham einerseits, Rocking-
ham-Shelburne, Fox-North, Pitt andrerseits, sondern namentlich bezüg-
lich des Verhältnisses zwischen König und Thronfolger. Die Ueber-
macht, die Georg UL so lange im Staatsleben besaß, schrieb sich
zum guten Teil daher, daß ihm nicht wie seinen beiden Vorgängern
ein Thronerbe zur Seite stand, an dem die Opposition einen Rück-
halt zu gewinnen vermochte, auf den alle Welt Rücksicht nahm. Erst
mit Pitts Eintritt fing sich der Einfluß des Prinzen Georg von Wales
1) Schon mit der Korrektur beschäftigt, kann ich das Buch auch nicht mehr
zu Bate sdehn.
GOtt. gtL Aue. 1900. Hi. 0. 33
474 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 6
an fühlbar zu machen, dessen Sympathieen den von Pitt bekämpftoi
Whigs galten. Dieser Umstand hätte sicherlich schärfer henrorgehoben
und beleuchtet werden müssen. Aber diesmal war das Resultat ein
anderes als unter Georg 11. Während damals der Hof des Thron-
folgers geradezu eine ausschlaggebende Rolle spielte und sich das
letzte Ministerium Georgs II. unter seinen Auspizien bildete, sehen
wir jetzt den vom König gewählten Minister sogar gegen eine Unter-
haus-Majorität das Feld behaupten. Prinz Georg (IV.) war eben
nicht die Persönlichkeit, um durchschlagende Erfolge zu erzielen.
Ihm fehlte auch die Popularität, die Georg dem III. als Prinzen ent-
gegengebracht wurde, da jetzt der Gegensatz zwischen der hannover-
schen Gesinnung des Herrschers und der national^nglischen des
Erben nicht mehr in Frage kam. Immerhin blieb die Gefiihr, die
Pitt von dem Thronfolger drohte, keine geringe, namentlich als der
König im Jahre 1788 zeitweilig in Geisteskrankheit verfiel, und so
näherten sich die Verhältnisse immer mehr denjenigen vor Georgs HL
Thronbesteigung. 1792 erstrebte die Opposition sogar ein Koalitions-
ministerium, das wohl mit dem von 1757 hinsichtlich seines Ur-
sprungs vergleichbar gewesen wäre, aber der König und Pitt be-
fanden sich In einer zu starken Stellung, als daß es zu dieser De-
mütigung hätte kommen können.
Einen großen Teil des Buches nehmen selbstredend die Vorgänge
und Kämpfe der Revolutionszeit ein, die in einer gut übersichtlichen,
kurzen und doch dem Wissensbedürfhis entsprechenden Weise zur
Darstellung gebracht werden. Zweierlei hätte dabei freilich klarer
dargelegt und über Alles hinausgehoben werden können: 1) Die Be-
ziehung der englisch-französischen Kriege zu dem Ausbruch der Re-
volution; 2) die Einwirkung der Revolution auf die englische Ver-
fassungsentwicklung. — - Unter den ersteren Punkt begreife ich die
Tatsache, daß Frankreich gerade nach den vielen Niederlagen und
Demütigungen, die es im letzten Jahrhundert von dem im Grunde
weit schwächeren England erlitten hatte, das Bedürfnis fühlte, sieh
unter energischerem Regiment in seiner vollen Kraft zu zeigen, und
daß es nicht zum wenigsten deshalb seine Dynastie stürzte, den
Weltkrieg entflammte, freilich ohne gerade England gegenüber dan-
emd zu reüssieren. Es zeigte sich, daß die rüde und rücksichtslose
Art, in der plötzlich die ganze Volkskraft angespannt und aufge-
stachelt wurde, wohl einigermaßen verwendbare Landarmeen schaffen
konnte, aber nicht geeignet war, das feine Instrument der Flotte zu
höherer Entfaltung zu bringen, ein Umstand, der das Werk des
größten Imperators schließlich völlig zusammenbrechen und fast
spurlos verschwinden ließ.
Hont, History of England from the accession of George III 475
Was den andern Punkt betrifft, so hat zweifellos die französische
Revolution auf die Fortbildung der englischen Verfassung stark re-
tardierend gewirkt, die notwendigen Reformen um Jahrzehnte auf-
gehalten. So mußte es auch kommen, wenn der Staat seine Stabilität
bewahren sollte. Parallelgehend mit der gewaltsamen Umwälzung
in Frankreich hätten die verfassungsrechtlichen Wandlungen ebenfalls
einen gewaltsamen und daher verderblichen Charakter angenommen.
So war es ein Glück, daß das alte System dank der politischen Be-
fähigung der höheren Klassen und des energischen Auftretens ein-
zelner Persönlichkeiten noch so viel innere Kraft bezeigte, um die
drohende Bewegung zu verhüten. Das abschreckende Beispiel Frank-
reichs wirkte dann noch lange nach, sodaß es weiterhin außerordent-
lich schwer war, die wünschenswerte Fortbildung zu vollziehen. Die
Abwehr der revolutionären Bestrebungen von Seiten der Regierung
ist zutreffend und anschaulich geschildert, doch möchte ich dabei be-
merken, daß das Gegenspiel der Opposition, namentlich des Fox,
sicherlich keinen prinzipiellen, sondern nur einen persönlichen Cha-
rakter trug. Sie begünstigten die populäre Bewegung, nicht um ihr
zum Siege zu verhelfen, sondern um dadurch zur Macht zu gelangen.
Wäre ihnen das gelungen, so würden sich ihre weiteren Maßnahmen
wohl sehr wenig von denen Pitts unterschieden haben, denn ein Um-
sturz des Bestehenden hätte auch ihrer Macht ein Ziel gesetzt.
Daß die englische Landarmee zu schwach war, um auf dem
Kontinent den gewaltigen Massen des Feindes gegenüber Beträcht-
liches zu leisten, erkennt Verfasser sehr richtig an, doch hätte er
auch betonen können, wie eine zu starke Berücksichtigung der ein-
seitig englischen Interessen nicht ohne Schuld war an den Mißerfolgen,
besonders des niederländischen Feldzugs von 1793. Es fand kein
rechtes Zusammenwirken mit den Verbündeten statt, da England zu
viel Gewicht auf Gewinnung und Behauptung von Küstenplätzen
legte. Bei der Darstellung dieser kriegerischen Ereignisse sind wohl
die deutschen Werke nicht genügend zu Rate gezogen worden. Von
den Zuständen in den kontinentalen Staaten zeigt Verfasser eine gar
zu ungünstige Meinung. Freilich spielte bei ihnen die Sucht nach
territorialer Expansion oft eine übergroße Rolle, aber so ganz ver-
rottet waren sie, so ganz despotisch ihre Regierungsform doch keines-
wegs, wie Verfasser behauptet (S. 346 f.).
Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind in einem be-
sonderen Kapitel eingehend behandelt worden. Dabei hätte Ver-
fasser wohl den großartigen Aufschwung auf allen Gebieten beson-
ders dadurch noch mehr hervorheben können, daß er ihn in Vergleich
stellte mit der langsamen Entwicklung, man kann fast sagen Sta-
33*
476 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
gnation, die vor dem siebenjährigen Kriege zu beobachten ist. Die
Motivierung dieses Kontrastes hätte dann auch nahe gelegen. Sie
lag wohl weniger in der Konkurrenz anderer Mächte auf dem Ge-
biete des Handels und der Industrie, speziell Frankreichs, als in den
Gefahren, die dem schwach bevölkerten England beständig von dem
für übermächtig gehaltenen Nachbarstaate zu drohen schienen. Die
raschen und entscheidenden Siege des genannten Krieges, die nicht
blos über Frankreich, sondern zuletzt auch über Spanien errungen
wurden, hoben das Selbstvertrauen und gaben ein Gefühl der Sicher-
heit, das geeignet war alle wirtschaftlichen Kräfte wachzurufen, und
das auch durch die Fehlschläge des amerikanischen Krieges nicht
wieder aufgehoben werden konnte. Im Zusammenhang mit der Dar-
stellung dieser inneren Entwicklung hätte auch gleich das Kapitel
der Staatsschuld behandelt werden können, über die erst später
nebenbei gesprochen worden ist, als Pitt sich mit ihrer Tilgung be-
faßte. Es hätte gezeigt werden können, wie wenig die schweren
Besorgnisse gerechtfertigt waren, die sich an das starke Anwachsen
dieser Schuld knüpften, wie einerseits der wachsende Kredit des
wohlgeordneten englischen Staates, aus dem sich ein sehr niedriger
Zinsfuß ergab, andrerseits das Steigen der Bevölkerung und ihres
Reichtums die Last in weit höherem Maße erleichterte, als sie sich
durch das Anwachsen der Schuldenmasse steigerte. Ein Vergleich
mit den finanziellen Verhältnissen Frankreichs, wo die Schuld eben-
falls rapide stieg, ohne daß ein solcher Aufschwung und eine solche
Besserung des Kredits den Ausgleich gab, hätte diesen Zusammen-
hang besonders klar vor Augen zu stellen vermocht. Verfasser weist
zwar richtig den Fehler in Pitts Finanzpolitik auf, der noch immer
sich um Tilgung alter Schulden mittelst des Tilgungsfonds bemühte,
als er sich schon infolge der Revolutionswirren zur Aufnahme neuer
schwererer Lasten genötigt sah, aber es fehlt doch an ausgiebiger
Klarlegung der zwischen Finanzwirtschaft und Volkswirtschaft vor-
handenen Relationen. Uebrigens ist bei Pitts Verfahren in Rechnung
zu ziehen, daß das Fortwirken des Tilgungsfonds nicht wenig zu der
hohen Kreditfähigkeit des Staates beitrug, die ihm schließlich über
die schweren Napoleonischen Zeiten hinweggeholfen hat, ein Umstand,
den Verf. an einer späteren Stelle (S. 347 f.) richtig hervorhebt.
Bei der zentralen Stellung, die das Parlament im englischen
Staatsleben besitzt, ist es nur natürlich, daß den Verhandlungen
dieser Körperschaft vom Historiker viel Aufmerksamkeit geschenkt
wird. Doch möchte ich es nicht billigen, diese Verhandlungen, wie
es Verfasser bisweilen tut (z.B. S. 117. 160), der Reihe nach zu er-
zählen. Die Staatsaktionen sind es, die, möglichst in innere Be-
Hont, History of England from the accession of George III 477
Ziehung gebracht, nach einander dargestellt werden mttssen, und
ihnen sind die betreffenden Debatten etc., wo es zum Verständnis
nötig, anzugliedern. Das zeitliche Zusammentreffen verschiedenartiger
Verhandlungen hat für den Historiker, wenn nicht innere Zusammen-
hänge vorliegen, oder wenn es sich nicht um Parlamentsannalen han-
delt, keine Bedeutung. Ich erwähne das nicht, weil der Fehler in
diesem Buche ein besonders hervorstechender wäre, sondern weil er
überhaupt bei der englischen Geschichte so leicht begangen wird.
Den Schluß des VSTerkes bildet die Darstellung der Ereignisse,
welche zur Herstellung des vereinigten Königreichs, also zur staat-
lichen Verknüpfung Irlands mit Großbritannien führten. Verfasser
hat dabei nicht unrecht, wenn er die moralische Verurteilung des
Verfahrens, das Pitt dabei einschlug, abweist. Durch Korruption
wurde Irland gewonnen, aber korrumpiert waren die irischen Ver-
hältnisse nun einmal von Grund aus. Nichtsdestoweniger hätte der
interessante Vorgang staatsrechtlich tiefer erfaßt werden können.
Davon ausgehend, daß Irland auch vorher nur nominell ein beson-
derer Staat war, während in Wahrheit und staatsrechtlich seine Sou-
veränität in England ruhte, hätte man den Charakter, das Wesen
der stattfindenden Wandlung scharf präzisieren können. Ich meine,
dieses bestand darin, daß die Macht des englischen Parlaments über
Irland durch Wegfall des irischen Parlaments zwar nicht geschaffen,
aber einer Schranke entledigt wurde, die sein Eingreifen in die
inneren Verhältnisse bis dahin gehemmt hatte, und daß dafür die
irische Bevölkerung einen gewissen Anteil an dieser zentralen Macht
erhielt. Das Ganze war eine Vergewaltigung durch Mittel der Kor-
ruption, war die künstliche Herstellung eines gefälschten Volks-
willens, aber ein derartiges Verfahren wird die souveräne Gewalt
— und diese lag wie gesagt in England — stets Volksvertretungen
gegenüber zur Anwendung bringen, wo es sich nach ihrer Meinung
um Lebensinteressen des Gesamtstaates handelt, denn jede Volks-
vertretung ist in dieser oder jener Form der Korruption zugänglich,
die souveräne Gewalt aber fühlt sich nun einmal für das Wohl des
Ganzen verantwortlich. Wie die damalige souveräne Gewalt in Eng-
land zu definieren sei, ist eine besondere, interessante Frage, die
sich wohl kaum unanfechtbar beantworten läßt. Die englische Ver-
fassung war zu sehr im Fluß und ermangelte dogmatischer Fest-
stellung.
Ein ausführlicher, sehr lehrreicher Quellenbericht, ein sehr
dankenswertes Verzeichnis der Ministerien seit 1760, ein Stammbaum
der Grenville-Familie , die durch die hervorragende Stellung ver-
schiedener Mitglieder und durch ihre Verwandtschaft mit den Pitts
478 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
SO große Bedeutung gewonnen hat, und endlich em Index schließe
das ausgezeichnet wertvolle und praktisch höchst brauchbare Werk.
Eine Karte Großbritanniens, auf der die parlamentarische Vertretung
zur Anschauung gebracht ist, und zwei Karten der vereinigten
Staaten um 1783 sind angefugt.
Halle Albert von Ruville
Willy Soheel, Johann Frhr. zu Schwarzenberg. Berlin, J. Guttenta^ ,
1905. XVI, 381 S.
Herrmanns Biographie Schwarzenbergs war, trotzdem man sie
ehedem nicht wenig schätzte, angesichts der allzu dürftigen Hilfs-
mittel, die ihm zu Gebote standen, längst nicht mehr als zeitgemäß
zu betrachten. Es ist daher Scheel, welcher sich bereits durch die
Neuausgaben der Bambergensis und Carolina die ersten Sporen auf
historischem Gebiete errungen, sicher als Verdienst anzurechnen,
daß er sich berufen fühlte, ein möglichst getreues, lichtvolles Lebens-
bild dieser als Ritter, Staatsmann und Gelehrten gleich sympathischen
Persönlichkeit zu entwerfen. Als besondere Vorzüge des Werkes möchte
ich vor allem rühmen, daß uns nunmehr dank der großen Bereitwillig-
keit der fränkischen Archive wie der der fürstlichen Familie das ge-
samte auf Schwarzenberg bezügliche urkundliche Material, vereint
zu einem geordneten Ganzen und zugleich mit nicht geringem Ge-
schick verwertet und erläutert, zur Verfügung steht, und es so er-
möglicht ist, die einzelnen Wandlungen im ereignisreichen Dasein
und fruchtreichen Wirken einer der markantesten Gestalten aus der
großen Zeit, in der Humanismus und Reform des Glaubens sich die
Hände reichten, an unserem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen.
Erfahren wir wenig über Schwarzenbergs Kindheit (als Geburts-
datum nimmt nun Scheel den Stefanstag 1465 an), so gewinnen wir
doch einen kurzen Einblick in die kernige und praktisch veranlagte
Natur des Vaters, welcher Johann in vieler Hinsicht als Vorbild
dienen mochte. Hierauf folgen wir diesem an den rheinischen Hof,
wo der Most in Spiel und wüsten Gelagen verschäumte, und dann
dem zum besonnenen Manne gereiften und geklärten Jüngling von
Stufe zu Stufe seines Ansehens und Ruhmes. Lernen wir ihn als
Hofmeister und Hofrichter in Bamberg wie als trefflichen Haushalter
in seinen Reichsherrschaften schätzen, so nicht minder als Verfechter
der Standesinteressen der Ritterschaft, welche er allerdings schließ-
lich aus nicht ganz gerechtfertigtem Grunde im Stiche läßt, als Teil-
Scheel, Johann Frhr. zu Schwarzenberg 479
nduner an Reichstagen, Mitglied des Reichsregiments und endlich
als Ratgeber der Fürsten in Brandenburg und Preußen. Bedeutsam
ist femer seine Stellungnahme zum Bauernaufruhr, zum schwäbischen
Bund und zur > Luthersache <.
Freilich hätte in des Ritters Lebensbild mancher beachtenswerte
Zug vielleicht durch stärkere Striche angedeutet werden können, wie
zu dessen Verherrlichung manches hineingeheimnißt worden ist, was
Tom strengen Standpunkt der Historik aus vorerst als offene Frage
behandelt werden sollte. So wäre wohl z. B. Schwarzenbergs Rolle
hl der ständischen Bewegung durch eine größere Vertiefung in die
geschichtliche Entwicklung derselben (analog den Ausfuhrungen
Fellners) klarer verdeutlicht worden. Nicht selten läßt sich auch der
Verfasser durch die Begeisterung für seinen Helden verleiten, wenig
stützbare Vermutungen zu dessen Gunsten als bare Münze auszu-
geben. So geht es offensichtlich zu weit, Schwarzenberg als Reformer
der Bamberger Hofgerichte zu bezeichnen; warum soll nun gerade
ihm die Umwandlung der Protokolle in kurze Verzeichnisse (das ge-
wiß keinen Fortschritt bedeuten würde, wenn die ersteren nicht eben
Protokolle, die anderen aber Manualien wären) in die Schuhe ge-
schoben werden? Zu weit greift femer der Autor, Schwarzenberg
einen nachhaltigen Einfluß auf das Zustandekommen der Carolina zu-
zusprechen; wir müssen uns im Gegenteil geradezu verwundern, daß
man die Redaktion derselben dem Verfasser der Bambergensis nicht
im großen ganzen überlassen hat. Zu viel dürfte es endlich gesagt
sein, daß nunmehr in Hinsicht auf letztere der endgiltige Beweis für
die Autorschaft Schwarzenbergs erbracht sei. Denn, trotzdem auch
Köhler ad verba discipuli schwört, haben wir uns leider der Lösung
dieser Frage nur um wenige Schritte genähert. So kommen z. B.
die aufgeführten sprachlichen Eigentümlichkeiten , die Ausdrücke
>fiirsetzlich€ und dergl. Schwarzenberg im Hinblick auf die Schreib-
weise jener Zeit keineswegs allein zu, abgesehen davon, daß die
Fassung und Zusammenstellung des ihm von Rechtskundigen bear-
beiteten Stoffes ja immerhin durch ihn erfolgt sein können. Die VO.
für die Seinsheimer Zent aber beweist nicht mehr, als daß eben die
Niederschrift der Bambergensis zwei Monate vor ihrer Publikation
schon mehr oder minder vollendet vorlag. Und darum ist es noch
immer nicht klar ersichtlich, wieviel dem >rat der gelerten und
ander (rechts) verstendigen« zuzusprechen ist. Wenn zudem mehrere
in Frage stehen und dem Gerichte angehörten, als dessen Vor-
sitzender Schwarzenberg fungierte, so nimmt es nicht wunder, daß
er, der natürlich auch dann die Inkraftsetzung der 0. dem Bischof
480 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
gegenüber vertrat (er selbst hat sich nie als Verfasser bekannt), auch
als ihr geistiger Urheber angesehen werden mußte.
Auch nahm man es damals, abgesehen davon, daß man bei
Schaffung der HGO. eines so bescheidenen Territoriums, nicht deren
spätere Bedeutung ahnen konnte, mit der Nennung des Autors keines-
wegs so genau und gewissenhaft. Ich erinnere hier an zwei Nürn-
berger Fälle: Als Erbauer des Rathauses wie der Fleischbrücke
(Ponte Rialto) brüsteten sich zwei stolze Patrizier, bis es erst in
den letzten Jahrzehnten gelang, die wirklichen (auch sonst nicht un-
bedeutenden) Baumeister festzustellen wie die Tatsache, daß erstere
lediglich als Referenten des Rates die Bauaufsicht führten. Käme
Schwarzenberg als vollwertiger Autor und nicht nur als Herausgeber,
der lediglich die letzte Hand anlegte, in Betracht, so wäre er bei Ge-
legenheit der Herstellung der Carolina zweifellos ostentativer hervor-
getreten und hätte sich hier nicht mit solch nebensächlicher Rolle
begnügt. Ich bringe hier nur, was nicht zu bekehrende Gegner ein-
wenden könnten; ich will keineswegs, um eben Schwarzenberg als
Polyhistor, der sich ja auch mit den ihm ebenso femstehenden
Klassikern trefflich abfand, nicht zu nahe zu treten, ohne weiteres
zu jenen gerechnet werden, immerhin raten, die Autorschaft Schwarzen-
bergs vorerst in das Reich der Wahrscheinlichkeit zu verweisen.
Vielleicht hätte endlich Scheel das Kapitel > Schwarzenberg als
Juristc besser einem Fachmann überlassen, da er hier, wiewohl
sonst sein vielseitiges Talent offen anerkannt werden mag, doch auf
einem ihm allzu fremden Gebiete wandelt. Was soll auch die Bei-
ziehung seines Bamberger Strafrechts; aus ihm dürften sich kaum
sichere Schlüsse ziehen lassen, inwieweit Schwarzenberg die heimi-
schen Bräuche genützt hat. Jenes schmiegt sicli nicht nur dem
System, sondern nicht selten auch dem Gedankengange nach unwill-
kürlich dem der Bambergensis sehr abholden Nürnberger Rechte
an und baut sich dann doch auf allzu dürftigem Quellenstoffe auf.
Die Strafen freilich vermochte Schwarzenberg der Praxis der Heimat
zu entnehmen, für die Filigranarbeit der allgemeinen strafrechtlichen
Bestimmungen jedoch und, was als Hauptsache erscheint, die »Pro-
zessierform< bedurfte es eines weiteren Ausblicks. Deshalb fertigte
auch Scheel letztere nicht ohne Grund mit wenigen Strichen ab und
so muß uns eben Brunnenmeisters treffliches Buch in dieser Hinsiebt
auch noch fürderhin als willkommener Leitstern dienen.
Doch sollen uns diese geringfügigen Ausstellungen nicht ab^
halten, unserer ehrlichen Freude Ausdruck zu verleihen, daß wir uns
endlich einer dieses kerndeutschen Ritters würdigen Lebensbeschreibung
Scheel, Johann Frhr. zu Schwarzenberg i81
erfreuen, zu der wir dem Autor wie dem Verleger rückhaltlos Glück
zu wünschen vermögen. Möge das Werk zahlreiche Leser erringen
und den Verfasser zu weiteren Taten ermuntern.*)
München H. Knapp
Joh« Zleknrsch , Sachsen und Preußen um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts. Breslau, M.u.H. Marcus, 1901. XI, 228 S. Mk. 6.
Die Zeit des österreichischen Erbfolgekrieges ist in den letzten
Jahrzehnten in zahlreichen Werken behandelt und das große darüber
vorhandene Aktenmaterial in umfassender Weise durchforscht und
vorgelegt worden. Gleichwohl ist noch vieles nicht Unwichtige unbe-
arbeitet und mancher Zug in dem verwickelten diplomatischen Spiel,
das mit dem Tode Kaiser Karls VI. begann, unbekannt geblieben,
wie diese Schrift beweist. Es waren die Jahre, in denen der alte
habsburgische Besitz ganz zu zerfallen drohte, in denen die größeren
Territorien des Reiches die Gelegenheit eifrig benutzten, in ihrem
Bemühen fortzufahren und sich zu bereichern und auszudehnen. Die
Konflikte und Kämpfe, in die sie dabei unter einander und mit den
alten Mächten gerieten, geben die Möglichkeit, zu erkennen, wie groß
die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen dieser kleineren Staatengebilde
war, wie weit sie sich unter dem Einfluß der modernen Staatsidee
wklich innerlich entwickelt hatten. Die Historiker beschäftigen sich
jetzt erfreulicher Weise immer eindringlicher mit der Entstehung
und den Fortschritten aller dieser Staaten, die bislang über dem
kräftigsten und erfolgreichsten unter ihnen, Preußen vernachlässigt
waren; so war es auch eine lohnende Aufgabe, Sachsens Anteil an
den Kämpfen, der noch nirgends im Zusammenhang geschildert war,
genauer klarzulegen und damit seine Stellung in der allgemeinen
Entwicklung zu charakterisieren.
Ziekursch hat ihre Lösung mit eindringendem Fleiße unter-
nommen. Er hat die umfangreichen Bestände der sächsischen Akten
durchgearbeitet und unter sorgfältiger Heranziehung des gesamten
gedruckten Materials für eine geschickte Darstellung verwertet.
Mancher Zug in der sächsischen Politik jener Zeit wird durch ihn
erst vollkommen verständlich gemacht oder gar ganz neu aufgedeckt.
1) Die Behauptung, daß sich der Nürnberger Rat in jener Glanzperiode der
Wissenschaft und Kunst gegenüber völlig indifferent verhielt (S. 21), hat Verfasser
WQ\d kaum ernst gemeint, wie ich der Anschauung Kohlers im Geleitwort, daß
sich Nürnberg an Grausamkeit mit jeder italienischen Stadt messen konnte, keines-
wegs beizupflichten vermag. Wenn der verehrte Meister endlich die Frage stellt,
ob Schwarzenbergs gesetzgeberisches Werk auch inhaltlich für unser Land eine
Wohltat War, so möchte ich dies im üinbUck auf die Praxis der Folgezeit unbe-
dirigt verneinen.
482 Gott gfL Ans. 1906. Nr. 6
Er begnfigt sich auch nicht mit den engen Grenzen einer Spenl-
nntersuchung, sondern stellt ihre Ergebnisse nntar allgemeuieie Ge-
sichtspunkte. Die sächsische Politik jener Jahre ist ihm eine Fort-
setzung der Politik August des Starken, er betrachtet die Tendenzen
der sächsischen Politik im 18. Jahrb., für die ihm jene Krisis ein
besonders prägnantes Beispiel bietet, überhaupt im Zusammenhange,
er sucht sie aus dem Geiste der Zeit und den gegebenen politischen
Verhältnissen zu verstehen und geht schließlich so weit, sie nicht
nur für gerechtfertigt, sondern auch für zweckmäßig zu halten. Da
diese Beurteilung, zu der er fortschreitet, lebhaften Widerspruch
fand (von Haake im N. Arch. f. sächs. Gesch. 25, 321), so hat «r
seine Ansicht in den großen Zügen noch einmal genauer dargelegt
und begründet (N. Arch. f. sächs. Gesch. 26, 107). Bevor ich auf
einige Einzelheiten eingehe, möchte ich über diese jedenfalls anre-
genden allgemeinen Betrachtungen ein paar Worte sagen.
Ziekursch betont unter den Beweggründen der sächsischen Politik
in seinem Buch die wirtschaftlichen ziemlich stark, in seinem Auf-
sätze drückt er sich vorsichtiger aus. Die Erwägungen wirtschaft-
licher Art, die die sächsischen Staatsmänner angestellt haben, als
Ausgangspunkt für ihre Aktionen zu nehmen, ist in der Tat w(dil
nicht statthaft. Daß sie bei ihren Plänen, die darauf hinausgingen,
möglichst viel Land für ihren Staat zu erwerben, seine Machtsphare
zu erweitem, auch die Vorteile ins Auge faßten, die die Gebiete
ihrem Handel und ihrer Industrie bringen würden, ist nicht über-
raschend. Die grundlegende Erwägung aber war offenbar die rein
politische: welche Länder können wir unter den augenblicklichen
Verhältnissen zu erwerben hoffen? Erst die engere Auswahl ward
dann durch andere Ueberlegungen bestimmt, die den Wert der in
Betracht kommenden Gebiete abschätzten und zwar nach allgemein
politischen, militärischen, wie endlich auch wirtschaftlichen Gründen.
1740 konnte man nur Teile des Habsburgischen Besitzes ins Auge
fassen und von diesen erschien Schlesien besonders wertvoll, gewiß
weil wichtige sächsische Handelsverbindungen durch dies Land
führten, und die sächsische Industrie es teils als Produzent teils ab
Konsument brauchte, aber vor allem doch auch, weil es die beste
Verbindung nach Polen bot. Gerade diese Verbindung war Brühl
das Wichtigste. Sie bildete die Hauptforderung, an der er immer
festhielt, während er über die Größe seines Anteils an Schlesien mit
sich handeln ließ. Diese Verbindung war aber nicht als Handelsver-
bindung gedacht, sondern sollte militärischen und politischen Zwecken
dienen. Denn sie erschien Brühl auch noch annehmbar, wenn sie
auf Umwegen um Schlesien herum erlangt würde. Daß auf die
Zieknrsch, Sachsen a. Preußen nm die Mitte des 18. Jh. 483
frühere Erwerbung Polens wirtschaftliche Motive einen wesentlichen
Einfluß geübt hätten, kann Ziekursch nicht beweisen.^) Er macht
darauf aufmerksam, daß der Handel nach und durch Polen für
Sachsen von großem Werte gewesen sei. Natürlich wurde dies auch
von den Sachsen erkannt. Aber wie weit hat darauf der Besitz der
polnischen Königskrone eingewirkt? Diese Vorteile kamen Sachsen
auch ohnedem zu gute. Dafür, daß inzwischen etwa solche Motive
besonders wirksam geworden sind, wird auch kein Beweis geliefert.
Es ist doch auch sehr bezeichnend, daß die Forderung der Königs-
würde für den sächsischen Kurfürsten in den Verhandlungen mit
Oesterreich eine wichtige Rolle gespielt hat, von der bei Ziekursch
allerdings nicht viel die Rede ist. Daß sie bei Oesterreich großen
Widerspruch erregte, war doch begreiflich. Kämpfte Brühl wirklich
um die wirtschaftliche Existenz Sachsens, so wäre es unverständlich,
warum er diese gamicht damit zusammenhängende Frage damit ver-
quickte. Wohl begreiflich aber ist das, wenn man annimmt, daß es
ihm wesentlich auf die Steigerung des Ansehens und der Macht
seines Staates und seines Herrn ankam. Mir scheint, daß hier theo-
retische Erwägungen und Ueberzeugungen des Historikers Ziekurschs
Auffassung mehr beeinflußt haben, als die Quellenzeugnisse.
Damit kommen wir zu der andern Frage, ob die Politik Brühls
überhaupt gerechtfertigt und zweckmäßig war. Ziekursch vertritt
mit Energie die Forderung, daß man eine Persönlichkeit zunächst
und vor allem aus ihrer Zeit heraus und von dem Standpunkt be-
urteilen müsse, den sie selbst einnimmt. Da hat er völlig Recht,
wenn er die Ausdehnungspolitik der Wettiner im 18. Jahrhundert
nicht anders bewertet, als die der HohenzoUern, der Habsburger und
anderer deutscher Fürstenhäuser. Sie alle nahmen dabei keine
Bücksicht auf nationale oder religiöse Ideen, sie folgten nur dem
heißen Wunsch, den Besitz ihres Hauses und, was damit meist zu-
sammenfiel, ihren Staat zu vergrößern. Die nationalen und religiösen
Unterschiede bedeuteten damals in der Tat nicht so viel, die Staats-
kunst brauchte mit ihnen nicht zu rechnen. Und so ist durchaus
verständlich und nicht au sich zu verurteilen, daß Sachsen, da ihm
die Möglichkeit sich auszudehnen auf der anderen Seite abgeschnitten
war, sein Streben nach Osten zu auf Polen richtete. Die Möglich-
keit ist zuzugeben, daß sich auf diesem Wege, und unter den ge-
gebenen Verhältnissen vielleicht nur auf diesem, eine neue Groß-
macht entwickeln konnte.
Die Leiter der sächsischen Politik, die diese von August dem
1) Vgl. jetzt auch den Aufsatz von Haake, Histor. Yierteljahrsschr. IX, 89 ff.,
dem ich freilich in der Beurteilung der HohenzoUern nicht überall folgen kann.
484 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
Starken eingeschlagene Richtung verfolgten, sind in dieser Hinsicht,
soweit sie es mit Kraft und Konsequenz taten, wenn man sie aus
ihrer Zeit heraus beurteilt, genau so hoch einzuschätzen wie die
Hohenzollern. Aber daneben hat der Historiker doch auch von der
späteren Entwickelung rückschauend die Ziele und Bestrebungen der
Personen zu beurteilen. Ziekursch zieht hierfür nur die wirtschaft-
lichen Momente in Betracht. Diese können aber für sich allein nie
ausschlaggebend sein. Ihre Entwicklung ist vielmehr ganz von der
der allgemeinen politischen Verhältnisse abhängig, wie gerade das
Beispiel Sachsens beweist, dessen natürliche wirtschaftliche Fortbildung
sich an die Elbe hätte anschließen müssen. Das halbe Jahrhundert,
das den Sachsen vor dem mächtigen Erwachen der nationalen und
religiösen Idee noch zur Verfügung stand, hätte nicht mehr ausge-
reicht, um ihnen ihr Uebergewicht zu sichern. Im großen weltge-
schichtlichen Zusammenhang aufgefaßt, erscheinen ihre Ziele nicht
wesentlich verschieden von der Erwerbung der englischen Königs-
würde durch Hannover, oder von gelegentlichen vergeblichen Be-
mühungen der Hohenzollern um die schwedische oder russische
Krone, sie waren höchst bedenklich und unvorteilhaft für die Ent-
wicklung des Stammlandes der Monarchie, dessen eigentliche Inter-
essen dabei gegenüber denen des größeren fremden Landes zu kun
kamen. Das Verhältnis von Sachsen zu Polen konnte doch nie
ähnlich dem von Oesterreich zu Ungarn werden, das schon Jahr-
hunderte lang durch deutsche Kultur und Kriegszüge mit dem Haupt-
lande verbunden war. Wie schwer hat selbst Preußen später trotz
seiner günstigen Lage und seiner größeren Macht noch an dem Be-
sitze polnischer Gebietteile, die es nach den Maximen der Staats-
kunst des 18. Jahrhunderts erwarb, getragen, so daß seine Regene-
ration erst möglich war, nachdem es sie wieder verloren hatte ! Eine
Großmacht mit deutschem Charakter, und nur das konnte auf die
Dauer eine vorteilhafte Entwickelung Sachsens bedeuten, wäre bei
einem Gelingen der Pläne Augusts des Starken wohl schwerlich ent-
standen. Man kann ihm und seinem Nachfolger keinen Vorwurf
daraus machen, daß er das nicht voraussah, er urteilte wie seine
Zeit. Der Historiker wird diese Erwägungen nicht als Maßstab für
ihre persönliche Beurteilung anwenden, aber er muß sie doch zu
ihrer Würdigung verwerten.
Beschäftigen wir uns nach diesen Bemerkungen allgemeiner Art
noch einen Augenblick mit den speziellen Resultaten von Zieknrschs
Untersuchung, so kann ich dem Verfasser auch da nicht überall
folgen. Waren die Ziele von Brühls Politik auch für seine Zeit
richtig, so ist das Scheitern seiner Pläne doch nicht nur dadurch
Zieknrsch, Sachsen u. Preußen um die Mitte des 18. Jh. 485
verursacht worden, daß seinem Staate die nötige Kraft dazu fehlte,
sondern wesentlich auch durch die Persönlichkeit des Ministers selbst.
Er führte seine Politik eben nicht energisch und zielbewußt durch.
Man kann durchaus nicht sagen, daß er alles auf eine Karte, die
Erwerbung Niederschlesiens, gesetzt habe, denn er wagte das hohe
Spiel gamicht wirklich zu spielen. Er machte nicht selbständig Po-
litik, sondern ließ sich treiben. Ziekursch betont mit Recht, daß er
erst Ende Juli wirklich Unterhandlungen mit Frankreich angeknüpft
habe. Das ist über ein Vierteljahr, nachdem der Präliminarvertrag
mit Oesterreich verabredet war, in dem er außer dem Landerwerb
auch, wie oben erwähnt, die Königswürde für Sachsen gefordert hatte.
Inzwischen war nichts Ernstliches geschehen. Die Verhandlungen über
den definitiven Abschluß hatte Brühl nicht mit aller Kraft gefördert,
sondern im Gegenteil erschwert dadurch, daß er seine Ansprüche
immer höher schraubte. Allein Maria Theresia und die allgemeine
Lage für das Scheitern des Bündnisses verantwortlich zu machen,
geht nicht an. Was Ziekursch von König Georg sagt, daß er un-
fähig zu einem tatkräftigen Entschluß gewesen sei, trifft auch ganz
auf Brühl zu. Er wollte möglichst große Vorteile herausschlagen,
aber möglichst nichts dafür leisten. Der Grund, warum er so lange
von Frankreich nichts wissen wollte, scheint mir nicht darin zu
liegen, daß er annahm, bei einem Bunde mit Frankreich Nieder-
schlesien nicht bekommen zu können, sondern daß er sein Ziel ohne
kriegerische Anstrengung durch eine übermächtige Demonstration
gegen Preußen zu erreichen hofifte. Denn er hat ja offenbar auch
noch im August die Erwerbung jenes Landstriches bei Frankreich
durchzusetzen gehofft. Deshalb bringt auch noch nicht das Ver-
sagen der Hannoverschen Hülfe, sondern erst die Nachricht von dem
tatkräftigen Eingreifen Frankreichs, wodurch solche Hoffnung zer-
stört wurde, den Umschwung. Das zaudernde Verhalten Mitte Juli
zeigt übrigens auch nicht gerade die Art eines großen Politikers.
Genau denselben Charakter hat seine Politik auch nachher, als er
sich dem antiösterreichischen Bunde anschließen wollte, wie Ziekursch
einmal selbst richtig bemerkt, und die Sache nun umgekehrt zu Un-
gunsten Oesterreichs zu liegen schien. Immer ist es Scheu vor ent-
scheidendem Handeln. Gewiß war der Frankfurter Traktat eine
Niederlage seiner Politik; er schloß ihn nur ab, weil er mußte. Die
Niederlage bestand doch aber nur darin, daß er sich mit den Vor-
teilen begnügen mußte, die ihm bewilligt wurden und die ihm minder-
wertig schienen. Daß dieses Bündnis ihm an sich nicht widerwärtig
war, wird am besten dadurch bewiesen, daß er gerade in dieser
486 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
Verbindung sich wirklich zum Handeln aufraffte, nachdem er die
Bedingungen für sich verbessert zu haben glaubte.
Man kann also meines Erachtens nicht ganz allgemein behaupten,
daß Sachsen zu dem Bündnisse gezwungen wurde, und die Folgerung,
die Ziekursch aus diesem von ihm aufgestellten Satze zieht, ist mir
nicht deutlich geworden. Er zeigt, daß Brühl nach Abschluß des
Traktats eine günstigere Konstellation benutzte, um vorteilhaftere
Bedingungen herauszuschlagen. Man kann wohl fragen, ob das
nicht auch geschehen wäre, ohne jenen Druck, den die Alliierten auf
Sachsen ausgeübt hatten, wo man doch aus Ziekurschs Buch sieht,
wie Brühl bei jeder Gelegenheit geradezu ausschweifende Forderungen
erhebt. Und ist dadurch wirklich der Gang des Krieges wesentlich
beeinflußt werden? So dankenswerte neue Aufklärungen über den
Herbslfeldzug von 1741 Ziekursch im Einzelnen giebt; ich kann nicht
finden, daß er jene These beweist. Zunächst wurde zwar durch die
von neuem geltend gemachten Wünsche Brühls der Aufbruch der
sächsischen Truppen etwas verzögert, aber bald trat als wesentlicher
Beweggrund für das Zaudern offenbar Mißtrauen in die Leistungen
der Verbündeten, und zwar ebensowohl der Bayern und Franzosen,
wie der Preußen, hinzu. Die Reibungen, die jeder Koalition ver-
hängnisvoll werden, machten sich bemerkbar. Dieses Zaudern beein-
flußte dann wohl die Feldzugspläne Belleisles, aber Ziekursch zeigt
gerade, wie diese auf den Gang der Operationen bei der Donauarmee
gar nicht einwirkten. Die Sachsen hätten wohl dem Feldzug eine
andere Wendung geben können, dann hätte aber nicht ein Brühl die
Leitung des Staats in der Hand haben müssen.
Fasse ich kurz zusammen, so scheint mir, daß Ziekursch durch
seine solide, anregende Arbeit die Politik Brühls in eine richtigere
Beleuchtung gerückt hat, und einen großen Zug in ihr nachweist,
daß er sich aber dadurch verleiten läßt, ihre Bedeutung im Zu-
sammenhange der historischen Entwickelung und vor allem die per-
sönliche Leistung Brühls zu überschätzen.
Göttingen L. MoUwo
Oskar Crlste, Kriege unter Kaiser Josef II. Nach den Feldakten and
anderen authentischen Quellen bearbeitet in der kriegsgeschichtlichen Abteünng
des k. o. k. Kriegsarchiys. Mit einer Uebersichtskarte von Mitteleuropa, sechs
Beilagen und zwölf Textskizzen. Wien 1904. L. W. Seidel & Sohn. XI, 886 S.
Geh. Mk. 15.
Hauptmann Criste, der auch den siebenten Band des öster-
reichischen Generalstabswerkes über den Oesterreichischen Erbfolge-
krieg bearbeitet hat, will mit dem vorliegenden Werke auf die Dar-
Criste, Kriege anter Kaiser Josef II 487
Stellung der Kriege Oesterreichs gegen das revolutionäre Frankreich
vorbereiten, die demnächst vom k. und k. Generalstab veröffentlicht
werden soll. In der wichtigen »Vorbemerkung< wird die Notwendig-
keit einer solchen Vorbereitung dargelegt. >Die österreichischen
politischen und militärischen Führer in dem Kampfe Oesterreichs
gegen Frankreich hatten ihre erste Schule im Theresianischen und
Josefinischen Zeitalter durchgemacht; sie lebten noch in den An-
schanungen jenes Zeitalters und wirkten dementsprechend auch in
dem Geiste derselben<. Also ist die damalige Kriegführung wie
Politik nicht zu verstehen ohne Kenntnis der Josefinischen Kriege.
Besonders wichtig ist hier, wie Criste richtig und bedeutsam betont,
die für Oesterreich verhängnisvolle Verschiedenheit der Strategien
des 18. und des 19. Jahrhunderts.
So beginnt denn Criste mit einer Uebersicht über die allge-
meine politische Lage um 1765. Er charakterisiert dann Josefs
Stellung als Mitregent, ohne indes die eigenartigen Schwierigkeiten
dieser Stellung besonders stark zu betonen. Darauf geht er zur
Darstellung der Kriege und verständigerweise auch der Politik Josefs
über. Er erzählt die sogenannte erste polnische Teilung in der all-
gemein angenommenen Weise und schließt daran die Wegnahme der
Bukowina durch Oesterreich.
Eingehend ist der Bayrische Erbfolgekrieg dargesteUt, und zwar
wegen der großen Bedeutung, die er für die Ausbildung von öster-
reichischen und preußischen Feldherren, wie Albert von Sachsen-
Teschen, Wurmser, Clerfayt, Allvintzy, Quosdanovich, Braunschweig,
MöUendorff, Hohenlohe hatte: >Für die Epigonen ist er, wiewohl er
sich weder durch kühne Operationen noch durch entscheidende
Schlachten auszeichnet, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Auf die Entwickelung der Feldherrenkunst der damaligen Zeit hat
dieser Krieg den höchsten Einfluß ausgeübt <. Dies wird, nachdem
die Tatsachen ohne Betrachtungen hintereinander erzählt sind, in der
angehängten Kritik ausgeführt. Die Erzählung geht auf alle nötigen
Einzelheiten ein, ist aber doch von gedrängter Kürze. Zu erwähnen
wäre daraus Folgendes: Der Vormarsch des rechten Flügels des
Prinzen Heinrich gegen Melnik (an Elbe und Moldau) > bezweckte
nichts anderes als Demonstrationen zu machen und dabei die Gegend
anszufouragieren, um seinen Entschluß, aus Böhmen nach Sachsen
abzuziehen, leichter ausführen zu können <. Sein Gegner Loudon
aber erblickte darin >die Absicht, seine linke Flanke zu umgehen,
indes das Gros des Prinzen Heinrich zum Frontalangriff schreite«. ^-
Die Detachienmgen Friedrichs nach Oberschlesien waren Folge der
Bedrohung der Provinz durch die mährischen Truppen. Daß Friedrich
488 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
damit allmählich den Krieg nach Mähren als Hauptschauplatz habe
verlegen wollen, nimmt Criste nicht an.
Die erwähnte Kritik gibt auch einige Aufklärungen, die man in
der Darstellung vermißt : Warum hat Friedrich seinen ursprünglichen
Plan, mit der I. Armee in Mähren einzubrechen, nicht ausgeführt?
Eine ausdrückliche Autwort erfolgt erst jetzt (S. 129): weil die
Hauptmacht der Oesterreicher nicht in Mähren, sondern in Böhmen
stand und er also den Prinzen Heinrich in zu große Gefahr gebracht
hätte. Warum hat er aber überhaupt den Prinzen mit einer II. Armee
durch Sachsen nach Nordböhmen detachiert? Die Antwort ist meines
Erachtens in den Angaben über Friedrichs Ziele (S. 69 u. 129) nicht
deutlich genug gegeben; sich nach einer entscheidenden Schlacht
den Weg an die Donau zu bahnen, kann nicht sein Hauptziel ge-
wesen sein, sondern dies muß die Räumung Böhmens durch die
Oesterreicher gewesen sein. Sonst hätte er die prinzliche Armee an
sich ziehen müssen. Bezeichnenderweise hat er vielmehr mit der
Hauptarmee nur mittelbar den Hauptzweck fördern wollen, die Armee
des Prinzen sollte die Hauptsache tun. Wie sind endlich die Ope-
rationen Friedrichs gegen die Elbstellung zu beurteilen? Criste meint,
er hätte zum Angriff schreiten können und sollen, ehe die öster-
reichische Armee vollständig in die Stellung eingerückt war (vor dem
9. 7.). Aber Friedrich hat ja nicht einmal eine Umgehung ihrer
Flanke durchführen können, obgleich er darin garnicht gestört wurde,
und hat nicht einmal an Stellen angegriffen, wo auch nachher ihre
Truppenmacht gering war. Ich glaube nicht, wie Criste, daß Alter
und Kränklichkeit so lähmend auf seine Unternehmungslust gewirkt
und seine physischen Kräfte so wenig mehr zur persönlichen Leitung
eines großen Unternehmens ausgereicht haben. Sondern ich glaube:
er hat aus vielen üblen Erfahrungen den richtigen Schluß gezogen,
daß gegen feste Stellungen, auch wenn sie von geringerer Truppen-
zahl besetzt wären, mit seinen Soldaten, also mit den damaligen
Soldaten überhaupt, kein Sturm zu wagen sei. Bis zu einem ge-
wissen Grade erkennt dies auch Criste an, wenn er sagt: »Mit Rück-
sicht auf die Lineartaktik, welche keine Mittel kannte zur Durch-
führung hartnäckiger Oertlichkeitsgefechte, war die Stellung an der
Elbe gewiß eine gute und schwer angreifbare.« Er verfolgt aber
diesen Gedanken leider nicht. Sonst würde er darauf kommen, die
vielseitige Bedingtheit und Beschränktheit der Kriegführung im 18.
Jahrhundert zu bedenken und daraus die Antwort auf die Frage zu
finden: Woher kommt es, daß selbst die Genies in dieser Zeit nach
heutiger Auffassung Fehler machen, und woher kommt das Be-
Criste, Kriege unter Kaiser Josef 11 489
streben, >jener Kriegsperiode, alles durch strategische Manöver ohne
Schlachten erreichen zu wollen«?
Für Oesterreichs Militärs war es jedenfalls, wie Criste zeigt,
yerhängnisvoU, daß sie mit dieser Kriegführung jetzt selbst Friedrich
gegenüber einen Erfolg gehabt hatten. Auch der nun folgende
Türkenkrieg hat sie zu keiner anderen Einsicht bringen können.
Denn es war ein Koalitionskrieg, und alle Nachteile und Mängel
wurden hierbei natürlich aus schlechter Unterstützung durch die
Russen erklärt. Und doch hat auch Josef den Krieg ohne rechte
Energie geführt. Er hat selbst im Juli 1788 geschrieben: »Was die
Türken betrifft, so scheinen sie uns vergessen zu haben, und wir
erwidern ihnen ein Gleiches«. Diese Untätigkeit entstand aus dem
System von Josefs militärischem Berater Lacy, das hier wie im
bayrischen Erbfolgekrieg Anwendung fand, dem >heute schwer ver-
ständlichen System, durch Deckung der Grenzlinien entscheidende
Erfolge herbeizuführen«. Es wurde ein Kordon aus fünf Armeekorps
gebildet, der die fast 200 Meilen lange Grenze decken sollte, und
während die Hauptarmee eigentlich bereit bleiben sollte, wo es nötig
wäre, mit gesamter Macht zu Hilfe zu kommen, wurde auch sie zer-
splittert, weil man überall zugleich, und ehe es nötig war, Hilfe bringen
wollte. So wurde aus dem ursprünglichen Feldzugsplan, der überall
eine frische Offensive in Aussicht nahm, das Gegenteil. »Durch diese
Passivität in der Kriegführung der Oesterreicher waren die Türken
in der Lage, den langen Kordon zu beschäftigen und ihn schließlich
an dem selbstgewählten Punkte zu durchbrechen < (S. 162). Sie
brachen mit einer überlegenen Macht von Orsova her ins Banat ein.
Der Kaiser rückte nur mit der Hälfte der Hauptarmee, 21 Bataillonen,
32 Eskadronen, zu Hilfe, ließ die andere Hälfte bei Semlin zurück
und schickte auch noch acht Bataillone, acht Eskadronen nach an-
deren, an ihm bedroht scheinende Punkte. Infolgedessen hatten die
Türken an vielen Stellen die Ueberlegenheit oder schienen sie we-
nigstens zu haben. Der Kaiser wich ohne Schlacht zurück, das
Banat wurde von den Feinden verheert. Ganz ähnlich ging es in
Siebenbürgen, und der einzige zu energischem Angriff geneigte Be-
fehlshaber, Prinz Josias Koburg in Galizien, errang zwar kleine Vor-
teile, wurde aber vom Kaiser an ihrer Ausnutzung gehindert. So
war man fast auf der ganzen Linie geschlagen. Ein Glück war nur,
daß die Türken schließlich keine bessere Strategie befolgten als
Josef. Ging dieser schon nicht auf die Vernichtung der feindlichen
Streitmacht, sondern nur auf die Besetzung von Landstrecken aus,
80 begnügten sich die Türken gar damit, den Feind durch Plünde-
rung seines Gebietes geschädigt zu haben und im übrigen ihre
Om. pL Au. 190«. Nr. 6. 34
490 Qött. gel Anz. 1906. Nr. 6
Grenzen zu schützen. Sie zogen sich wieder aus dem Banat
zurück.
Immerhin sah Josef doch ein, daß er den nächsten Feldzag
energischer führen müsse, und folgte den Vorschlägen des F. M.
Hadik, der die Türken gleich zu Anfang des Feldzuges anzugreifen
riet. Jetzt durfte sich Koburg mit Suworow vereinigen und ener-
gisch vorgehen, und so wurde durch die Siege bei Focsani und
Martinesci die Walachei gewonnen. Loudon wurde an die Spitze der
Hauptarmee gestellt und nahm Belgrad. Aber auch die Erfolge
dieses Feldzuges wurden durch die Politik getrübt. Und wie Criste
der Darstellung des Krieges mit Recht die Geschichte des russischen
Bündnisses vorausgeschickt hat, so schildert er jetzt das Gewitter,
das sich am politischen Himmel Oesterreichs zusammenzog, und
schließt mit Josefs traurigem Ende.
Seine Darstellung beruht auf der Durchforschung der Literatur
und des Aktenmaterials. Das Buch ist mit urkundlichen Beilagen,
als Ordres de bataille, Verlustlisten und Berichten, mit Karten und
Skizzen ausgestattet, deren Benutzung durch ein umfassendes Re-
gister wesentlich erleichtert wird. Bei der Kürze, die sich der Ver-
fasser zum Gesetz gemacht hat, konnten nicht alle Truppenverschie-
bungen immer erwähnt werden, sodaß kleine Aenderungen der
Truppenbestände manchmal unerklärt bleiben, aber eben nur kleine
Aenderungen ; was unbedingt nötig war, ist auch in dieser Beziehung
geschehen. — Daß Erwägungen über die Gründe der Handelnden,
über die Notwendigkeit ihrer Maßregeln, wie es scheint, grundsätz-
lich aus der Darstellung ausgeschaltet und in die Kritik verbannt
sind, wirkt störend, wie ich erwähnt habe. Die Gründe sind meines
Erachtens klar: zwischen historischer Betrachtung, die die Motive
zu verstehen sucht, und kritischer, die sie beurteilt, immer streng
zu scheiden ist schwer. Der Offizier tritt mit einem festen, aus den
Prinzipien seiner Zeit entnommenen Maßstab an die Kriegsgeschichte
heran und wird stets geneigt sein, ihre Vorgänge damit zu messen,
zu kritisieren. So hat auch bei Criste die Kritik das Uebergewicht
über die objektive Kausalbetrachtung. Bayrischer Erbfolgekrieg und
Türkenkrieg sind Musterbeispiele der von Delbrück so genannten
> Ermattungsstrategien In beiden wirkt beständig bis ins einzelne
eine Politik, die ihnen verhältnismäßig geringfügige Ziele steckt, so
daß die Besetzung von Gebiet das A und 0 ist. Wie sich daraus
im Verein mit dem Söldnerheerwesen, der Magazinverpflegung und
Lineartaktik die befolgte Strategie mit Notwendigkeit ergibt und
selbst Friedrich und Loudon zwingt, das kann man auch aus Gristes
Darstellung entnehmen. Aber er sagt es uns nicht.
Beriin P. Gerber
Bacher, Die deatsche Sprachinsel Lusem 491
Jotef Baeher, Die deatsche Sprachinsel Lusem. (Quellen und For-
schungen zur Geschichte, Literatur und Sprache Oesterreichs und seiner Kron-
länder, durch die Leo-Gesellschaft hrs. von J. Hirn und J. £. Wackemell,
Band X). Innsbruck 1905. Wagnersche Universitätsbuchhandlung. XY, 440 S.
Im Jahre 1857 wurde der Kurat Zuchristian nach dem einige
Meilen östlich von Trient gelegenen Lusern versetzt. Zu seiner
größten Ueberraschung fand er hier mitten im Italienischen eine
deatsche, bisher unbeachtete Mundart, deren sich alsbald zwei Tiroler
Volksforscher, Ignaz Zingerle und Schneller, eifrigst annahmen. Das
Leben dieser noch nicht tausend Seelen starken Gemeinde schildert
uns der Kurat Josef Bacher, der sich sechs Jahre darin aufgehalten
hat, gut ausgerüstet mit den erforderlichen geschichtlichen und
sprachlichen Kenntnissen. Dieses Leben ist ein Kampf gegen die
harte Natur und die unversöhnlichen italienischen Nachbarn. Denn
Lusem liegt auf einer rauhen, 1333 Meter hohen Hochebene, arm
an Acker und Wiese, Wald und Wasser, und wird fortwährend
bedroht von der Irredenta durch ihre Anschläge auf das Deutsch-
tum. Noch am Ende das Jahres 1905 wurden die deutschen Be-
wohner so von ihr gereizt, daß sie die italienische Schule stürmen
wollten.
Lusern scheint eine verhältnismäßig junge deutsche Ansiedlung
zu sein, die im siebzehnten Jahrhundert aus ein paar Familien be-
stand. Erst 1715 erhielt sie eine eigene Kirche, deren Kuraten, ohne
Rücksicht auf die Sprache der Bevölkerung, italienisch amtierten, bis
jener Zuchristian das Deutsche auch in Kirche und Schule zur Gel-
tung brachte. Aber seit 1878 säete ein modenesischer Hilfspriester
Zwietracht, die bis heute fortwuchert. Die Bedeutung dieses Kampfes
greift weit über diese kleine Gemeinde hinaus; es beteiligen sich
an ihm einerseits die Lega Nazionale, andererseits der Allgemeine
Deutsche Schul verein, und er bildet nur einen Teil des tausend-
jährigen Ringens der deutschen und der italienischen Sprache und
Nationalität in diesem südöstlichen Alpengebiet. Die Luserner Mund-
art, eine Tiroler Mundart mit bairischer Grundlage, gehört einem
früher viel weiteren und vielleicht zusammenhängendem Sprachgebiete
an, das auch die »sieben und dreizehn Kommune < der südlichen
Voralpen umfaßte. Es erstreckte sich, wie zahlreiche Wald- und
Bergnamen, Flur-, Hof- und Personennamen und auch einige ältere
Urkunden bezeugen, südlich und östlich von Vicenza weit in die
Ebene hinein, und noch 1500 sprach in Trient ein Viertel der Be-
völkerung deutsch. Mit dem Sinken der deutschen Kaisermacht und
dem Aufschwung der italienischen Literatur und Kultur im drei-
34*
492 Gdtt. gel. Anz. 1906. Nr. 6
zehnten Jahrhundert sank auch der Einfluß der deutschen Sprache
auf diese alpinen Bevölkerungen, und das Italienische ist noch im
Vordringen begriffen.
Nach den zwei einleitenden Kapiteln bespricht der Verfasser die
Wohnung, Nahrung und Lebensweise der Lusemer im dritten Kapitel,
im vierten Becht, Brauch und Volksglaube, im fünften Erzählung
und Lied, Spiel und Brauch, im sechsten die Mundart und gibt im
siebenten und achten eine klare Grammatik und ein reichhaltiges
Wörterbuch. Aus diesem umfassenden Material seien nur einzelne
Züge hier herausgegriffen. Die Küche ist der Hauptraum der Woh-
nung, heißt auch das > Hause und scheint höchst altertümlich
den Herd in der Mitte zu haben. Die Hauptspeisen zeigen die
deutsch-italienische Mischung, es sind Sauerkraut und Pult, d. h.
Polenta. Dazu Kartoffeln. Die Hauptgetränke sind Wein und Brannt*
wein, denen oft zu eifrig zugesprochen wird. Der Pflug wird wegen
Mangel an Zugtieren und auch wegen der Lage des Ackerlandes
nicht verwendet. Die Weibsleute lockern das Erdreich mit der Haue,
während die meisten Männer im Sommer auswärts sehr geschid[t
Straßen- und Bahnbauten ausführen. Die Heimat behalten sie dabei
sehr lieb, insbesondere ihre Mundart. Beim Begräbnis wird nicht
nur übermäßig geweint und gekreischt, sondern werden auch nach
einer bestimmten Melodie die Vorzüge des Verstorbenen gepriesen.
Ihr Leben ist auch arm an Festbräuchen, zu Ostern und Pfingsten
fehlen sie ganz. Bachers Darstellung des Volksglaubens folgt zn an-
selbständig der Mogk'schen Mythologie z. B. wenn er die elfischen
Geister von den Dämonen trennt und einen eigenen alten Dämon
Wodan annimmt. Das Volkslied ist fast ausgestorben, aber manche
Märchen und Sagen echt deutschen Charakters — 47 werden, zum
Teil in der Mundart, mitgeteilt — haben sich lebendig erhalten. Von
den Kartenspielen ist das auch in Deutschtirol verbreitete >Watten<,
von Bewegungsspielen das ebenfalls weit verbreitete Bocciaspiel sehr
beliebt.
Was die Mundart betrifft, so ist zu bemerken, daß Lusem keine
gemischt-sprachliche Gemeinde ist und das Deutsche nicht nnr von
der deutschen, sondern auch von der welschen Partei gesprochen
wird. Am nächsten verwandt ist das Lusemische dem Cimbrischen.
Die Grammatik hat ganz deutsche Bauart, nur im Satzbau, in der
Stellung des Objekts und der des Verbum finitum im abhängigoi
Satz, folgt sie der italienischen Konkstruktionsweise. Viel tiefer ist
das Italienische in den Lusemischen Wortschatz eingedrungen. Etwa
ein Drittel desselben mag italienisch sein.
Das tüchtige Buch ist ein wertvoller Beitrag zur dentschen
Bacher, Die deutsche Sprachinsel Lusem 493
Volkskande und stellt uns mit sicheren Zügen vors Auge ein wackeres
deutsches Völkchen, tief religiös, bieder, offen, ehrlich, sittlich und
gastfrei, doch nicht ohne Genußsucht, lustig, lebhaft, schlagfertig
witzig in Rede und Widerrede.
Freiburg i. B. E. H. Meyer
Emil GQUer, Der Liber Taxarum der päpstlichen Kammer.
Eine Studie über seineEntstehung undAnlage. Rom, Löscher
1905. 104 S. (Separatabdruck aus »Quellen und Forschungen aus italienischen
Archiven und Bibliotheken, herausgegeben vom Königl. Preuß. Hist. Institut in
, Rome. Bd. Vm, Heft 1 u. 2).
Mit Freuden bemerkt man in den letzten Jahren, wie kundige
Hände sich rühren, um unsere Kenntnisse zur Geschichte der päpst-
lichen Verwaltung immer mehr zu vertiefen und endlich den Weg
zu einer zusammenfassenden päpstlichen Verwaltungsgeschichte zu be-
reiten. Jahrelang hat das Oesterreichische Institut in Rom hierbei
die führende Rolle übernommen; denn die Untersuchungen über
päpstliche Kanzlei und Kammer, die in den Mitteilungen zur Oester-
reichischen Geschichtsforschung niedergelegt sind, bilden heute noch
die Richtlinien, an denen ähnliche Arbeiten sich orientieren müssen,
nnd die Grundlagen, auf denen weiter zu bauen ist. Und doch be-
merkt man an keinem Punkte mehr als gerade hier, daß mit der
fortschreitenden Erkenntnis auch die Anforderungen gesteigert werden.
Ottenthals Kanzleiregeln wie Tangls Kanzleiordnungen dienen immer
noch als unentbehrliche Handbücher, die auf den ersten Blick allen
Anforderungen gerecht zu werden scheinen. Vielleicht geht es nicht
mehr lange, bis ihnen eine neue kritische Ausgabe Platz macht.
Wer einmal in diesen Dingen gearbeitet hat und sich mit dem
»iurare in verba magistric nicht zufrieden gab, wird wenigstens das
Bedürfnis sehr lebhaft empfunden haben. Die gleiche Erscheinung
zeigt sich auf einem ganz speziellen Gebiete, in der Frage nach der
Entstehung und Entwicklung des Taxbuches der päpstlichen Kammer.
Als Döllinger im Jahre 1863 angeblich erstmals das Taxbucb ver-
öffentlichte, konnte man in dieser Edition mit Recht eine hervor-
ragende Leistung erblicken, die den damaligen Bedürfnissen voll und
ganz genügte. Heute zeigt Göller, wie lückenhaft und unzuverlässig
diese Ausagbe ist, ebenso wie die schon früheren, von Döllinger nicht
gekannten Drucke, welche bezeichneterweise unter der polemischen
Literatur des 16. Jahrhunderts als Angriffsobjekt gegen die römische
Kurie eine große Rolle spielten.
Bevor der Verlasser an die eigentliche Behandlung seines Themas
494 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 6
herantritt, macht er zunächst auf den wichtigen Unterschied zwischen
dem Taxbuch der Kanzlei und dem der Kammer aufmerksam.
Letzteres, das er allein behandelt, definiert er als: >ein in der ca-
mera apostolica und der camera collegii cardinalium geführtes, im
Laufe der Zeit allmählich erweitertes und in manchen Teilen umge-
ändertes Verzeichnis der bischöflichen Kirchen und servitienpflich-
tigen Abteien und der bei ihrer Neubesetzung nach vorausgegangener
Obligation an beide Kammern gleichmäßig zu entrichtenden Taxe«.
Diese Definition zeigt, daß die Entstehung des Taxbuches aufis
innigste mit der Ausbildung des Servitiumswesens zusammenhängt,
für dessen Geschichte im 13. Jahrhundert OotÜob bereits vorge-
arbeitet hat. lieber Gottlobs Untersuchung hinaus gelingt es Göller,
aus einer bisher nicht beachteten Formel, die unter Johann XXIL
bei der Fixierung der Servitientaxe angewendet wurde, drei wichtige
Grundsätze herauszuheben (S. 18/19): »1) Zur Zahlung des Servi-
tiums waren zur Zeit Johanns XXII. nach althergebrachter Gewohn-
heit diejenigen Prälaten gebalten, die entweder dem apostolischen
Stuhle providiert oder (auctoritate eiusdem) konfirmiert wurden. 2) Die
Höhe des Einkommens mußte bei Bistümern wie Abteien die Summe
von 100 Goldgulden erreichen. 3) Als Servitium commune war ein
Drittel des Gesamteinkommens zu entrichten<. Bezüglich des dritten
Punktes wird kaum mehr ein Zweifel an der Richtigkeit aufkommm
können. Bei der Behandlung des ersten Punktes kommt so recht
einmal auf Grund von Eubels Hierarchia die Statistik zu ihrem
Rechte mit dem überraschenden wie interessanten Resultate, daß sich
bei den deutschen Bistümern eine kontinuierliche Provisionsreihe erst
im 14. Jahrhundert und auch da zum Teil erst spät feststellen läßt
(S. 24), entgegen der bisherigen Annahme, daß schon um die Mitte
des 13. Jahrhunderts beinahe alle Bischöfe durch den Papst provi-
diert oder konfirmiert wurden. Schwieriger gestaltete sich die Ver-
folgung der Frage, ob auch in der Zeit nach Johann XXII. als un-
terste Einkommensgrenze für die Erhebung des Servitiums die Summe
von 100 Gulden maßgebend blieb. Hier scheinen mir GöUers Aas-
führungen nicht konsequent und klar genug zu sein. Denn gerade
die Berufung auf die Taxgrenze bei den päpstlichen Reservationen
und die Frage nach der Entstehung und Höhe der Taxe der Kon-
sistorialpfründen sind beides Dinge, bei denen wir noch ziemlich im
Finstern tappen, obwohl Göller, der am Sitze der Quellen gleich-
sam aus dem Vollen schöpft, auch für diese Gebiete einige treffliche
neue Gesichtspunkte beigebracht hat.
Die folgenden Kapitel (3—5), zugleich die wichtigsten, sind der
Entstehung des Taxbuches und seiner Ueberlieferung gewidmet Der
Göller, Der Liber taxarum 496
apostolischen Kammer standen in der ersten Zeit für die Bestimmung
der Servitiumshöhe keine anderen Hilfsmittel zu Gebote als die
Kammer- speziell die Obligationsregister. Hier hat Göller erstmals
auf zwei wichtige Obligationsregister (Obl. Nr. 6 und Cod. Borghese
125) aufmerksam gemacht, deren Indices er bereits in der Römischen
Quartalschrift 1904 als die direkten Vorlagen für das Taxbuch
bezeichnete. Im Gegensatz dazu entscheidet er sich in vorliegender
Arbeit nur für eine indirekte Benutzung, wozu ihm die vielen
Abweichungen in der S. 51 mitgeteilten Liste veranlaGten. Nach ein-
gehender Vergleichung des vatikanischen Taxbuches (Cod. VA.
bei Göller) mit dem Obligationsregister Nr. 6 und dessen Fort-
setzung glaube ich gleichwohl die Behauptung erhärten zu können:
Die Indices der Obligationsregister Nr. 6 und dessen Fortsetzung
waren in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts das eigentliche
Taxbuch der päpstlichen Kammer und bildeten die direkte Vor-
lage für das spätere separate Taxbuch, da die in genannten Obli-
gationsbänden stehenden Taxen in alle späteren Taxbücher aufge-
nommen sind. Zum Beweise ist es jedoch notwendig, bei der von
Göller S. 51 mitgeteilten Tabelle einige Berichtigungen und Ergän-
zungen anzubringen. Die Uebersicht wäre von vornherein erhöht
worden, wenn die Döllingersche Liste, auf die ja doch kein Verlaß
ist, weggeblieben wäre und die Taxen von Obligation 6 und dessen
Fortsetzung in drei Kolumnen geteilt worden wären, wovon die eine
die Taxe des Index von Obligation Nr. 6, die andere die Taxe des
Textes von Oblig. Nr. 6, die oft mit der des Index nicht über-
einstimmt, die dritte endlich die Taxe von Cod. Borghese 125, wo
Index und Text übereinstimmen, gebracht hätte. So ist Curonien.
im Taxbuch mit 50 in aniiquis 10() eingetragen. Oblig. 6 hat die
Taxe 100; dessen Fortsetzung 50. Beides ging in das Taxbuch
über. Lavellen, steht im Taxbuch mit 70 alibi 200, Die Erklärung
für diese Taxe gibt allein Oblig. 6, wo im Text die Taxe 70, im
Index für fol. 212 richtig die Taxe 70, dagegen für fol. 196 die
Taxe 200 steht. Der Schreiber des Index ist versehentlich im Text
(fol. 196) auf die nächstfolgende Servitiumzahlung gekommen, die
als Taxe 200 hat! Bemerkenswert ist ferner, daß im Taxbuch (Cod.
VA.) das alibi 200 von zweiter gleichzeitiger Hand zur Taxe 70 hin-
zugeschrieben wurde. Aehnliches gilt von Exonien.^ wo der Eintrag
5000 alibi 6000 aus der Verschiedenheit von Index und Text in
Oblig. 6 sich erklärt. Bei Faventin. mit der Taxe 300 alibi 400,
muß schon im Jahre 1391 (cf. Göller S. 51 Anm. 3) eine Reduktion
auf 300 stattgefunden haben, während Oblig. 6 noch die Taxe 400
bat, vorausgesetzt, daß bei Faventin, keine Verwechslung mit Faven,
496 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 6
vorgekommen ist, das als Taxe 300 bat, was sehr leicht möglieh
sein konnte. So wird auch Miden. in Ibernia mit Minden, bei Göller,
Döllinger und in den Hss. aus Versehen verwechselt. Miden. ist im
Taxbuch eingetragen mit 1000. Im Index von Oblig. 6 mit 500, im
Text mit 1000, in der Fortsetzung von Oblig. 6 mit 1000; Minden.
dagegen mit der Taxe 400. Das geht dann durcheinander and so
erhalten wir für Minden, bei GöUer 400 alibi 500, während die
Döllingersche Reihe 1000 hat. Der Eintrag bei Farmen. 300 alibi
2000 — ein zu großer Unterschied, um Reduktion bezw. Erhöhung
anzunehmen — läßt sich vielleicht aus einer Verwechslung mit Poeeii.
erklären, das mit der Taxe 300 eingetragen ist.
Für Onegnen. in Polonia finde ich in Oblig. 6 sowohl im Text
wie Index die Zahl 200 (Göller 5000), während das Taxbuch 2000
alibi 5000 hat, wobei ich 2000 als Schreibfehler für 200 halte.
Bei Pacten. erklärt sich die Taxe 100 alibi 200, während Oblig. 6
und dessen Fortsetzung 200 hat, daraus, daß nach Eubel Faden.
bis zum Jahre 1399 mit Liparen. uniert war, zunächst also 200,
später nur mehr 100 bezahlen mußte. Der Eintrag bei Benedicti de
Quinciaco 200 alibi 250 erklärt sich nur daraus, daß Cod. Borghese
im Text 250 hat, im Index jedoch zuerst aus Versehen 200,
später verbessernd 250 geschrieben wurde. Das Taxbuch muß also
unmittelbar auf die Obligationsregister zurückgehen und zwar zeigt
sich im Cod. VA. das Bestreben in der ersten Reihe die niederste
Taxe zu verzeichnen, in der zweiten die höhere. Bei anderen Ein-
trägen ließen sich die Reihen bei Göller noch vervollständigen: so
ist Strigonien. in Cod. Borgh. mit 2000; Sutrin. mit 50; Turrüar. mit
300; Vahmi. mit 150; Veneten. mit 250; Visen, mit 2300; Mtvriede
Älveto mit 475 eingetragen usw. Sodann sind die vielen Pehler zu
berücksichtigen, die sich in den Index von Oblig. 6 eingeschlichen
haben. Äquilanus steht im Index mit der Taxe 600, im Text mit
der von 100. Der Schreiber des Index kam versehentlich auf eine
im Text oben daranstehende Servitiumszahlung mit der Taxe 600!
Manche dieser Fehler mochten bei der Anlage des Taxbuches aus-
gemerzt worden sein, manche aber sind stehen geblieben, wie die
oben dargelegten Beispiele beweisen. Diese Beispiele zeigen zur
Genüge, mit welchen Schwierigkeiten der Herausgeber des Tax-
buches zu kämpfen haben wird und mit welcher Genauigkeit man zu
Werke gehen muß. Man wird darum auch die Arbeit zu schätzen
wissen, die Göller in der Zusammenstellung dieser Zahlenreihen ge-
leistet hat. Im Anschlüsse daran drängt sich noch eine weitere
Frage auf. Eine Reihe Bistümer stehen weder in Oblig. 6 noch in
dessen Fortsetzung. Woher hat nun das Taxbuch seine Zahlen? Zur
GOller, Der liber taxamm 497
Lösung dieser Frage läßt sich darauf hinweisen, daß beide Obliga-
tiensbände vielleicht einen gleichartigen Vorgänger, wohl sicher einen
Nachfolger gehabt haben^ die wir nicht mehr besitzen. Aus diesen
drei oder vier Obligationsregistern wurde das spätere Taxbuch allein
zusammengestellt. Dem scheint zu widersprechen, daß schon unter
Innocenz VI. im Jahre 1354 laut Eintrag in Introitusband 272 (nicht 242)
eine tabula pravincialis cum sumtnis servüiorum pro camera apostolica
angefertigt wurde (S. 39), die dann ebenfalls bei der Anlage des Tax-
buches als Vorlage gedient haben könnte. Göller faßt diese tabula
provincialis als ein Taxverzeichnis auf, dem das Provinziale, also
aar die Bistumsreihe und zwar in einer von allen späteren Tax-
verzeichnissen verschiedenen Anordnung zu Grunde lag. Damach
müßte diese tabtda provincialis im 14. Jahrhundert auch die ur-
sprüngliche Form des Taxbuches gebildet haben. Ich glaube jedoch,
daß man den Ausdruck tnbida provincialis nicht pressen darf, sondern
im weiteren Sinne auch von den Indices in Oblig. 6 verstehen kann.
Denn mit der Anlage eines eigentlichen Provinziale konnte der
Kammer zur Feststellung der Servitiumstaxe nicht gedient sein, da
einmal die Servitien der Klöster fehlten und das Auffinden der
Bifitumstaxen zeitraubend und umständlich, wenn nicht in den meisten
Fällen praktisch unmöglich war. Die Indices der Obligationsregister
dagegen waren ein für alle Zwecke der Kammer praktisches Hilfs-
mittel. Ich denke mir demnach die Entwickelung des Taxbuches in
folgender Weise: Sobald Provision oder Konfirmation eines Bistums
oder einer Abtei erfolgte, wurde in der ersten Zeit von Fall zu Fall
das Einkommen des betreffenden Bistums bezw. der Abtei eingeschäzt.
Erreichte es eine bestimmte Höhe, so mußte der so Providierte sich
zur Zahlung des Servitiums verpflichten, Akte, welche in den Kammer-,
speziell den Obligationsregistern gebucht wurden. Für die spätere
Zeit bildeten diese Register für die Kammer das einzige Mittel, über
die Höhe des Servitiums sich zu orientieren und bei auftauchenden
Zweifeln darnach zu entscheiden. Mit der Zeit wurde es aber zu
umständlich, ständig alle Obligationsregister, deren Zahl inzwischen
angewachsen war, durchzusehen. Man begann deswegen unter
Innocenz VI. und Urban VI. die vorhandenen Papierobligationsbände
auf das haltbarere Pergament umzuschreiben und mit Indices zu ver-
sehen, die die Höhe des Servitiums angaben, die Belege dafür durch
Hinweis auf die Seiten des Textes brachten und in eine Bistums-
und eine davon getrennte Abtsreihe zerfielen. Das Resultat bildeten die
noch erhaltenen Bände Oblig. 6 und Cod. Borgh., denen vielleicht
ein Band mit den Obligationen vor Johann XXII. voranging und ein
oder mehrere Bände nach Urban V. folgten. Da diese Indices — in
498 Gott. gol. Ans. 1906. Nr. 6
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts das Taxbnch der Kammer —
auf zwei bis vier Bände zerstreut, und die Bistümer wie Abteien
nicht alphabetisch aufgezählt waren, war die weitere Folge die, dafl
man die Indices dieser Bände separat abschrieb und gleichzeitig
die Namen in der Bistums- wie in der davon getrennten Äbtsreihe
alphabetisch ordnete: das separate Taxbuch der Kammer, das den
Schlußpunkt der Entwicklung darin fand, daß nach dem Vorbild des
Liber Censuum die Abteien bei den zugehörigen Bistümern unter-
gebracht wurden, um Verwechslungen und Umständlichkeit zu ver-
meiden. Mit diesem Gang der Entwickelung stimmt der Befund der
Handschriften des Taxbuches, von denen die meisten nicht über die
Mitte des 15. Jahrhunderts hinaufgehen (cf. Göller, S. 50) und in
zwei Gruppen zerfallen: bei der ersten sind Bistümer und Klöster
getrennt aufgezählt, bei der zweiten dagegen die Klöster den Bis-
tümern untergeordnet.
Im Anschlüsse daran taucht die praktische Frage auf, nach
welchen Grundsätzen und in welcher Form das Taxbuch veröffent-
licht werden soll. Wer die von Göller (S. 56/57) mitgeteilte Liste
einsieht, wird bei der Verschiedenheit der Hss. leicht erkennen, daß
dem Herausgeber keine kleine Aufgabe erwächst. Für einen Kolunmen-
druck, und wenn es auch nur zwei Kolumnen wären, könnte ich
mich nicht entschließen, da diese Methode einem praktischen Hand-
buch nicht entspricht. Die Namen der Bistümer müßten in alpha-
betischer Reihenfolge aufgeführt, durch Fettdruck hervorgehoben,
und die Abteien den Bistümern untergeordnet werden. Die älteste
der Hss. — ich halte Cod. VA. Arm. 33 Nr. 7 nach Herkunft und
Text als Grundlage (bei anderer Anordnung) für nicht ungeeignet
— müßte die Grundlage bilden, während die späteren durch Union
hervorgerufenen Veränderungen in chronologischer Reihenfolge mit
Anwendung verschiedenen Druckes beigefügt werden könnten. Die
Taxzahlen würden statt in römischen besser in arabischen Ziffern
gesetzt werden, um Druck- und Lesefehler zu vermeiden. Dem
ganzen könnten zwei Reihen Anmerkungen nebenhergehen: in die
eine Reihe wären die textkritischen, wohin auch die in der Liste
Göllers aufgeführten Nota quad . . . gehören würden, in die andere
die sachlichen Anmerkungen zu setzen, wobei Silbernagels Kommentar
zu Döllingers Ausgabe immer noch gute Dienste leisten kann. Wir
bekämen dann etwa folgendes äußere Bild der Drucktechnik :
Göller, Der Liber tazanun
Brixien. in provincia Mediolanen.
Euphemie prope Brixiam O.S.B
1463 Jan. 3: unüur 8. Nazarii et Celsi; augeiwr taxa in flor.
i^/8
1458 Äug,: unitur hospUale S. Jacobi; augetur taxa in flor. S^j^
Petri in Monte O.S.B
[Datum?] unitur ecclesia 8. Brigide Brixinen; augetur taxa in
flar. 4^3
Benedicti de Leone O.S.B. . .
[Datum?] augetur taxa ad
1518 Okt. 22: augetur taooa ad flor. ie*ji .
Faustini et Jovite O.S.B.
1477 März 6: unitur capella 8.
taxa in flor. 4 . . . .
Trinitatis de Baptismo; augetur
499
Taxa
700
250
266^3
275»3
130
134*/,
50
766
782»/,
300<400>
304<404>
Alles andere wäre in den textkritischen Apparat zu verweisen.
Von den der Arbeit beigegebenen Quellenbelegen sei nur noch
hervorgehoben, daß Göller erstmals in der Lage ist, durch eine Ta-
belle (S. 71) zu veranschaulichen, welcher Zeitraum bei Bistums- und
Abteibesetzungen zwischen Provisio, Traditio, Obligatio und Presen-
tatio lag. Göller hat von den Bistümern folgende Liste, der ich das
Provisionsdatum noch beifüge:
Bistümer
Provisio
Traditio
Obligatio
Praesentatio
Minden.
Zwerinen.
Nuemburgen.
Waterforden.
Cephalonien.
1347 Dez. 12
1348 März 17
1349 Jan. 7
1350 März 3
1350 Juni 14
1348 Jan. 23
1348 Juni 6
1349 Febr. 7
1350 Mai 21
1350 Juli 15
1362 Juni 2
1356 Nov. 18
1351 Okt. 22
1350 Juni 25
1354 Dez. 23
1362 Dez. 10
Wer diese Liste und die der Abteien durchgeht, wird erkennen,
daß in den meisten Fällen zwischen Provisio, Traditio, Obligatio und
Praesentatio nur ein ganz geringer Zeitraum liegt, daß die Geschäfte
der Kammer also prompt erledigt wurden. Davon scheinen auf den
ersten Blick die Bistümer Minden und Schwerin eine Ausnahme zu
machen. Die Schwierigkeiten verschwinden jedoch sofort, wenn man
bei den von Göller mitgeteilten Zahlen einige Erläuterungen und
Korrekturen anbringt. Der Bischof von Minden, dessen Provisions-
brief am 23. Januar 1348 ausgegeben wurde, war Gerhard von Schauen-
500 Gott. sei. Anz. 1906. Nr. 6.
bürg (t 1353 Januar 1). Der Bischof dagegen, der sich am 22. Juni
1362 obligierte, war der Nachfolger von Dietrich Kagelwit, ebenfalls
ein Gerhard von Schauenburg. Beide Gerhard sind also auseinander
zu halten. Nun zeigt sich aber die seltsame Erscheinung, daß in
den Oblig. 6 und dessen Fortsetzung, sowie in den ursprünglichen
Obligationsbänden — soweit ich selbst noch vor meiner Abreise ans
Rom die Obligationsbände nachprüfen konnte — weder von dem
ersten Gerhard von Schauenburg, noch von dessen Nachfolger Dietrich
von Kagelwit ein Servitium-, Obligations- oder Solutionsvermerk ein-
getragen ist. Daß beide nichts bezahlten oder sich weigerten ihr
Servitium zu zahlen, ist nicht anzunehmen. Die Kammer hätte schon
Mittel und Wege gefunden, sie zur Zahlung anzuhalten, es müßte
nur ausnahmsweise ein Versehen vorliegen. Ich vermute, daß beide
ohne Obligation, bar zahlten, wofür in den Introitusbänden vielleicht
der Beleg zu finden ist. Als der zweite Gerhard sich obligierte, war,
wie aus seiner Obligatio zu ersehen, keinerlei Restschuld seines Vor-
gängers vorhanden, sonst wäre es im Obligationsvermerk Gerhards
vermerkt worden. Aehnlich verhält es sich bei Schwerin. Der Bischof,
dessen Provisionsbrief 1348 Juni 6 ausgegeben wurde, war An-
dreas; derjenige, welcher sich 1356 November 18 obligierte, dessen
Nachfolger Albert von Sternberg. Dieser verpflichtete sich 1356
November 18 ypro suo communi servicio^ zu 667 fl. >€t 5 servieia
consueta< ; von yrestantia* seines Vorgängers ist nicht die Rede.
Auch bei Naumburg ist zu unterscheiden zwischen dem zwiespältig
gewählten Nikolaus von Luxemburg, dem die Kammer 1349
Februar 7 den Pro Visionsbrief übergab, und seinem Rivalen Johann
von Miltiz, der sich am 22. Oktober 1351 obligierte. Mit dieser
Korrektur der Tabelle wären die Schwierigkeiten gehoben. Wenn
bei Kephalonia vier Jahre zwischen Traditio und Obligatio vergingen,
so waren besondere Umstände oder nur die Entfernung schuld, bei
allen anderen bemerken wir einen raschen Geschäftsbetrieb.
Da bei den Druckverhältnissen in Rom bei deutschen Arbeiten
immer einige Druckfehler stehen bleiben, so sei hier darauf kein Wert
gelegt. So wäre S. 22 Z. 14 v.o. zu lesen: petituri suarum eUdionum
confirmationes. S. 43 Seguntin. in Yspania. Auch sonst wäre die
Schreibung der Bistümer nach Eubel zu regeln. S. 64 Zeile 4 v. o. :
suscipientes eidem. S. 69 Anm. 1 : supra Secanam = Sequanafn^ Seine,
Zu Gottlob S. 13/14 fehlt das Zitat usw., Kleinigkeiten, die dem Wert
des Buches keinen Eintrag tun. Nur müßte in einer Ausgabe des Tax-
buches die Bezeichnung der Handschriften (S. 42 ff.) eine andere werden.
Ob die S. 1 Anm. 2 gegebene Auslegung der Bulle Bonifaz IX. über
die Annaten richtig ist, bezweifle ich vorerst; ein abschließendes Ur«
Göller, Der Liber taxanun 501
teil wird sich erst geben lassen, wenn die vorhergehende Zeit syste-
matisch und eingehend daraufhin erforscht wird. Die Bemerkung,
S. 13: >wohl gab es auch im ausgehenden Mittelalter besondere Tax-
listen der Benefizien, die die Annate zu entrichten hatten <, könnte
in ihrem Zusammenhang Mißverständnisse hervorrufen. Die ge-
nannten Verzeichnisse sind von Kollektoren bei Zehnterhebung ange-
legt worden, und wurden von der Kammer höchstens zur Nach-
prüfung der Kollektorenrechnung verwendet, aber nicht etwa, um
bei Benefizienverleihungen dieAnnatentaxe festzustellen, wie dies
bei Verleihung der Bistümer und Abteien bezüglich der Servitientaxe
der Fall war.
Alles in allem bringt GöUers Arbeit unsere Kenntnisse vom Tax-
buch und dem damit zusammenhängenden Servitiumswesen einen be-
deutenden Schritt vorwärts. Da GöUer auch sonst verschiedene
Proben abgelegt hat, wie bewandert er in der Geschichte der päpst-
lichen Verwaltung ist, so wäre es allgemeiner Wunsch, daß nach
diesen Vorarbeiten baldmöglichst die Ausgabe des Taxbuches in An-
griff genommen würde. Sein weiteres Ziel könnte dann einer allge-
meinen Geschichte der päpstlichen Verwaltung zusteuern, wozu GöUer
die unbedingt notwendige theologische Vorbildung besitzt und am
Mittelpunkt der Quellen die Hindernisse am besten überwinden könnte.
Durch Unterstützung dieser Arbeiten würde sich das Preußische histo-
rische Institut, dessen erster Assistent Göller ist, gewiß den Dank
aller Fachgenossen sichern.
Freiburg i. Br. Karl Rieder
Pommersches Urkandenbaeh. Herausgegeben vom Königlichen Staatsarchive zu
Stettin. V.Band. Zweite Abteilung 1317—1320. Bearbeitet von Otto Heine-
mann. Stettin 1905, Niekammer. VI, S. 289— 721. Mk. 12.
Nach fast zwei Jahren ist der ersten Hälfte des fünften Bandes
des Pommerschen Urkundenbuches, die mit IV, 2 im August 1903
zur Ausgabe gelangte, im Juni 1905 das zweite und Schlußheft ge-
folgt, das nur vier Jahre umfaßt, aber 412 Nummern enthält (gegen
399 für sechs Jahre des ersten Heftes). Drei von diesen Nummern
gehören allerdings nicht in ein Urkundenbuch : 3206, der Todestag
der Herzogin Elisabeth von Stettin aus dem Neuenkamper Kalen-
darium, dessen Jahr nicht zu bestimmen ist; 3320, eine Stelle aus
Bugenhagens Pomerania, und 3390 ein Grabstein aus der Jakobi-
kirche zu Greifswald. Von den übrigen 409 sind nur 179 im Original
erhalten, 230 nur durch Abschriften oder Transsumte überliefert,
602 Oatt. gel. Anz. 1906. Kr. 6
237 Nummern waren bereits gedruckt, 172 werden zum ersten Mal
veröffentlicht; 313 werden in vollständigen Texten, 96 nur in Be-
gesten gegeben, 16 Nummern mußten aus anderen Druckwerken
wiederholt werden, darunter fünf in dänischer Uebersetzung aus Hoit-
felds Rikskronike; die übrigen entstammen 31 verschiedenen Fand-
orten, von denen 23 bereits zur ersten Hälfte beigesteuert haben;
neu hinzugekommen sind mit je einer Nummer die Staatsarchive zn
München, Dresden und Zerbst, die Stadtarchive zu Pyritz, Mfinche-
berg, Landsberg, Nordhausen, das Gräflich Amimsche Archiv in
Boitzenburg. Von einer weiteren Statistik der Ueberlieferung an
dieser Stelle kann umsomehr abgesehen werden, da der Heraus-
geber selbst in der Vorrede S. UI und IV sie für beide Hälften des
Bandes dargelegt hat, ebenso wie sein Vorgänger Winter für Bd. IV
S.IV,V.
Die vier Jahre 1317—1320, welche der vorliegende Halbband
umfaßt, sind für Pommern von Wichtigkeit, weniger durch die Er-
eignisse im Lande selbst, als durch die Schicksale der Nachbarländer.
Zwei leitende Persönlichkeiten treten 1319 von dem Schauplatz ab,
am 14. August 1319 Markgraf Waldemar von Brandenburg, am
13. November desselben Jahres König Erich Menved von Dänemark,
und dadurch sanken beide Länder von der Machtstellung herab, die
sie bisher auf Kosten der Nachbarn eingenommen hatten. In Däne-
mark mußte sich der Bruder Erichs, Christoph IL, die Nachfolge
durch eine Wahlkapitulation erkaufen, in Brandenburg rissen noch
vor dem gänzlichen Aussterben der Askanier im Sommer 1320 die
Nachbarn unter dem Vorwand der Vormundschaft über den jungen
Heinrich die Qrenzlandschaften an sich, so Wartislaw IV. von Pommern
die Uckermark. Schon am 29. September 1319, sechs Wochen nach
Waidemars Tode, bestätigt Wartislaw den Landen Lebus, Frankfurt
und Müncheberg alle Rechte und Freiheiten, wenige Tage später
(4. Oktober) nimmt ihn auch die Neumark zum Vormund des jungen
Fürsten an (3294. 3298). Im folgenden Jahre, 1320, schließt Wartislaw
Verträge mit den Nachbarn: am 2. Juli mit dem Deutschen Orden
in Preußen gegen Polen (3375. 3376), am 27. Juli mit Heinrich
von Schlesien-Jauer, seinem Schwager, dem Sohne einer askaniachen
Prinzessin, über den Alleinbesitz der Uckermark (3386). Aber schon
am Ende des Jahres, am 28. Dezember (3431), meldet sich die
Reichsgewalt: König Ludwig der Baier gewährt Herzog Wartislaw
Lehnsindult auf ein Jahr und verspricht, ihn inzwischen keinem an-
deren Herrn zu unterwerfen, auch wenn Brandenburg einem Fürsten
verliehen werden sollte (das geschah bekanntlich erst 1323 an den
Sohn des römischen Königs selbst): seit 1304 die erste Kaiser Urkunde
Pommersches Urknndenbach V, 2 503
im pommerschen Urkundenbuch. Die römische, oder vielmehr avigno-
nesische Kurie ist dagegen mit 25 Nummern (acht Originalen, 17
Kopien, zwölf ungedruckten, 13 bereits bekannten, 17 Texten und
acht Regesten) vertreten. Unter den Landesfürsten steht der Zahl
nach Herzog Wartislaw IV. mit 80 Nummern oben an, darunter sind
jedoch, wie in IV, 2, 47 Urkunden von einem Tage, dem 13. Juni
1317, für das Prämonstratenserkloster Pudagla auf Usedom, Er-
neuerungen fast aller früheren Erwerbungen von 1177 bis 1307, die
wohl durch die 1307 erfolgte Verlegung des Klosters von Usedom
nach Pudagla veranlaßt wurden ; leider geht Heinemann ebensowenig
wie sein Vorgänger Winter auf die aus den erhaltenen 35 Originalen
leicht zu beantwortende Frage ein, ob alle Urkunden, die sämtlich
per manum des Protonotars Nikolaus von Swanebeke gegeben sind,
von derselben Hand geschrieben wurden: daß sie nicht alle an einem
Tage geschrieben sein können, hat schon 1858 Zietlow in seiner
Monographie über das Prämonstratenserkloster auf der Insel Usedom
S. 157 hervorgehoben. Von Herzog Otto von Stettin enthält der neue
Halbband nur 55 Diplome, darunter 18 Originale, 34 waren bisher
ungedruckt; Fürst Wizlaw IIL von Rügen ist mit 41 Urkunden (21
Originalen, aber nur 3 bisher ungedruckten) vertreten; bischöflich-
caminsche Dokumente finden sich 24, noch 4 von Heinrich von
Wacholt, 20 von seinem Nachfolger Konrad IV von Treptow (10
Originale, 12 bisher ungedruckte); zwischen dem 2. Oktober und
dem 18. Dezember 1317 (3143 und 3152) muß der Tod Heinrichs
und die Wahl Konrads erfolgt sein.
An verfassungsgeschichtlich wichtigen Urkunden ist der vor-
liegende Halbband verhältnismäßig reich: nur um einiges hervorzu-
heben, sei auf 3270, das Bündnis der Vasallen und Städte Herzog
Ottos mit Wartislaw IV. vom 18. Juni 1319 gegen ihren eigenen
Herrn, auf das Landfriedensbündnis Wartislaws mit seinen Städten
Greifswald, Demmin und Anklam vom I.Dezember 1319 (3311) unS
auf 3391 und 3392, die Lehnsauftragung beider Herzogtümer an
das Bistum Camin vom 16. August 1320 hingewiesen.
Zu kritischen Bedenken gibt die zweite Hälfte des
5. Bandes nur selten Anlaß. Pristaffsche Fälschungen (3159, 3413,
3423) brauchten m. E. nicht gedruckt zu werden; daß Pudagla die
Generalkonfirmation vom 29. Juli 1317 (3132) gefälscht hat, hat be-
reits Klempin, Pomm. Urkundenbuch I 271 und 341 erwähnt; nach
diesem (a.a.O. I 271) ist auch 3080, die Transsumierung einer ge-
fälschten Urkunde von 1238 aus der großen Privilegienemeuerung
von 1317 eine Fälschung; doch ist die Urkunde nur in dem Kopial-
buch des Klosters überliefert. Auffallend erscheint mir 3369, Otto
504 Gott gel Aqz. 1906. Nr. 6
bestätigt vier Brüdern Bünsow einen Anteil an drei Dörfern, wegen
des abweichenden Titels Stetinensis, Pomeranie Slavie ac Cassnbie
dux, während es sonst dux Slavie et Cassubie, dominus de Stetin
heißt. Das Original in Anklam ist per manum Johannis Lenczin no-
tarii gegeben, von dem auch 3178, 3273, 3306, 3338, 3387, 3401,
3418, also noch 7 Originale erhalten sind: Schriflvergleichung ist
nicht angestellt. Auch der Text von 3369 bietet Ungewöhnliches,
orthographische Schnitzer, wie 510 1. Z. v. u. domis für dumis, eine
eigentümliche Datierung (in curia cuiusdam villani nomine Wessel,
in qua protunc comedimus). Die Datierung der rund 400 Ur-
kunden fordert nur an drei Stellen zum Widerspruch heraus: 3135
(nach Dregers Abschrift) passen XVIII kak Sept. u. Aug. 20 nicht
zu einander, entweder Xni oder 15 ist zu bessern. 3255 ist 1319
post octavam pasce crastino, da Ostern auf Apr. 8 fällt, nicht der
15. Apr., wie Heinemann mit Fabricius ausrechnet, sondern der
16. Apr. 3337, 1320 fer. 3 ante diem b. Dyonisii episcopi, das Pri-
vileg des neuen Dänenkönigs Christoph für Greifswald, setzt der
Herausgeber zum 26. Febr. >weil aus einer Urkunde von 1438
März 7 sich ergibt, daß als Tag Dionysii episcopi in Pommern der
26. Februar anzusehen istc, S. 491. Wir haben es aber hier mit einer
dänischen Urkunde zu tun — zugegeben, daß die von Sartorius
und Höhlbaum angenommene Datierung Apr. 1 wegen des Oster-
dienstages nicht zulässig ist, so steht nichts der von den Regesta
Danica vorgeschlagenen Okt. 7 entgegen, auch in 3409 bleiben die
socii des Dionysius Areopagita fort. Erst am 20. Aug. 1320 (3394)
erhielt Stralsund die Privilegienemeuerung von König Christoph, aus
inneren Gründen ist es glaublicher, daß die für Greifswald erst später
erfolgt ist.
Weit seltener als in Band IV und V, 1 hat der Herausgeber
den Zusammenhang der Urkunden nicht völlig klargelegt. So
vermißt man bei 3054, der Schenkung Herzog Ottos an die Augustiner
von Gobelenhagen (Jasenitz) über die Heide zwischen Ueckermünde
und Stettin, einen Hinweis auf Haags Aufsatz in den Baltischen Stu-
dien 31, 301 ff. : ältere pommersche Geschichtsforscher haben in dieser
Urkunde einen Hinweis auf das Barnimskreuz (die Stelle der Er-
mordung Herzog Barnims II. 1295) sehen wollen, was Haag hier
widerlegt. In 3129 hält Heinemann die Namen der puerorum Laurentii
de Rugenwalde et Elizabeth Jessekonis et Nathalie für Knabennamen :
Yesseko und Nathalias — sollte nicht trotz pueri als zweiter Name
Nathalia zu verstehen sein? 3143, die bereits erwähnte letzte
Urkunde Bischof Heinrichs von Camin, ist ohne Beziehung auf Mek-
lenburg. Urkundenbuch VI. 3903 und 3915 vom selben Jahre 1317
Ponniertcheil Ürknddenbilch T, 2 508
nieht klar. 3174 Datum in Svina wird in der Ueberschrift mit »auf
der Swine« wiedergegeben, auch im Register S. 682 zum Fluß
Swtne gestellt, ich möchte jedoch an die von Kratz, die Städte der
Provinz Pommern S. 503 erwähnte herzogliche Burg an der Stelle
des heutigen Swinemiinde denken. In 3368 hätte Petrus dictus
Kenseier, d. i. Swenzos Sohn Peter von Neuenburg, nicht als > her-
zoglicher Kanzler< bezeichnet werden dürfen; er war einst (bis 1306)
Kanzler Wladislaws Lokietek von Polen.
Oefter giebt die Textgestaltung zu Bedenken Veranlassung.
3050 (294 Z. 3 v. o.) ist statt in molendino Conow situatum supra
aquam (Or. in Stettin) doch situato zu bessern ; Fehler der Originale
werden doch sonst im Pomm. ürkundenbuche korrigiert. In 3115
(Or. Stettin) S. 325 Z. 15. 16 v. o. ist felicis recordacionis, das sich
nur auf pater in Z. 14 beziehen kann, an die falsche Stelle geraten.
3128 S. 338 Z. 1 v. u. fehlt bei venerandae nationi das Wort pre-
sentium im Gegensatz zum folgenden faelici successioni fnturorum
(Kpp. in Stettin). 3038 (S. 348 Z. 2 v. u.) fehlt vor eorum das
Wort heredes (domina Druda et filius et eorum heredes entsprechend
dem Anfang Z. 9 v. u.); der Text stammt aus denj 2. Stralsunder
Stadtbuch. In 3139, die nur aus Schöttgen und Kreysig diplomat. HI
gegeben werden konnte, ist S. 349 Z. 15 v. u. statt Bosvoini doch
sicher Goswini zu bessern. 3144 S. 352 Z. 21 v. u. möchte ich
empcio in empciöne ändern (Kop. Stett.): empcione legitima imper-
petuum duratura (Ablat. absol), auch ist in der Schlußzeile ipso die
b. Dionysii, qui est 7. Id. Oct. zu lesen statt quod. In 3149 und
3150, Auszügen aus den Friedensurkunden von Templin 1317 Nov. 24.
zwischen Markgraf Waldemar und König Erich von Dänemark war
auch der Wizlaw von Rügen betreffende Satz (Meckl. Urk. VI 317
Z. 14 V. u. Quicquid eciam bis Z. 10 v. u. quod est iuris) aufzu-
nehmen, und ebenso S. 319 Z. 15/6 die Grafen von Gutzkow. 3173
(8. 371 Z. 18) gibt de dictarum summarura relaxacione keinen Sinn,
da in der Urkunde (in Schwerin, das Meckl. ürkdb. liest ebenso),
nicht von Geldstrafen, sondern dem über Stralsund verhängten Banne
die Rede ist: es dürfte sentenciarum zu lesen sein. 3175 sind die
abweichenden Formen arciepiscopus und Suechie nicht verbessert.
3201 (S. 388 Z. 8 v. o.) hängt Fürst Wizlaw dor lene unde bede
beren Henninghes unde Boranten sein Siegel an die Urkunde: statt
lene möchte ich leue (leve) lesen. 3213 (S. 395 Z. 20 v. o.) ist in der
Bulle die Einsammlung der Zehnten im Bistum Camin betreffend
electum zu ergänzen, statt electos, es gab doch dort nur einen Er-
wählten: Die Ergänzung ist aus einem nach Gnesen gerichteten
Schreiben genommen, wo der Plural an seinem Platz ist. In 3216
(Gr. Stettin) ist S. 398 Z. 16 v. o. canonicos prelibate entweder in preli-
GAtt gol. Anx, 1906. Nr. 0. 35
60$ mtt gel Ans. 1906. Nr. 6
batos zu ändern oder ecclesie hinzuzufügen. 3238 (S. 419 Z. 26 v. o.)
1. in eadem sancti Alexandri ecclesia statt ecclesüs. 3248 (S. 426
Z. 27 y. 0.) wird durch falsche Interpunktion unverständlich : a nobis,
banc specialem addimus ist zu lesen, nicht: nobis. Hanc, sonst hat
der erste Satz keinen Inhalt. 3261 (433 Z. 12 v. o.) ist usurpent
(Or. Stett.) in usurpet zu ändern (ne quispiam infringat aut. . usurpet).
In 3276, der Verlust- und Kostenrechnung der Rügischen Vasallen
in Dänemark, sind S. 446 Z. 4/5 v. o. die Worte: item pro pane
1 marcam cum 2 solidis doppelt gedruckt : daß sie zu streiclien sind,
zeigt die Addition des ganzen Absatzes:
pro 2 lagenis cerevisie 4 marcas
fertoribus — „ 2 solides
pro carnibus bovinis et ovinis 3 „ 2 „
pro pane 1 „ 2 „
pro lignis et sale „ 20 „
pro pabulo . . 1 „ — „
Summa 9 marcas 26 solidos
= 10 „ 2 „
wie dasteht: Summa 10 marce cum 2 solidis Selandicis. Im vierten
Posten heißt es 20 marcas, daß aber solidos gemeint sind, zeigt die
Schlußsumme. Einer schlimmen Auslassung begegnet man in 3287,
wo S. 452 Z. 13 V. 0. hinter presens scriptum pervenerit drei Zeilen
von Fabricius übersprungen sind : salutem in eo qui est omnium vera
Salus. Actiones quas mundus ordinate disponit, creberrime delet sue-
cessio temporum, nisi corroborentur firmo charactere litterarum. Om-
nibus igitur ad quos [Fabr. quod] prejsens scriptum pervenit. — Der
Gleichklang bat das Auge des Abschreibers irre geführt. Eine un-
nötige Konjektur macht Heinemann bei 3292 (Orig. Stettin) S. 456
Z. 16 V. u. conficeretur statt, wie er las conßcerentur (Quod cum in
nostra c. presencia) -— es ist aber confiterentur zu lesen, wie drei
Zeilen vorher confessi sunt dasteht. In 3302, dessen Text im Anfang
eine längere Auslassung von Theiner und Wölky berichtigt, ist S. 465
Z. 20 V. 0. compellentes statt compescentes zu lesen (prefatum Gami-
nensem episcopum ad . . . satisfaciendum de marchis predictis aucto-
ritate nostra ... c.) 3306 S. 468 Z. 16 v. o. ist nach einer Aufzählung
aller Pertinenzen et aliis quibuscunque distinccionibus statt districtibus
zu lesen, wie S. 527 Z. 6 v. u. In 3342 ändert Heinemann S. 494 Z. 9
V. 0. secundum quot est in suis metis in quod, meines Erachtens
unnötig, dagegen ist in der Zeugenreihe vor Rorebeke ein [de] ein-
zuschieben (Hynricus, frater suus, de Rorebeke). 3355 S. 500 Z. 17 v. o.
ist pro irretractabili in foro i. zu verbessern, wie beim nämlichen
Jlechtsgeschält 3385 S. 522 Z. 5 v. u. richtig steht: weitere Stellen
Pommenclies Urkandenbach V,2 607
verzeichnet das Sachregister zum Meklenburgischen Urkundenbncb
XII 177. In 3362 möchte ich S. 505 Z. 10 v. o. der Lesart fru statt
vor (Mechtild) den Vorzug geben. 3364, nach Dregers Abschrift,
möchte ich S. 508 Z. 12 v. o. dinoscimur possedisse lesen, statt di-
noscimus, vgl. 3380 und 3391 (S. 520 Z. 17 v. o. und 527 Z. 15 v. u.).
3378 S. 519 Z. 7 sind wieder zwei Zeilen von Fabricius Ubersprungeo,
hinter cc marcas ist ausgefallen: similiter in feste Martini sequenti
IUP marcas et in sequenti feste Martini cc marcas et iterum, nach
dem Druck von Heinemann ist die Urkunde unverständlich, bei Fa-
bricius ist alles klar.
An Druckfehlern, von denen, wie Heinemann im Vorwort
8. V mit Recht bemerkt, wohl kaum ein Urkundenbuch frei ist, werden
S. 720 und 721 21 berichtigt, außer diesen habe ich noch folgende
angemerkt: 289 Z. 21 v. o. lies Stettinensis statt Stettinenis; 7
V. u. fratribus dictis de Ghurow (ebenso im Regest), statt tribus d.
de Gh.; 290 Z. 16 v. u. ist domini ausgefallen (In nomine amen); 295
Z. 21 V. 0. stedelykcn; 26 hove statt heve; 309 Z. 8 v. o. prescripta
statt presripta; 324 Z. 7 v. u. verbo statt verba; 354 Z. 15 v. u.
millesimo stattt mellesimo; 364 Z. 14 v. o. fehlt dux; 369 Z. 4 v. u.
hunc modum statt hanc m; 391 Z. 17 v. o. terminos statt termines;
408 Z. 3 V. u. solides statt solides, 423 Z. 6 v. u. hat Fabricius hinter
terre noch nostre; 433 Z. 6 v. u. fehlt der Ausstellungsort Greifen-
hagen; 439 Z. 11 V. 0. ipsosque statt ipsos que; 12 Nam statt Nom;
447 Z. 18 V. 0. servitutibus statt servitutibis ; 469 Z. 19 v. o. habe-
rent statt haberet; 471 Z. 10 v. u. (dimidium mansum . . .) emendum
statt emendam; 473 Z. 9 v. u. sigillo statt sigilli; 485 Z. 17 v. u.
quibuscunque statt quibuscunqe, 500 Z. 10 v. u. huius statt huis; 506
Z. 13 V. u. hec (so Fabricius) statt hoc; 4 v. u. quibuslibet hinter
personis hat Fabr.; 507 Z. 4 v. o. et statt el; 13 v. u. premissis
omnibus Fabr.; 518 Z. 1 v. o. paginiculam statt paginiculum; 542
Z. 12 V. 0. eweliken (Fabr.) to ervende; 555 Z. 12 v. u. precariam
nostram (Fabr.); 560 Z. 14 v. o. redditus; 566 Z. 13 v. u. ist 1) aus-
gefallen.
Falsche Zitate sind zu berichtigen: Nr. 3046 lies Dreger
Cod. dip. Pom. VI statt I. S. 349 Z. 6 v. o. (und sonst öfter) wird als
Herausgeber des zweiten Stralsunder Stadtbuches beständig Ebeling
angegeben; die hier aber allein in Betracht kommende erste Hälfte,
1896 erschienen, ist von Reuter, Lietz und Wehner herausgegeben.
In 3141 ist als Quelle Codex Rugianus Bl. 3V Nr. 106, 3142 die-
selbe Handschrift Bl. 21 Nr. 105 angegeben, welche von beiden Seiten-
zahlen ist richtig? 3154 und 3155 sind die Nummern des zweiten
Stralsunder Stadtbuches, 369 und 370 zu vertauschen. Nr. 3246 soll
bei Dreger Cod. Pom. dipl. msc. VU 1323,3257, ebenda VI 1323
35»
606 mtt gel. Ans. 1906. Nr. 6
stoben: an der ersten Stelle ist VI 1322 zu lesen. Zu ergänzen sind
folgende Zitate: 3199 Gesterding, Beitrag zur Geschichte der Stadt
Greifswald S. 32 Nr. 67^ 3235 and 3299 Grümbke, gesammelte Nach-
richten zar Geschichte des ehemaligen Cisterzienser Nonnenklosters
in Bergen S. 56; 3375 and 3376 Codex diplomaticas Majoris Polo-
niae II Nr. 1071 and Lites inter Polonos ordinemque Cruciferoram
ed. 2. 1 p. 429, 430.
Den Schluß des Bandes bilden zwei Register, Orts- und Personen-
register S. 569—702 und Wort- und Sachregister 703 — 717. Sie
sind mit größerer Sorgfalt gearbeitet als das in Band IV und hietett
nur an wenigen Stellen Gelegenheit zu Ergänzungen. Bei schneller
Durchsicht ist mir nur Folgendes aufgefallen: 569*: Agnes von
Brandenburg ist nur an der ersten Stelle 267 die Gemahlin Mark-
graf Waidemars, an der zweiten 558 ist sie die Mutter Heinrich des
Kindes. 57 P fehlt unter Antiqua A. Angermundis = Tangermfinde;
572^ das spanische Bistum heißt Badajoz, nicht Bajadoz; 575* bei
den Herren von Behr, die nach dem ersten Vorkommen (in diesem
Bande) geordnet sind, war Nr. 7 (1313) vor 6 (1314) zn stellen;
583* lies Buch statt Vuch; 586^ bei den Domherren von Gamin ist
Barnim von Werle (293, 1317) zu ergänzen; 612* bei Gnesen Eoad-
jutor 1319 statt 1379; 644^ die Lage von Neuenburg in West-
preußen ist wieder, wie im Register zu Bd. IV (s. diese Anzeige 1904
S. 629) falsch bestimmt, N.N.O. von Marien werder statt S.W.; 650*
der dominus Panian in der Gardvogtei Garz auf Rügen ist doch wohl
ein pan Jan; 651* fehlt unter Paul der episcopus Scopoliensis S. 464.
653* Plötzke, der Titel Landmarschall ist für Livland, aber nicht
für Preußen gebräuchlich. 678* (Stolp) puzstul ist nicht Truchseß,
sondern Untertruchseß , podstoli. 687* Usküb wird nicht S. 420
sondern S. 464 episcopus Scopoliensis genannt; 686 (Twieflingen)
lies Schöningen statt Schöningau. 703* (ebenso 712^) perangaria nicht
parangaria ; 705*^ dos ecclesie (Widdum) kommt auch S. 438 vor.
Ein sechster, bereits in Bearbeitung befindlicher Band soll nur
fünf Jahre, 1321—1325, und Nachträge zu allen Bänden umfassen;
die weitere Fortsetzung bis 1350 ist nach einer Notiz Heinemanns
in den Monatsblättern für pommersche Geschichte gesichert. Je weiter
das wichtige Werk in der Bearbeitung derselben Hand fortschreitet,
desto sicherer wird die Methode des Herausgebers, und die diesem
Bande noch anhaftenden Mängel werden sich bei geschärfter Auf-
merksamkeit wohl vermeiden lassen.
Berlin M. Perlbach
Für die Redaktion verantwortlich : Prof. Dr. Eduard Scbwarts in Göttmgtfi
Juli 1906 Nr. 7
B« Wolff, Grammatik der Einga-Sprache (Deutsch-Ostafrika,
Ny assagebiet) nebst Texten und Wörterverzeichnis. (Archi?
für das Studium deutscher Kolonialsprachen. Hrs. von Eduard Sachau. Bd. III.)
Berlin 1905, KommissionsverUg von Georg Reimer. VIII, 244 S.
Das Archiv für das Stadiam deutscher Kolonialsprachen ist vor
einigen Jahren hauptsächlich zu dem Zweck begründet worden, die
von Missionaren, Beamten, Offizieren und Forschungsreisenden in
unmittelbarem Verkehr mit den Eingeborenen unserer Kolonien ge-
wonnenen Sprachkenntnisse möglichst schnell nutzbar zu machen.
Auch das Unvollkommene, Unfertige soll deshalb dort aufgespeichert
werden, als ein Baumaterial, zu dem der auf dasselbe Feld Hinaus-
ziehende neue Funde hinzufügen, bei dessen Anordnung der auf
anderen Gebieten geschulte, die Bequemlichkeiten der Heimat aus-
nutzende Forscher beratend zur Seite gehn mag, damit auf grund
derartigen Zusammenwirkens einst das entstehe, was heute auch von
einem Meister seiner Kunst noch nicht geschaffen werden kann.
Unter diesem Gesichtspunkte ist denn nun auch der vorliegende
dritte Band des verdienstlichen Unternehmens zu betrachten, die auf
siebenjährige Erfahrung aufgebaute erste Darstellung der Sprache
eines auf dem Livingstonegebirge ansässigen Bantustammes.
Der grammatische Teil des Buches gliedert sich in drei Ab-
sctmitte. Auf die elf Seiten füllende Lautlehre, mit der die Dar-
stellung beginnt, folgt eine ausführliche, mehr als 90 Seiten um-
fassende Wortlehre, und den Schluß bildet eine kurze, fast skizzenhaft
kurz gehaltene Lehre vom Satz. Die zur Einübung des Sprachstoffs
dienenden Texte > 8 Märchen, 24 Rätsel und ein Loblied auf einen
Häuptling, sind sämtlich mit einer Uebersetzung versehen, und den
ersten beiden Stücken ist außer dieser ziemlich freien Uebertragung
auch noch eine Zwischenzeilenübersetzung für die erste Einführung
in das fremdartige Idiom beigegeben. Den Schluß des Ganzen bilden
zwei Wörterverzeichnisse, deren erstes vom Kinga, deren zweites vom
Deutschen ausgeht.
Q«tt. ftl. Au. IM«. Nr. 7 36
510 Gott gd. Anz. 1906. Nr. 7
Der erste Teil der Grammatik, durch C. Heinbofis GinndriS ener
Lautlehre der Bantusprachen sichtlich beeinflußt, fallt zmiidist ai-
genehm durch die einfache, klare Angabe des Lautbestaades aiL
Der Wert jedes Zeichens wird mit einer Grenauigkeit angegeben, die
allen billigen Anforderungen vollauf genügt. Auch die das Lait-
gefüge behandelnden Regeln sind im großen und ganzen gut fonni-
liert. Nur die Angabe §2,2 »gleiche oder sehr ähnliche Yokak
werden zusammengezogen und sind lang< ist wohl nicht ganz korrekt
Wie die Formen elino >Zahn€ aus *eli'ino, stjla >entkleiden< aas
*8U'Hla und andere zeigen, bleibt beim Zusammentreffen äbnliAa'
Vokale die Qualität des zweiten erhalten, so daß in diesen Filki
unbedingt und wahrscheinlich auch beim Zusammentreffen gleidior
Vokale besser von einem Schwund des ersten mit Ersatzdehnung ab
von einer Kontraktion gesprochen würde. Daß die Einga überhaupt
mehr dazu neigen, beim Zusammentreffen zweier Vokale den eisten
auszustoßen, als etwa beide zu einem neuen Laut zusammen zn
ziehen, darauf deutet ja auch unverkennbar der Umstand, daß die
in der weit überwiegenden Zahl der Bantusprachen beliebte Zasammea-
ziehung eines a mit folgendem i zu 6 im Einga anscheinend anf
einige Fälle beschränkt ist (vgl. die Eonjunktive von pa >gebenc, to
> sagen < und va >sein<, § 38), die Verschmelzung eines a und u za
0 aber wohl nur ganz gelegentlich vorkommt Daß letztere etwa gar
nicht zu konstatieren sei, wie man aus der Nichterwähnung dieses
Vorgangs schließen könnte, darf jedoch nicht zugegeben werden, da
sie sich aus den Texten belegen läßt. So ist beispielsweise nofusa^
in dem Satze lukaJcuka noliisatfa Iwa mwen§ >er nahm auch den Stab
desselben fort< S. 113 doch ein unzweifelhaftes Eontraktionsprodnkt
aus na und ulusatfa. Vgl. auch die Entstehung des o aus u + a in
vohwe S. 113,39 >es ist dunkel, war dunkel gewordene, Rusvu-a-hwe
(113,33 vu-ka-hwa). Daß nicht jede im Einga vorkommende Laut-
änderung der Systematik zuliebe im ersten Teil der Grammatik zur
Sprache gebracht wird, kann man nach meinem Dafürhalten in An-
betracht des wesentlich praktisch-pädagogischen Zwecks des Lehr-
buchs nur gutheißen. Es wird der Mehrzahl der Benutzer gewiß
erwünscht sein, daß die vereinzelten bzw. auf bestimmte Formen be-
schränkten Fälle, wie die Verschmelzung von a mit f zu e (vgL
§ 38), die Aenderung des Vokals, nach Maßgabe dessen der Folge-
silbe (vgl. § 47, 6), der Schwund von i (vgl. § 47, 6), der Wechsel
von t mit e im Auslaut (vgl. § 42, 2) nicht in der Lautlehre, sondern
bei Besprechung der sie aufweisenden Bildungen, also in der Wort-
lehre, behandelt werden. Dagegen darf die Behandlung von Fragen,
die über das Einga-Gebiet hinausgehen, wie die in § 4 gebotenen
Wolff, Gramm, d. Einga-Sprache 511
Hinweise auf das Urbantu und zwei ziemlich willkürlich aus der
Masse der vergleichbaren Sprachen herausgerissene Idiome, nämlich
das Suaheli und Eonde, in einem in erster Linie für die praktische
Einführung bestimmten Buche meines Erachtens mindestens als über-
flüssig, vielleicht aber sogar als störend bezeichnet werden. Und ent-
behrlich waren wohl auch die in demselben Paragraphen angeführten
Bemerkungen über den etymologischen Zusammenhang von hflca
>lachen< und umesi > freundlich <, sowie dergleichen mehr. Denn dem
Anfänger dürfte es kaum schaden, wenn er diese Wörter einfach als
feste Bestandteile des Sprachschatzes dem Glossar entnimmt und das
Eindringen in den tiefer liegenden Zusammenhang einer späteren
Zeit überläßt. Ja, nach den Erfahrungen, die man auf anderen,
langangebauten Gebieten gesammelt hat, dürfte dies für den Beginn
der Studien sogar weit besser sein. Schlimmer als dieses Zuviel, mit
dem man sich immerhin leicht abfinden kann, ist dagegen der Mangel
jeder Auskunft über die Betonung. Und wenn diese etwa so schwach
sein sollte, daß die Formulierung der Regeln schwer, ein Verstoß
gegen den Gebrauch nicht von Bedeutung ist, so hätte dies oder
ähnliches doch dem Lernenden zur Beruhigung mitgeteilt werden
müssen. Denn selbstverständlich ist auf dem Gebiete des Sprach-
lebens doch beinahe nichts.
Auch die Wortlehie gibt zu einigen Bemerkungen Anlaß. Die
§ 5 S. 15 aufgestellte Behauptung, das Präfix ama (El. 6 nach Bleeks
Anordnung) sei ein alter Dual, wartet noch immer auf den Beweis,
so alt die Behauptung auch schon ist (vgl. W. H. J. Bleek, A com-
parative grammar of South African languages p. 200). Bei der Be-
sprechung der lokativischen Präfixe mti, pa und ku S. 16—17 (Kl.
18y 16 und 17 nach Bleeks Anordnung) wäre ein Hinweis darauf er-
wünscht gewesen, daß diese Präfixe in der Regel vor bereits mit
einer Vorsilbe versehene Wörter gestellt werden, also auf dem Wege
sind, wirkliche Präpositionen zu werden. Der Verfasser scheint diesen
Gebrauch für selbstverständlich zu halten, da er nur ihm ent-
sprechende Beispiele gibt. Selbstverständlich ist er aber keineswegs,
wenn auch die rein präpositionale Verwendung der alten lokativischen
Präfixe in den bisher bekannt gewordenen Bantusprachen ganz oder
fast ganz durchgedrungen sein sollte. Dafür spricht ja allerdings
vieles. Selbst im Tonga, für das Torrend, A comparative grammar
of the South African Bantu languages S. 123 die altertümlichen Bei-
spiele akede ku-tala ku-angu >he lives above mec und ukede ku-nsi
hu-angu >he lives below me« anführt, herrscht nach Ausweis der
Texte (im Anhang zu der erwähnten Grammatik) bereits die jüngere
Gebrauchsweise vor. Vgl. uafua mu thganda i^hua >er stirbt in
36*
612 Qött gel. Anz. 1906. Nr. 7
seinem Hause < S. 283, tuia ku ba-ame^ ku ba-lumbu >wir gehen n
den Häuptlingen, zu den Hellfarbigen < S. 284, ue tdi hede a iif-
sanea >er sitzt auf dem Schaffott< S. 284, tuf^urie maanea nm ma-
nei >laQt uns unsere Hände ins Wasser tauchen« S. 284, wwßg
mu bu-ame >er kam zur Machte S. 284, uanjüa mu bu-ato >er stiog
in ein Boot< S. 285, bamm bakede ku Bu4onga »einige wohnen m
Tongalande < S. 286, etc. etc. Aber diesem Gebrauch gegenüber
stehen als Zeugen des ursprünglichen Zustandes die alten, mit diesea
Präfixen gebildeten Adverbien wie Tonga, Bisa und Sena pamd
>unten<, Zulu und Xosa pantsi, Ronga, Sukumu, Guha, Rua AaMt,
Karanga, Yao, Kinga, Konde pasi^ Ganda wansi, Sotho fase^ Oogo,
Sagara, Bondei, Nyanyembe hasi, Shambala, Nywema AoÜ, Tongt
panee > draußen <, Rotse bände, Herero pendje, Ronga hatuUe, Xosa,
Zulu pandle^ Sotho fantle etc. etc. Bei dieser Sachlage dürfte «
nun kaum überraschend sein, wenn heute oder morgen Beispiele I3r
den alten Gebrauch aufgefunden würden. Anscheinend bietet sogir
das vierte der Kinga-Märchen einen Beleg. Vgl. S. 119,23: akaisffisa
ku nine >er sprach zum Freund < statt des nach der Regel zu er^
wartenden, S. 118,20 auch belegten kunninti (»der Freunde heifit
unnine, z. B. S. 118,7, im Plural avanin§, z. B. S. 117,11; das Wwt
fehlt in beiden Verzeichnissen). Es wird aber doch wohl heifiei
müssen >zu seinem Freunde <, wofür dann allerdings besser i
unint: geschrieben würde. Die Bemerkung § 14, 1 e >In der Bedeu-
tung ,das bin ich' usw. wird j, verkürzt aus ju (§ 10), vor die Pro-
nomina gesetzte könnte leicht zu der Annahme verführen, daß diese
Pronomina nun auch immer die angegebene Bedeutung hätten. Di
dies nicht der Fall ist — vgl. litwUangik nda juvq >er hat uns ge-
rufen wie du<, S. 110,4.5 — , so wäre eine kurze Warnung vor dem
naheliegenden Mißverständnis vielleicht ganz angebracht gewesen.
S. 56 nennt der Verf. die Bedeutung der Stänmie auf -e^, -e^, t^
die sich zu den ihnen zu Grunde liegenden Verben etwa verhalten
wie das arabische vliv zu «^J:/ (z. B. ^JUT C^^ = «UJ? _Jt v^J/
>er schrieb an den Könige), >relativ« und das wohl im Anschluß an G.
Meinhof (vgl. dessen Grundriß S. 201). Dieser wenig treffende Ersatz f&r
Torrends >applikativ< (vgl. dessen Comparative granmiar S. 276)
scheint mir jedoch um so weniger berechtigt zu sein, als der alte,
das Wesen der Erscheinung gut kennzeichnende Ausdruck auch schon
jenseits des Kreises der Bantuphilologie für verwandte Bildungen in
Gebrauch ist. Vgl. z. B. F. Misteli, Charakteristik der hauptsäch-
lichsten Typen des Sprachbaues S. 123, wo der Ausdruck auch fdr
die aztekischen Verba auf 4ia gebraucht wird. In dem Absehnitt
Wolff, Gramm, d. Snga-Sprache 518
Über das Perfektum, vom Verf. t2^-Form genannt, vermisse ich die
Erwähnung der von Torrend (Comparative grammar Nr. 861) be-
sprochenen Bildung durch eine Aenderung des Wurzelvokals, die
wenigstens für ein Verb, das aber vielleicht auch das einzige dieser
Art ist, reichlich belegt werden kann, nämlich für vgna >sehn€. Vgl.
das dem buene des Tonga und wene des Yao genau entsprechende
Perfektum vw^ne in den Beispielen vo alivw^nf. elimeAyu livy§ lid^Q
»als er sah, daß die Stimme fein geworden war< S. 119,27.29;
umwana ndenibtv^e {-bwene für vw§n^ wegen des vorausgehenden m)
»ich habe das Kind gesehene S. 114,27; iutsivtvene isQsglo »wir haben
die Läuse gesehn c S. 116, 25; vo vatsivw§ne isqsqIq »als sie die Läuse
8ahen< S. 117, 5. 7; wAyahovQ vo atnbwene^ ctja^k mumwa >al8 der
mit der Krähenfeder sah, daß er darin (nämlich in der Grube) ver-
schwunden war« S. 118,21; naiuvavw^niy tumbwen^. jujwa fnwen§ »wir
haben sie nicht (beide) gesehn, wir haben nur ihn allein gesehn«
S. 119,6; tuvavw^nQ vo vaveli >wir haben sie beide gesehn< S. 119,8;
ma/iya tumbwcn§^ akambudile unswambitu > nachdem wir ihn als den
erkannt haben, der unseren Sohn getötet hat< S. 119,16.17; uvwe
tumbw^ns athbudik unswambitu >wir haben ihn als den erkannt, der
unseren Sohn getötet hat« S. 119,19; uveve vo uvw^ne, nden^udil^.
>8obald du gesehn hast, daß ich sie getötet habe< S. 119,24; vo
a^avw^e ama^asi madunu >als er das rote Wasser sah< S. 119,28,
vavw^§, a^^lil^ >sie sahen, daß er verschwand« S. 120,9; ävw^ne
lulQkil§ ukti^^da »er sah, daß (seine Kraft) zu gehn erschöpft war<
S. 122,25; vavw^e, ato^l^ mu mbeki nkya'Aya »sie sahen, daß er
auf einen Baum hinaufgeklettert war« S. 122, 27 etc. etc. Die An-
gabe § 28, daß die Silbe tsi in eine Anzahl der obengenannten Formen
eingeschoben werde, läßt einen Zweifel darüber walten, wie weit
diese Bildung herrscht, könnte vielleicht aber auch zu dem Glauben
verführen, daß sie auf die durch die Beispiele angedeuteten Tem-
pora beschränkt sei. Daß letzteres nicht der Fall ist, lehren aber
beispielsweise die Formen uiigatsileka >du magst sie lassen < S. 115,5
und nngatsivone »wenn ihr sehn solltet« S. 115,17. Von einer ^a-
Form zu reden, wie es § 31 geschieht, ist nicht richtig. Das Suffix
ist -a^a, entsprechend dem -aga des Yao, Kaguru, Nyamwezi und
Mpongwe und dem -anga des Kafrischen, Ronga, Kongo und Ganda.
Wenn das Suffix ^a wäre, würden die Konjunktivformen ndäova^^
etc. unerklärlich bleiben. Es verhält sich aber eben ndef^/v-a^e zum
Indikativ ndiigv-ajame ndfigv-e zu nditov-a. § 46,6 heißt es: »Eine
andere Form wird mit pa und li gebildet, die beide vor das Personal-
pronomen mit dem reinen Stamm gesetzt werden. Die Bildung mit
pa U findet sich aber auch in Verbindung mit anderen FormeUi z. B.
514 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
mit dem vom Verf. als X-a-Form bezeichneten Aorist. Vgl. akai^
ujiingQ umbaha, pa-l-a-ka-n-dya >er holte sich das eine große (Ein^
und dann fraß er es auf< (S. 109, 27. 29).
In der Satzlehre, die auch verschiedenes erwähnt, was streng
genommen nur die Bedeutung der einzelnen Wortarten betrifft, erregt
nur eine Behauptung Anstoß, nämlich die Bemerkung >Die Präfixe
mit vokalischem Anlaut entsprechen etwa dem bestimmten Artikel,
ohne vokalischen Anlaut dem unbestimmten < § 53, 1. Denn mit dieser
Regel steht die Sprache der Texte keineswegs in Einklang. Es lassen
sich unschwer auch Beispiele ausfindig machen, die gerade auf du
Gegenteil deuten. Es scheint, daß der vokalische Anlaut im Kingt
überhaupt nichts mehr mit einem Artikel zu tun hat, weder mit
einem bestimmten noch mit einem unbestimmten, gleichgültig, welche
Bedeutung ihm ursprünglich zugekommen sein mag. Beispiele Ittr
den Gebrauch von Präfixen ohne vokalischen Anlaut, die unserem
bestimmten Artikel zu entsprechen scheinen, sind folgende : Im ersten
Märchen gibt der Weise dem Schakal, der eine feine Stimme zu
haben wünscht, den Bat, sich tüchtig von Ameisen beißen zu lassen.
Und dann heißt es (S. 110,25) akavuku ku mpudaswt' »er ging zn
den Ameisen €. Denn so, und nicht >er ging zu Ameisen < wird man
doch wohl übersetzen müssen, und übersetzt der Verf. auch selbst
die Stelle. Ferner S. 113, 13. 15: vo asike Im nyumba ja munu u/owi'
kevcy akatova pa Iwitsi »als es angelangt war bei dem Hause eines
Mannes, Schakal (genannt), da klopfte es an die Türe S. 114,1—5:
urnwenr, akata: ^hutnbe^ iivetsaye undäla vam< umwene akav^ia akata:
ybako, ndiyodoka pa wisiku* >er sagte: ,nun, werde meine Frau'. Sie
weigerte sich und sagte: ,Nein, am Morgen kehre ich nach Hause
zurück'«, S. 116,31 — 33: nkavuka ku nyumba ja vwikov^. »sie ging
zum Hause des Schakals <. Beispiele für den Gebrauch von Präfixen
mit vokalischem Anlaut, die unserem unbestimmten Artikel zu ent-
sprechen scheinen, sind andrerseits aka^uvgna ku vutal^ umwQto »es
sah in der Ferne ein Feuer < (S. 113,9) (von dem vorher noch gar
keine Rede gewesen); ebenso tujavtijc eli^uli »laß uns eine Grube
graben« (S. 118, 15), vakavavona avanu pa neüa »sie sahen Leute
auf dem Wege« (S. 119,4.5) u. a. m. Natürlich sind jedoch auch
die Beispiele nicht selten, die mit der vom Verf. gegebenen Regel
in Einklang stehn. Vgl. undäla akale na vana vani, ve asihü^ mu
manya »eine (gegen des Verf. Regel) Frau hatte vier Kinder, die
verbarg sie in einer (des Verf. Regel entsprechend) Höhle< S. 109,5;
lüsd^ elinu, likalye ummama »ein (gegen die Regel) Untier ist ge-
kommen und hat das (nach der Regel) älteste (Kind) gefressene
S. 109,34. Derartige Beispiele, die sich mit Leichtigkeit vermehren
Wolff, Gramm, d. Einga-Sprache 515
ließen, zeigen also, daß der vokalische Anlaut der Präfixe wenigstens
im jetzigen Einga nicht mehr die Bedeutung eines Artikels hat Da*
gegen fällt dem unbefangenen Leser etwas anderes sofort auf, näm-
lich, daß die Präfixe nach Präpositionen und den präpositionsartig
gebrauchten Präfixen 16.17.18 der Bleekschen Anordnung den voka-
lischen Anlaut in der Regel nicht aufweisen. Vgl. na vana vani >mit
Yier Kindem< S. 109,5; mu maüga >in einer Höhle< S. 109,5;
p'itsuva >am Tage« S. 109, 9, 15; 117, 21 ; ky. nendili >bei den kleinen
Trommeln« S. 109,11.17.23.29; 110,35; 111,11, ku liyaluhala
»zumWeisen< S. 110,17; ku mUialaswe »zu den Ameisenc S. 110,25;
nmwgtg »ins Feuere S. 112,7.13.17.19.25; ku lu^asi »an den Fluß<
S. 112, 36; 113,5; ku vutak >in der Feme< S. 113, 9; ku 'Ayuntba
»zum Hause, nach Hause<, S. 113,13.35; S. 115,9.35; 116,1.17.31;
pa Iwüsi >an die TUr< S. 113, 15; pa vusiku >am Morgen< S. 114,5.25;
mtf mwUesu >in der Matte< S. 114,29; pa ntwe »auf dem Kopf<
S. 115,5.19.25; 117,5; nnyumba >ins Haus< S. 116,39. Diesen den
ersten beiden Texten entnommenen Belegen stehn dort nur n-eli-
m^Ayu »mit der Stimme« (S. 109, 25; 110,7; 13.29) und nolusaja
(S. 113,7 aus ^na-tdu'Saja) >mit dem Stabe in dem Satze lukakuka
nolusa^a >er nahm auch den Stab« als Ausnahmen gegenüber. Denn
zwei weitere, an sich zweideutige Fälle, kuntunaAya »zum Zauber-
doktor (S. 111,37) und navanu >mit Leuten« (S. 117,15), sind in An-
betracht der übrigen Belege wohl in ku-n-tutlurlya und na-va-nu zu
zerlegen, nicht in k-un-iutiaAya und n-am-wa, können demnach nicht
als Ausnahmen angesehn werden. Dieser Gebrauch in Verbindung
mit anderem, aus den Texten Ersichtlichen, vor allem der Bevor-
zugung der vokalisch anlautenden Form im Satzanfang dürfte aber
wohl darauf deuten, daß die Nomina mit zweisilbigem, also vokalisch
anlautendem Präfix im heutigen Einga in erster Linie Pausa-
formen sind, ähnlich wie im Ronga, Ganda und anderen verwandten
Dialekten. Vgl. besonders Henry A. Junod, grammaire Ronga (Lau-
sanne 1896) S. 120—122, die Texte S. 202—213, auch die Erzählung
Zeitschr. f. afrik. und ocean. Sprachen IH 229 — 244, Elements of
Luganda Grammar (London 1902) S. 146—149.
Hinsichtlich der Texte habe ich zweierlei zu beanstanden oder,
ich will lieber sagen, möchte ich zwei Wünsche für künftige Fälle
zur Sprache bringen. Ich möchte wünschen, die Herausgeber derar-
tiger Lesestücke behielten den Zweck ihrer Tätigkeit etwas schärfer
im Auge, als es in der Regel geschieht und namentlich im vor-
liegenden Falle geschehen ist, und gäben dies durch möglichste Ge-
nauigkeit der Uebersetzung und auch durch eine die Formzerlegung
erleichternde typographische Einrichtung zu erkennen. Die Ueber-
516 Gott gel Anz. 1906. Nr. 7
setzangen des Verf. sind meines Erachtens viel zv frei. Sie eat-
halten Dinge, von denen das Original überhaupt nichts verUnten
läßt, die ganz zweckmäßig in Anmerkungen zur Sprache gebracht
werden könnten, nicht aber einen Teil der Uebertragung ausmachoi
dürfen, da sie dann nur zu leicht irreführen. Es darf doch auch
nicht vergessen werden, daß ein Buch wie das vorliegende &8t nur
Anfänger voraussetzen darf. Denn außer den wenigen, die yieDeicht
einmal im Kingalande gewesen sind, hatte doch wohl kaum jemand
Gelegenheit gehabt, die dortige Sprache kennen zu lernen. Der Be-
ginn des ersten Märchens lautet: undäla akcU^. na vana roni, ve
asihili: mu manga akata: ynttcg ntamagt t^erp/itic. ^mwen^ dkavtika
,Hkf^ avnkilt. pHtsuva ditlge dkema nda kuko akilanga akata: >iy
nendäi avana ava^ nda kumpiva?'* d. h. >Eine Frau hatte vier Kinder.
Sie verbarg sie in einer Höhle (und) sagte: ,Hierin bleibt schön
sitzen'. Sie selbst ging, wohin sie gegangen ist. Am andren Tage
stand sie wie dort, rief, sagte : ,diese Kinder bei den kleinen Trommehi,
ob ihr da seid?'< Der Verf. übersetzt dies wie folgt: >E8 hatte
einmal eine Frau vier Kinder. Da sie selbst zu ackern hatte und
bei dieser Arbeit die Kinder nicht recht beaufsichtigen konnte, ver-
barg sie dieselben in einer Höhle, deren sich viele in den Bergen
befinden. Sie sagte zu ihren Kindern : nun verhaltet euch recht ruhig
und seid hübsch artig. Dann ging sie zu ihrem Acker, in der Mei-
nung, ihr Bestes getan zu haben, zumal diese Höhlen nicht leicht
von jemand zu entdecken sind. Die Kinder wohnten nun in dieser
Höhle, sangen und spielten, machten sich aus runden BambusstQcken
kleine Trommeln, indem sie über die Oeffnung des Bambusrohres ein
Stäbchen befestigten, auf das sie dann mit einem anderen etwas
größeren Stäbchen schlugen, wie man auf eine Trommel schlägt Als
die Mutter am nächsten Tage dort vorbei kam und das Getrommele
hörte, rief sie von weitem: ,Kinderchen dort mit euem Trommeln,
seid ihr noch alle da?'< Sollte das nicht doch zuviel des Gut«i
seinV Nun ließe sich ja allerdings geltend machen, daß diese Ueber-
tragung eben nur die Bolle des Kommentars übernehmen solle, da
durch die Interlinearversion für die Erklärung der einzehien Formen
hinreichend gesorgt sei. Dies würde dann aber nicht auf die Ueber-
setzungen Anwendung finden können, die keine Zwischenzeilenäber-
tragung voraussetzen, und zudem kann man auch im Kommentieren
die Grenze des Erlaubten überschreiten. Ein Beispiel ist der Anfang
des dritten Märchens. Es beginnt: avaiume vavdi vakavt^a kurilda
idtikglg Iwa vent, d. h. »zwei Knaben gingen ihre Verwandten be-
suchen <. Dazu lautet die Uebersetzung: »Einst machten sich zwei
Knaben auf den Weg, ihre Verwandten, die weit entfernt wohnten,
WoUF, Oramm. d. Einga-Sprache 517
za besuchen <. Was soli da nun das ganz selbstverständliche > einst«,
und was soll das nicht selbstverständliche, aber ganz überflüssige,
fttr den Gang der Erzählung gar nicht in Betracht kommende »die
weit entfernt wohnten?« Daß die Verwandten nicht neben der Tür
wohnten, ergibt sich allerdings daraus, daß die Knaben auf dem
Wege zu ihnen an mehreren Hügeln vorbeikommen. Weiter wird
aber auch einfach gar nichts berichtet, was etwas mit der Entfernung
2u tun hätte, und wenn die Verwandten auch noch so weit wohnten,
dann dürfte man doch dem europäischen Leser auch dasselbe zu-
trauen, was der Märchenerzähler im Kingalande seinen Volksgenossen
zutraut, nämlich, daß man das im Laufe der Erzählung schon selbst
merkt. Meiner Meinung nach wird durch einen solchen unnützen
Znsatz nur das erreicht, daß ein auf dem Bantugebiet noch nicht
heimischer Lernender krampfhaft im Urtext nach den Worten sucht,
die von der weiten Entfernung Bericht abstatten und sich dadurch
in seinem Studium hemmt. Abgesehn von genaueren Uebersetzungen ^
wäre aber auch noch eine die Analyse erleichternde Aufzeichnung
wenigstens eines kleinen Teils der Texte recht erwünscht gewesen,
zumal da das Glossar leider nicht immer die notwendige Auskunft
erteilt. Durch Abtrennung der Präfixe, soweit nicht unauflösbare
Kontraktionen vorliegen, und reichliche Hinweise auf die in Betracht
kommenden Regeln der Grammatik würde meines Erachtens eine weit
besser schulende Anleitung gegeben als durch bloße Uebersetzungen.
Um zu veranschaulichen, wie ich mir einen so präparierten Ein-
führnngstext vorstelle, gebe ich den Anfang des vierten Märchens
als Probe. Äva-^ogolo (§ 5 Kl. 1). Ava-^osi (§ 5 KL 1) va-veli (§ 9)
va'ka-4s§figile^ (§ 27,2) pa (§ 5 Kl. 12) lu-jasi (§ 5 Kl. 7), wu-nge
(§ 19 u. §§ 10.11) ku (§ 5 Kl. 13) nma, tiju-ngrj Ten sika. uve (§ 13)
a-ka-tseiügile (§ 27,2) Jeu nma, a-ka-tsova (§ 26,3) ku nine (§ 5 Kl. 1),
uve (§ 13) a-tsengäe (§ 27,1) ku sika, a-ka-ta (§ 26,3): tu-hudaj^e
(§33c) ava-juva {%ll,2) v-itu (aus *V'aritu § 16,b), ttne (§14,1)
nde-huda^t (§ 33 c) u-jtiva (§ 17,2) v-a-ne (§ 16, a), uveve (§ 14, Id)
vo u^vwQne (statt ^u-vonile § 26,5), nde-^-budih (§ 27,1b), po u-ka-
m-bude (§ 33 g) na-juve (§ 14, 1 e) u-^aAyoko (§ 17, 2). u-mwene (§ 14, 1 a)
a-kredika (§ 26, 3). va-ka-vuka (§ 26, 3).
Die Wörterverzeichnisse lassen leider sehr viel von der Sorgfalt
vermissen, die bei der Ausarbeitung eines praktischen Lehrbuchs
unbedingt verlangt werden muß. Die Pronominalbildungen sind offen-
bar planmäßig von der Aufnahme ausgeschlossen worden, womit man
sich schließlich abfinden kann, so wenig ich es auch gutheißen
möchte. Denn man verlangt meiner Ansicht nach etwas viel vom
Leser, wenn man ihm zumutet, sich die in verschiedenen Abschnitte
518 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
besprochenen, zerstückelten und zerstreuten Bildungen sofort so ein-
zuprägen, daß ihm bei Beginn der Lektüre alles gegenwärtig ist.
Ich würde es sogar für wünschenswert halten, bei einem solchen
Wortregister nicht nur die Uebersetzung, sondern auch jedesmal
einen Hinweis auf die in Betracht kommenden Paragraphen d«:
Grammatik zu geben. Planmäßig ausgeschlossen scheinen femer auch
diejenigen Wörter zu sein, die man als Gelegenheitsbildungen be-
zeichnen könnte, wie beispielsweise uü-k^^ > Schakal < mit dem PriLfix
der 1. Klasse zur Bezeichnung desselben in einer Art Menschenrolle,
als das im Märchen sprechend auftretende Tier im Gegensatz zn
dem als gewöhnliches Tier betrachteten en§v§ mit dem Präfix der
3. Klasse. Aber auch innerhalb dieser Beschränkung auf Substantiya,
Adjektiva, Verba und Adverbien erstarrter Bildung lassen die Wörter-
verzeichnisse noch manches vermissen. Für das vom Deutschen aus-
gehende Glossar ist dies vielleicht nicht von großer Bedeutung. Beim
^kinga-deutschen Verzeichnis dagegen wird sich dem Lernenden dieser
Mangel insofern recht unangenehm fühlbar machen, als er nun beim
Lesen der Texte vielfach auf ein nicht wünschenswertes Erraten an-
gewiesen wird. Denn die Uebersetzungen sind, wie ich bereits be-
merkt habe, viel zu frei, als daß sie ein genaues Wörterbuch ent-
behrlich machen könnten. Ich führe im Folgenden von den von mir
im Glossar vermißten Worten diejenigen an, die in den Märchen be-
legt und nicht den gemachten Andeutungen entsprechend planmäßig
ausgeschlossen sind, begnüge mich aber, von einzelnen Ausnahmen
abgesehen, damit, jedesmal nur eine Belegstelle anzuführen. S. 109,5:
un-dala 1. Kl. > Franc, umw-ana 1. Kl. >Kind<, ematiga 3. Kl. (Stamm
panga) »Höhle«; 7: ngnu »gut, schön<; 9: kuJcg >dort< ; 29: uva-
'AyinavQ >ihre Mutter < (im Text steht, wohl irrtümlich, avaAyinavo.
Vgl, die richtige Form S. 110,9); 110,1: vovul^ >nur noch«; 3: ^i-
nu 6. Kl. »Untier, Ungeheuer« (vgl. 121,16: »Unmensch»), 9: eäika
»zustimmen < (so auch S. 118,15 und häufiger. In beiden Verzeich-
nissen steht edeka) ; 17 : mie »schweigend«, u-nya-luhala 1. Kl. »Weiser«;
21: umu'halasw^. 2. Kl. > Ameise« (im Glossar eU-halasu 6. Kl.);
111,34: tanm »zur Hilfe rufen«; 36: Ayw^a > trinken für« (zu liywa
>trinken<); 37: un-tunaAya 1. Kl. »Arzt, Zauberdoktor«; 112,9:
pSnza >hindem<; 23: ha^dl^la >sammeln für< (zu ha^ala »Holz
sammeln«); 30: umenza 1. Kl. (Stamm henm) »Mädchen«, aka-ntsi^ii
5. Kl. »Hülsenfrüchtchen«; 113,8: uvu-tale 8. Kl. >Ferne«; 33: hwa
»dunkel werden< (vgl. auch 113,39); 114,3: v^la »sich weigern«;
15: eli-t^su 6. Kl. > Matte <; 33: nyosoh^tsa »säugen, nähren« (zu
'/iywesa »tränken« mit Uebergang von we zu q)\ 115,13: u^-^iJbi
7. Kl. »Mal«; 116,15: paHya »dort«; 117,15: alamela »verfolgen«,
Wolff, Gramm, d. Einga-Sprache 619
36 : un-dumQ 1. Kl. (Stamm lutn^) >Knabe< ; 118, 6 : sula >verschmähen< ;
28: käavo »morgen<; 18: eli-^uli 6. Kl. >Grube€; 38: eki-^oriQ 4. Kl.
>Tag< (vgl. 120,35); 119,5: upu >wo, woher, wohinc; 12: pasi
>unten<; 14: tnatela »Erde werfen aaf< (zxxmaia)] 22: siX^a »unten« ;
26: uvu'tonu 8. Kl. »Brombeere«; 26: dndila >ausgieQen€; 37: tm-
tsimu l.Kl. »Tor, Dummkopfe; 120,1: Jcw^ja >m die Hand nehmen,
ergreifen«; 4: un-javg >ihr Freund«; 12: eki'$ind§ 4. Kl. »Erdscholle,
OrasschoUe« (127,7: eki-sindt); 13: kyaAya »droben«; 14: ptsiekela
> warten auf«; 20: n§<fa »schöpfen« (Wasser); 33: eli-kumbulo 6. Kl.
»Hacke«; 121,1: eki-lume 4. Kl. > Junge« (Demin. zu un-dum^ l.Kl.
S. 117,3 etc.), okgla »holen« (vgl. auch 120,36); 13: h^ngda (einen
Garten etc.) vorbearbeiten (zu Af%a »Gras mähen«; 15: 6^i-<^^ 6. Kl.
»Kerl« (zu uri-tfosi l.Kl. »Mann«); 21: ti!;!^-A'^ 8. Kl. »Honig« (im
deutsch-kinga-Glossar uvw-ok^; vgl. jedoch Tonga 6u-ci, Torrend,
Comp. Gramm. Nr. 455): 22: ulu-stiv^ 7. Kl. »glimmendes Kürbis-
hügelbeet; 23: wfnwüsukulu »Enkel«; 26: un-sitigQ 2. Kl. »Hals«,
eljrtumba 6. Kl. >Leib«; 35: u-sQiigidye >seine Tante«; 37.39: un-
sÜQ 2. Kl. >Wald«; 122,6: uhj-htQ 7. Kl. >Rasiermesser«, uvu-pUa
8. Kl. >Brei«; 11. hot^la »sammeln für« ; 13: tdti-jwUi 7. Kl. >Haar«;
15: tdu'Sapa 7. Kl. > Baumwolle«; 16: en^unu 3. Kl. (Stamm tsunü)
>Beil«; 17: eki-vana = eki-hana; 33: embulukutu 3. Kl. (Stamm
vulukutu) »Ohr«; 123,20: pa^ika = pa^eka; 124,9: eli-kanu 6. Kl.
»wildes Tier«; 16: fi^^effla »schöpfen«; 21: ulu-ttde 7. Kl. >Stampf-
block«; 24: eli-vend^ > Talsenkung « ; 125,21: u^u-jüa 10. Kl. >großer
Weg«; 28: eki-^g^olQ 4. Kl. > Greisin, Alte, Hexe«; 34: uvu^g^oda
8. Kl. = emi-doJQda ; 127, 3 : tdts-vunguvuiHgu 7. Kl. >dunkles Gebüsch« ;
11: enguvQ 3. Kl. >Fell«, eM-ntaüga 4.KI. > Messingring«; 14: un-t^jo
2. Kl. »Falle«; 29: di-loneu 6. Kl. >Löwe«; 128,5: eli-dovela 6. KL
>Beet« ; 31 : ku-n^ka >betrügen«.
Zum Schlüsse sei mir noch ein Vorschlag gestattet, der streng
genommen allerdings nicht nur das vorliegende Buch betrifft, aber
doch durch dasselbe gewissermaßen angeregt wird. Es fibt wohl
wenige Sprachen, bei denen soviel anfänglich überraschende und ver-
wirrende Formfülle gleich leicht auf eine ganz kleine Zahl von Ele-
menten zurückgeführt werden kann, wie bei den Bantuidiomen. Des-
halb scheint es mir auch für den Unterricht von Wert zu sein, die
verschiedenen, von einander abgeleiteten Formen möglichst über-
sichtlich nebeneinander zu stellen, Tabellen zu liefern, die man beim
Beginn der Lektüre im eigentlichen Sinne des Worts unausgesetzt
im Auge behalten muß, um möglichst schnell die den Gang des
Studiums erleichternde Analyse zu erlernen. Um zu zeigen, wie ich
mir derartige Tabellen ungefähr denke, gebe ich im Folgenden eine
520
CHHt gel. Ans. 1906. Nr. 7
derartig zusammengedrängte Darstellung der Deklination und Konju-
gation der Eingasprache mit Hinweisen auf die entsprechenden Pan-
graphen der Grammatik, die nur die § 17 behandelten Verwandt-
schaftsnamen und die defektiven Verba 2t, va und a nicht beräck-
sichtigt.
Ich bemerke dazu nur noch, daß die bei dieser Zusammen-
stellung vorgenommene Analyse nur auf der Beobachtung der vor-
liegenden Sondersprache beruht, von sprachvergleichenden Erwägungen
durchaus absieht. So bedeutet ^ weiter nichts als das Grundelement
des Verbs, was sich aus dem Verbalnomen, dem sog. Infinitiv, durch
Abstreifung des Präfixes und der Endung a ergibt, also etwas, was
zuweilen ein ehemaliges Dasein voraussetzen läßt, sehr häufig aber
§5— e
Dm.
20
pron. conj.
pron. i)erfl. Ab«.
§10.
cf g 12
pron. poflS.
816
= pron.
cf. |7.9
. CM
to ^^
COI[j. pOH,
+
iL
Uli
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SU,labj|
gU,lcd
§14,16
§H,lg
1. pS. Bg.
L pS* pl
r«fc-
-vtet
2. p«. Bg.
^hs-
r*t;-ff
fy^J'VC-ve
J-lM?f
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cf^mic^fiK
2. ps. pl
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2^ Ol. '';
pl.
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4. cl. 'f
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«-ly-fMf
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Stf-Q
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t-«y-f»*
'■ «^i ^!:
pl
7. cl Bg.
8. cl. Bg,
9. cl Bg.
10. cl Sg.
11 d.Bg.
(^Hi
h-
fy-o-
ly-Q
•(y-f»W
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18* d.
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-ÄW-ffltf
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1
1
J
[
WoliF, Gramm, d. Emga-Sprache
621
eine nachweisbare bloße Abstraktion ist, wie beispielsweise bei den
abgeleiteten Verben auf eha, uka, ^la etc. So soll der Umstand, dafi
der Plural des Imperativs an einer anderen Stelle angeführt wird
als der Singular, keineswegs die Behauptung eines verschiedenen
Stanmies in sich schließen, sondern nur das Auffinden einer solchen
Form möglichst erleichtern. Als Vorbereitung zu einer vergleichen-
den Grammatik wUrde eine derartige Anordnung natürlich nicht
statthaft sein. Als Hülfsmittel für die Erlernung der Einzelsprache
scheint sie mir dagegen durchaus unbedenklich, und sollte dies auch
nicht der Fall sein, so wird dadurch der Kernpunkt meines Vor-
schlags, den ich übrigens auf Grund praktischer Erfahrung mache,
ja noch nicht berührt.
pron. dem.
pron.
Tel
8 13a
nron.
interr,
über praefig. too
l
s
IS
§ IIa. § IIb, 5 11c.
cf. § 13b
§1U
SUe
§llf
■^^ii § 18b fula(i ndeti tidamu ndapi ndaku
§iei
V€-ni *wer?^
va-ni 'wer' (pl.)
vtvy-a-ni'/ *wer biat duT |
nyciiy-a-ni? 'wer seid ihr?'
§l8a
S18C
^\Bd
Sl8g
§18h
th?"if
U-jw-A
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va-lya
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u^-O
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g^-fjiAya
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tfU'iiku
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L
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Hi
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Ut-gt-yr
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Wi-ii^
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j-eki
Hingt
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(tsMyo,
iBi'is-g
isi-isi-lya
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{€}'U-a-ni
Wi-Uku
nyi-ki
tn-eki
i-ii^igi
t^ki
e-ky-g
ki-lya
kt-ki
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kc-ki-lya
t-ky^Q
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ki-likii
k€-ki
ky-ehi
i^si
i-^-Q
siAya
si-sy-Q
si-si-fya
i-syg
(t)'Sy'a-iii
si^liku
si'ki
sy-fAi
tfi-fiji^
ka-lya
,ka ka
kü-k-o
ka-ka-tya
tu-i^tya
t^-k-Q
(a)'k-a*ni
ka^Uku
t^-{ikn
ka-ki
t^'ki
k-eki
tn^eki
kalingt
*-/i
€-\y-9
Ulya
k-ly-Q
le-lirtya
t'ly-Q
OrJ-ly-a-ni
tHik»
ii'ki
iy-tki
ga-lya
Myti
v^~iya
kti-lya
m-lyo-
*mAy<^
m-ga
kii-ku
ku-ku!'a
L-h-Q
jja~ya*iya
Mu*tya
m-i^'iya
ki^'hi4ya
nm^^-{ya
H-k-g
(ti)-kK-a-m
mw-a-ni
ga-liku
Miku
vti^liku
ku^iiku
gu'fiku
\rnaki
Jn-ki
k^-ki
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kv^-tki
«-pa
a-p-9
pa-\ya
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borÄo-fya
U-p-Q
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522
Gott gel Anz. 1906. Nr. 7
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++++++
SSIIIS
524 Gott. gel. Adz, 1906. Kr. 7
Das Passivum bildet man durch Einfügung yon w bzw. ivw an-
mittelbar vor dem auslautenden Vokal. § 36.
Das Objektspronomen tritt unmittelbar vor die Wurzel.
Das Amt des Rezensenten bringt es mit sich, daß man mehr
tadelt als lobt. Nur, wo es gar nichts auszusetzen, also auch gar
nichts zu besseren gibt, darf man sich damit begnügen, ein Werk
kurz und bündig einem weiteren Kreise zu empfehlen. Die vor-
liegende Arbeit gestattete dies nicht. Aber wenn ich auch allerlei
Bedenken geäußert und Wünsche zur Sprache gebracht habe, so habe
ich damit doch keineswegs den Wert des fraglos mühevollen Werkes
in Abrede stellen wollen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie
schwer es ist, eine noch unbearbeitete Sprache auch nur in den
Grundzügen richtig darzustellen, und was ich auszusetzen hatte,
waren schließlich doch nur Kleinigkeiten. Alles in allem hat das
Buch schon wegen der Fülle des neuen Stoffs, aber nicht etwa nnr
deswegen, seinen unbestreitbaren Wert, und der Verf. hat vollen An-
spruch auf den Dank aller, deren Forschung sich auf dem Gebiete
der Bantusprachen bewegt.
Gr. Lichterfelde Franz Nikolaus Finck
Die ältlrisehe Heldensage, Täin h6 Cüalnge, nach dem Bach of Leinster in Text
und Uebersetzung mit einer Einleitung herausgegeben von Ernst Windisch,
Leipzig, S. Hirzel, t905. XCII— 1118 pages.
II s'est produit dans Tordre des etudes celtiques un 6v6neme&t
de haute importance. Le professeur Ernst Windisch vient de faire
paraitre la premiere Edition de la grande Epopee irlandaise intitolte
Täin bo Cüalnge »Enlevement des vaches de Cooleyc.
Vaches au pluriel est une faQon irlandaise de dire taureau; fl
n'y a pas de troupeau de vaches sans un taureau qui est le pe^
sonnage important, le roi du troupeau. Llliade, la grande £pop^
grecque, d^crit quelques Episodes de la guerre de Troie dont le bat
est la conqu^te d'HSl^ne, demi-deesse, fille du dieu Zeus et d'one
femme: le sujet de r^pop6e irlandaise est la conqu^te d'un tanreaa
qui, n^ d'une vache, est la dernicre forme d'un porcher des dieiix.
Ce taureau, demi-dieu comme H^l^ne, c'est le taureau de Goolej.
Cooley autrefois Cüalnge, le Troie des Irlandais, est situ^ dans to
comt^ de Louth, aujourd'hui en Leinster et limitrophe de TUlstar,
mais autrefois compris dans TUlster.
La redaction de cette 6pop6e parait remonter ä la premiÄre
moiti6 du septieme siecle de notre ^re. Senchän Torpeist ätait atot
Täin b6 Cdalnge 525
chef des a6des, ßid, d'Irlande, et Güaire, roi de Connaught. Les
a^des irlandais ne coimaissaient que des Episodes du Täin^), aucun
ne pouvait reciter T^pop^e complete. Gdaire logea et nourrit pen-
dant quelque temps, dit la legende, cent cinquante a^des de premiere
classe, autant de seconde classe, qui, 6tant venus lui demander
rhospitalit^, s'^taient install^s chez lui avec cent cinquante chiens,
cent cinquante domestiques males, autant de femmes et des ouvriers
au nombre de vingt-sept pour chaque mutier; puis, fatigu6 de leur
nombre et de leurs exigences, il leur fit defense magique de coucher
plus de deux nuits de suite dans la m6me maison tant qu'ils n'au-
raient pas trouv^ le texte complet de la grande ^pop^e irlandaise.
US parcoururent en vain les Ues britanniques ä la recherche de ce
texte, puis en d^sespoir de cause recoururent ä un moyen h^roique.
Un de ces a^des, nomm6 Murgein, se rendit aupres du tombeau de
Fergus, un des h^ros de T^pop^e, et adressa en vers un appel ä ce
d^funt personnage qui sortit de son tombeau et recita toute la pi^ce
ä Murgein. Gela dura trois jours et trois nuits pendant lesquels
Fergus et son interlocuteur, envelopp^s d'un epais brouillard, resterent
invisibles au reste des humains. Puis Murgein vint r^peter ä Senchän
Torpeist le texte complet du Täin bö Cüalnge. II semble r^sulter
de cette legende que THomere irlandais, le compilateur qui aurait
r^uni en corps d'ouvrage les Episodes du Täin, jusque lä söpar^s les
uns des autres, aurait et6 Murgein ou plutöt Senchän Torpeist qui
pour assurer le succ^s de son oeuvre lui aurait attribu^ une origine
merveilleuse. ^)
On connait trois versions de cette compilation. II en est une
dont on n'a jusqu'ici d6couvert qu'un fragment conserve par les mss.
H. 2. 17 du Trinity College de Dublin, XV*» sifecle, et Egerton 93 du
Mu86e britannique, XV* — XVP sifecle. Ce fragment a 6t6 publik
d'apr^s le second de ces deux mss. par M. Nettlau, Revue Celtique,
t. XIV, p. 256—266, t. XV, p. 62—78, 198-208.»)
Les deux autres versions ont 6t& moins maltrait^es par le
temps.
Nous citerons d'abord celle que nous conservent: V le Leb or
na h Uidre qui fut 6crit par un scribe t\x€ en 1106 et dont TAca-
d^mie d'Irlande qui Ta dans sa bibliotheque a publik un facsimile en
1870; 2^ le Livre jaune de Lecan, ms. H. 2.16 du Trinity College
1) Täin est un nom feminin, mais je suis encore de ceux qui disent le
Gallia Christiana en sous-entendant »livre intitule«.
2) cf. H. Zimmer dans la Revue de ^uhn, t. XXVIII, p. 426—439.
8) Correspondant äLebor na h Uidre, p. 69b— 82b; cf. Mition d'E.Win-
diBch, p. 261—423.
0«tt gtt Abs. 1900. Hr. 7. 37
526 Gdtt gd. ABZ. 1906. Kr. 7
de Dablin, ^rit en 1391 et dont M. Windisch aTait one cofit
meilleare que la Photographie Mitee par la mtee aeadteie 9o«s h
direction de M. Robert Atkinson en 1896:*) 3* le ms. Egertoe 1783
da Masee Britanniqae, XV*— XYI* siede. Inutfle de parier da an.
Egerton 114 qui est one copie dn 1782 execntfe an XIX* siMe.
Une Edition de cette version a ^t6 entreprise par MM. J. Stradua
et J. G. OKeefie dans Erin, revue publik a Dublin, tL secoade
partie, 1904. et t. II, seconde partie, 1905. Cette 61ition eonpread
jasqn'ici an pea plus de moiti^ dn texte, eile ya de la page 17 i
la page 32 dn Livre janne de Lecan, oü le Tain se termine a la
page 53. et de la page 55 ä la page 77 dn Lebor na hUidre ov
le Täin, se terminant ä la page 82, est moins complet que daas le
Livre jaune de Lecan. Une traduction int^ale en anglais d'apris le
le Lebor na hUidre et le Livre jaane de Lecan a 6t6 pabli^e ei
1904 par Miss L. Winifred Faraday.
La demiere version dont nons parlerons est la plos compHfe
des trois. Elle est conserve par: 1* le Livre de Leinster, ms. di
milieu du douzieme sitele appartenant comme le Livre jaune de
Lecan au Trinity College de Dublin, oü il porte la cote R. 2. 18, et
qui a iie publik en facsimile par TAcad^mie d'Irlande en 1880 avee
une bonne introduction par M. R. Atkinson ; — 2* le ms. Stowe 984,
pr^c^demment cöt^ Press I, n* XXXII, qui aujourd'hui est conserve
dans la biblioth^que de TAcad^mie dlrlande sous la cote C. 6. 3, et
qui a ^t^ termini le 15 septembre 1633, comme on lit ä la page 157
du volume intitule : Bibliotheca ms. Stowensis, a descriptive catalogue
of the Manuscripts in the Stowe Library, 1818; — 3^ le ms. du Moste
Britannique, Additional 18748, copie faite en 1800 d*un manuserit
dato de 1730 et dont une analyse avec extraits a 6t6 donn^ en 1898
par M. Standish Hayes O'Grady aux pages 109—227 du livre de
Miss Eleanor Hull intitulö The Cuchullin Saga; 4^ le ms. H. 1.13 da
Trinity College de Dublin contenant, p. 195—320, un texte du T&in
^crit en 1745 et provenant probablement de la mSme source que
TAdditional 18748.
C'est le Livre de Leinster que M. Windisch a pris pour base
de son Edition. Le Lebor na hUidre oSre un texte beaucoup moins
complet, son ant6riorit6 ne compense pas cet inconvenient
Sur les quatre cent cinquante-cinq pages de texte iriandais que
M. Windisch a publikes, deux cent cinquante seulement se trouvent
1) La reproduction photographique des manoscrits iriandais est g^n^nle-
ment ddfectueuse. La cause en est-elle Tencre ou le papier? je ne poorrais le
dire. Elle est un fait incontestable, tandis que la Photographie des mss. contineii-
taux est soa?ent plus lisible que les originaux.
Täin bö Ctialnge 527
dans le Lebor na hUidre. M. Windisch se borne ä donner en note
las variantes de ce manuscrit, et c'est presque partout le Liyre de
Leinster qu'il reproduit. Font exception: d'abord les huit pages
299—315 oü un feuillet manquant entre les f**". 74 et 75 est suppl66
par le ms. Stowe 984, p. 30 b— 32a, ensuite les additions qui, em-
prunt^es au m^me ms. Stowe, se trouvent dans T^dition aux pages
561, 563, 637, 639, 769, 771, 785 ä 803, 809 ä 821, 903;
enfin celles qui se rencontrent aux pages 889, 891, 902 et qui pro-
viennent du ms. H. 1,13 de Trinity College.
On pent regretter qu'ayant constats, p. 116, Tabsence dans le
Livre de Leinster de quatre des exploits de Cüchulainn enfant, que
raconte le Lebor na hUidre, p. 50b, 16— 60a, 38, M. Windisch n'ait
pas }\xg6 ä propos, comme il le dit lui-m^me, p. 116, note 3, d'en
insurer le r^cit dans son Edition, et nous r^duise k les aller chercher
dans r^dition d'O'Keefife, p. 17—19, dans la traduction de Miss L.
Winifred Faraday, p. 20 — 23, ou dans Tanalyse de M. H. Zimmer,
Revue de Kuhn, t. XXVUI, p. 446, 447.
Ce dernier est un peu bref, et les recherches chez M. O'Keeffe
et chez Miss L. Winifred Faraday ne sont pas si faciles que dans
Touvrage de M. Windisch. Celui-ci, qui est bien au courant des pro-
c^d6s de Terudition, a divis^ son livre en chapitres, a mis en haut
des pages de sa traduction des titres courants qui indiquent les
titres des Episodes dont il s'agit; puis, en haut des pages du texte
irlandais, il a plac^ des titres courants qui renvoient aux pages et
aux colonnes des manuscrits consult^s. Miss Faraday reproduit les
divisions en chapitres not^es en marge dans le Lebor na hUidre,
mais ne renvoie nulle part aux pages de ce pr^cieux manuscrit, ni
du Livre jaune de Lecan. M. O'Keefife ne donne ni des divisions ni,
sauf exception, des renvois aux pages des mss. qu'il reproduit, en
Sorte que chez lui les recherches sont fort difficiles, et que, si Ton
yeut comparer son texte avec le facsimile du Lebor na hUidre et
avec la Photographie du Livre jaune de Lecan, on perd beaucoup
de temps en recherches fastidieuses.
Si done on veut trouver hors du livre de M. Windisch dans un
ouvrage imprim6 le r6cit complet des sept exploits de Cüchulainn
enfant, r^duits ä trois par le Livre de Leinster, on doit se livrer ä
des recherches un peu longues dans les publications de Miss L. Wini-
fred Faraday et de M. O'Keefife. Disons toutefois pour la justifi-
cation de M. Windisch que le recueil des exploits de Cüchulainn
enfant est dans le Täin un hors d'oeuvre fort long, tr^s maladroite-
ment intercal^ dans le r^cit, quUl vient interrompre en racontant au
lecteur des 6v6nements ant^rieurs de dix et douze ans ä ceux dont
37*
528 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 7
Texpos^ precede et suit Ce hors d'oeuvre aurait dft 6tre laissi
parmi les prefaces remsc^la, qai exposent rorigine da T&in. L'ao-
teur de la version contenue dans le Livre de Leinster a fait acte
m^ritoire, litt^rairement parlant, en abr^eant ce hors d'oenvre.
Cet auteur 6tait un pr^tre cbr^tien auqael le cöt6 payen du
Täin deplaisait, et qui a retranchö le passage oü le dien Lug, yenait
au secours de Cüchulainn, lui dit: je suis ton p^re, moi, du nombre
des dieux, Is messe do atbair assidib (Leber na hUidre, p. 78t,
1. 18). M. Windisch a reproduit p. 343, note 11, et tradoit, p. 342,
note 3, ce passage qu'on trouve aussi traduit chez Miss L. Winifred
Faraday, p. 84, et qui pour I'intelligence du Täin a une importance
fondamentale en faisant de Cüchulainn un demi-dieu, et en ezpli-
quant ainsi sa superiority sur le reste des guerriers irlandais. Ainsi
Achille dans TUiade est aussi demi-dieu, puisque Thetis sa m^re est
d^esse. ^) Mais Tintervention d'un dieu payen dans les choses hn-
maines ne pouvait ^tre admise par un chr6tien.
Le m^me scrupule pieux a ^t^ cause que le nombre des üh^eß
du druide Cathba ä ^t^ r6duit de cent ä huit dans le Livre de
Leinster. Le chiffire de cent est inscrit dans le Leber na hUidre,
p. 61a, 1. 21, Edition O'Keefife, p. 21, 1. 527. Je regrette de ne pts
trouver ce chiflfre en note dans le livre de M. Windisch, p. 131.
Mais c'est un detail de petite importance.
Le texte, accompagn6 dans cet ouvrage d'une traduction alle-
mande en regard, est pr^c^d^ d'une pröface divis^e en quatre parties.
La premiere, p. I — XI, est consacrde ä des considörations g6D6-
rales. L'auteur croit qu'il est possible que le roi Gonchobar, le roi
Ailill et la reine Medb aient exists, qu'un h^ros du nom de Cächo-
lainn se soit rendu c61^bre par ses exploits, que ces quatre person-
nages aient v6cu ä une ^poque contemporaine du d^but de Tire
chr^tienne; c'est la tradition irlandaise, mais comme on ne pent
d^montrer que cette tradition remonte ä une date contemporaine de
ces personalit^s ^piques, le doute sera toujours permis. Cette con-
clusion est certainement legitime.
Mais il y a quelques points de detail sur lesquels les hypotheses
^mises par M. Windisch peuvent sembler contestables. Ainsi, il
parait consid^rer comme appartenant au texte primitif: Tassertion
que le h^ros Cüchulainn aurait ä lui seul tenu t£te ä quatre des
cinq provinces dlrlande depuis luan (lundi) avant s amain (1**
novembre) jusqu'au premier jour du jeüne hebdomadaire des chr6tiens,
c6täin (c'est-ä-dire jusqu'au mercredi) aprfes le premier ftvrier,
temps pendant lequel il n'aurait pu dormir autrement qu'avec son
1) A^xdp 'AxtXXeuc i<m Otac yfivoc. Diade XXIY, 59.
Tun bö Cüalnge 529
poing pour oreiller et sa lance pour compagne. ^) H aurait done k
lui seul tenu au 6chec la grande majority des guerriers d'Irlande
pendant plus de trois mois. Or pourquoi 6tait-il seul? parce que la
d^sse Macha avait frapp^ d'une malediction les guerriers d'Ulster.
Ces guerriers devaient soufirir les douleurs de raccouchement pendant
quatre jours et cinq nuits ou cinq jours et quatre nuits. Si Ton
respecte la donn^e primitive de r6pop6e, c'est le temps pendant
lequel Cüchulainn s'est trouv^ seul en face de la grande arm^e qui
envahissait TUlster; il s'agit seulement de la reunion de neuf p^riodes
d'un dur6e moyenne de douze heures chacune; c'est-ä-dire en tout
de cent huit heures, et non de plus de quatrevingt-dix jours comme
dans les derni^res versions de T^pop^ irlandaise.
La maladie extraordinaire qui aurait dur^ cent huit heures avait
6t6, dit-on, un chätiment inflig^ par la ddesse Macha comme on voit
dans la piece intitulöe Noinden Ulad >Neuvaine des habitants
d'ülster«, que M. Windisch a publice et traduite en 1884;^) cette
maladie est appel^e cess, ceas, dans deux des manuscrits les plus
anciens qui nous conservent la 16gende dont nous parlous. Ce sont:
le ms. Harl^ien 5280 du Mus4e britannique, P 53 b, et le Livre
jaune de Lecan, p. 211a. Or, au d^but du Täin, la reine Medb dit
qu'elle compte sur le cess noinden, »la maladie de neuvaine< des
habitants d'Ulster pour assurer le succes de Texp^dition qu'elle
entreprend. Elle dit qu'äEmain, capitale de Ulster, le roi Conchobar
et les habitants d'Ulster autour de lui sont atteints de cette mala-
die, et eile nomme par exemple trois notables d' Ulster qui sont
malades comme leur roi.^) Elle ne pensait pas au h^ros Cüchulainn
qui bien portant devait ä lui seul arr^ter Tarm^e ennemie jusqu'au
terme des cent huit heures d'incapacit6 militaire impos6es aux
guerriers d'Ulster par la vengeance de Macha. Teile a et6 la con-
ception premiere; il a fallu plus tard ^tendre la duräe de la maladie,
rflever de cent huit heures ä plus de quatrevingt-dix jours pour
trouver place aux nombreux exploits dont la föcondit6 des a^des
irlandais a gratifie le h^ros Cüchulainn. Les neuf ans pass^
qu'aurait dure le si^ge de Troie ont 6te probablement le rSsultat
d'un d^veloppement analogue, neuf mois a 6t6 vraisemblablement la
conception primitive. Quoiqu'il en soit, les expressions employees
1) p. 346, lignes 2471-2477, cf. p. 420—421 1. 2899—2900; p. 463, 1.
3184—3186; p. 653, 1. 4591—4593; p. 663, 1. 4645-4646; p. 669, 1. 4704—4705.
2) Berichte der K. Sächsischen GeseUschaft der Wissenschaften, p. 336—347.
3) Voir ration du Tun par M. Windisch, p. 30—33; c'est le texte da
livre de Leinater. A comparer le texte du Leber na hUidre p. 55 b, 1. 19 — 20,
^tion O'Keeffe, p. 4, 1. 45 ; traduction de Miss L. Winifred Faraday, p. 8.
530 Gott geL Ans. 1906. Nr. 7
pour designer la dur6e des combats de CAchulainn pendant la maladie
des guerriers d'Ulster trahissent clairement une origine plus r^nte
que les Episodes payens dont dous avons signal^ deux: C 6 tain,
>premier jeüne<, >mercredi< est une formule qui derive de Pab-
stinence observee en ce jour par les premiers chrätiens dlrlanda
Cette notion du jeüne chretien est ^trangere ä la conception primi-
tive d'une Epopee entierement payenne, et oü le druide Catbba jooe
en plusieurs circonstances un role dominant. De ce que les combats
de Cüchulainn, dans la forme relativement moderne de T^popde qui
nous est parvenue, durent pendant trois mois d'hiver, M. Windisch
conclut qua Cüchulainn sentit peut-^tre originairement un dien solaire.
Cette hypoth^se, que le prudent auteur termine par un point d'inter-
rogation, ne nous semble pas, quant ä pr^ent justifi^.
De m^me la comparaison que fait M. Windisch entre la naissance
merveilleuse de Cüchulainn et celle d'Aed Slane nous semble un peo
forcee. Cüchulainn etait fils du dieu celtique Lug et d'une femme,
Dechtere, soeur du roi Conchobar; de m£me Heracles ^tait fils du
grand dieu indo-europeen Zeus et d'Alcm^ne, femme d'Amphitryon,
roi de Tirynthe; teile est ä mon avis la comparaison qui s'impose.
Quant au roi irlandais Aed Slane, il 6tait fils de Diarmait mac
Cerbaill, roi supreme dlrlande qui r^gna de 544 ä 565. La femme
legitime de Diarmait, Mugein, prise pour remplacer dans le lit do
roi la vieille reine honoraire Mairend, ^tait malheureusement st^le.
Elle s'adressa ä deux saints qui, en lui faisant boire de l'eau bäiite,
lui procurerent trois grossesses. La premiere et la seconde fois, eile
accoucha d'animaux qui, symbolisant J.-C, attestaient la sainte ori-
gine de la victoire remportte sur la st6rilit6 primitive, 1** un agneau,
comparez les antiennes qui commencent par agnus Dei: 2^ un
poisson: tx^oc >poisson<, est la formule mystörieusement abr^6e
ä Taide de laquelle les premiers Chretiens d^guisaient le nom de
J^susChrist en ecrivant seulement les initiales de la formule com-
plete: 'Itjooüc XpioTÖc Ösoü Tiö(; Iwnjp. La troisieme grossesse
aboutit ä la naissance d'Aed Slane. Aed Slane 6tait fils de Diarmait,
dont la paternity n'a pas, ce semble, 6t6 contestöe. *)
La seconde partie de la preface traite des rapports qui existent
entre les moeurs et usages d^crits par le Täin et ceux que Tanti-
1) cf. Hennessy, Anoals of Ulster, p. 80. La legende de la naissance d'Aed
Slane a ^td publik par M. Windisch: Berichte der E. Sächsischen GeseUschaft
der V^issenschaften, 1884, p. 191—205 et par M. Standisch Hayes O'Grady, SÜTa
Oadelica, irish texte, p. 82—84. Un r^sum^ de cette legende se trouve dans la
vie de saint Aidos, Acta sanctorum Hibemiae ex codice Salmanticenai, coL
343-344.
Täin bö CdaInge 531
quit^ classique attribue aux Celtes. L'auteur 6tablit la concor-
dance frappante qui apparait sur une foule de points. Je ne lui
adresserai qu'une critique. II parle, p. XXVII, du passage oü Medb,
voulant obtenir de Ferdiad qu'il aille combattre et tuer, s'il est pos-
sible, Cüchulainn dont il est Tami, lui promet pour unique Spouse,
öen-mnäi, Findabair, sa fille;^) il compare cette expression au fer
...öensetche »homme ... d'unique epouse«, dont parle la preface
k rhymne de Fiacc, en mettant ces mots irlandais dans la bouche
de saint Patrice. Mais saint Patrice parlait en canoniste : il s'agissait
d'^lever un irlandais ä l'öpiscopat, le c61öbre apötre dit qu'il veut
trouver un homme de bonne naissance, de bonnes moeurs, qui n'eüt
^pous^ qu'une femme. ^) II traduit en irlandais un passage de la
premifere 6pitre de saint Paul ä Timoth^e, chapitre III, verset 2:
Oportet ergo episcopum irreprehensibilem esse unius
uxoris uirum, plus clair dans le texte latin que dans le grec.')
Ni un Romain ni un Chretien ne peut avoir plusieurs Spouses,
uxor es, ä la fois, ils ne peuvent les avoir que successivement quand,
apres la dissolution d'un premier mariage, ils convolent en secondes,
en troisiemes noces. Or est incapable de devenir 6v6que, ni m6me
en g^n6ral clerc, quiconque, aprös avoir perdu uue premiere femme,
en a 6pous6 une seconde, en ce cas on est irregulier. Voir les
textes ant6rieur8 au moyen äge qui ont €t6 röunis par Gratien D6cret,
1^" partie, distinction XXVI; le plus cat6gorique de ces textes est
le dernier du ä Saint Ambroise: qui sine crimine est unius
uxoris uir, tenetur ad legem sacerdotii suscipiendi.
Qui autem iterauerit coniugium, culpam quidem non
habet coinquinati, sed praerogatiua exuitur sacer-
dotis.*) Mais celui qui a eu plusieui-s concubines n'est pas irr6-
gulier, puisqu'il ne les avait pas 6pous^es, les concubines ne sont
pas des Spouses, c'est la plurality des Spouses qui produit Tirr^gu-
larit^. ^) Evidemment Medb proposant sa fille comme Spouse ä
Ferdiad ne parle pas en canoniste, eile lui dit qu'elle compte que
Findabair sera Tunique femme du mari qu'elle aura, c'est-ä-dire que
ce mari ne lui donnera pas de rivales par le concubinage. Cela n'a
aucun rapport avec la r^gle de droit canon 6nonc6e par saint Patrice.
La troisi^me partie de la preface traite de la fagon dont la
radition 6pique a pu se transmettre: Pauteur, apr^s avoir r6uni et
1) p. 443, 1. 3031.
2) Withley Stokes, The tripartite Life of Patrick, t. II, p. 402, 1. 13, 14.
3) Act oOv t6v i7r{axoicov dveTt^XT^Tnov elvai, (xiac pvaixoc Mpa.
4) cf. Migne, Patrologia latina, tome XYI, col. 1206 AB.
5) D^crdtales de Gr^goire IX, livre I, titre XX, chapitre VI.
582 Gott geL Abi. 1906. Nr. 7
T68um6 les textes antiques relatüs aux Draides, parle des aädes,
filid, irlandais; il expose la Inende qui fait remonter ä SencUui
Torpeist la redaction ou plus exactement la compilaticHi du Tion;
nous en avons parle plus haut
La quatricme partie est consacr^ aux manuscrits, ce que nous
avons dit ä ce sujet peut suffire.
Vient ensuite le texte qu'accompagnent, au bas des pages,
des notes considerables donnant les yariantes des manuscrits. Ce
texte, dont les lignes sont numörot^es, est plac^ sur la page de
droite, la traduction sur celle de gauche en regard. Le tout
occupe neuf cent onze pages dont un quart environ pour le texte,
un peu plus pour la traduction, moiti^ pour les notes. Le yolnme
se termine par un glossaire: P des mots, 2^ des noms gtogra-
phiques, 3^ des noms de personnes, formant, avec un supplöment
au glossaire, cent quatrevingt-douze pages ä deux colonnes. Seize
pages de corrections et additions terminent ce volume, vaste travail
qu'on ne peut trop admirer malgr6 les quelques critiques de detail
peut-£tre en partie mal justifi6es que je lui ai adress^, et que
d'autres pourront diriger centre lui.
C'est ä Tusage des örudits que M. Windisch a 6crit ce livre
comme ses pr6c6dents volumes d'hische Texte. Je me permettrai
de lui donner un conseil. Ce serait de tirer de ces savantes publi-
cations un joli petit volume ä Tusage du grand public en pla^ant
en t6te la traduction de quelques-uns des r6cits l^gendaires qui sont
les prefaces, remsc^la, du Täin, et en prenant pour corps da
volume sa traduction du Täin bö Güalnge. Ce serait un livre qui
aurait, croyons-nous, grand succ^; il ferait connaitre cette grande
Epopee irlandaise ä bien des gens qui n'ouvriront jamais le volume
dont nous rendons compte, il est trop gros, 11 a Taspect trop
röbarbatif pour ne pas repousser la majeure partie des lectenrs
qu'un petit volume attirerait. Un volume in 8^ de plus de onze
cents pages valant trente-cinq marcs n'entre pas dans bien des
maisons, oü Ton accueillerait avec plaisir un in 12 de quatre cents
pages et du prix de cinq ou six marcs au plus.
Paris H. d'Arbois de JnbainviUe
A. Foucher, L'art gr^co-boaddhique da Gandhilra 588
A. Foaeher, L'art gr^co-bouddhique du Gandhära. t^iuäe sor les ori-
gines de Pinfluence classique dans Part bouddhique de Tlnde et de l'£xtr^me-
Orient. Tome premier. Indroduction — Les edifices — Les bas-reliefs. Avec
300 illustrations, une planche et une carte. Paris, Ernest Leroux, 1905.
In der vorliegenden Arbeit hat Alfred Foucher, der durch seine
ausgezeichneten Studien^) zur buddhistischen Ikonographie schon
rühmlichst bekannte französische Gelehrte, eines der interessantesten
Gebiete der indischen Altertumskunde in trefflicher Weise behandelt.
Das Buch wird sowohl dem Erforscher des Buddhismus als dem
klassischen Philologen willkommen sein; denn zum Gebiete beider
gehört die gräcobuddhistische Kunst, die im Anfang der christlichen
Aera im Nordwesten Indiens blühte. Das Wesen dieser Kunst geht
hervor aus der vom Verfasser (S. 2) mit großer Deutlichkeit formu-
lierten Definition: >La combinaison d'une forme classique et d'un fond
bouddhique, Padaptation de la technique grecque ou, plus exactement,
hell^nistique ä des sujets strictement Indiens. <. >C*est une page
nouvelle de Tart grec qui s'ouvre; mais le sens de cette page ne
peut 6tre d6chiffir£ qu'en Sanskrit. <
Foucher war besser als irgend ein anderer zu einer solchen
Aufgabe befähigt nicht nur durch seine genaue Kenntnis der lite-
rarischen Quellen — unter denen neben den in Sanskrit und Pali
abgefaßten kanonischen Büchern besonders die Itinerarien der chine-
sischen Pilger des fünften bis siebenten Jahrhundert hervorzuheben
sind — , sondern auch durch den Umstand, daß er im Laufe einer
1895—1897 auf Veranlassung der französischen Regierung unter-
nommenen Reise, das in den indischen Museen befindliche Material
und die Monumente selbst durch eigene Anschauung kennen gelernt
hat. Diese beiden Umstände haben dazu mitgewirkt, eine Arbeit
hervorzubringen, die an Reichhaltigkeit des Inhalts und Klarheit der
Darstellung bei weitem alles übertrifft, was bisher auf diesem Gebiete
geleistet worden ist. Denn während den in Indien arbeitenden,
meist englischer Nationalität angehörigen Forschern infolge unge-
1) Besonders hervorzuheben sind: L'art bouddhique dans linde d'apr^ an
livre rdcent (Revue de Fhistoire des religions, Paris 1895). !^tude sur Ticono-
graphie bouddhique de l'lnde (Paris 1900 und 1905). Les bas-reliefs du stüpa
de Sikri (Gandhära) (Journal asiatique Sept. Oct. 1903). Zur alten Erdkunde
gehört: Notes sur la g^ographie ancienne du Gandhära (BuUetin de l'Ecole
fran^aise d'EztrSme-Orient, Hanoi 1902), während eine populäre, aber auch Fach-
leuten wertvoUe Reisebeschreibung vorliegt in: Sur la fronti^re indo-afghane
(Paris 1901).
534 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
nügender Kenntnis der Texte das rechte Verständnis der illustrativen
Reliefs abging, macht sich in Grünwedels sonst bahnbrecbeoder
Arbeit^) die Dürftigkeit des dem Verfasser zu Gebot stehenden
Materials an mancher Stelle auf das empfindlichste geltend.
Infolge des vom indischen Standpunkte aus lobenswerten Be-
strebens der englischen Regierung die in Indien gefundenen Alter-
tümer im Lande zu behalten, sind die dortigen Museen auf diesem
Gebiet viel reichhaltiger ausgestattet als die europäischen. Die
Sammlungen von Calcutta und Lahore sind besonders urnüangreich,
aber weder die letztere noch die Sammlungen zweiten Ranges (Bombay,
Madras, Delhi, Rangoon) sind katalogisiert^), während nur die wich-
tigsten Exemplare davon durch Abbildungen zugänglich gemacht
sind.^) Außerdem gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl Skulpturen,
die in Privatbesitz gelangt und größtenteils der Wissenschaft ver-
loren gegangen sind. Die kleine aber treffliche Sammlung im Offizier-
kasino zu Mardän (Peshävar-Distrikt) enthält einige Exemplare aos-
geprägtester klassischer Beseelung (vgl. Foucher, Fig. 155, 156, 162).
Dank seiner indischen Reise ist es Foucher gelungen, das sämtliche
Material, das überhaupt verfügbar war, für seine Arbeit zu ver-
werten.
Beim Studium der Gebäude, denen die Skulpturen entnommen
sind, war eine Untersuchung in loco geradezu unentbehrlich. Denn
hier macht sich das Mangelhafte der Ausgrabungen in schmerzlichster
Weise geltend. Von den in möglichst unsystematischer Weise und
ohne gehörige Sachkenntnis manu militari ausgeführten Ausgrabungen
ist fast niemals ein Bericht veröffentlicht worden, der auch nur den
leisesten Ansprüchen wissenschaftlicher Forschung Genüge tun könnte.
Foucher hat nicht nur die wohlbekannten Klosterruinen von Takht-
i-Bahai, Jamälgarhl u. s. w. im Distrikte von Peshävar besucht, sondern
auch die damalige militärische Okkupation des oberen Svät-Tales zu
einer Besichtigung der dortigen Ruinen benutzt. Ein längerer
Aufenthalt in Kashmir hat ihn dazu veranlaßt, auch die dortigen
brahmanischen Tempel zum Vergleich heranzuziehen. Außerdem tritt
1) Buddhistische Kunst in Indien. Zweite Auflage, Berlin 1900 (englisch
hearheitet von James Burgess, Buddhist art in India, London 1901) und Zar
buddhistischen Ikonographie (Globus Bd. LXXV Nr. 11).
2) Auch der von J. Anderson verfaßte Katalog der in Calcutta befindlichen
archäologischen Sammlungen (1883, zwei Bände) genügt kaum den Bedürfnissen
der Wissenschaft.
3) In dieser Hinsicht hat besonders James Burgess die gelehrte Welt «u
Dank verpflichtet durch seine Ancient monuments in India (London 1897) und
The Gandhära sculptures im Journal of Indian art and industry, Band VUJt,
Nr. 62—63 (1898) und Nr. 69 (1900).
A. Foucher, L*art grdco-boaddhique du Gandhära 535
besonders im zweiten Abschnitt des vorliegenden Werkes klar zutage,
von wie großem Werte die aus eigener Anschauung geschöpfte
Kenntnis von Land und Leuten für das richtige Verständnis der
kiinstlerischen Leistungen sowohl als auch für die Deutung der
Details plastischer Darstellung gewesen ist. Auf Schritt und Tritt
verspürt man die belebende Wirkung jener indischen Wanderjahre.
Die stattliche Reihe trefflicher, teilweise vom Verfasser an Ort
und Stelle aufgenommenen Abbildungen wird jedermann zu würdigen
wissen. Es ist klar, daß in einer Arbeit wie der vorliegenden zu-
verlässige, d. h. photographische, Reproduktionen möglichst vieler
Kunstwerke von großer Wichtigkeit sind. Außer einer Menge größten-
teils unveröffentlichter Gandhäraskulpturen finden sich in Fouchers
Buche eine Anzahl Bilder von plastischen Darstellungen, die ent-
weder der älteren indischen Schule oder der späteren buddhisti-
schen Kunst angehören. Schon Grünwedel hat in seinem oben er-
wähnten Handbuche durch Vergleichung mit ostasiatischen Kunst-
werken manches interessante Resultat erzielt. Foucher jedoch hat
besonders auf die Berührungspunkte der Gandhäraschule mit den
anderen nationalindischen Schulen hingewiesen.
Die Einleitung (S 1—44), welcher ein Vorwort nebst erschöpfender
Bibliographie vorangeht, enthält eine geographische Skizze (§ 1), eine
Uebersicht der Ausgrabungen (§ 2), der Sammlungen (§ 3), eine
Kritik der Dokumente (§ 4) und eine klare Darstellung der von
diesen gebotenen Probleme (§ 5).
Das Werk selbst zerfällt in zwei Abschnitte, von denen der erste
(S. 45—201) den Bauwerken, der zweite (S. 202—626) den Reliefs
gewidmet ist. Im ersten Abschnitt werden die drei Haupttypen
buddhistischer Architektur auf eingehende Weise behandelt, nämlich
der Stapa (Grabhügel), der Vihara (Tempel) und der Sanghäränia
(Kloster). Den Stiipa charakterisiert der Verfasser in seiner doppelten
Bedeutung, erstens als Grabmal und zweitens als Denkmal. Sodann
folgt eine klare Darstellung der Entwicklung dieses zwar nicht aus-
schließlich buddhistischen, aber doch für den Buddhismus so be-
zeichnenden Bauwerks aus der primitiven Halbkugelform der Maurya-
periode bis zu den turmartigen Bauten, die im gewaltigen Stüpa des
Kaniska zu Puru^apura (dem heutigen Peshävar) ihren Höhepunkt
erreichten. Unweit dieser Stadt ist es dem Verfasser gelungen, die
dürftigen Trümmer jenes von den chinesischen Pilgern hochgepriesenen
Prachtbaues wiederzufinden. Zum Schluß wird eine Stelle aus dem
Bivyavadüna angeführt, welche die Sanskritnamen der verschiedenen
Teile des Stüpa enthält und demnach die Folgerung bestätigt, daß
der Stüpa wesentlich auf indischem Boden entstanden ist.
586 Gott gel Anz. 1906. Nr. 7
Dasselbe gilt vom Vihära. Mit diesem Aasdruck wird sowohl
die Zelle des Mönches als der zur Aufnahme der Statue bestimmte
Tempel bezeichnet.^) Daß die erste Bedeutung die ursprüngliche ist,
geht aus der Tatsache hervor, daß in den ersten Jahrhunderten des
Buddhismus Abbildungen des Religionsstifters völlig unbekannt warot
Alle bis jetzt zugänglichen Dokumente weisen darauf hin, daß es die
hellenistischen Künstler von Gandhära waren, die den Buddhatypus
ins Leben riefen. Für den Bedeutungsübergang des Wortes vihära
kann Sanskrit, gandhakuß (wörtlich > Duftgemach <) verglichen werden,
das ursprünglich eine bestimmte Kapelle im berühmten Jetavana zu
Srävasti war, die Buddha bei Lebzeiten als Wohnung diente, nachher
jedoch ganz allgemein einen Tempel bezeichnet, der ein Bild Buddhas
enthält.^) Ebenso wie das Wort vihära wird es niemals zur Be-
zeichnung brahmanischer Tempel verwendet, wiewohl diese von den
buddhistischen architektonisch nicht verschieden waren.
Das für das Studium des Vihära verfügbare Material ist überaus
dürftig. In der Ebene lassen sich kaum Beste buddhistischer Tempel-
bauten nachweisen. Die besterhaltenen im Gebirge sind die längst
bekannten von Takht-i-Bahai , denen der Verfasser einzelne schöne
Exemplare aus dem Svät-Tale hinzugefügt hat.
Die Analyse des Vihära gehört zu den geistvollsten Darlegungen
des vorliegenden Werkes. Der Verfasser leitet den Ursprung dieser
Baugattung von der indischen Einsiedlerhütte [Skr. parnasäla^] ab,
welche in der Tat, so wie sie auf den Gandhäraskulpturen selbst
und sonstwo abgebildet wird, mit der primitiven Form des Vihära
mit einfacher Kuppel auffallend übereinstimmt. Von dieser kann die
nächste Form mit doppelter Kuppel ohne Mühe abgeleitet werden.
Außerdem aber finden sich Vihäras mit Spitzdächern vor. Nach
Foucher gehören diese ursprünglich den Regionen des Schneegebirges
an, wo eine solche Form durch das Klima bedingt war. Der enge
Zusammenhang zwischen Himalaya- und Gandhära -Architektur wird
sodann weiter ausgeführt in einer Digression über die Tempel von
Kashmir. Wiewohl brahmanisch und einem beträchtlich späteren
Zeitalter angehörend (der älteste uns erhaltene, der berühmte Tempel
1) Die Grundbedeutung des Wortes wie die des synonymen äränui ist »Lnsi-
garten«. Wurden doch solche parkähnliche Anlagen von wohlhabenden Laien
Buddha und seiner Gemeinde zum Aufenthalt geschenkt.
2) In dieser Bedeutung kommt es unter anderen vor in der zu Sämäth bei
Benares gefundenen Inschrift von Mahipäla. Vgl. Hultsch in Indian Antiqaaiy,
Band XIV (1885), S. 139 flf.
3) Auf Ceylon hat das Wort part^asälä sich erhalten zur Bezeichnung
Mönchzelle. Spence Hardy, Eastern Monachism p. 129.
A. Foucher, L'art gr^co-bouddhique du Gandhära 537
des Lalitäditya zu MärtäpcJ wurde um 700 n. Chr. gebaut), weisen
diese Tempel dieselben Eigentümlichkeiten auf wie die von Gandhära :
das zugespitzte Dach, das dreieckige Pediment kombiniert mit dem
aus drei Halbkreisen zusammengesetzten Bogen und klassischen
PUastern. Dieser Abschnitt ist illustriert mit Bildern des Tempels
von Pändrenthan >der alten Hauptstadt« (Skr. Puranodhi^thana) und
der weniger bekannten Tempel von Lädu und Närastän, von denen
der letztere im Jahre 1891 von M. Ä. Stein ausgegraben wurde.
Interessant ist die Decke des Tempels von Pändrenthan (hier fürs
erstemal photographisch abgebildet) wegen ihres ausgeprägten Holz-
stils. Im benachbarten Gebirgsstaate Chamba haben die ältesten
hölzernen Tempel; die mutmaßlich mit dem Tempel von Märtäpd
gleichzeitig sind, in der Tat Decken, welche jener in Konstruktion
und Ornamentik ganz ähnlich sind.
Die dritte Gattung buddhistischer Bauten kann aus der vorher-
gehenden unmittelbar abgeleitet werden. Das Kloster (saiighäränta)
besteht nämlich aus Reihen von Vihäras (in der doppelten Bedeutung
dieses Wortes), welche um einen viereckigen Hof gruppiert sind.
Der Typus dieser Gebäude ist demnach dem der muhammadanischen
Karavansarais und der Dharmsäläs des heutigen Indiens ganz ähnlich.
Wir wissen, daß auch ihrem Zwecke nach sie diesen Gebäuden ent-
sprachen, insofern als sie Pilgern und andern Mitgliedern der Ge-
meinde Herberge boten. Andererseits steht der Sanghärama in engem
Zusammenhang mit dem Stüpa, da ja die Insassen des ersteren für
ihren Unterhalt von letzterem abhängig waren.
In den Ebenen von Gandhära lassen sich nur sehr wenige
Klosterruinen nachweisen. Den von Foucher gegebenen Beispielen
kann ich noch eins von Tahkäl bei Peshävar hinzufügen, das im
Jahre 1875 von den Leutnants Crompton und Haslett ausgegraben
wurde. Leider ist der veröflfentlichte Bericht so summarisch wie
irgend möglich. Ausführlichkeit wäre hier um so mehr erwünscht
gewesen als, wie bekannt, mehrere Skulpturen von jenem Orte her-
stammen, unter denen sich der sogenannte Indoskythenkönig (in
Wahrheit wohl ein Vaiäravana) im Museum von Lahore befindet. In
den Bergen sind die Klöster viel zahlreicher oder wenigstens besser
erhalten. Zu den wichtigsten gehören die von Takht-i-Bahai, Jamäl-
garhi, Tarali, Sikri und Räpigat. Die vom Verfasser neu veröffent-
lichten Abbildungen zusammen mit den schon sonst bekannten Plänen
veranschaulichen den höchst komplizierten Charakter dieser Bauten.
Das geschichtliche Aufeinander ihrer Struktur im einzeln zu verfolgen
wäre vielleicht zur Zeit der Ausgrabungen möglich gewesen. Aber
die Gelegenheit dazu ist für immer verloren gegangen. Jedenfalls
638 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
ist es dem Verfasser gelungen, den Kern der Gruppen von Takht-i-
Bahai und Jamälgarhl herauszuschälen und ihren allmählichen Zu-
wachs klarzustellen. Foucher versucht ferner den Zweck der einzelnen
Gebäude in diesen Gruppen zu bestimmen, und weist die für die
Sabbathzusammenkünfte gebrauchte Halle (Skr. Uposathäyära) mit
großer Wahrscheinlichkeit nach.
Daß die Behandlung der Monumente der der Skulpturen voraus-
gehen muß, geht aus der Tatsache hervor, daß die letzteren zur
Dekoration der ersteren dienten. Ihre Stelle genau zu bestimmen
ist überaus schwierig, da mit verschwindenden Ausnahmen wie den
Jätakareliefs von Jamälgarhi und den Metopen von Sikri die Skulp-
turen niemals in situ gefunden wurden. Ebenso hat man bei den
Ausgrabungen fast nie den Fundort notiert. Glücklicherweise besitzen
wir zwei Exemplare von Miniaturstüpas, eins von Gandhairi und das
andere von Loriyän Tangai im Svät-Tale [die Rekonstruktion des
ersteren scheint zwar nicht ganz gesichert ^)], die uns erlauben, auch
die größeren Gebäude dieser Gattung in Gedanken zu rekonstruieren.
Wir sehen, daß in diesen Mimsitixr-Sttqxis die Reliefs teils den bild-
nerischen Schmuck der Friese ausmachen, teils an den vier Seiten
der Kuppel angebracht sind, während Halbfiguren von Elephanten,
Löwen und Kentauren um das Postament herum aufgestellt sind.
Im allgemeinen kann angenommen werden, daß die Reliefs zur Aus-
schmückung des Stüpa dienten, während die Statuen in den Tempeln
aufgestellt waren. In diesem Zusammenhang wird auch die Stack-
verzierung berücksichtigt, wovon auf den Monumenten von Gandhära
deutliche Spuren vorhanden sind.
Als Endresultat der baugeschichtlichen Erörterungen ergibt sich
die Tatsache, daß die Gebäude wesentlich indisch sind. Erst in
ihren dekorativen Teilen macht sich der klassische Einfluß geltend.
Die von Foucher gegebene Erklärung dieser Tatsache ist ganz ein-
leuchtend. Während es zum Bau einer ganzen Menge verschiedener
Handwerksleute bedurfte, konnten die dekorativen Arbeiten recht
wohl von einem einzelnen Künstler geleitet werden. Eine interessante
Parallele hierzu bieten die Bauten der mongolischen Herrscher des
späteren Indiens, die in ihrer Dekoration europäischen Einfluß ver-
1) Vgl. Burgess, Buddhist art, S. 155. Dr. Bloch meint, von einer Rekon
Btruktion sei kaum die Rede. >Mr. Caddy, der diesen Stüpa zu8ammensetzte<
schreibt er, > verfuhr ganz willkürlich und benutzte beliebig zusammengeholtes
Material um ein Gebäude zu errichten, das ungefähr der aUgemeinen Idee ent-
spricht, die man sich von dem Plane eines Stüpa bilden kann. £ine Zusammen-
gehörigkeit zwischen den einzelnen Teilen dieser Komposition besteht nicht«
A. Foucher, L'art gr^co-bouddhique du Gandhära 539
raten, nicht aber - obwohl auch dieses behauptet worden ist — in
ihrer Struktur.
Was nun den fremden Einfluß in den Skulpturen Gandhäras
anbelangt, so geht schon aus dem Titel des vorliegenden Werkes
hervor, daß nach Fouchers Ansicht an griechischen, d. h. hellenistischen
und nicht, wie Vincent Smith meinte, an römischen Einfluß zu denken
ist. Hierfür spricht schon die geographische Lage des Zentrums
dieses Einflusses. Denn diese Kunst ist auf die dem hellenisierten
Asien zugekehrten Grenzländer Indiens beschränkt, wiewohl ihre
Nachwirkung sich in viel weiterer Ferne, ja sogar in der ganzen
ostasiatischen Kunst spüren läßt. Der Umstand, daß die Kunst von
Gandhära mit der von Rom im ersten und zweiten Jahrhundert
n. Chr. gewisse von Smith hervorgehobene Berührungspunkte besitzt,
soll uns nicht irreführen. Foucher hat zweifellos recht, daß in solchen
Fällen Ableitung von einer gemeinsamen, vermutlich kleinasiatischen,
Vorlage anzunehmen ist. Es sei den Kennern der hellenistischen
Skulptur empfohlen, dies im einzelnen nachzuweisen.
Im zweiten Abschnitte seiner Arbeit behandelt Foucher erst die
rein dekorativen und dann die für die Geschichte des Buddhismus
wichtigen illustrativen Reliefs. Unter den dekorativen Elementen
hebt er zunächst solche hervor, deren einheimischer Ursprung fest-
steht, wie Darstellungen von Löwen und Elephanten, sowie die phan-
tastischen Gestalten des Makara (Meerelephanten), Kmnara (Harpye)
und Suparna (Greife). Die dem Pflanzenreich entnommenen Motive
zeigen uns den Pipal-Bsnim (Ficus religiosa), der für die Buddhisten
als Baum der Erkenntnis besondere Bedeutung hatte, die Heckenrose,
noch heutzutage die Zierde der Gärten von Peshävar und Mardän,
und die in der ganzen indischen Kunst so überaus beliebte Lotus-
blume. Die Rebe wächst in den benachbarten Tälern des Kabul-
flusses und in Kashmir. Die Palmette, welche schon auf den ältesten
Denkmälern Indiens vorkommt, ist wohl assyrischem Einfluß zuzu-
schreiben.
Dagegen sind fast alle architektonischen Elemente, die zur Ver-
zierung der Gandhärabauten verwendet wurden, hellenischen oder
iranischen Ursprungs. Besonders beliebt sind die indokorinthischen
und indopersischen Pilaster, von denen die letzteren schon der älteren
indischen Kunst angehören. Hatte doch schon GrünwedeP) hervor-
gehoben, »daß sich Ansätze des griechischen Einflusses schon in den
Bauten ASokas vorfinden in gewissen Formen, zu deren Erklärung
weder der Formenschatz der sogenannten orientalisierenden Richtung,
1) Buddhistische Kunst, 2. Aufl., S. 79.
A. Foucher, L'art gr^co-bonddhiqae da Gandhin ^
Mathurä einen Stüpa anbeten, sind von Bübler^) als KiiiiiianMi m^
SuparQas gedeutet. Besonders merkwürdig ist, daß wir die zmtm-
haften Atlanten, welche offenbar aus den Eroten des heUenirtitdMfi
Zeitalters entstanden sind, noch in der späteren indischen Kirnst
Bih Maras (d.h. Liebesgötter) bezeichnet finden.^) Hingegen können
dergleichen Wesen als Begleiter Euberas nur Yak^s bedeuten.
Bei der Behandlung der nicht ausschließlich dekorativen Reliefs
(Kapitel V— IX) bemerkt Foucher in erster Linie, daß dieselben ohne
Ausnahme buddhistisch und dem Leben des Religionsstifters ent-
nommen sind. Mir ist nur ein Relief (Lahore No. 2265) bekannt,
das, streng genommen, eine Ausnahme macht. Es stellt das Parinir-
vamx Änandas dar, das nach dem Tode Buddhas stattfand. Doch
gehört das Verscheiden des geliebten Jüngers wesentlich zum Buddha-
zyklus. Es ist merkwürdig, daß die Präexistenzen Buddhas, die den
Künstlern der Mauryaperiode so willkommenen Stoff boten, kaum dar-
gestellt sind, trotzdem wir wissen, daß die Jatahas sich auch im
Nordwesten Indiens großer Popularität erfreuten. Der chinesische
Pilger Fa-Hien berichtet von vier großen Stüpas des nördlichen
Indiens, deren Errichtung gerade mit vier Jätakalegenden in Ver-
bindung stand. Wiewohl die genaue Lage dieser Denkmäler noch
nicht mit Gewißheit nachgewiesen ist, ist es doch zweifellos, daß sie
in Gandhära und benachbarten Gegenden (Udyäna) zu suchen sind.
Foucher betont besonders die Abwesenheit von Abbildungen
solcher Jatahas, in denen der zukünftige Buddha in tierischer Gestalt
auftritt. Das einzige bis jetzt bekannte Beispiel in der gräcobuddhi-
stischen Kunst ist die Geschichte vom Elephanten mit den sechs Hau-
zähnen (Saddantajätaka) auf einem Fragmente im Museum von Lahore.
Es ist möglich, daß Foucher Recht hat, die Abneigung gegen solche
Szenen aus künstlerischer Selbsterkenntnis zu erklären. Aber es
mag auch daran erinnert werden, daß nicht nur in Barähat (Bharhut)
und Gayä, sondern auch in Mathurä die Jätakas fast ausschließlich
auf den Pfeilern, Querbalken und Toren der Steinzäune vorkommen.
Die Stüpas von Gandhära waren, soviel wir wissen, nicht mit solchen
Steinzäunen versehen (vgl. aber Foucher, S. 68.) Es ist femer be-
merkenswert, daß die Reliefs von Jamälgarhi, welche das Visvantara-
und Syäma-jcUaka darstellen, nicht einen Stüpa, sondern eine Treppe
schmückten. Das Fragment des Saddantajätaka, obwohl nicht in situ
gefunden, muß einem ähnlichen Zwecke gedient haben. Diese Folge-
rung geht, wie Foucher richtig bemerkt, aus dem Umstände hervor,
daß die Szenen hier einander von links nach rechts folgen. Auf
1) Epigraphia Indica, Bd. II, S. 319.
2) Foucher, Iconographie bouddhique (Paris 1905), S. 17.
Q6ii. gol. Anz. 1906. Nr. 7 38
642 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
Friesen, die zu Stüpas gehören, finden wir stets die umgekehrte
Reibenfolge. Diese für die Deutung der Reliefs überaus wichtige
Tatsache erklärt der Verfasser in einleuchtender Weise aus dem
bekannten Gebrauch, beim Umwandeln eines Kultobjekts diesem immer
die rechte Seite zuzuwenden (Sanskrit. pradaJc^inJ hartum). Daß
Fouchers Erklärung die richtige ist, beweist der Umstand , daß die
Reliefs, welche auf der Innenseite des Steinzaunes von Amarävati
vorkommen und also links vom Beobachter sind, einander von links
nach rechts folgen.
Außer den drei bereits genannten Jatakas, welche in Gandbira
nur einmal belegt sind, gibt es ein viertes, das in der graco-
buddhistischen Kunst ungemein häufig vorkommt. Es ist das
DtpanJcarajataka, in welchem uns der künftige Buddha ^kyamuni
in der Gestalt eines Brahmanenjüngers, Megha oder Sumedha genannt,
begegnet, der von Dlpankara, dem Buddha jenes längst verschwundenen
Zeitalters, die Weissagung seiner dereinstigen Größe als Erlöser der
Menschheit erhält. Aus diesem Grunde wurde, scheint es, dieses
Jataka fast als eine Episode aus der letzten Existenz Säkyamunis
betrachtet. Die Behandlung dieses Jataka in der gräcobuddhistischen
Kunst ist von besonderem Interesse, weil sie ein klares Beispiel von
der Wiederholung derselben Person in einem und demselben Bild-
werke bietet. Solche primitive Darstellung ist in der älteren indischen
Kunst ein ganz gewöhnliches Kunstmittel. Für Gandhära jedoch
konnte seiner Zeit selbst ein Kenner wie GrünwedeP) behaupten,
daß solche Folgeszenen hier unerhört seien. Daß diese Angabe nicht
ohne beträchtliche Einschränkungen zulässig ist, geht aus den von
Foucher angeführten Beispielen hervor, unter denen das Dipankara-
jataka besonders charakteristisch ist. Auf gewissen Repliken finden
wir den Bodhisattva nicht weniger als viermal abgebildet; erst die
Lotusblumen kaufend, dann sie dem Dipahkara zuwerfend; hierauf
wie er diesem zu Füßen fällt und schließlich wie er sich in die Luft
erhebt, um die Weissagung aus dem Munde seines Vorgängers zu
empfangen.
In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, die Frage zu
berühren, inwiefern die Figur des Megha mit der Wasserkanne und
dem Lotusstrauße die Entstehung der Typen gewisser Bodhisattvas,
besonders des Maitreya und Padmapä^i beeinflußt haben mag. Wie
bekannt, sind diese beiden in der späteren Kunst die steten Begleiter
des Buddha Säkyamuui. Aber schon in Gandhära finden sich Bei-
spiele solcher Gruppen eines zwischen zwei Bodhisattvas sitzenden
Buddhas vor, wobei die ersteren durch die Wasserkanne und den
1) Op. cit. S. 91.
A. Foucher, L'art gr^co-bouddhique da Gandhära 543
Lotusstrauß als Maitreya und Avalokiteävara gekennzeichnet sind.
Es ist bemerkenswert, wie sehr der lockige Megha-Sumedha mit der
Wasserkanne (welche ihm als Brahmacärin zukommt) dem Maitreya
gleicht. Auch ist es von Interesse, daß einer Version der Sage nach
Megha der Schüler des Ratna genannt wird, welch letzterer wiederum
für eine präexistente Form Maitreyas gilt. Sollte hier wie sonstwo
Einfluß der Plastik auf die Legende anzunehmen sein? Aber es wäre
unnötig, hier auf solche Probleme einzugehen, die, wie wir hoffen,
der Verfasser im zweiten Bande seines Werkes erörtern wird.
In der Behandlung der Szenen aus dem Leben ^äkyamunis folgt
Foucher soviel wie möglich der biographischen Ordnung. Wir haben
also erstens sein Leben als prädestinierter Buddha oder Bodhisattva,
wobei die Präexistenzen in den schon erwähnten Jätakas mit ein-
begriffen sind, zweitens die Erlangung der Erkenntnis, drittens sein
Leben und Wirken als vollendeter Buddha und viertens seinen Tod oder
Parinirvana. In dieser Weise gewinnen wir eine vollständige Illu-
stration der Buddhalegende, wie sie im ersten Jahrhundert in Gandhära
geläufig war. Offenbar war den Bekennern jenes Zeitalters das
Leben des Meisters noch über alles wichtig. Das geht nicht nur aus
der Mannichfaltigkeit und Frische der dargestellten Szenen hervor,
sondern besonders auch aus der wichtigen von Foucher klargestellten
Tatsache, daß die Künstler von Gandhära nicht wie die von Java
nach einem bestimmten Texte arbeiteten, sondern ihre plastische
Darstellung der Legende mündlicher Ueberlieferung entnahmen.
Andererseits zeigt der Verfasser, wie ihre Arbeit die Weiterent-
wicklung der Legende beeinflußt haben muß. Am deutlichsten tritt
dieser Einfluß im Buddhacarita hervor, das etliche Stellen enthält,
die sich fast als Beschreibungen gewisser Reliefs dartun. Zwar soll
zugegeben werden, daß der Nachweis dieses Einflusses unumgänglich
viel hypothetisches enthält. Jedermann aber, der wie Foucher das
heutige Indien kennt, kann nicht umhin zu beobachten, wie manchmal
plastische Darstellungen religiöser Gegenstände von Seiten Unwissender
mißverstanden und mißgedeutet werden. Im alten Indien war es
gewiß nicht anders.
Jedenfalls haben wir ein zulässiges Mittel zur Erklärung sonst
rätselhafter Züge in der späteren Legende erworben. Die von
Foucher angeführten Beispiele sind einleuchtend. Die Gegenwart
Mäyäs am Todesbette ihres Sohnes, die dem Pali-Texte unbekannt,
aber von Hiuen Tsiang für das siebente Jahrhundert belegt ist, wird
von Foucher aus einem Mißverstehen der Dryaden abgeleitet, welche
die Künstler Gandhäras öfters im Laube der Sälabäume darstellen.
So dürfte es auch dem Einflüsse der Skulpturen zuzuschreiben sein*
38*
544 Gaft. gel Anz. 1906. Nr. 7
daß die Herabkunft des weifien Elephanten in der ursprünglichoi
Fassung als ein von Mäyä gesehenes Traumbild gedacht, später jedod
als ein tatsächliches Ereignis aufgefaßt wurde.
Es wäre überflüssig, in dieser Anzeige alle von Foucher be-
handelten Szenen. aufzuzählen. Ein gewisse Zahl war schon vorher
identifiziert. In einigen Fällen werden frühere MiOdeatnngen ver-
bessert (z. B. Fig. 227). Aber ganz bedeutend ist die Zahl der
Reliefs, die jetzt zum ersten Male erklärt werden. Unter den inte^
essantesten möchte ich bloß die folgenden hervorheben : die Bekehrong
des Nanda, die Gabe einer Handvoll Erde seitens des känftigen
ASoka, Änanda und die Mätangi, die Geburt des Jyoti$ka^) and die
Teilung der Reliquien Buddhas durch den Brahmanen Dro^a. Ich
finde unter den von Foucher vorgeschlagenen Identifizierungen keine,
die beanstandet werden kann. Zwar gibt es Fälle, in welchen der
Verfasser selbst seine Ansicht als zweifelhaft darstellt. Aber da liegt
die Schuld wohl am Bildhauer oder vielmehr am Besteller, der diesem
eine unmögliche Aufgabe zu lösen gab. Waren es doch öfters gerade
die erbaulichsten Episoden, die am schwersten plastisch darzasteUen
waren. In solchen Fällen war der Künstler zur Anwendung gewisser
Embleme genötigt, die in der älteren Schule geradezu unentbehrücb
waren. In dem Gebrauche solcher Symbole zeigt sich auch die griico-
buddhistische Kunst wesentlich indisch. So finden wir zum Ausdruck
der Predigt im Gazellenhain zu Benares, wo Buddha >das Rad der
heiligen Lehre zu drehen anfing<, das Gesetzesrad mit ein oder zwei
Gazellen. Die letzteren waren offenbar der Gandhära- Kunst eigen-
tümlich, während das Rad nach Fouchers Ansicht schon in der älteren
Kunst die erste Predigt symbolisierte. Diese Angabe ist durch einen
der wichtigsten Funde bestätigt worden, die in den letzten Jahren
auf archäologischem Gebiete in Indien gemacht wurden. Die zu
Särnäth an dem Orte des ehemaligen Gazellenparks aufgefundene
Aäokasäule war von vier in persopolitanischer Weise zusammen-
gefügten Löwen gekrönt, welche das Gesetzesrad trugen. Zweifellos
war diese Säule das Vorbild des von Foucher angeführten Mah&bodhi-
1) Ich benutze die Gelegenheit zu bemerken, daß das diese Szene darstdlende
Fragment (Fig. 260) von Major F. C. Maisey bei Dargai gefunden wurde and dem
Museum von Lahore als No. 1560 angehört. Die Figuren 129, 229, 291 and SOO
sind No. 1493, 1182 (oberes Fries), 2137 und 2030 desselben MuseomB. No. 1498
und 1182 wurden von Leutnant Maxwell zu Karamär ausg^raben. No. 2137 und
2030 gehören zu der Sikri-Sammlung des Oberst Deane. Die aaf Fig. 79 wieder-
gegebene Stele ist nicht No. 1335 sondern 1135 des Museums von Lahore. Sie
wurde mit No. 1134, 1136 und 1137 vom Ingenieur L Dempster bei der Grabmig
des Svät-Kanals (1881—1884) entdeckt.
A. Foucher, L'art gr^co-boaddhique da Gandhära 546
Medaillons (Fig. 221), und er ist also völlig berechtigt, in diesem
Medaillon eine Darstellung der ersten Predigt Buddhas zu sehen.
Auch bei der Beschreibung derjenigen Szenen, die schon längst
identifiziert waren, bietet Fouchers Buch viel neues. Besonders ist
dies im Zyklus des Parinirvana zu beobachten. Einige dieser Reliefs,
wie das von Loriyän Tangai im Museum von Calcutta, enthalten eine
Menge Figuren, deren Deutung nur durch Vergleichung der ver-
schiedenen Repliken mit den Texten, besonders dem MahäparinibbänO'
stäta, gelingen kann. Auf diesem Wege ist es Foucher gelungen,
weit über die Erklärungsversuche seiner Vorgänger hinauszugehen.
Es wäre unrecht, zu verkennen, daß gewisse Irrtümer, die Grünwedels
Behandlung dieser Szenen anhaften, und die schon teilweise von
James Burgess verbessert worden sind, der schon oben angedeuteten
Geringfügigkeit seines Materials zuzuschreiben sind. Doch war er
kaum berechtigt, Personen wie Mära und den Boten Yamas zur
Deutung heranzuziehen, da sie doch den Texten gänzlich fehlen.
Zwar war seine Erklärung der Figur, die regelmäßig mit unter-
geschlagenen Beinen vor dem Lager des Sterbenden sitzt, auf das
Zeugnis der Texte gegründet. Doch muß ich Foucher beipflichten,
wenn er in ihr Subhadra sieht, nicht eine Wiederholung der Buddha-
figur in dem hypnotischen Zustande, der seinem Tode unmittelbar
voranging. Der Pali-Text läßt uns nicht im Unklaren darüber, wie
hoch in der Wertschätzung der buddhistischen Kirche gerade diese
letzte Bekehrung Subhadras kurz vor dem Tode des Meisters ge-
standen hat. Auch berichten die chinesischen Pilger von einem
Denkmal in Eusinärä, das mit dem Namen Subhadras verknüpft war.
Es folgt hieraus, daß auf den Reliefs, die das Parinirvana dar-
stellen, Subhadra nicht nur nicht fehlen konnte, sondern eine hervor-
ragende Stelle einnehmen mußte, wie es gerade bei der von Foucher
als Subhadra gedeuteten Figur der Fall ist. Eine ähnliche Figur
befindet sich auf der kolossalen Statue des sterbenden Buddhas zu
Kasia, d. h. eben da, wo wir den ^älahain von Eusinärä zu suchen
haben, in dem, der Tradition nach, der Tod des Meisters stattfand.
Diese Statue, ein von Hiuen Tsiang erwähntes Werk des fünften
Jahrhunderts, wurde auf Anweisung Cunninghams im Jahre 1875
wiederentdeckt und ist seitdem das Ziel buddhistischer Wallfahrten
geworden. Nun ist es bemerkenswert, daß auch die birmesische
Tradition die besprochene Figur als Subhadra erklärt. Daß es nicht
eine Wiederholung des im Zustande der Auflösnng befindlichen Buddha
sein kann, geht, wie Foucher richtig bemerkt, schon aus dem kahl
geschorenen Kopfe der Figur hervor. Die Erhöhung auf dem Scheitel,
welche Grünwedel für den Schädelknochen (ü^T^) ansah, der Buddha
546 G«tt gel Ans. 1906. Nr. 7
kennzeichnet, ist in der Tat die Scheitellocke (sanskrit. cüda, itlAj;
im Hindi cötf), die ihren Träger wohl als Brahmanen, jedenfalls als
Nicht -Buddhisten charakterisieren soll. Außerdem unterscheide ich
auf den Reliefs noch ein Symbol, das ich auf diese Figur beziehen
möchte. Es ist dies ein an drei Stöcken befestigter Wasserkrug, der
immer vor dem Bette des Sterbenden aufgestellt ist. Foucher nennt
es einen Flaschenkühler, der andeute, daß wir uns an einem Kranken-
lager befinden. Es ist jedoch fraglich, ob es nötig war, dem Be-
schauer diese Tatsache durch ein derartiges Symbol besonders anzu-
deuten. Scheint es nicht natürlicher, diesen Gegenstand, der immer
(auch in Kasia) an der Seite Subhadras aufgestellt ist, vielmehr auf
diesen zu beziehen und in ihm eine Andeutung dessen zu sehen, daß
Subhadra zur Sekte der Traidundahi (Dreistöckler) gehörte? Der
Pali-Text nennt Subhadra jedenfalls einen paribbajaka. Nach einer
Mitteilung Dr. Blochs bleibt die als Subhadra erklärte Figur auch
auf den Parinirväna-Darstellungen aus der letzten Phase der indisch-
buddhistischen Kunst, aus der Zeit der Päla-Könige von Magadha,
erhalten, wo sonst doch alle Nebenfiguren in der Regel weggelassen
sind. Auch der Dreistock mit dem Wasserkruge findet sich dort.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Figur besprechen,
die auf einigen Repliken zu Füßen des sterbenden Buddhas steht,
und von Grünwedel als der Bote des Todesgottes gedeutet worden
ist. Foucher verwirft mit Recht diese Hypothese, weiß sie aber
nicht durch eine völlig genügende Erklärung zu ersetzen. Nun sind
die folgenden drei Punkte zu beachten : die Figur trägt eine Kappe,
hält einen Stab oder ein Stabbündel in der linken Hand und hat
sich mit einem der das Lager umgebenden Mönche in ein Gespräch
eingelassen. Auch in dieser Figur möchte ich Subhadra erblicken
und zwar in dem obiger Szene vorausgehenden Moment, als er
Änanda um Zutritt zum »Sramana Gautama< bat.^) Daß er dem
Meister keinen ehrenden Titel beilegt, kennzeichnet ihn als Un-
gläubigen ( Tirthika), Derselbe Mangel an Ehrfurcht wird wohl auch
dadurch ausgedrückt, daß er sich dem Sterbenden bedeckten Hauptes
naht.^) Was den Gegenstand anbelangt, den er in der Hand halt,
so pflichte ich Foucher bei, daß es der Dreistab (tridanda) ist, und
nicht eine Schlinge, wie Grünwedel wollte. Allein nach dem oben
bemerkten ist es klar, daß dieses Attribut nicht den Mönch Mahäkäiyapa,
sondern den Parivräjaka kennzeichnen muß. Der Mönch, den er an-
1) Es folgt, daß auf Fig. 286 und 286 die Figur ebenso wenig am Platze ist,
wie die Sälabäume auf Fig. 287.
2) I-tsing (Takakusu) S. 22.
A. Foucher, L'art gröco-boaddhiqae da Gandhära. 547
redet und der auf gewissen Repliken ihn herbeizuwinken scheint, ist
Änanda, der ihn auf des Meisters Geheiß an sein Sterbelager ruft.
Zwar bin ich geneigt, mit Foucher Ananda auch in demjenigen
Mönch zu erkennen, der von Schmerz überwältigt zu Boden gestürzt
ist und von einem anderen emporgerichtet wird.^) Wie schon be-
merkt, ist eine solche Wiederholung derselben Person in den Gan-
dhära-Skulpturen keineswegs unerhört. Uebrigens könnte man auch
in engem Anschluß an den Palitext in diesen beiden Mönchen Vor-
stellungen des zweifachen Verhaltens der Jünger Buddhas beim Tode
des Meisters sehen, wie eine Kategorie von Mönchen vom Schmerz
überwältigt sich auf dem Boden wälzte, während [die anderen, die
Vergänglichkeit alles Irdischen erkennend, sogar das Hinscheiden
ihres Lehrers gelassen trugen.
In allen anderen, das Parinirväna betreffenden Punkten bin ich
ganz mit Foucher einverstanden. Es wäre deshalb überflüssig, diese
im einzelnen zu erörtern. Es sei nur noch kurz bemerkt, daß die
Figur mit dem Wedel (sanskrit. cämara), in dem Foucher meines Er-
achtens mit Recht den dem Meister Kühlung zufächelnden Upavä^a
vermutet, auch auf Fig. 284 vorkommt. Wäre es also nicht besser,
auch dieses Relief als eine Darstellung des Todes Buddhas zu deuten?
Unter den Personen, die dem Parinirväna als Augenzeugen bei-
wohnen, befindet sich in der Regel auch jene rätselhafte Gestalt, die
zu so großer Meinungsverschiedenheit Anlaß gegeben hat. Ver-
schieden in Gesichtstypus und Kleidung, aber immer durch sein
Attribut, den Donnerkeil, gekennzeichnet, ist er der stete Begleiter
Buddhas von dem Augenblicke an, wo dieser den väterlichen Palast
verläßt, um die Erkenntnis der höchsten Wahrheit zu erringen. Die
Theorie Cunninghams, nach welcher jene Figur Devadatta, den bösen
Vetter und Widersacher Buddhas, darstellt, ist ganz von der Hand
zu weisen. Zulässiger ist die von Grünwedel anfangs vorgeschlagene
Deutung als Mära, welcher, dem Ävidürenidäna zufolge, Buddha
wie sein eigener Schatten begleitete. Doch bleibt auch bei dieser
Auffassung das keulenartige Attribut, in dem Vincent Smith zuerst
den Donnerkeil (sanskrit. vajra) erkannte, unerklärt. Burgess hat
auch darauf hingewiesen, daß die Stellung des Donnerkeilträgers
mehr beschützend als antagonistisch sei. Sogar auf dem Parinirväna-
relief (Lahore Nr. 1043, Foucher Fig. 281) ist >die spöttische Ge-
berde <, die Grünwedel zu bemerken glaubte, vielmehr der Ausdruck
1) Diese Identifizierung wurde zuerst von Grünwedel gemacht (op. cit. S. 112).
Die beiden Figuren haben sich auf einem Terra-cotta-Fragmente von Sankäsya
(jetzt Sankisa) erbalten Vgl. Cunningham Arch. Survey Report Bd. XI PI IX
Nr. 5.
548 Gott. geL Anz. 1906. Nr. 7
eines Klagenden. Ueberdies ist die JIfcEratheorie aus dem Grande zu
beanstanden, daß Mara anderswo einen ganz verschiedenen Typos
erhält. Hierauf möchte ich aber nicht soviel Gewicht legen, da
Mära auch in den Szenen, wo er mit Sicherheit nachzuweisen ist,
nicht immer dasselbe Aussehen hat. Er erscheint nämlich entweder
in königlicher Tracht als ein Deva oder mit einem Küraß bekleidet,
wozu wohl sein aggressives Vorgehen Anlaß gegeben hat Es ist
merkenswert, daß auf allen bekannten Abbildungen, die den Ausritt
aus Eapilavastu darstellen, ihm der dem indischen Käma wie dem
griechischen Eros eigentümliche Bogen als Attribut beigegeben wird.
Bei seinem Angriffe {MäradlkaraaiuC) aber hat er diese Waffe mit
einem Schwerte vertauscht. Leider sind nur sehr wenig Repliken
dieser Szene bekannt. Dr. Bloch macht mich auf ein Fragment im
Museum von Calcutta aufmerksam, wo Mara auf dem Elephanten
reitend, Pfeile auf Buddha schießt, ganz wie in der national-indischen
Kunst von Magadha und auch in dem von Foucher veröffentlichten
Relief von Kamboja (Fig. 153).
James Burgess verdanken wir eine dritte Theorie, die mir in
mancher Hinsicht den vorhergehenden vorzuziehen scheint. Seine Er-
klärung der Figur als Sakra hat wenigstens den Vorteil, sowohl
dem Donnerkeil ^) als der schützenden Haltung des Donnerkeiltr'ägers
gerecht zu werden. Während Grünwedel sich dieser neuen Theorie
gegenüber halb gewonnen gab, erklärte sich Foucher in einer früheren
Publikation zugunsten der Märahypothese. Seitdem aber hat sich
seine Ansicht geändert. Im vorliegenden Buche verwirft er sowohl
die Mära- als die Sakratheorie und erklärt die Figur als einen
Yaksaräja Vajrapä^i. Ich muß gestehen, daß diese Lösung der Frage
mich nicht völlig befriedigt. Zwar findet sie einen gewisssen Anhalt
an den Texten. Allein diese erwähnen, wie es scheint, diesen YaJc^araja
bloß bei Gelegenheit des ahhini^lcramaTia, und seine stete Gegenwart
an Buddhas Seite bleibt unerklärt. — Dürfen wir nicht auch hier
einen Einfluß der Bildwerke auf die schriftlichen Quellen vermuten?
Die Erwähnung dieses Ydicsaräja Vajrapä^i beim Ausritt aus Ka-
pilavastu, obwohl er in den Texten sonst keine Rolle spielt, könnte
recht wohl einer bildlichen Darstellung jener Szene entnommen sein.
Es scheint nicht unmöglich, daß sein Name eine bloße Fiktion ist,
ein Notbehelf, um eine sonst unverstandene Figur des Bildwerkes zu
deuten. Es ist schon bemerkt worden, daß die Gestalt des Donner-
1) Ich kann Grünwedel (op. cit. S. 40 und 80) überhaupt nicht beistimmen,
dafi der DonnerkeU allen indischen Göttern zukomme. Von vedischen Zeiten an
ist er ausschließUch das Attribut des Donnergottes Indra, den er auch in der
hrahmanischen Ikonographie kennzeichnet.
A. Foacher, L^art grdco-bouddhique da Qandhära 549
keilträgers auf den verschiedenen Reliefs sehr verschieden ist. Darin
liegt bereits eine Andeutung davon, daß die Bildhauer sich über
sein Wesen nicht ganz klar waren. Seine Erscheinung gleicht bald
der eines Satyrn, bald der eines Eros ; aber in einigen der besten und
vermutlich ältesten Reliefs hat er das würdevolle Aussehen eines
Zeus. Hierauf hat schon Grünwedel hingewiesen.^) Zu dem zeus-
ähnlichen Typus paßt auch der Donnerkeil am besten. Wenn aber
die ersten in Gandhära eingewanderten hellenistischen Künstler die
Figur des Zeus zur Darstellung einer indischen Gottheit wählten, so
konnte dieses nur die Gestalt des donnerkeilschwingenden Götter-
königs Indra sein. Aber ebenso gewiß konnte jener Typus bei einem
indischen Publikum niemals auf Erfolg rechnen. Dieser nackte
Mensch, dem nicht nur jeglicher Schmuck, sondern sogar die Kleider
fehlten, sollte den Götterkönig darstellen! Denken wir uns die
Haltung des gelehrten Verfassers des Lalitavistara einer solchen Be-
hauptung gegenüber. Wenn jene Figur überhaupt ein göttliches
Wesen darstellen sollte (was wohl den Reliefs gegenüber — so mußte
er schließen — unleugbar war), so konnte er höchstens ein Ober-
haupt der niedrigen Geister sein. Inzwischen war es jedoch dem
schöpferischen Genius der hellenistischen Künstler gelungen, einen
dem Geschmack des Publikums mehr zusagenden Indratypus ins
Leben zu rufen. Es ist dies der Indra der Mardän-Reliefs, auf denen,
beiläufig bemerkt, der sehr eigenartige Hut noch nicht erklärt worden
ist. Aber auch dieser Typus kommt nur vereinzelt vor — denn auch
hier macht sich die Tendenz nach Ausgleichung geltend — und
schließlich erhält Indra die den andern Göttern gemeinsame Gestalt,
welche sich von der der Könige der Erde bloß durch den Nimbus
unterscheidet. Die älteste in Nachahmung von Zeus geschaffene Figur
Indras büßte zwar mit dem Verlust ihres ursprünglichen Ranges viel
von der Majestät ihrer äußeren Erscheinung ein, hat aber doch in
ihrer sekundären Funktion als Vajrapä^i einen ungeheuren Erfolg
erzielt. Nicht nur blieb dieser Vajrapä^i in den Gandhära-Reliefs
unzertrennlich mit Buddha verbunden, sondern er wurde sogar zum
Bodhisattva und Beschützer des Dharma.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Typen der Gottheiten
— und auch der Buddhatypus bildet hiervon keine Ausnahme — in
der Gandhära-Kunst nicht von vorne herein fixiert waren, sondern
starken Schwankungen unterlagen. Ein anderer Punkt, der, soviel
ich weiß, noch nicht betont worden ist, ist der, daß die Darstellung
der brahmanischen Götter wie Brahma, Indra und Käma in der
gräcobuddhistischen Kunst keinen Zusammenhang mit der national-
1) Globus S. 172 und Baddh. Kunst 'S. 89.
550 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
indischen Ikonographie zeigt. Die Figuren sind rein menschlich. Daß
ihnen die auch sonst vorkommenden Attribute, wie der Wasserkrag,
der Donnerkeil und der Bogen, beigegeben werden, kann leicht aus
mündlicher Ueberlieferung abgeleitet werden.
Ein anderer gleich wichtiger, aber ebenso sehr umstrittener
Punkt ist die Datierung der Gandhära-Skulpturen. Die ersten Ver-
suche zur Lösung dieser Frage gingen meist von einer Vergleichung
mit abendländischen Vorlagen und Parallelen aus. Aber obwohl diese
von Fergusson und Vincent Smith befolgte Methode den späten und
dekadenten Stil dieses Zweiges der hellenistischen Kunst klar darge-
legt hat, ist sie trotzdem außer Stande, die allgemeine Zeit der
Schule, geschweige denn die jedes Werkes im einzelnen, näher zu
bestimmen. Namentlich bietet sie keinen Anhalt, um den ierminus
ad quem festzustellen. Hier gewinnen wir größeren Nutzen von einer
Vergleichung nicht mit den älteren klassischen Vorlagen, sondern
mit den späteren, indischen Skulpturen, die den Einfluß der gräco-
buddhistischen Schule verraten. Emile Senart, dem Fouchers Werk
zugeeignet ist, hat das Problem um einen bedeutenden Schritt der
Lösung näher gebracht durch den Hinweis darauf, daß die Blütezeit
der Gandhära-Skulpturen dem Bau des StRpa von Amarävati, d. h.
der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts vorangehen muß. Foucher
(S. 42) erklärt sich damit einverstanden.
Vielleicht können wir noch etwas weiter gehen. Es ist eines
der größten Verdienste Fouchers (S. 222 und 615), die Stellung,
welche die Mathurä-Schule in der Geschichte der buddhistischen
Kunst einnimmt, ein für allemal festgestellt zu haben. In Mathurä
finden wir nicht, wie Smith und andere behaupten, einen früheren
Ausdruck des klassischen Einflusses, sondern vielmehr — wie es die
geographische Lage von vornherein wahrscheinlich macht — eine
von Gandhära hergeleitete und folglich geschwächte Wirkung jenes
Einflusses. Demnach können wir für Amarävati jetzt Mathurä sub-
stituieren. Zwar ist auch die Blütezeit der Mathurä-Schule nicht
genau zu bestimmen. Aber einen Punkt können wir als gesichert
ansehen, nämlich daß ihre Glanzzeit in die Regierung der großen
Ku§ana-Fürsten fällt. Dies stimmt mit einer andern von Senart ge-
machten Beobachtung überein. Auf den Münzen Kaniskas findet sich
das Bild Buddhas mit dem Nimbus, eine deutliche Schöpfung der
gräcobuddhistischen Kunst. In diesem Zusammenhang ist auch Fouchers
Beobachtung von dem Einfluß der Skulpturen auf die poetische
Legende in Aävaghosas BuddJiacarita heranzuziehen, einem Werke
aus dem Zeitalter Kaniskas. Alles deutet somit darauf hin, daß der
A. FoQcher, L'art gr^co-bouddhiqae an Ganthära 551
Höbepunkt der Gandbära-Schule dem Zeitalter der Indoskythen
vorangeht.
Diese Folgerung stimmt mit dem Zeugnis der Münzen und In-
schriften überein, welche, wie Foucher bemerkt, für die Datierung
der Gandhära- Skulptur von höchster Bedeutung sind. Die indo-
baktrischen Münzen verdankten ihre Entstehung denselben Faktoren
wie die gräcobuddhistischen Skulpturen. Die Geschichte beider zeigt
die nämliche Entartung. Es wäre kaum anzunehmen, daß Reliefs,
wie die in der Mardän-Sammlung, zeitlich mit den barbarischen
Münzen zusammenfielen, die die letzten Tafeln (XXV—XXIX) von
Gardners Katalog füllen. Ein detailliertes Studium der den Münzen
und Skulpturen gemeinsamen Figuren ist noch nicht gemacht worden.
Im Laufe seines Werkes (S. 246, 360) hat schon Foucher im Vor-
übergehen Zusammenhänge mit den Münzen des Azes nachgewiesen,
des Sohnes des Maues, der in die Mitte des zweiten Jahrhunderts
V. Chr. gesetzt wird.
Ich muß gestehen, zu den Buchstabengläubigen zu gehören, die
nur von den Inschriften eine endgültige Lösung dieses Problems er-
hoffen. Und zwar soll betont werden, daß die auf den Skulpturen
vorkommenden Inschriften als Beweismaterial in dieser Hinsicht weit
wichtiger sind, als die auf separaten Steinplatten. Meines Erachtens
hat man bei der Behandlung des Problems auf die zu Takht-i-Bahai
gefundene Inschrift von Gudufara zu viel Gewicht gelegt. Jeden-
falls ist auch hier die Aera unbekannt und das Datum deshalb eben-
so unsicher als das der Piedestale von Hashtnagar und Loriyän
Tangai. Dennoch hat diese Inschrift Burgess veranlaßt, den Anfang
der Gandhära-Schule in das Jahr 30 n. Chr., d. h. das angebliche
Jahr der Thronbesteigung Gudufaras, zu setzen.
Alles zusammen genommen, ist es gar nicht unwahrscheinlich,
daß die von Cunningham vorgeschlagene Datierung (40 v. Chr. bis
100 n. Chr.) am Ende sich als die richtige herausstellen wird, we-
nigstens für die Blütezeit der Schule. Vielleicht gehen die besten
Exemplare sogar noch auf ein höheres Zeitalter zuinick und nähern
sich der Zeit des gräcobuddhistischen Königs Menander. Andererseits
ist die große Masse derjenigen Stücke, die eine zunehmende »In-
dianisierung<, d. h. Entartung aufweisen, gewiß später als das erste
Jahrhundeit n. Chr. und es ist wahrscheinlich, daß die Produktion
solcher Werke bis zu den Hunneneinfällen des fünften Jahrhunderts
fortgedauert hat. Wenigstens wissen wir, daß Mihirakula die Buddhisten
in Gandhära verfolgte und ihre Heiligtümer zerstörte. Als Hiuen
Tsiang zwei Jahrhunderte später das Land besuchte, fand er die
Gebäude in Trümmern mit den deutlichsten Spuren langen Verfalls.
mi rim. fd. Jtm. »m. sk i
IMIem wir, da£ die weitere ardnoIofiKbe
Ifidieng die Losmg der (^hrottoiogBcfaea 30wie »derer rmfiii— ksr-
beiföbreB wird. Gewii eathalteft die Tränaerkaurfai der GieBi^
pronnz Boch erne Maase Material, mindeatefts des jelit
gleiebkoiDmend. Aber wie ^iel neues Material die ^»^«"^
bringea mag, ieb )m öberzeagt, dafi es die tob Foocker
Omndsitze bestätigen und ergänzen und mitbin die Bedestmg aemer
Arbeit ab Ilaopiwerk aber die gracobnddhiatische Konsi ans Lkkt
stellen wird«
Labore J. PIl Yogei
Deakniler if/irtlselier Hkal^ar, beraiugegcben and mit erläuternden Texten
Ternehen von Fr. W. F r e i h e r r n v. Hissing. München 1906. Verlagsanstah
F. Hnicktnann, A.-G. Vollständig in 12 Lieferangen, k 20 Mk. Liefenmg
1 und 2.
Mit dieHetn Werke begibt sieb die Bruckmannsche Kunstver-
lagBanstalt, der wir m viele mustergültige Veröffentlichungen auf
den verschiodensten Feldern der Kunstgeschichte verdanken, auf ein
neues Gebiet. Was die Anstalt bisher Hervorragendes geleistet hat,
bedarf keines weiteren Rühmens. Wenn daher in den vorliegenden
Lieferungen nicht alles auf der Höhe ist, so ist dies einzig und allein
auf Rechnung ihres Beraters, v. Bissing, in schreiben, der nichts
besRercH tax Stande gebracht hat, trotzdem ihm eines unserer ersten
deutschen Kunstinstitute zur Seite stand. Das Künstlerische an den
Tafeln läßt niimlich zu wünschen übrig, allerdings stets in Punkten,
welche auf die ungeschickte Auswahl der Vorlagen zurückgehen and
bei denen der Drucker nicht mehr helfen konnte.
Wirklich gut sind nur die Wiedergaben der meisten Reliefe (z. B.
Taf. 14—16), aber auch diese schon nicht ohne EinschritnlningeB.
Farbenempfindliche Platten (Taf. 17, die im oberen Teil auch nnklar,
Autotypie hinter Text zu Taf. 5) und bessere, ev. künstliche Belench-
tung (Taf. 18) hätten bei manchen den Eindnick der Wirklichkdt
mehr genähert. Bei leicht transportablen Stücken (Taf. 2) hätte unter
jeder Bedingung eine bessere Wiedergabe erzielt werden müssen.
Die Reproduktionen der Standbilder sind im allgemeinen schlechter
als die der Reliefs. Einige (Taf. 4 u. 7) sind durch den ansgedeckten
Hintergrund, ein anderes (Taf. 21) durch zu anffallige Retonche als
Kunstblätter verdorben ; bei manchen ist das Charakteristische (Taf. 3)
oder auch das Feinste (Taf. 20) daran nicht ordentüdi smm Torsdiein
gekomnen; andere endlich (Taf. 23, 24) smd sogar in mir bekuHten
Denkmäler ägyptischer Skulptur, hrsg. von v. Bissing 563
Amateuranfnahmen mit mehr Weichheit wiedergegeben worden. Bei
den meisten Statuen ist der Standpunkt unglücklich gewählt. Bei
minderen Kunstleistungen (Taf. 6) macht das nicht viel, aber wenn
dadurch gute Werke verunstaltet werden, noch dazu in Blättern, die
der studierenden Jugend die ägyptische Kunst näher bringen sollen,
so ist dies nicht entschuldbar. Unteransichten (Taf. 8, vom auch
unscharf; Taf. 9, desgl.; Taf. 11; Taf. 12b, unten unscharf; Taf. 19b;
Taf. 21), bei denen Naslöcher und Kinnuntersichten sich dem Be-
schauer aufdrängen, zeigen natürlich in den Gesichtern verschobene
Verhältnisse und können das Stilgefühl beim Studierenden nicht ge-
rade bilden. Die Statue des Lesenden (Taf. 8) macht den Eindruck
als stände sie auf einem Museumschrank. Am schlimmsten ist der
Menthuhotep (Taf. 19 a) fortgekommen, der allerdings in natura über
unmögliche Fußdimensionen verfügt, die aber durch geschickte Wahl des
Standpunkts diskret gemildert werden konnten. Man hat aber dieses
Mißverhältnis ins Unglaubliche übertrieben. Interessant mag auch
der Versuch einer Aufnahme mit Hinterlicht sein (Taf. 25, der Re-
flex inmitten hätte ausgedeckt werden können). Eine der alten Auf-
nahmen Golenischeffs vom selben Objekt (Rec. 15) wäre hier
besser gewesen. Als belustigender Schluß dieses Geschmackssünden-
registers diene ein Hinweis auf die hintenüberfallende Königin No-
fret (im Text zu Taf. 21) mit den Riesenfüßen.
Nach Aufzählung der mißlungenen Wiedergaben muß ich aber
eine wirklich gute hervorheben: das Profilbild des Chefren, das so
vorzüglich ist, daß man selbst den Diorit schimmern zu sehen glaubt.
Eine Kunstanstalt, die solche Leistungen aufweisen kann, hätte ge-
wiß auch die anderen Blätter auf die gleiche Höhe gebracht, wenn
V. Bissing ihr entsprechende Vorlagen geliefert hätte.
Die Auswahl der wiederzugebenden Kunstwerke war natürlich
schwierig. Es soll in nur 144 Blatt das Material für Vorlesungen
über ägyptische Kunstgeschichte in allen ihren Epochen zusammen-
gestellt werden, man mußte sich also auf die Wiedergabe der besten,
jedenfalls aber besonders guter, möglichst typischer Stücke be-
schränken. Hierin hat sich der Herausgeber nicht gerade als Meister
gezeigt. Sowie er von der großen Straße abgewichen ist und nicht die
allbekannten Typen geben wollte, hat er Dinge gebracht, die nur
ein Privatinteresse haben können. So ist es zum Beispiel unver-
ständlich, warum anstatt der Stele des >roi serpent« aus dem
Louvre^), die schon in musterhafter, aber schwer zugänglicher Ver-
1) VieUeicht ist auch der vorläufige Verzicht auf die berühmten Statuen dee
Sepa und Nesa (Taf. 6) »um der Publikation des Louvre nicht vorzugrdfenc
nicht ganz so freiwillig wie er scheinen möchte.
554 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
öflfentlichung vorliegt, die viel geringwertigere auf Taf. 9 gebracht
worden ist. Die archaische Sitzfigar aas Neapel (Taf. 3) ist wohl
nur aufgenommen, da v. Bissing meinte, >daQ sie den Fachgenossen
bisher unbekannt geblieben seic Ich glaube nicht, daß sie irgend ein
Fachgenosse, der in den letzten 10 Jahren das Neapler Moseum be-
sucht hat, übersehen haben dürfte^). Aber selbst, wenn die Statue
unbekannt gewesen wäre, so ist das noch kein Freibrief fur sie, ihr
ein ganzes Blatt zu opfern. Eine Autotypie von ihr im Text und
eine der vielen schönen Privatstatuen der ersten Dynastieen als Voll-
bild wäre das Richtige gewesen.
Aehnlich deplaziert sind einige Stücke aus dem Privatbesitz y. Bissings
(Taf. 6,14—16). Ich will zugeben, daß es schwer ist, den Stücken der
eignen Sammlung gegenüber immer ein unparteiisches Urteil zu behalten,
aber bescheidene Vorsicht hätte dem Herausgeber wohl sagen können, daß
die Publikation solcher Stücke unter der > Auswahl der besten Statuen
und Reliefs < nur zu leicht mißdeutet werden kann. Die langgezogene,
unproportionierte Gruppe eines stehenden Ehepaares (Taf. 6) hätte
durch ein ähnliches Werk der klassischen Kunst des alten Reichs,
die in ausreichender Anzahl vorhanden sind, ersetzt werden sollen.
Wollte der Herausgeber daneben durchaus seine Gruppe anbringen,
so hätte eine Autotypie im Text genügt, zu zeigen wie solche Gruppen
in minderer Ausführung aussehen. An Stelle des Reliefs von einer
Scheintür (Tafel 14) wäre eins der von v. Bissing zitierten ausge-
führteren, ähnlichen, oder noch besser eins der beiden in den letzten
Jahren von diesem Typus gefundenen, die noch den Vorzug voll-
ständiger Erhaltung der Farben haben, am richtigen Platze gewesen.
Die Reliefs von der Scheintür des Moni (Taf. 15—16), die zwei
Tafeln fortnehmen, müssen als Anomalien dem Studierenden sogar
ein falsches Bild von einer altägyptischen Scheintür geben. Der
Verfasser hat dies auch gemerkt und entschuldigt sich quasi damit:
das Grab wäre wohl so klein gewesen, daß man die sonst an den
Wänden angebrachten Bilder auf die Scheintür gehäuft habe. Die
Konsequenz aus dieser Erkenntnis hätte sein müssen, neben der
richtigen Scheintür (Taf. 17) vielleicht noch ein gutes Beispiel eines
Prunkschreintores im Vollbild zu geben und die Stücke des Meni zu
streichen, wodurch mindestens eine kostbare Tafel gespart worden
wäre. Die Stücke sind auch nicht einmal > typische Beispiele < von
Grabreliefs, könnten also auch nicht als solche bleiben.
Ebenso scheint es auch eine Raumvergeudung, wenn eine der
1) Caparts Veröffentlichung der Statue zitiert aach v. Bissing. Er h&tte
daraus ersehen, daß von der »unbekannten« Statue sogar Gipsabgüsse zu haben
sind, und danach seinen Text ändern können.
Denkmäler ägyptischer Skulptur, hrsg. von v. Bissing 565
wenig erfreulichen Sesostrisstatuen aus Lischt (Taf. 19 b und 20) an-
derthalb Tafeln verbraucht. Eine Tafel, auf der namentlich die
feinen Reliefs des Thrones gut zur Geltung kämen, wäre mehr ge-
wesen. Die Seitenansicht der Königin Nofret (Taf. 21) vollends hätte
ganz als Autotypie in den Text verbannt werden sollen. So hätte
man schon' bei diesen bisher erschienenen 24 Tafeln gut 2^2 für
wertvolleres Material ersparen können. Die ägyptische Kunstge-
schichte auf 144 Tafeln zusammenzudrängen, verlangt mehr lieber-
legung, als sie der Verfasser dafür aufgewandt hat.
Bei der Besprechung des über die Maßen langen Textes —
>kurze kunstgeschichtliche Würdigung< nennt es die Ankündigung —
muß ich sogleich zwei Dinge ausscheiden. Erstens werde ich mich
über die häufigen, offenen und versteckten, polemischen Ausfälle des
Verfassers nicht äußern. Ich halte sie in einer Sammlung für
Vorlesungszwecke für völlig unangebracht. Zweitens schweige ich
von dem Wortreichtum — um nicht ein schärferes, aber bezeichnen-
deres Wort zu gebrauchen — , der sich in den meisten Ausführungen
des Verfassers breitmacht, besonders in denen über die künstlerische
Ausführung der Statuen. Ich bin zu lange aus dem Kontakt mit
unseren deutschen Studierenden, um beurteilen zu können, ob die
heutige Generation sich damit abspeisen läßt. Ich hoffe aber, daß
sie noch immer mit dem Schüler der Ansicht ist: »Doch ein Begrifif
muß bei dem Worte sein.<
Eins kürzt die Besprechung des Textes auch noch ab: Der
Verfasser hat von vornherein von der Interpretation der Inschriften
abgesehen. Das ist mir nicht recht verständlich; bei Besprechung
mittelalterlicher Malereien mit Inschriften wird man das kaum tun,
ebenso wenig kann man es von Rechts wegen bei ägyptischen Alter-
tümern, bei denen oft die Inschrift ein integrierender Teil der Kom-
position des Ganzen ist. In manchen Fällen (z. B. Taf. 15) ist sogar
die Inschrift das einzig interessante an dem Stück. Aber darüber
läßt sich streiten. Nur müßte der Verfasser seinen Grundsatz dann
auch durchführen und nicht mit einem Male eine archaische Inschrift
(zu Taf. 2) erklären als >eine Tür, an der ein Vogel pickt.«
Aber wenden wir uns zu den archäologischen Realien, deren Be-
herrschung man bei dem Herausgeber einer bei Vorlesungen zu be-
nutzenden Sammlung typischer Beispiele ägyptischer Kunst zum min-
desten voraussetzen müßte. Hier versagt v. Bissing vollständig.
Ohne das Thema auch nur annähernd erschöpfen zu wollen, will ich
in der Reihenfolge der Tafeln eine Anzahl von > Mißverständnissen <
aus diesem Gebiet aufzählen:
Text zu Taf. 2. In den Hathorköpfen auf der Hieraconpolis-
566 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 7
palette findet v. Bissing Aehnlichkeiten mit den Hathorköpfen an
Sistrumsäulen, nur seien >die Hörner der später üblichen Form der
Hathor von dem schweren Kopftuch verdeckte. Dieses vermeintliche
Kopftuch sind herabhängende stilisierte Haarflechten. Ob man damnter
wohl Kuhhömer verdecken kann?
Die Reliefs der Palette geben dem Verfasser Gelegenheit sich
über das Königsornat zu äußern. Nur einige Punkte ans diesen
Bemerkungen seien hier hervorgehoben. So trägt der König einen
>mit auf^) die Spitze gestellten Vierecken verzierten Gürtel <. Diese
Viereckreihe ist eine ornamentale abgekürzte Form des Gewebe-
musters des gewöhnlichen Gürtels des Königsschnrzes. Als >ein(?)
breites Band« bezeichnet v. Bissing den Perlenbehang des Königs-
schurzes. >Eine arge Gedankenlosigkeit < soll die bisher gültige
Deutung des Schwanzes am Königsornat als Löwenschwanz sein;
V. Bissing setzt dafür > Wolfsschwanz <. Wir werden nachher noch
bemerken, mit welcher Gedankenfülle er sich Schwänze von Tieren
der Wolfsgattung angesehen hat.
Text zu Taf. 2. An der Neapler archaischen Statue ist >das
dicke Armband am linken Arm<, das sich v. Bissing >vor dem Original
nicht notiert« hat, sogar in der Photographie in die Augen springend.
Text zu Taf. 6 und sonst. Hatten wir oben schon gesehen, daß
das Königsornat dem Verfasser mehr Rätsel aufgiebt, als er lösen
kann, so hätte man doch wenigstens ein Verständnis für die beiden
gewöhnlichsten Schurzformen des alten Reiches erwarten sollen, zu-
mal Vorarbeiten wenigstens für den einen von beiden vorliegen. Der
Verfasser wirft sie aber beide schonungslos durcheinander, d. h. er
hat sie beide nicht verstanden. Vielleicht ist es daher ganz nützlich,
hier die beiden, soweit das im Rahmen einer Besprechung geschehen
kann, vorzuführen:
Der einfache Schurz hat keinen Gürtel, er besteht ans einem je
nach der Mode verschieden breiten Zeugstreifen, der um die Hüften
geschlagen wird, nachdem seine obere Langseite sanmartig nach
außen umgelegt ist. Das freie Ende wird vorn unter dem Nabel in
den Schurz eingestopft. Das typische Beispiel hierfür ist der Schejch
el beled (Taf. 11, > Schurz mit umgeklapptem Rand und festge-
1) Entgleisungen dieser Art sowie Aasdrucksfehler sind in obiger Be-
sprechung außer Acht gelassen. Es mag genügen in dieser Anmerkung einige
davon zusammenzustellen: Figuren (Text zu Taf. 2) und Sänfte (zu Taf. 18) werden
im Schnitt — anstatt in der Ansicht — dargesteUt; Ausfahrt (zu Taf. 18) soU
das Getragenwerden in der Sänfte bezeichnen; Fuß steht für Bein (zu Taf. 10);
das Schamteil (zu Taf. 12a); die »linea alba« (zu Taf. 24), wohl bei y. Bissing
eine dunkle Reminiszenz aus einem klassisch-archäologischen Kolleg, sitzt auf
der Brust u. s. w.
Denkmäler ägyptischer Skulptur, hrsg. von v. fiissing 557
nähtem (?) Gürtel Verschluß < nach v. Bissing). In diesem Schurz
kann man sich aber mit untergeschlagenen Beinen, wie man dies
z. B. zum Schreiben tat, nur setzen, wenn er vorn unten weiter war
als oben. Das typische Beispiel hierfür ist die Eairener Statue des
Ranofer (mit den kurzen Haaren, Cat. gen. No. 18). Hieran schließen
sich dann die Statuen und Reliefs mit dem Schurz >mit dem drei-
eckigen Vorbau <. Alle diese gehen auf den einfachen d. h. gürtellosen
Schurz zurück und können als eine einzige Art angesehen werden.
Davon verschieden ist der von Er man als Galaschurz be-
zeichnete. Dieser hat einen besonderen Gürtel, dessen stets im Re-
lief ausgeführter Schlaufenverschluß aber in den uns erhaltenen Bei-
spielen nur noch dekorativ ist; die wirklichen Bindebänder sehen an
einigen Beispielen vorn unter dem Gürtel hervor. Der Schurz selbst
wird mit seinem vorderen freien Ende vorn am Nabel unter dem
Gürtel durchgezogen (Spiegelberg) und ist, um den richtigen
Uebergang von dem gerade gewickelten Teil zum durchgezogenen
Ende herauszubekommen, an der erforderlichen Stelle plissiert.
Diese Abschweifung über die Schurzformen des alten Reichs
habe ich nur hierhergesetzt, um mir die häufige Wiederholung des
Satzes »Bemerkungen über Tracht sind falsche zu ersparen.
Text zu Taf. 7. Die Berliner Statue des Schreibenden stellt
nach den Inschriften darauf einen höheren, wohl richterlichen Be-
amten dar. Die Auffassung als Dienerstatue dürfte daher ver-
fehlt sein.
Text zu Taf. 8. An der Kairener Chefrenstatue aus Alabaster
sieht V. Bissing die Farbspuren nicht mehr; ein für einen Archäo-
logen bedenklicher Mangel an Beobachtungsgabe, da die Reste heute
noch ebenso wie zur Zeit der Anfertigung des vom Verfasser still-
schweigend benutzten Cat. g^n. vorhanden sind.
Text zu Taf. 9 und öfter. »Der wagerecht gestreifte, künstliche
Barte des Königs dürfte wohl auch nur noch bei v. Bissing vor-
kommen. Die übrigen Archäologen halten schon längst nicht mehr
den Königsbart für künstlich, sondern das früher als Aufhängeband
angesehene Stück für den dünnen Backenbart.
Text zu Taf. 11. Die bekannte, nackte Kairener Statue mit der
Circumcision soll >ein unbekleideter Priesterc, »ein vornehmer Jüng-
ling, der auf der Höhe des Lebens steht« sein. Die Statue stellt
einen nackten Knaben dar, der, ganz wie der kleine Menthesuphis
neben Pepi (Taf. 12 b), neben seinem natürlich viel größer darge-
stellten Vater hermarschierte. Daß der Knabe schon einen Titel
führt, tut nichts zur Sache.
Text zu Taf. 12 a und 13. Eine »Perücke aus Lapislazuli< soll
Gfttt. geL Abs. IWM. Nr. 7 39
558 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
die Quibeirsche Pepistatue gehabt haben. Die Endigung des Ge-
sichts unter den Ohren weist aber eher darauf hin, daß der König
eine Krone trug.
Bei der Statue des Menthesuphis sei ein »Schurz einzuschaltenc.
Wie lang denkt sich v. Bissing denn die Statue? Eine kurze Be-
sichtigung hätte ihn belehren können, daO Oberkörper und Beine
Bruch an Bruch passen. Die Beine sind nur etwas verbogen. Der
wohl als Gußstück mit schwalbenschwanzförmiger Lasche eingesetzte
Penis fehlt. Der kleine Menthesuphis war nackt wie der oben be-
sprochene kleine Nen-s cha (nicht Nens-cha wie bei v. Bissing).
Text zu Taf. 14. Einen in seinem unteren Teil im Schnitt dar-
gestellten hohlen Tischfuß, wie solche nicht selten aus Ton und an-
deren Materialien gefunden worden sind, bezeichnet v. Bissing als
»röhrenartigen, unten mit zwei Füßen versehenen Untersatze.
Der > Gänsekopf < auf demselben Relief ist von einem Storch
oder ähnlichen Stelzvogel.
Text zu Taf. 17. Bei der trotz ihrer Länge nicht gerade klaren
und vollständigen Behandlung der Scheintüren und der Prunkschein-
tore bringt v. Bissing noch immer den > runden Balken für den
Vorhänge an, trotzdem dieses Bauglied längst als einziger Holz-
konstruktionsteil der sonst ganz dem Ziegelbau entlehnten Schein-
tore architektonisch richtig erklärt ist und seitdem auch bei Aus-
grabungen in situ nachgewiesen werden konnte. Die Anführung der
hölzernen Wandverkleidungen aus Raqaqua ist an dieser Stelle gänz-
lich unverständlich.
Text zu Taf. 18. Einen »Wedel ans Fayenceperlen < soll Ipi
in der Hand haben. Hier hätte v. Bissing Gelegenheit gehabt, sich
die Form von > Wolfsschwänzen < einzuprägen. Der Wedel besteht
nämlich aus drei Fellen von Wölfen oder ähnlichen Tieren, so ver-
einigt wie sieDaressy (Annales 4, S. 122fif.) beschrieben hat. Ein
schönes Beispiel hierfür befindet sich auch auf dem Nordpfosten der
Mitteltür der Basilika des Ramesseums.
> Wedel mit langen Fransen und hohen Stangen« werden dem
Ipi zum »Kühlungfächeln und Fliegenverjagen« nachgetragen. Wer
Aegypten mit offenen Augen bereist hat, kennt die heute noch
üblichen, hier dargestellten Sonnenschirme, wie z.B. Schäfer (Lieder
eines ägypt. Bauern, Abb. auf S. 53) einen abbildet. Ein schöner
Damensonnenschirm des mittl. Reiches ist auf einer Stele des Louvre
(C. 15) gezeichnet. Aber auch aus der ägyptologischen Literatur hätte
V. Bissing ein Beispiel dafür aufstöbern können (Benihassan H, Taf.
16 u. S. 61).
In dem Mann mit Sack und >Beutel<, sowie dem mit »Tach< und
Denkmäler ägyptischer Skolptar, hrsg. von v. Bisssiog 559
Kasten hätte der Verfasser wohl zwei bekannte Typen von Diener
Statuen wiedererkennen dürfen. Es sind die Diener, welche Wäsche-
sack und Sandalen dem Herrn nachtragen.
Text zu Taf. 25. >Daß es sich nur um ein tibergezogenes Fell<
bei den Sphingen Amenemes III. handelt, glaubt Verfasser zu be-
weisen. Die Statuen dieser Eönigslöwen bekommen durch diese
skurrile Idee eine gewisse Verwandschaft mit den Bildern der Tou-
ristensphingen, welche die Kairener Photographen fertigen. Aber
»der breite Streifen, der die Mähne an der Stirn abschließt< ist nur
der Reif, der den Uräus trägt, das »Band, an dem der künstliche
Bart hängti und »unter dem die Gesichtsmähne vorkommt< ist nur
der Backenbart des Königs, der in die Mähne des Löwen übergeht.
Einzig richtig ist bei v. Bissing nur das > natürliche Haar an den
Schiäfen<. Nach alledem ist also hier beim Königslöwen auf den
Löwenkörper nur ein Königsgesicht gesetzt, genau so wie bei einem
Götterbiide mit Löwengesicht der Körper menschlich und nur das
Gesicht als das eines Löwen gebildet ist. Von einem > übergezogenen
Fell< ist keine Spur. Hiermit schließe ich diese Auswahl aus den
archäologischen Realien. Wer sich die Zeit dazu nehmen will, kann
sie leicht weiter fortsetzen.
Auch tiber die absonderliche Chronologie (Text zu Taf. 1) und
über die merkwürdigen Namengebungen (Lathures, Gemni-kai u. s. w.)
kann ich hier wohl schweigen. Ueber die erstere hat Ed. Meyer
(Chronologie S. 39, auch S. 10) bereits ein kräftiges, aber gerechtes
Urteil gesprochen, über die letzteren wird wohl an anderer Stelle
demnächst gehandelt werden.
Nun noch ein Schlußwort über den Preis des Werkes. Es soll
240 bezw. 300 Mk. kosten, 144 Tafeln bringen und > einem empfind-
lichen Mangel bei Vorlesungen über ägyptische Kunstgeschichte« ab-
helfen, nämlich >dem Fehlen einer geeigneten Sammlung typischer
Beispiele«. Soviel ich weiß, gibt es überall da, wo Vorlesungen
über diese Materie gehalten werden, reiche, oft überreiche Photo-
graphiensammlungen. Sollten sie irgendwo nicht existieren, so wird
der Vortragende für die oben angegebene Summe etwa 250 gute
Photographien, die er nach seinen Bedürfnissen wählen kann, leicht
beschaffen können und wird noch genug übrig behalten, um sie auf-
ziehen zu lassen.
Cairo Ludwig fiorchardt
39*
560 Gott. gel. Anz. 1906 Nr. 7.
Diwan des Dichters Abu a-Fath Mohammad Ihn 'Obaidallali Ita AMallahy
Sibt ibn at-Ta'iwi4hi, hrs. von D. S. Margoliouth. Drackerd des Moqta-
tat in Ma§r 1904. Halle, R. Haupt 1905.
Der Dichter dieser Sammlung wurde 519 geboren und war der
Sohn eines Freigelassenen, der eigentlich Nushtakin hieß, doch von
seinem Sohn 'Obaidallah genannt wurde. Dieser starb, als er noch
sehr jung war, und sein Großvater mütterlicherseits übernahm seine
Vormundschaft und seine Erziehung. Dieser Großvater Abu Moham-
mad al-Mobärak ihn al-Mobärak ibn 'Ali ihn Na^r as-Sarrädj al-
Djauhari, war ein gelehrter und frommer Shaikh in Bagdad (496—553),
der den bekannten Genealogen Ibn as-Sam'äni unter seinen Schülern
zählte, und hatte den Beinamen Ibn at-Ta'äwidhi, vermutlich weil
sein Vater Amuletten (ta'äwidh) anfertigte. Nach ihm hat unser
Dichter den Namen Sibt (ibn) at-Ta'äwidhi (Enkel des Amuletten-
verfertigers). Dieser bekleidete ein Amt am Finanzministerium in
Bagdad und zwar in der Abteilung, die olAb'JUI ^^}yJi^ (etwa Bureau
der Erbpachten) hieß. Er scheint diese Stelle bis zu seinem Tode
innegehabt zu haben. Denn als er im J. 579 blind wurde, bat er
den Ehalifen, das Gehalt an seiner Stelle seinen zwei Söhnen anzu-
weisen. Als dies geschehen war, ersuchte er den Fürsten in einem
geistvollen Gedicht (N. 187 im Diwän), ihm selbst ein neues Gehalt
zu verleihen, was auch gewährt wurde. Er starb 583 oder 584.
Sibt at-Ta*äwIdhi war ein talentvoller Dichter. Ibn Khallikän
sagt: >Nach meiner Ansicht hat es in zwei Jahrhunderten keinen
Dichter gegeben, der ihm ebenbürtig ware Er meint wohl nach
Motanabbi, wie Margoliouth im Vorwort sagt. Der Biograph
rühmt den Reichtum und den Wohllaut seiner Sprache, die Feinheit
und Eleganz der Gedanken, die Süßheit und Schönheit seiner Verse.
Darin ist wirklich kein Wort zu viel, allein Ursprünglichkeit, Kraft
und Tiefe findet man in diesen Poesien nur ausnahmsweise. Es sind
fast alle Gelegenheitsverse: Lobgedichte an hohe Gönner, Glück-
wünsche zu Festlichkeiten oder gelungenen Taten, Einladungen zum
freundschaftlichen Zusammensein, Trauergedichte, Spottverse, Ge-
dichtchen um eine Gardine oder eine Gartenmauer zu schmücken,
Beschreibungen wie eines festlichen Kugelschießens mit dem Kugel-
bogen (^J^ u^)' ^^^^ einzelner Gegenstände, wie eines schönen
Hauses, einer Frucht, selbst solche von Kleinigkeiten wie der Lan-
zette und des Beckens zum Aderlaß.
Der Dichter hatte seine Gedichte selbst gesammelt und mit einer
Einleitung versehen. Er hatte sie in vier Abschnitte geteilt, von
Carmina Muhammadis IJbaidallahi ed. Margoliouth 561
denen der erste die Loblieder zu Ehren des Khalifen enthielt: »Den
Anfang dieser Sektion, schreibt er, bilden die zu Ehren des Fürsten
an-Nä^ir li-dln-alläh, da es Sitte ist, die Lebenden den Verstorbenen
voranzustellen <. Der zweite enthielt die Lobgedichte der Wesire und
anderer ansehnlicher Männer; der dritte speziell die zur Ehre der
Banu '1-Mozaifar, der Gönner und Beschützer des Dichters und seines
Großvaters. Der vierte Klagelieder, Weltentsagungsergüsse, Liebes-
gedichte, Satiren u. s. w. Nachher kam noch ein Supplement dazu.
Der Herausgeber aber, dem wir die eine der zwei Oxforder Hss.
verdanken, hat die Gedichte nach den Reimbuchstaben geordnet
und Margoliouth hat diese Ordnung adoptiert. Der Index, den er
seiner Ausgabe beigegeben hat, setzt uns nur teilweise instand, die
zusammengehörigen Gedichte zurückzufinden.
Der erste Khalife, dem Sibt at-Ta'äwidhi Lobgedichte widmete,
ist al-Mostandjid (555—566). Der Diwän enthält deren zwei, nicht
datierte. Erst unter seinem Nachfolger al-Mostadhi (566—575)
scheint er der Hofpoet geworden zu sein, von dem bei allen großen
Gelegenheiten ein Gedicht erwartet wurde, wie zum Neujahr, zu den
zwei Festen, zur Geburt oder zur Beschneidung eines Prinzen u. s. w.
Für ein Lobgedicht, 573 zur Ehre dieses Khalifen gemacht, war
ihm von diesem selbst Maß und Reim angegeben. Als 580 an-Näi^ir
ein Ehrenkleid an Saladin nach Damascus schickte, wurde es von
einem Gedicht unseres Poeten begleitet. An Saladin selbst hatte er
schon 570 eine Qa^ida geschickt durch Vermittlung des berühmten
al-Qädhi al-Fädhil, des Wesirs Saladins, der ihm gewogen war. Auch
mit Saladins Geschichtsschreiber 'Imäd addin war er sehr befreundet-
Dieser hat ihm in seiner Khar id a einen Artikel gewidmet (Ms.
Paris. 1447, f. 46 r. sqq.). Der Zweck dieser Lobgedichte ist, ob-
gleich bisweilen nur leise angedeutet, schöne Gegengeschenke zu er-
halten. Wenn diese der Erwartung des Dichters nicht entsprechen,
gibt er das unumwunden zu erkennen. Oft bettelt er auch ganz
offen und nicht selten um irgend einen bestimmten Gegenstand, z. B.
ein mit Silber verziertes Federmesser, ein Regenkleid, einen schwarzen
Rock für seinen Sohn, Rosenwasser, Wein. Die )U^j<a XaJ^^, die
er Gedicht 110 zum Geschenk für seinen zweijährigen Sohn zum
Fest der Beschneidung erbittet, ist wohl ein goldgesticktes seidenes
Kopftuch. Im Gedicht selbst Vs. fl heißt es iujlyb.
Der Dichter hatte eine schlimme Zeit, als unter al-Mostandjid
Ibn al-Baladi Wesir war, 563— 566. Er verlor sein Amt am Finanz-
ministerium und befand sich in notdürftigen Umständen. Dafür hat
er dann auf diesen Minister in Ged. 139 tüchtig geschimpft. Bagdad
ist in diesen Jahren fUr ihn der traurigste Ort der Welt. Es ist da
ii«S G6VL gcL An. 1906. Nr. 7
flkbts zn hoffen: die Freigebigkeit ist tot; Unrecht und dessen
Trabanten üben ihre Schreckensregiemng. Es ist nicht mehr zum
Aoshahen: der Dichter ist im Begriff die Stadt zu verlassen and
einen Ort zn suchen, wo es sich besser leben läßt ^Ged. 86). Jetzt
haben die Bagdadenser alles, was ihnen znm Tage der Auferstehang
angekündigt ist: >Zasanmientreibung, Wage, Untersuchung der Pa-
piere und Bucher, Rechenschaft, Höllenwächter, die auf sie los-
gelassen werden, Ketten, Eisenstabe, Folter — nichts fehlt von aUem,
was den Leuten bei der Auferstehung yersprochen ist, außer dem
barmherzigen Geber« ^Ged. 24).
Nachher ging es ihm viel besser. Der Vers (Ged. 39): > Jemand
sagte zu mir, als er mich sah im Monat Tishrin, da das Heer der
Winterkälte seinen Einzug gehalten hatte, wo ich auf dem großen
Moscbeeplatz meine Kleider zusammenhielt und etwas aus dem Nach-
laß eines Verstorbenen zu kaufen suchte : mußt du einen Winterrock
dir kaufen, du der unseres Herrn Dichter und Beamter (KäUb)
ist?« ist wohl ein Spaß, der nur zum Zweck hatte, dem Khalifen
überbracht zu werden und diesen zum Geschenk eines Pelzes zu ver-
anlassen.
Der Trauerlieder sind nicht viele. Sie betreffen den Tod seines
Großvaters, eines Bruders, eines Töchterleins, eines Enkels und cter
Fürstin SeldjQki-Khätün, der Tochter des Sultans Qilidj Arsltn.
Rührend sind sie nicht; das Beste ist nach meinem Geschmack das
zu Ehren des verstorbenen Bruders. Außerdem hat er den Tod des
Hosain in 75 Versen besungen (Ged. 293).
Margoliouth hat für seine Ausgabe zwei Hss. der Bodleiana be-
nutzt, von welchen die eine die Einteilung des Dichters in vier
Sektionen, die zweite die Anordnung nach den Reimbuchstaben hat.
Erstere ist unvollständig und vermutlich im 7. Jahrhundert ge-
schrieben; letztere, die der Ausgabe zur Grundlage gedient hat, ist
jung (979), aber abgeschrieben aus einem Exemplar vom J. 648.
M. sagt, daß er weggelassen hat >was den Sitten unserer Zeit
zuwider ist<. In den Noten findet man einige Male: >hier habe ich
einige Verse weggelassen, da sie keinen Nutzen haben <. Solches Ver-
fahren scheint mir höchst bedenklich. Varianten werden nur sehr
selten gegeben. Man muß dem Herausgeber auf sein Wort glauben,
und tut dies gerne, daß es ihm in der Regel gelungen ist, die wahre
Lesart zu bestimmen. Die alte Hs. des Escurial (Derenbourg 376)
und die von Berlin (Ahlwardt 7698) sind nicht verglichen. Vielleicht
hätten sie dem Herausgeber geholfen, die wenigen evident verdor-
benen oder lückenhaften Stellen zu verbessern. Ich bezweifle, daß
das Fragment Ahlwardt 7699 zu unserem Diwan gehört.
Carmina Mohammadis *übaidallahi ed. Margoliouth 563
Am Ende steht eine Liste Errata. Ich will dazu ein paar Ver-
besserungsvorschläge machen. In der Biogr. Ibn Khallik. S. 1 , vorl.
Z. ÄdUtt^ 1. jkdUin^. S. tr«, vs. n ist vielleicht jüyL> i^^ L^ zu
lesen. S. it^ö, Z. 5 v. u. 1. )ujjJySi^\ ß^Jkf, (wie auch im Index S. ^
zu korrigieren ist). S. «*., Z. 6 v. u. Ä^fSuJ. ist wahrscheinlich
ä^fClA zu schreiben; vgl. das Gloss, zu Tabarl. S. nt, Z. 6 Ji/a
1. jßj das im Dialekt von Bagdad Garten bedeutet. Na^r al-
Qoshüri ist der bekannte Kammerherr Moqtadirs. S. föl, Z. 7 1.
v^f«J^* Das Buch ist ganz arabisch geschrieben, auch das Vorwort
des Herausgebers, und sehr gut gedruckt.
Leiden M. J. de Goeje
Orlentalisehe Stadien, Theodor Nöldeke zum siebzigsten Geburtstag (2. März
1906) gewidmet Ton FreoDden und SchiÜem und in ihrem Auftrag heraus-
gegeben Ton Carl Bezold. Mit dem Bildnis Th. Nöldekes, einer Tafel und
zwölf Abbildungen. LIV und 1187 S. in zwei Bänden Großoktav. Giessen, A.
Töpelmann 1906. Mk. 40.
Der Herausgeber dieser Studien, der mit ihrer Anordnung wohl
seine Not gehabt haben mag, stellt an die Spitze eine Gruppe, die
sich um das Arabische und die Geschichte des Islams konzentriert.
M. J. de Goeje (1 — 5) eröffnet wie billig den Reigen, und zwar
mit einem Aufsatz, worin er wahrscheinlich zu machen sucht, daß
die Erscheinung, durch welche Muhammad seines prophetischen Be-
rufs gewiß ward (überall, wohin er sich wendete, stand ein Mann in
gleicher Gestalt vor ihm am Horizont und gab sich ihm als Gabriel
zu erkennen), ein Reflex seiner eigenen Person in der Luft war,
eine Art Brockengespenst. F. Buhl (7—22) spendet Beiträge zur
Kritik der Ueberlieferung über die Schlacht bei Badr und die Aus-
wanderung nach Habesch. R. A. Nicholson (23—32) beschreibt
eine in seinem Besitz befindliche Biographie Muhammads, die zu-
rückgeht auf einen Gelehrten von Nisabur in der ersten Hälfte des
elften christlichen Jahrhunderts. Er teilt daraus zwei Stücke im
arabischen Text mit, betreffend die Begegnung Ms. mit dem syrischen
Mönche, und Aeußerungen Umars über seinen Vorgänger Abubakr.
A. Fischer (33 — 55) macht darauf aufmerksam, daß sich die zwei
letzten Verse von Sura 101 schlecht zum Vorhergehenden fügen, da
sie als Erklärung von i^i^l^ iJ«t nicht gelten können; denn diese
Redensart müsse hier den gleichen Sinn haben wie überall sonst.
5C4 Gut. fdL äaa. I906l Hx: 7
R. Gejer (57—70) wendet skh gegen die abliebe Erklänmg der
Katze in der Muadkqa des AnUra als Metapher für die Peitsclie,
da in gleicbeoi Sinne wie die Katze bei Antara anderswo auch Hahn,
Schwein, Specht und Schakal dem Kamele zusetzen; diese Tiere
seien vielmehr wechselnde VerUeidongen eines Dämon, und es solle
gesagt werden, das Kamel rase wie vom Tenfel geritten. F. Schul t-
hess (Tl — 89} sammelt und sichtet Ueberlieferungen über den
Hanifen Lmaija b. abi l^alt und Fragmente seiner Poesie, deren
Inhalt er skizziert. Ilanif sei echt arabisch und heiße Separatist;
Abnaf. der Beiname des berühmten Tamimiten von Ba^ra, bedeutet
freilich Dackelbein. M. Th. Houtsma ^91—96) handelt über eine
arabische Versiäzierung des Buchs Kaiila va Dimna durch den Dichter
Ibn Habb^rija, die nicht verloren gegangen, sondern noch erhalten
und neuerdings in Bombay lithographiert ist. Sie reproduziere den
Ibn Muqaffii und lasse Schlüsse zu auf dessen Disposition, vielleicht
auch auf die von ihm gebrauchten Namensformen. Ch. Snouck
üurgronje (97—107) steuert aus dem fernen Osten zur Fest-
schrift seines geliebten Lehrers eine moderne Qa^ide aus Hadramot
bei, nebst einer dazu gehörigen historischen Einleitung; in transkri-
biertem arabischen Text und in deutscher Uebersetzung, mit Noten.
Die Qa(;ide stammt von einem Mitglied der Familie Bä Atva, die
seit längerer Zeit einzelne Dichter hervorgebracht hat und deren
Produktionen auf Bettelgängen vorträgt. C. Brockelmann (109— 125)
gibt nach erhaltenen Resten einen Begriff von Inhalt und Art des
Dichterbuchs des Muhammad b. Sallam alGumahi (nicht zu ver-
wechseln mit dem ziemlich gleichzeitigen und ebenfalls des Studiums
der Poesie beflissenen Gumahi, der Abdallah b. Ibrahim hieß). C. J.
Lyall (127—154) ediert einen ausführlichen Bericht des Ibn Kalbi
über den Ersten Tag von Kuh\b, aus Kommentaren zu den Mufadda-
lijät und zu den Xaqäid des Garir und Farazdaq; in der Einleitung
spricht er über die Zeit und den Ort der verhängnisvollen Schlacht.
Gustav Rothstein (155 — 170) zieht aus der Elostergeschichte
des Schabuschti (Berliner Hs. Nr. 8321 Ahlwardt) ein Zwischenstück
aus, das von den Tahiriden handelt und für deren Familiengeschichte
nicht ohne Wert ist, untersucht auch das literarische Verhältnis des
Schabuschti zu Tabari und zu Taifür, dem Verfasser eines Buchs
über Bagdad, aus dem Tabari geschöpft zu haben scheint. W. Bar-
thold (171—191) handelt über das Aufkommen des Jaqub b. Laith
und der Qaffariden in Sagistan. Er unterscheidet eine westliche
Tradition (Tabari und teilweise Ibn Athir), die den Ereignissen
näher steht und in der Chronologie zuverlässiger ist, und eine ost-
liche (Gardizi und teilweise Ibn Athir), die durch größere Fülle sich
Orientalische Stadien 565
auszeichnet und in Sagistan selber erwachsen, aber erst nach dem
Sturz der Qaffariden aufgezeichnet ist. Er verfolgt dann die Stadien
der Geschichte Jaqubs an der Hand der Quellen und kommt dabei
hie und da zu etwas anderen Ergebnissen als Nöldeke. H. Deren-
bourg (193—196) hat herausgebracht, daß an einer Stelle im Fachri
eine Ueberschrift fehlt, und setzt sie ein. M. van Berchem (197
bis 210) veröffentlicht, namentlich aus einer unedierten Sammlung
des durch sein Buch über die Mandäer bekannten Siouffi, einige In-
schriften des Fürsten Lulu von Mosul, auf dessen Bautätigkeit schon
der alte Niebuhr (2, 360 f.) die Aufmerksamkeit gerichtet hat. Ch.
H. Torrey (211—224) druckt nach dem Pariser Cod. Ar. 4231 eine
kleine Schrift des berühmten ägyptischen Sprachgelehrten Ibn Barri
mit dem Titel ^UjuaJ! ^U, enthaltend eine Polemik gegen das Ein-
dringen von Vulgarismen in die Literatursprache nach dem Vorbild
von Hariris Durra. R. Brünnow (225—248) ediert das bis dahin
nur auszugsweise bekannte )iis>^\jL\^ ^^^ v^ (Reimformelm im
Arabischen) von dem Grammatiker Ahmad b. Färis. A. Mez (249
bis 254) handelt über Trilitera einfachen Stammes, die aus ver-
mehrten Stämmen von Biliteris in der Weise sich ableiten, daß das
Augment zum ersten oder zweiten Radikal wird. Er beschränkt sich
dabei auf Einen Dialekt, auf das literarische Arabisch, da man sonst
leicht zu viel beweisen könne — als ob diese Gefahr dadurch ver-
mieden würde ! Für gewisse Verba primae \ij nimmt er die Existenz
eines Thafal an; die angeführten Beispiele sind jedoch fast alle
etwas fragwürdig, nur sXAß und ^ß neben kXaj und ^^ geben zu
denken. H. Reckendorf (525 — 265) untersucht und betrachtet den Ge-
brauch des Partizipiums im Altarabischen. J. Friedländer (268—277)
weist nach, daß einige Partien der jetzt in Kairo gedruckten Milal und
Nihal des Ibn Hazm in die Disposition nicht passen, sondern ur-
sprünglich selbständige Abhandlungen sind, die der Verfasser nach-
träglich in sein großes Werk eingeschoben hat; darunter namentlich
der schon von Goldziher ausgeschiedene große Abschnitt >über die
offenbaren Widersprüche und die evidenten Lügen, die enthalten sind
in dem Buche, welches die Juden die Thora nennen, und in ihren
anderen Schriften, sowie auch in den vier Evangelien, woraus sich
mit Sicherheit ergibt, daß darin Aenderungen und Fälschungen vor-
genommen sind«. T. J. de Boer (279—281) glaubt, in einer Po-
lemik des Jahia b. Adi gegen Kindi (Cod. Vat. Ar. 127) stecke eine
kleine arabische Originalschrift des angegriffenen Autors gegen die
Trinität, während sonst nur lateinische Uebersetzungen der Traktate
des Kindi bekannt sind. L. Cheikho (283—291) veröffentlicht und
566 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
Übersetzt ein Kapitel des nestorianischen Arztes und Aristotelesüber-
setzers Hunain, das sich erhalten hat in einem Werke des Abulfarag
Hibatallah, eines Angehörigen der christlichen Gelehrtenfamilie Banu
Assäl in Alexandrien. S. Fraenkel (293—301) bietet in sauberer
und knapper Form eine Fülle von Beispielen zum Schutzrecht der
alten Araber. J. Goldziher (303—329) teilt aus seinem reichen
Schatze allerlei Beläge mit, daß die heidnische Weise, die Gottheit
durch Zauberworte und -handlungen oder durch die Kraft heiliger
Personen zu zwingen, auch im Islam nicht aufgehört hat. C. H.
Becker (331—351) meint mit Recht, Minbar sei ursprünglich
nicht Kanzel, sondern Thron, Insigne des Richters und Regenten
gewesen, der darauf saß, nicht stand. Aber mit Unrecht, es sei
unabhängig von dem abessinischen Minbär, das doch ebenfalls den
Thron oder das Tribunal bedeutet und nur im Abessiaischen eine
Etymologie hat. Th. W. Juynboll (353—356) hätte zu seinen
wohlerwogenen Bemerkungen über den Verwandtschaftsnamen ^
hinzufügen können, daß derselbe an einigen Stellen die Bedeutung
Großvater hat. D. B. Macdonald (357—383) druckt die Geschichte
von dem Fischer und dem Ginni genau nach der Hs. Gallands, findet,
daß der Text dieser Hs. vulgärer sei als der sonst sehr ähnliche in
Habichts Ausgabe, und kommt zu dem Schluß, die Textgeschichte
der 1001 Nacht in den letzten Jahrhunderten bestehe in a gradual
reduction to commonplace of the vocabulary and to written rules
of the construction. N. Rhodokanakis (385—392) beschreibt
einige arab. Hss. zu Konstantinopel aus dem Gebiet der poetischen
Literatur, darunter die der Naqäid zwischen Achtal und Garir, von
der er für die Wiener Hofbibliothek eine Abschrift genommen hat.
J. Eutin g (393—398) zeichnet einen Kamelsattel mit allen einzelnen
Teilen und allem Zubehör, auch die verschiedenen Stöcke des Reiters,
und nennt genau die arabischen Namen aller dieser Dinge — solche
anschauliche Speziallexika möchte man mehr haben. A. S. Yahuda
(399—416) teilt eine Auswahl von arabischen Sprichwörtern mit, wie
er sie von bagdadischen Juden gehört hat, von denen er selber
stammt. Der Narr Asch'ab in Nr. 50 war eine sehr bekannte Person
in Medina zur Zeit der Umaija; jC^ in No. 1 bedeutet schwerlich
Spötter. F. Schwally (417—424) liefert einige Nachträge zu Lanes
Manners and Customs of the modern Egyptians ; die {jcji\ ^jL^t die
in der Katze wohnen, scheinen Erdengel (d. h. Erdgeister) zu sein
und nicht Erdkönige, vgl. Curt Prüfer, ein ägyptisches Schatten-
spiel (Erlanger Dissertation 1906) S. 30 Anm. 1. W. Mar?ais (425
bis 438) führt eine Reihe von Euphemismen und Antiphrasen der
Orientalische Stadien 567
magbribinischen Dialekte auf, darunter das bekannte ^amu (hellsichtig)
für j^\ (blind), wie Knins »'^äo in Wähners Antiq. Ebr. I § 262. 284,
Wrights Catal. of Syr. Mss. p. 162 col. 2 — aber wenn umgekehrt
in Arab. Prov. 2,148 der scharfäugige Rabe j^\ heißt, geschieht
das gleichfalls per antiphrasin? R. Bass 6 (439 — 443) fragt, woher
es komme, daß die arabischen Wörter im Berberischen teils völlig
assimiliert, teils Fremdkörper geblieben sind, und erklärt den Unter-
schied aus der verschiedenen Zeit der Aufnahme. H. Stumme (445
bis 452) hat bereits in seiner Dissertation (Leipzig 1895) den Sidi
Hammu als den berühmtesten Spruchdichter der marokkanischen
Schluh vorgestellt, auf dessen Konto fast alle Produkte ihrer gnomi-
schen Poesie gesetzt werden; jetzt trägt er nach, daß ihm auch ein
großes Gedicht >Die Reise< zugeschrieben werde, worin er jeden ein-
zelnen Stamm und jede einzelne Stadt des Reiches Marokko in ein
oder zwei Versen besinge, und gibt eine Probe von dieser poetischen
Topographie. H. Grimme (453 — 461) richtet die Aufmerksamkeit
auf einige bisher nicht recht verstandene Stellen des Korans, wo ja\
ohne Artikel wie ein n. p. oder t. t. aussieht, vermutet darin den
Logos und entdeckt Spuren desselben auch auf sabäischen In-
schriften.
Darauf kommt das Aramäische an die Reihe. 0. Braun (463
bis 478) unterscheidet drei Stücke in einem Abschnitt des Cod.
Borgian. Siriaco 82 der Vaticana, der über das erste Konzil von
Konstantinopel (A.D. 381) handelt. Im ersten steht eine Ueber-
setzung aus Theodorets Kirchengeschichte, im zweiten außer dem
Symbol und den ersten sechs Kanones die Liste der Unterzeichner
(die vollständig abgedruckt wird), im dritten ein griechisch nicht er-
haltenes Sendschreiben der 150 Väter gegen Macedonius und Apolli-
narius. R. Duval (479—486) hat von der Rhetorik des Antonius
Tagritensis, die bis dahin nur aus einer sehr fragmentarischen Hs.
des Britischen Museums bekannt war, ein annähernd vollständiges
Exemplar in Mosul erkundet und sich davon eine Abschrift ver-
schaflFt. Er gibt eine Inhaltsübersicht der fünf Bücher, in die das
Werk zerfällt. Das erste Buch ist allein unter allen in Kapitel ein-
geteilt und ebenso stark wie die vier folgenden zusammen. Das
fünfte Buch enthält eine ausführliche Abhandlung über die syrische
Metrik, welche Severus bar Schakko benutzt hat, so daß manche
Lücken nach ihm ausgefüllt werden können. J. B. C habet (487
bis 496) beschreibt den s. g. Hortus Deliciarum, von dem er eine
vollständige Kopie besitzt. Das sehr umfangreiche Werk ist eine
nestorianische Catena zu den Bibeltexten, welche zu den gottesdienst-
lieben Lektionen verwandt werden. Unter den Vätern, die das Ma-
668 Gott. gel. Anc. 1906. Nr. 7
terial für die Catena hergegeben haben, sind besonders stark ver-
treten Theodor von Mopsueste, Mar Aba von Easchkar, Hen&na, und
der bis dahin unbekannte Qeliba-zekä. Name und Zeit des Kompi-
lators sind nicht zu bestimmen; die Autoren, die er anführt, reichen
bis ins neunte Jahrhundert hinab. K. V. Zettersteen (497 — 503)
publiziert aus einer Berliner Hs. einen poetischen Dialog zwischen
dem Bösen und der sündigen Seele in nestorianischer Volkssprache.
S. Landauer (505—512) verbessert auf Grund parmesaner Hss.
eine Reihe von Stellen im Targum der Klagelieder. M. Gast.er
(513—536) macht Bemerkungen über die Masora bei den Samari-
tanern, indem er von dem sehr interessanten Kolophon einer Londoner
Pentateuchhandschrift ausgeht, worm eine Anzahl logischer Inter-
punktionszeichen mit eigentümlichen Namen aufgeführt wird. M.
Lidzbarski (537—545) führt den mandäischen Namen Utra (guter
Genius) nicht auf «nnv = Reichtum zurück, sondern auf «nnr»
= UeberfüUe, und versteht das, wie er sich ausdrückt, als super-
fluctio in emanistischem Sinn. Der Wechsel von :p und *) in trä und
nr', auf den er sich beruft, wird zwar von Nöldeke geleugnet; da-
gegen zugegeben, daß n'^n«'^ (Ginza 1 387, 22) für syrisch i>n stehe.
Indessen eine Form Knni*^ statt «s»nn*T^ kommt weder im Mandäischen
noch im Syrischen vor; und UeberfüUe ist nicht dasselbe wie Aus-
fluß (IxpoT^, emanatio) ; der Name würde be.sser für die Quelle passen
als für das Derivat. In ähnlichem Sinne wie »"^nnv kommt der
Name K'^DKbtt nicht nur auf den Zauberschalen vor, sondern doch
auch im zweiten Traktat des rechten Ginza für die Engel des Lichts;
man könnte vermuten, daß auch im ersten Traktat die Könige des
Lichts vielmehr Engel des Lichtes seien, wie sie in einigen Varianten
wirklich heißen — denn es gibt nur Einen König des Lichts, der
Begriff ist singularisch und monotheistisch. Die angebliche Blitz-
rebe (S. 538 Anm. 1) wird doch wohl eine Rebe auf der Erde sein.
Immanuel Low (549—570) legt 24 Jahre nach dem Erscheinen
seiner berühmten Pflanzennamen eine Probe der Fortsetzung vor,
nämlich das Kapitel Fische aus seinem hoffentlich demnächst zu er-
wartenden Buche über die aramäischen Tiernamen. A. Hjelt (571
bis 579) sammelt die Pflanzennamen aus dem Hexaemeron des Jakob
von Edessa. A. A. Be van (581-582) bringt das aramäische oVp
mit der gleichlautenden hebräischen Wurzel zusammen und verwirft
die Ableitung von xaXä>c oder von xX-ijoig.
Es folgen Aufsätze aus dem Gebiet des Alten Testaments. J.
W. Rothstein (583—608) will erweisen, daß der Siracide seine
Weisheit in regelmäßigen Rhythmen und Strophen ausgeprägt habe,
und macht die Probe an Kap. 44 und 45. L. Oinzberg (609 — 625)
Orientalische Studien 569
beschäftigt sich ebenfalls mit dem Ecclesiasticus und trägt Adversaria
zu einer Menge von Stellen vor. B. Stade (627—639) führt den
8. g. Kinarhythmus in Psalm 40 durch. T. Witten Davies (641
bis 650) veröffentlicht Brief studies in Psalm criticism. K. Bud de
(651 — 657) sieht den Urbestand der Vokalisation von Tiberias in
dem oberen, mittleren und unteren Punkt; da der mittlere und un-
tere i und ü bedeuten, so habe der obere ursprünglich ä bedeutet.
W. Nowack (658—670) sucht das Metrum und den Text von
Hierem. 7,1—20 in Ordnung zu bringen, B. D. Eerdmans (671
bis 679) erklärt die charakteristischen Riten des Mazzothfestes aus
animistischen Vorstellungen. K. Marti (681—698) entwirft eine
Skizze der Eschatologie des Alten Testaments. E. S ellin (699
bis 717) hält das Ephod, welches die Priester tragen, für einen
Lendenschurz. G. Westphal (719—728) erklärt den Ausdruck
U^tlton »ns; daß L^o (vielleicht verdruckt für Lu&) bedeute »die Truppen
auf den Kampfplatz führen«, ist ein Irrtum, der auf Verwechslung
mit Ufi beruhen mag. W. W. Graf Bau diss in (729 — 755) handelt
ausführlich über Esmun - Asklepios. C. F. Seybold (757—760)
bringt n'^ni mit 8*1^ zusammen, welches arabische Wort er jedoch
nicht richtig versteht, und deutet das Wtm in lbs wvn (2. Sam. 3, 8)
und •ilfin ««n (2. Reg. 6, 25) als einzelnes Exemplar der Gattung.
G. F. Moore (761—769) stellt mit gewohnter Gründlichkeit fest,
daß iMn ^:p nnrr^n der lobus caudatus und nicht das reticulum
iecoris ist. E. Kautzsch (771— 780) meint daraus, daß die Verdopp-
lung des ersten Radikals statt des zweiten (im Hiphil und) im Im-
perf. Qal der :p'':p schon in sehr alten Texten vorkomme, den Schluß
ziehen zu dürfen, daß dabei kein aramäischer Einfluß im Spiel sei,
bedenkt aber nicht, daß die Verdopplung lediglich durch Punktation
ausgedrückt wird und daß die Punktation zwischen alten und jungen
Texten nicht den erforderlichen Unterschied macht.
Weiterhin werden einige Beiträge vermischten Inhalts zusammen-
gestellt. D. H. Müller (781—786) bespricht Verbalsubstantive im
Mahri und im Soqotri. J. Barth (787—796) erklärt manche auf-
fallende Nominalform und einiges Andere als Anpassung an begriff-
lich Verwandtes (Nöldeke Mand. Gr. 68 n. 4), fast immer ansprechend,
aber nicht immer so, daß andere Möglichkeiten ausgeschlossen wären;
z. B. könnte '^D'O'; ('^r'p'j heißt nur Benjaminit) direkt auf ^ zurück-
gehn und mit ^Uj verglichen werden. C. H. Toy (797—804) redet
m
Über the Semitic Conception of Absolute Law. W. Sol tau (805
bis 815) unterscheidet Petrusanekdoten und Petruslegenden in der
Apostelgeschichte. B. Niese (817—829) führt in der Form eines
570 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
Briefes an den Jubilar, der auch sein Lehrer gewesen ist, den sehr
wichtigen urkundlichen Beweis, daß im Jahre 161 vor Christus eine
jüdische Gesandschaft in Rom gewesen ist und dort Beziehungen an-
geknüpft hat. K. J. Neumann (831—838) behandelt das Verhältnis
des Kaisers Decius zu den Christen. V. Gardthausen (839 — 859)
bucht die Erwähnungen der Parther in griechisch-römischen In-
schriften und fügt seine Beobachtungen hinzu. A. vonDomaszewski
(861—863) spricht von der späten Rache der Semiten an der grie-
chisch-römischen Kultur, die unter der Regierung des Septiroius
Severus mit dämonischer Gewalt hervorbreche; der Triumph dieses
neuen Hannibal verkörpere sich in der Verehrung seiner Gattin
Julia Domna als Virgo Caelestis — man sollte denken, daß die
eigentliche Rache der Semiten sich durch das Christentum und später
durch den Islam vollzogen habe. J. Oestrup (865—870) redet über
den Apollo Smintheus, A. Deissmann (871—875) über den Namen
Panthera.
Die äthiopische Gruppe wird eröffnet durch F. M. E. Pereira
(877—892), der die äth. Uebersetzung der fünften Homilie des
Aphraates herausgibt. C. Bezold (893 — 912) veröffentlicht eine
arabische und eine äthiopische Version des ursprünglich griechischen
Testamentum Adae, welches syrisch 1853 von Renan ediert ist und
neben apokalyptischen Weissagungen eine Verteilung der 24 Hören
auf verschiedene darin Gottesdienst habende Wesen enthält. Er ver-
weist für dies Horarium auf eine Stundentafel des Apollonius Mathe-
maticus in den Cambridger Texts and Studies 1892. J. Guidi (913
bis 923) beschreibt an der Hand eines durch die schwedischen
Missionare besorgten Drucks die einheimische äthiopische Sprach-
lehre, die unter dem Namen Saväsev geht. Das Schema und die
Termini technici der Grammatik sind ganz originell. Ueber den Er-
finder und dessen Zeit scheint nichts festzustehn. Das Wort Saväsev
(Leiter, Brücke) ist eine Uebersetzung von ^, wie die christlich-
ägyptischen Gelehrten des Mittelalters ihre koptisch-arabischen >£sel8-
brücken< nannten. C. Conti Rossini (925 — 939) druckt, nach
einer inhaltreichen geschichtlichen Einleitung, ein aus dem Moment
geborenes Gedicht über die Schlacht von Addi Qeleto (7. April 1852)
im Tigre und übersetzt es ins Italienische. £. Litt mann (941— 958)
überträgt die von Conti Rossini gesammelten Tradizioni storiche
dei Mensa (Giornale della Soc. Asiat. Rom 1901) ins Deutsche. Da
die italienische Zeitschrift trotz der Bedeutung von Mitarbeitern wie
Guidi und Conti Rossini bei uns wenig verbreitet ist, so ist die Ver-
deutschung willkommen; man wundert sich, wie nah verwandt diese
Orientalische Stadien 571
abessinischen Stammessagen der Gegenwart mit den epischen Er-
zählungen der alten Araber sind.
Eine weitere kleine Gruppe enthält Babylonisch-Assyrisches. H.
Zimmern (959—967) führt das mandäische Pehta und Mambuha
auf altbabylonische Riten zurück, von der sehr anfechtbaren Meinung
aus, daß der Mandaismus in der babylonischen Landschaft wurzele
und ein Rest der alten babylonischen Religion sei. M. Jastrow
(969—980) handelt über die Zusammensetzung der babylonischen
Schöpfungsgeschichte. P. Jensen (983—996) gibt einen Vorlauf von
dem Inhalt seines großen Werkes über das Gilgamasch-Epos in der
Weltliteratur. C. F. Lehmann-Haupt (997—1014) löst BTjXttavac
und BsXijtdtpac aus unberechtigter Verkettung. J. Hal6vy (1015
bis 1029)*wendet sich in einem ersten Artikel gegen eine von Zimmern
aufgestellte Liste von 143 hebräischen Wörtern, die aus dem Assy-
risch-Babylonischen entlehnt sein sollen, und kommt zu dem Ergebnis,
daß sie alle nicht direkt aus dem A.-B. stammen, sondern entweder
über benachbarte Völker eingewandert oder gemeinsemitisch seien;
in einem zweiten Artikel führt er 51 Eeilzeichen auf, deren Laut-
wert sich mit semitischen Appellativen decke.
Den Schluß bildet eine Gruppe, in der das Persische überwiegt.
A. V. Williams Jackson (1031 — 1038) bringt für seine Meinung^
daß Zoroaster in Baktrien wirkte und aus Atropatene stammte, neue
Instanzen vor. P. Horn (1039 — 1054) stellt die Beschreibungen des
Sonnenaufgangs im Schahname zusammen. G. Jacob (1055—1076)
will dagegen nicht dichterische Bilder buchen, sondern nach den
Ghazelen des Hafiz schildern, wie die alte persische Schenke und
das Treiben darin wirklich beschaffen war; er spricht auch über die
Namen des Weins und der Gefäße, über die Herstellung des Weins,
über die Musik beim Wein. H. Hübschmann (1077—1080) trennt
xteU von pecten und bringt es zusammen mit neupersisch schäne.
F. Giese (1081—1091), ein Schüler Georg Jakobs, hat sich mit der
türkischen »Moderne« beschäftigt und wird demnächst einen Roman
des Hüs^n Rahmi in deutscher Uebersetzung herausgeben; an dieser
Stelle überträgt und erläutert er zwei schwierige Volksszenen aus
einem anderen Roman desselben Schriftstellers. W. Spiegelberg
(1091 — 1115) sammelt die ägyptischen Namen auf aramäischen Ur-
kunden der Perserzeit und sucht sie zu identifizieren mit Namen,
die während der persischen Periode wirklich in Aegypten nachweis-
bar sind; zum Schluß gibt er ein Alphabet der sich entsprechenden
aramäischen und hieroglyphischen Zeichen. Er hat durch die Güte
von H. Sayce auch noch die ägyptischen Namen auf den erst neuer-
dings entdeckten Papyri Mond verwerten können.
572 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 7
Der Herausgeber C. Bezold hat seinem Verdienst die Krone
aufgesetzt durch einen Index von 71 Seiten, worin die Eigennamen
und, je für sich, die erklärten hebräischen, aramäischen, arabischen
und abessinischen Wörter aufgeführt werden. Einen berechtigten
Anspruch auf allgemeinen Dank hat sich auch E. Kuhn erworben
durch ein Verzeichnis der Schriften (auch der Rezensionen und
kleineren Aufsätze) Nöldekes, das in die Praefatio aufgenommen ist.
Hinzuzufügen wäre die Uebersetzung eines Stückes aus Edrisi in
den Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat
VHS (1873) p. 1-12.
Jeder hat einen Spahn aus seiner Werkstatt zu Ehren des
großen Gelehrten und des geliebten Lehrers dargebracht. Eine syste-
matische Auswahl, etwa in der Absicht, daß ein charakteristisches und
allseitiges Bild der semitischen Studien in der Gegenwart entstünde,
war dabei ausgeschlossen. Unterschiedslos in einen Sack gestopft zu
werden ist schon nicht vorteilhaft für die einzelnen Spähne, und
noch weniger kommen sie zu ihrem Recht in der gedrängten Ueber-
sicht dieses Referats. Aber es ließ sich kaum etwas anderes machen,
und vielleicht ist ein solcher räsonnierender Katalog doch auch neben
dem Register Bezolds von einigem Nutzen, namentlich zur vorläufigen
Orientierung derjenigen, welche die Festschrift selber noch nicht in
Händen haben. Druck und Ausstattung sind vortrefflich, der Preis
verhältnismäßig nicht hoch.
Göttingen Wellhausen
M. L. Etting:haa8en, HarsaVardhana empereur et po^te de l'Inde
septentrionale (606—648 A. D.). Londres, Paris, Louvain 1906. X, 194 S.
Ich erinnere mich keines Buches über indische Geschichte, in
dem die Arbeiten Anderer in der Weise und mit solchem Mangel
an eigener Kenntnis benutzt worden sind, wie dies in der vor-
liegenden Kompilation der Fall ist. Eine ausführliche Besprechung
könnte ein solches Buch hier schwerlich beanspruchen. Nur sein ver-
lockender Titel veranlaßt mich, denen, die mit der Geschichte und
Epigraphik des indischen Mittelalters vielleicht weniger vertraut sind,
an ein paar Beispielen zu zeigen was uns hier geboten wird.
Das Buch gibt auf S. 8 — 16 eine Chronologie der Regierungs-
zeit des Königs Harsavardhana. Der ganze Abschnitt ist, mit Aus-
nahme weniger Zeilen, eine Uebersetzung des betreffenden Ab-
schnittes in C. Mabel Duff's Chronology of India, mit Wiederholung
Alles dessen, wovon wir jetzt wissen daß es falsch ist. Auch bei
E. vernichtet MafigaliSa (Mangaleäa) 'die Mätangas', und schickt
M. L. Ettinghaoseo, Har^a Vardhana 573
Pulikeäin (Pulakeäin IL) 'Capcjadancja' gegen die Mauryas, u. s. w.
Trotz der Citate in dem englischen Originale und ihrer sorgfältigen
Wiederholung in der französischen Uebersetzung scheint es aus-
geschlossen, daß Herr E. die Inschriften, auf deren falscher (später
verbesserter) Uebersetzung^) derartige Angaben beruhen, ange-
sehen hat.
Eine indische Inschrift gibt er selbst, S. 145—150, in Text und
Uebersetzung, und mit Anmerkungen, die eine gewisse Vertrautheit
mit der epigraphischen Literatur zu verraten scheinen. Der Text
ist, abgesehen von einigen Ungenauigkeiten, derselbe wie in Ep. Ind.
Vol. VII. p. 157 flF., das Uebrige eine wörtliche Uebersetzung ins
Französische der ebendaselbst veröffentlichten englischen Ueber*
Setzung. Hätte die Sache nicht ihre ernste Seite, so könnte es nur
Heiterkeit erregen, z. B. die beiden folgenden Anmerkungen mit ein-
ander zu vergleichen:
Ep. Ind. YII. p. 160,3: With sarvti-paHkrita-parihära compare sarva-
vishti-paHMra-parihrüa in the plates of the Väkätaka Mahdr^as, e.g, above,
Vol. III. p. 262, 1. 20. The meaning intended is more correctly expressed
by parihfita-sarvapida, e. g. above, Vol. IV. p. 250, 1. 53, and by 8aroakar(k-
pariMram kritva, above. Vol. III. p. 223, L 15. Compare also aarvobädhä-
parihdra (e.g. Ind. Ant. Vol. IX. p. 128, 1. 35), and for similar expressions
see above. Vol. VI. p. 13, note 3.
Herr £., S. 149, 1 : Avec sarva-parthrta-parihära comparez aarvavifti'
parihära-paHhrta dans les plaques des VakStaka (!) Mdhär^JM, E. I. voL III,
p. 262, 1. 20. L'id^ est rendue plus correctement par parihftc^aarvapi^i^,
ibid. vol. IV, p. 250, L 53, et par sarvakara-parihäram Jcrivä, ibid. vol. 111,
p. 223, L 15. Comparez aossi sarva-hädha-painhära, I. A. vol. IX, p. 218,
1. 35; et pour des phrases semblables voyez £. I. vol. VI, p. 13, n. 8.
Selbstverständlich war für das vorliegende Buch Bäpa's Harsa-
carita von der größten Bedeutung. Nach des Verfassers Angabe in
der Liste der Abkürzungen und nach seinen Anmerkungen zu schlie-
ßen, hätte er den Text der Bombayer Ausgabe benutzt. In Wirk-
lichkeit hat er überall, wo ich verglichen habe, die englische Ueber-
setzung von Cowell und Thomas ohne Kritik ins Französische über-
setzt. An einer einzigen Stelle glaubte ich wirklich etwas Origi-
nelles zu finden, nämlich auf S. 46 und 47, wo eine höchst
ansprechende und meines Erachtens richtige Erklärung der Worte
(xtra parameharena tu^arasailabhuvo durgäya grMtäh karah auf S. 101
des Bombayer Textes gegeben wird. Nur zu bald ergab sich, daß
auch diese Erklärung schon in Professor Sylvain Levi's Le N6pal,
Vol. IL p. 145, steht.
Brauche ich zu sagen, daß andere Werke in ähnlicher Weise
1) Vgl. Ind. Ant. Vol Vm. p. 243 ff., und JSJp. Ind. Vol VL p. 7lt
GOtt. gtU Au. 190«. Nr. 7 40
574 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
haben herhalten miissen? Seite 50 mit den vier ersten Anmerkungen
ist ohne Angabe der Quelle übersetzt ans Dr. Bhandarkar's History
of the Dekkan, 2. Auflage, S. 51. Charakteristisch ist hier, daß auch
in der französischen Uebersetzung 'die Pferde der Meere des Nordens'
(des chevaux des mers du nord, horses from the northern seas) figu-
rieren, die ein gewisser Appäyika in seiner Armee mitgebracht haben
soll, während doch die von Herrn £. selbst auf derselben Seite zi-
tierte Uebersetzung einer Inschrift des Pulakeäin H. hätte zeigen
sollen, daß jene merkwürdigen Pferde ihre Existenz nur einer falschen
Lesart verdanken*).
Nach solchen Erfahrungen mag ich nicht untersuchen, ob das
Buch des Herrn E. für Gebiete, die mir augenblicklich ferner liegen,
irgendwelchen selbständigen Wert besitzt. In seinem eigenen Inter-
esse wäre dem Verfasser für seine historischen Studien in erster
Linie die Herausgabe und Uebersetzung noch nicht veröSentlichter
Texte dringend zu empfehlen.
Göttingen F. Kielhom
The Nakäid of Janr a n d al Farazdal^, edited by Anthony Ashley
Be van. Vol.1, part. 1. Leiden 1905, E. J. BriU. XXUI, 156 S.
William Wright hat 1883 in der Zeitschrift der Deutschen Mor-
genl. Gesellschaft mitgeteilt, er sei seit einigen Jahren an der Arbeit,
die Naqäid (d. h. Streitgedichte) zwischen Garir und Farazdaq her-
auszugeben, welche namentlich Abu Ubaida gesammelt hat, teilweise
nach der mündlichen Ueberlieferung einesi Enkels des Garir, namens
Misbal b. Kusaid. Er ist 1889 gestorben, ohne sein Vorhaben zur
Ausführung zu bringen. Die von ihm hinterlassenen Abschriften des
Oxforder und des Straßburger Kodex der Naqäid (aus letzterem sind
die Hss. in der Yale University Library und in der Bibliothek des
Chediv zu Kähira geflossen) sind darauf von W. Robertson Smith
dem »Magister Artium< A. A. Bevan in Cambridge übergeben. Sie
bieten zwei verschiedene Rezensionen oder besser ausgedrückt zwei
verschiedene Kompilationen der Gedichte, und Wright hatte die Ab-
sicht, jede einzelne besonders herauszugeben. Dann müßte auch ein
dritter Kodex, der inzwischen in zwei zusammengehörigen Stücken
zu Tage gekommen ist und im Britischen Museum aufbewahrt wird,
noch dazu für sich gedruckt werden, und man hätte das Vergnügen,
dreifach zu zahlen und die Augen immer in drei Büchern zugleich
zu haben. Bevan hält es dagegen glücklicher Weise für möglich und
1) Vgl. Ep. Ind. Vol. VI. p. 2.
The Nakäid of Jaiir and al Farazdak ed. by Bevan. 1, 1 575
erlaubt, die verschiedenen Sammlungen unter einen Hut zu bringen,
wenn sie auch in der Auswahl und Reihenfolge der Stücke von ein-
ander abweichen. Er legt den Oxforder Kodex zu Grunde, weil er
die meisten Gedichte enthält und außerdem die dazu mitgeteilten
Erzählungen am vollständigsten wiedergibt. Wenn die anderen
Zeugen, namentlich der Straßburger, Zusätze haben, so schiebt er
sie, mit deutlicher Kennzeichnung, an passender Stelle ein. Vari-
anten zu den Versen gibt er in kritischen Fußnoten vollständig wieder,
Varianten zu den Schollen und Erzählungen nur, wenn sie von einiger
Bedeutung sind. Am Rande sind die Folia der verschiedenen Hand-
schriften vermerkt. Die Orthographie der Oxforder ist nach Möglich-
keit beibehalten, die Vokalisation bereichert. In den Schollen sind
größere Interpunktionen angebracht, in den Erzählungen sind Paren-
thesen durch runde Klammem abgegrenzt. Verweise auf Parallelen
in schon gedruckten Werken sind nach Gutdünken hinzugefugt, ohne
Absicht auf Vollständigkeit und starre Konsequenz, und nicht wo sie
ganz billig sind. Mir scheint Bevans Verfahren durchaus zweckmäßig
zu sein; die Darlegung des Plans erfreut durch anspruchslose Art
und gesunde Verständigkeit ebenso wie die Ausführung.
Zu der Introduction kommt noch hinzu eine Uebersicht der
Lieder des Garir in dem ägyptischen Druck verglichen mit der Lei-
dener und Londoner Handschrift und mit den Naqäid, während eine
entsprechende allgemeine Uebersicht über die Lieder des Farazdaq
nicht beigegeben ist. Außerdem wird in einem besondere Abschnitt
die Chronologie der Naqäid besprochen. Es zeigt sich, daß im Ox-
forder Kodex die Lieder einigermaßen nach der Zeitfolge gruppiert
sind. No. 1—30 fallen in die Zeit bis zur Belagerung von Mekka
A. D. 683. No. 33. 63. 64 fallen zwischen A. D. 684 und 687,
No. 69. 70 auf 690, No. 101 auf 719/20, No. 102. 103. 105 zwischen
724 und 738. Aber No. 51. 52 (A.D. 714/5) und No. 55 (A.D. 694)
fügen sich nicht in die chronologische Reihe. No. 50 gehört vor
No. 49, und No. 78 vor No. 77.
Der Text soll in zwei Bänden (zu je drei Faszikeln) veröffent-
licht werden, ein dritter Band wird Indices und ein Glossar enthalten.
Gedruckt liegt jetzt vor der erste Teil des ersten Bandes. Er ent-
hält meist poetische Invektiven des Garir gegen Ghassan oder
alBalth, die gegen Farazdaq beginnen erst mit No. 31 S. 124. Inter-
essanter als diese Streitgedichte, von denen die Sammlung den Namen
hat, sind die zur sachlichen Erklärung beigegebenen Erzählungen,
die zum Teil Über ihren eigentlichen Zweck weit hiifausgehn und
auch noch viele anderweitigen poetischen Stücke enthalten. So finden
sich ausführliche Berichte aus der alten heidnischen Zeit über den
40*
576 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
langwierigen Bruderkrieg der Abs und Dhubiän, über den zweiten
Tag von Euläb, über den vergeblichen Versuch des Königs Nnmän
Abu Qabus von Hira, den Jarbuiten die Ridäfa zu entreißen und sich
von ihrer Bevormundung zu befreien. Mehr zur Sache gehören die
Erzählungen über die Guerilla zwischen Tamtm und Bakr, über den
Streit zwischen Tamim und Azd in Bagra nach dem Tode Jazids I
und der Flucht seines Statthalters Ubaidallah b. Ziäd, und aber die
Häkeleien innerhalb von TamIm selbst zwischen verschiedenen Sippen
oder Geschlechtem des Stammes. Das spielt größtenteils schon in
der islamischen Zeit und ist fUr die Charakteristik des Reichs der
Umaija von Wichtigkeit. Nicht bloß in Syrien und Mesopotamien,
sondern ebenso in Iraq und in Churäsan pflanzte sich die Anarchie
der Wüste unter den Arabern fort^ und schließlich polarisierten sich
die einzelnen Fehden, unter dem Einfluß religiöser Tendenzen nnd
politischer Aspirationen, zu einem großen Dualismus, der das Reich
zerriß. Es wäre nicht überflüssig, das einmal übersichtlich darzu-
stellen; Sto£f genug ist vorhanden, seit nicht bloß die wichtigsten
Historiker ediert sind, sondern auch die Dichter, Achtal, Qutftmi,
Farazdaq, Garir u.a. Wünschenswert wäre allerdings vorher noch
eine europäische Ausgabe von Garfrs Divan.
Ein paar einzelne Bemerkungen mögen den Schluß bilden. —
6,12. Daß stt^/ IJt die richtige Lesart ist, versteht sich von selbst
und geht zum Ueberfluß auch aus dem Verse 118,1 hervor, der
ebenso anfängt. Damit fällt der Vergleich mit Judicum 5,2 (Reste
arab. Heidenthums 1897 S. 123 n. 2). — 6,13. Obgleich ich nicht
weiß, ob man übersetzen darf: ihr Geruch stinkt nach Gemeinheit,
so darf doch die seltsame Vokalisation uy^ nicht geändert werden;
wenigstens nicht in üy^, denn das heißt nicht: ihr Geruch läßt
ihre Gemeinheit erkennen. — 8,11. Für ta j^ Ji sagt man im
Perfektum lu u^^ U; und ^^^ ist oflFenbar «n'^, verwandt mit c^y >Er
wurde dadurch nicht erschreckte = er hatte kein Arg daraus, ver-
sah sich dessen nicht, merkte es nicht. — 19, 12. 13. Der negative
Schwursatz steht erst im Perfektum, dann im Imperfektum ; ein ana-
loges Beispiel bei Nöldeke, zur Grammatik des klassischen Arabisch
S. 66. — 25,15. Es ist nicht siväm (Feilschen), sondern savdm
(Weidevieh, Besitz) zu sprechen, wegen der folgenden Ausnahme: er
hat wenig Besitz, nur einen festen Panzer und ein blankes Schwert. —
26, 12 und 27, 6. Der Wechsel von 'i und Ji in der übrigens gans
identischen Phrase fällt sehr auf; vgl. ^^ >i bei Nöldeke a. 0. S. 67.
— 26,14. 42,7. Das Verbum ^S^ für grüßen schlechthinkommt
The Nakäid of Jailr and al Farazdal^ ed. by Bevan. 1, 1 577
zwar in Prosa oft genug vor ; im Nasib der echten alten Qagiden er-
innere ich mich aber nicht es so gelesen zu haben wie hier bei
Garir. Die )U^' ist ursprünglich nicht, wie schon im Koran, jeder
beliebige Gruß mit Einfluß des Hm goAähan oder des sdläm, sondern
eine bestimmte Grußformel: vivas, oder auch vivificet te deus (Ach-
tal 3, 7. Qutami No. 4 v. 12). Diese Grußformel hat indessen beinah
nur in der Etymologie der kI^' ihre Spur erhalten. Sie ist früh aus
dem gewöhnlichen Gebrauch verschwunden und scheint sich nur für
die Könige erhalten zu haben; vgl. die beiden im Lisän 18,236 mit-
geteilten Verse > alles was der Mann erlangen kann, habe ich erlangt
außer der jU^' (dem Königtum) < und »damit will ich zum König
Nu man ziehen und mein Heer lO^' ^ (vor seiner Majestät?) la-
gern lassen<. So wird auch im Alten Testament das Vivat auf den König
beschränkt (1 Sam. 10,24. 2 S. 16, 16. 1 Regum 1, 25. 34. 39. 2 R. 11, 12.
Daniel 3,9. 6, 21). Aehnlich in der von Dillmann (Lexikon 688) mit Recht
für sehr alt gehaltenen äthiopischen Formel : h'jäv aha nagä§%. Ob der
phönizische und karthagische Gruß au avo (oder gar der lateinische
ave have) von "»n hergeleitet werden darf, ist sehr zweifelhaft, da
man nicht sieht, woher das Vau kommt; freilich läßt sich keine an-
dere Etymologie auftreiben. — 47, 2ss. Die Erzählung über den
Tag von Dhu Tulflh weicht etwas ab von den Versen, in die sie ein-
leiten soll; in den Versen (53,10. 66,2) zieht Amira b. Täriq zwei
tamimitische Männer von Barägim ins Vertrauen, in der Erzählung
(47, 18 SS.) dagegen eine tamimitische Frau von Tuhaija — dergleichen
kommt oft vor. Für die Chronologie beachte man, daß Amira der
Sohn des Täriq b. Daisak ist, welcher den Sohn des Nu man Abu
Qabus, des letzten Königs von Hira, gefangen nahm; darnach muß
der Zug des Haufazan schon in die Zeit des Propheten fallen. —
59, 9. Ein Verbum ^<^, woher )uxi\ \y abgeleitet sein soll, existiert
schwerlich. Nach Nöldeke Mand. Gr. S. 41 n. 6 ist ^ = Alt und
bedeutet auch die Scheere. Es fragt sich freilich, ob die alten
Araber von der Scheere des Geschicks geredet haben, wie die Grie-
chen von der Scheere der Parze. — 67, 16. 68, 6. Das Zeichen tritt
hier nicht vor der Weissagung ein, sondern zugleich nüt ihr. Es
beweist aber, weil es einen ganz zufälligen und speziellen Zug an-
gibt, daß die Weissagung wirkliche Weissagung ist und keine allge-
meine Wahrscheinlichkeitsvermutung. So auch zuweilen im Alten
Testament, auch da ist die niK nicht notwendig ein Vorzeichen. —
70,13. 119,12. Die Redensart jüLyos ^vXJI yy^* deren eigentlicher
Sinn nicht leicht zu ermitteln ist, kommt nicht nur hier beide mal
678 Gdtt gd. Anz. 1906. Nr. 7
in einer Geschichte vor, die im heiligen Monat an dem heiligen Orte
Ükätz spielt, sondern ebenso auch zweimal im Divan der Hudhail
No. 245. Das kann kaum zufällig sein; die Redensart scheint dem
legendarischen oder hieratischen Stil anzugehören. — 74,4. 76,9.
Was bedeutet ä3^? und was o^t lO» ^a^Uj? >Du sollst mit mir
an seiner statt um den Tod losen< V — 76; 19. Es wird ^ysa^, oder
d^yfi^' zu schreiben sein; Subjekt sind die bI^ (76,16). >Wenn ihr
ihn besucht in Dhu Qär, so (findet ihr ihn dort in seiner Heimat am
Eufrat nicht, vielmehr) lehre ich ihn Wüsten und Wüstenlandmarken
kennen«. — 94,2. Die Worte ^ vynJuAJ- müssen gestrichen werden;
denn der Knabe ist nach dem Folgenden nicht der Sohn des Gunaidib,
und Gunaidib ist nach Maidani 21,96 (in der Version des Mufaddal
über Dähis und Ghabrä) der Sohn des Zaid und nicht des Amr. —
100,12. Die beiden als Akkusati ve vokalisierten Worte sind in Wahr-
heit Nominative: Harmala wollte dem Kampfe vorbeugen, aber zu-
letzt mußte auch er mit fechten. Gemeint ist Harmala b. alAsch'ar
alMurri, der Vater des bekannten Häschim b. Harmala. — 109, 12.
Für das erste ^^\ muß ^J^ß^ gelesen werden. — 111,3. Das Scholion
erklärt verkehrt. Das Pronomen der zweiten sg. fem. in ^ jc>t kann
nur, wie das vorhergehende Pronomen der zweiten sg. fem. in e)t^5^JJ,
auf die Geliebte sich beziehen und nicht auf die Nacht, von der
vielmehr in beiden Sätzen das Pronomen der dritten Person gebraucht
wird. — 111,9. Die echt arabische Bedeutung von ^jJJp ist Rauch,
wie m dem Verse des Gadi (Lisan 8,112): > leuchtend wie der
Schein einer Oellampe, worin Gott keinen Rauch entstehn läßt< —
die alten Araber sind nur an Fackeln aus Palmzweigen gewöhnt und
betrachten es als göttliches Wunder, daß die Flamme der Oellampe
{^AmW JijJ) nicht schwalkt. Das Scholion nimmt diese Bedeutung
auch hier an und sagt, Rauch sei hier Feuer. Das ist wie lucus a
non lucendo. Vielmehr hat Garir den Ausdruck aus Sura 55, 35 ent-
lehnt. Was er aber dort bedeuten soll, hat Muhammad vielleicht
selber nicht gewußt. Jedenfalls wissen es die Ausleger nicht, sie
raten auf geschmolzenes Erz oder auf Funken von glühendem Erze u.s.w.,
indem sie von dem aramäischen tön ausgehn, welches Erz bedeutet
und in dieser Bedeutung auch in das Arabische und in das Aethio-
pische(?) übergegangen zu sein scheint. Beiläufig bemerkt zweifle
ich daran, ob iMWii, der Eigenname des twrr: Wi5, wirklich von rwro
(Erz) kommt und nicht vielmehr von vn: (Schlange). Für den
Eigennamen paßt die Schlange besser als das Erz, die Septuaginta
spricht Nsea^av (wie auch Neeo^ot 2 Reg. 24,8). Die Endung kann
ebenso gut tan sein wie an, wenigstens nach der aramäischen Ana-
The Nakäid of Jarir and al Farazdak ed. by Sevan. 1, 1 679
logie (Nöldeke Syr. Gr. § 129), welcher auch die in Isa. 27, 1 neben
einander vorkommenden Bildungen 'p^'b und ^^tbpT (ebenfalls Eigen-
namen) zu folgen scheinen. — 112,8. Zu der Affäre Ubaidallah b.
Ziad und dem Nachspiel in Ba^ra hätte noch auf Mubarrad Kamil S. 81
und auf Anonym. Ahlw. S. 187 verwiesen werden können, r- 114, 1 ss.
Obgleich die hier vorkommenden persischen Worte bei Tab. 2, 454 ins
Arabische übertragen sind, konnte ich sie doch nicht verstehn. Fr. An-
dreas, an den ich mich wandte, vermutet gewiß mit Recht, daß
dJ^.jj>, dem ^ß j^U»*! bei Tabari entsprechend, aus ^^y^ verderbt
sei, und übersetzt wie folgt. fMahferidun sagte: Kinder, auf die
Lanzenspitzen geht nicht! Sie sagten: sie lassen uns aber nicht los,
bis wir mit ihnen kämpfen. £r sagte : gebt (dihed) ihnen eine Salve
von fünf, d.h. schießt ein jeder fünf Pfeile auf sie ab!< Sie sollen
sich also auf den Nahkampf nicht einlassen, sondern aus der Ferne
schießen.
Damit genug. Man darf auf baldige Vollendung des Druckes
hoffen, da das Manuskript fertig vorliegt und nur die Indices noch
ausgearbeitet werden müssen.
Göttingen Wellhausen
W« £• Crom» Catalogue of the Coptic Manuscripts in the British
Museum. London 1905. XXIV, 624 Seiten, 15 Tafeln, gr. 4°.
Seit dem Erscheinen von Zoegas berühmtem und für die kop-
tische Wissenschaft in gewisser Weise grundlegendem >Catalogus co-
dicum Copticorum manu scriptorum qui in Museo Borgiano Velitris
adservantur. (Opus posthumum.) Romae 1810c sind bald 100 Jahre
verflossen. In dieser Zeit haben sich die koptischen Schätze der
europäischen Bibliotheken außerordentlich vermehrt, aber ihre Aus-
nutzung wird einmal durch das Fehlen von Katalogen für die meisten
Sammlungen und sodann durch den Zustand der Sammlungen selbst
äußerst erschwert. Die älteren Handschriften sind nämlich durchweg
so fragmentarisch, daß schon die Bestimmung ihres Inhalts ein ein-
gehendes Studium und ein mühseliges, entsagungsvolles und doch
nicht immer von Erfolg gekröntes Durchsuchen der gesamten Lite-
ratur erfordert. Dazu sind auch noch die Fragmente einer und der-
selben Handschrift sehr oft in verschiedenen Bibliotheken zerstreut,
sodaß neuerdings z.B. 0. v. Lemm den > Alexanderroman bei den
Kopten € (Petersburg 1903) nach 9 Blättern einer Handschrift heraus-
gegeben hat, von welchen sich 6 in Paris, 2 in Berlin, 1 in London
befinden, und daß Crum für seine Ausgabe der koptischen Kanones
580 Gdti gel Anz. 1906. Nr. 7
des Athanasius, die ich in dieser Zeitschrift 1905, S. 352 angezeigt
habe, sich die Fragmente seiner beiden Handschriften aus London,
Cheltenham, Neapel und Wien hat zusammensuchen müssen.
Unter diesen Umständen ist Crums großer Katalog der kopti-
schen Handschriften des British Museum mit doppelter Freude will-
kommen zu heißen. Er ist eine ganz vorztigliche Arbeit und stellt
sich dem berühmten Werke Zoegas würdig zur Seite. Er erfüllt nicht
nur die Anforderungen, die man gewöhnlich an einen Handschriften-
katalog zu stellen pflegt, sondern leistet noch erheblich mehr. Wie
Zoega, hat auch Crum viele Stücke aus seinen Handschriften ganz
abgedruckt oder kollationiert, was gerade hier sehr praktisch war,
da es sich vielfach um kleine Fragmente handelt, welche sonst nicht
so leicht einen Herausgeber finden würden. Ferner hat Crum, wie
Zoega, der Paläographie große Aufmerksamkeit geschenkt, überall
auf die von Zoega, Hyvernat, Ciasca u. a. veröffentlichten Schriftproben
verwiesen, welche denselben oder einen ähnlichen Duktus zeigen, wie
die Londoner Handschriften, und selbst 15 ausgezeichnete Tafeln mit
Proben aus 55 Handschriften hinzugefügt; diese Proben sind haupt-
sächlich den Papyri entnommen, von denen wir bisher nur wenige
Reproduktionen besaßen, und beschränken sich nicht auf die Buch-
schrift, sondern geben auch manche interessante Beispiele für die
koptische Kursive, welche in älterer Zeit naturgemäß ebenso große
Aehnlichkeit mit der gleichzeitigen griechischen Kursive zeigt, wie
die koptische Buchschrift mit der gleichzeitigen griechischen Bach-
schrift. Endlich hat sich Crum ein besonderes Verdienst noch da-
durch erworben, daß er außer der Londoner auch die meisten übrigen
Sammlungen koptischer Handschriften durchforscht und in ihnen viele
Blätter nachgewiesen hat, welche mit den Londoner Fragmenten ur-
sprünglich zu denselben Handschriften zusammengehörten.
Crums Katalog umfaßt 1252 Nummern. Diese Zahl ist aller-
dings etwas größer, als die wirkliche Zahl der Fragmente. Crum hat
nämlich in dem ältesten Teile seines Kataloges, dessen Druck etwas
voreilig schon im Jahre 1895 begonnen worden ist, bei der Katalogi-
sierung der sahidischen Bibelfragmente die Reihenfolge der biblischen
Bücher möglichst innezuhalten gesucht und daher Fragmente von
Lektionarien, welche Stücke aus verschiedenen Teilen der Bibel ent-
halten, unter mehreren Nummern behandelt. So stellen z.B. Nr. 1.
18. 41. 44 zusammen nur ein einziges Blatt eines Lektionars dar,
und zu diesem selben Lektionar gehört auch noch das Fragment eines
anderen Blattes, welches als Nr. 20 aufgeführt ist. So gehören femer
z.B. Nr. 6. 21. 45. 50. 56 und Nr. 8. 19. 57. 59 zusammen, und zur
letzteren Serie gehören auch noch die Blätter, welche nachträglich
Crom, Catalogae of the Coptic m&noscripts in the Brit. Mas. 581
gefunden und dann im Supplement unter Nn 954 beschrieben sind.
Später hat Grum diese Zerstückelung mit Recht aufgegeben, wie
überhaupt der Plan des Werkes im Laufe der Zeit mehrere kleine
Verbesserungen erfahren hat.
Der Katalog zerfällt in 2 Teile: den Hauptteil, welcher 931,
und das Supplement, welches 321 Nummern umfaßt. Auf die ein-
zelnen Dialekte verteilen sich diese Nummern so:
Hauptteil Supplement Summe
Sahidisch ... Nr. 1—491 Nr. 932—1220 780
Achmimisch . . > 492 > 1223. 1224 3
Mittelägyptisch > 493—711 > 1221. 1222 242
1225—1244. 1252
Bohairisch . . > 712—931 » 1245—1251 227.
Das Sahidische überwiegt also nach der Zahl der Nummern weit.
Sieht man aber auf den Umfang der Stücke, so steht doch, wie ge-
wöhnlich, das Bohairische, welches ja die übrigen Dialekte überlebt
und verdrängt hat, an der Spitze, da unter den bohairischen Hand-
schriften manche umfangreichen Bände sind, während die Stücke in
anderen Dialekten mit wenigen Ausnahmen nur geringen Umfang
haben, ja in der Regel nur aus einem einzigen Blatte bestehen.
Auch hinsichtlich des Alters der Handschriften zeigt sich das
übliche Verhältnis der Dialekte zueinander. Man sieht das schon
an dem benutzten Schreibstoff. Während die sahidischen, achmimi-
schen und mittelägyptischen Handschriften meistens auf Papyrus und
Pergament geschrieben sind, finden sich unter den bohairischen nur
3 Papyrushandschriften (Nr. 739 [Schriftprobe auf Tafel 11]. 1245.
1251) und 18 Pergamenthandschriften (Nr. 719. 722. 730. 740. 750.
753. 760—762. 911—919), während alle übrigen auf Papier ge-
schrieben sind.
Nach dem Inhalt unterscheidet Crum folgende Rubriken (die
Zahlen geben die Summen der Nummern Crums):
Sahid. Achmim. Mitteläg. Bohair.
Bibel 180 1 19 79
Liturgie 28 10 125
Kirchenrecht 10
Exegese, Predigten 128 5
Biographie, Geschichte ... 94 4
Philologisches 14
Zaubertexte, Gnostisches . . 12 2 9
Rechtsurkunden u. dgl. ... 180 54
Briefe 139 148
Verschiedenes 9 2
582 Gott. gd. Anz. 1906. Nr. 7
Während das Bohairiscbe nur literarische Werke aufweist, finden sich
unter den sahidischen und mittelägyptischen Stücken viele nichtlite-
rarische Urkunden, welche für die Kenntnis des Lebens der Kopten
und wegen ihrer häufigen genauen Datierung auch für die Paläo-
graphie von Wichtigkeit sind.
Was der Katalog im einzelnen alles bringt, läßt sich natürlich
im Raum einer Anzeige nicht vollständig darlegen. Ich greife, nm
seine Bedeutung an einem Beispiele klarzulegen, die sahidischen
Bibelhandschriften heraus, da diese meinem speziellen Ar-
beitsgebiet angehören.
Schon ihre Zahl ist recht beträchtlich. Das zeigt sich z. B. beim
Psalter. In meiner Ausgabe der Berliner Handschrift des sahidischen
Psalters (Abh. d. Ges. d. Wiss. zu Gott, Phil.-hist. Kl., Neue Folge IV 4)
habe ich auf S. 5—8 die Zeugen für den Text des sahidischen Psal-
ters so vollständig, wie mir möglich war, zusammengestellt. Durch
Crums Katalog kommt aber eine große Zahl neuer Bruchstücke
hinzu, nämlich
1) Psalterhandschriften
(sämtlich auf Pergament, nur Nr. 950 auf Papyrus) :
25 + 942: ein vollständiges Blatt und drei Bruchstücke aus einem
grieclusch-koptischen Psalter, enthaltend Ps. 982— 10s. 29is— 30s.
48i2— 18. II818— 24 des koptischen und die darauf folgenden
Verse des griechischen Textes (der griechische Text stand
in dem aufgeschlagenen Buche auf der linken, der kop-
tische auf der rechten Seite, also jener auf dem Verso, dieser
auf dem Recto; in Crums Beschreibung von Nr. 942 sind
Verso und Recto irrtümlich verwechselt)
26: Teil eines Blattes, Ps. 198—208. 20i8— 21io
29: ein einzelnes Blatt und zwei Doppelblätter, Ps. 278~28ii.
844-8816
30: ein sehr kleines Bruchstück, Ps. 6722—24
34: Teil eines Blattes, Ps. 10829-1098. 1096-1104
35: ein fast vollständiges Blatt, Ps. 11 84— 86
36: ein Blatt, das vielleicht zum cod. Borgian. XX gehört,
Ps. 11887—06
37: Teil eines Blattes, Ps. 1248-1252. I262-6
38 : Bruchstück eines Blattes aus der von Lagarde herausgegebenen
Handschrift >Z<, fast ganz unleserlich (aus Ps. 129 — 131)
941 : Bruchstücke von 21 Blättern mit Teilen von Ps. 30. 37—41.
44—47. Diese Handschrift hat ein sehr kleines Format (etwa
Crom, Catalogue of the coptic manuscripts in the Brit Mus. 683
9x7 cm); ähnlich klein, z.T. noch kleiner sind Nr. 943.
946-948 0
943: ein Doppelblatt, Ps. 3U-7. 32i7— 33i
944: zwei kleine Bruchstücke aus Ps. 44. 48
945: Bruchstücke eines Doppelblattes, Ps. 61io— 626. 645—603
946: drei Bruchstücke, Ps. 1054-io. 145io— 146» und ein nicht iden-
tifizierter Abschnitt
947: Bruchstücke eines Doppelblattes, Ps. IO69— is. IO818.14. 16.17.19
948: ein Doppelblatt, Ps. 113i8~1147. II861— 77
949: ein kleines Bruchstück, Ps. 1328—1332. 1346.6
950: die vier letzten Blätter eines Papyrusbuches mit Ps. 1484—151
und der Unterschrift, in der sich der Schreiber leider nur als
> diesen elenden Sünder < bezeichnet.
2) Lektionare
(sämtlich auf Pergament, nur Nr. 31 auf Papier) :
27: ein Blatt, Ps. 82-10. 148i8-1492
28: Teil eines Blattes, Ps. 17i6-8o. 266
31: Teil eines Blattes, Ps. 6818. II8180.181
33: ein Blatt, Ps. 82i8— le
95 : ein Bruchstück, Ps. 1435— 10 (in den Additions and Corrections
S. 517)
953: Teile eines Doppelblattes, Ps. 85i5 u.a.
3) Sonstiges
(sämtlich auf Papyrus):
24: 18 Blätter eines Papyrusbuches, Auszüge aus den Psalmen (aus
Ps. 5. 104. 110—114. 118. 119. 122. 135). Modernes Machwerk
mit äußerst ungeschickter Schrift (Schriftprobe auf Taf. 10)
und vielen Fehlem, aber auf eine alte Vorlage zurückgehend
32: ein Brief (= Nr. 656), auf dessen leere Rückseite Ps. 73i-8
geschrieben ist
955 : 6 Blätter kleinsten Formats (etwa 7x77« cm) mit Versen
aus den Psalmen und Matthäus, Ps. 34—47. 1821.82.
Auch finden sich in den übrigen von Crum katalogisierten Werken
manche Zitate aus den Psalmen, welche er in dankenswerter Weise
in dem »Index of biblical passages quoted or referred to< S. 532
zusammengestellt hat.
1) y%\. auch die acbmimische Handschrift Nr. 492 (etwa 10 x 8 cm), von
der eine Seite etwas verkleinert in Crums »Coptic Manuscripts brought from the
Fayyum by Flinders Petrie« (London 1893), PI. 1 abgebildet ist. Zu solchen Mi-
niaturhandschriften wurden vermutlich PergamentabfäUe benutzt. Doch kommt
auch ein sehr kleines Papynisbuch vor : Nr. 955, nur etwa 7 x 7V2 cm messend.
584 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 7
Durch diese neuen Zeugen wird unser textkritischer Apparat zum
sahidischen Psalter oft in sehr erwünschter Weise bereichert. Z.B.
haben wir fiir den größten Teil des langen 118. (hebr. 119.) Psalms
bisher den von Budge herausgegebenen Londoner Papyruspsalter (bei
Crum Nr. 940) als einzigen Zeugen; nur in >Gol.< war noch ein längerer
Abschnitt (v. 152 — 176) erhalten, sonst blos wenige vereinzelte Verse ^).
Die Grumschen Handschriften aber liefern uns folgende Verse:
Nr. 35: v. 4—36
» 25: » 13—24
> 36: > 37—66
>948: > 61—77 (schwer lesbar).
Außerdem bietet die moderne, aber auf alter Grundlage beruhende
Nr. 24 V. 1—16. 18—45. 71—87 und Nr. 31 v. 130. 131 »but not
the exact text«. Ob diese Handschriften wesentliche Verbesserungen
des Textes bringen werden, ist allerdings fraglich; in zwei Fallen
sind sie dem Budgeschen Texte gegenüber entschieden im Unrecht:
Nr. 25. 35 schreiben den 3. Buchstaben des hebräischen Alphabets
rijüi*. statt rijüi*.A, Nr. 36 den 6. Buchstaben t*^t statt oy^y. Doch
bestätigt Nr. 36 den Budgeschen Text in der Stellung des 6. Buch-
staben vor y. 40^ statt vor v. 41 ; diese Umstellung ist dadurch ver-
anlaßt, daß im Koptischen v. 41 durch seine Konstruktion aufs engste
mit V. 40^ zusammenhängt.
Unter den übrigen sahidischen Bibelhandschriften bringt nament-
lich Nr. 12 eine außerordentliche Bereicherung unserer Kenntnis der
sahidischen Bibelübersetzung. Nr. 12 ist nämlich eine ziemlich voll-
ständige Handschrift der Bücher Josua, Richter, Ruth, Judith, Esther,
von denen wir bisher nur wenig oder gar nichts kennen. Leider ist
sie aber ein Palimpsest mit oberer syrischer Schrift und daher außer-
ordentlich schwer zu lesen, und es war gewiß schon eine tüchtige
Arbeit, den Inhalt der 187 Blätter so zu bestimmen, wie Crum ge-
tan hat, und aus den in dem syrischen Buche natürlich bunt durch-
einander gewürfelten Blättern das ursprüngliche koptische Buch zu
rekonstruieren. Interessant ist die Zusammenstellung der Bücher
Ruth, Judith und Esther, welche absolut feststeht, da Judith und
Esther auf denselben Blättern anfangen, auf welchen Ruth und Ju-
dith endigen; Crum vergleicht treffend das > Frauenbuch < der jako-
bitischen Syrer.
Außerdem hat besonders Nr. 951 größeren Umfang. Es ist ein
stark fragmentarisches Papyrusbuch, welches ursprünglich wohl die
1) Ob die noch nicht veröffentlichte Wiener Papyrushs. »Wc (vgL
Ausgabe des Berliner Psalters S. 6) den 118. Psahn enthklt, ist nicht bekannt.
Cram, Catalogue of the coptic manuscripts in the Brit. Mas. 585
Weisheitsschriften vollständig enthielt. Jetzt ist vom Buche Hieb
nur noch ein kleines Fragment vorhanden, größere Stücke dagegen
von den übrigen Büchern: Spr., Pred., Hohesl., Weish., Sir. (im ganzen
62 größere und viele kleine, nicht identifizierte Fragmente). Crum
druckt die leider recht lückenhaften Ueberreste des mit Ausnahme
des Schlusses bisher noch unbekannten Prologs zum Buche Sirach
ab. Eine Schriftprobe findet sich auf Taf. 9.
Für die Kritik des sahidischen Bibeltextes liefern Nr.
932 und 939 nicht unwichtige Ergebnisse.
Nr. 932 ist, wie die Schrift und das altsahidische nl& statt a&H
(vgl. unten) beweist, eine recht alte Handschrift. Der von Crum
ganz abgedruckte Text^) umfaßt Gen. 3i6— 44 (mit einer Lücke
zwischen 3i9 und 22). Oen. 3i6— 24 findet sich auch bei Ciasca; er hat
es aus dem jungen koptisch-arabischen Lektionar cod. Borg. IG, von
dessen Bibeltext er selbst Bd. I, S. XXVIII sagt: >haud est satis ad-
curatus; omissiones vel additiones et quandoque errores frequentiores
occurrunt quam in ceteris codicibus< (als Beispiel dafür nennt Giasca
auch Gen. Si?). Giascas Text weicht mehrmals in auffälliger Weise
vom Griechischen ab, Grums Text aber > differs frequently from that
published by Giasca < und stimmt regelmäßig mit dem Griechischen
überein, z. B. hat er gleich in Gen. 3i6 fen ox]Tr*.igo ^-n^.^^.ogo
nno^AfiUf nSk noY«i.a9«i.^OA& gii ^enAynH cpcTino nttorogHpe =: irXii]-
*6vö>v 9cX'y]dov(o ta^ X6ira^ 000 xal töv otevaYiiöv 000 • Iv XGiratg t^Sig
tixva statt des Giascaschen gn 0^*^3*^2^0*1 eic^«.ogo nnoTfAynH epe-
sno nnof ^Hpe gn ot*'3*'20jul jüm o«f Ai.R«i.g^ n^HT, was griechisch etwa
lauten würde 4v 0T6vaY|i<j) ÄXY]ftov<b tag Xöica^ 000 • t^Stq T^xva äv
ot8va7{i(^ xal X6inQ. Daß die Londoner Handschrift gegen die borgi-
anische das Richtige bietet, versteht sich nach der ganzen Sachlage
von selbst. Wir sehen also, wie sehr Giasca mit seinem Urteil über den
cod. Borg. IG recht hat. Borg. IG ist ein völlig unzuverlässiger
Zeuge, und Stücke der sahidischen Bibelübersetzung, die nur durch
ihn bekannt sind, müssen als so gut wie unbekannt gelten.
Nr. 939 umfaßt 17 Papyrusblätter mit Fragmenten aus Hieb
1—5.
Von der sahidischen Uebersetzung des Buches Hieb gibt es nach
Giascas eingehender Untersuchung (Bd. II, S. XVIII ff.) zwei ver-
schiedene Formen. Die ältere Form, welche Giasca herausgegeben
hat, ist hauptsächlich durch den cod. Borg. XXIV überliefert, welcher
fast das ganze Buch Hieb enthält; kleinere Stücke derselben finden
sich in drei anderen borgianischen Handschriften. Sie ist besonders
interessant, weil sie den vorhexaplarischen Septuagintatext wiedergibt,
1) In Qen. 82« ist [ne]« statt [noj'x zu ergänzen.
580 Gott. gel. A DZ. 1906. Nr. 7
der um fast 400 Stichen kürzer war, als der hebräische und der ?oi
Origenes bearbeitete griechische Text. Die jüngere Form der üeber-
setzung wird nur durch ein kurzes Oxforder Fragment repiSaentieri;
hier sind die hexaplarischen Zusätze in den sahidischen Text aufge-
nommen.
Welche Stellung nimmt nun Grums Papyrushandschrift Nr. 939
einV Crum fUhrt vier charakteristische Lesarten aus ihr an nod
kommt, da Nr. 939 nur in einem einzigen Falle mit dem Ciascascheo
Texte Übereinstimmt, zu dem Schlüsse: »It would appear therefor«
not to bear the pre-Origenistic character claimed for Ciasi^'3 Ter-
8ion<. Sehen wir uns nun diese vier Stellen einmal etwas ge-
nauer an!
lift xal Too^ iraiSa^ aTc^xteivav iv (laxoctpoitc fehlt bei Ciasca, ist
aber in Nr. 939 vorhanden. Da der kürzere Text in der Regel der
ursprüngliche ist, könnte man allerdings Nr. 939 fur hexaplarittk
beeinflußt halten. Indessen erleidet die Regel hier doch eine Aus-
nahme, denn das Fehlen dieser Worte wird durch die übrige heu-
plarische Ueberlieferung nicht bestätigt, weshalb schon Ciasca II,
S. XXXlll einen zuralligen Ausfall der Worte in der einzigen, hier
zugrunde liegenden, koptischen Handschrift, dem cod. Borg. XXIV,
annahm. Nr. 939 beweist die Richtigkeit dieser Annahme Giascaa
Von Beeinflussung des längeren Textes durch die Hexapla kui
keine Rede sein.
2i irapaotf^vai svavttov tot> xopioo (2^) fehlt in Nr. 939, wie bei
Ciasca. Es ist auch nach der übrigen Tradition erst von OrigeM
hinzugefügt.
2it hat Ciasca ^nnd sie strcutefi Di-eck auf ihren K0pf€ ss lati
xara;;aoi|uvot iff^v kzi tsc xs^ aXoc ai>twv. Nr. 939 aber hat nach
Crums gewiß richtiger Herstellung des lückenhaften Textes »wul ^
streuten Drrtk twf $ich< M. Diese Variante scheint auf den «sUi
Blick unbedeutend. Bedenkt man aber« daß die STro-hexa|iIariacke
Veborsetzung sxi cac xs^xxac sotwv sie t&v odparydv nur am Baade
sub asterisco aus Theodotion hat. und daC auch die ältesten griechi-
schen Handschriften diese Worte ganz auslassen, während die juBgeici
tri ti> x^aXa^ x'jtmv (ohne das folgende sU tftv oopxvdv) iE da
Text aufnehmen, so wird man nicht zweifeln können, dafi auch Kr.
93^) blos XXI xAtxxxsiu^voi vf^v voraussetzt, und dafi >avf «tdbc Miß-
lich eine Wieiiergabe des Mediums sein soll. Also wacht Kr. 939
hier zwar von Ciasca ab. bietet aber gerade den nrsprni^Aea
X«'if»r«, A^^er liiere iiruT)aV«^i<%n2n£ ist dem kopüsctei
mehr lebendig heiri;^; gewesen.
Cram, Catalogue of the Coptic manuscripts in the Brit. Mns. 587
Septuagintatext, während der von Giasca herausgegebene cod. Borg.
X^V schon den hexaplarischen Zusatz iiA tac xe^aXa«; akc^v aufge-
nommen hat.
3i8 ist bei Giasca zusammengezogen, Nr. 939 dagegen »follows
the LXX<. Ueber eine Aenderung des ursprünglichen Textes durch
Origenes ist hier, wie in li6, nichts überliefert. Also ist der kürzere
Text auch hier nicht alt, sondern verstümmelt, weshalb ihn auch
Giasca nicht in seine Liste der alten Auslassungen (S. XXIII) aufge-
nommen hat.
Wir sehen also: Die Ueberschüsse, welche Nr. 939 in lis 3i8
über den Giascaschen Text hinaus hat, können nicht als Beweis für Ab-
hängigkeit von der Hexapla verwendet werden, vielmehr ist der Text
der von Giasca abgedruckten Handschrift hier nur zufällig ver-
stümmelt. Umgekehrt darf aber das Minus, welches Nr. 939 gegen
Giasca in 2i2 aufweist, als starker Beweis für die Ursprünglichkeit
von Nr. 939 gelten, und gerade Giascas Text ist hier von der Hexapla
beeinflußt. Nr. 939 ist also nicht, wie Grum anzunehmen geneigt war,
weniger ursprünglich, als Giascas Text, sondern im Gegenteil noch
ursprünglicher und noch freier von hexaplarischen Einflüssen, und
gerade Giascas Text stellt sich als nicht ganz so vorhexaplarisch
heraus, wie Giasca annahm^).
Für die koptische Grammatik notiert Grum aus seinen
sahidischen Bibelhandschriften folgendes.
Die nur in alter Zeit vorkommende Assimilation von n mit
einer folgenden > Liquida« (vgl. meine Ausgabe des Berliner Psalters
S. 36) findet sich in Nr. 935: 6a«.^«.Aiai Sam. I12io. Nr. 935 zeigt
eine sehr alte Schrift, ähnlich der des von mir herausgegebenen
Berliner Psalters; leider ist es nur ein sehr kleines Fragment mit
blos vier Versen aus Sam. 112.
Das gleichfalls altsahidische nü statt aiR (vgl. ebenda S. 45)
findet sich in Nr. 132 + 135 + 137, drei Blättern, welche Teile von
Philipp., Thess. II, Tim. I enthalten und auch einen sehr alten
Duktus zeigen (Schriftprobe bei Kenyon, Our Bible and the old MSS.,
2. ed., Lond. 1896, pi. XVII. Nestle, Einführung in das Griechische
N.T., Taf. 8; vgl. meine Ausgabe des Berliner Psalters S. 13 Anm. 3).
nSL kommt auch zweimal in dem oben besprochenen, alten Genesis-
fragment Nr. 932 vor (Gen. 3i6.22, daneben aber aiH 3i8).
1) Aehnlich urteUte über Giascas Text schon Barkitt in dem von Grum
zitierten Artikel »Text and Versions« in der Encyclopaedia Biblica Kol. ß027.
Seine Annahme, da£ der vom Sahiden übersetzte Text geradezu aus der Hexapla
exzerpiert sei unter Weglassang der sab asterisco stehenden Zosätze, scheint mir
jedoch verfehlt.
588 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
Beide Erscheinungen, die Assimilation von n und njüL, finden
sich außerdem in der von Ooussen (Studia theologica I) nach einer
Abschrift Crums herausgegebenen, recht alten Handschrift der Offen-
barung Johannis (Grum Nr. 142) und in dem bereits erwähnten mo-
dernen Papyrusbuche Nr. 24, woraus Grum mit Recht schließt, daß
dieses auf eine alte Vorlage zurückgeht.
Als orthographische Eigentümlichkeit notiert Grum das in Nr.
964 (Schluß des Kömer- und Anfang des 1. Korinther-Briefs) häufig
vorkommende -rHOTrrn mit oy statt y (Parallelen dazu s. in meiner
Ausgabe des Berliner Psalters S. 32). Die Schrift des Fragments
zeigt Aehnlichkeit mit der Schrift der griechischen Bibelhandschriften
BS, also ist es sehr alt.
Ein neues Wort konmit in der etwas jüngeren Handschrift Nr.
934 (Deut. 2l8— 15) vor: -rjuiccTHnr = i^ jiiooojt^ Deut. 21i6. Wie
mir Grum auf meine Anfrage mitteilte, ist der letzte Buchstabe zwar
verstümmelt und dahinter ein Loch, in welchem ein Buchstabe aus-
gefallen ist, trotzdem scheint die Lesung völlig sicher^). Grum
möchte aicc^h^ aus dem altägyptischen femininischen Partizipium
ni4dd4 ^Gehaßte (Nebenfrau) < ableiten. Nach Sethe sollte man dann
aber Aiecnru^e erwarten. Seine eigene Ansicht hat mir Sethe in
folgender Weise formuliert: »Die Form Aiec^H-r >gehaßU könnte
ihrem Konsonantenbestande und der Stelle des Vokals nach wohl
eine alte maskulinische (nicht femininische) Form des imperfektiscben
Participium passivi sein. Als solche würde sie aber ganz vereinzelt
stehen. Näher liegt es, in ihr eine Adjektivbildung auf hi zu sehen,
wie c^TAJLH^r ^gehor8am<y h^mtv >miÜeidig€, opuHT* und boh. ccrflkirr
:^ehrbar<, ^«^Ak^ >VogeU (eig. yfliegend^). Wie die meisten dieser
Formen, würde sie als eine sekundäre Analogiebildung zu betrachten
sein und von dem Infinitiv A&ec^e-, Aiec^oi» abgeleitet sein müssen.
Auch das parallele Aicpi^x >geliebt€ ist ja kein altes Partizip, sondern
eine Adjektivbildung auf i*r (wie ngüngi^ »XsitoopYdc«) und zwar das
altägyptische fnrjtj.€
Man sieht, daß schon bei den sahidischen Bibeltexten allerlei
interessante Ergebnisse herauskommen, und doch behandelt Grum
dieselben nur relativ kurz, da es sich bei ihnen meistens um ander-
1) Der Zusammenhang heißt nach Grams freundlicher MitteUung: ^ym
ncejüiice n*.q Rtchtc TjütepiT ^ym tjülcctht aar xol tixaoiv ahr^ ^
i^yaTCTjfjkivT] xal ilj fjiiaoufiivT) (im Koptischen ist vor 1I) i^^an. »betde« hinzugefügt; ii*rcil^e
entspricht dem mask. Mnecn«.^ Stern § 496 Ende). Dann kommt die Lücke, und
darauf folgt ^veoy, wir haben also zweifeUos einen mit n*re beginnenden Satz. Im
folgenden sind viele Buchstaben nicht sicher zu lesen, wahrscheinlich heißt es:
irre crfngHpe n^g pnILuice fgoine HnrAiecTHT- &ss xal •(hr^zai M^ icp^oxöroxoc
Ti]c fAiaoufju(vi]c.
Cnim, Catalogue of the coptie manoscripts in the Brit. Mas. 589
weit bereits bekannte Texte handelt. Hiernach wird man sich einen
Begriff davon machen können, wie viel Neues der Katalog überhaupt
bietet. Für jeden, der sich eingehender mit der koptischen Literatur
beschäftigt, wird er ein unentbehrliches Hülfsmittel bilden. Die Be-
nutzung des Katalogs wird durch acht Indices, die zusammen nicht
weniger als 100 Seiten einnehmen, erheblich erleichtert; auch ist
eine gediegene Einleitung voraufgeschickt, welche über die Haupt-
fundstätten der Fragmente, über die Herstellung und äußere Ein-
richtung der Handschriften und über ihre Datierung handelt. Man
kann nur wünschen, daß die übrigen koptischen Sammlungen, über
die uns Grum schon allerlei mitteilt, bald mit ebenso viel Liebe und
Sorgfalt katalogisiert werden mögen.
Göttingen Alfred Rahlfs
Georg Graf, Der Sprachgebrauch der ältesten christlich-ara-
bischen Literatur, ein Beitrag zur Geschichte des Vulgär-Arabisch.
Leipzig, 0. Harrassowitz, 1905. Vni, 124 S. Mk. 7.
Als Bausteine zu einer künftigen historischen Grammatik des
Arabischen und zu einem Thesaurus linguae Arabicae bietet Graf
eine Untersuchung über Grammatik und Wortschatz der ältesten
christlich-arabischen Literatur. Darunter versteht er wie in seiner
literar-historischen Skizze (Straßburger theolog. Stud. VH. Bd. 1. Heft)
das Schrifttum bis zur fränkischen Zeit, d. h. bis zum Ende des 11.
Jahrh. Er hat sich dabei hauptsächlich auf die bisher gedruckten
Bibelübersetzungen aus Syrien und Palästina beschränkt. Von einer
Benutzung der Homilien des Theodor Aba Qurra nach der Ausgabe
des P. Anastasius Bä§ä (Bairut 1904) und der Chronik des Sa'id b.
al-Batriq nach Pocockes Ausgabe glaubte er absehn zu müssen, weil
diese beiden Ausgaben die Texte nach den Regeln der klassischen
Grammatik zugestutzt haben. Warum er aber nicht wenigstens
v. Rosens sorgfältige Auszüge aus dem Werke von Sa*ids Fortsetzer
Jahjä von Antiochia (Zap. imp. ak. Nauk Bd. 44, 1) ausgebeutet hat,
ist nicht abzusehn. Dagegen wäre es zweckmäßiger gewesen, die
spanisch-arabische Evangelienübersetzung bei Seite zu lassen. Wenn
Graf meint, daß der etwaige Vorwurf > einer gewaltsamen, durch
nichts motivierten Zusammenwerfung dieses magribinischen mit den
morgenländischen Texten < durch die Resultate seiner Untersuchung
widerlegt sei, so erklärt sich das nur daraus, daß er seine Unter-
suchung nicht gründlich genug geführt hat. Was er über diesen Text
bietet, ist schon durch die sorgfältige Arb*^-*^ ^'>mers in seiner Diss.
(Der Codex Arabicus Monacensis Aumer 238, i^c pzig, 1905) und ihrer
G«U. goL Ans. 1906. Nr. 7. 41
590 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 7
Fortsetznng ZA 19 überholt. Noch nicht zugänglich war ihm Marn
Ausgabe des Martyriums des Gregor und der Ripsima, Zap. yost
otd. imp. russk. arch. ob. 16, 63 ff., die gleichfalls schon in Mans
Zusammenstellungen wertvolle Ergänzungen zu seiner Arbeit bietet
Grafs Untersuchung beginnt mit einem Abschnitt über Lautlehre
und Orthographie. Daß er diese beiden Gegenstände nicht scharf
von einander gesondert hat, mag ja eine gewisse Entscbaldignng
finden, weil auch die Grammatiken der klassischen Sprache sie Doch
nicht gehörig auseinander halten. Zu welchen schon oft beklagten
Mißständen das aber führt, zeigt dieser Abschnitt mit seinem un-
klaren Gewirre äußerlicher Beobachtungen wieder recht deutlich. Hier
sollen nur einige besonders krasse Fälle hervorgehoben werden. Wenn
für BJJU > Tische BvAuui geschrieben wird (S. 7), so ist das nicht
> defektive Schreibung <, sondern es beruht auf der Kontraktion von
mä'Ula > maida nach Aufgabe des Hamz. Wenn der Cod. Mooac.
I^JLjü >wir wissenc schreibt, so ist das nicht >scriptio plenac, son-
dern es ist die normale Darstellung der bekannten magribinischen
Ausgleichung der 1. P. PI. des Impf, mit der 2. und 3. Daß >sogar
L- an Stelle von ^ vorkommtc, darf nicht mit der Schreibung L für
^ in eine Rubrik gebracht werden (S. 9). Noch merkwürdiger ist es,
daß er die Wiedergabe der Imäla durch e im Damascener Psalm-
fragment in einer Anmerkung zu >IV. Transkription der Eigennamen
und Fremdwörterc (S. 13) erwähnt. Nur wenig besser ist die Anord-
nung des Stoffes in dem Abschnitt B. Formenlehre. Die > Einschaltung
eines o zwischen finalem m1 und dem Suffix < erwähnt er z.B. S. 16
beim Pronomen statt beim Nomen. Daß es sich in seinen beiden
Beispielen um das Suff, der 1. P. Sg. im Vokativ handelt, ist natür-
lich nur Zufall. Für die Aeußerlichkeit seiner grammatischen Auf-
fassung ist der Satz S. 26 bezeichnend, >daß von \^\ und ^Y in S,
L und R das radikale wäw in allen Kasus zumeist beibehalten wirdc.
Der dritte Abschnitt Syntax schließt sich an Reckendorfs Buch
an mit Ausnahme des Paragraphen über die Präpositionen, in dem
er Caspari-Müller folgt. Er will alles verzeichnen, was von den dort
gegebenen Regeln abweicht oder als späterer (jüngerer) oder seltner
Gebrauch bezeichnet wird. Dies Kapitel ist recht gut gelungen uid
seine Beispielsammlungen sind sehr dankenswert. Freilich passier,
es ihm gelegentlich, daß er einen Sprachgebrauch, der zufällig in
seiner Vorlage etwas zu kurz gekommen ist, ausführlich belegt, ob-
wohl er schon in der »klassischen < Sprache nicht selten ist. Das
gilt z. B. für ^junJ zur Wortverneinung ; vgl. schon das Beispiel bei
Nöldeke Zur Gramm. S. 89 Z. 21, femer das bekannte Sprichwort
\
i
Graf, Der Sprachgebrauch der ältesten christl.-arab. Literatur 591
jU^ LTA^ t5^' L5i^- ^^ *^^r ^®^ Mensch ist rachsüchtig, nicht das
Kamel <, Lebld. XXXIX 18, MaidäniI21 (16), das die Entwicklung
des partikelartigen Gebrauchs aus dem Satz veranschaulicht, ferner
Agänl 1 167, 15, IV 77, 12 v. u., V 67, 7 u. s. w.
Als am wenigsten befriedigend muß leider der 4., der lexikalische
Teil bezeichnet werden, der des Mißverstandenen etwas gar zu viel
bietet und nur mit großer Vorsicht benutzt werden darf. Sein Plan,
alles festzustellen, was einerseits in den Wörterbüchern von Freytag,
Lane und Dozy nicht aufgeführt, andrerseits von diesen und von
SpezialWörterbüchern als modern, vulgär und provinziell bezeichnet
wird, ist zwar sehr gut gefaßt, ihn auszuführen reichten aber seine
Sprachkenntnisse leider nicht aus. v/?- II ^^itit nicht >für recht-
schaffen halten«, sondern nur > prüfen« und ist wörtliche Ueber-
setzung von 8oxt|idC6tv. ^^js> VI »einen Lohn empfangen« ist f^j^^
VI. iA^]ys>'\ heißt nicht »deine Blicke«, sondern > deine Sinne < für
^]^ als PI. von iub>-, nicht von o-^^. U^hg» VIII heißt nicht
> quälen <, sondern ist Mt. 15,22 wörtliche Uebersetzung von {^a^K.»
= '8at|iovlCeTat »corripitur«. uJ^ VIII Lc. 2,41 ist nicht >hinaufgehn«,
sondern >hin- und hergehn<, dann >sich begeben«. ^|>^ »Tabernae<
ist Verschlimmerung des überlieferten v:>^|^ für v^^^l^ PI. von
oyb>. Graf nimmt es als PI. von ^^]y£> »Tisch«. ^\^ »Herbergs-
geber« 1. j^L>. Uo^ >Wille< ist nicht iu?^, sondern Lto^. wvxyuwl
2 . Cor. 1 2, 1 8 ist nicht > übervorteilen, überlisten < , sondern wörtliche Ueber-
setzung von ^^J = litXeovdxTY]oev. ^t J! '<>^ y«' er ^5^ i c//'^'^
Mt. 27,19 heißt nicht > vergreife dich in keiner Weise an diesem Ge-
rech ten <, und ofy^^-ö ist nicht X von ^^, sondern ^^^^ als
VIII von ^j£;, zu lesen: »Laß dich auf nichts ein m.d. G.<. ^ ^ji
ijMwJbl heißt nicht »der Satan schmückte sich«, es ist die bekannte,
schon qor'änische RA. in absoluter Anwendung. Für v^^umLjmJI j»^
» Palmsonntag < ist v^L^t zu lesen, wie R 12a, 14 richtig steht;
das Wort ist ja schon > klassisch <, s. Näbiga 1,25. Daß es von
{Ka^ (Graf {&m3a) komme, ist doch sehr fraglich. ^^^a>Lum ist
PI. von -iL«, nicht von gJU. Warum setzt Graf für das richtige
[jJo\^\ >Liktoren< ^^jj^^t? Zu /äx^ = Xaöpa bemerkt er:
>üeber die Ableitung des Wortes soll Burkitt in The Cambridge
Philological Society berichtet haben (mir leider nicht zugäng-
lich)<. Aber von de Goeje ZDMG 54,336 hätte Graf lernen
können, daß es griech. a'y]xö(; ist. Auf seine griechischen Kenntnisse
werfen freilich auch Formen wie ao6ß6Ö(; S. 117,8 und vaöta 118,4
41*
592 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 7
ein merkwürdiges Licht. <ii^ II ist nicht > willfährig sein<, sondern
> jemandes Fürsprache annehmen«. oLJt ^US heißt »acht Schafe«,
nicht >acht Stücke, es ist PI. von bLä für klassisches« ^L.^, nicht
von Xaä > Zeichen, Marke <. yUb > Flechten < steht für yU^, wie
ju«^c;A^b für siyjJö] es sind fälschlich klassizierende Schreibungen.
Weil die Schreiber wissen, daß ihr vulgäres (jo oft für klassi-
sches Ja steht, so setzen sie Jo auch da, wo ^ auch im Klassischen
berechtigt ist, wie in manchen Gegenden Deutschlands Halbgebildete
beim Hochdeutschsprechen g für j (Gesus) setzen, weil sie wissen,
daß ihr dialektisches j oft hochdeutschem g entspricht, ^y^ X heißt
nicht > zusammenhäufen < ; ^aaxä^I ^^ßO<l\ (s. z. 1.) ist reguläre Ueber-
setzung von ojtiv Tot(; icXooototg. Lc. 6, 24. cly >freie Zeit« 1. gjy.
Für Q^jä > Opfer«, in dem G. einen PL von ji findet, ist ^Ly zu
Wn. gJlä ist nicht >Gicht«, sondern >Hemiplegie<. Für -/ »Flecken,
Stadt« 1. ^; es stammt nicht von syr. jL»;^ »Mönchszelle« (er meint
JLuJ«), sondern von JLa;^ > Stadt«. Ein Wort xx^ »Gestalt, Figur«
gibt es nicht; a. a. 0. ist jfhi\ icL^ gemeint > (etwas) wie die Ge-
stalt eines Vogels«. ^1^1 > Hügel« ist nicht PI. von xaJ^ (er meint
jU^), sondern von iuit. Jum^* > Enthaltsamkeit« 1. aSL^. ^ VIII
»suchen« 1. ^j«MJJt. -LJ cjy^ Mt. 2, 18 ist nicht »eine brausende Stimme«
(= g^), sondern >eine Stimme von Wehklagen« 1. -Li. Ein Wort
iüjli »Aehnlichkeit, Gleichheit« gibt es nicht. In der bekannten RA.
jüyU Aljil >er hielt ihn für etwas« ist jüJL^ (eig. >er stellte ihn an
die Stelle von etw.«) zu sprechen. > Beschwören« ist nicht yij,
sondern «AAi. Für sJ^Lj II »schmücken« ist v^^ zu 1., das G. als
sjukai II und y^fiSä^ X selbst anführt, q^j^. >sie spotten« kommt
nicht von jp, sondern von ^^Jp, «o-^ >Vorhang« ist nur falsche
Uebersetzung von cijS^l Mt. 27,51. v^b^i »wird geschlagen« Lc.
12,47 ist nicht v»>^ IV, sondern s-oi U. Qj^i^^ >8ie freuen sich«
ist nicht äI^ VIII, sondern L^ V. iUP^ ist nicht > Verurteilung«,
sondern wie gewöhnlich »Gabe«. »Bereit sein« ist nicht y*4^*> son-
dern yt^
Die Ausstattung des Buches läßt nichts, die Korrektheit des
Druckes außerordentlich viel zu wünschen übrig.
Königsberg i. Pr. C. Brockelmann
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwartz in Gdttingen
August 1906 No. 8
Begesta pontlfleum Bomanomm. Italia pontlflela sive Kepertorium
privilegiorum et litterarum a Komanis pontificibus
ante annum MCLXXXXYIII Italiae ecclesiis, monasteriis,
civitatibus singulisqae personisconcessorum. Jabente Regia
Societate Gottingensi congessit Paulus Fridolinus Kehr. Vol. I : Roma.
Berolini apud Weidmannes MDCCCCVI. XXVI et 201 p.
Des Privilegs der Göttinger Professoren (obwohl ich leider nur
noch einer in partibus infidelium bin), in diesen Anzeigen ihre eigenen
Werke zu loben, bediene ich mich, nicht nm auf diesem kürzesten
Wege wenigstens zu einer literarischen Anerkennung zu gelangen,
sondern weil ich die willkommene Gelegenheit wahrnehmen möchte,
gewisse mir notwendig erscheinende Erörterungen über den I. Band
der im Juli d. J. erschienenen Italia pontificia vorzubringen. Sie
würden die Einleitung des Bandes selbst zu sehr belastet haben, ab-
gesehen davon, daß mein Latein nicht zu längeren und schwierigeren
Auseinandersetzungen ausgereicht haben würde. Haben doch die
kurzen Einleitungen schon Schweiß genug gekostet! Ich habe aber
über die Entstehung des Werkes, über seine Anlage im großen und
ganzen und über seine Ausführung im einzelnen Mancherlei zu sagen — ,
nicht um den sehr naheliegenden Einwendungen zu begegnen, die um
so weniger ausbleiben können, je näher sie liegen, sondern um die
Absichten, die ich damit verfolgt habe, genauer zu begründen, die
Aufgabe, die ich mir gesteckt, präziser zu formulieren, die Details
der Anlage besser zu erläutern.
Als ich vor 10 Jahren, im Herbst 1896, der Göttinger Gesell-
schaft der Wissenschaften den Plan einer kritischen Ausgabe der äl-
teren Papsturkunden bis Innocenz IH. vortrug, war ich ganz Diplo-
matiker, reinster Diplomatiker Sickelscher Observanz. Ich wollte
genau dasselbe bei den Papsturkunden machen, was Sickel für die
Kaiserurkunden geleistet hatte. Also mich auch derselben Methoden
der Sammlung, Ordnung und Bearbeitung des Materials bedienen.
Die Hauptsache war mir damals, wie gesagt, ganz das Diplomatische ;
Q6iU gel. Ans. 1906. Nr. 8 42
594 Gdtt. geL Abx. IdOa. 5r. 8
kh wollte mich Torzuglich der Profmig der OrigiBale and der Unter-
sncbnog der Falschimgen widmeo; kh dachte darfib^ Beitrige mmd
Erläotemngen zar Papstdiplomatik zu yeroffentlichen, eine Lehre Tim
den Papstorkonden nach dem Muster der Acta KarolinonuD zn
schreiben nnd ein großes Faksimflewerk heraaszugeben^ das for die
Papstdiplomatik das sein sollte, was die Kaisenirknnden in Abbfldimgen
for dk Kaiserdiplomatik sind. Aber wie weit bin ich jetzt Ton diesen
Idealen noch entfernt!
Ansgerästet also mit den besten Vorsätzen und mit L. Beth-
manns bisher nnäbertroffenem Reisefahrer durch die Archive ond
Bibliotheken Italiens (in Pertz Archiv XII), verstärkt durch das mit
schulm&ßig gebotenem Mißtrauen betrachtete und benutzte Iter Ita-
licum von J. v. Pflugk-Harttung, ging ich im Herbst 1896 ans Werk.
Ich beabsichtigte, vorzüglich jene großen Staats-, bischöflichen und
Kapitelarchive Italiens zu besuchen, die dort bereits beschrieben
waren, die Papsturkunden bis Innocenz III. vorzunehmen, die Origi-
nale säuberlich nach allen Regeln der Kunst zu kopieren und zn
faksimilieren, die Kopialbiicher zu bearbeiten, kurz das Material nach
denselben Methoden zusammenzubringen, die ich einst als Sickeb
Assistent bei den Diplomata gelernt hatte, immer mit der vorwal-
tenden Tendenz, vor allem die Originale zu studieren und durch deren
Untersuchung möglichst bald zu einer kritisch gesicherten Papst-
diplomatik vorzudringen. Gewiß war ich auf Ergänzungen auch des
Materials gefaßt; ich war sicher, neue Originale und nicht wenige
unbekannte StUcke aufzufinden;^) aber das würde doch erst in zweiter
Linie stehen.
Jedoch schon die ersten Versuche ergaben, daß ich die Sache
falsch angefaßt hatte und daß ich so zwar schnell zu einer Lehre
von den Papsturkunden, niemals aber zu einer leidlich vollständigen
Ausgabe gekommen wäre. Ich erkannte sehr bald, daß das archiva-
lische Material ganz ungenügend zusammengebracht und verzeichnet
sei. Es tauchten, sobald ich energisch in die Archive selbst ein-
drang, mit einem Male ganz neue Fonds auf, von denen ich bis da-
hin nichts wußte, Archive, deren Existenz bis dahin unbekannt war,
Ueberlieferungen, die bis dahin ganz unbeachtet geblieben waren.
Ich sah, daß ich eine Vorarbeit, die ich (wie gewiß alle Andern) als
in der Hauptsache längst erledigt ansah, überhaupt noch machen
müßte, ehe ich an das ersehnte Ziel, mich an der diplomatischen
1) Ich schätzte im Jahre 1896 die Zahl der neu aufzufindenden Stücke auf
ein rundes Tausend, womit ich die ca. 17900 Nummern bei Jaff^ zu vermebren
hoffte. Jetzt schätze ich mit 3000 Nummern (nicht eingerechnet die Deperdita) die
Zahl vielleicht noch zu niedrig.
p. Fr. Kehr, Italia pontificia vol. I 595
Untersuchung der Urkunden selber zu delektieren, gelangen würde.
Und um die Wahrheit zu bekennen, ich sah jetzt vor mir statt einer
mechanischen schablonenhaften Bearbeitung eines gegebenen Materials
nach berühmten Mustern ein unendliches Arbeitsfeld voll neuer und
lohnender Aufgaben, und so warf ich mit einer gewissen vergnügten
Herzlosigkeit die alten Götter von mir und machte mich sogleich an
das neue Werk.
Doch ich möchte noch ein Moment anführen, welches mich und
alle Andern, welche an die Brauchbarkeit unserer archivalischen Vor-
arbeiten glaubten, hinreichend entschuldigt und überhaupt die eigent-
liche Richtung, welche die Urkundenlehre in den letzten dreißig
Jahren genommen hat, erklärt. Sie stand und steht noch heute
unter der Aufgabe, die ihr einst die Mauriner gestellt hatten: Fest-
stellung der Echtheit. Das ist, trotz aller Evolutionen nach rechts
und links, immer noch das Zentralproblem der Diplomatik. Auch des
Erneuerers der Diplomatik, Sickels, nächste Ziele waren diese, und
sie konnten für die Karolingerzeit auch nicht andere sein. Das Neue,
was Sickel hinzubrachte, war die neue Methode, mit der er jene
Aufgabe sicherer löste als seine Vorgänger, nämlich die Schrift- und
Diktatvergleichung, die er zu immer feinerer Ausbildung brachte, bis
sie im weiteren Verlauf zur Basis für neue und bedeutungsvolle Stu-
dien wurde; ich meine die auf diesen Vergleichungsmethoden sich
aufbauenden Forschungen zur Kanzleigeschichte, die besonders für
die jüngeren Perioden bald wichtiger wurden als die Fälschungspro-
bleme. Sie boten so viel Neues und Belehrendes, daß sie das Inter-
esse aller mit Urkunden sich beschäftigenden Forscher mehr und
mehr ergriffen und die überlieferungsgeschichtlichen Fragen in den
Hintergrund treten ließen, zumal an ihnen die strenge Diplomatik
eigentlich nur ein Interesse hat, soweit es sich um die Auffindung
neuer Originale handelt.
Und doch finden sich schon bei Sickel und zuerst in seinen
Acta Karolinorum Ansätze zu einer Art von urkundlicher Quellen-
kunde. Ich habe schon vor 20 Jahren als das originellste und be-
lehrendste an Sickels Diplomata- Ausgabe jenes » Quellenregister <
schätzen gelernt, in dem er das gesamte Urkundenmaterial nach
den Empfängern ordnete und sehr dankenswerte Notizen über die
Quellen eines jeden Fonds gab. Wenn man will, ist die Arbeit, die
ich jetzt vorlege, nichts weiter als ein solches weiter ausgebildetes
Quellenregister. Allerdings blieb Sickel streng bei seiner Aufgabe;
er registrierte nur das für seine Ausgabe der Kaiserurkunden des
10. Jahrhunderts benutzte Material; was außerhalb der in der Aus-
gabe behandelten Diplome lag, blieb grundsätzlich auch außerhalb
42*
596 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 8
des Rahmens seines Qnellenregisters, während ich mich bemuht habe,
ihm die breiteste Grundlage zu geben.
Daß diese Ansätze zu einer urkundlichen Quellenkande nicht
weiter ausgebildet worden sind, hat seine Ursache in jener Selbst-
täuschung, in der wir uns alle befanden, indem wir annahmeoy dafi
das ältere urkundliche Material wenigstens in der Hauptsache gebucht
sei. Das ist die üble Seite aller Regestenwerke, abschließender Ko-
difikationen, Bibliographien, daß von ihnen eine Art von Suggestion
ausgeht, als ob mit ihnen die beabsichtigte Vollständigkeit auch er-
reicht sei. Unsere Handbücher mit ihren Paragraphen und Literatnr-
angaben fungieren in der Wissenschaft wie die Polizei im Staat. So
hat für die deutsche Forschung in den Archiven und Bibliotheken
Italiens noch heute Bethmann eine fast exklusive Geltung. Der
Monumentist von heute geht ebenso wie sein Ahne vor 30 Jahren
ausschließlich mit Bethmann ausgerüstet auf Reisen. Und auch in
der Diplomata-Abteilung waren die Angaben Bethmanns allzu maß-
gebend. Die gelegentlichen Ferienreisen deutscher Professoren nach
Italien, die wieder auf Bethmannschen Pfaden wandelten und zum
dritten und fünften Mal notierten, was schon von diesem und andern
verzeichnet war, bestärkten den Eindruck, daß alles Wesentliche er-
ledigt sei.
Man hätte aber schon aus J. v. Pflugk-Harttungs Iter Ita-
licum ersehen können, daß vor allem andern eine völlige Revision
des » Bethmann < notwendig gewesen wäre. Das Material, das jener
heranbrachte, war quantitativ gemessen, erstaunlich groß ; und schon
dieser Umstand hätte mehr Beachtung verdient als er fand. Gewiß
wimmelt v. Pflugk-Harttungs Iter von irrigen Angaben und groben
Fehlern, und roh und gänzlich unverarbeitet ist der Stoff, dennoch
bleibt bewundernswert, was hier ein einzelner Forscher an entsagungs-
vollster und anstrengendster Arbeit geleistet hat.^) Der von ihm
mit unzureichenden Kräften imd Mitteln und in der Hast unter-
nommene Versuch wäre eine der schönsten und lohnendsten Aufgaben
für unsere Monumenta Germaniae gewesen. Ich habe das seiner Zeit
angeregt, aber keinen Erfolg gehabt, und ich mußte die Arbeit, die
1) Dies ist meine SteUong zu J. v. Pflugk-Harttangs Arbeiten, die fur mich
eine so unschätzbare Vorarbeit gewesen sind, daß ich über die großen Mängel leichter
hinwegsehen kann, als jene, welche zehnstündige Archivarbeit in staubigen und
lichtlosen Archiven, in Nestern, wo selbst die Flöhe nichts mehr zu beißen finden,
an heißen Sommer- und an kalten Wintertagen nicht einmal vom Hörensagen
kennen. Dagegen vermag auch ich mit Pflugk-Harttong als Diplomatiker gar
nichts anzufangen.
p. Fr. Kehr, Italia pontifida vol. I 597
sich als gewaltiger erwies als vorauszusehen war, allein mit meinen
Mitarbeitern auf mich nehmen.^)
Nun hat es uns Anfangs sowohl an der rechten Vorbereitung
wie an der nötigen Erfahrung gefehlt, und unsere ersten Versuche
sind nichts weniger als vollkommen gewesen. Ich habe erst bei der
Bearbeitung des römischen Materials, das zum guten Teil aus Resten
und Teilen versprengter und zerstreuter Fonds besteht, gelernt, wie
die Arbeit planmäßig anzulegen und durchzuführen sei. Die Erfah-
rungen und Entdeckungen, die ich in Rom machte, bestärkten mich
in der Ueberzeugung von der Notwendigkeit, vor allem eine ur-
kundliche Quellenkunde auf breitester Grundlage zu schaffen.
Wie ist doch unsre Kenntnis dieser Dinge lückenhaft und fast immer
nur gelegentlich und zufällig ! Ich erläutere das an einem Beispiel. Den
Agnellus von Ravenna kennt jeder Historiker; Ausgaben sind mehrere
vorhanden und deren handschriftliche Grundlage ist öfter diskutiert
worden. Aber wer besitzt eine XJebersicht über die doch ebenso
wichtigen älteren Urkundenbestände des erzbischöflichen Archivs von
Ravenna? Was in Ravenna selbst liegt, ist freilich durch Amadesi,
Fantuzzi und Tarlazzi bekannt, aber große Teile des erzbischöflichen
Archivs, die jetzt in Rom, in Mailand und Paris sich befinden, sind
so gut wie unbekannt geblieben. Ich könnte an vielen andern Bei-
spielen dasselbe nachweisen.^) Jedenfalls sind die alten Urkunden-
fonds Italiens in ganz unglaublicher Weise zerrissen und zerstreut:
wie will ein Einzelner für sein Spezialgebiet sie zusammenbringen?
Was von Italien gilt, gilt auch von Frankreich und wahrscheinlich
auch von Spanien. Günstiger liegen die Verhältnisse in Deutschland
Dank den zahlreichen Urkundenpublikationen, die wir besitzen; doch
wird auch hier eine Uebersicht über die vorhandenen Urkundenbe-
stände von nicht geringem Nutzen sein.
Indem ich mich also, anstatt ausschließlich nach Papsturkunden
zu fahnden, zu einer systematischen Durchforschung aller Archive
und Bibliotheken entschloß und die Rekonstruktion der alten zer-
rissenen Urkundenfonds als unsere nächste Aufgabe auffaßte, habe ich
doch auch unsere ursprüngliche Aufgabe, die Sammlung der älteren
Papsturkunden, über Erwarten fördern können. Denn eben auf diesem
Wege haben wir die große Zahl von neuen Urkunden gefunden, die
in solcher Masse gewiß Niemand erwartet hat.
1) Vgl. Göttinger Nachrichten 1903 S. 255 ff.
2) Ich darf mich hier auf die Untersuchungen beziehen, die ich unter dem
Titel »Otia diplomatica« in den Göttinger Nachrichten 1903 S. 255 ff. veröffent-
licht habe. Es sind Schulbeispiele für meine These, denen ich andere in Hülle
und FüUe zur Seite setzen könnte.
^
598 Gott gel ABZ. 1906. Nr. 8
Mit dieser Forschungsmethode trat die Bearbeitung des
Materials nach den Empfängergruppen durchaus in den
Vordergrund. Noch eine andere Erfahrung bestärkte mich in diesem
Modus procedendi. Die große Masse der älteren mittelalterlichen
Urkunden kommt aus den kirchlichen Instituten, aber die Geschichte
der geistlichen Stiftungen in Italien ist, wenn man von den bedeu-
tendsten, die manchmal eine fast überreiche Literatur aufzuweisen
haben, und von den großen Ordensgeschichten der Benedictiner (Ma-
billon), der Gamaldulenser (Mittarelli), der Gisterzienser (Manriquez),
der Olivetaner (Lancellotti), der Lateranensischen Kanoniker (Pen-
notti) u.a. absieht, Über alle Maßen vernachlässigt geblieben. Das
einzige, das ganze Material behandelnde Werk, das wir besitzen, ist
des Augustiners Augustin Lubin 1693 erschienene Abbatiarum Ita-
liae brevis notitia, ein nützliches Buch trotz aller Irrtümer und
Lücken, aber selten und wenig benutzt. Es ist meines Wissens nicht
einmal auf der Königlichen Bibliothek in Berlin. Die Ergänzungen,
die E. Celani in Studi e documenti di storia e diritto delPAccademia
di conferenze storico-giuridiche t. XVI p. 221 sq. (1895) geboten hat,
helfen nicht viel. So ist es nicht besonders verwunderlich, wenn Gelehrte,
die mit dem Urkundenmaterial italienischer Klöster sich ex professo
zu beschäftigen hatten, über einzelne Klöster die allermerkwürdig-
sten Angaben gemacht haben. So identifiziert v. Pflugk-Harttung
(Acta III 162 n. 151) das, ich möchte jetzt fast sagen, sehr bekannte
Kloster Fallere bei Nepi im alten Patrimonium mit Falerone in den
Marken, und gar nichts wußte er mit dem Gisterzienserkloster Mar-
mossole in der Diözese Velletri (Acta III 241 n. 245) anzufangen, das er
sogar mit Marino im Albanergebirge zusammenbrachte. Auch in Du-
chesnes und Fabres Anmerkungen zum Liber censuum S. R. E. des
Gencius finden sich arge Irrtümer der Art. Ich selbst habe das
Kloster S. Salvatore di Mileto in Galabrien gesucht, während es in
der Diözese Terracina lag (Göttinger Nachrichten 1900 S. 189 n. 27)i
Und auch heute noch bin ich keineswegs mit allen Klöstern Italiens
im Reinen. Für die arg vernachlässigte kirchliche Geographie öffnet
sich hier noch ein weites Feld, und ein Monasticon Italicum ist eine
der dringendsten und lohnendsten Aufgaben. ^ Einen guten Teil
dieser Aufgabe hoffe ich mit der Italia pontificia gelöst zu haben.
Die Bearbeitung des urkundlichen Materials also nach den Em-
pfängergruppen habe ich zu unserem nächsten Ziel und zur Grund-
1) K. Fr. Stumpf-Brentano beabsichtigte einst die Bearbeitung eines Mo-
nasticon; seine Vorarbeiten übernahm nach seinem Tode A. Fanta in Wien, bei
dem ich Stumpfs Scheden sah. Was nach Fantas Tod aus diesem Material ge-
worden ist, weis ich nicht zu sagen.
p. Fr. Kehr, Italia pontificia vol. I 599
läge des Werkes, dessen ersten Band ich hier anzeige, gemacht. Ich
habe sie zugleich mit der dringend notwendigen Neubearbeitung
der Papstregesten verbunden.
Das aber ist ein Novum, das vielleicht bei der diplomatischen
Orthodoxie einiges Kopfschütteln erregen wird. Ich will aber gleich
zu ihrer Beruhigung sagen, daß dieser Versuch nichts gemein hat
mit der jüngst diskutierten Frage, ob man nicht die Urkundenbücher
nach verfassungsgeschichtlichen oder andern materiellen Gesichts-
punkten bearbeiten solle; ich vermöchte mich mit dieser Idee so
wenig zu befreunden als Andere.
Das Wagnis, die Regesten statt in chronologischer Folge nach
den Empfängern zu ordnen, bedarf aber doch noch eingehenderer
Rechtfertigung. Ich bin, wie gesagt, weit entfernt davon, hier ein
neues, allgemein giltiges Prinzip einführen zu wollen. Für die Kaiser-
urkunden z. B. würde sich seine Anwendung durchaus nicht empfehlen.
Der häufige Wechsel der kaiserlichen Residenzen macht gerade die
chronologische Uebersicht über ihre Regesten so wertvoll und unent-
behrlich: sie sind die natürliche Grundlage für die Erforschung und
Feststellung der äußeren Geschehnisse. Nun ist das bei den Papst-
urkunden allerdings nicht in demselben Maße der Fall. Einige Päpste
haben zwar oft ihre Residenz gewechselt, und für diese ist die chro-
nologische Uebersicht ihrer Regesten nicht wohl zu entbehren, obwohl
auch bei diesen, z.B. bei Alexander III., die chronologische Anord-
nung oft zum leeren Prinzip und zu einem höchst unbequemen Ori-
entierungsmittel wird. Denn die Masse der Mandate dieses Papstes,
die neben dem Ort nur den Tag angeben, ist in ihrer Mehrzahl
chronologisch überhaupt nicht sicher einzuordnen, und der Eilige,
der solche Stücke in den Jafföschen Regesten aufsuchen und finden
soll, kann zuweilen darüber in Verzweifelung geraten. Will man
auch noch die ungeheure Zahl der Deperdita und die vielen ganz
undatierten Stücke registrieren, so wird auf weite Strecken hin die
chronologische Anordnung ein leeres Spiel mit dem Prinzip. Indessen
sind es nicht diese Erwägungen gewesen, welche mich bestimmt
haben, von einem chronologischen Regestenwerk abzusehen. Einmal
war es die bittere Not. Einen neuen, vervollkommneten Jaffö könnten
wir doch erst nach Abschluß unserer archivalischen Forschungen über
ganz Europa hin liefern. Soweit aber sind wir noch nicht. Noch
steht ganz Spanien und England und der größte Teil von Frankreich
aus. Selbst diese Italia pontificia wird am Ende noch einen starken
Nachtrag erhalten.^) Weiter war und bin ich überzeugt, daß die
1) Nämlich hauptsächlich aas den Archiven und Bibliotheken von Frankreich,
England and Spanien. Die KoUektionen der Mauriner in Paris enthalten sicher-
600 GöU. gel Anz. 1906. Nr. 8
Bearbeitung des Materials nach den Empfängergruppen, nach dem
was ich oben ausgeführt habe, dringender und ergiebiger ist als ein
ergänzter Ja£f6. Je länger und je mehr ich mich mit Papsturkunden
abgebe, um so schmerzlicher habe ich den Mangel eines Empfänger-
registers bei Ja£f6 vermißt. So dankenswert dessen »Index initiorum«
ist, jenes Register ersetzt er nicht. Was für ein Stück Arbeit wird
von dem Benutzer verlangt, wenn er im Ja£f6 die Urkunden für
einen bestimmten Empfänger sich suchen soll.^) Er wird sie, da es
bei Ja£f6 an irrigen und unsichern Angaben nicht fehlt, nicht einmal
zusammenbringen. Hätten Jaif6 und seine Neubearbeiter dieses Be-
dürfnis der Forschung nicht völlig vernachlässigt, so würden sie so-
wohl viele Fehler, wie doppelte Eintragung einer und derselben Ur-
kunde, ^) Verwechselung der Empfänger, z. B. der verschiedenen Bar-
tholomäusklöster in Italien (J-L. 13168), von Hadmersleben und Ha-
mersleben (J-L. 6512. 7387. 12967), und direkte falsche Bezeichnungen")
vermieden, wie Namen und Titel der Empfänger genauer angegeben
haben. Was soll man mit Regesten anfangen, wie J-L. 13038 a pro
mon. 8. Justi (nämlich in Toscanella) und J-L. 16955 pro mon. s.
lieh noch reiches Material auch für die Italia pontificia. V^ie viel von Urkunden und
Kopialbüchem aus Italien nach England verschleppt ist, ist männiglich bekannt.
Und in Spanien hoffen ¥rir noch wichtige Ergänzungen für Süditalien zu finden.
Wer darum die Publikation der Italia pontificia als voreilig tadeln wiU, mag in
gewisser Weise Recht haben.
1) Die Yerlagshandlung 0. Harrassowitz in Leipzig hat jüngst die Publika-
tion eines solchen Index angekündigt, den Eugene Sol auf Veranlassung von
L. Duchesne bearbeiten solL Ich weiß nicht wie es mit dieser Arbeit steht; sie
käme zwanzig Jahre zu spät und würde, wenn sie nicht alle Nachträge zu Jaff^
böte, jetzt wenig Nutzen mehr haben.
2) Ich gebe hier einige Verbesserungen, die nicht vollständig sein wollen,
die aber die Richtigkeit meines Urteils erhärten sollen. Es sind folgende Stücke
identisch, also einmal zu streichen: J-L. 3683 = 4104. 4128 = 5099. 4438 =
4437. 4725 = 4731. 4916 = 5273. 7901 = 7902. 8616 = 8637. 8639 = 14906.
8757 = 8758. 9274 = 9276. 10234 == 10480. 10431 = 10538. 10622 = 10623.
10806 = 13147. 11241 = 11596. 11402 = 11403. 11592 = 11693. 12832 = 18000a.
12406 = 18139. 12470 = 12517. 12549 = 12694. 12724 = 12725. 12820 =
12830. 13048 = 13687. 14673 = 15166. 14724 = 15203. 15027 = 15037.
15082 = 15459. 15478 = 15677. 15587 = 15560. 15681 = 15697. 16247 =
16292. 16848 = 16846. 16898 = 17652 a. 16987 == 17090. 17145 = 17151.
3) J-L. 12470 pro mon. s. Petri majoris Pistoriensi statt Florentino. J-L. 1464Ö
pro mon. s. Pauli Romano statt eccl. s. Apollinaris Ravennati. J-L. 15163 pro
eccl. 8. Georgii Brixiensi statt s. Georgii in Braida Veronensi. J-L. 16797 pro
has. Liberiana Praenestinensi statt bas. s. Mariae Maioris Romana. J-L. 17337
pro eccl. s. Qeorgii ad Velum aureum statt mon. s. Benedicti Nepesino u. a. —
Das Alexander 11. zugeschriebene Regest J-L. 4737 und die Alexander IIL zuge-
teilten Regesten J-L. 12597 und 12977 sind Urkunden Alexanders IV.
p. Fr. Kehr, ItaliA pontificia vol. I 601
Stephan! (nämlich in Genua)? Man hätte wenigstens überall die Diö-
zese hinzusetzen sollen. So aber muß der Benutzer erst aus den
zugesetzten Drucken mühsam ermitteln, in welchem Lande die Kirche
oder das Kloster lag. Wer ist so gelehrt, daß er wüßte, welches
Mon. s. Eugenii (J-L. 12715) gemeint sei, und wo das Mon. Baro-
nense (J-L. 16855), die Eccl. s. Petri de Catiano (J-L. 16857), die
Eccl. Portuensis (J-L. 16675, gemeint ist S. Maria in Portu bei Ra-
venna) lagen? Die Herausgeber des Ja£f6 wußten es wohl selber
nicht. Genug, nach dieser Seite läßt die Neubearbeitung der JafiF^-
sehen Regesten alles zu wünschen übrig. Endlich glaube ich, daß
neben der definitiven Ausgabe der Urkunden selbst, die natürlich die
chronologische Folge einhalten wird, ein Regestenwerk im Stile und
in der Anlage des alten oder neuen Ja£f6 schwerlich noch notwendig
sein wird. Indem ich schließlich dem Bedürfnis nach chronologischer
Ordnung insofern Rechnung trage, als ich zu jedem Bande ein chro-
nologisches Verzeichnis der Regesten nach der Folge der Pontifikate
gebe, hoffe ich allen billigen Wünschen gerecht geworden zu sein.
Bei der Ordnung des Materials nach den Empfängern waren in-
dessen doch nicht unerhebliche Schwierigkeiten zu überwinden, die
überall glücklich umgangen zu haben ich keineswegs sicher bin. Es
war, da die Empfänger in ihrer überwiegenden Mehrzahl Geistliche
sind (Bischöfe, Kapitel, KoUegiatkirchen, Klöster u. s. w.) selbstver^
ständlich, daß als allgemeines Ordnungsprinzip die Diözesan-
einteilung zu Grunde zu legen sei. Daß ich diese wieder zu den
größeren Verbänden der Landschaften Italiens zusammengefaßt habe,
ist gewiß eine Inkonsequenz; allein ich schätze eine praktische und
zweckmäßige Anordnung höher als eine konsequente. Andererseits
führte auch die Ordnung der Empfänger nach Diözesen zu neuen
Inkonsequenzen. Der Status der italienischen Diözesen ist keines-
wegs ein fester gewesen, er war vielmehr ein anderer im 6. und ein
anderer im 12. Jahrhundert. Ich habe mich, da die weit überwie-
gende Masse des urkundlichen Materials dem 11. und 12. Jahrhun-
dert angehört, im ganzen an die Einteilung der Diözesen gehalten,
wie sie in dieser Zeit üblich war. Aber auch dabei fehlt es nicht
an Zweifeln und Unsicherheiten. Die Zugehörigkeit einzelner Klöster
z. B. zu dieser oder jener Diözese steht keineswegs fest, hat auch im
Laufe der Jahrhunderte geschwankt, von den Abteien Nullius ganz
abgesehen. Auf alle diese Einzelheiten einzugehen oder gar mich
in Spezialuntersuchungen der kirchlichen Geographie einzulassen, hatte
ich natürlich keine Veranlassung, und, immer von der Absicht ge-
leitet, meine Arbeit so praktisch als möglich zu gestalten, habe ich
in zweifelhaften Fällen jeweils diejenige Entscheidung getroffen,
e02 Göü gel Anz. 1906. Nr. 8
welche dem Benutzer das Auffinden des Objekts am meisten erleich-
tert. Man wird das freilich erst beurteilen können, wenn die näch-
sten Faszikel Latium, Toscana, Umbrien und Marken, Romagna vor-
liegen werden, mit deren Bearbeitung ich zur Zeit noch beschäftigt bin.
Das Faszikel, das ich zunächst vorgelegt habe, behandelt Rom.
Auch da habe ich mit der Einteilung und Ordnung des StofiFes nicht
geringe Schwierigkeiten gehabt. Nach dem Prinzip, dem ich sonst
gefolgt bin, hatte ich zunächst die römische Kirche im Allgemeinen
zu behandeln, dann die einzelnen Kirchen und Klöster in folgender
Ordnung: 1) die 5 Patriarchalkirchen und die Basilicae majores, 2) die
Titelkirchen, 3) die Diaconien, 4) die Basilicae minores, die Klöster,
die Oratorien, Xenodochien und Hospitäler. Allein diese im Prinzip
richtigere Anordnung hätte zu einer fur den Benutzer sehr unbe-
quemen Zerreißung des Stoffes geführt. Von den Klöstern und Xe-
nodochien Roms waren viele nur Appendices der Hauptkirchen. Beim
Lateran, bei S. Peter, bei S. Maria Maggiore bestanden je vier
Klöster, deren Mönche in den Basiliken den Gottesdienst zu versehen
hatten; ebenso bestanden solche Klöster bei S. Lorenzo, S. Prassede,
S. Agnese u. s. w. Ich habe also, um nicht Zusammengehöriges
trennen zu müssen, eine topographische Anordnung vorgezogen. Aber
da kam ich vom Regen in die Traufe. Natürlich wird Jedermann
zunächst die kirchlichen Regionen der Stadt als den natürlichen Ein-
teilungsgrund vorschlagen. Allein es gibt kein unsichereres Terrain
als dieses, und ein Versuch, die Kirchen und Klöster Roms ihrer
kirchlichen Region zuzuweisen, erwies sich als ganz unausführbar.
Blieben die 14 bürgerlichen Regionen der Stadt. Aber auch diese
haben in ihren Grenzen so geschwankt und sind so oft neu geordnet
worden, daß es fast unmöglich ist, in jedem Falle eine ganz sichere
Entscheidung zu treffen. Der Kenner wird also die eine und andere
Zuweisung konstatieren können, welche unsicher oder zweifelhaft oder
vielleicht gar unrichtig ist; ich sehe aber der Belehrung darüber mit
Gleichmut entgegen, da, wie gesagt, alle diese Fragen für die Sache
selbst nur ein sekundäres Interesse haben. Die Uebersicht, die ich
dem Faszikel vorausgeschickt habe, wird jedenfalls den Benutzer in
den Stand setzen, das Objekt, das er sucht, sogleich aufzufinden —
und hierauf kam und kommt es mir vorzüglich an.
Aber auch von diesen schwierigen Fragen abgesehen, blieben
der Zweifel und Unsicherheiten noch genug. Ich kann nicht leugnen,
daß die eine und andere Empfängergruppe eine künstliche ist, ein
Notbehelf, um gewisse Stücke überhaupt unterbringen zu können.
Das gilt gleich von den beiden ersten Gruppen 8. R. E. cardinales
and Clerus urbis Bomae. Daß das Kardinalskollegium schon vor
p. Fr. Kehr, Italia pontificia toL I 608
1200 ein eigenes Archiv gehabt hat, ebenso wie die seit dem Anfang
des 12. Jahrhunderts nachweisbare Fraternitas Romana, ist gewiß,
und die Codices C 23. 24 der Vallicellana haben, wie ich glaube,
mittelbar aus den Akten oder Registern dieser Archive geschöpft.
Aber daraus sind doch nur sehr wenige Urkunden erhalten. Die
anderen Regesten habe ich zumeist aus dem Liber pontificalis zu-
sammengesucht und hier vereinigt, weil ich sie, um die Wahrheit zu
sagen, nicht anders unterzubringen wußte. Ueberhaupt hat sich ge-
rade bei diesen Gruppen unwillkürlich zu dem rein archivalischen ein
gewisses sachliches Prinzip hinzugesellt, indem alle Urkunden und
Akten der Päpste, welche sich auf das Kardinalskolleg oder auf den
Klerus von Rom beziehen, sich gleichsam von selbst zur Aufnahme
meldeten. Bei jenen hätte es dann in weiterer Konsequenz nahege-
legen, auch die die Papstwahl regelnden Akte aufzunehmen. Ich habe
aber, um den Stoif nicht zu zerreißen, es fur richtiger gehalten, diese
Materie hier auszuschalten, um sie vollständig in einem späteren
Heft, das die allgemeinen Dekrete der Päpste enthalten soll, vorzu-
legen. Aehnlich verhält es sich mit der Gruppe SencUus populusque
Romanus. Alle diese Artikel sind entschieden schwach und befrie-
digen mich selbst ganz und gar nicht ; aber wie immer ich die Sache
anfing, es gelang mir nicht, etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen.
Unbedingt brauchbar und dann allerdings überaus nützlich ist die
Ordnung des Steifes nach den Empfängern überall da, wo noch ein
eigenes Archiv derselben vorhanden ist oder doch rekonstruiert
werden kann.
Für die einzelnen Artikel habe ich ein Schema aufgestellt, von
dem ich hoife, daß es sich für die weitere Forschung als ein brauch-
barer Führer erweisen wird. Ich habe zunächst die zu den einzelnen
Empfängergruppen gehörige Literatur zusammengestellt. Eine
vollständige Bibliographie zu geben, konnte natürlich nicht meine
Absicht sein; meine Kräfte hätten dazu auch nicht ausgereicht. Ich
glaube sogar, daß ich des Guten schon viel zu viel getan habe. Denn
von den angeführten Werken haben viele nur einen geringen Wert,
manche gar keinen, und die aufgewandte Mühe steht durchaus nicht
im Verhältnis zu der Qualität dieser Hülfsmittel. Immerhin hoffe ich
doch damit dem Lokal- und Spezialforscher einen Dienst erwiesen
zu haben, der um so größer ist, je mangelhafter die früheren Biblio-
graphien sind. Wer sich mit diesen Dingen näher beschäftigt, wird,
dessen bin ich gewiß, in diesen Zusammenstellungen ein bequemes
Hülfsmittel finden, wie es ein ähnliches zur Zeit überhaupt nicht
gibt, und es wird ihm, wie ich hoffe, um so willkommener sein, je
zersplitterter und zerstreuter diese Spezialiiteratur ist. Bei ihrer
e04 Göti gel. Anz. 1906. Nr. 8
Auswahl habe ich mich vorzüglich an historische Monographien auf
urkundlicher Grundlage gehalten; archäologische nur dann heran-
gezogen, wenn sie historisches und urkundliches Material bieten;
rein archäologische Werke aber grundsätzlich bei Seite gelassen.
Werke wie die von Tiberius Alpharanus, Fontana und Valentini über
S. Peter und über die andern großen Basiliken Roms wird der
Kenner ohnedies zu finden wissen, und die zahlreichen Mitteilungen
und Aufsätze im BuUettino della Commissione comunale di archeo-
logia, im Bulletino di archeologia cristiana und im Nuovo buUettino,
in der Giviltä cattolica und im BuUettino des Kaiserlichen archäolo-
gischen Instituts auch da anzuführen, wo sie für die mittelalterliche
Geschichte der römischen Kirchen nichts bieten, so nützlich sie für
die Geschichte ihrer Architektur und Kunst sind, habe ich grund-
sätzlich vermieden. Es mag hier statt dessen auf die bibliographi-
schen Notizen hingewiesen werden, die Th. Mommsen in seiner Aus-
gabe des Liber pontificalis im Index locorum angemerkt hat. Die
Italia pontificia ist nicht für den Archäologen geschrieben, wenn auch
dieser darin manches Brauchbare finden mag, sondern für den Hi-
storiker.
Es folgt dann ein Abschnitt über die Geschichte des Em-
pfängers. Diese Summarien sind so kurz als möglich gehalten und
durchaus auf das beschränkt, was dem Historiker zur ersten Orien-
tierung nützlich sein kann. Ich hätte oft mehr geben können, allein
um das schon recht weitläufige Werk nicht noch weitläufiger zu
machen, habe ich alles nicht streng zur Sache gehörige bei Seite
gelassen.
Die meiste Mühe habe ich auf den dritten Abschnitt verwandt, die
Geschichte des Archivs des Empfängers und die Zusammen-
stellung der urkundlichen Quellen. Hier ho£fe ich nichts Wesent-
liches übersehen zu haben. Auch habe ich mich dabei nicht bloß auf
die Materialien für die Papsturkunden beschränkt, sondern alles
herangezogen was mir erreichbar war, um allen denen, die sich mit
der urkundlichen Ueberlieferung eines einzelnen Empfängers be-
schäftigen, den archivalischen StofiF möglichst geordnet und übersicht-
lich darzubieten. Man wird diesen Notizen schwerlich ansehen,
welche Summe von Arbeit in ihnen steckt.
In diesen einleitenden Abschnitten ist der Versuch einer ur-
kundlichen Quellenkunde gemacht, wie ich sie im Anfang als
das mir vorschwebende Ideal charakterisiert habe; sie soll allen
denen dienen, die sich mit der urkundlichen Ueberlieferung überhaupt
beschäftigen, und sie will ein Führer sein weit über das Gebiet der
p. Fr. Kehr, Italia pontifieia vol. I 605
Papstdiplomatik hinaus. Hieran schließen sich die Regesten
selbst an.
Was zunächst deren Form, Fassung und Sprache anlangt, so
war es mein Bemühen, sie ebenso kurz wie deutlich zu geben. Daß
sie, wie das ganze Werk, in lateinischer Sprache abzufassen waren,
verstand sich von selbst. Die römische Kirche ist lateinisch und
universal; ihre Urkunden sind lateinisch geschrieben; die Institutionen^
von denen sie handeln, sind lateinisch. Es wäre kindischer Chauvinis-
mus, wollten die paar deutschen Gelehrten, die dieses Werk viel-
leicht aufschlagen werden, verlangen, daß es um ihretwillen und weil
der Autor zufällig ein deutscher Professor ist, deutsch hätte ge-
schrieben werden müssen. Sie wollen überzeugt sein, daß der Autor
die deutsche Sprache schon um seiner selbst willen vorgezogen haben
würde. Denn er gehört leider bereits der Generation an, die auf
dem Gymnasium zu wenig Latein gelernt hat, und es ist für ihn ein
geringer Trost, daß das was er damals gelernt, immer noch be-
trächtlich mehr ist als die klägliche humanistische Ausrüstung, mit
der die heutige Generation die Universität bezieht. Er ist hier leider
gezwungen, mehr als ihm lieb ist, an die Nachsicht der Benutzer
appellieren zu müssen.
Die Regesten sind grundsätzlich in dem Latein der Urkunden
selbst abgefaßt, wenn möglich mit denselben Worten und unter Bei-
behaltung der Konstruktion. Ich finde die von Ja£f6 redigierten Re-
gesten und ebenso die Lemmata in Jaffas Bibliotheca rerum Ger-
manicarum und in den Epistolae der Monumenta Germaniae durchaus
nicht nachahmenswert. Denn diese wollen gutes Latein bieten, aber
indem sie das mittelalterliche Latein ihrer Texte verlassen, werden
sie oft unklar und dunkel. Ich halte überhaupt den Versuch, das
mittelalterliche Latein der Texte in den Regesten durch klassisches
Latein zu ersetzen, für eine Art von gelehrter Prüderie. Mandat
quatenus mag den Ohren der Philologen abscheulich klingen, allein es
ist gutes lebendiges mittelalterliches Latein und also in den Regesten
mittelalterlicher Urkunden einfach bei^behalten. —
Ein Repertorium privilegiorum et litterarum a Romanis pontl-
ficibus ante a. MCLXXXXVIU concessorum soll dem Titel zufolge
das Werk sein. Aber in Wirklichkeit enthält der Band mehr.
Als ich, wie bereits erwähnt, noch ganz beherrscht vom diplo-
matischen Interesse, meinen Kollegen von der Göttinger Gesellschaft
der Wissenschaften meinen Plan vortrug,^) habe ich die Aufgabe auf
1) Ueber den Plan einer kritischen Ausgabe der Papsturkonden bis Inno*
cenz III. Rede, gehalten in der öfifentlichen Sitzung der Königl. Gesellschaft der
Wissenschaften am 7, November 1896.
606 Gott gel Anz. 1906. Nr. 8
die Papsturkunden in strengem Sinne beschränken wollen, unter Aus-
Schluß sowohl der älteren Papstbriefe wie der in den Registern und in
den kanonistischen Sammlungen aufgenommenen Stücke. Dagegen ist
manches gesagt worden, dessen Berechtigung auch mir einleuchtet.^)
Wie nun aber auch die Ausgabe selbst zu begrenzen sei, sicher ist,
daß die gleiche oder eine ähnliche Einschränkung bei den Regesten,
welche den unbrauchbar gewordenen JaS& ersetzen sollen, in keiner
Weise begründet wäre. Die Ausgabe soll die kritisch gesicherten
Texte bieten; Deperdita, Auszüge, Notizen können dort keinen Platz
finden; in dem Regesten werk aber hat der Benutzer das Recht, das
ganze Material im weitesten Umfang vorgelegt zu finden, nicht nur
die Privilegien und Briefe, sondern die Akten der Päpste überhaupt,
soweit sie irgendwie auf einer durch Urkunden (im weitesten Sinne)
beglaubigten Handlung beruhen.
Aber so leicht es ist, dieses Prinzip zu formulieren, so schwierig
ist die Ausführung.
Qar kein Zweifel bestand hinsichtlich der Privilegien und
Mandate.*) Deren Regesten habe ich zugleich so gestaltet, daß
man sogleich ersehen kann, in welche der beiden großen Urkunden-
gruppen sie gehören. Vom Privileg biete ich die Adresse mit äe.^
wenn die große Formel angewandt ist, und nach dem eigentlichen
Urkundenextrakt das Incipit und eine Art Summarium des Eschato-
kolles, die Unterschrift des Papstes, eventuell die der Kardinäle und
die große Datierung. Da die Fassung der Privilegien im Allgemeinen
nach Formeln geht, konnten die Regesten zumeist sehr kurz gefaßt
werden; an die Aufnahme der Besitzungen u. s. w. war dagegen na-
1) Z. B. yon F. H. Qrisar in den Analecta Romana I (Roma 1899) 663 sq.
2) Ich brauche Privüegiiun und bulla auf der einen, mandatum, rescriptom
and breve auf der anderen Seite zur Bezeichnung der beiden wichtigsten Urkunden-
gruppen der P&pste. Das hat mir nun seitens der Hüter der reinen Diplomatik bereits
yerschiedene Rüffel eingebracht Sie woUen von Bullen und Breven der alteren
P&pste nichts wissen. Als ob es in der Wissenschaft auf leere Namen ankäme.
In der Diplomatik freilich hat zu allen Zeiten eine Neigung zu starrem Linnäis-
mns bestanden, und es scheint, diaß Manchem eine »richtige« Terminologie das
Wesentliche ist. Uebrigens ist der Einwand auch sachlich gar nicht so begründet
Im 16. und 17. Jahrhundert nannten die Archivare und Diplomatiker ganz arglos
die Privilegien und Mandate des alteren Mittelalters Bullae et brevia. So Massa-
reUo, Panvinio und Andere. Und Contelori, der doch vom päpstlichen Urkunden-
wesen etwas verstand, betitelte seine Sammlung der Privilegien und Mandate
Alexanders IIL »BuUae et brevia Alexandri IIL« Streng genommen ist auch
Privilegium nicht richtig, denn dieser Begriff geht auf den Inhalt, nicht aber auf
die Form. Mit dem gleichen Recht soUte man auch Mabillons Diploma den Krieg
erklären. Ich aber habe keine Zeit, mich mit der Fabrikation von Etiketten auf-
zuhalten und überlasse sie gerne denen, die nichts besseres zu tun haben«
p. Fr. Kehr, Italia pontificia vol. I 607
türlich nicht zu denken; das hätte zuweilen^ die fast vollständige
Reproduktion der Urkunde selbst und also ungebührlichen Baum er-
fordert. Aus demselben Grunde habe ich mich entschlossen, die Unter-
schriften der Kardinäle nur anzudeuten statt sie wiederzugeben, ob-
Yfohl ich mir natürlich nicht verhehlt habe, daß es nicht viel hilft,
wenn ich anmerke Subscr. 22 card. Aber Regesten sind und bleiben
nun einmal Notbehelfe, die, wie immer man es auch versuchen mag,
die Urkundentexte selbst doch nie zu ersetzen vermögen. Bei den
Mandaten ist analog verfahren.
Außer den erhaltenen Privilegien und Mandaten habe ich grund-
sätzlich auch die Deperdita verzeichnet, soweit sie mir irgend
erreichbar waren. Daß es wichtig und nötig ist, auch sie zusammen-
zubringen, obwohl das eine Verdoppelung und Verdreifachung der
Arbeit bedeutet, darüber sind wohl Alle einig. Auch Jaffi6 und die
Bearbeiter der zweiten Auflage seiner Regesten haben das einge-
sehen und wenigstens einen Anlauf dazu genommen. Im Anfang
haben sie ziemlich viele Deperdita aufgenommen und mit * charak-
terisiert (was ich übernommen habe). Aber dann ist Loewenfeld die
Arbeit vielleicht zu viel geworden, vielleicht hat er auch ein allzu-
starkes Anschwellen des Bandes befürchtet; genug er hat den Ver-
such mitten im Werke stillschweigend suspendiert. Man kann nicht
sagen, daß dieses Verfahren sehr glücklich sei. Ich dagegen habe
es mir sehr angelegen sein lassen, die Deperdita, soweit ich sie auf-
zufinden vermochte, aufzunehmen, und selbst die nicht geringe Mühe
der Durchsicht der Regesten des 13. Jahrhunderts nicht gescheut.
Ich hofiFe, daß mir nicht allzuviele entgangen sind. Wie wichtig sie
aber sind, wird aus diesem Regestenwerk erst deutlich; zahlreiche
Empfänger, deren ältere Urkunden überhaupt nicht erhalten sind,
sind so zur Aufnahme gekommen und aus dem unverschuldeten
Dunkel in das Licht der Geschichte gerückt.
Natürlich waren auch der Liber pontificalis und andere er-
zählende Quellen daraufhin durchzunehmen. Aber dabei ist ohne eine
gewisse Willkür nicht durchzukommen. Die Zahl der Stellen, in
denen ganz offenbar auf eine wirkliche Urkunde angespielt wird, ist
nicht gering; von andern freilich ist es um so ungewisser, ob wirk-
lich eine Urkunde vorgelegen habe, oder wenigstens nicht immer
läßt es sich aus dem Texte erschließen. Bei den Gründungen und
Ausstattungen römischer Klöster erfahren wir zuweilen, daß sie ur-
kundlich verbrieft wurden (z. B. Paschal I. für Mon. ss. Agathae et
Caeciliae p. 124 n. 1 und Leo IV. fur Mon. s. Mariae Gorsamm p. 121
B. 2) ; man darf also annehmen, daß dieses auch der Fall bei den
Klostergründungen war, von denen wir nur das nackte Faktum
608 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
wissen, zumal wir bereits eine Elostergründungsurkunde ans der
Mitte des 8. Jahrhunderts (Pauls I. Privileg für S. Silvestro J-K
2346) besitzen. Ich bin danach verfahren und habe alle Eloster-
gründungen in die Regesten aufgenommen, wenn ich damit auch
nicht behaupten will, daß die dem Hilarus (p. 155) und BonifazIY.
(p. 155) zugeschriebenen Klostergriindungen von der Ausstellnng vcm
Privilegien begleitet gewesen sind. Ebenso habe ich die Nachrichten
über Schenkungen von Immobilien an Kirchen und Klöster aufge-
nommen. Die ungeheure Masse aber der Notizen über Schenkungai
von Mobtlien, von Gegenständen des Kultus, des Kirchenschmucks
u. dergl. in Gestalt von besonderen Regesten aufzunehmen, habe ich
mich nicht entschließen können, sondern mich begnügt, in den Ein-
leitungen auf die betreffenden Stellen kurz zu verweisen. Es ist
schwer, ja unmöglich, da immer dieselbe Linie einzuhalten, und große
und kleine Inkonsequenzen wird man auch da, wie überall in diesem
Werke, aufspüren können.
Immerhin, aus dem Liber pontificalis, nach dem Liber diumns
und nach Analogien kann man in vielen Fällen mit einiger Sicher-
heit auf die Ausstellung von Privilegien schließen. Sehr viel un-
sicherer aber ist das Verfahren gegenüber den zahlreichen Angaben
über Dedikationen und Konsekrationen. Urkunden im
strengen Sinne scheinen dabei in der Regel nicht ausgestellt worden
zu sein, wohl aber wurden diese feierlichen Handlungen häufig in
Inschriften verewigt, die zuweilen einen urkundlichen Charakter an-
nehmen. Daß auch diese Akte der Päpste in einem Regestenwerke
nicht fehlen dürfen, ist selbstverständlich, und P. Grisar hat darum
mit Recht Ja£fä und seine Fortsetzer getadelt, daß sie jene Nach-
richten nicht genug berücksichtigt haben. ^) In der Tat sind da die
in den Jaflf^schen Regesten gebotenen Notizen ganz zufällige und unge-
nügende Lesefrüchte. Indem ich nun versucht habe, die Weihe-
inschriften und die auf Dedikationen sich beziehenden Nachrichten
so vollständig als möglich zusammenzubringen, bin ich auf so viele
Unsicherheiten und Zweifel gestoßen, daß ich nicht sicher bin, ob
ich immer das Richtige getroffen habe. Ob z. B. die Siriciusinschrift
in S. Paul, die P. Grisar als Dedikationsinschrift angesehen wissen
will, als solche aufzufassen ist, ist mir doch nicht gewiß. Und so geht
es ähnlich bei andern. Daß die Nachrichten über die ältesten, Pius I.,
Marcellus und Silvester I. zugeschriebenen Dedikationen falsch sind,
brauche ich hier nicht einmal zu erwähnen. Die eine und andere
Notiz mag mir übrigens trotz aller Aufmerksamkeit entgangen sein.
So sind wahrscheilich auch dielndulgenzen nicht vollständig.
1) Analecta Romana I 86 sq.
p. Fr. Kehr, Italia pontificia toI. I 609
Sie hängen auf das Engste mit den Dedikationen zusammen; aus dem
12. Jahrhundert besitzen wir bereits mehrere echte Indulgenzverlei-
bungen, welche anläßlich von Kirch- oder Altarweihen erfolgt sind.
Aber daß die den früheren Päpsten zugeschriebenen sämtlich unecht
sind (die Spuria habe ich nach dem Vorgange von Jafif6 mit f be-
zeichnet), bedarf keines weiteren Beweises. Da sie zumeist sehr viel
späteren Ursprungs sind, so sind sie nicht so leicht aufzufinden. Ich
hätte, um diese dem soliden Urkundenforscher nicht sehr sympathischen
Materien vollständig zusammenzubringen, alle Sakristeien von Bom
und die Menge von Indulgenzbüchern, die, z. T. typographische Rari-
täten, in den römischen Bibliotheken verstreut sind, aber auch in
fremden Bibliotheken sich finden und in den zahlreichen spätmittel-
alterlichen kirchlichen Bädekern Roms erwähnt werden, durchforschen
müssen, um das Werk mit historisch wertlosen Regesten anzufüllen.
Aber um so lohnender würde eine gründliche Erforschung und Unter-
suchung dieser Materie für den Theologen sein.
Wie die Konsekrationen, so habe ich die Judikate aufge-
nommen, bei denen Päpste als anwesend oder zustimmend genannt
werden. Auch da gibt es Unsicherheiten, die aus der verschiedenen
Natur der Dokumente entspringen; wir besitzen Judikate, die den
eigentlichen Urkunden sich unmittelbar nähern; andere, bei denen
die Mitwirkung des Papstes oder seines Beauftragten kaum noch er-
sichtlich ist. Ich bin auch da soweit als möglich gegangen und habe
selbst Urkunden und Akte verzeichnet, bei denen der Papst nicht
Aussteller, sondern selbst Empfänger war. Konsequenz ist leider
meiner Tugenden letzte.
Unter den einzelnen Regesten sind in kursivem Druck die
Quellen und die Drucke angegeben. Daß Ja£f^ überhaupt nicht
und Loewenfeld nur gelegentlich notiert hat, ob die Originale noch
vorhanden sind, ist der andere große Mangel des alten Regesten-
werkes. Es fehlt ihm damit die rechte kritische Grundlage. Ging
das freilich über Jaffas und Loewenfelds Kräfte, so war ich, in glück-
licherer Lage, um so mehr verpflichtet, diesem Mangel abzuhelfen.
Ich bin sogar noch weiter gegangen, und habe nicht nur die Origi-
nale, sondern überhaupt die Ueberlieferung vollständig zu verzeichnen
für nötig gehalten. Denn ich halte das von Sickel bei der Ausgabe
der Diplomata eingeführte Prinzip, bei erhaltenem Original nur dieses
und von den abgeleiteten Ueberlieferungen nur diejenigen aufzuführen,
welche als Quellen für die Drucke genannt werden mußten, nicht
für zweckmäßig. Es hat zur Folge, daß manchmal bloß das Original,
an anderer Stelle auch Kopien und Kopialbücher angeführt werden,
so daß über die Ueberlieferung eines Fonds leicht ein ganz falsches
0«ti gel. Am. 1906. Nr. B, 43
610 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 8
Bild entsteht, das, wie ich weiß, in der Tat schon zu ernsthaften Miß-
Verständnissen der Benutzer geführt hat. Ich vermag auch nicht
einzusehen, warum man jeden alten und wertlosen Druck verzeichnet,
dagegen nicht die älteren und jüngeren Kopien. Es ist doch an
sich lehrreich, die ganze Geschichte eines Dokuments mit einem
Schlage überblicken zu können, vom Original durch die verschiedenen
Kopien hindurch bis zur Edition. Das ist doch ein nicht unwichtiges
Stück der Archivgeschichte. Der systematischen Durchsicht aller
Kopien und Kopialbücher endlich verdanke ich die Auffindung einer
großen Zahl von Urkunden, die mir ohne die gewissenhafte Beach-
tung selbst jüngerer und jüngster Abschriften ganz gewiß entgangen
wären. Ich gebe also auch da, wo das Original noch erhalten ist,
die abgeleiteten Quellen, die ich in diesem Fall in eckige Klammem
gesetzt habe.
Bei den Drucken habe ich dagegen nur eine relative Voll-
ständigkeit erstrebt. Ich habe vor allem diejenigen genannt, welche
am leichtesten erreichbar sind; für den Spezial- und Lokalforscher
die Monographien der Spezialliteratur, für die andern die Sammel-
werke, die in keiner großen Bibliothek fehlen, Mansi, Migne, die
Bullarien. Bei den Briefen Gregors I. alle Editionen aufzuzählen,
schien mir nach Ewalds und Hartmanns Ausgabe überflüssiger Ballast;
für diejenigen, denen die Monumenta-Ausgabe nicht zugänglich ist
(denn auch an diese ist zu denken), ist auf die Ausgabe der Mau-
riner, auf Mansi und Migne verwiesen. Bei den Konzilien habe ich
gleichfalls von den älteren Editionen abgesehen und mich an Mansi
und die Monumenta Oermaniae gehalten ; den Liber pontificalis habe
ich nur nach Duchesne und Mommsen zitiert. —
Wenn ich zum Schlüsse den gesammelten Stoff überblicke und
ihn mit Jaffas ßegesten vergleiche, so ergibt sich eine sehr stattliche
Vermehrung der Papstregesten. An Stelle von 187 Nummern bei
Jaffd habe ich 586 registriert. Davon sind nun freilich die Mehrzahl
Deperdita. Schalte ich diese aus, so reduziert sich die Zahl der erhal-
tenen Papsturkunden für römische Empfänger im strengen Sinn auf
186 gegen 132 bei Jaff^. Von allem andern abgesehen, so erweisen
schon diese Zahlen die Notwendigkeit der Neubearbeitung der JaSi6-
schen Begesten.
Münchenhof Kehr
Wilhelm, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen 611
Urinuidai dramatiielier Aiflltknuismi Ib Atkea mit einem Beitrage von Qeorg
Kaibel, herausgegeben yon Adolf Wilhelm. Wien, A. Holder, 1906.
Als Georg Kaibel sich im Jahre 1898 entschloß, die Fragmente
der dorischen Komödie allein in den Druck zu geben, tat er das sehr
ungern, weil er die Prolegomena ohne die athenischen Inschriften
lassen mußte, die eigentlich notwendig dazugehörten. Aber zu ihrer
Bearbeitung brauchte er neue Abschriften, und die konnte er nicht
so schnell wie er gedacht hatte von Adolf Wilhelm erhalten, von dem
als dem allergeeignetsten er sie erbeten hatte. Als sie dann kamen,
schrieb Kaibel einen Aufsatz, der in den Wiener Oesterreichischen
Jahresheften erscheinen sollte; die Druckbogen hat er auf seinem
Krankenlager noch gesehen, aber auf baldiges Erscheinen nicht mehr
gehofft. Im Oktober 1901 ist er gestorben. Nach weiteren fünf
Jahren erscheint das vorliegende Werk A. Wilhelms, gewidmet Kai-
bels Andenken ; es enthält auch seinen Aufsatz ; aber der ist in vielem
veraltet, und das Pflichtgefühl hatte der erlahmenden Kraft einen
hastigen Abschluß abgerungen. Da ist manches verfehlt, viel mehr
durch neues Material überholt und das Buch bringt daher immer
wieder Richtigstellungen. Gern würde ich von dieser Vorgeschichte
ganz geschwiegen und nur meine Freude an dem Geleisteten ausge-
sprochen haben; aber der Leser wird auf Schritt und Tritt darauf
gestoßen, nach dem Verhältnis zwischen Kaibels > Beitrag«, wie er
nun heißt, zu der Arbeit Wilhelms zu fragen, die sich oft an jenen
Beitrag formell anlehnt. Das Ergebnis ist sehr unerfreulich für den
Leser und für Kaibel und für Wilhelm. So hätte es nicht werden
sollen. Jetzt muß ich raten, Kaibels Aufsatz zunächst ganz unge-
lesen zu lassen; darin liegt, daß die richtig verstandene Pietät er-
fordert hätte, nicht ihm das Buch zu widmen und ihm dann immer
wieder seine Irrtümer vorzurücken^), sondern seinen Aufsatz einfach
zu unterdrücken, nachdem die Fortarbeit ihn weit überholt hatte.
Prioritätsansprüche waren wirklich etwas, das tief unter Kaibels
Sphäre lag, und so weit er Ansprüche hatte, ließen sie sich ohne
Mühe befriedigen: einiges hat er denn doch recht treffend erkannt
und schriftstellerisch sind diese wenigen Seiten die einzigen, die man
1) S. 185 hat Kaibel beim Abschreiben eines Satzes ein Wort ausgelassen,
dann gemerkt was fehlte und dorch eine eigene Koigektar berichtigt. Ein solches
Versehen beseitigt man stiUschweigend und mutzt es nicht durch eine Anmerkung
auf. Nun sie dasteht, moniere ich auch, daß S. 81 ein Prolog der Bacchides des
Plautus zitiert wird ; der von dem Humanisten einst erfundene Dramentitel £6av-
%(ltQ hätte selbst für sich sprechen soUen, wenn dem Ged&chtnis entfallen war,
daß der Anfang des Bacchides verloren ist
43*
612 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
mit ungestörtem Genüsse lesen kann. Mancher hat während dieser
Jahre sich von diesen Inschriften fem gehalten, weil er wußte, dafl
sie in Wilhelms Händen waren. Aber wir müssen uns freuen, daß
Edward Capps in Chicago gleichzeitig an ihnen arbeitete und in einer
Anzahl vorzüglicher Aufsätze zum Teil dieselben, zum Teil neue
schöne Ergebnisse gewann ; ^) dieses Referat muß beständig auch auf
ihn Rücksicht nehmen, und es ist die vornehmste Rezensentenpfiicht
die Leser auch auf diese hervorragende Leistung hinzuweisen. Das
meiste freilich hat Wilhelm selbst mit unermüdlichem Fieiße in
Umdrucken und Nachträgen noch berücksichtigt, aber um so mehr
hat er auch sein eigenes Buch geschädigt. Man kann es im eigent-
lichen Sinne nicht lesen, und wer es studieren will, der vergesse ja
nicht, gleich von hinten anzufangen und die Nachträge immer mit
vor Augen zu haben. Es ist um des Verfassers willen am meisten
zu beklagen, daß er immer wieder neue sinnreiche Einfälle vorträgt
und immer wieder an anderer Aufstellungen Kritik übt, so daß hinter
den Einzelheiten das Ganze verschwindet und die Unfertigkeit weit
fühlbarer wird, als wenn ein Ganzes mit immerhin unvollkommeneren
Ergebnissen gegeben wäre.
Ich hatte mir erst eine Liste von besonders glänzenden Einzel-
heiten, meist icdpepYa, angelegt, die ich mit besonderem Lobe her-
ausheben wollte; es sind aber zu viele. Lieber sei der Gesamtein-
druck auch nach dieser Seite geschildert. Da redet ein Mann, der
in den Steinen nicht nur Athens wie kein zweiter zu Hause ist; er
erzählt uns, wie er einen Steinhaufen im Pelargikon, an dem die an-
dern achtlos vorbeigehn, durchwühlt und merkwürdige Bruchstücke
hervorzieht; das Buch ist reich an Inedita, auch solchen, die wenig
mit dem Theater zu tun haben. Diesem Epigraphiker sind die un-
scheinbaren Grabsäulen des späteren Athens ebenso geläufig wie die
Staatsurkunden, und er entnimmt ihnen so etwas wie den Grabstein
des Diphilos (S. 60). Nirgend ist im allgemeinen die Schrift der
Steine so konservativ, also gleichförmig, wie in Athen, aber ein Kenner
wie es sonst nur Köhler war, sieht dem Steine doch seine Ent-
stehungszeit auf Dezennien an, und anders als Köhler gibt Wilheloi
dem Leser die Kriterien an; allerdings kann er das leichter, weil
nun die Photographie den hier wahrlich schwierigen Aufgaben ge-
wachsen ist: die Abbildungen der Steine sind von vorbildlicher Yor-
trefflichkeit, was man allerdings an Publikationen des österreichischen
1) Die Aufsätze stehen im American Journal of Philology, XX. XXI, Am.
Journal of Archaeology lY, den Transactions of the American Philological Astod-
Aktion XXXI, der wichtigste in den Decennial publications of the üniveraity of
Chicago. Yielleicht habe ich noch einiges übersehen.
WilheliD, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen 613
Institutes gewöhnt ist. Die Kenntnis der athenischen Personen ist
eben so bewunderungswert (die Prosopographie erfährt zahlreiche
Bereicherungen) wie die Treffsicherheit in den Ergänzungen, die nur
aus einer Vertrautheit mit der Urkundensprache gewonnen werden
konnte, wie sie zur Zeit kein anderer besitzt. Wenn unterweilen der
Scharfisinn an der Ergänzung eines Brockens nur zu spielen scheint,
weil selbst die gelungene Ergänzung unbeweisbar bleiben muß und
niemals etwas wirklich neues lehren kann; wenn etwa erst eine Da-
tierung auf die größere Wahrscheinlichkeit gegründet wird, daß eine
Buchstabenspur eher von einem T als von einem P herrühre, und
dann auf solche Möglichkeit weitere Möglichkeiten aufgebaut werden,
so ist der Leser freilich zu besonnener Skepsis verpflichtet, und die
Zukunft wird ohne Zweifel zeigen, daß zuweilen Mühe und Scharfsinn
vergeblich aufgewandt war. Aber daran stößt sich nur die kühle
Ueberlegenheit, die selber nichts leistet, weil sie immer erst ängst-
lich nachrechnet, ob sichs auch lohne, ehe sie etwas tut. Wer selbst
zu arbeiten weiß, der kennt unser Los und hat sich darein gefunden,
daß die Wissenschaft, verschwenderisch und mitleidlos wie die Natur,
eine solche Vergeudung unserer besten Kräfte nötig hat. Wen die
Stunden reuen, die er an die Feststellung eines Buchstabens auf
Stein oder Papier oder an die Ergänzung eines Buchstabens gewandt
hat, der hat schwerlich sehr oft richtig gelesen und ergänzt. Und
auch ein Spielen ist nötig um zu lernen. Da wir jung waren, freuten
sich Kaibel und ich auch, wenn wir aus einem elenden Brocken ein
leidliches Epigramm ergänzt hatten; nachher haben wirs freilich ge-
lassen. Kaibel war tief entrüstet, als ein Naseweis über die verän-
derte Behandlung der Epigramme in seinem römischen Bande herzog.
Auch Wilhelm dürfte nun die Zeit, die ihm der Ergänzungsversuch
von IG n 280*, S. 218, gekostet hat, lieber an nutzbringenderes ver-
wenden wollen.
Auch darin ist die Wissenschaft verschwenderisch, daß sie mehrere
neben und nach einander dieselbe Arbeit tun läßt und dieselben rich-
tigen Ergebnisse finden, manchmal auch denselben Irrtum. Das ist
hier von Kaibel Gapps Wilhelm und anderen vielfach getan. Eben-
deshalb ist es nicht die Wissenschaft, die Prioritätsansprüche aner-
kennt (auch keine Eigentumsansprüche an wissenschaftliches Boh-
material). Demgemäß werde ich zumeist davon absehen, wer etwas
zuerst gesehen hat, wenn ich nun mein Referat in die Form kleide,
daß ich die Monumente, um die es sich hier handelt, und die Haupt-
ergebnisse für die Geschichte der szenischen Dichtungen möglichst
knapp und klar vorführe. Damit denke ich dem Leser eine Arbeit
abzunehmen« die er bei der Art, in der dies Buch seine schöne Frucht
614 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
verkapselt hat, notwendig tun müßte, um dahinter zu kommen, was
eigentlich darin stände.
Es handelt sich um die Reste von drei großen Steindenkmalen,
auf denen die Athener die urkundliche Geschichte ihres Dramas ver-
zeichnet hatten. Das erste will ich die Fasten nennen. Es ist
zwischen 346 und 340 errichtet und dann ist auf demselben Steint
die Fortsetzung nachgetragen, mindestens bis 329, vermutlich, bis
die Choregie abgeschafift ward. Wilhelm vermutet ansprechend, dafi
es im Heiligtume des Dionysos stand, obwohl kein Bruchstück dort
gefunden ist. Es waren sämtliche Siege der Dionysien darauf ver-
zeichnet, die der Phylen, &vSp(&v und 7caCS(i>v, und die szenischen, aUe
mit den Choregen, aber von den Dithyramben nicht die diSdoxaXoc,
auch die siegreichen Schauspieler, seit es für sie eine Eonkurraiz
gab, endlich die Extraleistungen, wenn welche vorkamen. Die In-
schrift hatte eine Ueberschrift in größeren Buchstaben, ungewiß über
wie viele Kolumnen reichend ; es ist die berufene, ]ov >c(0|jloi -JJoav t»[--
Wo die Liste begann, ist ihren Resten nicht abzunehmen, nur sicher
viele Jahre vor dem Archon Menon, 473/2, in dessen Jahre das erste
Bruchstück oben auf einer Kolumne anhebt.
Die beiden anderen Monumente sind nicht lange nach 280, ver-
mutlich zu gleicher Zeit, im Dionysosheiligtum errichtet: es ist eine
sehr schöne Entdeckung von Capps, die das ermittelt hat. Das erste
sind die Di dask alien, die einen sehr bedeutenden Umfang gehabt
haben, denn es müssen alle szenischen Au£Führungen an Dionysien
und Lenaeen darauf gestanden haben ^), alle konkurrierenden Dichter
und Schauspieler, aber nicht die Choregen, und alle Titel der auf-
geführten Dramen. Die Reihenfolge der Agone ist nicht gesichert,
da nur ein Stück, und das nur in einer Abschrift Fourmonts erhalten *),
sich über zwei Kolumnen erstreckt; das gibt aber links komische
Agone, rechts tragische des fünften Jahrhunderts, die nur den Le-
1) Der Dithyrambus war also abgestorben : er hat die Abschaffimg der Cho-
regie nicht lange überlebt. Für Aristoteles war er nicht minder denkwürdig als
die szenischen Spiele gewesen. Offenbar paSten Dilettanten, was die PhylenchOn
mehr oder weniger sein mußten, schon im vierten Jahrhundert für die anspnichs-
yolle neue Musik nicht mehr recht Der Virtuose, der xopa^^^c, wird seine Truppe
mitgeführt haben. Die Techniten Athens waren dann der Aufgabe gewachsen; das
zeigen die delphischen Lieder; aber ihr Aufkommen ist mit der Konkurrenz der
Phylen unvereinbar. Es ist so in Athen durch den Aufschwung der Musik als
Kunst sehr viel musikalische Volksbildung zu Grunde gegangen. Man spürt es
schon in der neuen Komödie.
2) Die Photographie dieser Abschrift steht S. 51. Die Zeilen mit dem Datum
ini — jpxovToc sind auf dem Monument ausgerückt ; dem folgte Fourmont in der
zweiten Kolumne Zeüe 4, vergaß dann aber die weiteren Zeilen einzurücken ; das
nächste mal machte er es richtig. Wilhelm macht sich hierüber unnütz Gedanken.
Wilhelm, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen 615
naeen angehört haben können. Also ist wahrscheinlich, daß erst die
Dionysien, dann die Lenaeen behandelt waren. Was wir von den
Dionysien haben, geht in der Tragödie nicht über 342/1 hinauf, in
der Komödie nicht einmal so weit. Auch diese Liste ist später fort-
gesetzt. Aus der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts ist nur
ein so gut wie wertloses Bruchstück eines neuen Steines da, S. 86,
dessen Besonderheit sich so ohne weiteres erklärt, dagegen recht viel
von einer Tafel, die über die Komödie des zweiten Jahrhunderts be-
richtete; man übersieht die Reste gut auf der Tafel, die Wilhelm
S. 69 gibt. Vermutlich hat man die Listen geführt, so lange Auf-
fuhrungen stattfanden, spätestens bis in die mithradatische Zeit. Dann
hat erst wieder die Erneuerung der Ghoregie in der hadrianischen
Zeit Spuren hinterlassen.
Das dritte Monument, die Siegerlisten, gab nur die Namen
der siegreichen Dichter und Schauspieler mit einer Ziffer dahinter,
also der Zahl ihrer Siege, verteilt nach den beiden Festen und den
beiden Dichtungsgattungen; es war also einfach ein Auszug aus den
Didaskalien. Auch diese Liste hat man später fortgesetzt, wozu das
Monument selbst Platz bot, auf dem sie eingetragen war. Es war
nämlich ein stattliches anathematisches Bauwerk eines siegreichen
Agonotheten; die Weihinschrift hat Wilhelm S. 90 schön ergänzt; es
war nicht lange errichtet, als diese neue Benutzung eintrat. Die
architektonische Gestalt des Baues hat sich nicht ermitteln lassen;
es gibt also recht viel Bruchstücke, die man gar nicht einordnen
kann, Namenreihen, die sowohl Schauspieler wie Dichter sein können;
das läßt sich verschmerzen, da sie eben doch nur Namen für uns
sein können. In der Anlage des Baues muß es begründet gewesen
sein, daß die Kolumnen sehr verschieden lang wurden. Diejenige,
auf der die komischen Sieger der Dionysien beginnen, S. 106, hat
nur 17 Zeilen gehabt; dagegen hat die erste der tragischen Dichter
dieses Festes (nach Wilhelm und Capps überhaupt die erste) eine
sehr beträchtliche Länge gehabt, S. 101. Unterschriften der Unter-
abteilungen sind für die komischen Dichter der Lenaeen und für die
tragischen Schauspieler erhalten (S. 123, 137, 145), dagegen fehlt eine
Gesamtüberschrift, die für das Verständnis unentbehrlich war. Wenn
Wilhelm sie am Kopfe der ersten erhaltenen Kolumne mit tragischen
Dichtem ergänzt, so ist dafür kein Anhalt, und so kurz wie er will
1) Köhler hatte ein Brachstück, das er seihst hesaß, auf 889/8 hezogen,
aher das war irrig (S. 41). Der Stein kam nach seinem Tode in den Besitz des
epigraphischen Archivs der Akademie; aber diese hat ihn auf meinen Antrag dem
athenischen Museum übergeben. Die Freude an dem eigenen Besitze eines solchen
Stückes hat vor der Forderung der Wissenschaft zurückzustehen. ■
616 Gott gol. Anz. 1906. Nr. 8
(iottxal tpaYtx(&v TcotiQtfidv), konnte sie gar nicht lauten: wo stand
denn vixai? Hierüber läßt sich aus dem Befunde der Bruchstücke
eben überhaupt nichts ermitteln.
Dies die athenischen Monumente: notwendig hinzu gehört noch
ein römisches, dessen Behandlung durch Wilhelm von A. Körte
überholt ist (Rhein. Mus. LX, Wilhelm S. 255). Durch diesen ist
endlich ans Licht gebracht, daß diese einst ungemein umfängliche
Liste sich als ein Auszug aus den Didaskalien (nicht grade ihrer
Ausfertigung auf Stein) darstellt. Die Liste gab die Dichter in
der Reihenfolge ihrer ersten Siege (also wie die Siegerliste) ge-
ordnet, und zu jedem seine sämtlichen Dramen, geordnet nach dem
Platze, den sie bei der Konkurrenz erhalten hatten. Ueber die
Didaskalien hinaus ward vermerkt, ob die Dramen erhalten waren,
was selbstverständlich nur auf Grund bibliothekarischer Forschung,
doch gewiß nur in Alexandreia, geschehen konnte, so daß Körte mit
allem Scheine der Wahrheit an ein Werk des Kallimachos denkt
Seit es verstanden ist, hat dies Bruchstück für unsere Vorstellungen
von der Komödie vor dem Auftreten der beiden Vollender Eupolis
und Aristophanes die höchste Bedeutung.
Dagegen behandelt Wilhelm ein anderes inhaltlich verwandtes
Monument mit sehr berechtigter Reserve. Es sind die nur in einer
alten Kopie erhaltenen Bruchstücke einer Liste von Aufiführungen,
die Kaibel, ihr Entdecker (Herm. 23), auf Rhodos bezogen hat, weü
Aufführungen in jener Stadt öfter erwähnt werden; danach steht
die Inschrift 16 XII 1, 125. In der Tat ist auf die Herkunft des Steines
kein zuverlässiger Schluß zu machen; auch an Rom mit Wilhelm zu
denken, hat viel mißliches. Am ehesten wird es ein Verzeichnis über
Technitensiege sein, die an verschiedenen Orten errungen sein
konnten, so daß die hier erwähnten Lenaeen vermutlich die atheni-
schen sein werden: das wird sich wohl noch einmal feststellen
lassen. Gern wüßte man, wo der Stein kopiert ist.^) Zur Zeit
muß selbst im ungewissen bleiben, wer der hier mit einer
ganzen Tetralogie erwähnte Dichter Sophokles war. Ich würde mich
immer gescheut haben, ein Satyrspiel Iberer ohne weiteres unter
1) Das wird sich vieUeicht durch Forschungen über die Reisen oder Korre-
spondenzen des FiUppo Baonarotti ermitteln lassen, dem die Abschrift verdankt
wird. Er bemerkt zu seiner Kopie (Herrn. 28, 268) htiec fragmenta uniu$ lapidis
sunt non longe inter se dissitaj quaedam etiatn ibidem {quod ex genere marmoris
Uquet) sie sunt depromptay ut litteras intentts habeant. Das ibidem lehrt, daß
einmal andere Steine desselben Fundortes vorhergingen, und trotz dem nndeatlichen,
vieUeicht verdorbenen deprompk^y verstehe ich die Angabe so, daB die Brachstäcke
aUe in einer Mauer verbaut waren, einige andere mit der Schriftfläche nach innen
daneben saßen.
Wilhelm, Urkunden dramatischer Aaflfühmngen in Athen 617
den Nachlaß des großen Sophokles aufzunehmen, wie es Nauck ge-
tan hat.
Benutzung der Siegerlisten scheint bei dem Athener ApoUodor
vorzuliegen, zu dessen Lebzeiten die Liste noch auf dem Laufenden
gehalten ward; wenigstens entspricht seine Art zu reden ihnen ganz
genau, z. B. E58oSoc vtxac IXcbv aottxac (tev tpeic XY]vatxac 8^ «^vte,
Fm. 83. 0 Auch in der Grammatikerüberlieferung sind genug Spuren
der Sonderung nach den beiden Festen, und sicher ist, daß in ihr
ein erster Sieg immer einen Sieg an den Dionysien bedeutet. Die
communis opinio führt solche Angaben auf die Schrift des Aristoteles
zurück, deren Titel am genauesten die Schrifttafel des Hesychios
gibt, vtxcbv Stovoataxcov xai Xif]vaix(bv (so zu verbessern für XiQvaicovXa).
Das Werk wird nie zitiert. Ebenso betrachtet man als ausgemacht,
daß alle Zitate aus den Didaskalien, die bei den Grammatikern vor-
kommen, dem gleichnamigen Buche des Aristoteles gelten, das in
der Tat ein paarmal angeführt wird. Früher identifizierte man die
vixai mit den Fasten; jetzt schließt sich Wilhelm in seinem Nach-
trage der Ansicht Körtes an, daß ihnen vielmehr die Siegerlisten
entsprächen. Beweisbar ist keins von beiden, da es ja eben von den
vtxat des Aristoteles kein Bruchstück gibt und der Name mehrdeutig
ist. Die* erhaltenen Siegerlisten sind, wie wir vor Augen haben,
nichts als ein Auszug der Didaskalien, der keinen besonderen Wert
hatte, auch wenn Aristoteles oder der Peripatos einen solchen ange-
fertigt hatte. Uebrigens ist keine Spur davon erhalten, daß Ari-
stoteles sich für die Schauspieler interessiert hätte, die mehr als
die Hälfte der vixai einnehmen, und mir ist das nicht sehr wahr-
scheinlich. Wichtig ist dagegen, ob die Fasten auf ein Buch des
Aristoteles, einerlei wie es hieß, zurückgehn, also ob die höchst
respektable archivalische Forschung, die sie repräsentieren, ihm ver-
dankt wird, wie man allgemein annimmt. Wenn dem so ist, so muß
man sich erstens klar machen, daß die Athener später Leute ge-
funden haben, die sein Buch aus den Archiven fortsetzten, denn die
Didaskalien sind ja erst nach 280, nach Theophrasts Tode, aufge-
zeichnet, siebzig Jahre nach dem präsumptiven Schlüsse der aristo-
telischen Listen. Zweitens ist zwar dieses Monument aus Interesse
an der Literatur errichtet, denn es verzeichnet die Dramentitel, nicht
aber die Fasten, denn diese lassen sogar bei den dithyrambischen
Siegen die Namen der Chorlehrer überhaupt fort, während Aristoteles
sie verzeichnete (Harpokration StSdtaxaXoc) ; ja, er gab auch Unter-
suchungen über die Personen der Dichter (Schol. Aristoph. Vög.
1) Es ist seltsam, daß ein so erfolgreicher Dichter so gut wie Terschollen
ist j was Wühelxn S. 37 üher ihn anführt, sind ganz ondiskutierbare Möglichkeiten.
618 Gdtt. gel Anz. 1906. Nr. 8
1379), ging also sicher über eine bloße Reproduktion der Urkunde
hinaus.^) Wenn femer die Athener unter Eubulos, während sie an
ihrem Theater bauten, ein Monument errichteten, das die dionysischen
Siege dieses heiligen Bezirkes wesentlich als Siege des Volkes dar-
stellte (daher die Nennung von Phylen und Ghoregen), so haben
sie mindestens, wenn sie es überhaupt benutzten, das Werk des
Aristoteles ganz anderen Tendenzen dienstbar gemacht. Drittens
muß man annehmen, daß Aristoteles die Didaskalien in seiner Jugend
als Mitglied der platonischen Schule verfaßt und ediert hat, denn die
Fasten sind um 345 auf Stein geschrieben, während Aristoteles bei
Hermias war. Das ist alles möglich;, aber was führt eigentlich zu
der Annahme? Aristoteles hat nach dem Schriftenverzeichnis auch
^OXt>(imovlxai verfaßt: die spielen für niemand eine analoge Rolle.
Seine Ilo&iovtxat sind ein berühmtes Werk; aber grade sie zeigen,
daß er mit ihnen etwas besonderes geleistet hatte, nicht wegen der
delphischen Inschrift, die nur beweist, daß die Delpher seine Arbeit
offiziell annahmen, sondern weil er auch einen IIt>d>iovixo&v SXefxoc
geschrieben hat, weil sein Buch bei Hesych den Vermerk trägt, &'
&y ivlxiQoe Mdyaix(iov, und weil wir bei seinem Rivalen Herakleides
die Benutzung einer fabelhaften Pythionikenliste finden (Ps. Plutarch
de mus. 3.4). Grade hier sehen wir also, daß Aristoteles, oder selbst
die Akademie, der er damals angehörte, keineswegs allein mit archi-
valischen Studien beschäftigt ist. Derselbe Herakleides (Ps. Plut. 8)
führt eine ^poLfp-ii nava^Yjvaicov icepl toD uiooaixoö aYobvoc an, neben der
ein Abschnitt scepl too Y^pixoö gestanden haben wird : das kann man
sich ganz analog zu unseren Fasten denken. Ueber die Panathenaeen
hat Aristoteles nicht geschrieben. Benutzung und Erschließung von
Urkunden ist in der Zeit des Ephoros Phanodemos Androtion denn
doch nicht etwas singuläres. Also weshalb diese Annahme? Weiter,
wenn Männer wie Kallimachos, Eratosthenes, Aristophanes Didaskalien
zitieren, wie in aller Welt kann man wahrscheinlich machen, daß sie
damit Aristoteles meinen? Wenn z. B. Aristophanes den Titel des
sophokleischen Aias ohne Distinktiv aus den Didaskalien zitiert, im
1) Eine besondere Bewandnis mufi es mit den eupi^fxaTa der einzelnen Dichter
haben, die in den Biographien stecken, bei MyUos, Aischylos, Sophokles, Krates o. a.
Sie müssen einmal mit scharfer Kritik im Zusammenhange dorchrevidiert werden.
Es ist unausstehlich, daß immer so getan wird, als verstünden wir das berufene
b Zo^oxX^c ^p& Toü Spafxa irpoc Spctpa dywv^Cec^dai dXXdt [ki^ TrrpaXoytto^i (oder gar
OTpaToXoYeTaOaO, und daß ab und an einer kommt und einen neuen EinfaU in die
Luft baut. Erst wenn wir wissen, wann und wie solche Traditionen in die Lite-
ratur kommen und welche Glaubwürdigkeit sie haben, kann man vieUeicht hoffen,
die Angabe zu verstehen ; ob sie etwas taugt, wird sich vielleicht auch dann noch
nicht entscheiden lassen.
Wilhelm, Urkanden dramatischer Aafif&hningen in Athen 619
Gegensatz zu Dikaiarchos, so meint er das authentische offizielle Mo-
nument, nicht ein Werk von Dikaiarchs Lehrer. Aber die Haupt-
sache ist, daß wir uns klar machen, daß auf Aristoteles am Ende
hier gar nichts ankommt. Gesetzt auch, er wäre der einzige Ver-
mittler der Archive des Archons und des Königs, so ist er eben
nichts als Vermittler, und nur auf das authentische Dokument kommt
es uns an. Gewiß, auch seine Poetik zeigt, daß er und seine Zu-
hörer die Didaskalien kennen, aber das erscheint wieder nicht als
ein Produkt seiner Kritik, sondern als etwas allgemein bekanntes.
Es ist wie mit den athenischen Gesetzen, die er in der Politie der
Athener anführt, und die er nicht gesammelt hat, sondern anderen
verdankt, ebenso wie seinen historischen Stoff. ^)
Das Wichtige ist erst, daß wir, einerlei durch welche Vermitte-
lung, an die authentischen Aufzeichnungen über die Aufführungen
im Dionysosbezirk und im Lenaion gelangen, von diesen eine klare
Vorstellung gewinnen und so unanfechtbare Daten erhalten. Daß
wir mit diesen und ähnlichen alten Urkunden wirtschaften gelernt
haben, ist ein großer Fortschritt des letzten Menschenalters, und es
weist uns für die ältere griechische Geschichte den Weg, der vdrk-
lich noch zu sicherer Abgrenzung zuverlässiger gleichzeitiger Auf-
zeichnung und quasihistorischer Tradition führt und weiter führen
wird. Capps hat meiner Jugendarbeit über die megarische Komödie
die Ehre angetan, im Gegensatze zu ihr das Richtige zu entwickeln.
Als ich sie schrieb, stand ich auf dem Standpunkte der Kritik jener
Tage, die des Spieles mit allen möglichen Traditionen überdrüssig,
mit der Quasihistorie reinen Tisch machen wollte und daher die
ältesten erhaltenen Zeugen, Herodot, Thukydides» Aristoteles, aus-
schließlich zur Norm machte. Wie viel schöne Ergebnisse diese
Kritik erzielt hat, dafür genügt es den Namen von Benedictus Niese
zu nennen. Allein sie rechnete zu wenig damit, daß uns doch nur
ein kleiner Teil von dem erhalten ist, was den antiken Forschern,
die diesen Namen verdienen, also einigen Philosophen und vor allem
1) Es steht nun außer Frage, daß Dieuchidas seine megarische Chronik zu
Lebzeiten des Aristoteles geschrieben hat; man darf also annehmen, daß er die
megarischen Ansprüche erhoben hat, die Aristoteles in der Poetik erwähnt Ihn
zu schlagen hat die Atthis, der die pansche Chronik folgt, die athenische Komödie
mit Susarion von Ikaria vor die erste Tyrannis des Peisistratos gerückt Ins Blaue
erfunden ist das nicht; es werden Traditionen von Ikaria den Namen geliefert
haben; daß die Spiele der i^tkovzai so alt waren, darf man den sf. Vasen 'entnehmen.
Schwindelei ist erst Soucapfwv l'pi7ro)f(7xioc von megarischer Seite, und die Urteile
Solons über die Tragödie von athenischer. Schwindelei übrigens auch die sikyonische
Tragödie mit Epigenes und Neophron, und auch sie wird überlieferte Namen
verwerten.
620 GdU. gel. Anz. 1906. Nr. 8
den Grammatikern (kaum je den Historikern), zugänglich war. Und
sie vergaß oder leugnete gar die Existenz von alten lokalen Aofzeich-
nungen, die von solchen Forschern ans Licht gezogen wurden, also
Beamtenlisten; Siegerlisten, Chroniken. In der Historie sind leider
die Uebertreibungen jener Kritik noch nicht ausgestorben; man muß
noch erleben, daß die olympische Siegerliste, die attische Beamte-
liste seit Kreon mit ihren historischen Notizen, wohl gar die Chro-
niken der ionischen und äolischen Städte geleugnet werden. Solche
Athetesen sind Nachzügler einer überwundenen Methode, die nieman-
dem mehr viel schaden werden, der griechische Bücher und In-
schriften philologisch traktieren kann. Es gibt freilich auch Nach-
zügler, die die urkundliche Chronologie der Dramen zu verrücken
wagen; aber das war schon, als Lachmann es tat, ein 6it^p ta lo-
xa(i|idya injSdv. So wie die Forschung jetzt steht, freilich zumeist
dank den epigraphischen Entdeckungen, brauchen wir eigentlich die
athenischen Theaterinschriften nicht um die grammatische Tradition
gelten zu lassen, die ich einst ebenso vorschnell angriff wie die me-
garische Komödie. Wenn Suidas XkovlSiqc sagt, 8v xal X^oooi icpö-
tov aY(üvtaTY]V *) Y^v^oä-at ttJc Apxa^ac xcü|jLa)t8tac, StSdoxstv 8' Steoiv
IQ Tcpb xm Ilepaixcdv, von Magnes iicißdXXei 'Emxöip|ia)t vdoc ^peoßonji,
von Epicharm i[^ npb tcdv Ilepaixäiv Itt) c 8i8doxü>v Iv Sopaxo&aatc, iv
8' Adnjvaic E^dryjc xal £()£evi8Y]c xal MoXXoc iff68stxvov'co, so muß jetzt
jeder, der die Quellen und die Tradition der alexandrinischen Ge-
lehrsamkeit kennt, als Niederschlag der antiken Wissenschaft ein-
tragen und als verbindlich anerkennen, Epicharm wird datiert nach
dem Jahre, in dem seine megarische Heimat in Syrakus aufging;
zu dem sind aus der athenischen Liste Synchronismen gesucht.
Magnes muß später, Chionides früher als dieses Jahr fallen, und
Chionides war der erste Name in der Liste der attischen Komiker,
mit andern Worten, die Komödie ist im Jahre 487/6, Archen Tele-
sinos, vom Staate anerkannt. Dies ist das Jahr, auf das die über-
lieferte Rechnung führt : der achte Archontenname vor Kalliades, der
mit den Hspaixd identisch ist, aber normal als erster der Acht zu
zählen ist. Daran haben wir uns zu halten, ohne zu vergessen, daß
auf dem Wege der Umrechnung und der langen Tradition von Hand
zu Hand eine kleine Verschiebung eingetreten sein kann. Mit vollem
Rechte haben Eduard Meyer, Capps und Wilhelm so geschlossen.
Als eine erwünschte Bestätigung tritt hinzu, daß die Fasten einen
1) So muß man für irpcDTaytüvian^v verbessern, ob der Fehler vor oder hinter
Soidas fällt, ist einerlei. Denn irfMOTOYtuvton^c ist ein Wort mit technisch fixierter
Bedeutung und bezeichnet xd 7cpu>xa dt7u>viC<$fuyoc. Wo gibt es eine Komposition,
in der Tcpwxoc den zeitlich ersten einer Reihe bezeichnet?
Wilhelm, Urkunden dramatischer AnffÜlhrungen in Athen 621
Sieg des Magnes unter Menon, 472, angeben, daß sein Name in der
Dionysienliste der Komiker an sechster Stelle steht, Chionides nicht
hinter ihm, also sicher vor ihm gestanden hat, und daß Euetes in
der Liste der tragischen Sieger hinter Aischylos, d. h. dessen erstem
Siege, 484, aufgezeichnet ist. Einen Tragiker konnte freilich niemand
in ihm erwarten, und weshalb diese Namen für den Synchronismus
gewählt sind, bleibt ein Rätsel.^)
Gewiß, so ist es, und meine Meinung ist falsch, daß die Ko-
mödie erst in den sechziger Jahren eingeführt wäre. Aber, war es
denn barer Unverstand, daß ich dem Suidas nicht glauben wollte?
Nach Capps muß das so scheinen, obwohl er selbst sich durch mich
hat blenden lassen und den Myllos preisgibt, was Wilhelm berichtigt
hat.^ Ich habe deutlich gesagt, daß ich den Suidas verwürfe, weil
er in Widerspruch zu Aristoteles stünde, dem ich die Unfehlbarkeit
in literarhistorischen Angaben zuschrieb. An dem Widerspruch hat
sich auch nichts geändert und konnte sich nichts ändern. Denn
Zeugnisse können zuwachsen, das Werturteil mag sich verschieben,
aber die grammatische Interpretation eines Satzes ist davon ganz
unabhängig. Aristoteles nennt in der Poetik den Epicharm mkXüa
«cpörepoc &v Xio>vC8ot> xal MdYVYjtoc. Trotz allen dialektischen Künsten
ist und bleibt das ein Widerspruch zu MdYVTjc iscißdXXet 'Eicix^piicot
1) Ob Euxenides Tragiker oder Komiker war, ist also ungewiß. Uebrigens
wird nun auch der Suidasartikel Anerkennung finden E6ptdoTj( 'Adrjvaioc xpayixt^c,
irptcrßiTepo« too Iv8(55ou yevofi^vou, iUoa^ Spoffiaxa tß' (d. h. drei Tetralogien), elXc
li vfxac ß'. Seltsam wäre es, wenn er nicht mit dem Sohne des Mnesarchos ver-
wandt gewesen wäre, dessen Vita von ihm schweigt.
2) Was er S. 246 sagt, beweist freilich nur, daß ein Mensch fi6XXoc heißen
konnte, nicht daß es einen Komiker Myllos gab. Dazu muß man die Stellen, die
Meineke 126 anführt, ordnen. Sehr viel geht auf die eine Paroemiographennotiz
zurück, die im Pariser Zenobios V 14 die Fundstelle des sog. Sprichworts MuXXoc
irctvr' dxo'jti, einen Vers aus den Kleobulinai des Kratinos, anführt und die Erklä-
rung gibt *er stellt sich taub, um alles zu hören'. Daneben wird bemerkt Icti 8i
xal xa>[xu>i8id)v 7co(i]T7]c outcd xaXo6fjievoc. Also man kennt den Komiker ; dieser Er-
klärer bezieht den Kratinosvers nicht auf ihn. Arkadius 53 hat den Namen unter
den xupia 8io6XXaßa e^c-XXoc mit dem Vermerke icoiY)t7]c xu)fAix($c. Auf eine andere
Deutung des Kratinosverses geht die Diogenianglosse MuXXoc (verdorben in AuXXoc,
aber im Hesych verbessert : die Eorruptel auch bei Theognost Kan. 832) Hesych. Phot
i:ötT)T>jC iid \nopiai xu)pLU)i$ou(Aevoc. Ob Kratinos sich auf den Dichter bezog, können
wir nicht entscheiden. Die Akzentregel steht etwas ausführlicher bei Eustathios
zum u 106 piöXXo« x6piov biroxpiToo raXaiou, 8« fjuXxtuToTc, ^aaf, 7rpooa)7üt(oic ijj^iitsaTO.
Das ist problematisch; fA6XXoc klingt an fji^Xxoc an, aber an sich ist eine solche
Angabe über eine mennigbeschmierte Maske für einen Primitiven denkbar genug ;
Schauspieler oder Dichter verschlägt nichts. Entscheidend war die Unterschei-
dung des Dichters M6XXoc von dem fioXXii; bei Kratinos. Die gibt eine Tatsache,
der man zu glauben verpflichtet ist.
622 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 8
vioc icpeoßotiQi, und zu einer Chronologie der Komödie, die Chionides
vor Epicharm stellt. Wer TcoXXfl^i icpötepoc ist, der ist kein Zeit-
genosse. Zu erzählen, Epicharm war lange vor seiner syrakusischen
Tätigkeit, auf die sich Suidas bezieht, ein hochberühmter Mann,
dessen Einfluß in Athen bewirkte, daß die formlosen Poaseii der
id>6Xovtal sich zu der Komödie erhoben, die dann staatliche Aner-
kennung fand, ist eine jener Verlegenheitsausreden, mit denen aller
2^iten vergeblich versucht wird, einem unbequemen Zeugnis die
Spitze abzubiegen. Nein, der Wahrheit ins Gesicht gesehen. Wir
kennen die Zeit des Chionides und Aristoteles kannte sie ebenso,
dank den authentischen Aufzeichnungen im Archive des Archons.
Wenn er dann den Epicharm sehr viel früher ansetzt, so hat er ihn
anders angesetzt, als die ihn kurz vor oder nach den Ferserkriegen
und Hieron datieren. Und wenn diese Datierung richtig ist, dann
hat ihn eben Aristoteles falsch datiert. Nun habe ich eine Tradition
bereits aufgezeigt, die wirklich den Epicharm in das sechste Jahr-
hundert rückt, und eben in peripatetischen Kreisen, im Peplos, habe
ich sie aufgezeigt.^) Da haben wirs. Der spätere Ansatz, den wir
in der parischen Chronik, bei Timaios und dann weiter finden,
gründet sich auf bestimmt datierbare Dramen aus Hierons Zeit, ja
es gab eine Beziehung auf Aischylos, die also frühestens 470 fallra
kann (Fg. 214). Es gibt freilich auch Verse, selbst aus Komödien,
die Piatons eigenste Philosophie voraussetzen: man sieht, wie un-
sicher alles ist, was die Person und den Nachlaß dieses Dichters
angeht. Kein Wunder, daß eine Ueberlieferung ihn auch viel älter
machte. Auch wer ohne die Kenntnis des uns geläufigen Ansatzes
bei Piaton neben Homer als Haupt der Tragödie den Epicharm als
Haupt der Komödie bezeichnet findet, wird ihn nicht leicht fttr
einen Zeitgenossen des Aischylos halten, und Piaton hat das sicher-
lich so wenig getan wie Aristoteles. Ganz ebenso schwanken be-
kanntlich die Ansätze der Zeit für Stesichoros und Hipponax.
An den Dionysien 486 ward die erste Komödie von einem staat-
lichen Chore aufgeführt; ein ganzes Menschenalter hindurch blieben
die Dichtungen so unliterarisch, wie es die der freiwilligen Chöre
gewesen waren: das ist die Zeit, aus der man nur Dichtemamen
1) Textgesch. der Lyriker 23. Jacoby Marm. Par. 181. Alkimos der Si-
keliote benutzt fiir Epicharm gewiß im besten Glauben Gedichte, die keine siebiig
Jahre alt waren, da sie Piatons ausgebildete Ideenlehre voraussetzen (wichtige
Zeugnisse für das geistige Leben unter Dionysios I); noch Theokrit denkt bd
Epicharm wesentlich an den Dichter weiser Sprüche, und wenn er ihn Erfinder
der Komödie nennt, so kann er ihn zeitlich ansetzen wie Aristoteles, Textgetch,
der Bukol. 195. 251.
Wflhelm, Urkunden dramatischer Aaff&brungen in Athen 623
kannte, die Xe^öiisvoi TtoirizaU wie Aristoteles sieb ausdrückt. Mit
Kratinos (453) und Krates (450) *) treten Dichter auf, die ihre Werke
auch schriftlich verbreiten, auf die sich also das Urteil des Aiscbylos
über Form und Inhalt der ältesten Komödie gründet. *) Aber nur von
Kratinos hatte sich eine größere Zahl erhalten, und noch lange dauerte
es, bis auch nur ein Titel für jeden Chor von den Behörden ange-
geben wurde, obwohl die Komödie so beliebt war, daß der Staat fünf
Chöre ausrüstete. Erst am Anfange der zwanziger Jahre bringen die
jungen Leute Eupolis und Aristophanes das Spiel wirklich auf seine
Höhe; und doch hat grade damals der Staat zwei Chöre für das
Fest gestrichen. Dies sind Tatsachen, die Körte aus den römischen
Steinen gewonnen hat; die verwirrten Angaben der Aristophanes-
scholien über Gesetze, die die Komödie beschränkten, sind bisher mit
dem, was die Steine lehren, nicht ausgeglichen; das muß von neuem
versucht werden, wenn es auch nicht sehr aussichtsvoll ist.
Das Monument der Fasten hat über die Einführung der Komödie
nicht anders berichtet, als daß unter Archon Telesinos die drei
Zeilen hinzutraten )Ui>|ia>t8ä>v 6 8eiva Ix^pi^Y^^ XlüdvISiqc ISiSaoxsv, und
zwar zwischen Dithyramben und Tragödie, denn auch über die Reihen-
folge der Spiele entscheiden die Fasten. Daß kein weiterer Vermerk
da waf, ergibt die Analogie der Einführung der Schauspielerkon-
kurrenz. Denn Capps und Kaibel sind in der Berechnung zusammen-
getroffen, daß im Jahre 449/8 zum ersten Male eine neue Zeile zu-
trat, o9coxptd]c 'HpaxXeCSY]^: den Namen des ersten Siegers liefert die
Siegerliste S. 137. Auf die Einführung der Komödie durfte demnach
1) Dies die Ansätze bei Eusebius-Hieronymus, die man auf ein Jahr nur mit
Reserve fixieren darf, die aber am Ende auf den ersten Sieg an den Dionysien
gehen, wie namentlich Capps treffend in solchen Fällen deutet Denn in der Sieger-
liste S. 107 ist Kratinos der zweite Name nach Euphronlos, der für 458 feststeht,
Erates der zweite hinter Kratinos. Damit sind auch die zwischenstehenden
Namen, Ekphantides und Diopeithes, einigermaBen fixiert.
2) Bei Krates konstatiert er den Einflufi des Epicharmos, d. h. der Dramen,
die er von diesem kennt. Es ist also nicht anzunehmen, daB er die Anfänge der
athenischen Komödie aus Sicilien ableitet. Noch viel weniger hat er die Ansprüche
der Megarer sich zu eigen gemacht, deren Gründe er so angibt, daß er sein
eigenes urteil nicht bloB zurückhält, sondern die Ableitung von x({)fAT) statt von
xwfjioc offenbar als ebenso willkürlich betrachtet wie die, daß Sp^v dorisch und
unattisch wäre. Wessen Sprachgefühl nicht so weit reicht, daß er den Unterschied
▼on oratio directa und indirecta unterscheiden kann, der soU keinen Aristoteles
deuten woUen. Wir werden aUerdings die burlesken Szenen, die auf die Para-
base folgen, wirklich für Athens dorische und boeotische Nachbarn reklamieren.
Das beste an der alten Komödie, die {afißtx^ l^ia^ ist für Aristoteles und ftür uns
national-attisches Produkt, und was für dieses einigermaßen Vorbild war, ist der
ionische Iambus.
624 Gott. gel. Adz. 1906. Nr. 8
Kaibel die Ueberschrift der Fasten nicht mehr beziehen. Was aber
steckt in dem -ov xtt>(tot iljaav ta>V Das hängt mit der andern Frage
zusammen, wie weit reichten die Fasten hinauf? Darauf geben die
Bruchstücke keinen Hinweis ; aber die Grammatikerüberliefernng, die
in Sachen der Komödie so vortrefflich stimmt, versagt auch hier
nicht. Sie liefert die erste Aufführung einer Tragödie durch Thespis
von Ikaria im Jahre 533, ^) die ersten Siege des Choirilos, OL 64
(523—20), und Phrynichos, 01.67 (511—8), den ersten Männerchor
unter Archen Lysagoras (510? 507? Jacoby M. P. 174), die Kon-
kurrenz des Aischylos mit diesen zwei Ol. 70 (499—96). Diese
Daten sind genau so unanfechtbar wie die über die Komödie, und
da ich über sie später gehandelt habe als über jene, habe ich sofort
den Thespis gegen dieselben Zweifel verteidigt, deren ich midi
gegenüber Euetes schuldig gemacht hatte. Wie sollte es denkbar
sein, daß die Athener in der Chronik, mit der sie den Neubau ihres
Theaters schmückten, diese ganze Zeit übergangen hätten? Kaibel
hat das auch nicht geglaubt, sondern die Liste mit Thespis beginnen
lassen; aber Capps und Wilhelm suchen den Anfang in der Ein-
führung der Choregie und leugnen sogar, daß die parische Chronik
mit x^P^^ icpodtov -fjYoviaavro avSpcÄv bezeuge, daß damals zuerst ver*
zeichnet ward, i^ Seiva f oXi] ivixa av8pä)v. Dazu verführt sie eine Be-
rechnung des fehlenden Anfanges der Steinschrift. Wenn es nämlich
bloß zwei Kolumnen gewesen sind vor der, die in dem Jahre des Menon
anfängt, und wenn alle Jahre mit ebensoviel Zeilen wie später ausge-
füllt waren, außer daß unter Telesinos (oder wohin sie die acht Jahre
vor den Perserkriegen bei Suidas erstrecken), zwei Zeilen hinzutreten,
so geht die Rechnung auf, oder besser, so läßt sich eine Verteilung
ersinnen, die aufgeht. Das sind zu viele Wenn. Woher wissen wir
denn, daß sich in den Agonen nichts geändert hat, also z. B. die
Knabenchöre gleich mit den Männerchören eingeführt sind? Femer
ist es wirklich kaum denkbar, daß im Jahre 479 die Feste ganz me
in Friedenszeiten begangen sind, während Athen in Trümmern lag
und der Einmarsch der Perser alle Tage erwartet werden konnte.
Ein Vermerk inl KaXXtdSoo o&x Iy^vsto wirft die ganze Rechnung
über den Haufen. Hier haben wir nur die Lücke; aber in den
Grammatikernotizen steckt eine Parallelüberlieferung, die uns zeigt»
1) Jacoby M. P. 172. Die Heimat ist wesentlich ; vermatlich wird sie noch
einmal beanstandet werden, weil es doch noch keine Demotika gab, wie bei Myron
von Phlya. Offenbar steUen sich diese weisen Historiker vor, daS Athen zu den
Zeiten, wo es von Ackerbau lebte, keine Durfer hatte, und daß es vor 'Thesens'
aus vielen ikSXiic bestand, rechnen sie nicht mit, weü Theseus ein mythischer
Name ist.
Wilhelm, Urkunden dramatischer Aa£fühningen in Athen 625
was wir in ihr zu erwarten haben; also mUssen wir mit dieser ope-
rieren; mit der Null soll man nicht dividieren. Nur eins steht noch
auf dem Steine, der Rest der Ueberschrift, die dem ganzen Monu-
mente der Fasten galt. Als ich sie einst auf die Einführung der
Komödie bezog, postulierte ich einen Stein davor, der die ältere
Zeit umfaßte. Den hat es nicht gegeben, und mit Recht ist meine
Ergänzung verworfen worden, weil xwjiot nicht x(ö|jLü)t8Cat sind. Wir
müssen anerkennen, daß der Ausgangspunkt der Fasten die Ein-
führung der xä)|jLoi war, einerlei, ob wir die Bedeutung derselben
verstehn oder nicht. Erwähnt werden sie einzig in dem Gesetze des
Euegoros, das in der Midiana 10 eingelegt ist: da steht hinter den
ländlichen Dionysien xal toic ^v äatet Atovoafoic tq «ojiiri] <xal ot ävSpec)
xal 61 fcaiSsc xal 6 Xü>(toc xal oi xa)|ia>t8ol xal ol TpaYooiSoC. ^) Das
ergibt die Ergänzung otSe vevixijxaotv *) ay' oo «pcotjov x<b|jLOt f^aav
tÄ[t Atovöawi (oder zm dsöi) Iv äa-cet, wie mancher, u. a. Foucart,
ergänzt hat. Diese Fassung hat mindestens den Vorzug, sprachlich
korrekt zu sein;') sie wird auch den Sinn im wesentlichen geben.
Die no^irfi ist mit Recht auf die Ueberführung des alten Bildes des
Eleuthereus gedeutet; sie ist also von der heiligen Handlung im
Dionysosheiligtum gesondert. In dieser steht der Komos mitten
zwischen den Spielen, die alle in nachweisbarer Zeit zugetreten sind,
als der alte Tempel und also auch der Kult längst bestand. Der
Komos ist also das älteste; seine Feier wird noch weit über die
erste Tragödie zurückreichen. Was ein Komos ist, wissen wir von
den Vasenbildern her einigermaßen; im Komos kommt Hephaistos
auf den Olymp; aber auch Dikaiopolis kehrt im Komos von dem
Wetttrinken der Choen heim. Da ist Komos nur Festzug, etwa
1) Die Ergänzung hat sich seltsamerweise noch nicht durchgesetzt; die
Fasten müssen das endlich erreichen, denn wenn von ihren 4 Agonen (der der Schau-
spieler ist keine besondere Vorführung) drei vorkommen, so könnte der vierte
nur fehlen, wenn es erlaubt war während dieser Zeit zu pfänden u. s. w., was eben
das Gesetz für die Festzeiten untersagt. Was A. Mommsen, Feste der Stadt
Athen 438. 441, zum Teil nach Foucarts Vorgang, ausführt, geht ganz in die Irre.
Ein Psephisma des Jahres 185 (Arch. Zopyros) soU für die Zeit der Choregie etwas
beweisen ! Hier wie sehr häufig verführt der Wahn, daß sich in dem Gottesdienste
nichts geändert hätte, zu der Verwertung von Zeugnissen der späten Zeit, und die
scharfsinnigsten Kombinationen werden durch die mangelnde Becensio der Ueber-
lieferung so unbrauchbar wie die contaminierten Schriftstellertexte der vorkriti-
schen Philologie.
2) Wilhelm hat richtig gesehen, daß in die Ueberschrift das Perfekt gehört.
3) xtüfioi Aiovua{tüv mit Capps zu setzen ist das nicht, und wenn er sich auf
xt>oi'Yax(vftou aus einem euripideischen Chorliede beruft (denen doch xöjjioi Aiov6aoü
entsprechen), so ist das nichts anderes, als eingestehen, daB die Wendung für
Actenprosa nicht paßt.
09U. g*l. Am, 1906. Nr. 8. 44
626 Gatt. gel. Anz. 1906. Nr. 8
dionysischer Festzag. Für den Zug, der die eigentliclie Zereaoiie
der Dionysien bildet, werden wir ursprünglich die Erschemmg des
Gottes und seines Gefolges, vor allem seiner Tiere annehiiiea. Des
Gott vertritt später sein Symbol, der Phallos oder die PhaDeii, deroi
ja z. B. jede Kolonie, später jede Reichsstadt einen zu senden baita
Das Gefolge des Gottes wird eine Prozession des Volkes oder Miner
Vertreter sein. Es ist im großen, was die Phallophorie der Achaner
im kleinen ist. Dann kam einmal Thespis ans Ikaria luif
Wagen und rezitierte lamben neben dem Tanze nnd Gesänge
yermummten Dorfgenossen: sie werden Böcke gewesen s^n. Es
kamen dementsprechend viele Prozessionen von ^aXkofpdfxx,; ihre
tollen Lieder sind znr Komödie geworden: das sagt Aristoteles. An-
dererseits wird bereits früh von gewerbsmäßigen wohleinstudierten
Sängerchören das Knltlied, der Dithyrambos, gesungen sein, und be-
deutende Dichter, Lasos und Simonides, werden solche Lieder Ter&ft
und einstudiert haben, ehe die Phylengenossen selbst, alt nnd jmg,
die Chöre bildeten. Man ahnt ganz wohl, wie es geword^i ist
Vielleicht ist auch ein Bericht über den alten Komos erhalten, bei
Plutarch s. soXofiXioc 8, p. 527^: i^ sdtpio^ tuv Aiovooiaftv iopt^ c&
soXoiöv ix^ssto ST](LOux«ftc %al ^apfibc a{if opsDc olvoo xol xXijpyod;
Sita tpdifov TIC eiXxsv, £XXoc laxaSiov Spptxov tfloXab&Bi xo{uCiiy, izi
xdai ^ 6 foXXöc* 0
Capps und Wilhelm stützen ihre Ergänzung der Fasten audi
auf die Liste der tragischen Sieger S. 101, die doch erst fnnfiog
Jahre nach den Fasten aufgezeichnet ist, also nicht einmal notwendig
mit jener in Beziehung steht. Sie berechnen nämlich, daß vor
Aischylos (484) nur noch acht Namen gestanden haben könnten, die
allerdings schwerlich die Jahre seit Thespis füllen konnten. Allein
der Schluß ist nicht zwingend. Wie die Ueberschrift des ganzen Mo-
numentes lautete, wo sie stand, ist ganz ungewiß ; also braucht man anch
nichts für sie auf der ersten erhaltenen Kolumne abzuziehen. Ebenso
ungewiß ist, ob dies die erste Kolumne war. Wenn links nodi eine
stand, so muß sie freilich so kurz gewesen sein, wie die der komisehen
Sieger; aber das ist ja möglich. Also damit ist überhaupt nichts n
machen; zur Zeit wenigstens reichen die Bruchstücke nicht zu einer
Rekonstruktion des Monumentes, und wir sollten durch die Erfahnmg
1) Bock und Korb mit Feigen sind nach der späteren Deutung, der sdM»
die parische Chronik folgt, die Siegespreise för Tragödie and Komödie; das st
Spekulation, aber aas Torhandenem. DaB das Opfertier mitgeht, ist selbetrersUiid-
lich, and ein appix^^ ist ebenso angemessen wie ein xorvoOv, das die Tochter to
Dikaiopolis trägt
WUhelin, Urkunden dramatischer Anflfubningen in Athen 627
davor gewarnt sein, dieses als regelmäßig und unsere sonstige
Kenntnis als vollständig anzusehen.^)
Fasten der Lenaeen haben vielleicht im Lenaion gestanden,
dessen Platz wir nicht kennen. Als man die des städtischen Heilig-
tumes aufschrieb, feierte man noch iiA AT]va(a>i; nach Errichtung des
Theaters gab man das auf, spielte nur hier, und so sind um 280
die Lenaeen zugleich mit den Dionysien in der Publikation der Di-
daskalien und der Siegerlisten berücksichtigt. Für die Tragödie haben
wir das eine von Fourmont kopierte, von Köhler richtig erkannte
Bruchstück, S. 51. Da stehn die tragischen Spiele der Jahre 419
und 418 (Astyphilos und Archias) rechts von der komischen Liste
von 285 Diotimos. Daraus ergibt sich, daß zwischen dieser Di-
daskalie aus einem der letzten Jahre, die von der ursprünglichen
Aufzeichnung überhaupt berücksichtigt werden konnten, und den
Lenaeendidaskalien auf der rechten Kolumne die komische Liste
(einerlei ob Dionysien oder Lenaeen) zu Ende gegangen ist, die
tragische der Lenaeen begonnen hat. Die Länge der Kolumnen ist
unbekannt, aber so viel leuchtet unmittelbar ein, daß tragische Spiele
an den Lenaeen nicht allzuviele Jahre vor 420, sagen wir höchstens
zwanzig, eingeführt sein können. Für die Komödie bieten die Le-
naeensiege der Dichter einen Anhalt, S. 123. Ihre Liste beginnt mit
Xenophilos und Telekleides; der elfte Name ist Eupolis, der 428
überhaupt zu dichten begonnen hat, und Kallistratos fehlt noch, der
mit den Acharnern an den Lenaeen 425 gesiegt hat Die Zahlen
der Siege gestatten auch nur ungefähr ein Urteil, da ja manche von
ihnen nach der Zeit errungen sein werden, die der jüngste erste
Sieg eines Dichters angibt. Im ganzen aber führt das auch auf die
Zeit um 440, eher wohl etwas später, und nichts hindert die Ein-
führung beider Spiele an den Leaeen gleichzeitig anzunehmen. Mancher
hat sich das ganz anders gedacht; aber die Schlüsse sind so weit
bündig.
Die Komödie ist in der aristophanischen Zeit an den Lenaeen
mit ebensoviel Stücken aufgetreten, und deren Bedeutung ist nicht
geringer, wenn auch ein Dionysiensieg höher gewertet wird. Aber
die Tragödie zeigt an den Lenaeen unter Astyphilos und Archias nur
zwei Konkurrenten mit je zwei Dramen, nichts von Satyrspiel, und
die Dichter sind lauter Unbekannte, Her[akleides], Kallistratos. Es
ist begreiflich, daß in unserer Ueberlieferung über die großen Tra-
giker die Lenaeen gar keine Rolle spielen, aber ein Anfänger wie
1) Noch viel weniger darf man in den Fasten weiter abwärts die Distanzen
abzählen woUen. Z. B. zur Zeit der Doppelchoregie muß es eine ZeUe mehr ge-
geben haben.
44*
628 G5tt. gel. Anz. 1906. Nr. 8
Agathon froh war, wenn er an ihnen einen Chor bekam. Wilhelm,
der hier den Herakleides ergänzt hat, denkt bei ihm an den Schaa-
spieler, der 449 als erster einen Preis erhielt. Das ist ansprechend,
und häufig hat Wilhelm bei den späteren Komikern Identifikation^
von Dichtern und Schauspielern vorgenommen. Aber in dem Ealli-
stratos, der hier als tragischer Didaskalos auftritt, denselben Mann
zu sehen, der für Aristophanes Komödien einstudierte, ist verwegen.
Verwegener noch auf Grund eines anlautenden S den Namen des So-
phokles als Lenaeensieger zu ergänzen : eine Lücke beliebig zu füllen,
ist gefährlich, weil es unberechtigtes Mißtrauen gegen berechtigte
Ergänzungen hervorruft. Schlimmer freilich ists, die Ueberliefemng
erst zu ändern, weil sie der Kombination widerstrebt. So tat es
Bergk mit Menekrates = Timokrates == Demokrates, und datierte so
die Andromache des Euripides in unmögliche Zeit. Kaibel weist
das gebührend ab und hat Wilhelms Tadel wahrlich nicht verdient^).
An den Lenaeen werden schon 419 nur je zwei Tragödien aufgeführt;
an den Dionysien 340 ist es ebenso, aber 341 bringen dieselben
Dichter je drei zur Aufführung. Das Satyrspiel wird gesondert von
der Tragödie vorher aufgeführt und zwar ohne Konkurrenz nur eins ^.
1) In Wahrheit ist die Erklärung des Scholions zur Andromache 445, das
auf Aristophanes zurückgeht, ganz einlach : eJXixpivu)^ touc toö $pdl|xaTo; ^pe^vouc oOx
löTi Xaßttv, ob ydip oeotöaxTai 'A0y^vr](5cv. Das bedeutete nichts anderes, als »das
Drama steht nicht in den Didaskalien«, nämlich nicht unter dem Namen des Eu-
ripides, denn Dramen mit dem Titel Andromache wird es genug gegeben haben.
6 hk Ka}Xl[».ajoz imypa^f^^ai cpr^at rr^t Tpayuito^ai Ar^fjtoxpdTvjv. D. h. in der alexan-
drinischen Bibliothek war ein Exemplar mit diesem Namen. Das kann bloß ein
Versehen oder ein Trug gewesen sein, aber in Verbindung mit dem Fehlen des
Dramas unter den Didaskalien des Euripides ist es viel wahrscheinlicher, daß
Euripides das Stück, dem er ansah, daß es keine Primaware war (tcLv Sevrr^ptuv
sagt Aristophanes), einem Demokrates zur Aufführung gab. Nach dem würden
¥rir in den Didaskalien suchen, wenn wir sie hätten. Endlich sagt Aristophanes
(pafvexai o^ yeYpafxpivov ^v dpyaX^ too IltXoTtovvrjaiaxoü roXeftou. Das sagt sich auch
jetzt jeder Kenner des Dichters. Argos soll man ganz ausschalten: wenn Mene-
laos sagt (734) »eine Stadt nicht weit von Sparta, die früher befreundet war, ist
jetzt feindselig«, so lügt er das, und die Lüge dient dazu, seine Feigheit zu iUn-
strieren. Argos aber lag weder dicht bei Sparta noch war es jemals mit diesem
befreundet.
2) Sieger ist TipioxXr^c Auxouprtot. In ihm sieht Wilhelm nach meinem Vor-
gange den Komiker. AUein meine Darlegung hat in der guten Leipziger Dissei^
tation von Th. Wagner Symbol, ad camic. gr. hisi, 1905 einen scharfen und im
wesentlichen siegreichen Angriff erfahren. Vollkommen treffend zeigt Wagner,
daß die antike Grammatik überaU einen Komiker und einen Tragiker Timokles
unterscheidet, und da es nicht unmöglich ist, daß zwei gleichnamige Zeitgenossen
die beiden Gattungen neben einander pflegten, hat diese Tradition zu gelten. Ob
die Grammatiker von dem Tragiker mehr wußten als die Didaskalie audi uns 0«gt|
Wflhelm, Urkunden dramatischer Aufführungen in Athen 629
Damals gehört eine alte Tragödie ebenso zu der dionysischen Vor-
führung; die Didaskalie des Archons Theodotos (386; Wilhelm hat
sie S. 23 sehr schön aus einer wüsten Abschrift von Pittakis herge-
stellt) zeigt, daß damals die tragischen Schauspieler eine solche Auf-
führung von sich aus als Extraleistung zugaben, icaXai&v Spa(ia icape-
2i8a£av ot tpaYa>i5oL Im Jahre 340 war die Komödie auf demselben
Punkte angelangt, acaXai&v Spajia 9caps5i8a£av ol xcoiuioiSoC ; im zweiten
Jahrhundert ist das zur Institution geworden, z.B. im Jahre 167,
fcaXaidi Mövi|iO(; 4>d(3[ia'ut MsvdvSpoo. An demselben Feste konkurriert
ein Dichter Paramonos, der das Distinktiv tedvijxÄc erhält: weil es
noch nicht in Athen gegeben war, war sein Drama kein altes. Da-
zumal herrschte schon längst in Athen die Technitengilde ; offenbar
ist [sie während des vierten Jahrhunderts in der Bildung begriffen;
aber wenn Wilhelm schon bei Leuten wie Herakleides und Menekrates
im fünften Jahrhundert bemerkt hat, daß sie in erster Linie Schau-
spieler sind, aber auch Dichter, die sogar die Lenaeen beherrschen,
so bemerkt man, wie die älteste natürliche Verbindung zväschen dem
Berufe des Dichters und Schauspielers sich mit dem Aufblühen der
Gattungen nach verschiedenen Seiten entwickelt. Die vornehmsten
Dichter spielen nicht mehr selbst; daneben stehn andere, die bei der
alten Weise bleiben; aber nun praevaliert bei ihnen das Schau-
spielertum, und der Dichter in ihnen wird immer mehr Bearbeiter
und Regisseur. Die vielen doppelten Verfasser in der Komödie, die
offenkundige Tatsache, daß von den ältesten Komikern, wenn über-
haupt, nur in Neubearbeitung etwas erhalten war, findet so ihre Er-
klärung. Unsere Kenntnisse reichen nicht aus, die Entwickelung
durch die einzelnen Phasen zu verfolgen, aber das Material für eine
Theatergeschichte Athens (wie sie Juba kompiliert hat) und für die
genaueste künstlerische Biographie der Dichter, also auch für die
Geschichte des Dramas, war vorhanden ; so etwas hat leider niemand
im Altertum unternommen.
Unter den Komikern hat in ganz singulärer Weise Aristophanes
sich der Aufgabe des Emstudierens seiner Werke entzogen, also auch
der Ehre des offiziellen Sieges und demnach auch des klingenden
Lohnes, vielleicht auch der Verantwortung vor der Polizei. In der
und nicht bloß dem Glauben folgten, da£ ein Komiker niemals ein tragisches Spiel
versucht, ist nicht zu entscheiden; subjektiv glaube ich nicht an die Homonymie
und das Bruchstück der AiovuaiaCouoai bestärkt mich darin. Daß die ^Ixdpm ad-
Tupoi eine Komödie waren, hat auch A. Körte (Rh. M. 60, 413) gezeigt wie Wagner,
der die Zeit des Stückes richtiger als ich bestimmt hat Aber den ganz singa-
lären Titel durfte er nicht mit der Trivialität erklären woUen, daß viele Komö-
dien Satyrn heißen. Darin, daß diese »Satyrn aus Ikariac heißt, liegt ja gerade
das Seltsame.
630 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
Siegerliste der Dionysien hat er sicherlich nicht vor Lysippos (410,
der ohne Frage aus . . . iincoc zu ergänzen ist) gestanden, wenn aber-
haupt. In der der Lenaeen muß er wegen des Sieges der Ritter,
die er selbst einstudierte (aus Not, nicht aus Opfermut), der nächste
oder einer der nächsten Namen hinter Eupolis gewesen sein. Seine
meisten Erfolge standen also unter den Namen des Philonides und
Eallistratos. Wenn gleichwohl die Zuteilung seiner Gedichte niemals
fraglich gewesen ist, so muß bei ihm die Buchausgabe unter eigenem
Namen rasch und zuverlässig erfolgt sein, wie das bei den Wolken
ja auch zu Tage liegt. Wenn Dikaiarchos von den Fröschen berich-
tete, das Drama gefiel so Sore xal jcvsSiSdx^, so kann man unter
Berücksichtigung der Zeitverhältnisse eigentlich nur an eine sofortige
Wiederholung denken, und an Ueberlieferung durch die Akten; in
den Didaskalien, die nach Alexandreia kamen, hat das freilich nicht
gestanden. In den Wolken erzählt Aristophanes selber, daß er zu-
erst, als er aufführte, zu jung gewesen wäre, um selbst einen Chor
zu erhalten. Er war also 428/7 Ephebe, spätestens 446/5 geboren:
die Daitales geben ganz frische Schülererfahrungen. Ob er die Ba-
bylonier als gerade eben mündiger Staatsbürger dichtete, steht dahin:
dies Bürschlein konnte sich der Tragweite seiner Witze nicht bewufit
sein. Aber wenn der Rat gegen Eallistratos einschritt, so wäre die
strenge Beobachtung der Ausschließung von Unmündigen erst recht
angezeigt gewesen. Später hat man auch Epheben zugelassen, und
nun durfte man es. Kein Geringer als Menandros hat so begonnen.
Da stand in den Listen der Vermerk ouTog SfYjßoc &v lvs(i.Tjd7], wie
wir es bei einem Ameinias im Jahre 311 (S. 45) noch lesen. Das
ist einer der zahlreichen Dichter, die auf der Bühne gar nicht erfolg-
los waren, aber in die Literatur keinen Eingang gefunden haben.
Die Menge solcher Namen, die wir auf den Steinen finden, ist im
Grunde eben so unergiebig wie die Masse der Dramentitel und auch
der Bruchstücke der späten Komödie, die ganz gedankenlos in den
alten Gleisen gefahren ist. So ist es gekommen, daß die Gramma-
tiker der Kaiserzeit sich ihre attischen Vokabeln aus Stücken ausge-
zogen haben, die aus späthellenistischer Zeit und schwerlich von ge-
borenen Athenern stammten. Bei Pollux läuft davon genug unter,
obgleich er an anderen Orten über Hypereides und Menander die
Nase rümpft. Daß die Kontinuität, auch in Tragödie und Satyrspiel,
erst in dem Elend der suUanischen und Seeräuberzeit abgerissen ist,
da aber durchaus, lassen zwar nicht die attischen, aber wohl die
boeotischen und asianischen Steine deutlich erkennen. Ein besonderer
Unglücksfall ist es, daß die Anfangsbuchstaben, die von der letzten
Kolumne der tragischen Siegerliste übrig sind, wie Kaibel bemerkt
Wilhelm, Urkunden dramatischer AuüÜhrongen in Athen 631
hat, auf Dichter der Pleias bezogen werden können, ohne daß es sich
entscheiden ließe. Wo kommt überhaupt die Tradition von der Pleias
her? aus Athen? aus Alexandreia? Ich weiß keine Antwort.
Nun nur noch einige Einzelheiten. Perikles hat für die Perser
die Ghoregie geleistet. Das bedeutet für seine Beziehung zu der
Poesie und zu Aischylos gar nichts; aber wir lernen, daßXanthippos
bald nach 479 gestorben ist und Perikles dann, wie sich von selbst
verstand, zu den Steuern herangezogen ward. Wer freilich spielen
will, wie so viele damit gespielt haben, daß Themistokles einmal für
Phrynichos Ghorege war, der hat ein schönes Thema.
Ueber Alkimenes steht bei Suidas, daß so ein 'A^vaiog xa)|itxdc
hieß. Man setzt seinen Namen in die Siegerliste, S. 107, als zweiten
hmter Magnes, wo vor der Endung vyjc sechs Buchstaben fehlen,
oder auch sieben, denn so genau ist das auf diesem Steine nicht zu
sagen. Der Grund liegt in einer ganz unzulässigen Kombination.
Ptolemaios Chennos (Phot. Bibl. 151*9) läßt unter dem Kopfkissen
des Tynnichos von Chalkis die 'AXx|idyooc xoXt)|iß(ooai finden. Da
ändert man 'AXxi(iivooc, obwohl bei Suidas unter Alkman steht,
S7pa(|)6 ßißXia <; [i^Xy] xal xoXo|ißa>aac. Das wird freilich aus der
Schwindelei des Chennos stammen, aber schwerlich erst durch Suidas,
und jedenfalls zeigt es, wie beiPhotius zu lesen ist; auch der Name
des Tynnichos ist bei ihm verschrieben. Was soll denn auch ein
Dichter, der für Aischylos ein alter war, zur Lieblingslektüre haben?
Eine Komödie, von einem Dichter gar, der, wie wir nun lernen, erst
in den sechziger Jahren gesiegt hat (wenn die Ergänzung zutrifft)?
Da paßt doch nur ein älterer Lyriker wie Alkman. Aber der kann
doch keine xoXo|iß(oaai gedichtet haben? Ja, kann das ein Zeitge-
nosse des Magnes? Von Mädchen hat Alkman genug gedichtet;
ob man ein Lied von ihm die Taucherinnen nennen konnte, weiß ich
nicht, aber wir haben es ja auch mit Chennos zu tun. Wer bemißt
einem Fälscher die Grenzen seines Schwindeins? Der Komiker Alki-
menes darf aber wirklich nicht auf Grund dieses zurechtgemachten
Schwindelzeugnisses fixiert werden.
Der Komiker Kallias ist nicht ohne Wahrscheinlichkeit sowohl
in den Fasten von 447 wie in der dionysischen Siegerliste ergänzt,
hier hinter Krates. Suidas nennt einige Dramentitel, mehrfach be-
zeugt ist nur ein Stück UsSf^zai, das in den archidamischen Krieg
fallen mag; ein anderes, K&xXcoTceg, trug neben seinem Namen den
des jüngeren Diokles. Er war also einer der älteren Zeit, aus der
sich nur wenig erhalten hatte. Kein Gedanke, ihn mit emem an
sich bedenklichen Kalliades aus dem vierten Jahrhundert zu identifi-
zieren, aber eben so wenig darf man um des grade damals ganz
632 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
gemeinen Namens willen dem Komiker die berufene yP^V^^
decopia oder tpaYcotSia (Athen. 453° und 276) beilegen. Deutlich wird
diese uns niemals werden, denn was Athenaeus oder sein Epito-
mator gibt, ist so korrupt und so arg zusammengezogen, daß sehr
viel einfach unverständlich ist. Athenaeus nimmt seine rare Weishdt
direkt aus Klearch, dessen verzwackter Stil aber verwischt ist. Zwei-
mal sagt er, man sollte gemäß den Tcapa^pacpoi lesen; aber die sind
nicht erhalten, und wem gelingt es, ihre Stellen und ihre Bedeutung
zu erraten? Wichtig ist, daß sie in dem Buche standen, das Klearch
las. Wenn nun Klearch von Kallias sagt, (iixp&v IpLTcpoodsv ^svöiisvo^
Toic XP^^^^^ iTpdrrtSoc, SO war für ihn Strattis doch kein Name, der
Epoche machte, sondern er muß für das an sich zeitlose Buch eine
Datierung gesucht haben, und was konnte ihm die Relation zo
Strattis geben außer einer Erwähnung in einer von dessen Komödien?
Auf die an sich unverständliche Behauptung, Euripides hätte ans
Kallias die Melodien der Medea und Sophokles die Synaphie des
Trimeter, oder eines Trimeters im Oedipus entlehnt, darf man wahr-
lich keinen terminus ante quem gründen. Klearch gibt als Vermutung
auch, Euripides hätte im Theseus den Kallias nachgeahmt.* Vorstellen
könnte man sich das Buch als eine scherzhafte Fibel in Versen, ähnlich
unsern gereimten Regeln. Aber aus den beiden Buchstaben, die das
ionische Alphabet dem attischen hinten zufügte, das obscöne ^& zu
machen, ist doch wohl kein pädagogisch-mnemotechnisches Kunststück,
sondern eher ein Scherz, der für die Zeit der Rezeption des ionischen
Alphabets paßt, die Zeit des Strattis. So bleibt es bei einem non
liquet; nur daß die Identifizierung der Kallias unzulässig ist, steht
außer Frage.
In der tragischen Siegerliste steht zwischen Polyphrasmon, der
unter Chares 471 gesiegt hat, und Sophokles, der es unter Apsephion
468 tat, ein . . . itttto«;, der also 470 oder 469 seinen einzigen Sieg
gewonnen hat. Bei Athenaeus 344^ steht, daß Hermippos in den
Moirai (430) und Telekleides einen Tragiker Nothippos als h^ofAioi;
verspottet haben. Dazwischen liegen vierzig Jahre, aber Nöd'iicicoc
paßt in der Liste so gut, daß man die Kombination nicht wohl ab-
weisen kann. Nun stehn aber bei Athenaeus 638 eine Reihe Komiker-
stellen, alle einigermaßen kontrollierbaren älter oder gleichalt wie die
Moiren des Hermippos, in denen ein Tragiker Gnesippos, lieber nach
seinem Vater 6 KXeoiiaxoo benannt, als Verfasser lockrer Lieder an-
gegriffen wird.^) Die beiden zu identifizieren ist nicht unbedingt
notwendig und den antiken Grammatikern ist es nicht eingefallen;
1) Die Zeugnisse selbst zwingen nicht zur Identifikation des Gnesippos mit
dem Sohne des Kleomachosj aber der Grammatiker setzt sie voraus.
Wilhelm, Urkunden dramatischer AofftÜirangen in Athen 633
aber es liegt sehr nahe, und so habe ich in dem iBastardc den
Spottnamen gesucht, was dann die Abkunft des Mannes diskredi-
tierte, der, wenn sein wirklicher Name genannt wird, gern 6 KXeo-
(ioXOD heißt. Wilhelm hat ganz recht, wenn er auf Grund der Sieger-
liste verlangt, daß vielmehr NödtTUTcoc als wirklicher Name gelten
solle, der zum Spotte als »echter ittttoc« eingeführt wäre, vxntK i^l
avaiSeiag verstanden. Der Witz ist schwächer; aber wenn die Identi-
fikation überhaupt richtig ist, kann sie nur so sein.
Bedauerlich ist, daß für Astydamas nichts neues herausgekommen
ist; berühmt ist jedenfalls nur ein Dichter, der Zeitgenosse des
Aristoteles; sicher hat es auch einen im dritten Jahrhundert ge-
geben ; auf die Verteilung der Dramenlisten bei Suidas ist wenig Ver-
laß. Aber noch kann niemand durchkommen, ohne ein Zeugnis zu
opfern. Vermißt habe ich bei Wilhelm S. 136, wo er die Unter-
schriften von Dichterstatuen aus dem Theater abbildet, die wie es
scheint, gleichartige des 'AaTO[8dcjiac] IG II 1363 und die des [AlaJ/o-
Xoc und OdoTcig, die Prott Ath. Mitt. 27, 296 veröffentlicht hat. Man
wüßte gern, ob Wilhelms maßgebendes Urteil diese Inschriften auch
für römisch hält oder ob sie den späthellenistischen gleichzeitig
sind, die er abbildet.
S. 83 setzt Wilhelm sich mit einer Vermutung von Gapps aus-
einander, die eine andere Art Widerlegung verdiente. Es hat einmal
einen komischen Schauspieler Lysimachos gegeben oder wohl auch
zwei (S. 80) ; ich sage, vermutlich mehr. Einer ist aus Boeotien ge-
wesen. Den versetzt Capps in die Aixir) ycovTi^vccov des Lukian, ja er
sucht den dort zur Datierung der Klageschrift verwandten Archen
Aristarch in den Fasten und findet ihn. Da sind die alten Erklärer,
die von Inschriften keine Ahnung haben konnten, doch besser in-
formiert gewesen. Eine grammatische Frage gehört vor das Forum
des Reiches, in dem Aristarch herrscht. Das Sigma kehrt ein in
Kybelon, >ein nettes Städtchen, wie es heißt, eine attische Eolonie<.
Wer kennt den Ort? Gabs ihn? An die phrygische Kybele erinnert
er, so daß das ^''eoSaTxtxöv jedem Gebildeten der Antoninenzeit sofort
klar war. Da ist ein komischer Dichter, Lysimachos, der ein echter
Athener sein will; es kommt aber an den Tag, daß er ein Boeoter
ist — denn tt für go ist boeotisch noch viel mehr als attisch und da
sagen sie sogar töxa für a5xa (Strattis Phoenissen), was hier das
Sigma von der Zukunft befürchtet. Ein komischer Dichter mußte
eingeführt werden, denn nur diese klassische Gattung bedient sich
des TT, das die Athener mit den Boeotem gemein haben. Lysimachos
aber heißt er — warum? Das mag Lukian wissen. Nur eins war
634 Gdtt. gel Anz. 1906. Nr. 8
erforderlich: er darfte nur einen Namen nennen, der keinem realen
Dichter gehörte.
Doch das sind Bagatellen, und es sei genug davon. Das Werk
liefert, hoffentlich nicht abschließend, die Ueberreste der drei histo-
rischen Monumente des attischen Theaters ; aber nur dann nicht ab-
schließend, wenn sich die Hoffnung auf weitere Funde erfüllt Es
liefert eme ganz ausgezeichnete Verarbeitung des historischen Ha-
teriales, das in den Resten dieser Monumente steckt, und es liefert
an Beiwerk sehr viel Wertvolles für griechische Inschriften. Möge
ihm das auch hier wieder versprochene Werk Wilhelms bald folgen,
das vor der Geburt seinen Namen gewechselt hat, das wir mit Un-
geduld erharren, seit es als Attische Studien seine künftige Geburt
anzeigte. Möge es seinem Verfasser die reine Freude eines freien
Schaffens aus dem Vollen und Eigenen gewähren und dem Leser
dann eine reinere Freude und eben so viel Belehrung wie dieses.
Die Literaturgeschichte aber bedarf noch immer einer Restitution
der Didaskalien, so weit sie sich geben läßt, vor allem für die alte
Komödie; aber auch für die spätere läßt sich doch die relative
Chronologie ziemlich weit führen: das zeigt die Dissertation von
Wagner. Und die Dithyramben dürfen auch nicht vergessen werden,
für die freilich die Monumente der Choregen und Agonotheten
mehr ergeben als die Fasten. Endlich erwarten wir die Zusammen-
fassung der Inschriften und Nachrichten, die sich auf die dionysischen
Tachniten aller Gegenden^) beziehen, also eine Erneuerung des
Buches, das vor bald vierzig Jahren 0. Jahn in der Preisaufgabe
forderte, die 0. Lüders mit seinen dionysischen Techniten gelöst
hat. Als ich die Bogen für Lüders korrigierte, kam ich zuerst mit
den Inschriften in direkte Berührung : keinem anderen liegt es näher,
den Fortschritt der Wissenschaft zu preisen, als dem, der so manchen
eigenen Irrtum berichtigt sieht. Aber eben der empfindet darum
auch am lebhaftesten, daß die Wissenschaft eine Aufgabe nur löst
um eine neue und höhere zu stellen.^
Westend Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
1) Dazu gehört die Genossenschaft, die in Ptolemais in Oberägypten schon
anter Philadelphos tätig ist. Daß die betreffenden Inschriften in diesem Buche
aus Autopsie sogar berichtigt werden, wird nicht leicht ein Leser erwarten, daher
sei auf S. 146 und 251 hingewiesen.
2) lieft 3 der Classical Philology von Chicago bringt eben einen wichtigen
Aufsatz Ton Capps, der Eörtes HersteUung der römischen Inschrift bek&mpft Ich
kann das nur noch notieren.
Müet^ Heft I 636
Hllet, Ergebnisse der Aasgrabangen and Untersuchungen für
das Jahr 1899, herausgegeben von Theodor Wieg and. Heft I: Karte
der milesischen Halbinsel (1 : 50000) mit erläuterndem Text von Paul Wilski.
Berlin, G. Reimer, 1906.
Die Ergebnisse der Ausgrabungen, die das Berliner Museum in
Milet und seinem Gebiete seit einigen Jahren und hoffentlich noch
für viele Jahre betreibt, will die Generalverwaltung der K. Museen und
der Leiter des Unternehmens, Th. Wiegand, in der Weise veröffent-
lichen, daß abgeschlossene Stücke des großen Werkes in einzelnen
Heften erscheinen, und die Karte der milesischen Halbinsel beginnt
diese Reihe. Freuen wir uns gleich hieran, und machen wir uns
klar, welcher Fortschritt darin liegt, daß ein Museum eine Karte der
Landschaft herausgibt, in der es gräbt. So hat die Wissenschaft
sich ganz und gar als die Herrin eines Unternehmens bewährt, das
scheinen könnte, einzelne Museumsstücke gewinnen zu wollen. Wir
haben in dem letzten Menschenalter erlebt, wie die Forderung sich
allmählich durchgesetzt hat, daß bei einer Ausgrabung ganze Arbeit
getan werden soll, dem Boden alles entnommen was er lehren kann,
wo denn die kartographische Wiedergabe des Geländes eine Haupt-
sache ist. Die Untersuchung von Pergamon und Dolos ist noch
unter ganz anderen Aspekten begonnen, aber an beiden Orten wird
nun mit Selbstverleugnung in der rechten Weise gearbeitet, und man
wird nicht aufhören, ehe die Aufgabe gelöst ist. Den Franzosen ist
die großartige Munificenz des Due de Loubat für den delischen
Apollon zu Hilfe gekommen ; wer über Milet zu reden hat, darf nicht
davon schweigen, daß den Mitteln, die der preußische Staat mit voller
Hand spendet, die verständnisvolle Opferwilligkeit deutscher Männer
die sehr beträchtlichen Summen hinzugefügt hat, ohne die der Boden
Milets nicht erworben und vollends der Apollon von Didyma von der
historischen Windmühle und dem Hüttengewirr von Jeronda nicht
befreit werden konnte. Unsere Unternehmung setzt gerade dort die
französischen Arbeiten fort, über die B. Haussoullier in vielen schönen
Aufsätzen berichtet hat: er ist eigentlich der geborene Beurteiler
für das was im Anschlüsse an seine Forschung geleistet wird, und
die Hoffnung wird nicht zu Schanden werden, daß Franzosen und
Deutsche hier wie auf so vielen Gebieten in herzlichem Einvernehmen
an den gemeinsamen Aufgaben der Wissenschaft arbeiten können
und wollen.
In diesem ersten Hefte erhalten wir also eine Karte der mile-
sischen Halbinsel von der Hand P. Wilskis, dem schon die Karte
von Thera in Hillers großem Werke verdankt wird. Wie dort be-
gje Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
richtet Wilski in dem beigegebenen Texte eingehend über seine Auf-
nahme und fügt ein Blatt bei, das die festen Punkte seiner AufiwIuM
bezeichnet. 1/is geht die Fachmänner an; der Benutzer wird ad
der überaus deutfchen und lesbaren Karte freuen, die schon mancherte
auch für die GescKrJite lehrt. Die Bergzüge, die das Gerippe (ta
Vierecks bilden, als tos sich die Halbinsel darstellt, kommen kltf
zur Anschauung; allerdiigs nicht der bereits recht hohe Berg«
Kutschuk burun, der sich wiistlich von der jetzigen Bastarda Thi-
lassa, dem latmischen Golfe, hingeht; wie imposant er ist, sieht nm
auf der reizvollen Photographie vorüerakleia aus, die mit zwei lu-
deren, die das Mäanderdelta zeigen, das Buclrbesonders schmückt Di«
Bergzug bedingt es, daß die Milesier nochlg^viel mehr ab ä
Athener fast auf einer Insel wohnten, so lange^Ä^Meer ibnm
umspülte. Denn eigentlich ist nur von Südosten öfi^ ^^^J^
des Busens von lasos der Zuzug leicht, und wer ^? ,^ •
schwemmungen des Mäander wegdenkt, fragt sich verwi^ ^
Alexander und schon Alyattes auf Milet marschiert sind. ■
nicht von Myus übersetzten, mußten sie hinter dem Latmo&^
und dann die Küste entlang. Jetzt ist da gar kein Weg gezt^
und bequem kann er nicht gewesen sein. Die Hauptader des^
kehres ging von Sakysbumu, wohin das Meer von Milet aus den
wies, direkt südlich auf Kalamaki zu und dann nach Osten; es
sich irgendwo, vermutlich nördlich vom Kutschuk burun ein wl
nach Herakleia abzweigen. Im Süden heißt die Straße noch jetzt ßaai
Xixöc Spö|ioc, und die zahlreichen Reste von Grabmonumenten bezeichne]
ihre Vergangenheit, unter denen jener herrliche hellenistische Bau
hervorsticht (bei zä [xapiJiapa), den Wiegand in Jahrbuch XVII 149
besprochen und abgebildet hat. Dieser ßaatXixöc )>is^ö[i.o(; war durch
einen anderen (über Skordokopanos) mit Didyma verbuL^eu, der auch
noch so heißt; Didyma selbst durch den unbequemen K) eiligen Weg
über das Gebirge direkt mit Milet; bei Psychikon zweigte Von diesem
wieder ein Weg nach Osten ab und ein anderer nach WesU^ji, hinab
nach Panormos, dem natürlichen Hafen für die Pilger, die zd^ S<
direkt nach Didyma zogen. So arg die Zerstörung ist, und so s
die jetzige Menschenleere mit der antiken Bedeutung Müets & \^
trastiert: das entnimmt man den Resten doch, daß die ganze Hai
insel in Kultur war; auf den Bergen werden die Schafe geweid
haben, deren Wolle die milesischen Fabriken verspannen und vef
woben. Wenn die Frauen Milets zu den Orgien des Dionysos insl
Gebirge zogen, so mußte das schon nach dem Grion ^), dem Kutschuk-
1) Nor einmal bei Strabon genannt: auf die Namensform ist also geringer
Verlaß. Der Odtpiüv ^po;, das Fichtelgebirge, B 868, bezeichnet das giaie Berg-
Milet, Heft I 687
irun getan. Nach Norden bedarf das Bild der stärksten historischen
orrektur, um für das alte Milet verwandt zu werden, denn die
eite weiße Fläche war ja überall Meer. Auch auf diesem mono-
nen flachen öden Delta sind eine Anzahl Punkte sogar trigonome-
isch fixiert; man begreift, daß das Interesse der Aufnahme hierfür
)ring war; aber bedauerlich ist es doch, daß man nun nicht die
ordküste des alten Meerbusens mit überblicken kann und einmal
uß das für die Küste von Theben bis Myus wenigstens nachgeholt
3rden. Die Kartenskizze in dem Prienewerke T. 1 ist erstens Phan-
sie und zweitens unzweifelhaft in sehr vielem irrig. Die Geschichte
\n Prione, aber auch die Schlacht an der Mykale und selbst die
Bschichte Milets, das im 3. und 2. Jahrhundert in das Mäandertal
»ergreift und dasselbe sicherlich auch im 6. und früher getan hat,
rdert die Feststellung von dem was sich jetzt noch sehen läßt,
reilich deckt im Bereiche der Anschwemmungen des Mäander der
Oden alles alte, so daß es aussichtslos ist, Altpriene oder weiter
)en im Lethaiostale Altmagnesia zu suchen, und infolge der Auf-
ihung liegt der antike Boden selbst in Milet überall inneiiialb
0 Grundwassers: in das man dort gleichwohl gerade so gut vor-
ingen muß wie auf dem römischen Forum. Denn die historische
üße Milets liegt vor 494.
lYilski ist nicht nur Geodät, sondern hat in langem Verkehre
; den Bauern und Arbeitern Vertrautheit mit dieser Schicht der
ßclien und ein seltenes Verständnis der Volkssprache gewonnen.
i er, gewiß nicht durch Zufall, sondern durch diese eigenen Vor-
]|^ einen ungewöhnlich sachkundigen Führer gewonnen hat, der
i üuch viele der antiken Reste allein zeigen konnte, erzählt er
- So sind denn die modernen Ortsbezeichnungen in großer
eingetragen; man könnte daraus die Leute und Familien her-
onen, die jetzt die meisten Grundstücke besitzen oder früher
ien haben, denn die Bezeichnungen werden von den Eigen-
^rn genommen, so daß manchmal Ehemann und Ehefrau neben
1 JElder erscheinen. Wilski gibt die Namen genau nach dem Klange,
A er gehört hat ; also z. B. xai als tjg;e. Damit kann man sich ohne
tie Mühe abfinden; es erhöht das Verständnis aber keinesweges,
td bedauerlich ist, daß das Namenregister, das beigegeben ist, die
^ an der Küste zwischen MUet und der Mäandermündong ; der Name war schon
V Zeit des Hekataios verschollen, der ihn auf den Latmos deutete, andere auf *
II Grion. Der Dichter hat wohl nicht unterschieden. Merkwürdig, daß ein
Igenname zwischen der Zeit des Schiffskatalogs und Hekataios verschwinden
onnte. Die Laus hat in cp&{p schon Lykophron 1883 gespürt, also auch Odtipiuv
NKhrieben, übrigens einen Yolksnamen darin gesucht, was auch andere getan
kVen.
638 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
Namen nicht erklärt, auch nicht die türkischen. Schon das Verhältnis
der Sprachen würde von Interesse sein. Leider muß das allgemeine
Ergebnis konstatiert werden, daß im Gegensatze zu dem Befunde
auf den Inseln die Kontinuität in den Ortsbezeichnungen durchgehends
abgerissen ist. Es wird kein Name über die Türkeneinwanderung zurück-
reichen. Sehr bezeichnend, daß das Vorgebirge Poseidion (besser IlooiSetoy)
jetzt nach einem einzelnen Baume, der noch steht, Monodendri heißt
Antike Namen sind nur ganz wenige eingetragen; selbst Teichi-
ussa fehlt, das Kiepert mit großer Wahrscheinlichkeit an der Bucht
Karakuja ansetzt; neben ihr könnte nur noch die nächste Bucht öst-
lich in Betracht kommen, das lehrt die Hauptstelle Thukydides 8, 26. 28.
Und doch muß einer der paar Namen unbedingt getilgt werden,
nämlich Pyrrha, das nach Kiepert am jetzigen Mäander unweit
Sakysburnu angesetzt ist. Als die Zeugnisse mich hiervon über-
zeugten, zeigte mir Hiller, daß Texier ganz treffend das Richtige ge-
geben hat; wer dann das Falsche aufgebracht hat, zu untersuchen
hat mich nicht gereizt ; jetzt gilt es als Tatsache, und wenn Strabon
nicht stimmt, ist der oder Artemidor ohne weiteres schuldig. Es ist
wieder einmal ein Fall, der beweist, daß man geneigt ist, einer Karte,
obwohl ihr in solchen Dingen doch nicht die geringste Autorität
innewohnt, ohne weiteres zu glauben. Strabon, der als ein verstän-
diger Mann die Gegenden, die er nicht besucht zu haben behauptet,
sehr viel präziser beschreibt als der Erzkonfusionar Pausanias, jn
den sich daher das Gewünschte viel bequemer hineinlesen läßt, sagt
knapp und klar (636): >Von Herakleia nach Pyrrha 100 Stadien;
etwas mehr von Milet bis Herakleia, weil man in den latmischen
Golf hineinfahren muß ; direkt von Milet nach Pyrrha nur 30 Stadien.
Von Pyrrha bis zur Mäandermündung 50; wenn man auf Bote um-
steigt, sind es 30 Stadien um bis Myus hinaufzufahren <. Kein Wort
ist darüber zu verlieren, daß Pyrrha am Ostufer des Golfes zwischen
der Mäandermündung und Herakleia liegt, also etwa bei Sarykemer.
Sakysburnu ist weder dreißig Stadien von Milet entfernt, noch ist
die Lage Pyrrhas zwischen Milet und Herakleia überhaupt denkbar.
Ganz dem entsprechend zählt Ptolemaios V 3, 2 Mäandermündung,
Pyrrha, Herakleia, Milet auf; auf seine befremdenden Angaben über
Höhe und Breite gehe ich nicht ein, da sie hierfür ganz gleichgültig
sind. Wieder ganz entsprechend erscheint Pyrrha bei Plinius V 109
neben Euromos Herakleia Amyzon als gehörig zu dem conventus
von Alabanda. Damit ist erschöpft was man von Pyrrha weiß, und
die Sache ist erledigt. Natürlich läßt sich seine Lage danach nicht
genau fixieren, denn die Mäandermündung ist ein variabler Punkt
Man darf nicht etwa annehmen, daß die dreißig Stadien AuflEahrt bis
Müet, Heft I 689
Myus von ihr gerechnet sind: man stieg auf Kähne um und fuhr
durch das Meer zwischen Sümpfen und Untiefen: wie man jetzt zur
Zeit der Frühjahrsüberschwemmung von Priene nach Milet fahren
kann. Am Mäander lag eben Myus überhaupt niemals. Es ist mir
erfreulich, nicht nur den Artemidoros von dem Vorwurfe gefaselt zu
haben und die Karte von einem falschen Namen zu befreien, sondern
auch den richtigen Namen für den Ruinenplatz von Sakysburnu an-
zugeben. Das ist also der Ort, an dem die große Straße aus dem
Innern das Meer und damit die Strandebene von Milet erreichte. Da
kamen die Feinde aus den Bergen, also da gehörte eine Ortschaft
und ein Kastell hin. Herodot 1, 18 — 22 erzählt von den Lyderkriegen
gegen Milet, wie der Lyderkönig ohne Flotte nur al^ährlich die
Felder verwüsten kann, Jahr für Jahr^), und auch in der Schlacht
freilich den Sieg davon trägt, am Ende aber sich gütlich vertragen
muß. Die Schlachten finden bei Limeneion im milesischen Gebiet
und in der Mäanderebene statt: da besaßen die Milesier eben schon
damals Land, Pyrrha z. 6.^). Bei dem Niederbrennen des Getreides^)
fangt ein Athenatempel bei Assessos Feuer, den dann Alyattes dop-
pelt wieder aufbaut. Das lokalisiert Assessos nicht; nur östlich von
Milet wird man es ansetzen. Hinzu kommt ein unschätzbares Ex-
zerpt aus Nikolaos von Damaskos (de insidiis 19 lU S. 18 de Boor).
König Leodamas von Milet wird bei einer Prozession zu Apollon, also
auf dem uns wohl bekannten Wege durchs Gebirge nach Didyma, er-
schlagen, seine Söhne und Anhänger retten sich nach Assessos und
der dort von Leodamas eingesetzte Kommandant verteidigt den festen
1) Er weiß die Jahre zu zählen. Da es immer noch Historiker giht, die sich
gestützt auf ihre Unkenntnis der griechischen Literatur erlauben dürfen, die Exi-
stenz der ionischen Chroniken zu leugnen, so sei das hervorgehoben, lieber den
KimmeniereinfaU reichten diese Chroniken freilich nicht zurück: sie sind genau
so alt wie die Literaturwerke, die sich erhielten, Archilochos, Kallinos, Semonides,
und die Ilias ist in der Gestalt im wesentlichen erhalten, die sie damals hatte.
2) Auch Achilleion gehört dahin, vgl. Berliner Sitz.-Ber. 1906,44.
3) hiloM IfintfATTpafA^vou. Dies Wort ist nicht attisch, nur einzeln ans der
ionischen Literatursprache aufgenommen. Theokrit hat es oft im Sinne von Ge-
treidefeld und von Getreide, das im Halm steht. Er konnte es von Hause kennen,
da es bei Sophron vorkam, konnte es auch in Asien hören. Die gute Grammatik
hielt das a in Xaiov für lang; so überwiegt auch Xi^iov, X^iov; aber Hesych and
Photios (zwei Glossen) geben auch Xetov und XeTa. So deute ich in6 Xe{o auf der In-
schrift aus dem Didymeion, die nach Susa 494 verschleppt ist, HaussouUier, Extrait
des mdmoires de la d^l^gation en Perse VII 7. In Athen sagt man x<*^P^^^» ^^ ^
Suppl. S. 94. Ob nicht der homerische Name AeidxpiToc richtig und auf XcTov zu
beziehen ist? Und ist nicht Xi^iov zusammenzurücken mit XVjctov, Xi]CToup7c?v. XVjct«
xH^uLxa Hesych, so daß es den xXfjpoc bezeichnet, der vom Volke bei der Acker«
Verteilung dem einzelnen zufällt?
640 Gott. gel. Änz. 1906. Nr. 8
Ort. Die Rettung bringen zwei phrygische Jünglinge, die mit den
Heiligtümern der Kabiren in die Stadt kommen. Also Assessos ist
ein nicht unbedeutender fester Ort und liegt so, daß man von
Phrygien kommend dahin gelangen kann, auch wenn Milet feindlich
ist Für beide Geschichten paßt die Lage bei Sakysburnu ganz vor-
trefflich, und das ist der einzige bedeutende Ruinenplatz auf der
Halbinsel, der neben Milet selbst und Didyma verfügbar ist. Wie
mir Wiegand und Fredrich erzählt haben, kommt der Name Assessos
noch in byzantinischen Urkunden vor: da wird sich ja wohl fest-
stellen lassen, ob die Kombination sich bewährt. ^)
Assessos ist ein karischer Name wie Didyma (<ac £C8D|ia;
griechische Etymologie hat hier nichts zu suchen) und Miletos (das
hinter dem I einen Spiranten verloren hat, denn aeolisch heißt es
Millatos) und Argasa, das nach seinen Grenzsteinen östlich von
Teichiussa an der Südküste lag. Die > ummauerte xa>|jLY)<, das Ai|jivT]tov,
ndvopjioc, die Flüsse oder xapA^pat Byblis und Hyetis in einer Vor-
stadt Milets sind hellenische Bezeichnungen: kein größerer Ort ist
erst von den Hellenen gegründet. Dem alten schön gelegenen Didyma
haben sie die Bedeutung als Stadt genommen, als sie sich bequemten,
seinen Barbarengott als den ihren anzuerkennen; aber die Ueber-
schätzung dieses Gottes und seiner Priester, der zweifellos ursprüng-
lich karischen Branchiden, ist durch die Entdeckung des Delphinion
in Milet auf das richtige Maß beschränkt, der Ueberlieferung ent-
sprechend. Nach 494 ist der Gott von Didyma ein milesischer Lokal-
gott, und er erhält seine Heiligung von Delphi, wofür ja besondere
Legenden ersonnen werden. So etwas vollends, wie daß der Ort
durch das Beilager von Zeus und Leto geweiht wäre, ist keine
Religion und keine Sage, sondern späte Fiktion. Vor 494 ist
der Gott von Didyma und sein Orakel freilich bedeutend gewesen,
aber als alter Landesherr, dem gegenüber der Hellene doch ein
Gefühl des Fremden nicht verliert: nur in Delos und Delphi war
ApoUon ganz zum Hellenen geworden. Doch darüber werden die
künftigen Funde von Jeronda weiteres lehren, und die Veröffent-
lichung des Delphinion ist ja schon angekündigt. Es ist also vor-
schnell gelegentlich der Karte auf historische Schlüsse einzugehn.
Begrüßen wir einstweilen dankbar, daß sie den festen Grund für
alles künftige bereitet hat.
Westend Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
1) Mittlerweile bat mich Hüler belehrt, daß Rayet Assessos schon richtig
so angesetzt hat. Keinem andern trete Ich eine Priorität in diesen Dingen lieber
ab, als diesem früh verstorbenen Forscher, der vor einem Menschenalter die
große Aufgabe in voller Würdigung ihres Zieles angegriffen hat
TheodoBiaims ed. Th. Momnuieii et P. Meyer 641
Theodosiani llbri XVT com constitationibas Sirmondianis et leges BOTellae
ad Tbeodosianum pertinentes consilio et aactoritate academiae litteraram regiae
borussicae ediderunt Th. Mommsen et Paulas M« Mejer; accedant tabnlae
sex. Berolini apnd Weidmannos. MDCCCY. 62 M. — toI. I. Theodorianl libri
XVI cum coDstitutionibus Sirmondianis edidit adsumpto apparata P. Erue-
geri Th. Mommsen. pars prior. Prolegomena. CCCLXXX Seiten, pars poste-
rior. Textus com apparatn. 931 Seiten. — toL II. Leges BOTellae ad Tbeo-
dosianum pertinentes edidit adiutore Tb. Mommsen Panliis M. Mejer« CIX
and 219 Seiten.
Es war eine Leistung von ganz ungewöhnlichem Fleiß, als
Gustav Hänel in den Jahren 1842 — 1844 den Tbeodosianus mit
den zugehörigen Novellen unter dem charakteristischen Titelzusatz
>ad LIV librorum manuscriptorum et priorum editionum fidemc
herausgab ; aber diese Arbeit war, wie man längst wußte, und wie
Mommsen jetzt (proll. GXVU^) an wenigen, aber alles sagenden Bei-
spielen zeigt, unmethodisch, unzuverlässig, unpraktisch. Sie mußte
von Grund auf neu gemacht werden. Ihr einziger wirklicher Nutzen
ist gewesen, daß sie der neuen Ausgabe als Kontrolle dienen konnte ;
und übrig ist jetzt nichts von ihr als ein paar Koi^ekturen — und
das Alpdrücken, das jeden bei der Erinnerung befallen wird, der es
einmal versucht hat, mit Hilfe jenes undurchdringlichen Netzwerkes
von dunklen Ziffern und Zeichen, das den Hänelschen Apparat be-
deutet, Textkritik zu treiben.
Von der ungeheuren Arbeit, die in den neuen Bänden nieder-
gelegt ist, fiel an Mommsen der Löwenanteil; er hat nicht nur
die Verantwortung für den ganzen ersten Band, sondern auch noch
die Ueberwachung des zweiten übernommen, der von Paul M.
Meyer ganz nach dem System und im Geiste des ersten, in einigen
Punkten sogar praktischer angelegt ist als jener. Zu den Kollationen
des ersten Bandes hat Paul Krüger durch sein vorzügliches Apo-
graphum des Taurinensis (T) ^) und durch ungedruckte (von Mommsen
wiederholte) Vergleichungen des Ambrosianus (A), Regius (B), und
Vaticanus (V) wesentliche Beiträge geliefert; die Drucklegung des
bei Mommsens Tod noch ungedruckten Schlusses der Prolegomena
(von p. CLXXXV an), darunter die besonders komplizierten Konsti-
tutionenlisten, haben die >amici, quibus hoc munus Mommseni
1) Diese in den pbiL-bist. Abb. der k. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1879 (II)
erscbienene getreue Wiedergabe des Originals und ein paar Facsimilia sind
jetzt unsere einzige Quelle für die Kenntnis dieser unscbätzbaren Hs, die (kurz
nach dem Druck von prolL XXXIX) bei dem Brand der Toriner Biblioth^ voll-
ständig zu Grunde gegangen ist.
Qöti. g«L Ans. 1900. Nr. 8 45
642 Gott geh Anz. 1906. Nr. 8
voluntate delatum erat« (vgl. auch 0. Seeck, Deutsche Rundscbaa
118 S.82) in mustergiltiger Weise besorgt. Den proU. (CCCVUsqq.)
eingefügt ist eine eingebende Untersuchung von A. de Wretschko
De usu breviarti Alariciani forensi et scholastico per Hispaniam,
GdUiam, Italiam regionesque vicincis (71 Seiten); sechs schöne Tafeln
(in folio) mit Proben aus den interessantesten Hss des Theodosianos
sind der Ausgabe beigegeben und von Ludwig Traube paläo-
graphisch kommentiert (4 Seiten in folio).
Was die Technik der Ausgabe betrifft, so ist besonders ein Fort-
schritt zu erwähnen : jedem Gesetz folgt direkt der zugehörige kritische
Apparat mit spezieller Angabe sämtlicher Ueberlieferungszweige und
Hss, in denen das Kapitel erhalten ist. Hierdurch wird die Verwer-
tung des außerordentlich komplizierten Apparates bedeutend erleichtert.
Das Studium der Ueberlieferungsgeschichte des Theo-
dosianus kann als hohe Schule der Textkritik gelten. Da Mommsen
kein Stemma gegeben hat, kann ich mir nicht versagen, unter Weg-
lassung alles Unwesentlichen die Hauptdaten graphisch darzustellen
(S. 643). Besonders interessant wird die Textgeschichte durch die
historisch fixierbaren Scheitelpunkte mehrerer Ueberlieferungsspaltungen
(a. 438, a. 506, a. 529) und das hohe Alter vieler Hss, die also vom
Original in der ganzen Anlage, in der Orthographie, *) ja selbst der
Zeilenlänge ^) nicht weit entfernt sind.
Das wichtigste Problem bei jenem Teil der Textkritik, der die
Rekonstruktion des Archetypus von 438 zum Ziel hat, liegt in der
Kontamination einzelner Hss und Klassen der Breviartradition
mit Haupthss; diese Kontamination besteht nicht nur in der Ein-
fügung ganzer Kapitel, die dem Breviar von 506 fehlten (cf. proU.
cap. V), sondern wahrscheinlich auch in einer Revision des Breviar-
textes nach anderen Haupthss.
Diese letztere Frage hat Mommsen hauptsächlich an Hand der
Fälle verfolgt, wo in Breviarhss in der Inscription ein Idem ACu-
1) VgL Krüger, Z(eit8chrift für) R(echt8)-G(e8chichte) (romanische Abteilang)
1905, S. 318 ff.
2) Die orthographischen Eigentümlichkeiten, über die ein besonderes
Kapitel der proll. (IX) Auskunft gibt, sind im Text meist beibehalten: inmunes^
adspirare etc. Uebersehen ist (unter anderem, vgl. Krüger ZRQ 1905, 329) die
syntaktisch wichtige Tatsache, daß statt eis und ü stets hia und hi (oder hü)
überliefert wird.
3) Die Zeilen länge der Vorlagen von YTBW PMetc. läii sich dnrch
die ziemlich häufigen Auslassungen ganzer Zeilen als etwa '/« der Mommsenschen
Textzeüen festsetzen : cf. T zu VI 26, 1, VHI 7, 10» IX 20, 1,; B zu VH 1, 17„
VII 18,11. Vm 7,11,; V zu IX 38,4, XÜ 1,4*; W zu XV 6,6io; PM zu
II 17, Ijo etc.
Tbeodosianiu ed. Th. Mommsen et P. Meyer
Stemma
Originalge8etze(a. 313*437)
(cf. pag. XXX)
643
Inschriften Sirmondianae
(vgl. unten S. 649) (cf. pag. CCCLXXIX)
Fragmenta Vaticana Konzilsakten etc.
249
(saec. vn—vni)
TheodosiMiiiB (a. 438)
breviarium Alarici (a. 506)
(cf. cap. IV.Vin)
codex JustinianuB (a. 529)
(cf. p. LDL vn)
Just. (RMCDY etc.)
(V iat saec. VI)
AOEHNBG etc. CXPMSLQK etc.
(HPM saec. VI— VU)
HaupthsB (cap. II)
TBVWO
(TBV saec. VI— VU)
N6. Die Seiten- and Kapitelzahlen beziehen sich auf Mommsens Prole-
gomena.
gustus) sich auf ein im Tbeodosianus überliefertes, aber im Breviar
ausgelassenes Gesetz bezieht (proU. CXXXVIIsq.), während andere
Breviarhss (in der Regel die Mehrzahl) die richtige Kaiserbezeich-
nung haben. Solche falsche yldem< hat Mommsen der nachlässigen
Epitomierung durch die Alariciani, Krüger') der kritiklosen späteren
l^ziehung von Haupthss zugeschrieben. Der Argumentation läßt
1) Wir heben die Haupthss hier wie im Folgenden durch Fettdruck hervor;
praktischer ist das von Meyer in vol. II nicht ganz konsequent durchgeführte
System, sie mit griechischen Buchstaben zu bezeichnen (FABH etc.).
2) ZRG 1905, 826 f., wo aber Mommsens Zusammenstellung p. CXXXYII
nicht berücksichtigt zu sein scheint In XI 31, 6i geht S mit PML.
45*
644 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 8
sich zu Gunsten Mommsens noch zweierlei zufügen: erstens die
Parallele des Codex Justinianus, bei dessen Redaktoren Krüger selbst
(in der praefatio zu seiner Ausgabe p. XXUI) dieselben falschen
Idem mehrfach nachgewiesen hat, so Theod. IX 17, 7 = Just. 11144,14,
Theod. VII 20, 7 = Just. XII 46, 3 ; zweitens ein Wahrscheinlichkeits-
schluß : bei der Wichtigkeit, die jene durch die Eaisernamen fixierten
Daten für den Gebrauch der Rechtsbücher hatten, wird man lieber
die richtige Bezeichnung für die korrigierte halten, als die falsche;
außerdem konnte sich solch ein falsches Idem schon durch den
Widerspruch mit dem Konsulat zu erkennen geben, während
für die umgekehrte Entstehung der Variante kein vernünftiger Grund
anzugeben ist.
Diese Ueberlegung lehrt gleichzeitig, daß sich die Kontamination
mit einer Haupths aus der Korrektur eines solchen Idem nicht
sicher beweisen läßt, da diese nach den Konsulatslisten geschehen
sein kann. Viel klarer sprechen folgende ziemlich harmlose Text-
änderungen:
1X45,4? sive in domihus \ brev. (HNGEOXCS) und das Ori-
ginalgesetz: om. T brev. (PMLQK).
IX 45, 4ii mtinere TQ und das Originalgesetz : mane Y brev.
(außer Q).
1X14,26 est enimY brev. (HQOES): enim est T brev. (NCPML)
Just.
IX12,2i nee TV (schol.) brev. (plerique): nam V (text.) brev.
(E-H).
in diesen vier Fällen ist offenbar je ein Zweig der Breviarüber-
lieferung nach einer anderen Haupths orientiert, als der Rest; denn
die Varianten sind alle derart, daß sie nicht durch Zufall unabhängig
von einander entstanden sein können. Es hindert also nichts, unter
Umständen auch solche Lesungen vereinzelter Breviarzweige, die dem
Konsens der übrigen mit einer Haupths gegenüberstehen, als aus
direkter Ueberlieferung geflossen zu betrachten. Zwei mteressante
Fälle dieser Ait will ich noch anführen.
IX6,4i ad senatum {senatui 0) brev. (NOECPMLS) und die
iunctae^ (cf. p. CCXCIX): om. V brev. (BG) Just, (also eine sehr
alte Korruptel).
Xl26,2io Med(iolani) brev. (CMPS) und die iunctae (cf. pag.
CCLXXXHI): om. V brev. (HNGOEL).
Seltsamerweise hat Mommsen beide Mal die Bestätigung durch
die > iunctae« übersehen, und die betreffenden Worte als Interpolation
1) In der Kritik der In- and Sabskriptionen spielen die »leges inngendae«,
von denen unten noch die Rede sein wird, eine grofte Eolle.
Theodosianus ed. Th. Mommsen et P. Meyer 645
behandelt; es kann aber die Erkenntnis, daß 1X6,4 an den Senat
gerichtet und daß XI 26, 2 in Mailand unterzeichnet ist, durch Kon-
jektur nur mit Hilfe der Konstitutionenlisten gefunden werden, die
eine moderne Einrichtung sind; also sind wieder zwei verschiedene
Haupthss als Quelle der verschiedenen Breviarlesungen anzunehmen;
welche von beiden Lesungen die des Archetypus von 506 war, wird
sich kaum sicher entscheiden lassen; jedenfalls ergibt sich, daß auch
vereinzelte Breviarlesungen die größte Beachtung verdienen, wenn
sie sich durch den Inhalt empfehlen.
Die Alaricianische Interpretation, die ihrer rechtsgeschicht-
lichen Bedeutung wegen mit vollständigem Apparat beigegeben ist, ^)
hilft für die Kritik wenig; doch finden sich z. B. Kontaminationen
mit dem Breviartext, wie 12,4 exequi liceat G (aus der Interpr.).
Der Codex Justinianus, für dessen Verwertung Krügers
große Ausgabe (1877) eine vorzügliche Grundlage bot, ist das klassir
sehe Beispiel eines fast nur zur Bestätigung vorhandener Lesarten
mit Sicherheit verwendbaren Traditionszweiges; denn die redak-
tionellen Aenderungen der Tribonianischen Kommission sind so zahl-
reich und unberechenbar, daß die dem Just, eigentümlichen Lesungen
nur in den seltensten Fällen als die des Archetypus von 438 ange-
sehen werden dürfen. Mit vollem Recht sind deshalb die nur im
Just, überlieferten 230 Gesetze nicht in den Text, sondern nur in
die Konstitutionenlisten (proU. cap. X) aufgenommen worden. In
manchen Fällen läßt sich mit Wahrscheinlichkeit der Titel angeben,
unter dem ein solches Gesetz im Theod. gestanden haben mag: so
Just. 123,5 hinter 12,9, Just. XI 68, 1—5 vor V16,29; da aber die
Titel des Just, oft aus mehreren im Theod. teilweise oder ganz
fehlenden Rubriken zusammengesetzt wurden, da ferner unter gleich-
lautendem Titel im Just, oft Gesetze anderer Titel des Theod. stehen
(z.B. finden sich alle Gesetze aus V 1 im Just, nicht unter der
Rubrik de legüimis hereditatibus VI 58), so ist auf diesem Gebiete
keine auch nur annähernde Sicherheit möglich. Und in dem einzigen
Falle, wo man versucht wäre, die Titel des Just, zu Hilfe zu
nehmen, bei der Rekonstruktion von V 11— 20, da versagen sie
völlig. — Ein vorzüglicher Gedanke war es, die redaktionellen Aen-
derungen des Just, nicht im Apparat, sondern am Rand des Textes
zu notieren;^ nicht nur, weil so das Bild der Ueberlieferung viel
1) Eine systematisch geordnete Uebersetzong dieser Interpretation unter Bei-
gabe des Textes der Interpretation und des Breviars (nach H&nel, ohne Apparat)
ist von Max Conrat» Breviartum Alaricianunif 1903 herausgegeben worden;
vgl. die ausführliche Besprechung von H. Krüger ZRG 1904, 410—420.
2) Die Handhabung im Einzelnen ist noch nicht konsequent durchgeführt,
indem Just, bisweüen weit über die variierenden Stellen hinaus ausgeschrieben
646 Gott. gd. Anz. 1906. Nr: 8
klarer wird, da bei jeder andern Technik schon die Angabe der
Stellen, für die die Justinianische Tradition vorliegt, umständlich und
undeutlich würde, sondern vor allem, weil die Tätigkeit der Bear-
beiter so erst ins rechte Licht gesetzt, ja vielleicht gerade in der
Weise veranschaulicht wird, wie sie tatsächlich geschehen ist. Die
meines Wissens hier zum ersten Mal in größerem Umfang gewagte
Technik kann als Muster gelten für viele Fälle, in denen es sich um
kritische Verwertung von Umarbeitungen handelt (wir geben unten
S. 650 eine Probe).
So wertlos nun der Just, in allen selbständigen Lesungen ist,
so schätzbar wird er zur Beurteilung von Varianten der übrigen
Traditionszweige. Jede wesentliche Uebereinstimmung mit einer Bre-
viarhs oder einer Haupths führt mit Sicherheit in die Zeit vor 506
(resp. 529). Zwei scheinbare Ausnahmen sollen bei dieser Gelegen-
heit erledigt werden.
V 7, 2ii habituros incolumem si in ea (sc. libertate) nati sutU
libertatem.
Sirm. — T — Just. VIII 50,20 (DRM C) — brev. (HNBGOEXCPMLS) || si om.
brev. (HOS) Just. (C) || ea] qua (quam H: qui S) add. brev. Just. (C).
Hier scheint also eine Hs des Just, mit einigen Breviarhs (HOS)
in einer Korruptel übereinzustimmen, was ganz singular und uner-
klärlich wäre. Nehmen wir hingegen an, das qua (hinter ea) habe in
dem Archetypus von Just, und brev. gestanden, so wird alles klar:
die alte Korruptel ist dann in Just. (DRM) richtig durch konjek-
turale Streichung des qua korrigiert worden, während brev. (HOS)
und Just. (C) unabhängig von einander in der Streichung von si
eine oberflächliche, aber immerhin naheliegende Heilung suchten.
Der Apparat müßte also so aussehen: si in ea] si (om. brev. [NOS]
Just. [C]) in ea qua (qua om. Just. [DRM]) brev. Just. — Aehnlich
liegt der zweite Fall :
IX 6, 32 ante exhibitionem testium, ante examinatum iudicium . . .
y — brev. — Just. IX 1, 20 (LDCRM und Gregor, epist. ed. Ehwald
II 417,5) II examinatum iudicium] sie Y brev. (plerique) Just. (L»): examinationem
iudicum (iudicii Just, [außer RL»]) brev. (G»B) Just. (auBer L*).
Die Lesungen von Just. (L^DCRM Greg, [anno 603!]) und brev.
(G'^B) sind offenbar beide unter dem Einfluß von exhibitionem testium
entstanden, während der Archetypus von Just, und der von brev.
das Richtige hatten.
In dasselbe Gebiet der unabhängig von einander zu erklärenden
wird (I 2, 8 VI 2, 24 etc.). — Bei 1 2, 3 gehört aUes, was nach 4 iusque steht, an den
Rand: für die Authentizität dieses Stückes liegt ebensowenig Garantie vor, wie für
den Schluß von V 13, 4 u. ä.
Theodosianos ed. Th. Mommsen et P. Meyer 647
Korruptelen gehört die Vertauschung der selteneren Subskriptions-
formel pp (= proposita) mit der häufigeren dat{a) an folgenden
Stellen :
IX 10,3 i)p] VT brev. (ECPMLS): dat. brev. (NG) Just.
XI 35, 1 pp] V brev. (ECPMS) : dat. brev. (NGO) Just, und die
iuncta II 6, 3.
Ebenso steht ein falsches dat. in V 8,1 (NBGO); IV 9,1 (BGOQ);
VIII 8, 3 (NE gegen R brev. [rel.] und die leges geminae) und
noch oft in BGN, BGA, BGE, BG oder N, also hauptsächlich der
zweiten Breviarklasse. Mommsen hat in VIII 8, 3 dat. in den Text
gesetzt ; aber schon das Prinzip der lectio difficilior verlangt die Be-
vorzugung der Variante pp, die unmöglich in mehreren Traditions-
zweigen gleichzeitig durch Eorruptel entstanden sein kann.
Unter den einzelnen Hauptzweigen der Ueberliefenmg (T, R,
V, W, brev.. Just.) läßt sich eine Verwandtschaft nicht nachweisen.
Dabei darf man freilich nicht vergessen, daß bei der stilistischen
Inferiorität des Archetypus von 438 — die übrigens auch der Kon-
jekturalkritik jeden festen Boden entzieht — die Möglichkeit, eine
gemeinschaftliche Eorruptel zu konstatieren, nur dann gegeben ist,
wenn jede von zwei Lesungen durch mehrere Hauptzweige bezeugt
wird; in der Regel liegen aber deren nur zwei oder höchstens drei
gleichzeitig vor. Immmerhin findet sich eine kleine Zahl solcher
mehrfach bezeugter Varianten, die nicht unabhängig von einander
entstanden sein können. Die wichtigsten haben wir oben S. 644 be-
handelt; einiges minder Sichere wird sich aus Mommsens ausführ-
lichen, aber immer am Text zu kontrollierenden Variantenlisten
(proll. CXIXsqq.) hinzufügen lassen, wo auch die speziellen Ueber-
lieferungsverhältnisse von Buch XVI berücksichtigt sind. — Bei
dieser Gelegenheit sei noch besonders auf cap. I und VH von Paul
M. Meyers proll. zu dem zweiten Band hingewiesen, worin die
Ueberlieferungsgeschichte der Novellae, die größtenteils mit denselben
Faktoren zu rechnen hat, wie die des Theodosianus (brev. Just.),
eingehend und außerordentlich übersichtlich behandelt ist.
Bei einer Nachkollation von T für das IX. Buch (nach Krügers
Abschrift, vgl. oben S. 641^) notierte ich mehret Auslassungen :
1X10,39 differ atur] def(icit); 21,4i9 veto] om.; 34,108 scribtionis]
inscribtiofiis; 42,98 a/ccipiant] [....]pia;t; 42,114 nolumu^] volumus
(was schon Gothofredus verlangt hatte, und wodurch das Gesetz
einen ganz neuen Sinn erhält); 45,44 (Apparat) \pr6\pos%ta; ferner
fügen sich die Lücken von T dem Text an mehreren Stellen nicht:
1X1,132 {criminalis [ ]ae d.); 1,192 (om. s«o?); 35,62 (wohl
d^äe[ntium]). Als Titelzahl von V 14 steht in T nicht XIIII, son-
e48 Gott gel. Anz. 190«. Nr. 8
dern XIII (cf. proll. XLI und Krüger ZR6 1905 S. 321), wodurch
sich die Aenderung von Hänels Zahlen (Vll — 16) als verfehlt er-
weist.^) Zu der Kollation des Parisinus R hat schon Krüger (ZR6
1905, 321 ff.) einige Nachträge geliefert; sie lassen sich, wie ich
mich vor dem Kodex an mehreren Stichproben überzeugte, bedeutend
vermehren. ^ Ich beschränke mich hier auf zwei für die Textgestaltung
wichtige Stellen. In VI 2, 186 ist die auf provindalxbus folgende zer-
störte Strecke gerade so lang wie diejenige, die in der vorhergehen-
den Zeile durch a non vaiet nisi eau richtig ausgefüllt wird; also
kann in Z. 6 nicht nur adprobata gestanden haben: es ist außerdem
noch die Formel et cetera zu ergänzen, was übrigens auch durch
den Gebrauch der Exzerptionsvermerke in den anderen Fragmenten
dieses Gesetzes nahegelegt wird (vgl. unten S. 651 ff.). In VI 2, 22
ist am Ende der ersten beiden Zeilen irrtümlich eine Lücke des
Textes notiert; in Wirklichkeit befindet sich dort eine schadhafte
Stelle des Pergaments, die (wie auch die Rückseite zeigt) nie be-
schrieben war. Damit wird die Herstellung des Textes, an der alle
Herausgeber verzweifelt haben, ganz einfach:
[Id. ää Pa]troino csl. A conlatione glebalis auri vel in-*
[laticjii tituli ne domum quidem nostram inmu-
[nem] esse praecepimus. pp HH kal. Mart. Med. Vincen-
[tio et Fra]vito conss.^
Bei einer detaillierten Behandlung der nur auf den beschädigten
Blättern von R erhaltenen Partien (besonders VI 2 und VHIIS) wird
man also nach wie vor die Hs selbst oder mindestens gute Photo-
graphien zuziehen müssen.
Bei der Rekonstruktion des Archetypus von 438 kann die Kritik
1) Geändert sind femer: die Titelzahlen von IV 11. 12.13 (= Hänel IV 13.
.11.12); die Konstitutionszahlen IV 12, 8 ff. durch die höchst zweifelhafte Ver-
einigung von IV 12, 3 und 4 (Hänel) ; schließlich die von Mommsen selbst als
fraglich bezeichneten Zahlen von VI 2, 12—26 (= 7—21 Hänel). All diese
Neuerungen entschädigen nicht für die Schwierigkeiten, die man jetzt bei dem
Aufsuchen der Zitate hat, die seit sechzig Jahren nach Hänels Zahlen orientiert
waren, üeber die Aendernngen im II. Band vgl. Paul M. Meyer proll. LXXVI.
2) Ich darf hier nicht verschweigen, daß ich während eines Jahres einge-
hender Beschäftigung mit dem I. Band eine ähnlich große Zahl von Unterlassungen
und Irrtümern auf aUen mir kontrollierbaren Gebieten gefunden habe. Die
»Addenda et Corrigendac (vol. H 213 sqq.) geben nur einen kleinen Bruchteil davon
und sind bei der Korrektur von I 908, 11 (scr. latam^ non latum) selbst wieder
korrekturbedürftig geworden (beabsichtigt war wohl laia).
3) Die Ergänzungen am Zeilenanfang passen genau zu den Lücken, deren
Umfang sich aus den sicheren Ergänzungen in Z. 1 und 4 ergibt; inloHciue
sonst nirgends bezeugt) = oblaibicius, wie itüatio = oblatio.
Theodosianos ed. Th. Mommsen et P. Meyer 649
jedoch nicht stehen bleiben, obwohl die methodisch sichere Arbeit
hier endet Das Interesse der Wissenschaft liegt nicht in dem Theo-
dosianus, der, das nachlässige Produkt der mechanischen Tätigkeit
einiger Kanzlisten, nach ein paar Menschenaltern im Westen durch
die Interpretationen des gothischen Breviars, im Osten durch die
Epitomae der Tribonianischen Kommission abgelöst worden ist, sondern
in den Fragmenten der Kaiserkonstitutionen von 313 bis
437, aus denen der Theodosianus besteht. Diese >leges plenaec so-
weit als möglich zu rekonstruieren, ist das Hauptziel der Forschung,
und es waren wohl nur Gründe praktischer Natur, die eine Aus-
gabe des Textes unter dem Titel yConstüutionum imperaJtoriarum quae
in Theodosiano supersunt fragmenta chronologice di8po8Üa< verhindert
haben. Für diesen Teil der Aufgabe ist mit Mommsens Text nur das
Material, mit seinem (besonders praktisch angelegten) chronologischen
Konstitutionenregister (proll. CCIX — CCCVI) nur das Programm ge-
geben; im übrigen sind wir nach wie vor auf das ungeheure Werk
desGothofredus angewiesen, das nun schon dritthalb Jahrhunderte
ungeschwächt überdauert hat und wohl nie veralten wird.')
Einige Teile dieser gewaltigen noch übrigen Aufgabe können
mit Hilfe des jetzt vorliegenden Materials sicherer in Angriff ge-
nommen werden, als dies Gothofredus vermochte; ich will sie kurz
skizzieren.
Die erste Frage ist natürlich die nach der inhaltlichen Zu-
verlässigkeit der Epitomae. Der Vergleich mit den erhaltenen
Originalerlassen ^) läßt sich am leichtesten an den der Ausgabe des
Theodosianus folgenden Sirmondianae (p. 907 ff.) durchführen, zu
denen Mommsen die Varianten des Theodosianus in der oben S. 645 f.
geschilderten Weise notiert hat; doch zeigen sich hier im wesent-
lichen nur die von der Instruktion (1 1,6 § 1) geforderten Kürzungen;
sehr schade, daß nicht auch die kritische Verwertung der übrigen
Originale durch Beigabe der Texte erleichtert worden ist. Das für
unsere Frage interessanteste Dokument ist das inschriftlich mehrfach
überlieferte Edikt Konstantins de acmsationibus (cf. Bruns, Fontes
iuris« 249; CIL IH 12043):
1) Codex Theodosianus com perpetois commentariis lacobiGothofredi...
opus posthumum recognitum opera ... A. Marolli (Lyon 1655) . . . editio noya . . .
aucta... I.D.Ritter. VI tomi, Lipsiae 1736—1745.
2) Der von Mommsen p. XXX gegebenen Liste ist hinzuzufügen IX 25, 1,
dessen Original bei Sozomenos 6, 3 teilweise ausgeschrieben ist — Zwei im Codex
fehlende, inschriftlich erhaltene Originalerlasse des Valens (ca. 372) sind ein-
gehend kommentiert von A. Schulten, Jahreshefte des Oesterr. archaeol. Instit.
IX (1906) 40 ff. Auch CIL III 13569 war wohl unter den Vorlagen der theodosi-
schen Kommission.
660
Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
. . . quod si minime potuerit ea quae inten-
taverit conprobare, scire debet severiori
se sententiae subiugandum. Sane || si quis
alicui maiestatis crimen intenderit, cum
5 '^eiusmodi obiectus minime quemquam^
privilegio dignitatis alicuius a strictiori
inquisitione tueatur*, sciat se quoque
tormentis esse subdendum, si aliis mani-
festis indiciis ^atque argumentis' accu-
10 sationem suam non potuerit conprobare,
cum i^in^ eo, qui buius esse temeritatis
. 4eprehendetur, illud^ quoque tormentis
^erui oporteat^ cuius consilio atque
instinctu ad accusationem accessisse
15 Wideatur^, ut ab omnibus ^tanti^ commissi
consciis vindicta possit reportari||. De-
latoribus autem quod adeundi quoque
iudicis . . .
Theod, IX 5,1
II indpit
4n haiasce modi re con-
victus minime quisquam-*!
^defendator-'
^eprehenditor, illom-i
•-subdi oportet^
*-yidebitorJ
Offl.'
IfinÜ
Durch die scheinbar harmlosen Aenderungen des Theod. ist ein
ganz anderer Sinn in das Gesetz gekommen. Während das Original
bei mißglückter Anklage nur die Folterung des Anklägers verlangt,
damit er den Namen des Anstifters nenne, fordert der Theodosianus
auch die Folterung dieses Anstifters. In ganz der gleichen Weise
ist die in dem ersten Satz gegebene Begründung durch den Theo-
dosianus geändert: >weil der Vorwurf der Majestätsklage keinen
Angeklagten vor Folterung schützt, soll auch der ungerechte Kläger
gefoltert werdenc, hatte Konstantin gerecht und weise geurteilt;
>weil der überführte Majestätsverletzer gefoltert wird<, sagt der
Theodosianus, was auch ein Grund ist, aber ein sehr schlechter.
Beide Aenderungen ergaben sich nur aus der Flüchtigkeit des Bear-
beiters, der 5 obieätis für Partizip und 10 cum für Präposition ge-
halten hat.
Nun werden wohl solche inhaltliche Aenderungen ziemlich selten
sein; aber um so häufiger sind die stilistischen. In dem oben
gegebenen Beispiel ist der erste Satz ganz verunglückt {convidus
minime quisquam), der zweite ohne Anknüpfung.^) Am schlimmsten
sind hier wie allerorts die Satzschlüsse weggekommen: inquisitione
defendcUur, temeritatis deprehenditur , accessisse viddntur — eine
Musterkarte von rhythmischen Unmöglichkeiten. Und ebenso wimmelt
1) Eine noch viel stärkere stilistische Umarbeitung zeigt VIII 12, 1, beson-
ders § 2, vergUchen mit dem Original Fragm. Vatic. 249.
Theodosianos ed. Th. Mommsen et P. Meyer 661
es in den meisten Kapiteln des Theodosianus von falschen Satz-
schlüssen und Hiaten, die die >plenae< nur ganz ausnahmsweise zu-
lassen; in allen solchen Fällen kann man mit Sicherheit annehmen,
daß man nicht den Text der Originale, sondern nur den von 438
\tor sich hat; das gleiche Verhältnis gilt für die griechische Epitome
IX 45, 4 und deren Original in den Konzilsakten. ^) Textkritisch
hilft uns also Stilistik und Rhythmik für den Theodosianus nichts — ,
um so mehr aber für die Sirmondianae und die Novellae. Leider
hat weder Mommsen noch Meyer die Satzschlüsse berücksichtigt;*)
und so schließt Mommsens Band mit der unmöglichsten aller Klauseln,
mit cura obsequioque iubemus (p. 921,4^), während das Z. 40 voran-
gehende cum schon Hänel auf die richtige Konjektur iubeamus ge-
führt hatte.
Die schwierigsten Fragen auf diesem Gebiet sind jedoch die
nach der Zusammengehörigkeit der Fragmente eines Ori-
ginalgesetzes. Eine solche Zusammengehörigkeit anzunehmen liegt
im allgemeinen nahe, wenn verschiedene Gesetze dieselbe In- und
Subskription tragen. Nun sind aber die Subskriptionen sehr oft in
einem so trostlosen Zustand, daß nur durch die kühnsten Konjek-
turen eine wenigstens einigermaßen verständliche Lesung erzielt
werden kann ; besonders die Jahreszahlen sind von Seeck und Mommsen
als oft geradezu phantastisch nachgewiesen worden. Angesichts
dieser Unsicherheit wird es nicht unangebracht sein, in einem Ex-
kurs auf ein bisher verkanntes Kriterium hinzuweisen, an dem sich
die Zusammengehörigkeit mehrerer Fragmente, also die ursprüng-
liche Identität ihrer Subskriptionen erkennen läßt: ich meine die
Exzerptionsvermerke.
Mehrere hundert Kapitel des Theodosianus weisen zwischen
Adresse und Text die Worte post alia, zwischen Text und Datum
die Worte et cetera auf. Diese Vermerke beziehen sich ofifenbar auf
die Teile des Originalgesetzes, die ursprünglich vor oder hinter den
in den Kodex aufgenommenen Stücken standen. Nun verlangte die
1) Die griechische SatzschluSregel lautet für die Zeit vom Ende des lY. Jahr-
hunderts (Synesios, Gregor von Nyssa) bis zum Ende des Mittelalters : das Inter-
vall zwischen den letzten zwei Hochtönen jedes Satzgliedes soll 2, 4 oder 6 Silben
betragen (vgl. P. Maas, Berl. phü. Wochenschr. 1906, Sp. 777).
2) »Daß das Gesetz der rhythmischen Prosa in der von Ihnen bezeichneten
Weise die nicht epitomierten Konstitutionentexte beherrscht, ist im hohen Grade
interessant und sicher richtig. Ich muß in dieser Hinsicht mein Unvermögen be-
kennen, das meine wie aUe übrigen Ausgaben dieser SchriftsteUer wesentlich be-
einträchtigt; habe dies auch bei dem Cassiodor und dem Eugippius empfanden.
Aber ich sehe wohl den Mangel, kann ihm aber nicht abhelfenc. So schrieb mir
Mommsen am 8. Juli 1903.
652 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
Instruktion (11,6) zweierlei Bearbeitung der vollständigen Eonstita-
tionen : erstens si qua earum in plura sü divisa capita, unum quodque
eorum diiunctum a ceteris apto stAiciatur tittdo; zweitens circumdsis
ex quaque constitutione ad vim sanctionis non pertinentibus sdum ius
rdinquatur. — Es läßt sich zeigen, daß die genannten Exzerption»-
vermerke nur mit der ersten dieser Kürzungen in Zusammenhang zu
bringen sind.^)
Das einzige sichere Mittel, die Arbeit der Redaktoren zu prüfen,
ist der Vergleich mit den erhaltenen Originaltexten, der uns bei
23 Kapiteln möglich ist^). Von diesen Gesetzen sind mit post alia
versehen: IX 25, 3 XVI 5, 46. 8, 5. 10, 19, mit d cetera: XVI 5, 43. 8,5.
19,1. Und betrachten wir den Charakter der ausgelassenen Stücke,
so ergiebt sich: in den ca. 40 Fällen, wo vor oder hinter den in den
Kodex aufgenommenen Sätzen noch anderes stand, was aber bei der
Redaktion vollständig wegfiel, steht post alia nie, et cetera vielleicht
einmal (XVI 8, 5)^); in den 8 Fällen, wo das fehlende Stück an einer
anderen Stelle als selbständiges Kapitel auftritt, steht post alia vier-
mal, et cetera zweimal. Damit wird die Beziehung der Exzerptions-
vermerke auf die leges iungendae schon so gut als sicher.
Natürlich werden wir nun zu untersuchen haben, wie es sich
bei den Kapiteln des Kodex, deren ursprüngliche Zusammengehörig-
keit sich aus der Identität von Datum und Adresse erschließen läßt,
1) Die Frage scheint noch nicht behandelt zu sein. Gothofredns verweist
an mehreren SteUen seines Kommentars (zu II 9, 1. 4. 6. 10, 3 XV 1^ 5 XVI 5, 60)
auf eine Zusammenstellung, die er hierüber in seinen prolegomena gemacht habe;
diese muß dann bei der posthumen Edition verloren gegangen sein. Femer steht
vol. I p. n seiner Chronologia unter der Rubrik errores auperioris (der früheren)
chronologicie: »No. 6; in inscriptionibus omissa quaedam: post alia, et inter cetera
et ad locum (vgl. II 9, 1.4 seiner Ausgabe) ut et de eadem, recedit^ (lies „ut et:
de eadem re, addito*^, vgl. XVI 5,50) In der Chronologia selbst fehlt post <üia
oft, et cetera stets. Einen voUständigen Ueberblick gibt nur das Mommsensche
Konstitutionsverzeichnis (p. CCIXsqq.), wo die Vermerke nach Mommsens Tod
auf Grund meines Entwurfs zu dieser Untersuchung eingefügt worden sind (nur
p. CCXCI ist bei — VIII 17, 4 — das post olta-Zeichen versehentlich weggelassen).
2) Zusammengestellt bei Mommsen proll. XXX. Wir sehen hier ab von Ju-
lian ep. 77 (Th. IX 17, 6) und Sirm. 6 (Th. XVI 2, 47 + 5, 46) weil sie mit den von
den Redaktoren benutzten Schriftstücken nicht übereinstimmen; ebenso von III 30,2,
das als gemina zu VIII 12, 1 einen besonderen Platz einnimmt.
3) Die im Sirm. 4 auf Felix parens carissime folgende SteUe ist lückenhaft
überliefert. Vielleicht stand da ein in den Kodex aufgenommenes, uns aber ver-
lorenes Kapitel (die Anrede weist nicht auf den Schluß, vgl. Sirm. 14). Seeck,
ZRG 1889, S. 245 verbindet Just. IV 62, 4 mit Sirm. 4, ohne sich über die Lücke
zu äußern; aber die Verschiedenartigkeit des Inhaltes macht eine so enge Ver-
bindung unwahrscheinlich; Just. IV 62, 4 läßt sich leichter rait Th. XII 1,21 zu-
sammenstellen.
Theodosianus ed. Th. MomniBen et P. Meyer 658
mit den Vermerken verhält. Bezeichnen wir durch einen vorange-
setzten Strich post alia, durch einen hinten angesetzten et cetera, so
ergiebt sich als Schema einer in mehrere Kapitel geteilten Konsti-
tution: a— , — mi — , — mi — — e\ d.h. in jedem Erlaß darf
ein Glied kein post alia, eines kein ä cetera aufweisen. Und in der
Tat bleiben von 415 Vermerken (209 post alia, 206 ä cetera) nur
etwa 45 ohne wahrscheinliche Beziehung auf eine erhaltene lex
iuncta.
Diese Zahl scheinbarer Ausnahmen beweist gegen unsere Auf-
fassung so gut wie nichts. Denn da etwa 600 Kapitel des Theodo-
sianus uns durch die Lücken der ersten acht Bücher verloren ge-
gangen sind ^), so steht die Annahme frei, alle jene fehlenden 45 Ge-
setze hätten in diesen Lücken gestanden. In der Tat, wenn man
sich eine gleiche Zahl erhaltener Kapitel (z. B. Theod. I — IV und die
nur im Just, überlieferten Stücke) verloren denkt, werden etwa 30
weitere Vermerke beziehungslos. Um die unbedeutende Differenz
zu erklären, sei noch Folgendes zur Erwägung gestellt. Durch die
UnZuverlässigkeit der Subskriptionen, über die seit den Untersuchungen
von Gothofredus, P. Krüger, Seeck und Mommsen^) kein Zweifel
mehr herrschen kann, gehen uns notwendigerweise auch mehrere
Verbindungsmöglichkeiten verloren. Da ferner die Vermerke vor
der Verteilung der Kapitel unter die einzelnen Titel eingefügt worden
sind, so konnte auch bei späterer Ausscheidung eines Kapitels (z. B.
einer Dublette) ein Vermerk beziehungslos werden. Endlich darf
auch die irrtümliche Einfügung eines Vermerkes nicht als ausge-
schlossen gelten: eine etwas längere Klausel konnte leicht zu einem
unberechtigten et cetera verführen (vielleicht war dies bei XVI 8, 5
der FaU).
Im Allgemeinen also ist das Resultat dieser Untersuchung mit
dem aus dem Vergleich der Originale gewonnenen identisch. Nur
in einem Punkte sehen wir jetzt deutlicher: die Exzerptionsvermerke
können nicht nur fehlen, sondern sie stehen überhaupt nur ver-
hältnismäßig selten, und zwar post alia und e^ cetera unterschiedslos;
sie sind nicht nur innerhalb der einzelnen Erlasse ohne Konsequenz
verwendet, sondern fehlen meistens in allen Kapiteln desselben Er-
lasses völlig (z.B. in den 11 Teilen der Gesetze vom 3. Mai 361
1) Nach der von Mommsen p. XXXYIII angesteUten Rechnung fehlen vor
VI 4, 34 etwa 400000 Bachstaben, also etwa 6000 Zeilen der Ausgabe; das ent-
spricht den Raum von ca. 800 Kapiteln. Außerdem sind noch einige Bl&tter in VUI
ausgefallen. Abzuziehen sind die ca. 230 nur im Just, überlieferten Gesetze.
2) Krüger, Conmientationes Mommsenianae 75 sqq. und in der Ausgabe des
Just.; Seeck, ZRQ 1889, Iff. 177 ff.; Mommsen ebenda 1900, 178 ff, und in der
Ausgabe.
654 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
und vom 8. Juni 364). Da man manchmal an einem Schaden der
Ueberlieferung denken könnte, so sei das Notwendige über diese
hier kurz zusammengestellt.
Im Codex Justinianus sind alle Vermerke ausgelassen; ebenso
in der Breviarhs 0 (proll. LXVI); in den übrigen Breviarhss fehlen
sie nur vereinzelt, selten in mehreren zugleich {— II 30, 2 in NBG,
— 1 34, 2 in AB6L, — mi3, 3 in CPMLS, IV 23, 1 — in CX) ; nur ein-
mal haben fast alle Breviarhss ein post alia ausgelassen ^) ; der Ar-
chetypus des Breviars und die Haupthss (TRVWAE) zeigen in den
mehreren hundert Fällen, wo wir sie an einander, oder am Breviar
kontrollieren können, nur eine einzige Auslassung (E in XVI 5, 26 — ),
sodaß die Ueberlieferung seit dem Archetypus dieser Hauptzeugen
als tadellos gelten muß.
Die Inkonsequenz in der Einfügung der Vermerke fällt also ganz
den Bedaktoren des Theodosianus zur Last; sie ist so groß, daß das
Fehlen eines Vermerkes an und für sich für das Fehlen einer lex
iuncta nichts beweist. Nur wenn, wie dies sehr oft der Fall ist, von
mehreren leges iunctae eine (a) nur ä cetera, eine andere (e) nur
post alia aufweist, so läßt sich daraus mit großer Wahrscheinlichkeit
die Reihenfolge erschließen (a — . . . . — e), da man sonst den Aus-
fall zweier Kapitel und zweier Vermerke voraussetzen müßte*); ein
entsprechender Schluß, nur mit weniger großer Wahrscheinlichkeit,
ist möglich, wenn zu einem vermerklosen Kapitel eine mit einem
Vermerke versehene lex iuncta tritt (a — . . e oder a . . . — e). Bei-
spiele bietet fast jede Seite des Konstitutionenregisters, und sehr oft
bestätigt auch der Inhalt die so erschlossene Reihenfolge deutlich.^
1) IV 14, h post alia] G: om. HNOEFCXPMLQSK. Da die einzige
iuncta (II 7, 1) et cetera hat, wird man an der von den Herausgebern athetierten
I^esung von 6 nicht mehr zweifeln ; dieser Fall ist nebst YIII 18, 7? {tU RfiG
Just.: om. brev. [rel.]) der Liste jener SteUen hinzuzufügen, an denen Q (resp.
OB) als einzige Breviarhs das Richtige erhalten hat (proll. CXXXIY).
2) Von den sechs Teilen des Erlasses vom 21. März 413 an Priscianus pü
Con8t.yi 13, 1—. —14,3. —15, 1-. —16, 1—. —17, 1—. —20, 1— wird also der
zweite im Original der letzte gewesen sein, offenbar weil das militärische Amt
von den andern getrennt behandelt worden war.
3) Das konsequente Fehlen der Vermerke in einem Teil von mehreren sonst
mit Vermerken versehenen Fragmenten, die gleiches Datum und Adresse zeigen,
hilft uns mit dazu, in dem Erlaß ad provinciates vom 1. Aug. 331 zwei verschie-
denartige Bestandteile festzustellen: a— II 26, 3, ß— III 30,4—, 7— IV 6, 1—, 6 Just
m 19, 2 lassen den Propositionsvermerk aus ; ihre Zusammengehörigkeit hat schon
Gothofredus (zu 7) dargelegt (abgesehen von dem damals noch unbekannten ß,
das sich durch die tutela an 7 anschließt; die ursprüngliche Reihenfolge war
wohl 8. — 7—. — ß— . — a). Die vier vermerklosen Fragmente (XI 30, 16. 17. 34, 1
Just XU 13, 4) behandeln die Frage, wann AppeUation an gewisse höhere In*
Theodosianus ed. Th. Mommsen et P. Meyer 655
Von weit größerer Wichtigkeit sind die Exzerptionsvermerke für
die Textkritik der Subskriptionen: sie geben uns das erste
und einzige sichere Mittel, die Herkunft mehrerer Stücke aus dem-
selben Originalerlaß nachzuweisen. Beginnen wir mit dem prägnan-
testen Fall. Mommsen (ZRG 1900, 174) bat die neun Teile des ein-
zigen an die vv. cc. praefectos praetorio gerichteten Gesetzes (vgl.
zu VI 27, 1), deren Zusammengehörigkeit Seeck aus der Identität von
Adresse und Inhalt erschlossen hatte, auf mehrere Originalschrift-
stücke zurückgeführt, weil alle verschiedene Tagdaten tragen. Wenn
dem so wäre, dann würden zwölf Exzerptionsvermerke beziehungslos,
d. h. wir müßten den Ausfall von zwölf Fragmenten dieses Erlasses
annehmen, was schon deshalb unmöglich ist, weil nie mehr als zwölf
Kapitel zusammengehören. Damit fällt diese Hauptstütze von Momm-
sens Hypothese, den Redaktoren hätten einige Erlasse schon in Ka- '
pitel geteilt vorgelegen.
Die Tatsachen, die zu jener Hypothese führten, müssen nun also
anders gedeutet werden. Und um zu erklären, wieso neun Frag-
mente desselben Originalerlasses zu neun verschiedenen Tagesdaten
kamen, bleibt nur eine Annahme : das Original hatte überhaupt kein
Datum, und die heute überlieferten Zahlen wurden nach der Ver-
teilung unter die einzelnen Titel aus freier Phantasie ergänzt; und
dies ist wieder nur dann möglich, wenn die Partien des Theodosianus,
in denen jene Fragmente stehen (Buch VI. VII. VIII. XII 1), von den
Bearbeitern genau auf fehlende Tagesdaten untersucht worden sind:
und in der Tat haben sie in diesen Partien nichts übersehen. Uebri-
gens läßt sich dieselbe Praxis der Redaktoren, ebenfalls mit Hülfe
der Vermerke, fast noch deutlicher in zwei anderen Erlassen nach-
weisen. Von den vier durch die Vermerke verknüpften Kapiteln
XIV 10,2—. —11,1—. —14,1—. —XV 12, 3 (397 ad populum)
hat nur der dritte ein Tagesdatum (VII id. Apr.) ; dies Datum muß
also interpoliert sein. Bei den vier Fragmenten ad senatum vom Jahre
376 (td.Fe6. — 1X1,13 — : id. Aug. Xld,8 — : ohne Tag — XV 1,19:
kal. Mart. Just. III 24, 2) , deren Zusammengehörigkeit von Gotho-
fredus erkannt ist (zu XV 1,19) und durch die Vermerke bestätigt
wird, geht die spätere Einfügung sowohl aus der Verschiedenheit
der überlieferten Daten wie aus der Lücke in XV 1,19 hervor.
Offenbar sind die verschiedenen Partien des Kodex nicht gleichmäßig
stanzen verboten oder erlaubt ist; davon ist in den erstgenannten vier nicht die
Rede. Es können zwei Originale gleichen Datums und gleicher Adresse vorge-
legen haben (wie Sirm. 9 und das Original von Th. XVI 5, 45) ; oder die verschie-
denen Abschnitte sind an zwei Bearbeiter verteüt worden.
656 Qött gel. Ans. 1906. Nr. 8
genau untersucht worden: aber die systematische Interpo-
lation von Tagdaten dürfte nun feststehen.
Aber wozu diese Fälschungen? Die in großem Maßstab durch-
geführte Interpolation von Konsulaten ließ sich in Zusammenhang
bringen mit dem Grundsatz (11,6 pr.), daß von zwei widersprechenden
Verfügungen die spätere Geltung erhalte (Seeck S. 20) ; da war denn
wirklich ein fitlsches Jahr besser als keines; für die Tagdaten läßt
sich dies kaum verwerten. Ich glaube, zur Erklärung aller die Sub-
skriptionen betrefifenden Fälschungen genUgt das erste Gesetz des
Kodex: 8i quaposthae edicta sive consHtutianes sine die et cans^ fu-
erint deprehensaCy auctaritate eareatU. Ofifenbar ist nach Aubiahme
dieser Bestimmung an die Bearbeiter der Auftrag ergangen, kein
Gesetz im Kodex sine die et cansule zu lassen; sei es des guten Bei-
spiels wegen, sei es um eine Anfechtung der undatierten Kapitel zu
vermeiden. Die Einfügung der fehlenden Daten ist dann mit dem-
selben Mangel an Sorgfalt durchgeführt worden, wie die übrigen Ar-
beiten am Kodex.
Außer dieser Erkenntnis allgemeiner Natur liefern uns die Ex-
zerptionsvermerke auch manche Verbesserungen einzelner Daten. Es
ist einleuchtend, daß sich in den mit Vermerken versehenen Frag-
menten jede spätere Aenderung von In- oder Subskription durch die
Beziehungslosigkeit eines Vermerkes verraten muß. Dadurch ge-
winnen wir ein Mittel, solche Verbindungen von Fragmenten herzu-
stellen, die infolge von Interpolation der Redaktoren oder von
Schäden der späteren Ueberlieferung verdunkelt worden sind. Frei-
lich sind die Editoren, besonders der unvergleichliche Gothofredus,
in der Aufdeckung aller nur irgend möglichen Verbindungen so weit
gegangen, daß die Nachlese nicht sehr reichlich ausfällt^). Immerhin
1) Amnerkongsweise seien auch die durch die Vermerke bestätigten
VerbindnngSYorschläge der bisherigen Herausgeber, soweit eine Bestätigung noch
von Wert scheint, zusammengesteUt. Es sind, abgesehen von den drei 8. 665 be*
handelten, folgende:
332 IV 8, 8—. V 17, 1 (Goth.)
339 —VI 4, 3. 4—- (von Goth. angedeutet).
343 XI 16, 5-. Just m 26, 6 (Herrmann).
364 Vn 1,6-. Vm 4,8 c(um) i(unctis) (Goth.).
895 — n 12,6—. —VII 12,3 VIÜ 8,7- (Goth. Krug. Mo.)
397 XIV2,3-. 4,7 (Goth., von Krug, abgelehnt).
398 I 2, 11— . XV 1,40 (Goth. Mo., von Krug, abgelehnt).
410 — Xm 5, 84. Just. IV 40, 4 (Goth., von Krug, abgelehnt).
412 VI 26, 14-. 18, 1 (Goth. Mo.)
—II 8,26— = —VIÜ 8,8-. XVI 8,20 (Goth. Mo.).
413 — Vin 17,4-. 12, 12 ci (Goth. Krug.).
416 XU 12, 15—. XVI 2, 42 (Goth. Mo. gegen Krüger).
Theodosianus ed. Th. Mommsen and P. Meyer 667
^^^ j VIII k. Feb. (sic a) 1 ;!. ,. I • i \
357 -^ . , n / . ON \ Medwlam populo \
[ prid. non. Dec. (sic ß) J ^ /- |
3«2 i FÄ.^pr.(8icß) ' \ConstanUnopohiom.a') |
lohnt es sich vielleicht, an einigen Beispielen die Methode zu demon-
strieren.
a 1X16,4
ß— 1X16,5
An dem Datum von ß hat schon Mommsen Anstoß genommen.
Der Inhalt ist gleichartig.
a XI 12,2
ßXI19,2—
Beide handeln von Immunität und fangen mit omnes qui an.
371 M. Mart. Constp. Modesto ^{pj;Sx32,to(ohne Subskription)
Beide stehen im Titel de decurionüms; ß wird durch Just. X 32, 31
auf die Zeit zwischen Juni 370 und Juli 371 fixiert.
381 Vllid.Od. da/. <rr«;.> (sie a)l Syagrio^ | aYSSn.lb—
po8t.cons,Z%\V id. Apr. ppC?ar/Aa^.(sicß) J ppo {pu a)\ ß — ^XII 1,88.
Die zwei beziehungslosen Vermerke gestatten wohl diese etwas
kühnere Verbindung, die in a den Ausfall des Propositionsvermerkes,
in ß den des Datums voraussetzt. Der Inhalt zeigt wörtliche An-
klänge {quinquennium... reddeniur). Sechs Wintermonate Zwischen-
zeit sind für die Strecke Trier-Karthago nicht zu viel; vgl. 1X40,1
XI 36,10.
ggg^. XVIII k. ^j^^^ Eutychia- jaV 14,36 (ohne Subskription)
^ ^ Jan. ^' no ppo |ß— XII 18,2
Inhaltlich verwandt.
399 III(IIIye\IVaci) .,^. Messcdae («—112,7— c(um)
(401ß) M.Oct. ^^^- ^ (ß'(HI15n^
Weder die Präfektur des Messala noch das Ortsdatum paßt zu dem
Konsulat 401; die Uebereinstimmung von Inhalt, Ort, Tag und
Adresse mit a ci würde auch ohne den beziehungslosen Exzerptions-
vermerk die Verbindung zweifellos machen. In dem unverständlichen
consul, das der Ambrosianus hinter der Inskription einschiebt, steckt
vielleicht post alia. Offenbar war das Konsulat in ß durch Schuld
eines Schreibers ausgefallen; doch läßt sich auch an spätere Korrupte!
denken, wie in Vni 7, 10.
400 (post cons. prid. kal. ^ , Pompeia- 1 * -,„. ' , ^
400t) (wi. T) t/tti. no proc. Afr. J |J XVI2,36—
Y ist inhaltlich mit ß (auraria funäiö) verwandt.
423 -1X6,4—. 16,11 ci (Goth. Krug. Mo.).
426 —VI 2, 26. X 10, 33 ci (? Goth.)
-TV 10,3. 6,7 (Krug., besser als mit XVI 7,7 ci Mo.).
G6U. feL Au. 1906. Nr. 8 46
658 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 8
405 prid. id. Jun. Niciae (ska) 1 Optato — | a II S3, 4
398 VIII k.Dec. Constp. (sicß) J (Optafio ß) ^" j ß— XII 1, 160
Die Unterschrift von ß ist gefälscht (vgl. Mommsen). Beide Gesetze,
die einzigen an Optatus pu, handeln über die Senatoren.
410 XV Je. Jan. (sie a) 1 „ ,^ ,.,. — (f ^1?^;]^,
412 (409t) XV k. Mart, (sic ß,T) |Ä«t;enna. JlfeWu>j)po ß-XI 16 23-
f Y"~"-XJ. lo,l
Inhaltlich eng zusammengehörig. Da alle andern Gesetze an Meli-
tius aus dem Jahre 412 stammen (darunter das nah verwandte
XVI 2,40 = Sirm. 11) und eine Beschränkung der Pferdeliefemngen
fur die Zeit des Aufenthaltes der Gothen in Italien unwahr-
scheinlich erscheint, so ist das Datum von a schon an und fur sich
verdächtig.
a XVI 5,58—
ß— XVI10,21
Die inhaltliche Verwandtschaft hat schon Gothofredus (zu ß) notiert;
die Subskription von ß wird durch den Namen des Präfekten als
falsch erwiesen. Die beiden Exzerptionsvermerke geben den Aus-
schlag.
I a 110,8
ß Vni3,22
Y — XI 1,35 —
8— XII 6, 32
415 VIIIid.Nov. Constp. (s\c a)\ , ,. — ^^ f
A-in TTrTj Tk /• f.. \ Aurehano ppo II \
416 VII td. Dec (sicß) J ^^ |
Die Varianten der Tagesdaten sind schon von Gothofredus und
Hänel beseitigt. Der Ausfall des Postkonsulatsvermerkes findet seme
Parallele in dem Kapitel Vini7,4 (siehe oben S. 656^), das in der-
selben Handschrift steht wie ß. Andererseits ist die inhaltliche Zu-
sammengehörigkeit, besonders von a und S § 2 unzweifelhaft. Der
Beginn von y : ne provinciales^ ad quorum ufilitates spectat omnis haec
provisio, . . . paßt vorzüglich zu a und ß. Daß ß mit seiner Bezie-
hung auf die proconsularis provincia in den Februar 429 fällt, wird
durch das am 25. Februar 429 an den Prokonsul von Afrika, Celer,
abgeschickte Gesetz XI 1,34. 30,68 XIIl, 185. 186 sehr wahrschein-
lich gemacht. Ueberhaupt ist sonst aus den Jahren 427 und 428
kein im Westen erlassenes Gesetz erhalten. Ofienbar hat die XI1,34
und Xn 1, 186 erwähnte legatio proconsularis provinciae per Bubulcum
sp. V. com. den Anstoß zur Wiederaufnahme der gesetzgeberischen
Tätigkeit gegeben.
Zum Schluß füge ich die Liste der Vermerke bei, zu denen ich
Theodosianus ed. Th. Mommsen und P. Meyer 659
keine wahrscheinliche Beziehung finden konnte *) : 1 1 ,5 — . —1 5, 1 . 22, 4 — .
34, 3—. —II 5, 2. 8, 26 c(um) i(unctis). —13, 1 ei. III 5, 12 ci. —31, 1
—IV 16, 2. 22, 5— (iung. IV 6, 5?) VI 7, 1 ci. 10, 4 ci. VH 18, 16—
(iung. —1X38,11? beide an Qaiso com. et mag.) Vin5,54— . 8,9—.
18,7—. —1X1,17.-38,11 (? siehe zu Vni8,16-). — Xl,2— .
3,7—. XI 1,26—. —3,4.7,4—. 9,3 ci—. 28,5— . —30, 38. —36, 18.
Xni,30-. 77— . -129. 2,lci.— 9,3. — Xin6,4— .6-. XIVl,5— .
10, 3—. —XV 6, 2. XVI M6 ci— . 47 ci— . 8, 5 ci— . 10, 5— (iung.
IX 38,2 ? beide an Cerealis pu gegen Magnentius).
Ueber dem Nutzen, den uns die Exzerptionsvermerke für Quellen-
forschung und Textkritik bieten, dürfen wir freilich nicht vergessen,
daß der eigentliche Zweck dieser Formeln noch nicht aufgeklärt
ist. Die Tatsache, daß im Original vor oder nach einem Kapitel
noch ein anderes ebenfalls in den Kodex aufgenommenes stand, ist
ja ohne Interesse für jeden, der nicht, wie wir, instand gesetzt ist,
die leges iunctae wieder zusammenzustellen.
Man wird nach Analogien suchen. Aus dem Theodosianus lassen
sich drei Stellen vergleichen : inter alia hinter der Inskription von VI
26,9, et infra mitten im Texte von XV 1,5, de eadem re, addito hinter
der Inskription von XVI 5, 50. Der letztgenannte Vermerk bezieht
sich auf das im Kodex unmittelbar vorangehende gleichzeitig an eine
andere Adresse gerichtete Kapitel 49 und leitet einen syntaktisch un-
selbständigen Satz ein; hier liegt also deutlich eine nachträgliche
Kürzung vor. Es spricht nichts dagegen, die beiden anderen ähnlich
zu deuten. — Anders verhält es sich mit der seltsamen Notiz de re
necessaria et ad locum hinter der Inskription von 1110,6. Mommsen
(proll. XXXVI) schreibt die Verstümmlung dieses Kapitels , auf die
sich die Notiz zweifellos bezieht, den Redaktoren des Theodosianus
zu. Dagegen spricht sehr viel. Der unentbehrliche Begriff advocatas,
der in dem Erhaltenen fehlt, scheint in der Vorlage des Cod. Just.
(II 7, 4) und der Interpreten des Breviars gestanden zu haben.
Also würde die Verkürzung den Redaktoren des Breviars zur Last
fallen. Und hierfür haben wir trotz Mommsens bestimmter gegen-
teiliger Behauptung (1. c.) zwei Parallelen : XVI 7, 3*— is (cf. Interpr.)
und IV 4, 7ii— 20 (cf. Interpr. extrema pars legis ideo non habetur scripta^
quia novella lege calcatur). Den Grund der Verkürzung in 1110,6
gibt vielleicht die in der Hs L erhaltene Notiz requiren (sie) de
navellis slmiliam (Nov. Theod. X 1 oder Val. II 2). Auch die seltsame
1) Wo kein Vermerk angegeben ist, da steht nicht fest, welcher von den
überlieferten beziehungslos bleibt. XI 39, 5 habe ich nicht mitgenannt, da hier
et cetera (et cera codex) mitten in der Inskription steht and deren Satzbau zer-
reißt. Vielleicht ist et ceteris zu schreiben (cf. Mansi IV 379 O et reliquis).
46*
660 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 8
Fonn jenes Vermerkes weist auf die Alariciani ; er kehrt nur einmal
in der Literatur wieder, und zwar in der Nov. Maior. XI (hier ohne
das et), wo er sicher dem Breviator gehört ; auch der nächstverwandte
Vermerk inter cetera et ad locum läßt sich nur in diesen späteren Zeiten
nachweisen ^).
Auch die übrigen Rechtssammlungen zeigen nichts Vergleichbares.
Die Konstitutionenkodizes Gregorianus, Hermogenianus, Justinianus
haben überhaupt keine Exzerptionsyermerke ^). In der CoUatio und
den Fragmenta Vaticana wird manchmal auf ausgelassene nicht not-
wendig zur Sache gehörige Partien verwiesen: post pauca Fragm.
Vat93, cetera 149; Collatio (passim) et reliqua, und 114,1 XU?, 1
bei zwei gleichartigen Ulpianzitaten das rätselhafte et cum dieerei^.
Um also den Zweck jener post alia und et cetera des Theodo-
sianus zu finden, sind wir auf Vermutungen angewiesen. Ich ver-
suche folgende Deutung. Wenn die Redaktoren einen Erlaß in
mehrere Teile zerlegten, so mußte in allen Kapiteln außer dem ersten
die Inskription, in allen außer dem letzten die Subskription
neu zugefügt werden. Nun hatte es keinen Sinn, diese rein mecha-
nische Arbeit schon an jenem Exemplar des Originalerlasses vorzu-
zunehmen, das zur Notierung der textlichen Rezension diente (die
wohl in der oben S. 650 veranschaulichten Weise vor sich ging) ; hier
genügten zwei Vermerke, die dann den Schreibern der einzelnen Ka-
pitel den Hinweis auf die noch fehlenden In- und Subskriptionen
gaben. Diese Vermerke glaube ich in unseren post alia und ei cetera
zu erkennen. Ueber die Inkonsequenzen der Anwendung und Bei-
behaltung wird man sich nicht wundern: der Mangel einheitlicher
Instruktion, und die Eile und Nachlässigkeit, mit der die Arbeit voll-
endet wurde, haben noch weit schlimmere Unregelmäßigkeiten zur
Folge gehabt, als diese.
1) In der Consoltatio und in Exzerpten (VI. saec.) aus Vegetios, cf. Mommsen,
Hermes 1 130. 133. Auch ad locum allein findet sich nur im Breviar (Nov. Sever. I),
der Consultatio und in Append. II leg. Rom. Vis. 1. 3. 5. Zum Gebrauch tod
necessarius vgl die Interpretation zu Theod. I 4, 3 ex fUs omnibus, quae necessaria
causia praeaenHum temporum videbantwr, degimus.
2) Bei den ersteren kommen nur die in der Collatio, den Vaüc. fragm. und
der lex Roman. Visig. überlieferten Fragmente in Betracht; der Autor der Con-
sultatio fugt häufig sein inter cetera et ad locum, et cetera, ad locum, et rdi^ua
ein, wie 7a, 3. 8, 7. 9, 13 beweist ; da femer auch in Append. II (cf. 1. 3. 5) alle
Vermerke von dem Autor der Appendix herrühren, verliert das aUein übrigblei-
bende et reliqua in Append. 1 6 (Greg. VI 18, 13) jede Gewähr.
3) Ein formelhaft gebrauchtes et cum ddceret findet sich sehr oft in Konzils-
akten, um den Schluß der Rede zu kennzeichnen, und manchmal auch als Einlei-
tung zu dem Rekognitionsvermerk ; Schema: et cum diceret (et alia ffumn: N,N,
rccofnom), P. dixit, z. B. Mansi IV 231 C ; 233 AB etc.
Theodosianns ed. Th. Mommsen and P. Meyer 661
Noch ein Wort über die lexikalischen Hülfsmittel. Die In-
dices, die Hänel seinem Corpus legum (Leipzig, 1877) beigab,
verdienen nicht das Stillschweigen, mit dem sie allgemein über-
gangen werden; nicht nur weil sie äußerst sorgfältig und meist voll-
ständig sind, sondern vor allem, weil sie auf dem richtigen Prinzip
beruhen, das Material des Theodosianus nur im Zusammenhang mit
der gesamten Legislative bis auf Justinian zu behandeln — freilich
eine Aufgabe, die dem modernen Stand der Wissenschaft entsprechend
durchzuführen die Kräfte eines einzelnen übersteigen würde. Hänels
Index p e r s 0 n a r u m (p. 95 — 1 38) ist, natürlich unter Kombination
mit Mommsens und Paul M. Meyers Listen der acceptores (in den
proleg.), ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Prosopographie jener
Zeit. Der Index geographicus (p. 139—160) enthält ein großes
nirgends sonst registriertes Material, zu dessen Erläuterung man
Qothofredus' Topographie (VI 95 — 136) heranziehen wird. Der index
rerum (p. 161—274) kann natürlich nicht überall Vollständigkeit
auch nur erstreben, bei den seltneren Wörtern erreicht er sie je-
doch, wie mich eine eingehende Vergleichung mit dem (von Hänel
offenbar unabhängigen) Thesaurus linguae latinae lehrte; doch auch
bei den übrigen Wörtern sind außerordentlich reichhaltige Samm-
lungen geboten, die weit über das von den Lexicis (Dirksen, Heu-
mann, Thesaurus 1. 1.) Gebotene hinausgehn; daneben behält nur
noch Gothofredus' Glossarium nomicum (vol. VI 137 sqq.) seinen Wert;
für die verwaltungs geschichtlichen Schlagwörter ist besonders auf
0. Seecks Artikel in Pauly-Wissowas R.-E. zu verweisen (Agentes
in rebus, etc.). Die sprachliche Forschung wird sich wohl nach
wie vor vom Theodosianus fernhalten, da sie nicht riskieren kann,
den Schwulst und die Dunkelheiten der sorgfältig stilisierten Original-
gesetze mit den durch die Schere und den Kleister der Epitomatoren
hervorgerufenen Eigentümlichkeiten zu kontaminieren.
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Gesamtleistung,
die in Mommsens Theodosianus vor uns liegt, so können wir nicht
genug staunen vor der ans Wunderbare grenzenden Energie des
Mannes, der im neunten Jahrzehnt eines rastlos durcharbeiteten
Lebens noch den Mut und die Ausdauer und die — Entsagung be-
saß, durch die mühseligsten Handschriftenvergleichungen und -Klassi-
fizierungen, durch komplizierte Apparate und Register, durch Ueber-
wachung eines ungewöhnlich schwierigen Druckes, das wichtigste
historische Denkmal des IV. und V. Jahrhunderts der Forschung zu
erschließen. Auch dies Ziel, den Gipfelpunkt seiner editorischen
Tätigkeit, hat er noch erreicht: das Jahrhunderte lang verödete
Feld, das durch den Namen Theodosianus bezeichnet wird, ist durch
662 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
Mommsens letzte Arbeit wieder fruchtbar geworden. Es war dem
unermüdlichen Pflüger nicht vergönnt, die Saat darauf zu schauen;
möge sie bald und reichlich sprießen.
ilünchen P*"l Maas
Edwin A. Abbott?^ rfAfe»°°i»« yocabulary. A comparison of the
words of the fourth>«ifel with those of the three. London, A.
and Ch. Black, 1905. XVIII, 3Ä4S. 13 sh. 6 d.
Das vorUegende Buch des^JSMie neutestamentliche Forschung
mannigfach verdienten, neuerdings aM als Mitarbeiter an der »En-
cyclopaedia biblica« bekannt gewordenenSenglischen Theologen gibt
sich schon durch die Paragraphenzählung (eS^«"*"* mit 1436) als
Fortsetzung der früheren Bände eines große»» unter dem Titel
>Diate8sarica* veröffentlichten Werkes, zugleich W J^'J*"'®'" ®"j.^
unter dem Titel >Johannine grammar< erscheinende^^"*^ . .^ " ^^^,p"^'
Im wesentlichen machen exegetische Detailstudien, V*^®^^*^ "
bellen (von der Tochter des Verfassers angelegt) uäJ andere Vor-
arbeiten seinen Inhalt aus. Also mehr ein Nachschlagw"*^"' ^'f *'"
Gegenstand für zusammenhängende Lektüre, wiewohl W^ *" . *"
fortlaufenden Betrachtungen und sprachlichen Erörterun«° '*'^'"«^
wegs fehlt. Eine solche gilt gleich zu Anfang unter dq
Schrift »Key- words < denjenigen Stellen, in welchen von irtol
Rede ist. Für das Interesse, welches ein englisches Laien;
derartigen Dingen widmet, bezeichnend ist es, daß gri^
Wörter zu gunsten der Leser möglichst in die AnmerkungeJ
wiesen sind, so daß beispielsweise im Text für das Wort Tcia
4. Evangelium begegnet übrigens nur das Verbum) drei Ausj
(faith, trust, belief) miteinander abwechseln: nicht eben günd"
die Zwecke einer Wortvergleichung. Das Resultat diesen^
Untersuchung kommt über die bekannte Tatsache, daß der jo^^^L
sehe Sprachgebrauch ein sehr elastischer ist (Verf. erkennt »sFV
an und übersetzt 19,35. 10,31 ohne Weiteres mit grow in bfl^^Ä^^^»
höchstens in der dem Origenes abgenommenen Behauptung hiiu^
daß, wo als Objekt des Glaubens das Svo^ erscheint, an die TauT ^
zu denken sei. In Befolgung der gleichen Methode wird als zweites
> Schlüsselwort« authority (i£ooaia) nach der Bedeutung, die es bei
den neutestamentlichen Schriftstellern überhaupt, bei Johannes insbe-
sondere aufweist, untersucht, ohne daß dabei mehr herauskäme, als
Anerkennung gewisser Modifikationen des Sinnes, je nachdem Jesus
oder Pilatus das Wort gebrauchen. Auch die weiterhin angestellte Be-
Abbott, A Johannine Vocabulary 663
trachtung über >johannei8che Synonyma« bleibt insofern vielfach un-
fruchtbar, als leichtere Nuancen des Sinnes fast ebenso oft, als sie
nachgewiesen zu sein scheinen, wieder im indifferenten Gebrauch der
betreifenden Wörter verschwinden. Beispielsweise bleibt doch als
letztes Resultat der ausführlichen Untersuchung über Tcpoaxovsiv mit
Dativ (gewöhnlich im Neuen Testament) oder Akkusativ (selten) nur
die schon oft gemachte Beobachtung übrig, daß sich in jener Kon-
struktion, gleich der mit Ivcbmov, noch eine Beziehung auf den
Gestus des Niederfallens erhalten hat. Nur zu billigen ist es übrigens,
wenn die Vergleichung der Synonyma sich nicht auf die johanneische
Literatur beschränkt. Dagegen bezieht sich der folgende Abschnitt
nur auf die Abweichungen des johanneischen Sprachgebrauches vom
synoptischen. Hier ist es nun, um gleich bei den beiden erst vor-
kommenden Fällen (S. 157 f.) stehen zu bleiben, allerdings nicht etwa
bloß Sache des Zufalls, wenn statt ÄapaßoXnJ das Wort wapotjita be-
gegnet (S. 176); bekannt und anerkannt ist ja der sachliche Unter-
schied der beiderseitigen Bilderreden. Belangreicher ist schon der
Umstand, daß SovdtjiSK;, verbunden mit 0Y)|jL8ta oder tfipa-ca (Act. 2, 22.
8,13) bei Joh. nicht, die besonders in Act. häufige Verbindung ot]-
(teia xal tipata nur 4,48, zipam sonst nicht mehr und Sovd|ietc über-
haupt gar nicht vorkommen. Daraus schließt unser Verf., daß Jo-
hannes die absolute Erhabenheit und Einzigkeit der himmlischen
Mächte durch Vermeidung von Ausdrücken wie S&va|ii(; und Sovatöc,
sowie der Synonyma xpdtroc und xpa-caiöc, lox^c und lox^pöc habe
ausdrücken wollen, indem er l£ooaia dafür einsetzte (S. 158. 175).
Hier hätte es nahe gelegen, sich des Gebrauches und Sinnes dieses
Wortes in den Zauberbüchern zu erinnern. Einstweilen bleibt nur
bemerkenswert, daß es so gut wie allen neutestamentlichen Schrift-
stellern geradezu unentbehrlich ist ; ebenso aber auch 8&va|it^ gerade
nur mit Ausnahme des Evangelisten und Schriftstellers Johannes.
Absicht waltet dabei schwerlich ob. Das gleiche gilt von dem langen
Register von Wörtern, welche bei den Synoptikern oft, bei Johannes
selten oder nie vorkommen. Es würde wenigstens die teilweisen
Dienste einer Konkordanz leisten, wenn nur statt der englischen die
griechischen Vokabeln in alphabetischer Ordnung aufgeführt wären.
Ebenso steht es um das folgende Register, das Wörter aufzählt, die
bei den Synoptikern garnicht oder wenigstens seltener als bei Jo-
hannes vorkommen. Man erkennt daraus wenigstens den Sonder-
besitz oder den bevorzugten Gebrauch bei diesen Schriftstellen. So
ist es bekanntlich nicht zufällig, wenn ol 'looSaioi bei ihm 68 mal,
bei den drei andern zusammen nur 16 mal erscheinen.
Dagegen bleibt es ein seines Erfolges keineswegs sicheres Unter-
664 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 8
nehmen, wenn der Verf. auf Beobachtung einer möglichst konse-
quenten Durchführung von bezeichnenden Nuancen der Synonyma
ausgeht. Beispielsweise bespricht er mehrfach (S. 1 f . 103 f. 210.
240—242. 257—264. 335) das Verhältnis von ol^öltcti (vorkommend
bei Mt. 1 mal, bei Lk. 1, bei Job. 7), oder aYairäv (Mt. 7, Mk. 5,
Lk. 11, Job. 37) und (ptXetv (Mt. 4, Lk. 1, Job. 13). Hier läßt sich
mit Sicherheit fast nur sagen, daß der Begrifi überhaupt charak-
teristisch für den Evangelisten und Briefsteller ist. Wahr ist auch,
daß die bekannte Gleichung ^sö<; = &Yain] nicht in ^eek = ftXia
umgesetzt werden kann. Insofern macht sich auch hier der be-
kannte, von den Klassikern bestimmt wahrgenommene und mehrfoch
formulierte Unterschied (S. 240 f. 259) bemerkbar. Andererseits ist
beispielsweise der Gedanke >der Vater liebt den Sohne 3,35 mit
oLYaTcqf, 5, 20 mit dem allerdings affektvolleren Wort ^iXei ausgedrückt.
Auch 21,15—17 dürften vielen Künsteleien der Ausleger, die hier
allerlei Geheimnisse wittern, zum Trotz beide Ausdrücke promiscue
gebraucht sein, offenbar lediglich um nicht immer wieder dieselben
Laute zu wiederholen, wie dasselbe im gleichen Zusammenhang mit
den Synonyma ßöoxetv und icoi|ialv6tv, ipvia und icpößata oder icpo-
ßdua der Fall ist.
Auch im vorhergehenden Abschnitt 21, 1—14 sind ja ähnliche
Beobachtungen zu machen. So haben, nachdem schon die griechi-
schen Väter und Augustin keinen Unterschied zwischen aYaicdtv (dili-
gere) und ^ iXeiv (amare) gemacht hatten, Exegeten geurteilt, wie Eras-
mus und Grotius, neuerdings P. Schanz und B. Weiß, speziell auch A.
Cross im »Expositor< 1893, S. 312—320 und Eberhardt (Evangelium
Johannis Kap. 21, 1897, S. 52), während man, wo ein Abstand ge-
wahrt werden soll, in ^iXeiv gewöhnlich den bescheideneren Ausdruck
findet. So neuerdings Lütgert, Die Liebe im N.T. 1905, S. 156 f.,
im Grunde auch Horn, Abfassungszeit, Geschichtlichkeit und Zweck
von Evang. Joh. Kap. 21, 1904, S. 167—171; so ferner Godet im
Gommentaire sur T^vangile de St. Jean, 4. Aufl. III, S. 533 (l'amour
de veneration und ch^rir attachement personnel) und schließlich
auch Abbott selbst S. 1 f. 241 f. Nun ist ja wahr, daß der freund-
schaftliche Klang von ^iXeiv in einigen Stellen deutlich vernehmbar
ist, aber in den bezüglichen Parallelen 3,16 (zu 16,27) und 11,5
(zu 11,3.36) steht als gleichwertig a7a:räv. Die LXX geben Prov.
8,17 dasselbe hebräische Wort, wo von Gottes Liebe zu den
Menschen die Rede ist, mit ocYaTcav, wo von des Menschen Liebe zu
ihm, mit ^iXeiv. Im Hinblick darauf darf man schwerlich sagen, wie
Cremer zu &7&^, daß diesem Wort der Charakterzug der Divinität,
der tpikia derjenige der Humanität eigne; denn gerade bei ihren
Abbott, A Johannine Vocabulary 665
echt humanen Empfehlungen einer uninteressierten Liebe braucht die
Bergpredigt den Ausdruck irfandyj so daß dafür doch immer die
Abwesenheit des im ^iXeiv mitspielenden unfreiwilligen Naturzugs
charakteristisch sein dürfte. Dagegen eignet der &Ya7n) 1. Joh. 3,18
aktive Natur, und auch das sl^ t^Xo^ "^Ydiiniaev ahzoix; Joh. 13,1
scheint im Vorblick auf die Fußwaschung und ihren symbolischen
Sinn gesagt, ähnlich wie -^^dc^cifjasv Lk. 7,47 mit Bezug auf 7,44—46
(vgl. die S. 258 f. angeführten Stellen aus Klassikern). Aber wo
bleibt der angeblich höhere Sinn von aYaTcäv, wenn 3,19. 12,42 auch
oxöto^ und Sö4ot tcov av^pa)ic(ov das Objekt dazu bilden? Die Ge-
danken, die sich Abbott S. 263 f. über das -rj^diryjaey Mk. 10,21 macht,
um diesem vorübergehenden bei Joh. einen dauernden Lieblings-
jünger gegenübergestellt zu finden, sind um so weniger angebracht,
als ja auch bezüglich des letzteren 20, 2 ein i^iXet mit dem '^^iira
13, 13 wechselt. Es wird also bei dem schon in den »Theologischen
Studien und Kritiken« 1849, S. 646 von Gelpke gefällten Urteil sein
Bewenden haben, daß aYaicäv seinen ursprünglich reineren Sinn bald
eingebüßt habe und mit ^iXeiv vertauscht werden konnte. So kommt
es in LXX in verschiedenartigstem Sinne vor. Ganz fremd aber ist
dagegen der dort auch vorfindliche, unzweifelhaft sinnlichere Aus-
druck ipäv der neutestamentlichen Sprache geblieben. Die deutsche
Sprache, die für die 3 griechischen Ausdrücke nur das eine unend-
lich vieldeutige »Lieben« hat (> Minne« existiert nur noch bei ar-
chaistischen Poeten), ist auf diesem Punkt die ärmere.
Nicht viel anders liegt die Sache bezüglich der gleichfalls mehr-
fach in Untersuchung gezogenen Synonyma für Sehen (S. 104—114.
163. 192. 197), sofern gleich 1,32.33, wo nebeneinander ^edodat
und ISsiv mit dem gleichen Objekt tö TTveopia steht, dem Versuche,
ein > ordinäres Sehen« hier vom > Betrachten < (contemplari) dort zu
unterscheiden, widersteht. An das Anschauen mit der Tendenz auf
Erfassung der Bedeutung einer Sache läßt sich am ehesten 1, 14
denken; aber gleich in der Parallele 1. Joh. 1,1—3 wechselt damit
6pdv. Von diesem als den geistigeren Begriff soll sich unserm Verf.
zufolge wegen 16, 16 ^8ot>p£iv als Ausdruck für das gewöhnliche
Sehen mit leiblichen Augen unterscheiden. Aber nur in sehr ge-
zwungener Weise findet er sich mit den widersprechenden Stellen
6,40. 12,45. 14,19 ab. Man wird sich damit begnügen müssen, eine
schriftstellerische Liebhaberei für Wechsel in den Ausdrücken anzu-
nehmen, wie sie Cross ohnedies im ganzen Schriftstück nachgewiesen
hat. Dagegen wäre nicht bloß gelegentlich zu einigen der sofort
anzuführenden Ausdrücke, sondern als für Joh. charakteristische
Erscheinung die schillernde Doppeldeutigkeit darzutun von Wörtern,
666 Gott gel Anz. 1906. Nr. 8
wie Äscöpetv, ßpa, i^eCpeiv, oTcdtYStv, ävwÄev, oij^oöoÄat, Y^vv&adai, aipeiv,
(j>t>XT3, «vsöfta, xpCotc, ipYOtCeodat, aico^vT^oxstv, A^tdCetv, ixoXoo^stv.
Die folgenden Abschnitte bringen Wörter, die gemeinsam sind
nur 1) für Job. und den ersten, zweiten oder dritten Synoptiker,
2) für Job. und je zwei unter diesen. Die zuverlässig und genau
gemachte Zusammenstellung ist umso brauchbarer, als darin grie-
chische Vokabeln direkt auftreten. Es wäre ungerecht, wenn man
die Anfertigung solcher Register als eine mechanische Arbeit christ-
licher Masoreten mißachten und etwa höchstens den auf die Ab-
zahlung so vieler Wörter verwendeten pedantischen Fleiß anerkennen
wollte. Mit Vorsicht gebraucht, leisten die vorliegenden, von einem
so sprachkundigen Gelehrten angefertigten Listen sowohl für die
richtige Erfassung des schriftstellerischen Verhältnisses der einzelnen
Evangelisten, als auch für ihre Stellung zur Klassizität, zu LXX und
zur Umgangssprache ersprießliche Dienste und ersparen uns manchen
verdrießlichen Zeitaufwand. Wünschbar wäre bloß oft mehr Berück-
sichtigung von Problemen der neutestamentlichen Theologie, die sich
hinter der Wortauswahl verstecken. Beispielsweise bemerken wir
S. 187 gelegentlich, daß das Wort ootpia bei Lk. öfter als bei den
beiden andern zusammen, bei Job. aber gar nicht begegnet. Würde
man nun zugleich auch erfahren, daß das Synonym ^vodotc (vgl. Rom.
11,33. 1. Kor. 12,8. Kol. 2,3) nur bei Lk. vorkommt, also bei Joh.
gleichfalls fehlt, so würde man bei der amphibolischen Stellung des
vierten Evangeliums zur Gnosis auf Gedanken geführt, wie sie neuer-
dings Grill in seinen > Untersuchungen über die Entstehung des
vierten Evangeliums c (I, S. 183 f. 200) angeregt hat. Endlich wäre,
da der Sprachgebrauch der Apokalypse doch zuweilen zur Verglei-
chung mit dem johanneischen Stil herangezogen ist (z. B. 82 f. 102.
127. 127 f.), diesem höchst interessanten und merkwürdig zweideu-
tigen Problem eine weitergehende Aufmerksamkeit zu gönnen ge-
wesen. Noch näher liegt ein ähnliches Desideratum bezüglich der
johanneischen Briefe, deren Mitberücksichtigung mancherlei Modifi-
kationen in den Registern bedingt hätte.
Straßburg i. E. H. Holtzmann
Theodore Belnaeb, l'histoire par les monnaies, essais de nuinis-
matique ancienne. Paris, Leroux 1902. 270 S.
Der Titel des Buches hat in mir und wohl noch in manchem
Fachgenossen falsche Hoffnungen erweckt. Ich freute mich, daß einer
der berufensten Vertreter unserer Wissenschaft, wie kaum ein An-
derer heutzutage gleichermaßen bewandert in den Gebieten der alten
Th. Reinach, Thistoire par les monnaies 667
Geschichte und der alten Numismatik, das Wort ergriffen hätte, um
uns im Großen Methode zu lehren, und fand — eine Sammlung von
fünfundzwanzig Aufsätzen ohne weiteren Zusammenhang und durch-
gehenden Plan.
Die Enttäuschung hat diese Anzeige dann über Gebühr verzögert;
glücklicherweise nicht zu großem Schaden für die Fachgenossen.
Denn der Verfasser gibt hier nur gesammelt heraus, was er in frü-
heren Jahren in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat, so den
später Lebenden eine pietätvolle Mühe sparend. Die Leser der re-
vues arch^ologique, numismatique, critique, des Etudes grecques, so-
wie des bulletin de correspondance hell^nique und des numismatic
chronicle kennen die meisten Aufsätze. Aus entlegeneren Zeitschriften
(der gazette des beaux arts und der revue des 6tudes juives) sind
nur wenige Beiträge geflossen ; neu sind, wie es scheint, zwei Vorträge.
Trotzdem wird mit mir Mancher dem Verfasser für die Sammlung
dankbar sein, und nicht nur derjenige, dem sie das lästige Nach-
schlagen in den Zeitschriften gegebenen Falls erspart. Wie Alles,
was Th. Reinach schreibt, sind diese Aufsätze anregend und fördernd.
Wenn sie das Ziel, was ich ihnen wünsche, erreichen, und in ihrem
einheitlichen Gewände weiteren Kreisen den Nutzen der Münzkenntnis
eindringlich vor Augen führen, so hat die Sammlung ihre Existenz-
berechtigung.
Natürlich sind die 25 Aufsätze und Aufsätzchen nicht gleich-
wertig. Einzelne konnten ohne Schaden wegbleiben. So ein kurzer
Nekrolog auf L. de Hirsch (No. 25) und die litterarische Hinrichtung
eines Plagiators gewöhnlichster Sorte oder wohl wegen seiner Frech-
heit ungewöhnlichster Sorte, dessen Elaborat kaum in Jemandes
Händen sein dürfte (No. 24). Weiter die Notiz über Talaura (No. 12)
und die sechs Seiten über die Neokorate von Kyzikos. >L'histoire
par les monnaies« wird durch sie nicht gerechtfertigt oder gefördert.
Anderen Aufsätzen hätte man kräftigere Aufpolierung gewünscht.
Zwar versichert der Verfasser, er habe alle einer aufmerksamen Re-
vision unterworfen und das Werk sei nun wieder au courant de la
science, doch hat schon ein früherer Kritiker des Buches (Regling
in der Wochenschrift für klass. Philologie 1903, 313 f.) einige Fälle
angemerkt, wo den inzwischen erschienenen Publikationen nicht ge-
nügend Rechnung getragen ist ; andere lassen sich anfügen. Die we-
nigen Nachträge an Schluß der Sammlung stellen wohl manchmal die
ganze Neubearbeitung dar^). Doch kann es nicht meine Aufgabe
1) So findet sieb erst am Schluß des Baches ein Nachtrag aas der Zeit-
schrift für Namismatik XXI = 1898 für den 14. Aufsatz, trotzdem er ausdrück-
lich den Vermerk »refondu* trägt. — Der 2. Aufsatz behandelt zwei Exemplare
668 Gott. gel. ABZ. 1906. Nr. 8
sein, Nachlese zu halten und auch auf Einzelheiten möchte ich am
Schluß nur kurz eingehen. Lieber hebe ich ausdrücklich hervor, daß
einige Aufsätze noch jetzt ihren yollen Wert behalten haben, und
wie zur Zeit ihres ersten Erscheinens so auch heute nicht nur Me-
thode lehren, sondern auch in ihren Resultaten gültig sind. Dahin
gehören die gediegenen Forschungen über das Wertverhältnis der
Edelmetalle zu einander (No. 4 und 5), über kleinasiatische Dynastien
der hellenistischen Zeit (No. 11, 14, 15, 21), über eine Münzkrisis im
dritten nachchristlichen Jahrhundert (No. 18) und eine archäologische
Untersuchung über die kauernde Aphrodite (No. 16).
Zu allgemeinen Bemerkungen fordert Yor allen das Vorwort ans
dem Herbste 1902 heraus, das den heutigen Reinach, nicht den An-
fänger in numismatischen Studien zeigt, und weiter kommt ein Vor-
trag rhistoire grecque et la numismatique (No. 1) in Betracht. Auf
sie möchte ich kurz eingehen.
» Une etude camplexe et delkcUei wird hier die Numismatik genannt.
Niemand wird es bestreiten. Auch die weiteren Bemerkungen gibt jeder
Kundige zu, daß die Schlüsse noch sehr der Aenderung unterworfen
sind und daß die Gelehrtenwelt im allgemeinen von der Numismatik
nichts wissen will, ihr eine defaveur persistante, ein prejugS entge-
genbringt und s^obstine ä regarder la numismcUique comme une itude
d'amcUeurs, placee en dehors et ä coti des sciences serieuses. Aber
diese Mißachtung besteht nicht etwa, weil neue Funde von Münzen
oder Inschriften das Schlußgebäude umwerfen können, weil wir mit
andern Worten Mangel an Material haben, und auch nicht weil viele
Numismatiker sich, zu bescheiden, mit dem bloßen Sammeln, Be-
schreiben und Erklären begnügen. Nein, die Mißachtung stammt aus
der Ueberfülle des Materials, aus dem Unvermögen der Meisten, das
riesige vorhandene Material zu gebrauchen, weil es noch nicht ge-
sammelt und gesichtet ist. Wozu sollen wir uns selbst täuschen?
Eine der reichsten und reinsten Quellen kann heute die Altertums-
der Themistokles-Münze ; in der Zeitschr. f. Num. XXI 1898 ist ein drittes yer-
öffentlicht. — Der sehr veraltete 8. Aufsatz über die Strategen auf attischem
Gteld weist zwar auf Preuners und Kirchners ihn widerlegende Abhandlungen hin,
(Rhein. Mus. 1894 und Zeitschr. für Num. 1898), setzt sich aber mit ihnen nicht
auseinander. HiUs kurze Abweisung der Keinachschen Theorie (handbook 124
vom Jahre 1899), Babelons zögernde Zustimmung (traits 838 vom Jahre 1901)
sind gamicht erwähnt. Ebenda fehlt Macdonalds Aufsatz über die Amphoren-
buchstaben aus dem Num. chronicle 1899. DaB in Athen dreizehn Tribns etwa
von 255 — 200 v. Chr. bestanden haben statt von 229—200, hätte schon bei dem
Erscheinen des Aufsatzes nicht stehen bleiben dürfen ; in der Sammlung des Jahres
1902 macht es sich nach Bates, the fives postkleisthenian Tribes 1898 nicht schön.
(S. 106»).
Th. Reinach, Phistoire par les monnaies 669
Wissenschaft noch nicht fördern und treiben, weil sie noch nicht ge-
faßt und von Unrat gesäubert ist. Wir sind in der Verwendung der
Numismatik für alle Zweige der Altertumswissenschaft erst auf der
Linie, auf der wir in der Verwendung der Epigraphik vor dem In-
schriftencorpus standen. Und die Folgeerscheinung ist denn auch
ganz dieselbe — die Mißachtung der Disziplin. Man braucht heut-
zutage im allgemeinen wohl einmal eine Münze oder eine Münzgruppe
wie früher eine Inschrift. Das macht sich hübsch als dekorative Zu-
tat und zeigt den betreffenden Gelehrten als versierten Mann ^). Aber
gründlich eine Frage durch ein großes Feld des numismatischen Ge-
bietes hindurch zu verfolgen und so zu großen Resultaten zu kommen,
ist für den Historiker wie für den Nationalökonomen, für den Ju-
risten, Chronologen, Sprachforscher, kurz für Jeden unmöglich, oder
nur möglich auf Grund sehr mühsamer, sehr geduldiger Sammel-
arbeit, und selbst diese führt kaum zum Ziel. Ja, wir stellen auf
allen Gebieten noch nicht einmal die richtigen Fragen. Die Erkenntnis,
daß die großen sicheren Ergebnisse von den ygros baiaUlons bien
disciplines et bien diriges< erzielt werden, ist ziemlich allgemein und
natürlich auch bei Reinach zu finden, dessen Worte ich eben zitierte.
Hat er die Konsequenz gezogen? Nein, oder doch nur vereinzelt.
Er bekämpft sie sogar. Wohl findet sich bei ihm der Satz: die
Münze sei vor allem Geld; als historisches archäologisches mytholo-
gisches Dokument komme sie erst in zweiter Linie in Betracht. In
den Aufsätzen aber stellt er an die Münzen historische, archäologische,
chronologische, mythologische Fragen und nur wenige, allerdings
treffliche Aufsätze gehen auf das eigentliche Wesen der Münze ein.
Und doch liegen die Themata so nah. Die Numismatik muß das
Beste dazu tun, um die verlorene Handelsgeschichte des Altertums
wenigstens in großen Zügen wieder zu gewinnen. Warum wählt
Reinach so wenig Themata aus diesem Gebiet? Die Antwort ist
einfach; die gros bataillons bien disciplines et bien diriges sind eben
noch nicht vorhanden. Und so lange das nicht der Fall ist, so lange
das Corpus fehlt, das das gesamte Material nach Zeit, Gewicht und
Bild durchaus zuverlässig und leicht übersichtlich vorführt, so lange
fragen wir das antike Geld nur Nebenfragen. Erst wenn wir die
1) Dahin gehören auch einige der Keinachschen Aufsätze: No. 14, on non-
veau roi'de Bithynie, ist eine rein historisch, saaber durchgeführte Untersuchung,
der als Anhang einige Münzbeschreibungen beigegeben sind. No. 16, Tauteur de
la Venus aecroupie et le type des monnaies royales de Bithynie, gewinnt für die
Kunstgeschichte in feingeführtem Beweise den Künstlernamen Doedalses aus dem
verderbten Daedalus zurück; zu dem Beweise trägt die Numismatik nichts bei,
und nur zur Zeitbestimmung wird sie am Schluß herangezogeiL
670 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
wichtigen sekundären Prägungen, die Ueberprägungen und Nach-
stempel des eignen Staates und der fremden Staaten übersehen,
werden aus ihnen und den Münzfußveränderungen, aus Funden und
Typennachahmungen die richtigen Schlüsse auf Handel und Wandel
gezogen werden können. Erst dann werden an die Münzen die großen
Fragen der Religionsentwicklung eines Landes, des Münzrechts, der
Eunstentwicklung u. s. w. u. s. w. gestellt und beantwortet werden. Ma-
terial ist schon jetzt genug vorhanden und neuauftauchende Münzen
werden die aus ihm zu gewinnenden Schlüsse viel weniger umstoßen,
als neue Steine die Resultate der Epigraphik; nur gesammelt muß
es werden und gesichtet. Das corpus numorum ist die dringendste
Forderung.
Reinach ist nicht derselben Ansicht. Ihm hat sich bei seinen
Studien eine Teilung der Disziplin in numismcUique pure et numis-
nuxtique appliquee ergeben. Die erstere beschreibt, klassifiziert und
erklärt die Münzen, ihr letztes Wort ist das corpus numorum
veterum. Im Grunde ist sie inferieur und, wenn Reinach es auch
nicht sagt, das Bild, das der alte Chronist vom Bischof von Kulm
entwirft: »er sass uff seinem Schlosse zu Lube und besag die fremde
und seltsame Muntze, die er hatte. Dys that er mehr aus Tumbheit,
denn anders warumb*, schwebt ihm wohl vor Augen. Nur die letz-
tere — die numisnxatiqiie appligtUe — trouve reelletnent sa raison d'etre
et sa pleine justification.
Mommsen hatte eine andere Auffassung. >Es ist im ganzen
Kreis der Altertumswissenschaft, so referiert er im Jahre 1880 über
die wissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie (Reden und
Aufsätze S. 100), keine Stelle, wo ein solches Zusammenfassen (des
gesamten Materials) so dringend gefordert würde als hier«. Und
Mommsen hat, wie Reinach im andern Zusammenhang selbst aner-
kennt (S. 19), mit Wort und Tat bis zuletzt die Verwirklichung
dieses Zieles erstrebt. Sollte der Verfasser des Römischen Münz-
wesens so sehr die wissenschaftliche Materialsammlung überschätzt
haben, oder sollte Reinach bei der Empfehlung seiner Aufsätze im
Eifer ein erhebliches Stück zu weit gegangen sein?
Gewiß, es läßt sich darüber streiten, ob unsere jetzige Art, ein
Münzcorpus zu machen, die richtige ist. Ich persönlich halte sie für
falsch, obgleich oder gerade weil ich Mitarbeiter bin. Wir arbeiten
zu schwerfällig und haften viel zu ängstlich an den in anderen
Disziplinen, besonders in der Epigraphik gewonnenen Darstellungs-
formen. Wir hemmen unnötig den Fortgang des Unternehmens durch
die Verwertung alter literarischer Zitate und durch überflüssige Häu-
fung von Belegen für die einzelnen Münztypen. Wir ermüden uns und
Th. Reinach, I'histoire par les monnaies 671
belasten überflüssigerweise das Corpus durch Registrierung von ganz
gleichgültigen Abweichungen in der Trennung der Münzlegende. Und was
dergleichen noch mehr ist. Aber darauf kommt es hier nicht an. Ein
Gelehrter von dem Ansehen Reinachs, der selbst einmal auf klein-
stem Gebiete den Gorpusarbeiter spielt, und es für etwas wissen-
schaftliches hält, in längerem Aufsatz drei falsche Münzlegenden aus
der Literatur auszumerzen (sonst hätte er No. 17, n^ocorats de Cyzi-
que, wohl nicht wieder abgedruckt), Reinach, meine ich, sollte nicht
so absprechend urteilen. Er beeinflußt andere weniger Bewanderte
und macht durch solch schiefes Urteil den Nutzen seiner Aufsätze
wieder zu nichte.
Ohne das corpus werden die wichtigsten Fragen überhaupt nicht
gestellt werden können; eine Reihe anderer wird ohne es immer
wieder falsch gestellt. Viel zu leicht erscheint bei der Betrachtung
der einzehien Münze die schwerverständliche Sprache des Geldes und
leichtfertig fragen wir die einzelnen Münzen nach Dingen, die sie
nicht beantworten können. Reinach gibt auch dafür klassische Belege.
Von dem Größten der Athener, Themistokles, sind in letzter
Zeit drei Münzen zu Tage gekommen, die er als persischer Untertan
in Magnesia hat schlagen lassen. Reinach hat sie über den Charakter
ihres Prägeherrn ausgefragt (S. 8 f.) und da eine gefüttert ist, so
bestätigt sie ihm merveilleusement die Anekdotenliteratur über den
astucieux et fecond caractere. La numismcUique faurnit ainsi ä Vhi-
stoire une illustration piquante et inattendue. In Wirklichkeit liegt
eine solche Bestätigung den wenigen Münzen durchaus fem. Einmal
kann das plattierte Stück gut und gern von einem privaten Falsch-
münzer herrühren. Aber auch wenn viele ihm gleichartige zu Tage
treten sollten, ist ein Rückschluß auf den Charakter unzulässig.
Einen Notstand mögen sie kennzeichnen, wenn sie in Massen auf-
treten, weiter nichts. War Livius Drusus qui in tribunatu plebei octa-
vam partem aeris argento miscuit etwa ein astucieux et fecond caractere?
Ist Nero ein Betrüger, weil er das Gewicht des Denars verringerte?
Gewiß, man sagt auch dies. Aber wer weiß denn heute etwas von
den Metallrelationen jener Zeit, die vielleicht uns eines Tages bei
besserer Kenntnis die Gewichtsminderung als eine äußerst verstän-
dige Finanzmaßregel erscheinen lassen werden. Jede Notstandsmünze
macht nach diesem Rezept, die Geschichtskenntnis zu erweitem,
ihren Verfertiger zum Schelm; wer mag das unterschreiben? Ueber
moralische Eigenschaften darf man Geld in solcher Weise nicht be-
fragen.*)
1) Reinachs Aufsatz No. 23 handelt über das Bißptuveiov. Bekannt ist nur,
das mit dem Wort irgendwo einmal schlechtes Geld bezeichnet ist, und wahr-
672 Gott, gel Ans. 1906. Nr. 8
Gewiß, auch über Charaktereigenschaften gibt das Geld Aufschloß.
Es kann das Bild des Einzelnen wie der Massen deutlich machen.
So, meine ich, versinnbildlicht uns die starke Goldprägung Philipps
von Makedonien — eine für Griechenland einschneidende Neuerung,
die ihre Spitze gegen das in Griechenland nur zu sehr geliebte Per-
sergold richtete — den weitschauenden, großen Zielen nachgehenden,
energischen König. So kennzeichnet das Herumexperimentieren mit
verschiedenen Münzfüßen den unruhigen Diokletian. Und die Ver-
mehrung der Titel auf den Münzen der späteren hellenistischen Kö-
nige ist das Zeichen eines in Blüte stehenden hohlen höfischen Trei-
bens, einer eitel gewordenen, dem Schein nachjagenden Welt. Nicht
aber ist sie charakteristisch für die einzelne Person; oder nur in
sehr beschränktem Maße etwa für den ersten der Könige mit dem
titelgefüllten Geld.
Zwei andere Beispiele mögen die Unterstützung zeigen, die die
Münze bei dem Charakterisieren der Massen gewährt. Im achäischen
Bund des 3./2. Jahrhunderts v. Chr. gibt es Bundesgeld in Silber und
Kupfer, das in mehr als 40 Prägstätten der Mitglieder geprägt wird.
Nach Gewicht, Korn und Hauptbild ist es durchaus einheitlich, in
der Schrift aber zeigt es Unterschiede derart, daß auf dem Silber
neben dem Bundesmonogramm X das Beizeichen der prägenden Stadt,
auf dem Kupfer gar neben dem gemeinsamen Namen AXAIOl der
vollausgeschriebene Name der einzelnen Städter Sixoibvtot, Alfstpitai
steht. Nimmt man hinzu, daß außer diesem von der Mitwelt sehr
bewunderten Bundesgeld nun noch von einzelnen Städten eigenes
Geld verausgabt ist, so hat man eine treffende Illustration zum
Partikularismus der Griechen, derjenigen üblen Eigenschaft, die ihre
politische Macht vernichtet hat.
Das andere Beispiel. Auf Sizilien prägen die phönizischen Städte
Motye und Panormus im 5. Jahrhundert Geld mit griechischer und
Geld mit phönizischer Schrift, Solus zunächst nur mit griechischer
Schrift Mit und nach dem großen Karthagervorstoß der Jahre 409
bis 406 tauchte eine weit größere Menge von Münzen mit verschie-
dener punischer Schrift auf. Einmal Großgeld mit eigenen, den
scheinlich ist, daß es seinen Namen einem Thibron verdankt. Es gehört schon
die Kunst, Gras wachsen zu hören, dazu, auf diese beiden Merkmale hin einen
Aufsatz zu schreiben. Aber der Kunst glauben ja yiele mächtig zu sein, und so
ist das Btßpcovctov fast ein Lieblingsthema der Numismatiker geworden und jeden-
falls zulässig. Völlig unzulässig aber ist, nun von den beiden Thibrons, über
die die Geschichte dunkle Kunde erhalten hat, den ungetreuen Offizier des unge-
treuen Harpalos auszusuchen, weU das schlechte Geld »admirablement an canu^
t^re sc^l^rat du Thibron IIc pafit. Da ist die Münze wieder überfragt
Th. Reinach, i'histoire par les monnaies 678
Griechen Siziliens fremden Bildern, wie der Dattelpalme, dem Löwen,
dem Pferdekopf und mit Bildern von Syrakus, Akragas oder in spä-
terer Zeit mit dem Herakieskopf des weitverbreiteten Alexander-
geldes. Zum andern finden wir vielerlei Kleinsilber mit einheitlicher,
wenig hervortretender Aufschrift und den Hauptbildern vieler in die
Gewalt der Karthager geratenen Städte wie Himera, Akragas, Gela,
Kamarina. Was lernen wir?
Der Punier, sei er nun Sidonier oder Karthager, hat von Homer
bis auf Livius den traurigen Ruf eines betrügerischen, perfiden
Menschen. Daß damit die mächtige Kaufmannschaft zu Unrecht
charakterisiert war, die es verstand, das Westmeer zu ihrem Meere
zu machen, und den Griechen und ganz Italien ein halbes Jahrtausend
Paroli bot, hat sich wohl Jeder gesagt. Aber die Schriftsteller halfen
80 wenig zur besseren Ausmalung des Bildes, helfen hier die Münzen?
Ich meine, ja. Man glaubt den vorsichtigen Kaufmann des 5. Jahr-
hunderts zu sehen, der im fremden Lande das neue Verkehrsmittel
des Geldes anwendet, das er im eigenen Lande zu gebrauchen noch
ablehnt, der aber das Sein dem Schein vorzieht und auf einen Teil
seines Geldes ruhig griechische Schrift setzt, weil er weiß, so ge-
winnt es schneller und besser Kurs in den gewiß kaum zur Hälfte
semitisierten sizilischen Städten Panormus, Motye, Solus. Dann
kommt der kriegerische Erfolg der Jahre 409 — 406 und man glaubt
das Erwachen des Chauvinismus in der starken punischen Prägung
zu sehen, die einsetzt. Und doch behält ihm gegenüber die kühle
Ueberlegung der Handelsherren die Oberhand, die den geregelten
Verkehr nicht in Frage stellen will. Darum bleiben auf dem Klein-
silber des Lokalverkehrs die altgewohnten rein griechischen Bilder,
des Adlers von Akragas und des Hahnes von Himera, des Fluß-
gottes von Gela und des Schwanes von Kamarina, und nur versteckt,
fast absichtlich unauffällig steht die punische Legende in irgend einer
Ecke; ja in dem sizilischen Hauptplatz Panormus geben die Kar-
thager gar auch kleine Münze aus, die griechische und punische
Schrift hat. Darum, um den Verkehr nicht zu gefährden, werden
auch auf dem Großgeld die eigenen Typen bisweilen bei Seite ge-
schoben, und statt ihrer und neben sie die Typen von Syrakus und
vom Weltgeld des Alexander genommen. Man sieht, der Verstand
bestimmt das Denken und Tun dieser großen Kaufleute; in dem
Charakter der Gesamtheit dominiert die kühle Ueberlegung über
chauvinistischen Trieben.
Doch genug. Emwendungen gegen einzelne Behauptungen in
den Aufsätzen Reinachs sind noch viele zu machen; sie führen zu
Odtt gel. Ans. 1906. Nr. 8 47
674 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 8
weit. ^) Zusammenfassend läßt sich von der Sammlung >rhi8toire par
les monnaies« sagen, daß sie nicht gerade mustergültig ist, weniger
weil sie veraltet als weil sie zuweilen methodisch falsche Fragen an
die Numismatik stellt, daß sie aber sicher anregend auf weitere Kreise
wirken kann, und darum gern zum Lesen empfohlen werden soll,
Giessen Max L. Strack
1) S. 7. Das Fehlen des Porträts auf Münzen vor 300 wird damit erkl&rt,
daß rigaliti democratique füt choquie et peut-Hre la conscience reUgieuae füi
inquiitie. Das ist selbst für einen Vortrag zu wenig gesagt und wird dem großen
Problem der Menschenvergöttenmg, die in dem Wechsel des M&nzbildes ihren
Ausdruck findet, zu wenig gerecht. — S. 11. Die Kopien von Bildwerken auf
Münzen sind gewiß in ihrer Mehrzahl nicht getreu, aber wenn wir getreue finden,
so stammen sie von Münzen der römischen Eaiserzeit, nicht aus der großen grie-
chischen Periode des 5. und 4. Jahrhunderts; das mußte schärfer hervorgehoben
werden. — S. 12. Die Münze von Anchialos mit dem Hermes des Praxiteles kenne
ich nur in einem Exemplar, und auf ihm [wenigstens auf dem mir vorliegenden
Abdrucke] ist gerade der Gegenstand der rechten Hand undeutlich. Der Satz,
eette copie ne laisee aucun doute eurla restitution du bras mutiU kann ich also
nicht unterschreiben. Ist es, nebenbei gefragt, so sicher, daß diese Anchialos-
Münze den Praxitelischen Hermes genau wiedergiebt? Die hohe Stütze läßt
starke Zweifel zu. — S. 189 f. Zur Zeitbestimmung des Doedalses werden die
Bithynischen Münzen herangezogen. Auf ihnen ist seit der Zeit des Prusias I
eine Zeusstatue, die möglicherweise — oder zugegeben sei es — wahrscheinlicher-
weise der Zeus Stratios desselben Künstlers ist. Also, schließt Reinach, Doedalses
gehört in die Zeit des Prusias I, denn vorher auf Münzen des Nikomedes I und
der einzigen von Ziaelas findet sie sich nicht Ist der Beweis bündig? M. E. nicht,
und wieder hat man das Geld mehr gefragt als es antworten kann. Alexander
der Große hat auf sein Gold Athenas Kopf und Nike in ganzer Figur gesetzt, auf
sein Silber den sitzenden Zeus mit dem Adler auf der Rechten; von seinen Vor-
fahren hat nur Philipp II den Kopf des Zeus, sonst bedienen sie sich anderer
Münztypen. 1st darum der sitzende Zeus und die Nike unter Alexander kompo-
niert? — S. 118. AOKl auf der Münze eines thrakischen oder makedonischen
Stammes als («^xtfAov ^argent contröU, de ban oioic zu erklären, ist wohl unmög-
lich. Die alte Erklärung als Anfang eines unbekannten Häuptlingsnamen muß
bestehen bleiben. — S. AKPAFAZ wird als Bezeichnung der Stadt abgelehnt,
weil Stadtnamen im Nominativ auf Münzen nicht vorkämen. Ein Blick in Bout-
kowskys Peüt Mionnet, der auf Seite S — 6 257 Namen im Nominativ zusammen-
trägt, belehrt eines Besseren. Gewiß lassen manche von ihnen eine andere Er-
klärung zu^ aber »un jpareil emploi manquerait d^analogits* ist reichlich stark.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwartz in Göttiagen
September 1906 Nr. 9
Wilbelm Helnse, Sämtliche Werke, hrsg. von Karl Schüddekopf. U.
Bd.: Begebenheiten des Enkolp. Die Kirschen. Erzählungen. Leipzig 1903,
Insel-Verlag. IX. Bd. : Briefe. Erster Band bis zur italienischen Reise, a. a. 0.
1904. 6 Mk. und 8 Mk.
Die stattliche Heinse-Ausgabe, deren drei zuerst erschienene
Bände (IV. V. VI) ich in dieser Zeitschrift 1903 Nr. 9 S. 736 flF. an-
gezeigt habe, schreitet nur sehr langsam fort. Nachdem noch im
Jahre 1903 ein vierter Band erschienen war, ist im folgenden ein
Briefband ausgegeben worden^ dem in demselben Jahre 1904 der
zweite und letzte folgen sollte. Dieser ist aber bis heute nicht er-
schienen; und es ist endlich Zeit, auf die Ausgabe zurückzukommen.
Der zweite Band enthält das einzige Werk von Heinse, zu dem
eine vollständige Handschrift erhalten ist; nämlich >Die Kirschenc.
Aus ihr hat der Herausgeber II 294, 14 einen Vers ergänzt, der im
ersten Druck nur durch ein Versehen ausgefallen war und durch den
Reim gefordert wird. Umgekehrt fehlen aber in der Handschrift die
Verse 313,18—26, die anzeigen, daß Heinse die Dichtung in der
Druckvorlage erweitert und überarbeitet hat. Ich würde deshalb auch
298,13 das »Und« des ersten Druckes, das nach der Parenthese un-
mittelbar das letzte Wort wiederholt, nicht zu ändern für nötig
halten. Dagegen hat Scliiiddekopf 305, 19 mit Recht >den< in >dem<
geändert, gegenüber Handschrift und Druck: denn offenbar steht der
>eine< (Singular) den >andern insgesamt« (Plural) gegenüber, wie
in dem folgenden Beispiel >der< General >den< Tagedieben. In
den Lesarten sind die folgenden Druckfehler zu verbessern: S. 366,
Z. 1 von unten lies 281,2 (anstatt 282,1); 367, 5 f. lies >wenigen<
(anstatt >weniger<). Bei einigen Lesarten scheint der Herausgeber
die Interpunktion übersehen zu haben: fehlt 282,16 und 17 wirk-
lich der Punkt nach >verzeyhen< und >nüzUchsten< in der Hand-
schrift, wie 310,24 und 312,26 nach >Manns« der Punkt und nach
»Ohre der Doppelpunkt?
Voraus geht am Anfang des Bandes die Enkolpübersetzung, wo
OöU. gol. Anz. 1906. Nr. 9. 48
676 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 9
S. 269 Z. 14 »wie< Druckfehler (anstatt >wir<) und im kritischen
Anhang S. 361 Z. 7 von unten >Yon der schänderischen Hand< (an-
statt >von den schänderischen Hand«) zu lesen ist. In Ermangelung
des ersten Druckes habe ich den Enkolp zur Kontrole mit dem Neu-
druck von Adolf Weigel (Leipzig 1898) verglichen. S. 19 Z. 13 steht
das Komma nach »gereiniget« zwar auch hier, und also wohl auch
im ersten Druck, es entstellt aber den Sinn. S. 31, Z. 5 von unten
fehlt in beiden Drucken, also wohl auch in der Vorlage, das
Anführungs- Schlußzeichen, das die Rede des Agamemnon (seit
29, 3) kennzeichnet. S. 52, Z. 9 hat der Weigelsche Druck richtig
»ausmachte« für >ausmächte«, was nur ein Druckfehler sein kann,
entweder im ersten Druck oder bei Schüddekopf. S. 91, Z. 12
fehlt das Anführungs-Schlußzeichen bei Weigel; die Rede geht bis
93,7 von unten fort. S. 95, Z. 19 steht zwar in beiden Drucken:
»Sibylla ti delies «, es ist aber doch wohl »deleis« (^eXet^) zu
schreiben. Ebenso ist wohl S. 114 S. 7 anstatt >Ihr Gatte erlebte
den letzten Tag auf einem Landgute <, zu lesen: > verlebte <. Ist
das S. 251, Z. 3 von unten »führte sie mich zu sie< (anstatt: »zu
ihr«) richtig? ich finde kein Beispiel einer solchen Rektion bei
Heinse. S. 257, Z. 3f.: > nichts ist falscher, als dieser abgeschmackte
Wahn der Menschen und nichts ist abgeschmackter, als dieser ge-
heuchelte Strenge«, hat Weigel mit Recht: >als die geheuchelte
Strenge«; hier ist >dieser«, entweder im ersten Druck oder bei
Schüddekopf, aus der oberen Zeile auch in die untere geraten. Daß
Schüddekopf S. 73, Z. 5 >Eopfküßchen«, aber S. 78, Z. 1 von unten
und S. 141, Z. 18 >Kissen< stehen läßt, tadle ich nicht. Entweder
behalte man die Orthographie der ersten Drucke mit allen Wider-
sprüchen bei; oder man führe in allem, was nicht hörbar ist, die
moderne Orthographie durch. Die beliebte Ausgleichung der Ortho-
graphie nach der Mehrzahl der Fälle schafit nur Eonfusionen und
im besten Falle halbes Zeug; ganz abgesehen davon, daß die Fest-
stellung der Mehrzahl eine Arbeit ist, die ich nicht jedem auf Treu
und Glauben hinnehme. In der ausgezeichneten Säkularausgabe von
Schiller hat man z. B. >fodern< nach der Mehrzahl der Fälle in
> fordern < geändert; bei der Schillerausstellung in Wien 1905 habe
ich aber zufällig Manuskripte aus verschiedenen Zeiten in die Hände
bekommen, wo Schiller stets >fodem< schrieb. Es ist ein einfacher
Gewaltakt, dem Schriftsteller in Orthographie und Interpunktion eine
Konsequenz aufzuzwingen, die er nicht gehabt hat. Weit besser ist
es, ihn gleich von vornherein unserer heutigen Konsequenz, die ja
auch noch keine strenge ist, zu unterwerfen. Schüddekopf ist sehr
konservativ: er behält sogar »weise und nicht purpurfarbene Wolle«
Heinse, sämtliche Werke, hrsg. v. Schüddekopf 677
(= albus) S. 102, Z. 3 von unten, S. 93 Z. 12 von unten, S. 113
Z. 3, bei und verzichtet also auf das bei den modernen Schulmeistern
so beliebte Mittel, den Bedeutungsunterschied durch die Orthographie
anzuzeigen. So darf er auch das »Kissen< nicht von den >Küssen<
unterscheiden.
Den ersten Briefband, der ohne kritischen Anhang erschienen
ist, lege ich bis zum Erscheinen des zweiten zurück; und gebe nur
der Hoilhung Ausdruck, daß man in diesem über den Zuwachs von
neuen Briefen und über die früheren Drucke der schon bekannten
Briefe nicht blos im Allgemeinen, sondern von Nummer zu Nummer
genau orientiert wird. Bei einer modernen kritischen Ausgabe sollte
das ja selbstverständlich sein und dennoch geschieht das Selbstver-
ständliche nicht immer. In der schönen Ausgabe der Briefe der
Frau Rat zum Beispiel kann man sich die bisher ungedruckten Briefe
herausklauben, indem man sich einmal aus den Anmerkungen, dann
wieder aus dem Personenregister die Druckorte der schon bekannten
zusammensucht, was ein sehr zeitraubendes Geschäft ist. Es hätte
der Ausgabe in weiteren Kreisen wirklich nicht geschadet, wenn die
ungedruckten mit einem Sternchen und die schon gedruckten mit
der Chiffre des oder der früheren Drucke bezeichnet worden wären.
Es wird heutzutage so vieles zum fünften und zehnten Mal gedruckt,
daß man wirklich nicht verlangen kann, daß einer jedesmal das
ganze Corpus liest, wenn ein paar Briefe neu hinzugekommen sind.
Die Methode, die uns Zeit und Mühe erspart, ist die beste unter
allen, wenigstens für den kritischen Herausgeber.
Wien J. Minor
Bernhard Rudolf Abeken« Goethe in meinem Leben. Erinnerungen
und Betrachtangen. Nebst weiteren Mitteüungen über Goethe, Schiller,
Wieland and ihre Zeit aus Abekens Nachlaß, herausgegeben von Adolf
Heuermann. Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger, 1904. VHI, 278 S. 4M.
Diese Erinnerungen eines ganz und gar Goethe hingegebenen
Verehrers erinnern in mancher Hinsicht an die von Graef herausge-
gebenen Briefe des jüngeren Voss. Es ist dieselbe Neigung und
Fähigkeit, sich in das Wesen eines großen Mannes hineinzufühlen,
dieselbe Richtung der eignen Persönlichkeit, die in der Verehrung
des Großen ihr wertvollstes Leben erkennt. Aber ein bedeutender
Unterschied liegt darin, daß Abekens Eindrücke und Erinnerungen
durch das Medium späterer Reflexion und reiferer Lebensbeurteilung
hindurchgegangen sind; es fehlt das öfters allzu Naive der Voss-
48*
678 Gott. gel. A112. 1906. Nr. 9
sehen Aufzeichnungen, wobei die Bewunderung für Großes und
Kleines sich in fast kindlicher Weise vermischt. Dabei dürfte Abeken
trotzdem, wenn er in späterem AJter auf den Enthnsiasmns seiner
Jugend zurückblickte, sich sagen, daß er sich als acht bewährt habe,
daß er selber trotz des gereifteren Urteils doch in der Pflege jener
Erinnerungen noch einen Quell fortwirkender Lebenskraft schätze
durfte.
Goethe, dessen gesamte Persönlichkeit ja eigentlich erst seit
einem Menschenalter uns erschlossen worden ist, hat bei Lebzeiten
und unter der nächstfolgenden Generation wenige so feinsinnige und
so liebevoll eingehende Verehrer gehabt wie Abeken, der gerade ien
schwer verständlichen oder leicht angreifbaren Punkten im Wesen
des Dichters besondere Liebe widmete, um die zahllosen daran sich
heftenden schiefen oder bösartigen Urteile durch tieferes Verständnis
zu überwinden. Dabei hat er von Goethe zwar Wohlwollen, aber doch
bei weitem nicht die liebevolle Fürsorge und Nachsicht wie Hemrich
Voss erfahren. Seine Verehrung beruht nicht auf Dankbarkeit, son-
dern sie hätte sich das schon von Goethe selbst ins Ernste ge-
wandte Wort aneignen können: >Wenn ich Dich liebe, — was gehts
Dich an?<
Abeken, in Osnabrück geboren, bezog 1799 die Universität
Jena. Die gewaltige geistige Potenz, die sich damals dort konzeat-
triert hatte, wirkte mächtig auf ihn, besonders Schellings Lehre und
Vortrag. Aber noch mehr fühlte er sich zu der geistigen Sphäre
Goethes und Schillers ehrfurchtsvoll hingezogen, und es blieb ihm
zeitlebens eine der wertvollsten Erinnerungen, daß er einmal in
Griesbachs Hause mit beiden Dichtem zusammen als Gast weQen
durfte. Nachdem er dann von 1802—1808 in Berlin gelebt, wo sich
seine Abwendung von der Romantik und die unbedingte Hingabe an
Goethe entschied, wirkte er von 1808—1810 als Erzieher der Schiller-
schen Söhne in Weimar und gelangte in dieser Zeit auch zu näherem
persönlichen Umgang mit Goethe. Daß er damals in der Tat schon
zu tieferem Verständnis Goethes vorgedrungen war, bewies er da-
durch, daß er einer der Wenigen war, der die von den Zeitgenossen
so seltsam verkannten und mißverstandenen >Wahlverwandt8chafteBc
schon bei ihrem Erscheinen richtig zu schätzen wußte. — Von 1810
bis 1815 war Abeken dann am Rudolstädter Gymnasium tätig, wo
er dem Goetheschen Kreise auch noch nicht ganz entrückt war.
Darauf in seine Vaterstadt zurückgekehrt, hat er mit einer nie ver-
blassenden Erinnerung seine Thüringer Lebensjahre stets hoch und
wert gehalten.
In seinen Aufzeichnungen sind die eigentlichen Reminiszenzen
Abeken, Goethe in meinem Leben 679
an Ooethe nicht grade bedeutend. Ihm selbst waren besonders
wertvoll die Fälle, in denen er durch eigene schriftstellerische
Aeußerungen, Rezensionen u. s. w. Goethes Wohlgefallen erregt hatte.
Für uns sind seine Reflexionen gehaltreicher als das beigebrachte
tatsächliche Material. So wird man über daß Problem >Frau von
Stein und Christiane« selten so verständnisvolle und wohl abge-
wogene Urteile finden wie die Abekens, während noch neuerdings
Christiane durch Bielschowsky eine so stark voreingenommene Beur-
teilung erfahren hat.
An die Goethe-Erinnerungen schließt sich als zweiter Teil der
erste originalgetreue Abdruck der Aufzeichnungen von Abekens
Gattin über ihre mit Schiller geführten Gespräche. Unter dem
Mädchennamen — Christiane von Wurmb — der Frau Abeken waren
diese Gespräche schon in Caroline von Wolzogens Schillerbiographie
veröffentlicht worden ; jedoch — wie wir jetzt erfahren, mit manchen
Aenderungen. Sehr bedeutend waren diese Aenderungen freilich
nicht; um so weniger erscheinen sie uns heute begreiflich. Laien
in der Editionskunst finden oft den unveränderten Abdruck »klein-
lich«, in Wirklichkeit aber sind grade derartige Aenderungen klein-
lich. Es ist allerdings fraglich, ob Frau Abeken Schillers Gedanken
immer richtig wiedergegeben hat; aber die Nachhilfe einer dritten
Person konnte daran nichts bessern.
Es folgen noch > Weitere Mitteilungen über Schiller und seine
Familie (aus Abekens Tagebuch und Briefwechsel)«. Wie fein Abeken
zu urteilen weiß, möge ein Beispiel zeigen (S. 204. 205): >In den
vortrefflichen Briefen, mit denen Schiller die Korrespondenz mit
Ooethe eröfihet, erregt doch eine Stelle mir Anstoß. ,So wie Sie
von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so
mußten Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuiti-
onen umsetzen und Gedanken in Gefühle verwandeln,
weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann'.
Sollte es so, ich möchte fast sagen, mechanisch bei Goethe zuge-
gangen sein, bei ihm, der eine wahre Dichternatur ist? Schiller
ging hier wohl zu sehr von Beobachtungen aus, die er in ähnlichem
Falle an sich selbst gemacht hatte«. Scharf urteilt Abeken über
Gervinus, doch nicht ungerecht: >Gervinus, der Deutsche, hat den
Fremden, Shakespeare, recht eigentlich zu seinem Götzen gemacht.
Wo er nicht umhin kann, Fehler in ihm zu finden, fehlt es ihm nie
an einer Entschuldigung oder Rechtfertigung. An dem Deutschen
erfindet er Fehler, oder natürliche Schwächen macht er zu solchen <.
Ueberall aber in Anerkennung wie im Tadel bleibt Abeken sich
680 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
selbst getreu; er ist einheitlich in seinem Fühlen, Denken und Ur-
teilen.
Ein Brief Ottiliens von Goethe (4. Juli 1861) an ihn schließt
das Buch. Nach einer begeisterten Charakteristik ihres > Vaters«
fügt die Schreiberin hmzu: »Der Name Äbeken ist längst in un-
serer Familie ein Name, den wir mit herzlicher Liebe und Dank
barkeit aussprechen«. Dieser Dankbarkeit wird sich jeder Leser
heute gern anschließen.
Stuttgart 0. Harnack
Maria Raieh, Fichte, seine Ethik und seine Stellung zu dem
Problem des Individualismus. Tübingen , J. C. 6. Mohr (Paul
Siebeck), 1905. VU, 196 S. 4M.
Die Verfasserin gibt eine Darstellung der Fichteschen Ethik.
Mit Recht läßt sie einmal alle Fragen nach der historischen Be-
dingtheit und den zusammenwirkenden Einflüssen bei Seite und
unternimmt den Versuch einer rein immanenten Darstellung. Es ist
das bei einem so geschlossenen und zentral arbeitenden Denker auch
durchaus in der Ordnung. So fällt als ungesuchtes, aber nicht un-
wichtiges Nebenergebnis die Einsicht in die innere Einheit und kon-
sequente Entwickelung des Fichteschen Denkens ab: sein Ichbegriff
bereichert und expliziert sich, geht aber nicht aus dem Rahmen der
ursprünglichen Konzeption heraus, sondern entfaltet diese nur in
ihren Konsequenzen. Die Einflüsse von Kant, Jacobi, Schleiermacher,
Pestalozzi und Rousseau sind dabei nicht geleugnet, sondern nur
ihre konsequente Assimilierung behauptet. Die zahlreichen großen
und kleinen Widersprüche, die jedem Unternehmen einer System-
bildung anhaften müssen, sind dabei gleichfalls nicht übersehen, son-
dern überall mehr oder minder deutlich betont, im Ganzen aber mit
Löwe als > Widersprüche im System und nicht gegen das System<
bezeichnet. Freilich hätte gerade bei dieser Frage die Darstellung
schärfere Linien annehmen müssen; es ist vieles in Anmerkungen er-
örtert, was in den Text gehört, und auch bei der Behandlung dieser
Dinge im Text ihnen nicht der nötige Nachdruck gegeben. Gerade
einer immanenten Darstellung, die die Widersprüche nicht als Fugen
der Komposition, sondern als Näte des Gedankens betrachten muß
und nur dadurch den Gedanken selber fortentwickeln kann, wäre
das sehr zu wünschen gewesen. Eine bestimmtere Stellungnahme
Raich, Fichte 681
ZU den Erkenntniszielen Fichtes und eine stärkere Charakterisierung
der dabei zu Überwindenden oder sich ergebenden Schwierigkeiten
würde der Arbeit mehr Charakter und Nachdruck gegeben haben.
Sieht man aber davon ab, so ist die Darstellung außerordentlich
fein durchgedacht, vollständig und gut aufgebaut. Die Verfasserin
entwickelt zunächst die Grundzüge des Fichteschen Denkens, dessen
Charakter sie in der unlösbaren Verschmelzung der theoretischen
und praktischen Philosophie erblickt; dann die theoretische Speku-
lation und schließlich auf der vorbereitenden Grundlage der Rechts-
lehre die praktische Philosophie oder Ethik. Hier ist freilich nicht
alles ganz durchsichtig und die Einteilung der Darstellung nicht
zweckmäßig, insofern die > allgemeine Charakteristik € noch neben
>der Dar8tellung< einen besonderen Paragraphen bildet und die Re-
ligionslehre etwas stiefmütterlich behandelt ist. Oft sind größere
Zitate gegeben oder es wird mit Fichtes eigenen Worten geredet,
wo gerade eine Erklärung und erläuternde Umschreibung dringend
nötig gewesen wäre. An die Darstellung der Ethik reiht sich die
besondere Behandlung des Individualitätsproblemes bei Fichte. Es
ist von der Verfasserin wesentlich als ethisches Problem der Wertung
des Individuums im Verhältnis zu der nur in der Gesamtheit auszu-
gestaltenden objektiven ethischen Idee aufgefaßt. Die allgemeine theore-
tische, logische und metaphysische Bedeutung der Individualisation ist
dabei nur gestreift; die dieses Problem ausführlich behandelnde Arbeit
von Lask > Fichtes Geschichtsphilosophie« gar nicht erwähnt. Es
handelt sich mehr um das Problem des Verhältnisses von Indivi-
dualismus und Sozialismus, das die Verfasserin mit Recht nicht fur
ein eigentlich Fichtesches Problem hält, da für Fichte alles an den
objektiven Werten der Idee liegt. Sehr gut ist aber betont, wie
weit Fichte hierbei doch in der Wertung des Individuellen geht.
Der ethische Wert der individuellen Persönlichkeit, die Bedeutung
der Heroen in der Geschichte, die Notwendigkeit der Massenhebung
und Erziehung, die Unsterblichkeit als Fortentwickelung des Indi-
viduums, alle diese Punkte sind fein hervorgehoben und ebenso
fein gegen die objektivistische, universale, demokratische und imma-
nente Tendenz Fichtes kontrastiert: »Und wenn die Persönlichkeit
doch keinen Wert an sich in seinen Augen besaß und sein Werten
derselben nicht definitiv zur Ruhe kam, so hielt er doch bei ihr
lange inne, bevor er über sie zur Gattung und zur reinen Vernunft
hinwegschritt« S. 177. Damit ist das große Problem des Fichteschen
und alles Denkens berührt, die rational-allgemeinen und die indi-
viduell-tatsächlichen Züge der Wirklichkeit zusammenzudenken, das
682 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
Rational-Deduktive und das Irrational-Originale gegenseitig zu durch-
dringen.
Hier hätte die Arbeit tiefer gehen können. Aber sie wollte
offenbar nicht selbst an den Problemen arbeiten. Sie wollte mög-
lichst getreu darstellen und mit treffenden Exzerpten belegen. Das
ist ihr jedenfalls in erfreulichem Grade gelungen; und, wenn auch
eine solche Arbeit die Kenntnis der Originale nicht ersetzen kann,
so erfüllt sie doch von neuem mit Staunen über die ungeheure Ideen-
fülle Fichtes und treibt dazu, von neuem die Originale zu studieren.
Von den vielen berechtigten Wiederbelebungen der Ideen vor hundert
Jahren scheint mir die der Fichteschen eine der hoffnungsvollsten
zu sein.
Heidelberg Troeltsch
£• Faelis» Vom Werden dreier Denker. Was wollten Fichte,
Schelling und Schleier macher in der ersten Periode ihrer
Entwicklung? Tübingen, J. G. B. Mohr (Paul Siebeck), 1904. XXIY,
381 S. 6M.
Das vorliegende Buch gehört unter die heute nicht seltenen
Bücher, die nur Anregung und Einleitung zur Lektüre anderer sein
wollen und für sich selbst keine eigentliche Förderung der in jenen
Büchern verhandelten Probleme zu geben beanspruchen. Ihr Cha-
rakter ist: viel Exzerpte und viel Enthusiasmus. So ist es die
Ueberzeugung des Verfassers, daß der neue Idealismus, den wir
brauchen, nur aus der Wiedererweckung des alten deutschen Idealis-
mus erwachsen könne und daß unter seinen Vertretern insbesondere
Schleiermacher eine nicht entfernt genügende Beachtung und Nach-
folge gefunden habe. Weil Schleiermachers Anfänge nach der An-
sicht des Verfassers vorwiegend eine Auseinandersetzung mit Fichte
sind, so stellt er zunächst sehr eingehend die Fichtesche Wissen-
schaftslehre dar. Und weil Schelling eine Art Mittelstellung zwischen
Fichte und Schleiermacher bedeutet, so behandelt er auch Schelling,
freilich nur in der Periode, die vor dem Uebergang zum Identitäts-
system liegt und die auf Schleiermacher nicht, jedenfalls nicht in
dem hier behandelten Zeitraum, gewirkt hat. Darauf folgt dann die
Darstellung Schleiermachers bis zum Jahre 1804, d. h. vor seiner
näheren Berührung mit Schelling. Die Auseinandersetzung Schleier-
machers mit dem letzteren betrachtet der Verfasser als ein zu wich-
tiges und großes Thema, als daß er es in diesem Buche mit hätte
erledigen können. Auch die Beziehungen Schleiermachers zu Herder
Fachs, Vom Werden dreier Denker 683
deutet er nur an, schließt aber dieses Thema gleichfalls als besonders
sdbwer £aßbar und mühsam von seiner Untersuchung aus. Dadurch
bekommt das Buch einen etwas uneinheitlichen und unfertigen Cha-
rakter. Entstanden ist es zweifellos als eine Untersuchung zur
Bildungsgeschichte Schleiermachers; es ist die in einer früheren Ar-
beit des Verfassers »Schleiermachers Religionsbegriff und religiöse
Stellung zur Zeit der ersten Ausgabe der Redenc (Giessen 1901)
S. 87 versprochene Studie über das Verhältnis Schleiermachers zu
Fichte und Schelling. Aber das nun erschienene Buch behandelt nur das
Verhältnis zu Fichte und schließt das noch sehr wenig geklärte, der
Untersuchung äußerst bedürftige Verhältnis zu Schelling aus. Trotz-
dem aber gibt es eine Darstellung Schellings, und die von Fichte
geht weit über das Bedürfnis der Aufklärung von Schleiermachers
Bildungsgeschichte hinaus. Offenbar hat den Verfasser bei der
Lektüre für seine geplante Darstellung die Begeisterung für diese
beiden Denker erfaßt, und aus der Untersuchung zur Bildungsge-
schichte Schleiermachers ist ein Buch über >das Werden dreier
Denker< geworden, das nun zwischen dem Charakter einer Studie
zur Erklärung Schleiermachers und dem eines Hymnus auf drei sehr
verschiedenartige, sich unter einander vielfach ausschließende Denker
schwankt. So ist es schwer, aus dem übrigens fleißigen und an-
regungsreichen Buche klug zu werden. Man kann sich nicht für drei
so verschiedenartige Theorien zugleich begeistern, wenn es einem
nicht etwa auf die Begeisterung als solche ankommt, und die neben-
bei gegebenen kritischen und problemgeschichtlichen Andeutungen
sind zu schwach, zu wenig von einer bestimmten eigenen Auffassung
und Beherrschung der Probleme getragen, als daß sie eine erhebliche
wissenschaftliche Förderung bedeuten könnten. Das ist um so mehr
zu bedauern, als der Verfasser in seiner bereits angeführten früheren
Arbeit einen recht beachtenswerten Beitrag zur Schleiermacher-
Forschung gegeben hat. Es ist sehr zu wünschen, daß er seine Ab-
sichten bezüglich Schellings und Herders noch ausführt und dann
strenger in eine eigentlich probiemgeschichtliche Darstellung eingeht.
Das Buch nimmt seinen Anfang mit einer Zeichnung der Lage,
aus der die Probleme der drei Denker herausgewachsen sind. Es habe
gerade die ethische Selbstbesinnung zum Determinismus geführt, in-
dem das Sittliche selbst zu seinem eigenen Verständnis, für die
Selbstbildung und für Beurteilung wie Erziehung anderer den De-
terminismus fordere. Aber diese Forderung führe die Ethik in einen
schweren Selbstwiderspruch, aus dem sie die richtig verstandene
Freiheit gegen die Gefahr einer Auslieferung der Ethik an die me-
chanische Kausalitätsbetrachtung wieder herstellen müsse. Der Ver-
684 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
fasser verallgemeinert hier offenkundig die Auffassung, die der junge
Schleiermacher von der Lage hatte. Es ist weder für Fichte noch
für Schelling der Ausgangspunkt, wie überhaupt der moderne De-
terminismus nicht in der Ethik, sondern in den Naturwissenschaften
und der von ihnen inspirierten Metaphysik und Psychologie seinen
eigentlichen Grund hat. Andererseits ist auch die Behauptung der
Freiheit gegen den Determinismus gar nicht das Ziel aller dieser
Denker; es ist nur das Ziel Fichtes; Schelling erstrebt nur die un-
endliche progressive Schaffenskraft des Absoluten und Schleier-
macher nur die Unterscheidung einer sinnlichen und einer geistigen
Motivation, die aber jede für sich und in ihrem gegenseitigen Ver-
hältnis durchaus deterministisch beurteilt werden. Die Einleitung ist
ein Versuch, dem Buch eine einheitliche Problemstellung und ein
begriffliches Ziel zu geben, aber der Versuch mißlingt von An-
fang an.
Die Darstellung Fichtes durch den Verfasser zeigt sehr schön
die gewaltige Denkenergie und die große Persönlichkeit des Mannes.
Allein der kritische Versuch des Verfassers, den rein ethisch moti-
vierten Idealismus und den erkenntnistheoretisch (wofür der Ver-
fasser immer > psychologische sagt) begründeten Idealismus gegen-
einander in scharfen Widerspruch zu stellen und den letzteren als
Verderbung des ganzen Systems zu verwerfen, scheint mir die Gegen-
sätze stark zu übertreiben und ist jedenfalls philosophisch ganz un-
haltbar. Will man den Eonsequenzen des Fichteschen »Atheismusc
entgehen, dann sind jedenfalls andere Mittel zu ergreifen als eine
solche Amputation, bei der nichts Lebensfähiges übrig bleibt.
Viel kürzer und ohne kritische Beigaben, übrigens aber sehr
anziehend ist die Darstellung Schellings. Indem Schelling das
ethische Moment des Idealismus zur progressiven Auswirkung des
Geistes in der Natur und über die Natur werden läßt und die Frei-
heitstat zur intellektualen Anschauung von der inneren Einheit des
Geistes und der Natur einschrumpfen läßt, nähert er sich dem Iden-
titätssystem, damit einer Auffassung, der die Sympathie des Ver-
fassers nicht gehört. Er hebt nur die in der Tat glänzenden Aus-
führungen über Dogmatismus und Idealismus heraus und den Begriff
der intellektualen Anschauung, der auch für Schleiermacher Bedeu-
tung hat, nur freilich von diesem psychologisch gewendet wird. Aus
der erkenntnistheoretisch-metaphysischen Position der intellektualen
Anschauung von dem Hervorgehen der Wirklichkeit aus der Produk-
tion des Geistes wird bei Schleiermacher die » Anschauung < von
geistigen Einheiten, übersinnlichen Realitäten als empirisch-psycho-
Fuchs, Vom Werden dreier Denker 686
logischer Faktor. Hiermit ist jedenfalls ein treffender Hinweis ge-
geben.
Am meisten literar- und problemgeschichtliche Forschung steckt
in der Darstellung Schleiermachers. Er wird zunächst in seiner
Stellung Kant gegenüber geschildert, wobei der Verfasser mit Dilthey
das Studium Kants als den wichtigsten Ausgangspunkt Schleier-
machers betrachtet. Von Kant übernimmt er die Skepsis gegenüber
jeder wissenschaftlichen Metaphysik; insbesondere aber setzt er die
ethische Analyse Kants mit großer Selbständigkeit und Nachdrück-
lichkeit fort. Dabei ist es charakteristisch, daß' Schleiermacher alle
erkenntnistheoretisch-aprioristischen Sätze Kants in psychologisch-
empirische verwandelt, die metaphysische Freiheitslehre abstößt und
die Ethik auf einen rein empirisch-psychologischen Determinismus
stellt. Er behauptet nur die ideelle Motivation neben der sinnlich-
eudämonistischen als einen von der Selbsterziehung und Selbstbildung
zu steigernden empirisch-psychologischen Faktor. Hierbei ergeben sich
als weitere psychologische Begriffe die Ideen der Individualität, der
geistigen Selbstanschauung, in der dem Gemüt und der Phantasie ein
Ideal des eigenen Selbst entsteht, der analogen Anschauung von der
fremden Individualität, der sich gegenseitig ausbildenden, durchdringen-
den und fördernden Gemeinschaft der Individuen. Dabei sind die mensch-
lichen Persönlichkeiten Stufen der Ausbildung des Geistes aus der
ihm zum Substrat dienenden Natur heraus und berufen, durch gegen-
seitige Ausbildung und Verschmelzung der Individualitäten in das
vollendete Geisterreich hineinzuwachsen, von dem sich kein mensch-
liches Denken eine Vorstellung machen kann. Nach des Verfassers
Auffassung ist diese das Eigen-Individuum durch die fremden ergän-
zende und die Natur der sittlichen Ausbildung der Individuen unter-
werfende Ethik zugleich Schleiermachers Realismus, die Durch-
brechung des erfahrungs-immanenten Kantischen Kritizismus durch
eine echte Erkenntnis von transsubjektiver Wirklichkeit. Wie frei-
lich durch bloße Psychologie ein derartiges Ergebnis erreicht werden
könne, das ist dem Verfasser, der selber Kant durchaus psychologistisch
auffaßt, kein Problem. In diesem Punkte ist des Verfassers eigenes
Denken offenbar sehr unentwickelt; ihm macht es gar keine Schwierig-
keit, aus psychologischen Daten metaphysische Realitäten als die
. diese Wirkungen hervorbringenden Ursachen zu erschließen. Er achtet
daher gar nicht auf die Frage, ob Schleiermacher das im Ernst ge-
wollt haben könne, ob er Kant so mißverstanden habe, um ihn derart
> realistisch < korrigieren zu wollen, ob er sich mit den erkenntnistheoreti-
schen Prinzipien Kants überhaupt auseinandergesetzt habe. Er bebt
nur billigend diese auf die Ethik begründete Richtung zum >Reali8-
686 GöU. gel. Anz. 1906. Kr. 9
mus< hervor und entwickelt aus dem BedürMs nach Vollendung dieses
Realismus die Heranziehung der Religion. Auch hier läßt er Schleier-
macher lediglich psychologisch-metaphysisch argumentieren. Die Ana-
lyse des religiösen Vorgangs ergibt für die psychologische Betrach-
tung den Glauben an ein Handeln des >Universumsc auf die Seele,
aus welchem Handeln eine konkrete, durch irgend eine endliche An-
regung vermittelte > Anschauung < vom Universum entstehe, ver-
gleichbar der Erfassung des eigenen oder des fremden individuellen
Selbst in der geistigen Anschauung des Gemütes. Diese Anschauung
ist von Gefühlen begleitet, welche wieder weiter in die Anschauung
hineintreiben, und wird von der Phantasie nach Analogie des in der
Individualitäts-Anschauung gegebenen Bildes einer geistigen Totalität
ausgedeutet. So wird das die Anschauung erregende und von der
Phantasie ausgedeutete Universum das eigentlich Reale, das die
Einzelgeister und die Natur zugleich trägt und in einer gemeinsamen
Wirklichkeit zu einer großen Harmonie verbindet. Wie es möglich
ist, aus dem so beschriebenen psychologischen Faktum die reale
Existenz dieses > handelnden Universums«, dieses > Universums von
eigener Individualität und eigenem Charakter« zu erschließen, davon
ist hier wieder nicht die Rede. Wir müssen uns mit folgenden ganz
dunkeln Andeutungen begnügen: »Also wie jeder sinnlichen An-
schauung eine Berührung mit der Außenwelt vorangeht, die an der
Grenze des Bewußtseins liegt und erst in der Erregung der Ge-
fühle und der Anschauung bewußt wird, so jeder religiösen auch
Von diesem Augenblick kann also auch die Erfahrung nichts aus-
sagen. Ihr ist er zu unzugänglich. Der Glaube an seine (des
Augenblicks!) Realität ist aber gewissermaßen der Glaube an
die Realität der Religion, der Glaube, daß die Anschauung
kein Gebilde des Menschen ist, sondern durch die Berührung mit
dem Universum draußen wirklich hervorgerufen« (S. 372 f.).
Dieses Spiel mit > innen« und > außen«, diese gröbste Voraussetzung
der Introjektion, dieses »Universum draußen« mit seinen Wir-
kungen auf den Menschen, alles das ist nicht in dem Sinne irgend
eines echten Idealismus, auch nicht im Sinne des Schleiermacher-
schen. Es ist schon durch die Bezeichnung des religiösen Objektes als
»Universum« ausgeschlossen, wie ja Fuchs es konsequent unterläßt,
die Frage nach den Gründen der Ersetzung des Begriffes >Gott€
durch den >des Universums« aufzuwerfen. Das Universum hat doch
wohl nichts, was außer ihm ist. Das > Handeln des Universums« in
der »religiösen Anschauung« muß auch schon in diesem Stadium des
Schleiermacherschen Denkens einen anderen Sinn haben, als den der
subjektiven Formung einer vom transzendenten Objekte bewirkten Er-
Fuchs, Vom Werden dreier Denker 687
regung. Es ist freilich eine richtige Beobachtung, daß Schleiermacher
alles zunächst psychologisch wendet und daß seine eigentliche Meister-
schaft in der beobachtenden, nachempfindenden Psychologie besteht; auch
ist anzuerkennen, daß Schleiermachers Erkenntnistheorie und Erweisung
des Realen immer der schwierigste Teil seiner Lehre geblieben ist; aber
eine solche erkenntnistheoretische Unschuld, wie sie der Verfasser hier
Schleiermacher zuschreibt und offenbar selbst besitzt, hat der wirk-
liche Schleiermacher seit seinen Kantstudien nie gehabt. Es ist daher
völlig unmöglich, den von Schleiermacher behaupteten Wahrheits-
gehalt der religiösen Erkenntnis mit dem Verfasser so zu formu-
lieren: >Was die religiöse Anschauung dem Menschen erschließt, ist
also geistiges Wesen (d. h. das Universum als geistiges Wesen).
Geistiges Wesen wird wie bei anderen Menschen, so auch hier (d. h.
beim Universum!) nur erkannt und verstanden nach Analogie des
eigenen geistigen Wesens. Von derselben Kraft, die dieses ver-
standen hat (d. h. von Gemüt und Phantasie), wird die religiöse An-
schauung gebildet, wie von der Sinnlichkeit die sinnliche (d. h. nach
der Meinung des Verfassers wie von den subjektiven Kategorien der
Sinnlichkeit das sie erregende Objekt)« S. 373. Der Verfasser hat
sich offenbar nie den Unterschied zwischen Psychologie der Religion
und Erkenntnistheorie der Religion klar gemacht. Man wird das frei-
lich in gewissem Maße auch Schleiermacher selbst vorwerfen müssen ;
aber immerhin der Ausdruck :» ursprünglich«, den Schleiermacher mit
Vorliebe für die religiöse Anschauung gebraucht und der wohl nur als
eine der in den Reden üblichen Verdeutschungen gleich apriorisch sein
soll, bedeutet die Verlegung des letzten Kernes der religiösen Anschauung
in ein Gesetz der Bewußtseinsfunktionen ; psychologisch gemeint ist nur
die Darstellung der jedesmaligen konkreten Aktualisierung; nur ist
beides nicht recht unterschieden. Jedenfalls aber war die in seine Reli-
gionspsychologie eingewickelte Erkenntnistheorie doch nie so ele-
mentar und naiv. Das Handeln des geistigen Universums ist doch
immer nur ein Handeln des göttlichen Allbewußtseins in seinen ein-
zelnen individuellen Teilbewußtseinen, deren von ihnen vorgestellter
Leib die Natur ist, und alle Erregung der religiösen Anschauung in
den >für geistige Werte gebildeten« Gemütern ist so doch nur irgendwie
ein Handeln des Universums auf sich selbst. Aber darin hat allerdings
der Verfasser Recht, wenn er den progressiv -ethischen Charakter
dieses Universums oder einfacher den bei alier Ablehnung der eigent-
lichen Persönlichkeit doch geistig-theistischen Gottesbegriff hervor-
hebt, der noch nicht durch den späteren, unter Schellingschem Ein*
fluß angenommenen Gottesbegriff der absoluten Einheit, Indifferenz
und Identität unsicher gemacht ist. Auch das wird richtig sein, daß
688 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
die Reden in den Atheismusstreit eingreifen und Fichte zwar Reli-
gion, aber nicht das richtige Verständnis der Religion zusprechen.
Ueberhaupt wird die Behauptung zutreffen, daß diese Periode stark
von Fichte beeinflußt ist und von ihm nur in der Feinheit der Psy-
chologie, in der Betonung des Individualitätsbegriffes, in der Be-
tonung der fremden Iche und in dem Realismus der Gottesidee
sich unterscheidet. Das >Universum< ist eine Umformung des >ab80-
luten Ich<. Aber gerade dann hätte der stark erkenntnistheoretische,
auf Gesetze des Bewußtseins hinausgehende Charakter seiner Argu-
mentation mehr hervorgehoben werden müssen. Hier rächt sich die
Unterschätzung des theoretischen Teils der Fichteschen Lehre.
Der Hauptwert des Buches ist der einer Schleiermacher-Studie.
In dieser Richtung ist ihr m. E. zutreffendes Ergebnis, daß die An-
fänge Schleiermachers von Kant ausgehen, seine ersten schrift-
stellerischen Entfaltungen aber von der positiven und negativen Aus-
einandersetzung mit Fichte inspiriert sind. Er hat vor Fichte den
Vorzug der feineren psychologischen Beobachtung und psychologisiert
alle Fichteschen Ideen, worüber er freilich die erkenntnistheoretische
deduktive Strenge verliert, aber engere Fühlung mit dem Leben ge-
winnt. Insbesondere beherrscht ihn auch von Fichte her ein unbe-
dingter Progressismus, sein Universum ist ein lebendiges Wirken
auf ethische Ziele hin, die spätere Aufnahme der Schellingschen
Identitäts- und Indifferenzlehre, die Verwandlung des Werdens in
Mischungszustände von jeweiligem Ueberwiegen des einen oder an-
deren Grundelementes, ist eine Störung dieser Grundkonzeption, aber
durch das Bedürfnis nach einem stärkeren religiösen Realismus ver-
ursacht.
Heidelberg Troeltsch
Kurt Breysig, Die Entstehung des Gottesgedankens und der
Heilbringe r. Berlin, Bondi 1905. XI 202 S. 2,50 M.
»Ich bin genötigt, hier auf die Gesamtschilderung der Urzeits-
und Altertumsstufe zu verweisen, sowie auf die Lehre vom Stufen-
bau aller Völkergeschichte überhaupt, die ich nicht von neuem vor-
tragen kannc (S. 180). Diese für den Ton des ganzen Buches
charakteristische Anmerkung zeigt, daß die eigentlichen Voraus-
setzungen des Buches außerhalb desselben liegen und die in Wahr-
heit entscheidende Rolle spielen. Es sind Voraussetzungen, die die
Lehren der Biologie von dem somatischen Gebiete auf das geistig-
kulturliche und damit die »Entwickelungslehre< von dem ersten auf
das zweite übertragen. In der Biologie ist der Ausgangspunkt in
Breysig, Entstehung des Gottesgedankens 689
der Zelle und das Ende im Menschen gegeben; der Raum da-
zwischen wird dann in der Weise kontinuierlich ausgefüllt, daß das
erreichbare Material in einer kontinuierlichen Linie kleinster lieber-
gänge aneinandergereiht wird, wobei das vorhandene Beobachtungs-
material oft freilich nur vereinzelte und singulare Fälle betrifft, aber
dann wegen Untergangs oder Unbekanntheit weiterer Vertreter dieser
Arten als artvertretend aufgefaßt werden darf, wobei ferner etwa übrig
bleibende Lücken durch konstruierte Zwischenglieder ausgefüllt werden
in der gelegentlich ja auch bestätigten Erwartung, daß diese kon-
struierten Glieder von wirklichen Funden noch bestätigt werden.
Daß in dem Verfahren viel problematisches überbleibt, daß die Eon-
tinuierlichkeit doch keine unbedingte ist, daß die bloße ideelle Ein-
fügungsmöglichkeit noch kein Beweis wirklichen Abstammungszu-
sammenhanges ist, daß in der Aufeinanderfolge und Entwickelungs-
richtung alle Probleme der teleologischen Metaphysik erhalten bleiben
trotz aller Entwickelungs-Mechanik, ist bekannt: es ist mehr ein
Forschuugs- als ein Erklärungsprinzip. Aehnlich verfährt hier der
Historiker der Beligion der Menschheit. Er hat oder glaubt in der
Hand zu haben Anfangs- und Endpunkt und füllt den Zwischenraum
durch kontinuierlich geordnete Arten, artvertretende Fälle und kon-
struierte Mittelglieder . aus, wobei er die Materialien ohne jede Bück-
sicht auf Zeit und Ort aus der großen ethnographischen und religions-
geschichtlichen Literatur entnehmen kann; vermöge der Theorie
von dem Verharren der Wilden auf der Urzeitstufe, wobei ins-
besondere Australien ein > lebendiges Urzeitmuseum der Menschheitc
(S. 63) ist, und der Theorie von den Ueberlebseln und Wieder-
auf lebsein steht das Material in der Tat in beliebiger Fülle zur Ver-
fügung und kommt es nur auf den konstruierenden Scharfsinn und
auf den divinatorisch-psychologischen Blick für die Uebergänge und
Anknüpfungen an. Ob diese Verwandtschaften und Zusammen-
hänge nur Möglichkeiten sind oder ob sie auf nachweisbarem wirk-
lichen Abstammungszusammenhang beruhen, das >sind von der Ent-
wickelung selbst gebotene und daher schließlich zu überwältigende
Unsicherheiten« (S. 48). Es genügt, wenn an einigen Hauptstellen
der Bealzusammenhang gezeigt ist, um ihn für das übrige wahr-
scheinlich zu finden. Es ist nicht die Arbeit eines Philologen oder
Ethnographen, der von einem bestimmten Fachgebiet her arbeitet,
sondern die eines reinen Entwickelungstheoretikers, der die von an-
deren beschafften Materialien so ordnet, wie es die >Entwickelung
gebietet«. Freilich fehlt dem Verfasser die Voraussetzung, unter der
streng genommen allein so geredet werden darf, die Hegeische
Entwickelungslehre, in der die göttliche Vernunft sowohl die Ent«
690 Gott gel Anz. 1906. Nr. 9
Wickelung hervorbringt als auch im Wesen der sich durch Entgegen-
setzungen hindurch bewegenden Vernunft ein Gesetz ihrer Aufein-
anderfolge enthält. Der Verfasser kann nur nach dem Prinzip der
Kontinuierlichkeit die gesammelten Materialien in seine Linie ein-
tragen und kann von >Gebotc und >Notwend]gkeit< der Entwickelang
nur insofern reden, als von irgend einem empirisch aufgegriffenen
Punkte aus seiner Phantasie Vorbedingungen oder anschließende
Weiterbildungen psychologisch wahrscheinlich erscheinen. Das gibt
der ganzen Konstruktion eine Unsicherheit, die dem Verfasser offen-
bar nicht bewußt ist, die sich aber tatsächlich sehr deutlich darin
äußert, daß schon Anfangs- und Endpunkt der von ihm auszufüllen-
den Linie nicht ganz sicher sind. Sie sind auf diesem Gebiet nicht
mit der empirischen Sicherheit zu bestimmen wie in der Biologie,
sondern hier sehr viel deutlicher von spontanen Werturteilen ab-
hängig. So muß er denn etwas mühsam seinen Ausgangspunkt be-
stimmen, indem er den Seelenglauben und den davon nur durch
größere Konkretheit unterschiedenen Geisterglauben als Anfangspunkt
oder niedersten Entwickelungspunkt der Religion und die persön-
liche Gottesidee als Höhepunkt definiert. Das sind schon sehr sub-
jektive Bestimmungen, die durch die umständlichen und scholastischen
Definitionen weder klarer noch sicherer werden. Aber der Verfasser
vertraut sich hier seinem psychologischen Feingefühl an. Er weiß,
wie die Urpsyche beschaffen ist, was sie leisten und denken kann
und was von »echtem Urzeithauch umwittert< (S. 21 und noch ein-
mal S. 59, 78, 107) ist, was > stufenälter oder wenn man will stufen-
nieder< (S. 112) ist; er kennt >das urzeitliche Gepräge< (S. 62); er
weiß, was erst die Altertumsstufe erreichen kann und was in jedem
Falle »stufengerechtc (S. 56, 81 f.) ist. Er weiß auch, was das Höchste
und Letzte ist und zwar nicht aus spontaner und autonomer Wert-
bejahung, sondern aus der gefühlsmäßigen Divination der >Entwicke-
lungsnotwendigkeit<. Dieser psychologische Feinblick ist absolut ent-
scheidend für die Fixierung der einzelnen festen Punkte auf seiner Linie.
Für die Ausfüllung der Uebergänge hat er dann aber den kombinie-
renden Scharfsinn, der oft auch in völligen Nebendingen den Uebergang
und die verbindende Nabelschnur aufzuweisen im Stande ist. Der rein
gottmenschliche Heros Joskeha der Irokesen muß z. B. mit einer
Vorstufe im tiermenschlichen Heros zusammenhängen. >Eine letzte
leise Spur ... wird der, dem es darauf ankommt, noch in
jenem Einzelzug der Sage entdecken können, der Joskeha die Kunst
der willkürlichen Feuererzeugung . . . von der großen Schildkröte er-
lernen läßt< (S. 34). So wird er denn auch aus der Schilderung
Jahwes als Töters der Urschlange, aus seinem heldischen Benehmen,
Breysig, Entstehung des Qottesgedankens 691
seinem Lachen und Reden in der himmlischen Ratsversammlung seine
Abkunft aus einem heroisierten Menschen entnehmen, der sich als
Eriegsheld und Schlangentöter Ruhm erworben hat, ein gesteigerter
Joskeha, der mit der Stufe des tiermenschlichen Heros höchstens
noch durch die Gheruben zusammenhängt, aber durch sie als ehe-
maliger Greif sich yerrät »Jahwe, der Greif, würde Jelch, dem
Raben, und Michabazo, dem Großen Hasen, auf das beste ent-
sprechen c (S. 93).
Die letzteren Bemerkungen fuhren auf die eigentliche Entdeckung
Breysigs, um deren willen sein Buch geschrieben ist und durch die
er die entwickelungsgeschichtliche Religionsforschung auf eine neue
Grundlage zu stellen hofift. Bei der Ausfüllung der gedachten Linie
ergibt sich ihm nämlich, daß vom Geister- und Seelenglauben kein
erklärlicher Weg zu dem persönlichen Gott führen kann. Geister
und Seelen seien zu schemenhaft, als daß man von ihnen zu dem
lebenswarmen, von echt menschlichem Leben erfüllten persönlichen
Gott gelangen könnte, und die beliebte (freilich heute völlig ver-
altete!) Ableitung der Gottheiten aus abstrahierender Natursymboli-
sierung sei einerseits zu abstrakt fur die Urpsyche, andererseits zu
philosophisch für die Wärme und Eonkretheit des persönlichen
Gottes, eine > willkürlich dichtende Verpersönlichung der Naturkräfte <
(S. 113). So sucht er denn einen Faktor in die Entwickelung einzu-
führen, der völlig urzeitgemäß ist und doch die Persönlichkeit Gottes
hervorzubringen im Stande ist. Wie könnte das einfacher geschehen,
als indem man das Menschlich-Persönliche in den Gottheiten daher
leitete, woher es allein natürlicher Weise stammen kann, nämlich
aus dem lebendigen Menschen selbst. Es bedarf nur der Annahme, daß
der Urmensch seine Wohltäter und Helden aufgehöht, heroisiert, divi-
nisiert hat sowie daß dieser Wohltäter oder Heilbringer sich mit dem
Geister- und Seelenkultus verbindet, und die Elemente für die per-
sönliche Gottesvorstellung sind beisammen. Nimmt man dann noch
weiter an, daß weiterhin die höhere oder Altertumsstufe ihre durch
Abstraktion gefundenen Symbolisierungen der Naturmächte mit dieser
Gottesidee verbindet, so regeln sich auch die Naturbeziehungen des
Gottesgedankens, und es wird überdies begreiflich, wie diejenigen Reli-
gionen, welche die Naturreflexionen nicht aufgenommen haben und
die bloß den Heilbringer fortdauernd ins Göttliche gesteigert haben,
d. h. die Israels und der Irokesen, die reinste und erhabenste Gottes-
vorstellung hervorgebracht haben. Es gilt nur den Begriff des > Heil-
bringers < oder des heroisierten Ur Wohltäters unter die primitiven
Religionsideen einzuführen, und die Rätsel der religionsgeschicht-
lichen Entwickelung sind gelöst. Das Wahrheitsmoment des Euher
0«it. g«l. Abs. 19M. Nr. 9 49
692 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
merismus ist mit Unrecht bisher verachtet und verkannt worden,
man braucht es nur wieder anzuerkennen, und die Hauptschwierig-
keiten heben sich spielend.
Diesen konstruierten Aufriß gilt es nun, aus dem ethnographisch-
religionsgeschichtlichen Material auszufüllen und zu belegen. Und
da bieten sich nun in geradezu großartiger Weise die lebenden Ur-
zeitvölker Nordamerikas dar, von denen wir aus den letzten zwei
bis drei Jahrhunderten Berichte haben, die zugleich durch ihre Diffe-
renzen die >£ntwickelungc bei diesen Urzeitvölkem am Werke sehen
lassen. Sie haben den Seelen- und Oeisterkult, stehen also auf der
Urstufe, was auch sonst dem psychologischen Gefühl sich bekundet
Aber sie haben zugleich auch tiermenschliche Sagen von einem Heros
und Urahn, der bald als Tier bald als Mensch die großartigsten und
wunderlichsten Dinge, Schlangenkämpfe, Siege über Wasserfluten, Erd-
und Menschenschöpfung und ähnliches verrichtet hat. Bei yersehie-
denen solchen Stämmen finden sich ähnliche solche Sagen, sie gehören
also zum gesetzlichen Urbestand der Urpsyche. Insbesondere aber kann
man bei den Irokesen, von deren >Heilbringersage€ wir einen Be-
richt von 1650 und einen solchen, allerdings in Nebendingen christ-
lich gefärbten (!), von 1850 haben, konstatieren, wie der ursprünglich
tiermenschliche Joskeha zu einem großen, ethische Oebote ver-
tretenden persönlichen Geist und Gott emporgewachsen ist ohne jede
Dazwischenkunft eines weiteren Entwickelungsfaktors, vor allem ohne
jede Einwirkung abstrakter Natursymbolisierung : »Christliche Ein-
wirkung hat wohl das letzte Glied in dieser Kette von Glaubens-
bildem in einzelnen Zügen beeinflußt, aber nicht in den Gründen
seines Wesens ; dieser Gott, der vielleicht soviel innere Aehnlichkeit
mit dem jüdisch-christlichen Gott in seiner frühesten vorpropheti-
schen Jugend hat, wie kein anderer auf dem Erdenrund, ist doch
eine eigenwüchsige und ursprüngliche Bildung des Geistes und der
Seele des großen Volkes, das ihn sich schuf < (S. 43). Sofern man sich
aber an den tierischen Beimischungen dieses >HeUbringer8< stoßen
sollte, so geben darüber die Australier Auskunft, welche in dem Al-
cheringa Tiergeister oder »Uebertiere< haben mit unglaublichen Wir-
kungen, die bei der Aufhöhung der Heilbringer verwendet worden
sein möchten: >Die Heilbringer sind halb Uebertiere halb Ueber-
menschen.c
Diese an den amerikanischen Wilden gemachte Entdeckung
gilt es nun auch an den sämtlichen übrigen Göttervorstellungen der
Menschheit zu bestätigen, und es folgt daher eine Untersuchung
Jahwes, der babylonischen, indischen, ägyptischen, germanischen
u. s. w. Gottheiten auf den in ihnen enthaltenen Best des Uebertieres
\
Breysig, Entstehung des Gottesgedankens 693
und Uebermenschen oder des ihnen ihre persönliche Qualität ver-
leihenden Heilbringers. Die Einzelheiten sind hier nicht wieder-
zugeben; immer sind es Anspielungen auf eine Flutsage und einen
Drachenkampf, die die übliche Lehre aus einer >abstrakten< und »stili-
sierten« Natursymbolik erkläre, während das Beispiel der Algonkins
die Zusammengehörigkeit beider in einem wirklich so gemeinten
Heilbringermythos beweist. »Wer die Art und die Sprechweise noch
lebender Urzeitvölker kennt, wird aus tausendfach zu beweisenden
Gründen immer geneigt sein, die Ausdrucksform dieser Stufe für einfach
und der Wahrheit und Wirklichkeit nahe zu halten, nicht aber für
verwickelt und sinnbildhaftc (S. 70). So gewinnt der Verfasser hier
überall neue Prinzipien entwickelungsgeschichtlicher Deutung mit
reichlichen Winken über neue kritische Behandlung der Urkunden.
Erwähnt werden kann davon nur der Triumph der Methode, der in
der Deutung der jüdisch-christlichen Gottesidee erreicht ist. Die
Jahwereligion ist von >allen Gottesgestalten auf Erden die mäch-
tigste < geworden (S. 65), weil sie rein der Divinisierung des Heil-
bringers gefolgt ist ohne Einmischung von Natursymbolik; und ein
indirekter Beweis hierfür ist die Tendenz dieser Gottesidee, sich in
ihren Ursprung, in die Heilbringeridee, zurückzuverwandeln, was sie
in der Messiasidee erst ideal und dann in der Divinisierung Jesu
auch tatsächlich vollzieht. Gegenüber dieser glänzendsten Probe auf
das Rechenexempel treten alle übrigen Beweise zurück, die überall
auf der durch richtige Kritik der Ueberlieferung herstellbaren schlagen-
den Aehnlichkeit mit dem Produkt der noch lebenden amerikanischen
Urzeitvölker, der Heilbringersage, beruhen. Höchstens etwa noch die
der jüdischen erstaunlich ähnliche, aber vom Judentum, Christentum
und Islam offenbar (!) unbeeinflußte Gotteslehre und Ursage der Masai
ist ähnlich wichtig. Denn sie zeigt eine der jüdischen völlig parallele
Erhebung des Heilbringers und läßt daher auf einen gemeinsamen
semitischen Urglaubeu an den Heilbringer schließen, der bei der
Masse der tieferstehenden Semiten leider verloren gegangen ist. Zwar
>der heutige Glaube der Masai nennt den Heilbringer selbstverständ-
lich Gott: die menschliche Abkunft dieser inzwischen längst gestei-
gerten Person ist dennoch nicht zu verkennen c (S. 120), was mit
ähnlichen Mitteln wie bei Jahwe und durch die Parallele des Joskeha
der Irokesen bewiesen wird.
Aber damit ist die Entdeckung Breysigs nicht zu Ende. Nach
seinen bisherigen Ergebnissen, in denen die Völker »auf die Gestalt
des Heilsbringers und die Entstehung des Gottesgedankens hin nur
flüchtig überprüft wordene sind, könnte es scheinen, als ob >es sich
hier um einen allgemeinen Vorgang handele, in dem Sinne wenigstens,
49*
694 Gott. gel. Anz. 1906 Nr. 9
daß mit ihm die Richtung umschrieben ist, die einzuschlagen mensch-
liche Glaubensentwickelung neigt, sobald sie nur eine gewisse Höhe
erklonmien hatc (S. 171). Es wäre also ein empirisch-naturwissen-
schaftlich aufgenommenes psychologisches Gesetz, das in primitiven
Zuständen die Heilbringeridee hervorbringt und diese Heilbringeridee
zur Gottesidee steigert. Daß in dieser »Richtungsneigung« etwas
höher oder tiefer und nicht bloß früher oder später ist, das wäre
dann die Eintragung einer subjektiven Bewertung. Denn das Gesetz
selbst ist nicht wie das Hegeische Entwickelungsgesetz ein aus imma-
nenten Zielen der werdenden Vernunft hervorgehendes, sondern ein ledig-
lich allgemein wiederkehrende, psychologische Tatsachen aussagendes
Naturgesetz des Seelenlebens. Danach möchte es scheinen, als sei in
diesem Gesetz das jedesmal spontane Entstehen der Heilbringeridee und
ihrer Abwandelungen bei allen primitiven Völkern, uralten und mo-
dernen, begründet, und als hätte man lauter parallele, in dem Wesen der
Urpsyche begründete, Bildungen vor sich. Aber die von dem modem-
urzeitlichen amerikanischen Paradigma geleitete Prüfung zeigt doch
in all diesen Fällen so auffallende Aehnlichkeiten, überall Drachen,
Flut, Welt- und Menschenschöpfung, feindliche Brüder u. s. w., daß
man schwer nur an spontane Parallelen und bloße Analogiebildungen
denken kann. Es liegt der Gedanke nahe, die verschiedenen Heil-
bringersagen nicht in einem allgemeinen psychologischen Gesetz,
sondern in einer einmaligen Urtatsache, einem wirklichen ersten Heil-
bringer und einer wirklichen Ursage von ihm begründet sein zu lassen,
und alle die zahllosen Heilbringer- und Gottesideen nur als ebenso
viele Abzweigungen von diesem Urstamme zu betrachten. An Stelle
des psychologischen Gesetzes mit zahllosen Einzelfällen tritt der
emen einzelnen Fall fortsetzende und variierende Stammbaum. Das
Mittel zu diesem Uebergang ist eine neue, der üblichen religions-
geschichtlichen Forschung entgegentretende Entdeckung Breysigs.
Psychologische Divination sagt ihm, daß Urvölker in einem Bezirk
nur eine Gottheit haben können, daß die Vielheit von Göttern ver-
schiedener Völker aus der Differenzierung der Urgruppen zu ver-
schiedenen lokal geschiedenen Gruppen hervorgeht, deren jede d^
mitgebrachten Henotheismus in der neuen Umgebung variiert. Der
Polytheismus aber als Vielheit von Göttern eines Volkes geht erst
aus der politischen Unterwerfung dieser verschiedenen Gruppen unter
eine Vormacht hervor. Auf diese Weise wird es möglich, die Heil-
bringersage und Gottesidee alter Primitiver und modemer Primitiver,
die Gottesideen und Polytheismen der verschiedenen Mittelalter und
die Monotheismen der verschiedenen Neuzeiten an einem Faden der
Filiation von dem ersten menschlichen Heilbringer her aufzureiben,
Breysigy Entstehung des Oottesgedankens 695
der in der Urgruppe, vielleicht in »dem uralten und doch kinder-
jungen« Australien, etwa als Schlangentöter und Fluttiberwinder großen
Eindruck gemacht hat und entsprechend aufgehöht wurde, dann mit
dem Ahnen- und Geisterglauben zusammenfloß und so zum Urahn
wurde, wobei dann auch seine halbe Tiergestalt aus einer dumpfen
Erinnerung der Abstammung des Menschen vom Tier sich erklärt,
wenn man nicht lieber vor das Zusammenfließen des Heilbringers
mit Tiergeistern ein solches mit Pflanzen- und Steingeistern setzen
will; jedenfalls ist wahrscheinlich, daß »die Verehrung den Ur-
ahnen der Menschheit gälte, die einen der entscheidenden Schritte
vom Tier zum Menschen getan hätten, sodaß in Wahrheit, wie in
so vielen heiligen Sagen behauptet wird, der erste Mensch zum Gott
geworden wäre< (S. 201). Von diesem einmaligen und als solchen zu-
fälligen Urfaktum geht die ganze Religionsgeschichte aus. Von dem
früher konstruierten psychologischen Gesetz bleibt also jetzt nur die
»Regelhaftigkeit<, die »Triebkraft der Entwickelung« übrig, die in
parallelen Verläufen überall den Heilbringer steigert bis zur Gottes-
idee, wobei es allgemeine und Eulturzustände sind, die im einen
Fall die Verschmelzung mit Natursymbolen herbeiführen und im
andern hindern. Fragt man aber nach den allgemeinen psychologischen
Gründen, die diese Steigerung des Heilbringers überall herbeiführen,
so erhält man die Antwort: >Für die Entwickelung des Glaubens
aber entscheidet, daß der Anlaß dieser künstlerischen Steigerung an
Kraft wächst: die Empfindung für das Heilige« (S. 37); oder: >daß
der Gott entstand, war gleichmäßig einer Forderung des schließen-
den Verstandes, wie des nach Verehrung und Selbstdemütigung
dürstenden Herzens der Menschen« (S. 95) oder >es ist eine über
den ganzen Erdteil sich ausdehnende Form entstehender Gottheit,
die all ihre Kraft aus dem Gedanken der Persönlichkeit zieht, das
Halbtier zum Menschen, den Menschen zum Gott steigert« (S. 77);
oder > Spiel der Vorstellungskraft, ausbauende Folgerung des Ver-
standes, mehr als alles andere die Sehnsucht des Herzens nach immer
unbedingterer Hingabe, immer höherer Steigerung des verehrten
Wesens, sie alle sind beteiligte (S. 188); es sind >Regungen gläubigen
Ahnensc (S. 185); es ist »zarteste also auch ichmäßigste Betätigung.«
Der Verf. merkt gar nicht, daß er hier die eigentliche Hauptsache,
das religiöse Gefühl selbst und eine innere Aufwärtsbewegung in ihm,
einfach voraussetzt. Das »Gesetz eines rastlosen Werdeganges«, das
sich in diesen Aufhöhungen und Steigerungen offenbart, ist insbesondere
etwas ganz anderes als ein allgemeines Naturgesetz, es ist eine im
Wesen des Geistes liegende Tendenz, die einen verborgenen Reichtum
entfaltet, ein teleologisches Gesetz der Erreichung eines in dieser
696 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
Tendenz unbewußt enthaltenen Zielgehaltes. Aber für diesen BegriflF
des >£ntwickelungsgesetzes« fehlt in dem Buche jede philosophische
und religionsphilosophische Begründung, wie auch jede Erkenntnis
seines Unterschiedes von allgemeinen psychologischen Naturgesetzen
und mit jeder näheren Ausführung auch jede Ahnung von den darin be-
schlossenen logischen und metaphysischen Problemen. Ja, die vom
ersten Heilbringer in Bewegung gesetzte und zur Entfaltung ihrer
Triebkraft gebrachte Entwickelung, wird unversehens wieder zum
psychologischen Naturgesetz, zur gesetzlichen Wiederholung analoger
Fälle, insofern der erste Heilbringer immer wieder durch neue ab-
gelöst wird und jeder neue in seiner Divinisierung das Erbe und
Produkt der früheren zum Gottesglauben entwickelten Heilbringersage
übernimmt, also ein psychologisches Gesetz der von Zeit zu Zeit neu
einsetzenden Divinisierung eines hervorragenden Menschen, wovon
die Divinisierung Jesu das hervorragendste Beispiel ist: >Wer mag
sagen, wieviel rotes warmes Blut lebendiger, heldischer oder weiser
Menschen den Kitt fur den Aufbau der Gottesgestalten dargeboten
hat?< (S. 189). Freilich ein wunderliches, völlig unerklärtes psycho-
logisches Gesetz!
Es mag fraglich sein, ob es sich lohnt, über ein derartiges Buch
soviel Worte zu verlieren, insbesondere soviel aus ihm abzuschreiben.
Ich glaube allerdings, daß es der Mühe wert ist, weil bei derartig
leichtfertiger Behandlung des >Entwickelung8begriifes< viele Fehler
eines Verfahrens zu Tage treten, das sonst kritischer, besonnener
und geschmackvoller, vor allem mit mehr Kenntnissen und Wirklich-
keitssinn unternommen wird, und weil gerade die Worte Breysigs
selbst in all ihrer pretiösen Ueberfeinheit diese Fehler aufs naivste
aussprechen. Diese Fehler liegen zunächst auf dem ethnographisch-
mythographischen Gebiet: die Definitionen des Ausgangspunktes der
Entwickelung, der Seele und der Geister und des Gottesbegriffes, sind
naivster Dogmatismus, und die Voranstellung des Resultates im Heil-
bringer ist die naivste Präokkupation. Man kann sich darum gar
nicht wundem, wenn das, was erst gefunden werden soll, überall
als Norm der Auffassung und Kritik vorausgeht; »er, heißt es von
Keri, entspricht allen Anforderungen an einen echten Heilbringerc
(S. 46), und wo es in den Quellen anders steht, da werden sie
kritisch gesäubert oder handelt es sich gar um eine >unbewußte
Wiederholung der Heilbringersage« (S. 61). Insbesondere ist der Aus-
gangspunkt bei den amerikanischen Mythen, die in einem lebenden
Urzeitvolk die alte Urhervorbringung wiederholt haben sollen, eine
wunderliche petitio principii. Diese an sich natürlich nicht leicht zu
deutenden Mythen scheinen nach sonstigen Analogien (vgl. Usener,
Breysig, Entstehung des Gottesgedankens 697
Götternamen S. 248—253) depotenzierte Gottheiten zu sein, die aller-
hand ätiologische Mythen in sich aufgenommen haben und zum Spiel der
Fabel geworden sind. Zeugnisse für ein Gesetz der Hervorbringung
der Heilbringersagen sind sie nur, wenn dies Gesetz schon voraus-
gesetzt ist. Und wie ist dann die Herauszupfung von Aehnlichkeiten
und deren Verknüpfung zu einem Gewebe von Gesetzen völlig spie-
lerisch, das allenfalls Mögliche mit dem Wirklichen verwechselt und das
ganze Verfahren hypnotisiert von der Voraussetzung eines einheit-
lichen Ursprungs der Gottesidee und einer einfachen Abwandelung
dieses Ursprungs? Wer das nicht tut, der ist ihm em Pedant;
>eine dem Ziel zustrebende« Forschung . . . wird Art und Form des
Fortschrittes selbst zu erkennen trachten< (S. 196), wobei das Ziel
offenbar als selbstverständlich und eindeutig betrachtet wird: das
Ziel ist eben eine in vollster Verworrenheit gedachte »Entwickelungs-
theorie.« Hier aber liegen die eigentlichsten Fehler, um deren willen
sich eine Beachtung des Buches lohnt, während die ethnographisch-
mythographischen Einfälle schwerlich viel Unheil anrichten werden.
Es ist eine Warnung vor einer völlig unphilosophischen Handhabung
des Entwickelungsbegrififes, der ein Nest von schweren Problemen
und keine einfache durchsichtige und selbstverständliche Methode ist.
Insbesondere ist nun aber seine Anwendung auf die Religion vollends
bedenklich, wo es an jeder religionsphilosophischen Bildung und Denk-
gewöhnung fehlt. Besäße der Verfassser sie, dann würde er nicht als
nach dem Hauptproblem nach der Entstehung des Gottesgedankens
suchen, wo er doch die Religion selbst als Ahnung, Verehrungsstreben,
Divinisierung überall schon voraussetzt; er würde einsehen, daß das
religiöse Verhältnis selbst in der Grundkonstitution des Geistes ge-
geben ist und in der wirklichen Geschichte nur auf die verschie-
denste Weise geweckt und von den verschiedensten Objekten und
Eindrücken her aktualisiert wird, daß eben deshalb der Gottesbegrifif
selbst eine sekundäre und durchaus nicht einfach definierbare Er-
scheinung der Religionsentwickelung ist, und daß die eigentlichen Rätsel
der Religionsgeschichte gerade in der Herausbildung der höheren Reli-
gionsformen liegen. Er würde erkennen, daß die Religion selbst über-
haupt nicht entsteht, sondern nur ihre Formen und Ausdrucksmittel,
daß sie von Seelen- und Geistervorstellungen, von den Naturein-
drücken oder sonstigen Erlebnissen geweckt werden kann und von
hier aus ihren mitteilbaren Ausdruck und ihren Kultus formt, daß ins-
besondere die persönlichen Gottheiten aus der Aufnahme sozialer und
ethischer Eindrücke, die das religiöse Gefühl wecken, in die Gottesvor-
stellung erwachsen. Er würde auch so nach psychologischen allge-
meinen Gesetzen und Formenlehren suchen können, aber er würde
698 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 9
dann von ihnen das Gesetz der inneren Vorwärtsbewegung der Reli-
gion unterscheiden, in dem der Fortschritt begründet ist und das
nur ein Gesetz innerer Bewegung des Geistes selbst in der Weise
Hegels oder Euckens sein kann. Er wärde, wenn er den Satz nieder-
schreibt: >der Gott der Brahmanen, der Juden und Christen, der
Mohammedaner läßt sich leicht erfassen; es sind nicht die oberen,
es sind die unteren Grenzen des Begriffes, auf die die höchste Sorg-
falt verwendet werden mußc (S. 6), sich klar machen, daß ihm diese
großartigen oberen Stufen nur so leicht verständlich erscheinen, weil
er das religiöse Apriori des Bewußtseins hierbei überall schon vor-
aussetzt, und daß die unteren Stufen ihm nur deshalb so schwierig
scheinen, weil er auf ihnen mit Hilfe von allerhand primitiven Illu-
sionen dasjenige aus tausend Einzelheiten zusammenscharren will,
was sich überhaupt nicht ableiten läßt, weil es ein Apriori des Be-
wußtseins, das Zentrum des Normbewußtseins ist, das wohl in seiner
Weckung und Durchsetzung, aber nicht in seiner Entstehung reli-
gionsgeschichtlich erforscht werden kann. Die entwickelungsgeschicht-
liche Methode ist gewiß unumgänglich, und die Frage darf und muß
im Allgemeinen so gestellt werden, wie Breysig sie gestellt hat. Aber
ohne philosophische Besinnung über den Entwickelungsbegriff und ohne
religionsphilosophische Besinnung über die Stellung der Beligion im
Bewußtsein entstehen hier nur Verworrenheiten. Es gibt hier nur die
Alternative: entweder Entstehung der Religion aus allerhand peri-
pherischen, psychologisch ableitbaren Illusionen der Primitiven und
dann ihr Untergang auf höheren Stufen oder Begründung der Reli-
gion in einem Apriori des Bewußtseins und dann Erklärung ihrer
höheren Stufenentwickelung wesentlich aus einer inneren, in spontan«!
Inspirationen sich vollziehenden Bewegung, die aus der inneren Bewe-
gung des Geistes überhaupt im Zusammenhang mit den allgemeinen
Verhältnissen hervorgeht. Beides aber kann nur von der Religions-
philosophie, nicht aber von der Religionsgeschichte bewiesen werden;
die letztere wird immer nur als Bestätigungsmittel der einen oder
der anderen Lehre dienen können, aber sie niemals selbst begründen
können. Das alles aber sind Dinge, die nicht bloß für Breysig,
sondern die auch für sehr viel ernster zu nehmende Forscher wün-
schenswert wären und deren Unentbehrlichkeit gerade ein enfant
terrible der entwickelungsgeschichtlichen Methode, wie dieses Buch
Breysigs, zeigen kann.
Heidelberg Troeltsch
W. B. Smithy Der vorchristliche Jesos
WlUlmm Bei^amln Smitb, Der vorchristliche Jesus, nebst weiteren
Vorstudien zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums. Mit einem Vorwort
von P. W. Schmiede!. Gießen, Töpelmanns Verlag, 1906.
Dieses Buch enthält eine Sammlung Ton fünf Aufsätzen, die ver-
schiedene Probleme des Urchristentums in sehr origineller und scharf-
sinniger, wenn auch zu manchem Widerspruch herausfordernder Weise
behandeln. Es sind, wie der Verfasser im Vorwort bemerkt, »Vor-
studien, die viel geeigneter sind, Fragen aufzuwerfen als sie zu
lösenc, die aber trotz ihrer fragmentarischen Form die aufmerksame
Beachtung derer verdienen, die der geschichtlichen Wahrheit auf
diesem dunklen Gebiet näher zu kommen ernstlich bestrebt sind.
Der 1. Aufsatz: >Der vorchristliche Jesus< geht davon
aus, daß die im N. T. vorkommende Phrase ta icspl too 'Itjooö ur-
sprünglich nicht die Geschichte Jesu, sondern die dogmatische Lehre
über den Jesus bedeutete, wie besonders deutlich erhelle aus Act.
18; 24: Apollos lehrte das den Jesus betreffende, obgleich er allein
von der Taufe des Johannes wußte, d. h. : er kannte und verkündete
nur die Lehre vom Jesus ohne Bezug auf die ihm unbekannte evan-
gelische Geschichte. Aehnliche Repräsentanten einer vorchristlichen
Form des Jesusglaubens will der Verf. auch in den ephesischen
Johannesjüngem und den im Namen Jesu Exorzismus treibenden
Priestersöhnen Act. 19, 1—7 und 8—20 finden. Femer scheint ihm
die Erzählung von der Bekehrung des Magiers Simon durch Phi-
lippus Act. 8, 9 — 24 darauf hinzuweisen, daß zwischen der gnostisch-
idealistischen Lehre Simons und dem christlichen Glauben ursprüng-
lich eine nahe Verwandtschaft bestand, welche die Kirche später
dadurch verleugnete, daß sie den älteren Vorgänger in einen Häre-
tiker verwandelte. Ebenso bezeugt die Episode Act. 13,6 — 12 von
dem in Eypros von Paulus bekämpften Pseudopropheten Elymas mit
dem Beinamen > Barjesu <, d. h. Sohn = Verehrer Jesu, das Vor-
handensein früherer Gestaltungen des christlichen Glaubens, die sich
entweder zur Orthodoxie entwickelten oder zur Häresie entarteten.
Weitere Spuren vom Vorhandensein eines vorchristlichen Jesus-
glaubens findet Verf. auch in dem >alten Jünger< Mnaso aus Eypros
(Act. 21, 16), in Ananias aus Damaskus, in dem Verfasser des von
Lukas benutzten Reisetagebuches, in dem Ehepaar Priscilla und
Aquila, die schon vor der Begegnung mit Paulus Christen waren,
endlich in den >Brüdem€, die den Paulus in Italien begrüßten; alles
dies beweise eine Vielheit von Zentren der christlichen Propaganda,
die ursprünglich von Jerusalem ganz unabhängig gewesen seien;
700 G4tL gcL ABZ. 19IK. 5r. 9
erst der Verf. der Apostelgeschichte habe diesen SadiTeiiialt tm*-
wischt, indem er dorch eine künstliche Geschichtfikoostniktion, a
der seine Oster- und Pfingstgeschichte and die ing^liche VerfoigiiBg
des Stephanos gehörte, Jemsalem zu dem einzigen Zentmm machte,
von dem alle christliche Propaganda aasgegangen seL Hiermiu zieht
dann Smith den Schlnß, daß >die Lehre Ton dem Jesus« Torchrist-
lich gewesen, ein Kolt, der anter Joden and besonders Hdlenistei
zwischen 100 vor ond 100 nach onserer Zeitrechnung geheim and ii
Mysterien gehüllt verbreitet gewesen sei, womit die Annahme eines
bestimmten lokalen ond persönlichen Aosgangsponktes dieser Lehre
nicht bloß überflüssig, sondern sogar anmöglich werde. Eine direkte
Bezeogong der vorchristlichen theologischen Idee des Jesus findet
er in dem bekannten Naassenerhymnos (Hippolytos, Phflosoph. V, lOX
wo Jesos als himmlisches Wesen und Offenbarer der wahren Gnosis
erscheint, — wobei freilich der entscheidende Ponkt, daß dieser
Hjmnos der vorchristlichen Aera angehöre, eine anbewies^ie An-
nahme bleibt! Dasselbe gilt aoch von der Bescbwörongsformel, die
sich in einem von Wessely veröffentlichten ägyptischen Zaoberpapyms
findet: 6pxiti» ob xard too deoö t»v 'Eßpaiibv 'Iijooö. Allerdings be-
merkt dazu Wilcken im Archiv für Papyrosforschong 1,427: »Daß
die ans erhaltenen Zaaberlehrbücher trotz der vielen alttestament-
liehen Elemente rein heidnisch — in dem weiteren Sinn mit Ein-
schloß des Jüdischen [als jüdisch-orieDtalischer Synkretismus] sind,
zeigt nichts deutlicher, als daß die einzige griechische Stelle, an der
Christus genannt wird, ihn als »Gott der Hebräer < bezeichnet; auch
sonst ist mir nichts Christliches in diesen Büchern aufge8toßen.<
Aber da das Alter dieser Zauberformeln unbestimmbar ist, so wird
doch wohl die Möglichkeit einer christlichen Herkunft jenes 'Iijooö
nicht ausgeschlossen sein. Smith aber glaubt, daß > Jesus < der in der
hellenistischen Diaspora aufgekommene Name für den Gott-Heiland
gewesen sei, der sich dann in Palästina mit dem Namen »Christus<,
der Bezeichnung des göttlichen Königs und Richters verschmolzt
habe; beides zusammen, der freundliche Jesus und der strenge
Christus, ergab den »Jesus Christus«, den Herrn Gott der ältesten
Christen; weshalb denn auch jeder Versuch, das Christentum von
einem Menschen herzuleiten, natürlich immer habe scheitern müssen.
Der zweite Aufsatz behandelt den Beinamen Jesu >Nazoräer.<
Daß dieser bei Matthäus durch den Heimatsort Nazareth erklärt
wird, steht nach Smith auf gleichem Boden wie die übrige mythische
Kindheitsgeschichte. Denn von der Existenz dieser Stadt ist nirgends
eine Spur bis auf Eusebius, Hieronymus und Epiphanius. In der
evangelischen Geschichte selbst ist nicht Nazareth, sondern Kaper-
W. B. Smith, Der vorchristliche Jesus 701
naum »seine Stadt<, wo er zu Hause war (Mc. 2,1); wo Markus und
Matthäus nur sagen: er ging in seine naxpiq^ hat nur Lukas in der
ganz ungeschichtlichen Episode 4, 16 ff. daraus Nazareth gemacht.
Während also Nazareth erst in späteren Schriften der Ueberlieferung
erscheint, gehört dagegen 6 NaCa>pato<; schon der ältesten Geschichte
an. In Act. 24, 5 ist von der Sekte der Nazoräer die Rede, im Tal-
mud ist das der übliche Name für die Christen. Er erklärt sich
nach Smiths Vermutung aus der altsemitischen, auch in den Keil-
schriften häufigen Wurzel na^ar = behüten. Beim Gnostiker Markus
findet sich die Form : 'Itjooö NaCapia, wobei das -ia die bekannte
Kürzung für Jahve ist, also Nazar-Ia ein beschreibendes Beiwort der
behütenden göttlichen Macht, nahezu gleichbedeutend mit 'Itjgoöc
und ocoTTjp. Die Konjektur von Cheyne und Wellhausen, daß Naza-
reth = Genesar = Galiläa sei, wird aus sprachlichen Gründen ab-
gelehnt. Die Hauptstütze seiner Hypothese findet Smith in dem
Zeugnis des Epiphanius (haer. 18. 29), der die Nazaräer als eine im
Ostjordanland heimische jüdische Sekte beschreibt, die das Opfer-
gesetz verwarf, sonst aber jüdischen Glauben und Brauch hatte; da
er sie ausdrücklich als nichtchristlich und vorchristlich bezeichnet,
so läßt sich ihr Name nicht wohl von dem Geburtsort Jesu herleiten,
wie das freilich Epiphanius tun will; die Widersprüche, in die sich
dieser Häreseolog hierbei fortwährend verwickelt, entspringen aus
seinem vergeblichen Bemühen, die Tatsache der vorchristlichen
Existenz der Nasaräer oder NazorAer (beides gleichbedeutend) mit
der kirchlichen Tradition auszugleichen. Diese und ähnliche jüdische
Sekten (Ebjonäer) dachten Christus als einen himmlischen Geist, der
sich unter mancherlei menschlichen Gestalten offenbarte.
Der 3. Aufsatz über A na stasis sucht nachzuweisen, daß dieser
Ausdruck ursprünglich nicht Auferweckung aus dem Tode, sondern
die Einsetzung Jesu zum Gottessohn, Heiland und Richter bezeichnet
habe, wozu später noch der neue Sinn der Auferweckung aus dem
Tode hinzugetreten sei. Diese Ausführung scheint mir größerenteils
erkünstelt und schief zu sein; daß der Glaube an den gekreuzigten
und auferstandenen Christus von Anfang an der Gegenstand der
christlichen Verkündigung und ihr unterscheidendes Merkmal dem
jüdischen Messiasglauben gegenüber gewesen ist, das ist doch eine
unbestreitbare Tatsache, wie man nun auch ihren Ursprung erklären
möge. Bedeutsamer ist die Bemerkung in der zweiten Hälfte dieses
Aufsatzes, daß die evangelischen Parabeln eine der ursprünglichen
apokalyptischen Reichspredigt widersprechende, evolutionistisch-geistige
Lehre vom Reich zu enthalten scheinen, was sich nur aus einer
späteren, nach der Zerstörung Jerusalems aufkommenden Korrektur
702 Gdtt gel. Anz. 1906. Nr. 9
der älteren apokalyptischen Reichserwartung erkliren lasse. Dies
triflft jedenfalls für das Evang. Lucä (vgl. 17,21) zn; hingegen lassen
die Parabeln vom Säemann und vom allmählichen Reifen der Saat
auch eine andere Deutung zu, die mit der apokalyptischen Reichs-
predigt nicht im Widerspruch steht. — Ueber das Säemanns^eichnis
stellt der 4. Aufsatz die originelle Hypothese auf, daß es eine mora-
lische Umbildung der gnostisch-kosmogonischen Allegorie vom Ix)gos
spermatikos sei, die sich in ihrer ursprünglichen Fassung in der
Naassenerpredigt finde, — eine Hypothese, die schwerlich BeÜall
finden dürfte.
Der letzte Aufsatz sucht nachzuweisen, daß der Römerbrief
vor 160 nicht kirchlich bezeugt, also auch nicht Viel früher verfaßt,
bezw. redigiert worden sei. Die vielfachen paulinJlchen Anklänge
des 1. Petrusbriefes weisen nach Smith nicht auf ein^, Abhängigkeit
vom Römerbrief, sondern beide Verfasser schöpften un9t>hängig von
einander aus dem religiösen Bewußtsein des liberalen C%|Jstentums
des 2. Jahrhunderts, das eine Menge von konventionellenVFprmeln
und technischen Schlagwörtern geprägt hat, die verschiedenen iMI''^
stellern geläufig waren. Das gilt auch für das Verhältnis vom Röil^
und Jakobusbrief. Auch der Verf. des I. Glemensbriefes hat dB.
Römerbrief nicht gekannt, die Verwandtschaft seines Lasterkataloges
(35,5) mit Rom. l,29fif. erklärt sich aus einer gemeinsamen Quelle,
einem jüdischen liturgischen Sündenbekenntnis. Die ignatianischen
Briefe haben zwar paulinische Gedanken, aber ihr Verf. zitiert den
Römerbrief nicht, kennt ihn also auch nicht; eher ist der Autor des
Römerbriefes von Ignaz abhängig, da dessen christologische Theorie
eine frühere Entwicklungsstufe als bei jenem zeigt. Da auch Poly-
karp den Römerbrief nicht zitiert, so ist die traditionelle Hypothese
seiner Abhängigkeit von diesem nicht wahrscheinlicher als die einer
gemeinsamen Quelle in sprichwörtlichen Redensarten. Dasselbe gilt
hinsichtlich gewisser paulinischer Anklänge in Justins Schriften; daß
der in Rom wohnende Justin den Römerbrief ignoriert, wäre nach
der traditionellen Ansicht von dessen früherer Abfassung unerklärlich. ^
Schließlich erweitert Smith sein Verdikt auf die sämtlichen paulini-
sehen Schriften: das Schweigen der apostolischen Väter über sie be-
weise, daß sie diese Schriften nicht gekannt oder anerkannt haben,
und es gebe also keinen Beweis für das Vorhandensein einer Samm-
lung paulinischer Briefe vor 140 (Marcion). Wie der Verf. dieeen
Satz (S. 207) mit I. Clem. 47, 1 ff. (Hinweis auf I. Kor. 3) und mit
Polycarp ad Phil. 3,1 ff. und mit Ignaz ad Eph. 12 zu reimen ver-
möge, ist mir nicht klar geworden. Uebrigens soll das Ergebnis
dieser Prüfung der äußeren Zeugnisse später durch eine solche der
W. B. Smith, Der vorchristliche Jesns 70S
inneren Zeugnisse, eine Analyse des Römerbriefes ergänzt werden,
die seine Zusammensetzung aus verschiedenen Fragmenten aus ver-
schiedenen Zeiten ergeben soll. Ob dieselbe überzeugender ausfallen
werde als der vorliegende Aufsatz »Silentium seculi?< das bleibt ab-
zuwarten.
Ueberhaupt ist das mein Eindruck von diesem Buch: seine Auf-
stellungen haben auf keinem Punkte bis jetzt eine überzeugende
Beweiskraft, aber sie zeigen in scharfsinniger Weise auf Probleme
hin, die bisher vielleicht nicht genügend beachtet worden sind, und
denen in ernster und unbefangener Forschung nachzugehen die Auf-
gabe der theologischen Wissenschaft sein wird. Mag sie dann auch
auf andere Ergebnisse kommen, als der Verf. meinte, so wird sie
diesem doch immerhin für manche Anregung zum Danke ver-
pflichtet sein.
Groß-Lichterfelde-Ost Otto Pfleiderer
P« Heribert Holzapfel, 0. F. M., Die Anfänge der Montes Pietatis
(1462 — 1515). VeröffentUchnngen aus dem Kirchenhistorischen Seminar München
No. 11. München 1903. Verlag der J. J. Lentnerschen Buchhandlung (E.
Stahl jun.). 140 S. S^.
Zu seinem aufrichtigen Bedauern kommt der Unterzeichnete erst
jetzt dazu, diese treffliche Schrift anzuzeigen. Eine Fülle von Stoff
ist in derselben mit knappen klaren Ausführungen zur Darstellung
gebracht. Der Nationalökonom, der Eirchenhistoriker und der Ethiker
wird davon mit gleichem Interesse Kenntnis nehmen. Zwar ist es
eine Schrift pro domo. Ein Franziskaner schreibt die Geschichte
eines Institnts seines Ordens. Doch wird man die pflichtmäßige Un-
parteilichkeit des Historikers nicht vermissen.
Man darf es dankbar anerkennen, daß der Verfasser in der Ein-
leitung über die Quellen und die Literatur orientiert. Denn wer
hätte, wenn er nicht Spezialist ist, in dieser Sache Kenntnis von
dem literarischen Material, das herangezogen werden kann?
Da das Institut der Montes Pietatis von den Franziskaner-
Observanten ausgegangen ist, so wäre zu erwarten, daß die Archive
des Ordens die grundlegenden Quellen für den Gegenstand ent-
hielten. Aber das Archiv des ganzen Ordens ist seit dem Anfange
des 19. Jahrhunderts aus Rom verschwunden und noch nicht wieder-
gefunden worden. Die Archive der einzelnen Ordensprovinzen aber
enthalten außer dem von Venedig wenig brauchbares. Ergiebiger
dagegen sind die städtischen und bischöflichen Archive an den
Orten, wo Montes Pietatis (M. P.) gegründet sind. Von größter
704 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
Wichtigkeit aber sind die zahlreichen Streitschriften und wissen-
schaftlichen Gutachten über die M. P., die zugleich eine Menge tod
historischen Notizen enthalten. Das zeitlich erste Gutachten» das
Consilium almi collegii doctorum utriusque inclitae civitatis Perusii
etc. stammt wahrscheinlich aus dem Jahre 1464. Solcher Gutachten
zahlt Verfasser eine ganze Reihe auf. Von den Gegenschriften gegen
die M.P. ist die bedeutendste das Werk: »De Monte Impietatisc
von Nicolaus Barianus de Placentia von den Augustiner-Eremiten,
1496. Auch der bekannte Kardinal Cajetan hat gegen die M.P. ge-
schrieben. Endlich sind unter den Quellen die offiziellen Erlasse der
Päpste hervorzuheben, die sich mit dem Institut der M.P. beschäf-
tigen. Da dieselben in dem BuUarium Romanum ed. Taurin. mit
einer Ausnahme nicht Aufnahme gefunden haben, konnten sie nur mit
Mühe erlangt werden. Sie sind chronologisch, im Ganzen 17, auf-
geführt. Der letzte Erlaß ist die Bestätigungsbulle von Leo X.
aus dem V. Laterankonzil von 1515. Bis dahin führt die vorliegende
Geschichte der M.P.
Das erste Kapitel handelt von der Vorgeschichte der M.P. Es
läßt sich erwarten, daß die M. P., die Verfasser (S. 16) als Wohl-
tätigkeitsinstitute (Leihanstalten) definiert, die hilfsbedürftigen Per-
sonen gegen Pfand das Nötige vorstrecken, um sie vor Ausbeutung
durch Wucherer zu schützen, nicht ohne Weiteres in der Geschichte
auftreten. Kommen Montes profani schon seit dem 12. Jahrhundert
in mehreren Gestalten vor, so ist doch erst die Tatsache, daß das
Volk von den Juden und Lombarden durch wucherische Unternehmen
ausgesogen wurde, der Anlaß geworden, daß von selten der Kirche An-
stalt getroffen wurde, dem sozialen Mißstand durch Gründung besonderer
Leihanstalten, eben der M. P., abzuhelfen. Die erste solcher Anstalten
wurde 1462 in Perugia gegründet. Der M. P. von Orvieto, den man
bisher für den ersten hielt, datiert erst aus dem Jahre 1463. Ver-
fasser macht es wahrscheinlich, daß der Gedanke aus der Mitte des
Franziskaner-Ordens wohlvorbereitet hervorgegangen ist. Die großen
Volksredner aus dem Observantenorden, die während des 15. Jahr-
hunderts Italien durchwanderten, wie Johannes Capistran, Bernhardin
V. Siena u. a. kannten am besten die Not des Volkes. Auf sie führt
Verfasser in letzter Linie die Anregung zurück. Diese Annahme ist
gewiß sehr ansprechend. In Perugia war es der päpstliche Legat
und Gubernator, der den Franziskaner Michael 1461 als Fasten-
prediger kommen ließ. Diesem gelang es die Privilegien der Juden
zu beseitigen. Am 12. April 1462 wurde von den Stadtvorständen
der Beschluß gefaßt, einen M.P. nach den Angaben Michaels zu
gründen. 3000 Gulden bildeten das Anfangskapital, von denen aller-
Holzapfel, Die Anfänge der Monies Pietatis 706
dings 1200 die Juden borgen mußten. Aus der Verwaltung sei her-
vorgehoben, daß das neugegründete Institut vom Anfang an gegen
mäßige »Bezahlungc auslieh. Das Wort »Interesse« oder >Zins«
wurde von selten der kirchlichen Kreise gern vermieden, wegen des
sich auf Luc. 6, 35 gründenden Zinsverbotes. Das Entgelt diente zur
Bezahlung der Beamten des Instituts. Uebrigens forderte man nur
4—12 °/o, während sonst wohl nicht unter 43 ^/o Zinsen ausgeliehen
wurde. Außerdem mußte der Entleiher ein Pfand stellen, das mit
'/s des Wertes eingeschätzt wurde. Nur an wirklich Hülfsbedürftige
gab man das Geld. Alle Darlehn sollten innerhalb von 12 Monaten
zurückgegeben werden. Hatte das zweite Kapitel von der Gründung
des ersten M. P. gehandelt, so führt uns Verfasser im dritten die
weitere Entwicklung bis 1515 vor. Die M. P. entwickelten sich nun
schnell. Orvieto und Gubbio folgten 1463, Foligno 1465, ebenso
Monterubbino u. s. w. Die Entwicklung drang von Mittelitalien nach
Oberitalien vor. Ueberall ging es nicht ohne Kämpfe ab, denn die-
jenigen, die bisher den Wucher in der Hand hatten, ließen sich ihre
Vorteile nicht ohne Weiteres rauben, hatten auch weitreichende Ver-
bindungen. Ueberall sind es namentlich Franziskaner, die gegen den
Wucher auftreten. Besonderes Verdienst hat hier Bemhardin v. Feltre,
der 1456 in den Orden eintrat. Sein Ansehn beginnt mit seiner
Tätigkeit zu Trient 1475, wo er eindringlich vor den Juden warnte
(S. 67). Wie das Verzeichnis am Ende des Buches aufweist, wurden
von 1462—1509 in Italien 88 M.P. gegründet. 67 Mitglieder seines
Ordens nennt der Verfasser, die besonders für das Institut gewirkt
haben. In Deutschland scheint in jener Zeit nur ein M.P. ent-
standen zu sein, der in Nürnberg aus dem Jahre 1498. Vielleicht
hat Verfasser recht, wenn er das Stocken der Bewegung in Deutsch-
land auf den baldigen Beginn der Reformation zurückführt. Das
vierte und letzte Kapitel hat die Ueberschrift : > Streitigkeiten und
Würdigung« und führt daher zunächst in die zeitgeschichtliche Be-
urteilung der M. P. ein. Hier hat sich ohne Zweifel viel Partei-
leidenschaft eingemischt. Die Gegner des Franziskanerordens waren
auch Gegner der M.P. Aber daneben bestand doch auch für die
mittelalterliche Kirche wohl Grund, nach der Berechtigung dieser
Leihinstitute zu fragen, die entgegen dem Gebote des Herrn, wie
dasselbe wenigstens von der Kirche verstanden wurde und demge-
mäß auch entgegen dem Gebote der Kirche selbst Zins nahmen beim
Ausleihen. Dies ist denn auch der Mittelpunkt des Streits gewesen.
Das Uebrige war nebensächlich. Es würde zu weit führen, auf die
Einzelheiten dieser Streitigkeiten einzugehen. Daß dieselben ge-
schärft wurden durch das Interesse der Juden und ihrer Freundei
706 QML gel. Ans. 1906. Mr. 9
bedarf kaum der Erwähnimg. Die prinzipielle Frage naeh der Be-
reehtigang der M.P. wurde aber durch die päpaUiehe Bolle: »Inter
multiplices< vom 4. Mai 1515 zu Gunsten der Franziskaner und ihm
Instituts entschieden.
Will man die M.P. vom Standpunkte der Ethik beurteilen,
so wird man im Wesentlichen ebenfalls dem Ver&sser beistimmen
dürfen, wenn er sagt, daß die Errichtung des Instituts zunächst eine
weitere Auffassung des Zinsverbots angebahnt, namentlich aber auch
durch Kreditgewährung unter günstigen Bedingungen in schweren
Zeiten unsäglich viel Not lindem half.
Hannover Ph. Meyer
Martin Selmlse, CalTins Jenseits-Christentum, in seinem Ver-
hältnisse zu den religiösen Schriften des Erasmus unter-
sucht. Görlitz, Rudolf Dülfer, 1902. yi,74S. 1,60 M.
Schon im Jahre 1901 hat der Vf. in den von N. Bonwetsch und
R. Seeberg herausgegebenen »Studien zu der Geschichte der Theo*
logie und der Kirchec (VI. Band, 4. Heft) eine Abhandlung erscheinen
lassen mit dem Titel: >Meditatio futurae vitae. Ihr Begriff und ihre
herrschende Stellung im System Calvins. Ein Beitrag zum Verständnis
von dessen institutio.c Ich habe diese erste Schrift — allerdings et-
was verspätet — in der DLZtg. 1905, Nov. 27. Sp. 1677 f. ange-
zeigt und zugleich für die nun vorliegende Schrift, welche tatsächlich
und nach der ausdrücklichen Erklärung des Vf. (S. 1) >eine ErgSn-
zung oder Fortführung c der ersten Arbeit ist, eine Besprechung in
diesen Blättern in Aussicht gestellt.
Schon in seiner ersten Schrift hatte der Vf., wie er in der Ein-
leitung darlegt, die starke und ziemlich einseitige Richtung des
Christentums Calvins auf das Jenseits, wie sie sich in diesem immer
wiederkehrenden Begriffe zusammenfaßt, auf Plato als die letzte, dem
Calvin selbst nicht unbekannte Quelle dieser Art von Religion zu-
rückgeführt, ohne damit im Geringsten andere mittelbar platonische,
vor allem aber auch neutestamentliche Einflüsse ausschließen zu
wollen. Insbesondere hatte der Vf. in der Ankündigung seiner nun
weiter vorliegenden Studie auf Erasmus, als den erheblich älterwi
Zeitgenossen Calvins hingewiesen, in dessen Schriften Neutestament-
liches und Platonisches bereits im Bunde miteinander demselben
entgegengetreten waren. Was dem Vf. anfangs nur mehr Vermutung
war, ist ihm nun zur Gewißheit geworden, daß in den Schriften des
Schulze, Calvins Jenseits-Christentum 707
großen Humanisten, bei dem ja eine direkte Einwirkung Piatos
sicher anzunehmen ist, die Anknüpfungspunkte für jene, doch min-
destens der Form nach irgendwie mit dem klassischen Altertum zu-
sammenhängenden Ideen des Reformators zu suchen und zu finden
seien. Der Bildungsgang Calvins selber lag ja diesem Gedanken an
eine Verbindung mit Erasmus um so näher, da Calvin bekannter-
maßen von humanistischen Studien zum Christentum und zur Theo-
logie gekommen ist und also ohne Frage in den Werken des vielge-
lesenen und vielbewunderten Mannes zu Hause gewesen sein wird,
als er mit seiner Institutio hervortrat. Was nun dem Vf., dessen
eigener Worte wir uns im Bisherigen meist bedient haben, vorn-
herein wahrscheinlich geworden ist, soll nun hier gewiß gemacht
werden und damit zugleich eine indirekte Bestätigung bieten für die
von dem Vf. gegebene Erklärung der Sache in der ersten Studie.
Oegen eine Kritik Lobsteins, der die Auffassung des Vf. in seiner
ersten Schrift dahin gedeutet oder mißverstanden zu haben scheint,
als ob der Vf. bei Calvin das christliche Element zu sehr hinter dem
Einfluß des Piatonismus und hinter den Einwirkungen einer aus
Kränklichkeit stammenden Stimmungsdisposition zurücktreten lasse,
sucht der Vf. seine Betrachtungsweise mit Bezugnahme auf seine
eigenen Erklärungen dahin festzustellen, daß Plato nur für eine ge-
wisse, durch den christlichen Ton noch hindurch schimmernde Fär-
bung der Sache in Betracht kommen solle. Von einer chronologischen
Behandlung des Materials will der Vf. in dieser neuen Studie ab-
sehen, sich dieser komplizierten Aufgabe vielmehr bei einer andern
Gelegenheit unterziehen, wenn es sich um eine Untersuchung des
Verhältnisses von Erasmus zu Luther handeln wird, da hier um des
deutschen Reformators willen die Frage brennend werden wird, in
welche Zeit Aeußerungen des Erasmus fallen, die sich mit Stim-
mungen und Gedanken Luthers schneiden. Die Schwierigkeit liege
darin, daß in der Leydener Ausgabe der Werke des Erasmus erheb-
liche Veränderungen oder Bereicherungen in den verschiedenen Auf-
lagen nicht berücksichtigt sind, namentlich soweit es sich um den
Wendepunkt von 1517 handelt. Für Calvin kommt das um so viel
weniger in Betracht, als bei dem Auftreten desselben das Lebenswerk
des Erasmus so gut wie abgeschlossen war. Daß des Erasmus diatribe
de libero arbitrio gegen Luther vom Jahre 1524 einen Abfall des
großen Humanisten von seinen eigenen religiösen Prinzipien bedeutete,
lassen die Ausführungen des Vf. bes. S. 17 Anm. 4 jetzt schon mit
Sicherheit ahnen. Wir sind auf den genaueren Beweis hiefür, der
ein eigentümliches Licht auf den Charakter des Erasmus werfen
Q6U. gel. Am. 1906. Nr. 9. 50
Iffi Gd«L fdL Abz. 1906. Xr. »
würde, in der nun zo erwartenden weiteren Studie des VL sehr
gespannt.
Die Frage, die for nns ra bemntworten wire. lautet um dahin:
Befindet sieh CalTin mit seinem Jenseits-Chrstentiim zn den reli-
giösen Schriften des Erasmns nnd durch denselben zum Plntonismus
in einem far seine ganze Anscfaannng maßgebenden dnrchgehaden
Abbangigkeitsrerhaltnis? Der Verfaaser fahrt seinen Beweis dem
Umfange nach, indem er das Jenseits-Christentam CniTins in die
einzelnen wichtigsten Gesichtspankte auseinanderlegt und sodann dem
Inhalt nach die Aenflemgen des Erasmns and Calnns zu diesen
einzelnen Gesichtspunkten heranshebt» Tergleicht and seme Schlosse
daraus zieht oder genauer den Leser selber ziehen laCL Gleich in
der Einleitung zum 1. Kapitel »WeltTerachtnng und Tode88dinsacht<
macht der Vf. mit ebenso großem Nachdruck als Recht gettend, daß
es sich in dieser Beziehung nidit um einzelne, wenn auch oiler
wiederholte Aeußerungen des Erasmus handelt, sondern daß er in
der Weltyerachtung und in der Todessehnsucht einen Grundzug des
christlichen Lebensideals gesehen hat und daß bei Erasmus die ganze
nähere Aosfuhrung und Begründung sich finde, welche Cnlfin dem
Gedanken gibt, sowie eine Menge der Beziehungen, in welche er
denselben bringt, und daß diese Uebereinstimmnng sich erstrecke
bis auf die Verwendung desselben Wortschatzes (S. 14 f.). Daß diese
Wahrnehmung durchaus das Richtige tri£fl, beweist der Vf. in doa
vorliegenden ersten Abschnitt einerseits durch seine Ausführungen im
Text selber, andererseits und noch mehr durch die überaus reichen
und ausführlichen Beweisstellen, die er in den Anmerkungen ans
den Werken des Erasmus (meist dem 5. Bande der Leydener Aus-
gabe, der die wichtigsten hierher gehörigen Schriften des Humanistoi
enthält, dann auch aus dem 4. Bajide) bringt und die dann mit da
entsprechenden Aeußerungen Calvins in den verschiedenen Bearbei-
tungen seiner Institutio (Corpus Reformatorum tom. 29 und 30) auf
das sorgfältigste verglichen werden. Ich habe die Zitate aus den ge-
nannten Bänden der Werke Calvins und aus dem 5. Bande der
Werke des Erasmus im Einzelnen nachgeschlagen und geprüft und
kann darum dem umfassenden Fleiß und der punküiehen Sorgfalt
des Verfassers nur das beste Zeugnis der Zuverlässigkeit ausstellen.
Aber dieselbe Wahrnehmung erstreckt sich auch auf die übrigen
Abschnitte, in denen der Vf. das Jenseits-Christentum Calvins in
seinem Verhältnis zu Erasmus in seinen einzelnen Beziehungen aus-
einanderlegt. Diese Abschnitte sind: Die Folgen (dieser Jenseits-
stimmung) für die Sittlichkeit S. 14—30; Die Güter und Aufgaben
des Erdenlebens im Besonderen S. 31 — 34; Der Glaubensbegriff
Schulze, Calvins Jenseits-Christentum 709
S. 40— 66; Die Eschatologie S. 67— 73. Es würde zu weit führen,
wenn wir auf das Einzelne uns genauer einlassen wollten. Nur
einzelnes müssen wir noch herausgreifen, um es besonders zu be-
tonen.
Leicht ist die Lektüre der Schrift schon aus dem Grunde nicht,
weil einmal der Text an und für sich in sehr gedrungener Form ge-
halten und doch selber von Zitaten ganz durchzogen ist, andererseits
aber der Blick und die Aufmerksamkeit des Lesers immer wieder
vom Text auf die sehr zahlreichen, den größeren Teil des Raumes
der Schrift einnehmenden Anmerkungen abgelenkt wird, und endlich
auch, weil es im Text und in den Anmerkungen nicht an Exkursen
fehlt, durch welche der Vf. den einheitlichen Fluß seiner Darstellung
unterbricht. Wir möchten den Grund für diese Schwierigkeiten, die
sich dem Leser umsomehr entgegenstellen, je eifriger er bemüht ist,
während der Lektüre der Schrift die Richtigkeit der Zitate zu kon-
trollieren, nicht sowohl in einer gewissen Unbeholfenheit des Vf.
suchen und finden, als vielmehr in seinem eifrigen und sehr dankens-
werten Bestreben, in möglichst zusammengedrängter Form seinen Stoff
vorzuführen und seiner Beweispflicht gerecht zu werden.
Der Gedanke, warum denn der Vf. zur Erklärung der Jenseits-
Stimmung Calvins nicht auf Seneca zurückgegriffen habe, mit dem
ja Calvin ganz genau bekannt war und dessen Schrift de dementia
Calvin ja im jugendlichen Alter herausgegeben hat, ist mir bald ge-
kommen und wird wohl auch bei andern Lesern auftauchen. Leider er-
fährt der Leser den Grund hierfür erst S. 40 Anm. 1 : der Vf. wollte
sich bei Seneca nicht aufhalten, um auf die letzte Quelle, nämlich
Piatos Phädon zurückzugehen. Ob nicht doch ein genaueres Ein-
gehen auf die Beeinflussung Calvins, bzw. seines Vorgängers Erasmus
durch Seneca zweckmäßig gewesen wäre, wird sich bei dem gewal-
tigen Ansehen, dessen sich Seneca im Humanistenzeitalter erfreute
— ich erinnere nur an Zwingli — nicht völlig abweisen lassen. Für
die Bedeutung Piatos zur Entwickelung dieses weltflüchtigen Sinnes
möchte ich noch hinweisen auf die ausgezeichneten Ausführungen in
Erwin Rohdes Psyche «U S. 263—295.
Die Anregungen, die der Vf. gegeben hat, werden nach ver-
schiedenen Seiten sehr fruchtbar sein. Eine davon haben wir schon
oben berührt, als wir von des Erasmus diatribe de libero arbitrio
redeten: auf grund des von dem Vf. erbrachten Tatsachenmaterials
bleibt wohl nichts anderes übrig, als ein berechtigter Zweifel daran,
ob es dem Erasmus mit seiner gegen Luther gerichteten Schrift, die
ja den sonstigen Grundanschauungen des großen Humanisten völlig
widerspricht (s. Schulze S. 17), überhaupt ernst gewesen ist. Sodann
50*
710 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 9
ist jedenfalls klar, daß, wenn wir auch den Einfluß der Stimmimg
eines Apostels Paulus auf grund von 2. Kor. 5 und Phil. 1 hoch ein-
schätzen für die Anschauung eines Erasmus wie eines CalTin, dieses
spezifische persönliche Christentum in seiner ganz eigenartigen escha-
tologischen Stimmung doch ganz hervorragend platonisch gefärbt ist
Von hier aus angesehen läßt sich auch das Recht der wider-
täuferischen Bewegung, sofern sie wenigstens in ihren besten Ver-
tretern, einem Denk, Hätzer u. a. auf das von Jesus selber gepre-
digte Evangelium zurückgriff, recht wohl verstehen, wenn auch diese
Richtung in der Art und Weise, wie sie dieses Evangelium in der
Gegenwart zur Geltung bringen wollte, wohl fehlgegrüfen hat Es
wäre zu wünschen, daß der Vf. in den weiteren Arbeiten, die wir
von seiner Hand zu hoffen haben, auch auf diese und andere Punkte
seine Aufmerksamkeit richten möchte, z. 6. auf die gegenwärtig viel
behandelte Frage, wie die religiöse Stimmung der reformierten, d. h.
der durch Calvin und nun auch mittelbar von Erasmus bestimmten
Frömmigkeit zu dem aus ihm herausgewachsenen Geiste kapitalisti-
schen Denkens und Handelns sich verhalte, vgl. Theol. Rundschau
Vm S. 507.
Doch sagen wir inzwischen dem Vf. für seine zweite Gabe besten
Dank. Wir sehen seiner weiteren literarischen Tätigkeit auf dem
von ihm bearbeiteten Gebiete mit lebendiger Spannung entgegen.
Weinsberg D. A. Baur
BepertoriUE über die in Zeit- und Sammelschriften der Jahre
1891—1900 enthaltenen Aufsätze und Mi tteiiangen schweizer-
geschichtlichen Inhaltes. Als Fortsetzung zu Brandstetters Reper-
torium für die Jahre 1812 — 1890 herausgegeben von der allgemeinen geschicht-
forschenden Gesellschaft der Schweiz und in ihrem Auftrag bearbeitet yon Dr.
Hans Barth, Stadtbibliothekar in Winterthur. Basel 1906. Verlag der
Basler Buch- und Antiquariatshandlung, vormals Adolf Geering. YII and 859
Seiten. Lexikon-Oktav. Preis brosch. 8 Mk.
Das im Jahre 1892 erschienene, eben genannte schweizergeschicht-
liche Repertorium von Prof. Dr. Jos. Leop. Brandstetter in Luzem
ist im Jahrgang 1893 dieser Zeitschrift, Nr. 4 S. 181 — 184 besprochen
worden. Fast möchte man erschrecken bei dem Gedanken, daß die
Literatur weiterer 10 Jahre einen Band füllt, beinahe ebenso groß
wie der erste. Bei näherem Zusehen ist indes die Sache doch nicht
ganz so arg. Einmal hat Barth eine Anzahl Zeitschriften aufge-
nommen und von Anfang an ausgezogen, die sein Vorgänger über-
Barth, Bepertoriam üb. Aufsätze u. Mitteiloogen schweizergeschichtl. Inhalts 711
gangen hatte; ferner wurden als » Sammelschriften c eine Anzahl
weiterer Werke, hauptsächlich biographischen Inhalts, hinzugenommen,
die ebenfalls zahlreiche Ergänzungen ergaben. Von ausländischen
Zeitschriften, die Brandstetter nur spärlich herangezogen hatte, ist
das Freiburger Diözesan- Archiv , Birlingers Alemannia, Schau-ins-
Land und vielleicht noch ein paar andere hinzugekommen, die alle
willkommene Ergänzungen bieten. Leider konnten die übrigen aus-
ländischen Zeitschriften nur in beschränktem Maße hinzugenommen
werden, wodurch allerdings ein beträchtlicher Ausfall entsteht. Von
politischen Zeitungen ist nur die Neue Zürcher-Zeitung berück-
sichtigt, die ja allerdings viele bezügliche Artikel bringt; aber an-
dere Tagesblätter, selbst Kalender, tun das auch, so daß hier schwer
eine Grenze zu ziehen ist. Indessen, der Verfasser mochte gedacht
haben: Superflua non nocent, ein Grundsatz, dem man noch am
ehesten in der Bibliographie Konzessionen machen kann. Im ganzen
sind 249 Zeit- und Sammelschriften benutzt, deren Titel im ersten
Teil aufgeführt werden.
Der zweite Teil bildet den Hauptinhalt und nimmt auch den
größten Raum des Buches ein. Er enthält, systematisch geordnet,
das Verzeichnis der Abhandlungen und Mitteilungen und zerfällt
in drei Unterabteilungen: vorrömische Zeit, römische Zeit, Mittel-
alter und Neuzeit. Die weitaus größte Abteilung ist naturgemäß die
dritte. Unter 19 Titebi, wovon viele wieder zahlreiche Unterab-
teilungen einschließen, werden einige tausend Abhandlungen ver-
zeichnet. Die wichtigeren davon sind: Ortsgeschichte, Kirchenge-
schichte, Literaturgeschichte. Zur Sprachgeschichte wird auch die
Deutung der Familien- und Ortsnamen gerechnet. Gegen die Ein-
teilung ließe sich ja manches einwenden ; Barth hat aber doch gut
getan, bei derjenigen seines Vorgängers zu bleiben, da man in vielen
Fällen beide Werke über denselben Gegenstand wird nachschlagen
müssen und so sich leichter zurechtfinden kann. Die umfangreichste
von allen Abteilungen, die wohl auch am meisten benutzt wird, ist
diejenige, welche > Biographien und Nekrologec enthält. Ueber 5000
Namen werden in alphabetischer Reihenfolge verzeichnet, die Lebens-
zeit der betreifenden Person und der Fundort des biographischen
Materials über sie angegeben. Die meisten Artikel füllen kaum eine
Zeile, dank den angewandten Abkürzungen und — der unbedeuten-
den Persönlichkeit : Aerzte, Lehrer, Militärs, Musiker, denen in einer
Fachzeitschrift der verdiente Nekrolog gewidmet wird; so etwa auch
einmal einem Tambour-Instruktor. Auch ließ sich nicht vermeiden,
daß einigen Lebenden bereits ihr Denkmal auf diesem großen Kirch-
hof errichtet wurde; ihre Zahl ist aber nicht groß. Am meisten
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obeisteigt bei aodera die Zähl der Zitate das ToOe
Tb. T. Liebeiaa: ikai koauaea Hoppeler^ Meyer
Molioea, ScodKlber;, Tetter aa aidistea.
Das Bepertoriaai iü eia aaeatbekriiches
jeden, der sieh mit Schweizergeaciiidite be&ifit. Aber
weitere Kreise ist es eiae wichtige Fandgrabe.
aagefnbrt, dafi der zweite Teil S4 Abhaadhiagea aber
Foade and Orte Terzeidtaet, 58 aber Schweizer im Aaslaad. 2ä0
über Wappeakaade, 77 aber Mnazkoade, 47 über Giaamleiei, 59
ober historisdie and Volkslieder, 68 ober Sagen, 29 über Masik. Die
AbteOnng KnltorgeschMite fuhrt in 18 Rubriken die Tersdüedeastei
Gebiete Tor. So Terdient der Fleifi des Vertusen alles Loh, der ii
5 Jahren trotz Terschiedener Hindemisse eiae treflfliche bibliogn-
phiscbe Leistung zu stände gebracht hat. Aber auch seine Grüad-
licbkeit und ZuTerlassi^eit Terdienen alle Anerkennung; die weniges
und unbedeutenden Lücken, die mir beim Durchmustern an^estofiea
sind, Termögen die Brauchbarkeit nicht zu yerringem. Als sein
besonderes Verdienst ist noch zu erwähnen, daß er die Names
vieler Verfasser, die nur mit Chiffem angedeutet waren, ▼oD-
ständig angibt. Auch sonst weicht er in kleineren Dingen, die den
Druck betreflfen, einigemal Ton seinem Vorgänger ab und hat das
Buch dadurch leichter benutzbar gemacht. Möge es dem Verfasser
vergönnt sein, auch die folgenden Jahrzehnte in möglichster Voll-
ständigkeit uns vorzuführen.
Einsiedeln P. Gabriel Meier
Festschrift z. 50jährigeo Bestehen des eidgen. Polytechnikums 713
Festschrift zur Feier des fnnCBigJfthrifen Bestehens des Eidgen5sslsehen
Polytechnikums. Erster Teil (XYI u. 405 S., mit zahlreichen Porträts).
ZweiterTeil (III, u. 480 S., mit zahlreichen Bildern im Texte), (gr. 4, Druck
von Iluber u. Comp, in Frauenfeld, 1905). (gr. 4, gedruckt vom polygraphischen
Institut von Zürcher und Furrer, Buchdruckerei, Zürich, 1905).
Die monumentale Festschrift, die im Titel genannt ist, zerfällt
in zwei Teile: »Geschichte der Gründung des Eidgenössi-
schen Polytechnikums mit einer Uebersicht seiner Ent-
wickelung, 1855—1905, zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens
der Anstalt verfaßt im Auftrage des Schweizerischen Schulrates von
WilhelmOechsli, Professor der Schweizergeschichte«, und: >Die
bauliche Entwickelung Zürichs in Einzeldarstellungen,
zur Feier des fünfzigjährigen . Bestehens des eidgenössischen Poly-
technikums verfaßt von Mitgliedern des Züricher Ingenieur-
und Architektenvereins«.
In dem Verfasser des G. G. A., 1904, Nr. 8, in seinem ersten
Bande besprochenen großen historischen Werkes hatte die dem eid-
genössischen Polytechnikum vorgesetzte Behörde die Persönlichkeit
mit richtigem Blicke erlesen, die befähigt war, die Aufgabe der Dar-
stellung der ersten fünfzig Jahre der Lehranstalt zu erfüllen.
In dem einleitenden Abschnitte > Vorgeschichte« geht Oechsli
zuerst dem Ursprung der Gedanken nach, die 1855 ihre allerdings
nicht dem vollen Umfange des ersten Ideals entsprechende Aus-
führung fanden. Denn als 1798 der Unterrichtsminister des eben
erst unter schweren Stürmen geschaffenen helvetischen Einheitsstaates
den Plan eines > allumfassenden Institutes« aufstellte, sollte diese
schweizerische Hochschule zugleich als hohe technische Lehranstalt
wirken; freilich war von der Möglichkeit einer Durchführung des
Projektes in den Wirren jener Jahre keine Rede. Neue Anregungen
folgten von 1827 an, und die so fruchtbare mit dem Jahre 1830 für
die Schweiz eintretende Epoche förderte anfangs die Weiterentwick-
lung des Programms. Ganz besonders brachte 1832 der Waadtländer
Monnard, der 1865 als Professor an der Universität Bonn starb, den
Vorschlag der Gründung einer Universität großen Stiles, auf dem
Wege des Abschlusses eines Konkordates zwischen den einzelnen
Kantonen; doch zur offiziellen Verhandlung an der Tagsatzung kam
der Plan nicht. Denn jetzt gingen einzelne Kantone, zuerst, noch
1832, Zürich, dann Bern, hernach in Verjüngung seiner schon dem
Mittelalter entstammenden Hochschule Basel vor, in der Ausbildung
eigener Universitäten, und in ähnlichen Bestrebungen, für ihre Aka-
714 Gott goL Anz. 1906. Nr. 9
demien, folgten in der Westschweiz Genf, Lausanne, Neuenbürg. Mit
vollem Rechte wendet sich da der Verfasser gegen die unzutreffende
Aeußerung Treitschkes, in der > Politik c, Band II, S. 262; denn nicht
an der angeblichen Abneigung der Demokratie gegen die Hochschal-
bildung, sondern an »der historisch gewordenen Zersplitterung des
geistigen, wie des politischen Lebens der Schweiz« ist die gesamt-
schweizerische Hochschule gescheitert. Im zweiten Teile dieser
> Vorgeschichte« bietet dann Oechsli die sorgfältig gesammelte Ueber-
sicht der Leistungen für das technische Bildungswesen in den ein-
zelnen Teilen der Schweiz bis zum Jahre 1855.
In ein neues Stadium trat die ganze Frage der Errichtung einer
höchsten schweizerischen Lehranstalt mit der Annahme der neuen
Bundesverfassung von 1848, in die nach lebhaften Diskussionen in
der für die Revision des Bundesvertrages eingesetzten Kommission
auch ein Artikel eingefügt erschien, der dem Bunde die Befugnis
gab, eine Universität und eine polytechnische Schule zu errichten.
Freilich verstrich noch eine längere Zeit bis zur 1851 vollzogenen
Einsetzung einer > Hochschulkommission«, und wie schon 1848 die
während der Verfassungsberatungen hervortretenden oppositionellen
Aeußerungen, teils in den Kantonen, teils auf der Tagsatzung, hatten
voraussehen lassen — so war in der Schlußredaktion des Hocbschul-
artikels die Verpflichtung des Bundes eben zu einer >Befugni8< zu-
sammengeschrumpft — , ebenso regten sich jetzt abermals die Gegner-
schaften gegen eine umfassende Gründung. Zwar war schon 1849
der Tessiner Franscini, der 1827 mit einem erstmaligen Ruf nach
einer gemeinsamen Universität hervorgetreten war, als Leiter des
Departements des Innern im neu gewählten Bundesrate damit durch-
gedrungen, daß aus den Kantonen statistische Materialien zu der
Frage der Durchführung des Hochschulartikels gesammelt wurden;
allein die weiter angefügte Fragstellung, ob die Errichtung eidge-
nössischer Anstalten zu wünschen sei, fand eher ablehnende Er-
widerungen. So kam eben das Jahr 1851 heran, ehe, wieder anf
Franscinis Antrag, die Expertenkommission erwählt wurde und zu-
sammentrat. In derselben wurde nun von Anfang an der Regierungs-
präsident von Zürich, Alfred Escher, der Vorfechter für die > schönste
schweizerische Kulturfrage <, allerdings in dem Sinne, daß Zürich,
nachdem Bern Sitz der Bundesgewalt geworden war, durch die Zu-
weisung der eidgenössischen Hochschule entschädigt werde; die
schließUche Abstimmung erklärte Universität und Polytechnikum als
wünschenswert, gab aber der ersteren für den Fall, daß gleichzeitige
Errichtung ausgeschlossen erscheine, die Priorität. Bei der Bera-
tung der von der Kommission ausgearbeiteten, durch den Bundesrat
Festschrift z. 50 jährigen Bestehea des eidgen. Polytechnikams 715
unterbreiteten Gesetzesvorschläge zeigten die eidgenössischen Räte
Gunst und Gegnerschaft, und so wurde eine abermalige mehijährige
Verschleppung hervorgerufen. Nur durch Eschers, des Sprechers der
Mehrheit der bestellten Nationalrats-Kommission, rhetorischen Sieg
wurde endlich am 29. Januar 1854 der Nationalrat dazu gebracht,
die Gründung der Universität, samt polytechnischer Schule, und zwar
für Zürich, zu beschließen. Aber der Ständerat wies es drei Tage
später in seiner Abstimmung ab, dem Beschlüsse zu folgen, und gab,
mit knapper Not, nur seine Einwilligung für das Polytechnikum, so
daß nun auch der Nationalrat, um wenigstens diesen Teil des Ganzen
zu retten, sich dem Ständerate anschloß. Bis zum 7. Februar kam
das Polytechnikumsgesetz zu Stande; es entsprach völlig dem wohl
in sich gefügten Entwürfe, den Escher schon 1851, als maßgebendes
Mitglied der damals arbeitenden Kommission, vortrefflich beraten
durch den aus Nidwaiden stammenden Mathematiker und Techniker
Deschwanden, Rektor der Zürcher Industrieschule, aufgestellt hatte,
in überlegtem Anschluß an das Vorbild der Karlsruher Schule und
im Gegensatz zu der Skizze des Genfers General Dufour, für den
das französische Muster maßgebend gewesen war. Daneben konnten
die unterlegenen Hochschulfreunde doch daraus einen Trost ge-
winnen, daß der Ständerat gleich nach seiner negativ lautenden Ab-
stimmung am 1. Februar in einem weiteren Beschlüsse der in Zürich
zu errichtenden polytechnischen Schule eine Schule der exacten, poli-
tischen und humanistischen Wissenschaften hinzufügte, was als ein
schöner Anfang für die zunächst nicht durchführbare Universität an-
zusehen sei.
Nachdem Zürich sich bereit erklärt hatte, die durch die Zu-
weisung der Lehranstalt erwachsenden Verpflichtungen zu über-
nehmen, und nach Feststellung des vom 31. Juli 1854 datierten
Reglements, bei dessen Ausarbeitung abermals Deschwanden am
meisten beteiligt war, wurde vom Bundesrat der Schulrat bestellt,
und der Thurgauer Kern, der schon in der großen Debatte im Ja-
nuar in einer ausgezeichneten Rede im Nationalrate für die Sache
gekämpft hatte, erhielt den Vorsitz in der Behörde, den er bis 1857,
wo er zum bevollmächtigten Minister der Eidgenossenschaft in Paris
erwählt wurde, beibehielt. Am 15. Oktober 1855 fand die Eröffnungs-
feier statt. Es war dem Schulrate gelungen, in die Reihe der 32
Professoren Kräfte ersten Ranges hineinzuziehen. Der Architekt
Semper, die Ingenieure Culmann und Wild, für die mechanisch-tech-
nische Abteilung Zeuner und Reuleaux, die Chemiker Städeler und
BoUey, die Physiker Mousson und Glausius, die Botaniker Heer und
Nägeli, der Geologe Escher von der Linth, der Mathematiker Raabe,
716 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
der Astronom Wolf zählten zu den Gewählten, und dabei bestand
auch die Fühlung mit der Zürcher Universität, schon dadurch, daß
Lehrer der Hochschule unter den ernannten Professoren waren. In
der literarisch-staatswirtschaftlichen Abteilung waren Friedrich Yischer,
der spätere italienische Unterrichtsminister de Sanctis, der Historiker
Adolf Schmidt, und ganz besonders Jakob Burckhardt Glieder des
Lehrkörpers; das vom Verfasser aus den Akten hervorgezogene
Schreiben Kuglers, an Kern, über Burckhardt (S. 209 u. 210) ist
ebenso ehrend für den Schreiber, wie für den Empfohlenen. Aller-
dings dauerte es dann noch bis 1863, ehe ein erster Teil des auf
stolzer Höhe über Zürich nach dem Projekte Sempers erbauten Poly-
technikumsgebäudes bezogen werden konnte. Inzwischen war auch
— schon 1857 — an Kerns Stelle der gleichfalls dem Kanton Thur-
gau entstammende Kappeier, der auch schon 1851 als Berichterstatter
im Ständerate in der großen Redeschlacht geschickt gekämpft hatte,
Schulratspräsident geworden, und er bewies durch seine organisato-
rische Befähigung, durch die Findigkeit, wodurch er Lehrkräfte neu
aufzusuchen und zu gewinnen wußte, seine Tüchtigkeit.
Durch die Fülle des Stoffes genötigt, hält sich der Verfasser
über die näher liegenden Zeiten, bis 1880, und über das zweite
Vierteljahrhundert, seit diesem Jahre, kürzer, besonders auch in der
Behandlung der Personalveränderungen, und er schließt mit einer
zutreffenden Würdigung der Bedeutung der polytechnischen Schule
für die Schweiz als Gesamtheit.
Die 22 eng gedruckten Seiten der >Anmerkungen< geben einen
Begriff von dem ausgedehnten Material, das für die Arbeit zu
suchen und zu durchdringen war. Neben den Akten im Bundesarchiv,
in denjenigen des Schulrates sind es besonders die im umfangreichsten
Maß herangezogenen Zeugnisse in Zeitungen, Brochuren, anderen
zerstreuten Mitteilungen. Gerade dadurch verstand es der Verfasser,
der Geschichte der so interessanten einleitenden Stadien eine fessebide
Anschaulichkeit zu verleihen, so daß oft ein eigentlich dramatisches
Leben zu Tage kommt. Die verschiedenartigen Wandelungen im
Gründungsplane, die persönlichen, lokalen, kantonalen Schattierungen
im Kampfe um denselben finden ihre klare Erfassung und nachdrück-
liche Würdigung. Ganz vorzüglich sind aber auch die wohl gelun-
genen Charakteristiken der handelnden Persönlichkeiten, der zur
ersten Unterrichtserteilung berufenen Lehrer hervorzuheben. Ein
den Schluß des Bandes (S. 393—406) bildendes alphabetisches Be-
gister bringt den Schlüssel des reichen Inhaltes.
Der Verfasser dankt im Vorwort seinem Kollegen Theodor Vetter
für die vielfache Mithülfe, besonders bei dem illustrativen Teil; denn
Festschrift z. 50 jährigen Bestehen des eidgen. Polytechnikoms 717
37 Porträts begleiten den Text. Neben den hier schon genannten
Persönlichkeiten sind z. B. noch die Professoren Kenngott, Johannes
Scherr, Rambert, Lübke, Kinkel, Viktor Meyer, Christoffel und Veith,
die Bundesräte Schenk und Forrer, die Schulratspräsidenten Bleuler
und Gnehm aufgenommen.
>Die bauliche Entwicklung Zürichs« ist, wie schon be-
merkt, der zweite Band der »Festschrift« betitelt. Unter der
Redaktion von Architekt Oberländer-Rittershaus haben sich Mitglieder
des Zürcher Ingenieur- und Architekten Vereins, zu denen auch einige
nicht zum Verein zählende Verfasser kommen, zur Erstellung einer
umfassenden Darstellung der architektonischen, technischen und in-
dustriellen Bedeutung des Sitzes des eidgenössischen Polytechnikums,
in dreißig Abschnitten, vereinigt.
Gleich die zwei ersten Kapitel, >Die kirchlichen Baudenkmäler
des alten Zürich«, von dem Zürcher Kunsthistoriker Dr. Ganz, Privat-
dozenten in Basel, und >Die bürgerlichen Bauwerke des alten Zürich«,
von Architekt Dr. Bär, bieten sorgfältige, kurzgefaßte und — die
erste in Uebereinstimmung mit den neuesten Entdeckungen — dem
Stande der Kentnisse ganz entsprechende Würdigungen des Denk-
mälerbestandes. Ganz legt selbstverständlich das Hauptgewicht auf
die Fraumünsterkirche, deren älteste Bauteile, Reste der Krypta der
874 geweihten Säulenbasilika, erst vor wenigen Jahren ausgegraben
wurden^), und auf das Großmünster, von dem möglicherweise noch
ein Rest der 1078 durch Brand zerstörten Anlage vorhanden ist. Bär
sucht mit pietätvollem Verständnis in der modernen, vielfach ent-
stellend modernisierten Stadt die Ueberbleibsel origineller Bauweise
auf; er sieht in der Möglichkeit, die ganze jahrhundertelange Ent-
wicklung des alten Zürcher Stadthauses aus den frühmittelalter-
lichen Bauten nachweisen zu können, ein allgemein kultur- und kunst-
geschichtliches Interesse bei dieser Betrachtung der bürgerlichen
Bauweise Zürichs, wendet sich aber am Schlüsse, für die Zeit seit
Ende des 17. Jahrhunderts, wo insbesondere das Rathaus neu gebaut
wurde, den mit größerem Aufwände erstellten öffentlichen Gebäuden
zu. Der Abhandlung kommt das Verdienst zu, ein erstes Mal diese
ganze Entwicklung zusammengefaßt zu haben. — Von dem seither
verstorbenen Ingenieur S. Pestalozzi ist >Die bauliche Entwicklung
der Stadt Zürich hinsichtlich Tiefbauten und Quartieranlagen von
1855 bis 1893« vorgeführt, mit der notwendigen nachdrücklichen Be-
1) Vgl. Rahn und Zeller -WerdmOller: Die Baabeschreibang des Fraa-
münsters (1901), in Band XXY der Mitteüongen der Antiquarischen Gesellschaft
in Zürich.
718 Odtt gd. Anz. 1906. Nr. 9
tonung der Tätigkeit des Stadtingenieurs Bürkli^). — Der nun-
mehrige Stadtingenieur Wenner läßt Abschnitte über Straßen und
öffentliche Plätze, Brückenbauten, Kanalisation folgen, Stadtgärtner
Rothpletz denjenigen über Gartenanlagen und Baumpflanznngen, wei-
tere über das Abfuhrwesen dessen Chef Fluck, über die Wasserversor-
gung Ingenieur Peter, über die Beleuchtung Gasdirektor Weiß, über
das Elektrizitätswerk der Direktor Wagner. — Aehnlich zerfallt das
Gesamtkapitel Bahnen, Dampfschiffe, Post und Telegraphie in meh-
rere Unterabteilungen. Den Abschnitt Haupt- und Nebenbahnen
schrieb Oberingenieur Moser, der selbst Projektierung und Bau der
Mehrzahl unter ihnen leitete, ebenso den über die DampfschiSiahrt,
woneben die Straßenbahnen von Direktor Bertschinger bearbeitet sind.
Die kurzen Abschnitte über Post, über Telegraph und Telephon
gaben die betreffenden Direktionen. — Wieder zur Baugeschichte
zählen Professor Bluntschlis Beschreibung der neuen — im Ganzen
dreizehn — Kirchenbauten, von denen der Verfasser selbst die Kirche
des Außenquartiers Enge schuf. Kantonsbaumeister Fietz behandelt
einerseits die Militärbauten und Polizeigebäude, andemteils die Kan-
tonallehranstalten. Von Prof. Gull ist in dem Abschnitt: > Ver-
waltungsgebäude« besonders das von ihm auf der Stelle der alten
Fraumünsterabtei errichtete neue Stadthaus behandelt; in einem zweiten
schildert er sein erstes Hauptwerk, das Landesmuseum (vgl. G. G. A.
1899 Nr. 2). Die zahlreichen seit 1893 neu errichteten Schulhaus-
bauten der Stadt nahm Stadtbaumeister Geiser zum Gegenstand. Mit
dem ersten Teile der »Festschrift« steht der Beitrag von Professor
Lasius: >Die Gebäude der eidgenössischen polytechnischen Schule«
in engster Verbindung; neben dem Hauptbau kommen die nachher
hinzugefügten Bauten — Sternwarte, land- und forstwirtschaftliche
Schule, die Gebäude für Chemie- und Physik-Unterricht, zuletzt noch
besonders das Maschinenlaboratorium — zur Schilderung. Noch an-
dere neue Anlagen — Banken, Postgebäude, Börse, dann Eranken-
und Versorgungsanstalten, Theater und ähnliche Lokale und Gasthöfe,
Geschäftshäuser werden durch die Architekten Müller, listen, Wehrli,
Pfleghard vorgeführt. > Städtische Wohnhäuser« — von Architekt P.
Ulrich — und »Villen« — von Architekt Kuder — machen den
Schluß. — Endlich bieten noch der Professor am Polytechnikum
Prasil und Ingenieur Zegher das Kapitel: »Aus Zürichs Maschinen-
industrie«.
Es darf wohl gesagt werden, daß wenige Städte eine so reich-
haltige, vollständig in sich geschlossene Darstellung ihres jetzigen
1) Vgl auch Escher-Bürkli: Lebensbild von Dr. Arnold Bfirkli-Zia^
(Netgahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich für 1905).
Festschrift z. öOj&hrigen Bestehen des eidgen. Polytechnikums 719
Standes, sowie der Wege, auf denen er erwachsen ist, aus der Feder
kompetentester Autoren, besitzen, wie das jetzt in diesem fast 500
Seiten starken Bande der Fall ist.
Acht eng gedruckte Seiten enthalten das Verzeichnis der Illu-
strationen. Ganz besonders reich und wertvoll für die historische
Erkenntnis sind die Bilder zu den drei ersten baugeschichtlichen
Abschnitten. In den Kapiteln »Städtische Wohnhäuserc und >Villen<
nehmen sie auch den meisten Raum ein. Reich sind ferner die
beiden Arbeiten Gulls, diejenige Bluntschlis illustriert. Aber über-
haupt sind durchgängig durch Grundrisse, Profile, Ansichten und
andere notwendige erläuternde Beigaben die schriftlichen Ausführungen
unterstützt.
lu typographischer Durchführung und gesamter Ausstattung ent-
sprechen die beiden Bände ganz dem hohen Zwecke einer Jubiläums-
schrift, dem sie bestimmt sind.
Zürich G. Meyer von Enonau
Mitteilungen zur raterländlschen Gesehlehte, herausgegeben vom Histori-
schen Verein in St. Gallen, XXIX (dritte Folge, IX). St. Gallen, Huber
u. Comp. (Fehrsche Buchhandlung) 1903 u. 1905. IV u. 748 S. gr. 8^
Zu der zuletzt G. G. A., 1903, in Nr. 5, behandelten Vadiani-
schen Briefsammlung ist hier durch die beiden Herausgeber,
Emil Arbenz und Hermann Wartmann, die fünfte Abteilung,
über die Jahre 1531 bis 1540, hinzugefügt worden. Das >Vorwort<,
das insbesondere über die Behandlung der Texte der deutschen
Briefe sich ausspricht und den Dank für die Mithülfe des G. G. A.,
1905, in Nr. 3 erwähnten Stadtarchivars Dr. Traugott Schieß und
des Stadtbibliothekars Dr. Dierauer ausspricht, stellt in Aussicht,
daß in Band XXX Vadians Todesjahr 1551 werde erreicht werden.
Das Jahrzehnt, das in den Briefen dieses Bandes vorliegt, be-
ginnt mit dem Jahr, in dem durch den Ausgang des zweiten Cappeler
Krieges und den darauf folgenden für die unterliegende Sache der
Zürcher Reformation so nachteiligen Friedensschluß auch die großen
politischen Aussichten dahin fielen, die für die Stadt Vadians sich
durch den Anschluß an Zwingli ergeben hatten. Die Möglichkeit,
der Mittelpunkt eines ausgedehnten in der neuen Lehre zusammen-
gefaßten Gebietes zu werden, war verloren, als das aufgelöste Stift
St. Gallen wieder ervQichs und rings um die Stadt St. Gallen die Be-
völkerung in die alte Kirche zurückgebracht wurde. Mit der Zurück-
720 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
Schiebung der politischen Tätigkeit Vadians, die sich hieraas ergeben
mußte, wuchs dagegen wieder seine literarische Arbeit, teils auf
theologischem Felde, teils, vorzüglich durch die aUerdings erst nach
der hier vorliegenden Zeitgrenze, erst 1545, geschehene engere Ver-
bindung mit Johannes Stumpff in Zürich, auf dem Gebiete, das Va-
dians Ruhm ausmacht, in der Pflege geschichtlicher Studien.
Den Hauptgegenstand der Korrespondenz im ersten der hier
vorliegenden Jahre bilden selbstverständlich die Vorgänge, die den
im Herbst ausbrechenden Krieg einleiteten; im Frühjahre ist es ins-
besondere der Müsserkrieg, der Kampf, der von dem räuberisch ge-
waltsamen Freibeuter, dem Kastellan von Musso am Comersee, gegen
die Graubündner angehoben worden war, der die Aufmerksamkeit in
Anspruch nimmt, und am Ende des Jahres steht das Unglück von
Cappel und am Gubel im Vordergrund, dessen erschütternder Ein-
druck Vadian auf das Krankenlager geworfen hatte. 1532 treten
nun die Folgen der Niederlage hervor, die Zurückwerfung der neuen
Lehre, die Beängstigungen aller Art, wegen der Haltung Berns, des
Mißverhältnisses dieser Stadt gegenüber Zürich, ja sogar, bis 1533, wo
BuUinger sich über das Auftauchen eines tollen Gerüchtes lebhaft
wundert (Nr. 730, 745), ob nicht auch Zürich selbst im Glauben
wankend werde ; um so mehr wird Vadian in einer Reihe yen Briefen
wegen seiner festen Standhaftigkeit gelobt. Die lebhafteste Teilnahme
an den Ereignissen in Württemberg, der Rückkehr Herzog Ulrichs,
der Besiegung Oesterreichs tritt 1534 zu Tage; daneben erkundigen
sich die Freunde eifrigst nach der in Arbeit liegenden und bald er-
scheinenden Vadianschen Erklärung der Apostelgeschichte in der
Schrift »Epitome trium terrae partium <. Vielfach ist schon, seit
1531, über die Unversöhnlichkeit Luthers geklagt, der nach der
Schlacht bei Cappel die > bestraften Schwärmer < Münzer und Zwingli
auf eine gleiche Linie gestellt habe, der sich die eigenen Anhänger
durch seine Heftigkeit entfremde (Nr. 672, 733); um so mehr zog
nun bis zum Ende des Jahres 1534 der von Butzer ausgehende
Einigungsversuch in der Abendmahlslehre die Augen auf sich, und
ungeduldig wird ein Jahr später die dann 1536 erschienene eigene
AeuOerung Vadians in dieser brennenden Frage — seine >Aphorismorum
libri sex de consideratione Eucharistiae« — erwartet. Der siegreiche
Kriegszug Berns gegen Savoyen, die Eroberung der Waadt und die
Errettung Genfs 1536 erscheinen als von Gott gesegnete Ereignisse.
Im gleichen Jahre 1536 begann nun die Erwägung über die Möglich-
keit eines Beitrittes der Schweizer zur Wittenberger Konkordie auch
Vadian, dem eine Einigung sehr am Herzen lag, stark zu beschäf-
tigen: am 30. August schrieb er selbst an Luther, am 6. Oktober
Mitteilnngen zur vaterl. Geschichte. XXIX 721
Melanchthon an Vadian (Nr. 911, 919), und am 2. November ver-
breitete sich Vadian, wieder im Sinne einer Verständigung mit Luther,
mit dem Bedauern über die sich weigernde Haltung der Zürcher, in
einem längern Briefe an BuUinger (Nr. 924), dem er am 28. des
Monates noch ein zweites Schreiben an Luther folgen ließ (Nr. 929).
Daneben beschäftigte das nach Mantua in Aussicht genommene Konzil
die Gemüter. Noch bis 1538 empfing Vadian Briefe, die sich über
die Zurückhaltung, den Argwohn der Zürcher gegen Luther miß-
billigend äußerten, ihn wegen seines Eifers, zu vermitteln, rühmten,
und Stimmen von Berner Geistlichen, zuletzt noch 1540 Briefe Sulzers
und Sebastian Meyers (Nr. 1098, 1142), lauten auch in diesem Sinne.
Doch treten bei Vadian jetzt andere Fragen in den Vordergrund,
der für ihn sehr ärgerliche Streit mit Appenzell, der sogenannte
Pannerhandel, dann 1540 die literarische Auseinandersetzung mit
Schwenkfeld; ebenso ist er mit einer historischen Arbeit, dem Trak-
tate: >Von Stand und Wesen der Stifter und Klöster«, dessen Ver-
öffentlichung allerdings zur Zeit verschoben wird (Nr. 1117), be-
schäftigt. Dazu nahm 1540, im Schlußjahr dieses Bandes, das Reli-
gionsgespräch zu Hagenau, dem dasjenige zu Worms alsbald folgte,
von auswärtigen Dingen die Teilnahme zumeist in Anspruch.
Die hier mitgeteilten Briefe reichen von Nr. 625 bis zu Nr. 1147.
Von 120 Briefschreibem sind Stücke abgedruckt. Vadian selbst ist
in diesem Male stärker vertreten, mit 23 Briefen. Neben den schon
erwähnten Schreiben an Luther stehen noch in den >Nachträgen<
zwei Briefe an Zwingli, von 1530; im Weitern sind im Ganzen 6
Briefe an BuUinger, 4 an Butzer, 3 an Blaurer, je einer an Haller
und Pellican gerichtet. Außerdem sind mehrere in die Sammlung
aufgenommene offizielle Schreiben von Bürgermeister und Rat von
St. Gallen aus Entwürfen von Vadians Hand hervorgegangen.
Von den unendlich viel* zahlreicheren Briefschreibern an Vadian
sind manche schon in den früheren Anzeigen — G. G. A. 1890: Nr.
25, 1896: Nr. 5, 1899: Nr. 2, 1903: Nr. 5 — zu nennen gewesen;
allein mehrere neue fleißige Korrespondenten, so vor Allem BuUinger,
kommen hinzu.
Denn eben Zürich bUeb für Vadian ein Hauptplatz geistigen
Austausches. Von Zwingli ist in den >Nachträgen< — in Nr. 4 —
noch ein Brief von 1525 nachgebracht; Nr. 628, von 1531, weist
schon deutlich auf die kommenden Gefahren hin, während Nr. 643
nur private Dinge berührt. Dann aber tritt Zwingiis ebenbürtiger
Nachfolger, BuUinger, wie in die Leitung der Zürcher Kirche^), so
in die Erbschaft des Briefwechsels mit Vadian ein, so daß schon
1) Vgl. G.G.A., 1905: Nr. 3.
722 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 9
dieser Band 40 Briefe von ihm enthält, die mit dem Jahre 1533 be-
ginnen (der schon erwähnten Nr. 730), und zwar so, daß zuwdlen
auch deutsche Stücke — so gleich der erste Brief — dazwischen
stehen. Bald verbreiten sich dann die Schreiben über die Terschie*
densten Fragen, der Theologie, der Eirchenorganisation, der innere
und äußeren Politik; die beiden Männer teilen sich gegenseitig ihre
Schriften mit, und auch die erst in Aussicht gesteUten Arbeitai
Yadians reizen schon Bullingers Wißbegierde : Yadian habe ja jetzt
Yor > seinen Appenzeller Freunden < Ruhe, schreibt Bollinger 1540
ironisch nach St. Oallen (Nr. 1088). Koch ein zweiter neuer Korre-
spondent in Zfirich ist der Buchdrucker Christoph Froschaner, dessea
12 Briefe 1532 mit Nr. 660 einsetzen; er druckt Arbeiten Yadians,
und 1540 bewirbt er sich eifrig um den oben erwähnten Traktat
(Nr. Uli, 1112). Aber auch Leo Jud blieb unter den fleißigstea
Briefschreibem : er ist mit 10 Stücken vertreten, unter denen be-
sonders zwei längere Fragestellungen wegen der Ehescheidung (Nr.
978, 1032) in das Gewicht fallen. Ebenso stellt sich Georg Binder
wieder mit 5 Briefen ein, die meist literarische Fragen, Arbeiten
Yadians betreffen; in Nr. 829 — von 1535 — wird die Bitte ansge-
sprechen, daß zur Unterstützung des in Basel neu als Buchdrucker
sich niederlassenden Thomas Platter Yadian gestatte, der Publikation
des Julius Solinus und des Pomponius Mela — dessen erste Ausgabe
durch Yadian war von 1518 — seinen Namen vorzusetzen. Yon ähn-
lichem Inhalt sind die 1532 — mit Nr. 714 — beginnenden 7 Briefe
Pellicans, von denen Nr. 896 interessant ist, wegen der da erwähntoi
Aeußerung des wieder in St. Gallen lebenden Abtes, daß eine Förde-
rung des wissenschaftlichen Lebens in seinem Kloster nicht in seiner
Absicht liege. Der G. G. A. 1901, Nr. 3, erwähnte junge Gelehrte
Bibliander, mit 6 Briefen, gehört gleichfalls in diese Kategorie ; 1536
Überläßt er es dem Urteile Yadians, ob er wirklich Butzer, wie ihm
vorgeworfen werde, in der Abendmahlsfrage zu hart angegriffen habe
(vgl. Nr. 897, 910, 924, 939, »Nachträgec Nr. 29 zu Nr. 916), und in
den » Nachträgen < sind noch Proben der im Briefe Biblianders Nr. 922
erwähnten lateinischen Yerse mitgeteilt. Aus Zürich schickte auch
Karlstadt 1532 Yersicherungen seiner Dienstwilligkeit, dann einen
Bericht über seinen Streit ;mit dem längere Zeit unstet hemmge-
triebenen, später in St. Gallen als Prediger wirkenden FnrtmOIler
— auch von diesem steht ein Brief als Nr. 694 — , worauf noch 1535
eine kurze Mitteilung ans Basel folgt (Nr. 665, 699, 810). Auch ein
Yerwandter Yadians, Hans Konrad Escher — seine Frau, Dorothea
Grebel, war eine Schwester der Frau Yadians — , der 1540 als
Schirmhauptmann der Abtei nach St. Gallen übersiedelte, stand m 5
Mitteilungen zur vaterl. Geschichte. XXIX 723
— deutsch geschriebenen — Briefen mit Vadian in Verbindung. Der
aus Zug nach Zürich ausgewanderte Wernher Steiner schrieb 2 Briefe
in Geschäftsangelegenheiten.
Von Bern kamen zuerst noch von Berchtold Haller, bis kurz vor
seinem Tode — der letzte Brief, Nr. 871, schildert Ende Januar
1536 dem Arzte Vadian die stets wachsende Krankheit — , im Ganzen
13 Schreiben: 1532 ist der Reformator Berns mit der Haltung des
dortigen Rats, mit den verworrenen Verhältnissen wenig zufrieden,
schreibt aber daneben auch über litterarische Dinge, so (in Nr. 716)
über ein in Aussicht stehendes Werk Aventins; die Vadian bewegen-
den Fragen werden besprochen — in Nr. 783 hofft Haller, das her-
gestellte Württemberg werde ein Asyl Glaubensverfolgter werden — ,
besonders die Nachrichten über Genf, Savoyen nach St. Gallen ver-
mittelt. In den nach Haller eintretenden Predigern — Peter Eunz,
Sebastian Meyer, Simon Sulzer — kam dann, wie schon erwähnt,
in den von Nr. 1036 (Januar 1539) an folgenden 6 Briefen in der
streitigen dogmatischen Frage die Auffassung Luthers greifbar zum
Ausdruck; besonders Nr. 1095, von Sebastian Meyer, der lebhaft
über das Widerstreben der Zürcher gegen die angestrebte Einigung
klagt, gehört zu den längsten Stücken des ganzen Bandes.
Auch in Basel starb ein früherer Hauptkorrespondent, Oeko-
lampad, schon 1531. Myconius konnte schon im ersten seiner 14
Briefe, in Nr. 709, melden, er sei als sein Nachfolger erwählt worden;
Nachrichten aus Deutschland — er freut sich in Nr. 1008, den brief-
lichen Verkehr zwischen Schweizern und Fremden zu vermitteln — ,
Aeußerungen des Aergers und Kummers auch von seiner Seite, daß
Zürich der Einigung mit den Anhängern der Eonkordie widerstrebe,
sind Hauptkennzeichen dieser Kundgebungen. Auch der Prediger
der St. Leonhardkirche, Bersius, setzte seine fleißigen Mittheilungen,
in 18 Briefen, fort; deren Inhalt berührt sich mehrfach mit den
Schreiben des Myconius, betrifft aber auch vielfach litterarische
Fragen, wie denn beispielsweise die Briefe Oekolampads an Vadian
zum Zweck der Veröffentlichung begehrt werden (Nr. 851, 854).
Auch der Buchdrucker Cratander fuhr in seiner Korrespondenz fort:
die 8 Briefe betreffen ganz besonders buchhändlerische Fragen, da-
neben eine gereizte Verhandlung mit dem Abt von St. Gallen, der
sich weigerte, Bücher aus der Klosterbibliothek herauszugeben, ehe
alle verschleppten Bücher — aus der Zeit der Auflösung des Kon-
ventes — wieder zur Stelle gebracht seien (Nr. 686, wozu vgl. Nr. 635,
771, 785). Sind schon die Briefe dieses Druckers, entgegen denjenigen
Froschauers, durchaus lateinisch geschrieben, so ist das vollends
selbstverständlich bei den 15 Schreiben des gelehrten Buchdruckers
UOU. gd. Arn. 1906. Nr. 9. 51
724 Gdtt gel Ans. 1906. Nr. 9
Oporin der Fall, die 1537 mit Nr. 943 beginnen; for seinen Verlag
wirbt er nm Vadians neue Ausgabe des Pomponins Mela, beriditet
— in Nr. 1123 — über die von ihm selbst gesehene Hmgenaner Ver-
sammlung, ist in immer erneuten Aufträgen dem St. Galler beson-
ders auch fur die Besorgung des Verkehrs mit Bologna zu Dank
verpflichtet. Denn mit dem Buchhändler Arien Arnold Permxjdos,
von dem 3 Briefe an Vadian hier stehen, und mit dem eimnal ver-
tretenen Torrentinus in Bologna stand Basel nur aber St. Gallen in
Verbindung; ein hier 1539 in Bologna genannter Bnchdrocker Grr-
phius schrieb 1536 aus Lyon. 1537 wenden sich ans Solothum wegen
ihres Glaubens Vertriebene aus Basel in deutsch geschriebenen Briden
an Vadian, mit der Bitte, etwas bei ihnen drucken zu lassen (Nr.
945, 965). Von dem gelehrten Professor an der Universität Grfnios
endlich liegen 5 Briefe vor, die zumeist wieder auf das Projekt der
dogmatischen Einigung mit Luther sich beziehen; in Nr. 939 weiS
Grynäus im Anfang des Jahres 1537, daß Bibliander nochmals gegen
Butzer zu schreiben im Sinne habe. Von Sebastian Monster kam
aus Basel Nr. 961.
Aus Schafifhausen ging auch eine lebhaftere Brieüsendung nn
Vadian vor sich. Erasmus Ritter war ein getreuer Berichterstatter,
in 4 Briefen, über den Stand der Dinge in Schaffhausen, bis 1534^
nicht ohne berechtigte Klagen über die Haltung des in der gleichen
Stadt tätigen, gleichfalls in 8 Briefen — 1531 und 1536 ans Schaff-
hausen, bis 1539 aus Tuttlingen, 1540 aus St. Margrethen im Rhein-
tal — vertretenen Benedict Burgauer, des unruhigen ehemaligen
Geistlichen in St Gallen, den Ritter in Nr. 625 geradezu als >Hale-
dictus< bezeichnet und der 1531 in Nr. 634 Vadian am Aossohnnng
anfleht, dann 1536 nach seiner Absetzung in SchafiThansen diesen
bittet, ihm eine AnsteUung wieder zu verschaffen (Nr. 892), was er
alsbald schon 1537 aus Tuttlingen, wo er Pfarrer geworden war,
wiederholt (Nr. 972). Vereinzelt stehen noch Briefe des Ludwig
Oechslin (Nr. 700), die Bitte um ein angeblich von Vadian erstelltes
Heilmittel, und des Schafihauser Predigers Simprecht Vogt (Nr. 991).
Mit Gomander in Cur dauerte der Verkehr unvermindert fort:
in 40 ziemlich gleichmäßig über die Jahre sich verteilenden Brief»
des auch mit Bullinger ^) in enger Verbindung stehenden Pfarrers vcm
St Martin. Neben den Nachrichten aus Graubttnden stehen die Mit-
teilungen über Dinge vom Boden Italiens, und sichtlich ist &ber diese
Angelegenheiten Gomander eine Hauptquelle von Auskunft ffir Va-
dian. Nr. 658 ist ein beredter Ausdruck des Jammers nach den
Niederlagen von 1531; Nr. 724 klagt, daß RäUen yon Bauborn
1) VergL G.G.A., 1905: Nr. 3.
Mitteilungen zur vaterl. Geschichte. XXIX 725
wimmle; aber auch wissenschaftliche Fragen kommen zur Erörterung,
so in Nr. 707 und 718 über die Anfänge der Curer Kirchen.
Der G. G. A., 1889: Nr. 18, genannte Glamer Valentin Tschudi,
der schon früher — G. G. A., 1896 : S. 419 — an Vadian geschrieben
hatte, verdankt in seinen 4 Briefen teils litterarische Geschenke Va-
dians, teils berichtet er über seine schwierige Stellung gegenüber
seinen Gegnern, 1532 und 1534. Aehnlich setzte auch der gleich-
falls schon früher erwähnte Appenzeller Walther Klarer aus Urnäsch
in 4 deutsch geschriebenen Briefen seinen Verkehr mit Vadian fort;
es sind Anfragen an den Arzt, Berichte über Konflikte mit dem Abt
von St. Gallen.
Aus dem angrenzenden Thurgau erteilt in Nr. 632 ein Pfaff
Heinrich Auskunft über eine alte Chronik; Pfarrer Fer in Bischofs-
zeil wendet sich 5 Male mit dringendem Anliegen an Vadian. Aus
dem Toggenburg läßt Martin Edelmann Berichte und Bitten ab-
gehen.
Ganz besonders ergeben sich aber aus oberdeutschen Plätzen
wichtige Gruppen von Briefen.
Voran stehen hier die Briefe aus Straßburg. Bei der eingreifen-
den Tätigkeit Butzers, für die Annäherung der Schweizer Kirchen
an die Teilnehmer der Konkordie, fallen seine 12 Schreiben, die
bis 1536 reichen, in Betracht. 1533 war er mit dem gleichfalls
durch Nr. 736 vertretenen, aus Venedig vertriebenen Fontius in Bern
und schrieb von dort Nr. 735 ; dann beginnt ein sehr eifriger Aus-
tausch, wie sich von selbst versteht, zumeist zur Erzielung der be-
gehrten Einigung. Neben Butzer steht Bedrotus, mit 6 Briefen, die
noch recht, in ihren einleitenden stereotjrpen Worten über das
Schweigen des Korrespondenten, an die inhaltlosen Briefe der früheren
humanistischen Jahrzehnte erinnern; in Nr. 897 wünscht er, daß
Bibliander von scharfem Auftreten gegen Butzer abgemahnt werde.
Von Capito sind bis 1538 bald aus Straßburg, bald aus Basel, 11
Briefe geschrieben; auch er wollte um jeden Preis die Konkordie
mit Hülfe Vadians, entgegen dem Widerstreben der Zürcher, zum
Siege bringen und stellte insbesondere 1538 — in Nr. 1002 — ge-
radezu drei Begehren in dieser Richtung auf. Der Astronom und
Geograph Jakob Ziegler, der schon 1526 aus Ferrara an Vadian ge-
schrieben hatte, führte nun aus Straßburg die Korrespondenz weiter;
er bittet 1532 um Beurteilung des von ihm verfaßten Geschichtswerks
und wünscht noch 1540 eine persönliche Besprechung mit Vadian.
Gerbellius, Professor in Straßburg, knüpft 1532 an die alte in Wien
gepflegte Freundschaft an.
Die größte auf einen einzelnen Namen fallende Zahl — 58
51*
726 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
Briefe — kamen Vadian von dem Pfarrer Johannes Zwick in Con-
stanz zu. Empfehlungen von Persönlichkeiten, von streitigen Ange-
legenheiten, abermals Aeußerungen im Sinne Butzers für den Aus-
gleich, immerhin so, daß nicht durch zu große Nachgiebigkeit der
Schein erweckt werde, als ob man von Zwingli und Oekolampad ab-
gewichen sei (Nr. 949), da Butzers Einigungseifer übermäßig sei
(Nr. 963), dann Berichte aller Art, aus Württemberg, über Schwenk-
feld, Mitteilung von Pasquillen gegen Papst Paul III. zeigen die
Mannigfaltigkeit des Inhalts. Dagegen ist von Ambrosius Blaurer
blos der eine Brief Nr. 751 von 1533 vorhanden; in einem zweiten
— Nachträge Nr. 13 — berichten von der Reformation in Ulm außer
ihm noch Butzer, Oekolampad und Som. Der Arzt Menlishofer ver-
breitet sich in 3 Briefen neben medizinischen Fragen auch über poli-
tische Angelegenheiten.
Von anderen schwäbischen Städten ist besonders, durch den
Prädikanten Thomas Gaßner, Lindau fruchtbar an Briefen, 15 an der
Zahl. Auch er war eifrig für die Einigung und konnte 1535 seinem
Briefe Nr. 808 eine Zuschrift Butzers beilegen. Aus Ulm schrieb
Eonrad Som, der Reformator der Stadt, 1531 und 1532 im Ganzen
3 Briefe. Von dem dortigen Prediger Martin Frecht beginnt die
Korrespondenz erst 1537; auch seine 5 Briefe enthalten neben dem
Theologischen allerhand politische Neuigkeiten. Aus Isni schrieben
1535 Gabriel Hummelberger und Melchior Volmar. Aus Stuttgart
übersandte, als ehemaliger Schüler Vadians, 1538 der Eontrapunktist
Brätel mit Nr. 1024 eine Komposition. Der Apotheker Oswalt, der
vielleicht andere Briefe aus Wil schrieb, berichtete 1534 über den
württembergischen Krieg aus Nördlingen. 1540 meldet Leonhard Beck,
der über neapolitanische Geschichte schreiben will, aus Augsburg,
Vadians i Epitome < sei als ketzerisch durch ein kaiserliches Edikt
verboten.
Vereinzelt steht der Ende 1537 geschriebene Brief, Nr. 986, des
Erzbischof Cranmer, der um jeden Preis die Glaubenseinigung be-
gehrt, die von Vadian ihm geschickten Aphorismen, Zwingiis und
Oekolampads Abendmahlslehre völlig mißbilligt.
Noch bleibt eine Gruppe überwiegend deutsch verfaßter Briefe
übrig, von Persönlichkeiten, die als St. Galler Vadian nahe standen.
Voran steht hier Vadians Freund Fridbolt, der 1531 als Führer des
Zuzugs aus St. Gallen — Nr. 649, 650, 651, 653, 654 — aus dem
Felde teils an Vadian, teils offiziell an die städtische Obrigkeit
Berichte schickte ; später gab Fridbolt Meldungen von auswärts, 1532
in 6 Briefen über den Regensburger Reichstag, sowie über weiter
folgende Begebenheiten, besonders die Türkengefahr. Ebenso sandte
Mitteilungen zur vaterl. Geschichte. XXIX 727
iin gleichen Jahre der St. Galler Kaufmann Billwiller in Nr. 676 po-.
litische Nachrichten aus Nürnberg. Sebastian Appenzeller, ein Ver-
wandter Vadians, schickte, teils für Ambrosius Eigen, teils in eigenem
Namen, 1531, 1532 und weiter in den nächsten Jahren politische
Nachrichten aus Solothurn, Bern, Zürich, Lyon. Fleißige Korre-
spondenten waren fernerhin die St. Galler Sebastian und Jakob
Grübel, jener seit 1520 Pfarrer in Berg bei Rorschach, hernach, als
er der Gegenreformation weichen mußte, in Schaflfhausen, von wo er
seit 1534 schrieb, Sebastian mit 17, Jakob mit 9 bis 1540 und 1539
reichenden Briefen. Besonders fallen Jakobs Berichte in Betracht,
der seit 1535 im Dienst des durch den hergestellten Herzog Ulrich
als Obervogt auf der Honburg ob Tuttlingen eingesetzten Freiherrn
Georg von Hewen sich befand, wodurch dann auch dieser sein Herr
1536 bis 1539 an Vadian 9 Briefe schickte. Jakob war 1535 an
Landgraf Philipp nach Kassel geschickt worden und kam so in den
Fall, in Nr. 826 einläßlich über die Eroberung von Münster und das
Ende des Wiedertäuferkönigtums zu berichten; 1536 schrieb er, zur
Zeit der Eroberung der Waadt, von den Werbungen des französischen
Gesandten in der Schweiz, 1539 und schon vorher über Kompreise,
über den Freiherrn angehende Geschäftssachen. Von dem in Ange-
legenheit der französischen Pensionen 1540 an den französischen Hof
reisenden Hauptmann Franz Studer enthält Nr. 1141 die Mitteilung
über seine Audienz in Solothurn beim Gesandten. Ein Schutzbe-
fohlener Vadians war der durch die Gegenreformation aus seiner,
angesehenen Stellung als Amtmann zu Altstätten im Rheintal ver-
triebene Hans Vogler^), der 13 Briefe sandte, den zweiten (Nr. 672)
im Februar 1532 über seine Flucht nach Lindau; schon 1536 er«
scheint Vogler dann in Nr. 921 in nahen Beziehungen zu Württem-
berg, und seit 1538 schickt er als Schaffner des Grafen Georg Briefe
aus Reichenweier im Elsaß. Auch für einen weiteren heimatlos ge-
wordenen St. Galler, den früher in Memmingen tätigen Prediger
Schappeler, der selbst Nr. 849 und 864 schrieb, gaben sich Vadian,
Sebastian Appenzeller, Berchtold Haller, Bibliander Mühe, um ihn
mit einer Pfründe zu versorgen.
Eine eigentümliche Persönlichkeit ist noch Nikiaus Guldin, für
den als für einen bekehrten Wiedertäufer 1531 Capito Fürsprache
1) Vgl. hiezu Iläne : Das Famüienbnch zweier rheintalischer Amtmänner des
15. und 16. Jahrhunderts (Jahrbuch für schweizerische Geschichte, Band XXV,
1900, S. 48 ff.). Ein anderer Johannes Vogler, zuerst Pfarrer im Rheintal, später
in Mömpelgard, schrieb auch 8 Briefe, von denen die 1539 aus Mömpelgard ge-
schriebenen, mit Nachrichten aus dem dortigen württembergischen Gebiete, ans
dem Elsaß, Metz u. s. f., interessant sind.
728 Qött. gel Anz. 1906. Nr. 9
einlegte. Er beschrieb dann 1533 in Nr. 748 den Zusammenstoß
zwischen den Religionsparteien in Solothurn und 1536 in einem
höchst einläßlichen und anschaulichen Bericht Nr. 865 Karls V. Unter-
nehmen gegen Tunis; aber Guldin muß als ein »miserrimus< zurück-
gekehrt sein, da Butzer gleich darauf für ihn dringend bitten muß:
1537 schreibt er aus einem Dorfe im Aargau, wo er Schule hält.
Ueberhaupt enthalten sehr viele Briefe Bitten und Klagen, die
der angesehene reiche Yadian erhören soll. Leo Jud schreibt oft
wegen eines Schwagers und der hUlf losen Kinder desselben; ein in
Naumburg studierender St. Galler empfiehlt Yadian seinen verwaisten
Bruder; vier Petenten zu Marbach im Rheintal können ihren Prädi-
kanten nicht zahlen und bitten um ein Darleihen, und was andere
Wünsche mehr sind. Verhältnismäßig recht oft wird auch noch
Vadians ärztliche Kunde angerufen. So schrieb ihm ein Arzt aus
Hall bei Innsbruck, und das wurde die Ursache, daß auch ein frü-
herer Wiener Hörer aus Hall 1540 wieder an Vadian sich wandte.
Auch sonst kommen noch solche Anknüpfungen neuerdings vor. Ein
Pfarrer im Allgäu dankt dem Lehrer 1537 — Nr. 976 — für reiche
Belehrung, sendet eine Schrift, erkundigt sich nach Persönlichkeiten
aus der Wiener Zeit und läßt dann noch 2 Briefe folgen, deren
einem er eine Münze mit dem Bilde Karls des Kahlen als Geschenk
beilegt. Auch der Herr der Herrschaft Elgg, Johannes von Hinwfl,
meldet sich noch 1538 als dankbarer Schüler. Aber ebenso nahm
aus weiter Feme, aus Böhmen, Wolfgang Heiligmaier den zuletzt
1519 gepflegten Verkehr 1539 wieder auf.
Die >Nachträge< (S. 663 if.) enthalten, aus den Jahren 1519 bis
1540, 38 Nummern, von denen mehrere schon erwähnt wurden. Be-
sonders erwünscht ist, daß jetzt hier als Nr. 15 auch ein Brief Aven-
tins an Vadian, von 1532, geboten wird, da bisher ein Zeugnis über
eine Berührung der in ihren Bestrebungen und Arbeiten sich so
vielfach gleichstehenden großen Gelehrten fehlte^). Fridbolt schrieb
aus Regensburg am 15. Mai in Nr. 684 an Vadian, daß er >Kunt-
schaift mit dem Aventino< gemacht, und schon am 14. war durch
Aventino ein Brief an Vadian, mit der beigelegten Inhaltsübersicht
der von ihm geplanten » Germania <, abgegangen.
Verzeichnisse der Briefschreiber, der Personen- und Ortsnamen
sind beigegeben. »Ergänzungeil und Berichtigungen«, zumal zu
diesem Band XXIX: Serie V, folgen noch S. 745—748.
Zürich G. Meyer von Knonau
1) Vgl. Anzeiger für schweizerische Geschichte, 1905 : Nr. 1, in Band IX.
Festgabe für Felix Dahn 729
Festgabe für Felix Bahn za seinem fünfzigjährigen Doktorjabiläam
gewidmet von gegenwärtigen und früheren Angehörigen der
Breslauer juristischen Fakultät. IL Teil. Römische Bechtsgeschichte.
III, 106 S. 3 M. m. Teil. Recht der Gegenwart IE, 341 S. 9 M. — Breslau,
1905, M. u. H. Marcus.
Der zweite Band der dem Altmeister des deutschen Rechts
Felix Dahn zu seinem fünfzigjährigen Doktorjubiläum gewidmeten
Festgabe enthält drei Beiträge zur römischen Rechtsgeschichte und
zwar »Beiträge zur Kenntnis der lex Poetelia« von Feodor Kleinei-
dam, »lieber Klagenverjährung und deren Wirkung« von Fritz Kling-
mttUer und »Die Replik des Prozeßgewinns (replica rei secundum
me judicatae), em Beitrag zur Lehre von den beiden Funktionen der
exceptio rei judicatae< von Rudolf Leonhard.
1) Kleineidam gibt uns in vorstehender Arbeit eine Fortsetzung
seiner Forschungen auf dem Gebiet der römischen Personalexekution.
Als Grundlage dient ihm seine bereits veröffentlichte umfassendere
Abhandlung >Die Personalexekution der Zwölftafeln«, auf welche
wiederholt verwiesen wird. Um 300 vor Christus wurde eine gesetz-
liche Abänderung der Personalexekution vorgenommen, welche unter
dem Namen der lex Poetelia bekannt ist. Zur Klarstellung dieser
lex Poetelia und zwar insbesondere ihres Verhältnisses zur Personal-
exekution beizutragen, stellt Kleineidam sich zur Aufgabe.
Es ist eine alte Streitfrage, ob die lex Poetelia die Personal-
exekution gänzlich abgeschafft hat oder nicht. Mit dieser Frage be-
schäftigt sich Kleineidam hauptsächlich. Voran stellt er eine kurze
Uebersicht der wichtigsten in Betracht kommenden Quellenstellen.
Darunter sind die bedeutsamsten Livius Vin28 lussique consules
ferro ad populum, ne quis, nisi qui noxam meruisset, donee poenam
lueret, in compedibus aut m nervo teneretur ; pecuniae creditae bona
debitoris non corpus obnoxium esset. Ita nexi soluti cautumque in
posterum ne necterentur, sodann Varro de lingua Latina Vn 105
hoc . . . sublatum, ne fieret, et omnes, qui bonam copiam iurarent, ne
essent nexi dissoluti. Hieraus hat Huschke (nexum S. 132) das Ge-
setz zu restituieren versucht und demselben vier Kapitel zuge-
schrieben: 1) Ne quis nisi qui noxam meruisset, donec poenam lueret,
in compedibus aut in nervo teneretur; 2) Pecuniae creditae bona
non corpus obnoxium esset; 3) Ne quis posthac ob aes alienum nec-
teretur; 4) Ut omnes, qui bonam copiam iurarent, ne essent nexi
solverentur. Huschke nimmt also »einerseits die Bestimmungen des
Senatsschlusses vollständig und wortgetreu in seinen Gesetzestext auf
730 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 9
und fügt andrerseits aus den anderweiten Nachrichten noch zwei
weitere Kapitel hinzu« (El. S. 10). Diese Methode erklärt Kleinei-
dam für unhaltbar, gleichgültig wie das Verhältnis des Senatsschlusses
zur Rogation aufzufassen sei. > Enthält der Senatsschluß nur die all-
gemeine Tendenz, so dürfte sein Wortlaut nicht in der Rogation
wiederkehren. Enthält er aber die Fixierung des Wortlauts der Ro-
gation, so ist eine «Ergänzung' durch die Konsuln ausgeschlossen <
(S. 10). Hierin kann man Kleineidam wohl beistimmen. Freilich ist
dabei vorauszusetzen, daß Livius nicht etwa den zweiten Teil des
Gesetzes als nach seinem Ermessen unwesentlich weggelassen hat,
was nicht so ganz unwahrscheinlich ist. Andrerseits steht ja auch
nicht einmal das außer allem Zweifel, ob sich die Varrostelle über-
haupt auf die lex Poetelia bezieht.
Kleineidam selbst nimmt wörtliche Uebereinstimmung des Senat&-
schlusses mit der Rogation an. Seine Gründe haben dann zwar
wiederum eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, aber zwingend
sind sie nicht. Insbesondere gibt die von ihm herangezogene 1. 6 C.
quae res pignori 8, 16 doch nur eine recht schwache Stütze. Die
einzige Schwierigkeit gegen seine Auffassung sieht er in dem Schluß-
satz des Livius und in Yarros bonam copiam iurare. Livius erkläre
sich leicht: > Sobald verordnet war, daß künftighin bona, non corpus
obnoxium esset und überdies die schwere Fesselung des bloßen
Forderungsexequierten aufgehoben war, fiel ohne weiteres das nexum,
richtig als Zustand der schrankenlosen Schuldsklaverei verstanden,
künftig vollkommen hinweg, und auch die bisherigen Schuldsklaven
durften von diesem Augenblicke nicht mehr in der alten strengen
Weise als nexi im technischen Sinn behandelt wordene (S. lli).
Dem kann man zustimmen, indessen auch ohne Kleineidams Auf-
fassung vom nexum zu acceptieren. Uebrigens ist der Einwand gegen
Huschke, sein Kapitel 3 der lex folge nur aus seiner irrigen Theorie
vom nexum, nicht begründet. Auch Huschke brauchte mit Rücksicht
auf das obnoxium in Kapitel 2 das dritte Kapitel nicht. Er hat Ka-
pitel 3 wohl nur mit Rücksicht auf das Livianische in posterum ne
necterentur aufgestellt. Mehr dürfte der Huschkeschen Darstellung
(nexum S. 135—137) schwerlich zu entnehmen sein.
In Bezug auf das bonam copiam iurare, dem er einen beson-
deren § 3 widmet, schließt Kleineidam sich der herrschenden Mei-
nung an: es bedeute >die eidliche Versicherung des Schuldners, daß
er zur Deckung der Exekutionsforderung im Werte hinreichendes
aktives Vermögen besitze < (S. 13), Solvenzeid. Diese Auffassung er-
kläre zur Genüge, daß die Personalexekution trotz der lex Poetelia
noch fortblühte, da nicht jeder Schuldner hinreichendes Vermögen
Festgabe für Felix Dahn 731
besessen habe. Beiläufig bemerkt scheint mir der >In8oIvenzeid<,
wenn man ihn wie Schloßmann Altrömisches Schuldrecht und Scbuld-
Yerfahren S. 54 Anm. 2 (»diejenigen, die beschwören, daß bei ihnen
nur Insolvenz, nicht Insuffizienz bestehe« u. s. w.) aufiaßt, praktisch
auf dasselbe hinauszulaufen. Merkwürdiger Weise geht Kleineidam,
der S. 25 Anm. 3 Schloßmann zitiert, hierauf nicht ein.
Der Widerspruch, der zwischen Varro und dem nexi soluti und
omnium nexa civium liberata der außervarronianischen Quellen bleibt,
löst sich nach Kleineidams Ansicht dadurch, daß die Worte nexum
und nexi in dem varronischen Schlußsatz eine andre Bedeutung als
in den übrigen Quellenstellen hätten, bei Varro bedeuteten sie Per-
sonalhaft überhaupt, sonst die schrankenlose Schuldsklaverei. Aber
Varro gebraucht kurz vorher selbst an derselben Stelle nexum im
alten Sinn. Da müßte der Gegensatz in der Bedeutung doch grade
bei dem Grammatiker wohl deutlicher hervortreten. Kleineidam über-
sieht dies auch nicht, glaubt sich jedoch darüber hinwegsetzen zu
können, weil er diesen Ausweg für den einzig möglichen hält, Ueber-
einstimmung in das gesamte Quellenmaterial zu bringen. Ein wei-
terer Grund, daß nexi auch am Ende auf die alte Schuldhaft mit
Stricken, Ketten u. dgl. sich bezieht, liegt m. E. in dem dissoluti.
Bei der einfachen Personalhaft kann von einem solvere oder dissol-
vere doch wohl kaum die Rede sein. Hinzukommt, daß Varro grade
in dieser Beziehung mit den übrigen Quellen übereinstimmt.
So gelangt Kleineidam zu der Rechtslage: das bonam copiam
.iurare, der Solvenzeid, habe dazu gedient, die erleichterte Form
der Personalhaft abzuwenden ; Grundgedanke des Solvenzeides sei die
Subsidiarität der Personalhaft. Wenn nun die beiden Livianischen
Normen das Gesetz in toto darstellen, müsse diese Subsidiarität aus
ihnen abgeleitet werden können (S. 19). Ob das möglich sei, das sei
die zu lösende Frage, und sie bejaht Kleineidam. Aber hier gerade
ist die Begründung sehr schwach: die Worte pecuniae creditae etc.
sollten nach dem Willen des Gesetzgebers nicht so schroff aufgefaßt
werden, das gehe schon aus dem Vorkommen der Personalexekution
in späterer Zeit hervor. — Es sind jedoch hier nur zwei Möglich-
keiten denkbar: Entweder bezieht sich obnoxius überhaupt gamicht
auf die Personalhaft schlechthin, sondern nur auf eine besondere Art,
das alte nexum; das ist wohl das Richtige, und dazu scheint auch
Kleineidam zu neigen (S. 12). Das läßt sich mit der Gegenüber-
stellung von bona und corpus begründen: die der Sachunterwerfung
gleichgestellte Unterwerfung der Person soll verboten sein. Oder
wenn man das nicht annehmen will, der Gesetzgeber hat die Per-
sonalhaft schlechthin beseitigt, und sie ist dann später wieder in
732 Gott gel Anz. 1906. Nr. 9
milderer Form eingedrungen. Allerdings steht bei beiden Auslegangen
die Yarrostelle mit einem Gesetz, das nur die Livianischen Normen
enthält, in Widerspruch. Aber mit der Auslegung, obnoxius beziehe
sich auf Personalhaft schlechthin, doch habe der Gesetzgeber sein
Gesetz nicht so schroff aufgefaßt wissen wollen, wird — so unwahr-
scheinlich sie schon an sich ist — der Charakter der Gesetzgebung
in alten Zeiten verkannt. Der Gesetzgeber schneidet hier stets die
zu lösende Frage gewaltsam, mit aller Schärfe durch. Ueberall
finden wir kurze Bestimmungen, die einerseits unzulänglich, andrer-
seits zu scharf sind. Die Praxis führte dann das Gesetz auf das
richtige Maß zurück.
Eleineidam führt sodann als zweiten Grund an : jedenfalls hätten
die späteren Praktiker bei der effektiven Fortdauer der Personalhaft
zu dieser Interpretation kommen müssen. Dieser Grund setzt voraus,
daß die Personalhaft in Wirklichkeit durch das Gesetz total abge-
schafft ist; dann vermag ich jedoch nicht mehr den Einklang zu
Kleineidams weiteren Ausführungen zu ersehen.
Kleineidam entwickelt bezüglich der Möglichkeit der Personal-
haft weiter: Außer dem corpus obnoxium non esset bestimme das
Gesetz noch ne quis nisi qui noxam meruisset, donee poenam lueret,
in compedibus aut in nervo teneretur. Auf den zweiten Satz müsse
mehr Gewicht gelegt werden. Hier sei ausgesprochen, daß das
nexum mit dem teneri compedibus aut in nervo abgeschafft sein
solle; aber grade das teneretur zeige, daß die Personalhaft ohne die
schwere Fessel fortdauern sollte, und zwar wie sich aus dem donec
poenam lueret entnehmen lasse (?), bis zur Zahlung des geschuldeten
Betrags. Das läßt sich mit der Auffassung, daß obnoxius sich nur
auf das alte nexum beziehe, vereinen.
Im § 5 findet sich Kleineidam schließlich mit den einschlägigen
Stellen bei Sallust und Quintilian ab.
Beiläufig ist mir aufgefallen , daß Kleineidam S. 4 Anm. 7 bz.
des Alters der lex Poetelia auf Huschke hinweist ; zweckmäßiger wäre
wohl auf Kariowa Rechtsgeschichte II S. 559 verwiesen, da Huschke
insbesondere Mommsen, Rom. Forschungen II S. 244 ff. noch nicht
berücksichtigt. Weitere Literatur jetzt zu dieser Frage bei Senn,
Nouvelle Revue Historique 29. Jahrg. S. 93 Anm. 4.
Das Mißgeschick mit Novius setzt sich fort: Z. 14 S. 98 wird
man ihn vergeblich suchen, es muß heißen 13 S. 98 (S. 6 Anm. 15).
Was das Gesamturteil anbelangt, so ist anzuerkennen, daß
Kleineidam das Material mit großer Sorgfalt gesichtet und durchweg
einen vorsichtigen objektiven Standpunkt gewahrt hat. Trotzdem kann
ich eine besondere Förderung der Wissenschaft in der Arbeit nicht
Festgabe für Felix Dahn 783
erblicken. Es werden zwar einzelne Hypothesen wahrscheinlicher ge-
macht, auch neue aufgestellt und zwar mit großer Gedankenschärfe.
Aber in der Kenntnis dessen, was nun wirklich war, bringt die Ab-
handlung doch wenig oder gamicht weiter. Daran mag freilich
weniger Eleineidam als das dürftige Quellenmaterial schuld sein, wie
denn Überhaupt wohl ohne neue Quellen auf diesen dunklen Gebieten
schwerlich etwas zu erreichen ist. In vielen Punkten wird man
Kleineidam ein energisches non credo entgegensetzen müssen. Sollte
aber der Wissenschaft hier nicht mehr damit gedient sein, wenn wir
uns mit einem non liquet begnügen, als daß eine neue Hypothese
die andre überholt und dadurch nur die Kenntnis dessen, was auf
Grund sorgfältiger Forschung als gewiß feststeht, verdunkelt wird?
2) In der zweiten Arbeit referiert Fritz Klingmüller >Ueber
Klagen Verjährung und deren Wirkung.« Er behandelt im wesent-
lichen nur die Frage, ob die Klagenverjährung stärkere 'oder
schwächere Wirkung hat. Unter Darlegung der gesamten Entwick-
lung der Verjährung im römischen Recht entscheidet er sich für die
stärkere Wirkung. Dabei stimmen seine Ausführungen durchweg mit
Dahns Dissertation >Ueber die Wirkung der Klagenverjährung bei
Obligationen«, Demelius >Untersuchungen aus dem römischen Civil-
recht Ic und Heymanns > Vorschützen der Verjährung« überein.
Ueber die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser drei Abhandlungen
kommt Klingmüller eigentlich nirgends hinaus. Neues bietet die
Arbeit wenig oder gamicht.
3) Rudolf Leonhard. Die Replik des Prozeßgewinns (S. 65—106).
Seit Kellers Litiskontestation und Urteil legt die herrschende
Lehre der exceptio rei iudicatae eine doppelte Bedeutung bei. Man
unterscheidet eine negative und eine positive Funktion jener exceptio.
Keller selbst hat seine Auffassung am schärfsten und klarsten in dem
zitierten Werk in Anmerkung 4 S. 223 ausgesprochen: »Wenn wir
von verschiedenen Funktionen der exe. rei iudicatae sprechen,
so kann dies natürlich nicht in Beziehung auf die endliche Wir-
kung, den Erfolg derselben gemeint sein, denn dieser ist bei allen
Exceptionen immer derselbe, nämlich Abweisung der Klage: wohl
aber kann eine bestimmte Exceptio bald aus diesem, bald aus
jenem Grunde erteilt werden, mit andern Worten, die recht-
liche Idee, welche durch eine gewisse Exceptio und die daraus
folgende Abweisung der Klage realisiert werden soll, kann in ver-
schiedenen Fällen eine verschiedene sein; und so verhält es sich
grade bei der exe. rei iudicatae, indem dadurch bald die rein nega-
tive, zerstörendeWirkung des Urteils, die Konsumtion,
welche seine bloße Existenz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt zur
734 Gott gel Anz. 1906. Nr. 9
Folge hat, bald dagegen der positive Inhalt desselben geltend
gemacht werden soll Und so reden wir denn auch, freilich etwas un-
eigentlich, von negativer oder positiver Funktion der exa
rei iudicatae, je nachdem sie aus dem einen oder andern dieser
Gründe der Klage entgegengesetzt wird.« Seiner AufiGassung ist
dann Bekker mit aller Schärfe entgegengetreten. Bekker behauptet,
die exceptio rei iudicatae habe im römischen Recht stets nur nega-
tive Funktion gehabt. Für das geltende Recht ist man sich im
wesentlichen darüber einig (abweich. Ansicht z. B. Windscheid-Eipp
8. Aufl. § 130 Anm. 26), daß die exceptio rei iudicatae in ihrer ne-
gativen Funktion nicht mehr dem gegenwärtigen Recht angehört.
Grade gegen den letzten Satz wendet sich Leonhard. Ohne sich
auf den Boden der Bekkerschen Theorie zu stellen, bekämpft er die
Kellersche Lehre, deren praktisch bedeutsamste Konsequenzen er in
folgenden beiden Sätzen sieht: 1) Der bereits gewonnene Prozeß
darf nach spätrömischem und modernem Rechte vom Kläger wieder-
holt werden. 2) Die Einrede der rechtskräftig abgeurteilten Sache
verlangt heutzutage immer eine Angabe des vollen Urteilsinhalts
(S. 75). Leonhard teilt seine Abhandlung in einen kritischen und
einen exegetischen Teil.
Im kritischen Teil bekämpft er hauptsächlich Kellers Unter-
scheidung von der positiven und negativen Funktion der exceptio rei
iudicatae. Keller sei sich merkwürdigerweise der Unrichtigkeit dieser
Terminologie voll bewußt gewesen. »Er schrieb sich selbst die schärfste
Kritik. Funktion und Begründung sind zweierlei. Einreden haben
nach Keller streng genommen immer nur negative Funktionen. Trotz-
dem konnte Keller dem Gelüst nicht widerstehen, die »Begründunge
der Einrede mit »Funktion« zu bezeichnen, in der HofEaung, daß
man den unpassenden Namen nicht mißdeuten werden (S. 73).
> Keller würde jedoch schwerlich seinen terminologischen Mißgriff be-
gangen haben, wenn nicht eine sachliche Verwechslung dem zu
Grunde gelegen hätte. Er betont, daß die beiden Funktionen der
Einreden mindestens ungefähr mit den beiden Funktionen des Urteils
(oder Prozesses), von denen er spricht, gleichen Schritt halten. Die
Funktion des Urteils, von der er öfters redet, fließt in Folge dessen
bei ihm zusammen mit der Einrede des rechtskräftigen Urteils. So
verwechselt er die positive Funktion der Einrede des Urteils mit
der Einrede der positiven Funktion des Urteils. Daher erscheint
denn schon bei Savigny die »Funktion' als ,Gestalt\ der neueren
Doktrin ist sie nichts als ,Kraft' und ,Wirkung' des Urteils< (S. 74 f.).
Dieser Vorwurf, der sowohl Keller als auch der gesamten herr-
schenden Lehre einen logischen Fehler zur Last legt, ist nur zum
Festgabe für Felix Dahn 785
allergeringsten Teil begründet. Leonhards Angriff könnte nur dann
als berechtigt anerkannt werden, wenn Keller nicht die oben zitierte
Anmerkung seiner Darstellung hinzugefügt hätte. Der Text allein
rechtfertigt Leonhards Behauptung. Aber wenn ein so scharfsinniger
Gelehrter wie Keller klar und deutlich zugibt, daß die ihm von
Leonhard vorgeworfene Verwechslung nahe liege — denn das besagt
doch im Grunde die Anmerkung —, ist schwerlich anzunehmen, daß
die ganze Lehre auf diesem Fehler basiere. Und grade wenn man
bei jedem Teil der Kellerschen Ausführungen sich die Anmerkung
gewärtig hält, — das will doch Keller — , schwinden die von Leon-
hard erhobenen Bedenken. Daß eine falsche Terminologie stets
schwere Gefahren in sich birgt, das unterliegt keinem Zweifel. Auch
der Vorwurf, daß sich diese Verwechslung durch die ganze neue
Literatur hindurch zieht, ist nicht berechtigt. Die Bedeutung, welche
Keller der Unterscheidung beilegt, ist doch nirgends zu verkennen.
Selbst da, wo Funktion voll im Sinne von Wirkung gebraucht ist,
mag zwar rein äußerlich die Verwechslung zu konstatieren sein,
nirgends aber sind aus dieser Verwechslung wirklich bedeutsame und
falsche Konsequenzen gezogen, indem man stets die Kellersche Lehre
richtig zu Grunde legte. Es ist denn auch bei Leonhard selbst
nicht zu erkennen, daß seine Ausführungen notwendig die Richtig-
stellung dieses Fehlers zur Voraussetzung haben.
Auch gegen die Gegenüberstellung von Urteilstatsache und Ur-
teilsinhalt in dieser Lehre zieht Leonhard zu Felde. Bei der nega-
tiven Funktion genüge die bloße Tatsache eines irgendwo und irgend-
wann unter den Parteien gefällten Urteils nicht. >Die Identität der
früheren und der späteren Sache mußte dargetan werden. Das ist
aber bereits ein Stück vom Urteilsinhalt. Die sogenannte negative
Funktion betrifft also ebenfalls eine Einrede des Urteilsinhalts, das
heißt des nur oberflächlich (unter Verschweigung des Prozeßsiegers)
angegebenen Urteilsinhalts, die sogenannte positive Funktion bezieht
sich dagegen auf die Einrede des vollständig angegebenen Prozeß-
inhalts< (S. 74). Hier bringt Leonhard zwei Momente unter eine
Decke, die in Wirklichkeit durchaus nicht zusammengehören. Da,
wo es sich um die Wirkung der Urteilstatsache handelt, haben wir
es mit der Tatbestandswirkung zu tun. Wo jedoch der Lihalt des
Urteils in Frage kommt, kann zwar auch Tatbestandswirkung vor-
liegen, so z. B. wenn die Wirkung sich nicht an das Vorhandensein
des Urteils überhaupt, sondern etwa an die Verurteilung knüpft,
regelmäßig aber kommt hier die Rechtskraftwirkung, das ist Fest-
stellungswirkung, in Frage. Das römische Recht hat diese beiden
Wirkungen noch nicht in voller Klarheit, ja soweit es sieb um ex*
736 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
ceptio rei iudicatae handelt, wohl überhaupt nicht unterschieden. Die
Ansätze fur die moderne Rechtskraft haben wir wohl viehnehr in
der Lehre vom praeiudicium zu suchen, die dann später, als die Kon-
sumtionswirkung mehr zurücktrat, mit der Lehre von der res iudi-
cata zusammengeworfen wurde (vgl. meine >streitgenössische Neben-
intervention« S. 136 Anm. 18, auch S. 137). Das zeigt sich so recht
klar und deutlich in der mittelalterlichen romanistisch-kanonistischen
Lehre. Grade die Eellersche Lehre hat jedoch in der positiven Funk-
tion der exceptio rei iudicatae stets mehr eine Feststellungswirkung
gesehen, und deshalb kann man sie nur von diesem Gesichtspunkt,
auf dieser Grundlage bekämpfen, wenn man nicht mit Bekker die
Eellersche Lehre von vornherein verwirft. Bei der Feststellungs-
wirkung ist volles Eingehen auf den Urteilsinhalt erforderlich. Bei
der Tatbestandswirkung ist jedoch nur Eonstatierung des Tatbestands
zur Feststellung der Identität nötig; soweit dazu ein Eingehen auf
den Urteilsinhalt erforderlich ist, ist dieses stets sekundärer Natur
und ohne ausschlaggebende Bedeutung. Insofern ist die Gegenüber-
stellung bei Eeller durchaus gerechtfertigt. Darin aber hat Leonhard
Recht, daß beide Wirkungen, wie auch schon vor ihm G. Rümelin
betont hat, keinen Gegensatz darstellen. >Die negative Funktion
verneint das Recht zur Anspruchswiederholung, die positive bejaht
den Urteilsinhalt. Jene Verneinung schließt aber diese Bejahung
nicht aus< (S. 77). Grade hiermit hat Leonhard einen wunden Punkt
der Eellerschen Theorie getroffen, ohne dies schärfer hervorzuheben.
Wenn nämlich beide Funktionen nicht im Gegensatz stehen, dann ist
die replicatio der 1. 9 § 1 D. de exe. rei iud. 44, 2 im Eellerschen
Sinn ungeeignet, die exceptio aufzuheben. Die beste Erklärung
dürfte noch immer die von Westerburg (Arch. Prakt. Rw. N. F. 9,
S. 337) und Bülow (Arch. Civ. Prax. 83 S. 30 Anm. 35) vertretene
sein, daß die viel besprochene replicatio rei secundum actorem iudi-
catae der 1. 9 § 1 D. 44,2; 1. 16 § 5 D. 20,1 und 1. 9 § 2 D. 40,12
nichts anderes als eine in factum konzipierte replicatio doli generalis
gewesen ist. Darnach kann es sich allerdings nur um bloOe Tatbe-
standswirkungen handeln.
Auf den Fall, daß der Beklagte das im ersten Prozeß vertei-
digte Rechtsgut nunmehr selbst einklagt und hier exceptio rei iudi-
catae erhoben wird, — eine Hauptstütze für die positive Funktion —
geht Leonhard überhaupt nicht ein.
Der exegetische Teil beginnt mit der Auslegung der L 9 § 1 D.
exe. rei iud. 44.2. Si quis fundum, quem putabat se possidere, de-
fenderit mox emerit: re secundum petitorem iudicata an restituere
cogatur, et ait Neratius, si actori iterum petenti obiiciatur exceptio
Festgabe für Felix Dahn 787
rei iudicatae, replicare euni debere de re secundum se iudicata.
Leonhard legt diese Stelle folgendermaßen aus: Gegen den Nicht-
besitzer ist ein günstiges £ndurteil ergangen. Ulpians Frage lautete
nun: >Kann die Verurteilung des Nichtbesitzers vollstreckt werden,
wenn der Verurteilte den Besitz erst später erlangt?< Diese Frage
verneine Ulpian indirekt, indem er Neratius, der die wiederholte
Klage für zulässig erklärt, anführe. Der Grundsatz > Jede neue Eigen-
tumsverletzung erzeugt einen neuen Anspruch < sei nicht römischen
Rechts gewesen. Nur wenn der Kläger den Eigentumsprozeß früher
gewonnen habe, wäre dem Kläger die replicatio eingeräumt. — Den
Widerspruch zwischen § 1 einerseits und pr. der 1. 9 D. 44,2 und 1. 17
eod. andrerseits sucht er dadurch zu lösen, daß er in beiden Stellen
die replicatio ergänzt (S. 80 ff.). Diese Lösung erscheint doch reich-
lich willkürlich.
Die zweite in Betracht kommende Stelle 1. 16 § 5 D. de pign.
20, 1 (Marcianus) libro singulari ad formulam hypothecariam : Creditor
hypothecam sibi per sententiam adiudicatam, quemadmodum habi-
turus sit, quaeritur: nam dominium eins vindicare non potest, sed
hypothecaria agere potest, et si exceptio obiicietur a possessore rei
iudicatae, replicet: si secundum me iudicatum non est, versteht
Leonhard so: »Die Sache ist durch ein Teilungsurteil einem Pfand-
gläubiger zugeschlagen worden. Da er aber als solcher garnicht
Partei im Teilungsprozesse sein konnte, ist dies nur so denkbar, daß
sein Pfandrecht (das vielleicht ererbt war), ihm selbst und dem
jetzigen Besitzer (der vielleicht ebenfalls als Erbe in fremde Ver-
hältnisse hineingekommen war), unbekannt blieb, während beide irr-
tümlicher Weise als Miteigentümer galten. Dem einen wurde dann
im Teilungsprozesse die ganze Sache allein zugesprochen, der andere
für den Verlust seines Anteils auf andere Weise entschädigte (S. 99).
Wenn sich später ergibt, daß er bloß Pfandgläubiger ist, könne er
nach Marcian nicht das Urteil geltend machen, weil das Teilungs-
verfahren ihm kein Eigentum verschaffen konnte. Es bleibe ihm nur
die Pfandklage. > Beruft sich der Gegner nunmehr darauf, daß das
Zuschlagsurteil dies Pfandrecht nicht erwähnt, also zerstört habe, so
antwortet der Kläger mit der Replik der Chikanec (S. 101). — Daß
diese Erkärung unmöglich ist, läßt sich wohl nicht behaupten. Viel
Wahrscheinlichkeit kann sie aber kaum beanspruchen. Marcianus
würde, wenn dem hypothecam adiudicare hier nicht die regelmäßige
Bedeutung zukommen soll, wohl mehr vom Teilungsverfahren gesagt
haben.
Mag man nun über diese Interpretationsversuche denken wie man
will; so glaube ich doch, daß energisch Widerspruch gegen die Inter«
738 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 9
pretationsmethode Leonhards erhoben werden muß. Leonhard em-
pfiehlt, man solle »neben der bekannten duplex interpretatio der
Quellentexte auch ihre Beziehungen zu dem gemeinrechtlichen Pro-
zesse und endlich auch noch ihr Verhältnis zu den Rechtssätzen der
Gregenwart feststellen, um so in einer quadruplex interpretatio das
volle Mafi der Anregung zu gewinnen, das uns die Ueberlieferungen
des römischen Rechts zu gewähren vermögen <. (S. 80). Eine Di-
gestenstelle kann doch stets nur von dem Geist der Zeit, in welcher
sie entstanden ist, interpretiert werden^ und da ja für sie tatsächlich
eine doppelte Zeit in Frage kommt, ist allenfalls die duplex inter-
pretatio zulässig. Aber für die Gegenwart, genauer für das gemeine
Recht kann die Stelle nur dann in Frage kommen, wenn die zu
Grunde liegenden Verhältnisse dieselben sind. Es kann sich zwar
auch bei veränderter Sachlage der Rechtssatz gewohnheitsrechtlich
erhalten haben; dann ist im Grande genommen neues Recht ent-
standen, aber von einer quadruplex interpretatio kann doch keine
Rede sein. Leonhard macht tatsächlich mit diesem Satz Ernst und
zieht aus den Quellenstellen Eonsequenzen für das geltende Recht
Ganz klar ist allerdings nicht zu erkennen, wie weit er hier gehen
will. Geltendes Prozeßrecht, Sätze, die sich allgemein aus dem
Wesen des Prozesses insbesondere des Urteils ergeben sollen, und
der Inhalt der Digestenstelle werden so durcheinander gewirbelt, daO
man m. E. nicht mit Bestimmtheit ersehen kann, wieweit die für das
geltende Recht gezogenen Eonsequenzen nach seiner Ansicht ihren
Grund im römischen Recht haben. Es handelt sich insbesondere um
die Frage: Eann der Eläger, der außer Stande ist, sein siegreiches
Urteil zur Vollstreckung zu bringen, die Elage wiederholen? Leon-
hard verweigert dem Eläger grundsätzlich die Elagenwiederholnng
und verweist ihn auf die actio iudicati. Die praktisch bedeutsamste
Folgerung gewinnt er für den Fall, daß der Eläger hier >auch nicht
einmal die Tatsache und den Inhalt des früheren günstigen Urteils
nachweisen kann, also nicht einmal die actio iudicati zu begründen
in der Lage ist. Wiederholt hier der Eläger den früheren Anspruch
und beruft sich dagegen der Beklagte auf das frühere Urteil, ohne
aufzuklären, wer damals Sieger war, so ist der Elageanspruch ver-
loren. Eine replicatio rei secundum actorem iudicatae würde dem
Eläger deshalb nicht zustehen, weil er ihre tatsächliche Grundlage
nicht beweisen könnte. Das mag unbillig scheinen, es ist dies aber
nur eine Anwendung der allgemeinen Regel, daß es vor dem Richter
ohne Beweis kein Recht gibt«. (S. 94). Die Frage, ob der Kläger
seine Elage wiederholen darf, oder anders formuliert, ob der Richter
zum zweiten Mal über denselben Anspruch entscheiden darf, ist
Festgabe für Felix Dahn 739
lediglich eine Frage des Prozeßrechts. Sie kann also nur auf Grund
unsrer ZPO. und wenn diese schweigt, im Geist unsres modernen
Rechts entschieden werden. Hier besteht ein Verbot der Klage-
wiederholung nicht. Aus dem Wesen des Urteils läßt sich eine Ant-
wort nicht gewinnen. Das Urteil enthält weder das Verbot der
Eiagewiederholung, wie Leonhard will, noch umgekehrt die Erlaubnis
dazu. Beides liegt außerhalb des Begriffs des Urteils, beides hat
mit dem Urteil an sich gar nichts zu tun. Aus dem allgemeinen
Prinzip, daß eine Klage nur dann zulässig ist, wenn für den Kläger
ein Bedürfnis nach Rechtsschutz vorliegt, folgt allerdings, daß regel-
mäßig eine Klagewiederholung unzulässig ist. Sobald aber ein
Rechtsschutzbedürfnis vorhanden ist, z. B. weil die Akten verbrannt
sind, steht der erneuten Klage, und zwar nicht als actio iudicati,
sondern als wiederholter Geltendmachung desselben Anspruchs nichts
entgegen. Daß das zweite Urteil wie das erste lauten muß, folgt
aus der Rechtskraft. Mit dem Einwand, daß bereits ein Urteil ge-
fällt ist, kann der Beklagte also nur insofern die erneute Klage zur
Abweisung bringen, als er damit mangelndes Rechtsschutzbedürfius
geltend macht. Im praktischen Resultat wird diese wohl jetzt als
herrschende zu bezeichnende Auffassung (vgl. Seuffert Kommentar zu
ZPO. § 322, 1; Stein Kommentar zu ZPO. § 322 VII 3b; Motive z.
BGB. I S. 375 f., RGZ. 16 S. 435 und RG. in Gruchots Beitr. 42
Nr. 1129 und allerneustens Fischer > Vollstreckbarkeit < im dritten Teil
der Festschrift S. 61 Anm. 1) mit der Leonhards größtenteils auf
dasselbe hinauskommen. Uebrigens wird sich der Fall, so wie Leon-
hard ihn aufstellt, in praxi wohl kaum ereignen.
Der dritte Teil der Festgabe besteht aus sieben Abhandlungen,
die das Recht der Gegenwart betreffen. Von diesen Arbeiten liegen
vier auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts, davon zwei speziell
auf dem des Handelsrechts, ferner zwei auf dem des Strafrechts, eine
schließlich gehört dem Zivilprozeßrecht an^).
1) Den Reigen eröffnet Beling mit einer strafrechtlichen Ar-
beit unter dem Thema >Die Beschimpfung von Religionsgesellschaften,
religiösen Einrichtungen und Gebräuchen, und die Reformbedürftig-
keit des § 166 StGB.< Beling stellt sich zur Aufgabe kurz den
für Religionsdelikte geltenden Rechtszustand zu skizzieren und so-
dann kritisch zu prüfen, ob die einschlägigen Strafbestimmungen ab-
zuschaffen, umzugestalten oder unverändert beizubehalten sind.
Zunächst bespricht er de lege lata die Beschimpfung von Reli-
gionsgesellschaften, ihren Einrichtungen und Gebräuchen, also den
1) Bei den Abhandlangen von Beling, Gretener, Heymann und Jacobi ist
von einer Besprechung abgesehen.
Qiü. geL Au. 1906. Nr. 9 52
740 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
zweiten Tatbestand des § 166 StGB. Bezüglich des Angriffisobjektes
stimmt er mit der herrschenden Ansicht überein. Dagegen tritt er
der von der herrschenden Meinung, insbesondere von der Judikatur
des Reichsgerichts angenommenen Begriffsbestimmung der Beschim-
pfung, daß ein Schimpf nur dann, aber auch immer schon dann vor-
liege, wenn die Handlung eine Herabwürdigung >in roher Form< ent-
hält, energisch entgegen. Für Beling heißt Beschimpfen »eine Hand-
lung vornehmen, die das Hohe In den Schmutz zieht', das Heilige
in sein Gegenteil verkehrt« (S. 8), wobei vom Standpunkt der be-
troffenen Religionsgesellschaft zu bestimmen sei, ob eine solche Ent-
heiligung in der Handlung lag. Eine eingehende Erörterung widmet
Beling dem Beschimpfungsvorsatz. Er ist >nur da vorhanden, wo
der Täter die von ihm auf das Niveau des Antiheiligen gestellte
Einrichtung etc. selber als heilig oder wenigstens als nicht antiheüig
anerkennt« (S. 13). Die verteidigte Auffassung in Bezug auf den
Begriff der Beschimpfung und den Beschimpfungsvorsatz ¥rird von
Beling dann auch für die übrigen Tatbestände des § 166, die
ebenso wie die des § 167 nur ganz kurz skizziert werden, zu Grunde
gelegt.
De lege ferenda verlangt Beling, daß das Angrifiisobjekt in § 166
geändert werde und nicht fernerhin >die abstrakten Gebilde reli-
giöser Anschauung als rechtliche Schutzobjekte figurieren« (S. 19).
»Solche Abstrakta, die, wie heilige Einrichtungen und Gebräuche,
nicht vom Staate selber in absoluter Weise inhaltlich bestimmt
werden, sondern derart auf subjektiver Auffassung beruhen, daß der
Staat als gleichberechtigte Auffassung ebensosehr diejenige anerkennt,
die die Einrichtung oder den Gebrauch als heilig ehrt, wie umgekehrt
diejenige, die sie als sündhaft ablehnt, eignen sich nicht zu recht-
lichen Schutzobjekten, weil sie eben einer eindeutigen Ojektivierung
ermangelnc (S, 19). >Noch weniger als die kirchlichen Einrich-
tungen etc. eignet sich als rechtliches Schutzobjekt das Eulturinter-
esse des religiösen Bewußtseins der Menschheit« (S. 22). Das, was
des staatlichen Schutzes bedarf, ist vielmehr >die reale religiöse Em-
pfindung der Menschen. Als Angriffsobjekt im Tatbestande ist sie
in der Weise zu nennen, daß das Delikt zum Erfolgsdelikt gemacht
wird, d. h. daß nur dann der Tatbestand für voll erfüllt erklärt wird,
wenn jemand in seinem religiösen Empfinden verletzt worden ist«
(S. 23). >Von der Verwendung des Begriffs der 'Beschimpfung' sollte
der Gesetzgeber der Zukunft Umgang nehmen c (S. 30). Alle diese
Sätze werden eingehend begründet. So gelangt Beling schließlich
zu folgender Formulierung des § 166: >Wer vorsätzlich das religiöse
Gefühl eines anderen verletzt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshon-
Festgabe für Felix Dahn 741
dert Mark oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre be-
straft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. Nicht rechtswidrig
ist ein Handeln dieser Art, wenn es nur der Ausdruck ernster reli-
giöser Ueberzeugung ist; ingleichen handelt nicht rechtswidrig, wer
in harmloser Weise Religiöses vermenschlicht <, (S. 32 f.).
2) Otto Fischer, Vollstreckbarkeit (S. 37—98).
>In unserer ZPO. aber auch in den andren Gesetzen werden die
Ausdrücke vollstreckbar und Vollstreckbarkeit häufig und als tech-
nische gebraucht <. Der nächste Sinn von Vollstreckbarkeit ist offen-
bar die Geeignetheit als Grundlage zur Zwangsvollstreckung. Eine
weit verbreitete Meinung geht jedoch dahin, daß ein Bedürfnis be-
stehe, einen weiteren Sinn von vollstreckbar und Vollstreckbarkeit
anzunehmen, der die ganze der Rechtsverwirklichung und Rechtsbe-
friedigung im Gegensatz zur Rechtsfeststellung dienende Rechts-
pflegetätigkeit des Staates umfasse. Dieser Meinung, der auch das
Reichsgericht in der Entscheidung B. 16 S. 477 huldigt, tritt Fischer
energisch entgegen. Er verteidigt mit aller Schärfe die Auffassung,
daß der ZPO. nur die Bedeutung der Vollstreckbarkeit zu Grunde
liegt, welche dem äußeren Wortsinn entspricht, die Geeignetheit als
Grundlage zur Zwangsvollstreckung im Sinne der ZPO. Fischer
stützt seine Ansicht im wesentlichen auf eine äußerst sorgfältige
Durchmusterung der Entstehungsgeschichte der Zwangsvollstreckung
unsrer ZPO. Zunächst wird geprüft das französische Recht, der
Ausgangspunkt, sodann die hannoversche ZPO. von 1850 und dar-
nach die einzelnen Entwürfe. Das Resultat der Untersuchung für die
ZPO. von 1877 faßt Fischer dahin zusammen: >In der hannoverschen
Prozeßordnung wurde der Begriff Vollstreckbarkeit (einschließlich der
Vollziehung von Arresten und einstweiligen Verfügungen) ganz streng
lediglich im Sinne von zur Zwangsvollstreckung geeignet gebraucht.
Das Gesetz kannte keinerlei Erweiterungen oder Widersprüche in
dieser Beziehung. Die Durchforschung sämtlicher für die ZPO. in
Betracht kommenden Entwürfe und der ZPO. selbst hat nicht er-
geben, daß grundsätzlich von diesem Ausgangspunkte abgewichen ist.
Insbesondere kann daraus, daß in den Bestimmungen über vorläufige
Vollstreckbarkeit nicht überall ausdrücklich ein vollstreckbarer Inhalt
gefordert wird, nicht gefolgert werden, daß ein solcher nicht sowohl
für die Erklärung als vorläufig vollstreckbar m der Hauptsache, wie
für Vollstreckungsklausel und Vollstreckungsurteil grundsätzlich er-
forderlich sei. Das Verbot der vorläufigen Vollstreckbarkeit in
Ehesachen kann umsoweniger hiergegen in Betracht kommen, als es
nicht nur für den Kostenpunkt, sondern auch für Verurteilungen zur
Herstellung des ehelichen Lebens auch in der Hauptsache seinen
62*
742 Gdtt gri. Ajb. 1906. Xr. 9
gnten Sinn bat. Als Enreitenmgen sind zn bezeklmen: 1) Die tot-
Uofige VoUstreckbarkeh im Kodtenpnnkt als Gnmdlage eines Kosten-
festsetzongSTerfahiens. 2) Die Vollstreckbarkeit der Entscheidongen,
welche die Zwangsvollstreckung aufheben oder hindern. 3) Die Er-
teilnng einer Tollstreckbaren Ansfertignng for Urteile, welche znr
Abgabe von Willenserklärungen Terurteilen, die im Urtefl von einer
Gegenleistung abhangig genuu:ht sind< (S. 75f.). Sodann untersucht
Fischer, ob die ProzeßnoyeDen und schließlich die neuen am 1. Ja-
nuar 1900 in Kraft getretenen Gesetze hier eine Aenderung ge-
bracht haben. Es werden insbesondere die Neuerungen in den §§ 103,
722, 726 Absatz 2, 866, 888 Absatz 2 und 895 ZPO., femer in
§ 775 BGB. und §§ 16 und 371 HGB. durchgesprochen. Auch aDe
diese Bestimmungen sollen prinzipiell nichts nach Fischers Ansidit
geändert haben. »Nur im einzelnen sind die Wirkungen der Tor-
ULufigen Vollstreckbarkeit über den Rahmen der ZwangsvoilstreckoDg
hinaus erweitert, auch Yollstrecknngsklausel und Vollstrecknngsnrteü
auf Fälle erstreckt, in denen es sich nicht um Zwangsvollstreckung
handelt. Das reicht aber nicht aus, um für das System einen wd-
teren Begriff der Vollstreckbarkeit zn konstruieren, der alle realen
Urteils Wirkungen umfaßte« (S. 98).
Aus seiner Darlegung gewinnt Fischer folgende praktische Eon-
sequenzen: I. Vorläufige Vollstreckbarkeit 1) Die Erklärung ehies
Urteils für vorläufig vollstreckbar setzt voraus, daß ein Fall vor-
liegt, in dem das Gesetz insbesondere die §§ 708—719 ZPO. sie ge-
stattet. 2) Hier kann die Vollstreckbarkeitserklärung im Kostenpunkt
ohne weiteres erfolgen. 3) Sonst ist sie nur auszusprechen, wenn
das Urteil einen geeigneten Inhalt hat, so a) im allgemeinen nur bei
einer Verurteilung zu einer Leistung, bez. deren eine Zwangsvoll-
streckung möglich ist, b) in den singulären Fällen a) des § 895 ZPO.,
ß) bei Urteilen, welche eine Zwangsvollstreckung, Arrest, einst-
weilige Verfügung aufheben, hindern oder einschränken, y) des
§ 371 Abs. 3 HGB und 3) des § 16 HGB. >In allen anderen Fällen
ist die Vollstreckbarkeitserklärung in der Hauptsache ausgeschlossen,
also namentlich bei allen abweisenden Urteilen, sowie bei Fest-
stellungs- und Bewirkungsurteilen, Urteilen über den Grund oder
über prozeßhindernde Einreden, bedingten Endurteilen. Andere
,reale Urteilswirkungen' sind mit der Vollstreckbarkeitserklärung nicht
verbunden« (S. 90). Sodann H. Vollstreckungsklausel 1) sie ist regel-
mäßig nur zu erteilen, wenn das Urteil ei^en zur Zwangsvoll-
streckung in dem zu 3a angegebenen Sinn geeigneten Inhalt hat,
jedenfalls nicht, wenn das Urteil nur im Kostenpunkt für vorläufig
vollstreckbar erklärt ist und in den Fällen 3b. 2) Dazu als beson-
Festgabe fur Felix Dahn 743
derer Fall § 894 Satz 2. III. >Ein Vollstreckungsurteil kann nur
dann erlassen werden, wenn das inländische Urteil oder der Schieds-
spruch einen geeigneten Inhalt hat< (S. 90). Dazu gehört a) die
Verurteilung gemäß 1 3a, b) singulare Fälle a) Fall II 2 ; ß)— 8) die
Fälle 3ß bis S). In allen andern Fällen ist das Vollstreckungsurteil
ausgeschlossen.
M. E. wird man Fischer in der scharfen Abgrenzung des Be-
griffs der Vollstreckbarkeit Beifall zollen müssen. Nur auf diesem
Wege wird Klarheit in Bezug auf die Urteilswirkungen gewonnen.
Wenn insbesondere die Judikatur den Begriff der Vollstreckbarkeit
erweitert und z. B. das hanseatische OLG. erklärt, durch den Aus-
druck Vollstreckbarkeit werde bezeichnet, daß das Urteil rechtswirk-
sam die Verhältnisse der Parteien zu einander regele, so werden
damit die verschiedenen Wirkungen des Urteils aufs bedenklichste
durch einander gebracht. Das Urteil hat nicht bloß Vollstreckungs-
wirkung, vor allen Dingen sind nicht Rechtskraft und Vollstreck-
barkeit Wirkungen, die bis zu einem gewissen Grade dasselbe be-
sagen. Vielmehr sind mit voller Schärfe drei Wirkungen zu trennen :
Rechtskraft Wirkung, Vollstreckungswirkung und Tatbestandswirkung ^).
Unter Tatbestandswirkung ist die Wirkung des Urteils als eines
bloß faktischen Ereignisses zu verstehen. Sie ist die allgemeinste
Wirkung des Urteils und umfaßt alle Urteilswirkungen, die nicht in
der Rechtskraft und der Vollstreckbarkeit bestehen. Die Bedeutung
der Unterscheidung liegt hauptsächlich darin, daß die Voraussetzungen
für den Eintritt der Wirkungen verschieden sind. Grundfalsch ist
es, die Voraussetzungen, die das Gesetz für die Vollstreckungswirkung
aufstellt, ohne Einschränkung auf die Tatbestandswirkung zu über-
tragen. Das gilt insbesondere für die Vollstreckungsklausel. Für die
Tatbestandswirkung ist diese, wo nicht das Gesetz sie singulärerweise
vorschreibt, grundsätzlich nicht erforderlich. Fischer legt der Tat-
bestandswirkung keinen besonderen Namen bei; das ist ja schließ-
lich auch Nebensache. Aber in der scharfen Abgrenzung dieser
Wirkung gegen die Vollstreckbarkeit liegt m. E. das größte Ver-
dienst der Arbeit. Insofern wird diese Lehre von Fischer ganz er-
heblich gefördert.
Das gilt besonders für die Untersuchung des Urteils, das 'zu
einer Willenserklärung verurteilt. Man hat behauptet, daß derartige
Urteile zu den Bewirkungsurteilen zu zählen seien. Fischer tritt
dem entgegen und erklärt dieses Urteil für ein wirkliches Leistungs-
1) Vgl. meine Streitgenössische Nebenintervention S. 130 ff. ; dort ist bez. der
Vollstreckbarkeit, wenn auch nur in kurzer Skizzierung der gleiche Standpunkt
wie in der vorstehenden Arbeit von Fischer vertreten.
744 Oött gel. Ans. 1906. Nr. 9
urteil: der Beklagte wird zur Abgabe der Willenserklärung verur-
teilt. Seine Aufifassung hat schon rein äußerlich den Wortlaut des
Gesetzes für sich. Indessen auch mit Rücksicht auf das innere
Wesen dieses Urteils ist ihm beizustimmen. Das Wesentliche im Be-
wirkungsurteil besteht darin, daß der Richter kraft gesetzlicher Be-
fugnis das streitige Rechtsverhältnis für die Zukunft normiert. Die
Rechtsgestaltung kommt im Urteil zum Ausdruck. Ganz anders ist
das Verhältnis bei dem Urteil auf Abgabe einer WillenserkräruDg.
Hier enthält das Urteil keine Rechtsgestaltung, sondern die Verur-
teilung zu einer Leistung. Erst wenn diese Verurteilung rechtskräftig
geworden ist, knüpft sich an den Tatbestand des Urteils nach ge-
setzlicher Vorschrift die :gleiche Wirkung wie an die Erfüllung des
Urteilsinhalts selbst. Hier tritt die Rechtsgestaltungswirkung gleich-
sam von außen an den Tatbestand des Leistungsurteils als Ersatz-
funktion heran, dort liegt sie im Urteil selbst. Daß in der Haupt-
wirkung große Verwandtschaft besteht, ist nicht zu leugnen. Mit
Recht betont Fischer femer, daß die Ersatzfunktion keine Zwangs-
vollstreckung enthält. >Nicht durch Zwangsvollstreckung und nach
dem Rechtsstreit wird die Ersatzwirkung hergestellt, sondern durch
das Urteil selbst und schon im Rechtsstreit, den wir bis zum Ein-
tritt der Rechtskraft fortzudenken haben. Es ist daher eine Urteils-
wirkung und nicht eine Wirkung der noch gar nicht begonnenen,
und insoweit auch ausgeschlossenen Zwangsvollstreckung < (S. 62).
Das Verhältnis zwischen der Ersatzfunktion und der Vollstreckung
aus dem auf die Abgabe der Willenserklärung gerichteten Urteü
denkt Fischer sich so, daß die letztere wegen mangelnden Rechts-
schutzbedürfnisses fortfällt, soweit die Ersatzfunktion reicht Das
erscheint auch mir zutreffend. Denn schlechthin die allgemeine Norm
>Bei Willenserklärungen findet kein Strafzwang statt< in die §§ 894ff.
hineinzuinterpretieren, ist doch recht willkürlich. Nur konsequent ist
es, wenn Fischer von seinem Standpunkt folgert, daß das fragliche
Urteil für vorläufig vollstreckbar erklärt und nach § 888 ZPO. voll-
streckt werden kann, ferner daß § 888 ZPO. zur Anwendung gelangt
bei Verurteilung zur Abgabe einer Willenserklärung im Ausland,
während das entsprechende ausländische Recht die Ersatzfunktion
nicht kennt, und daß auf dem Wege des § 888 ZPO. die Unterschrift
eines Wechsels zu erzwingen ist. Dem Vergleich spricht Fischer mit
Recht die Ersatzfunktion ab, da er keine Rechtskraftwirkung hat.
Dem Satze Fischers, daß ein Urteil nur dann für vorläufig voll-
streckbar erklärt werden darf, wenn es einen vollstreckbaren Inhalt
hat, gegenüber könnte sich das praktische Bedenken erheben, ob
nicht das Gesetz der Partei selbst die Entscheidung überlassen will, ob
Festgabe für Felix Dahn 745
das Urteil zur Zwangsvollstreckung benutzt werden kann, insbe-
sondere vom Standpunkt der bekämpften Reichsgerichtsentscheidung
aus. Wenn man indessen die Vollstreckbarkeit des Urteils ihrem
Wesen nach grundsätzlich nur bei vollstreckbarem Inhalt anerkennt,
ist die Folgerung, daß der Richter die Prüfung vorzunehmen hat,
schwerlich abzulehnen. Ich glaube auch kaum, daß praktische Unzu-
träglichkeiten daraus erwachsen können. Man findet zwar bisweilen,
daß der Parteiwille im Vertrag schon an das vollstreckbare Urteil
gewisse Folgerungen knüpft und daß sich insofern vielleicht Fälle
ergeben können, wo die Partei ein Interesse an der Vollstreckbar-
keitserklärung haben kann. Diesem Umstand darf aber nicht eine
solche Bedeutung beigemessen werden, daß man lediglich deshalb
Folgerungen, die sich korrekt aus dem geltenden Gesetz ergeben,
ablehnt.
Auch sonst finden sich in der Abhandlung noch manche in-
teressante Einzelheiten. Doch wird man Fischer hier nicht überall
beistimmen können. So bemerkt Fischer zu der Festsetzung des
Kostenbetrags im amtsgerichtlichen Urteil: >Da dieser Teil des Ur-
teils ausschließlich mit der sofortigen Beschwerde angegriffen werden
kann (§ 103 Abs. 1,512), so ist die Festsetzung nach § 794 Nr. 3
ohne Vollstreckbarkeitserklärung vollstreckbar und ist daher auch
auf Antrag alsbald eine gesonderte vollstreckbare Ausfertigung dieses
Teils des Urteils zu geben, auch wenn das Urteil im übrigen gar
nicht oder noch nicht vollstreckbar sein sollte < (S. 78). Das halte
ich nicht für richtig. Dieser Beschluß hat sein Rückgrat in der
Kostenentscheidung des Urteils. Er kann daher seine Vollstreckungs-
wirkung trotz des § 794 Nr. 3, der hier als lex generalis dem be-
sonderen Fall sich unterordnen muß, nur aus dem Urteil selbst ent-
nehmen.
3) Xaver Gretener, Die Religionsverbrechen im Strafgesetzbuch
für Rußland vom Jahre 1903 (S. 99—131).
Oreteners Abhandlung bietet ein interessantes Seitenbild zu der
Belings. Er gibt uns eine eingehende Uebersicht über die Religions*
verbrechen des russischen Strafgesetzbuchs. Diese Bestimmungen
sollten nach Vorschrift des Gesetzes am 1. Januar 1906 in Kraft
treten. Zunächst legt Gretener die Anschauungen und Verhältnisse
klar, auf denen die Regelung der Religionsverbrechen im neuen
russischen Strafgesetzbuch beruht. Dabei geht er in weitem Umfang
auf die historische Entwicklung und die Entstehung der Bestim-
mungen in den gesetzlichen Körperschaften ein. Dann behandelt er
die einzelnen Delikte. Es sind dies 1) Gotteslästerung und Ent-
weihung des Heiligtums (S. 120), 2) Schmähung von Einrichtungen
746 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 9
bder Gebräuchen der rechtgläubigen Kirche oder des Christentniiis
überhaupt, tätliche Beschimpfung und Schmähung der durch den
Gebrauch beim Gottesdienst geweihten Gegenstände und die unge-
bührliche Verspottung heiliger Gegenstände (S. 121). 3) Yerübang
von Unfug in der Kirche und Störung des christlichen Gottesdienstes
(S. 121 f.), 4) entsprechende Delikte gegen die nicht christlichen Be-
kenntnisse (S. 122), 5) Beerdigung eines Christen ohne christlieheii
Ritus (S. 122), 6) Entwendung von Leichen und Leichenschändang
(S. 123); 7) Angriff auf die Freiheit der Ausübung der Religion
(S. 123), 8) Verleitung zum Abfall oder zur Häresie, mit einer großen
Anzahl von Unterarten (S. 124—127), 9) Hinderung am Uebertritt
zur orthodoxen Kirche (S. 127), 10) Zugehörigkeit zu einer rasskolj-
nistischen Lehre oder Sekte, welche mit fanatischen Angriffen auf
das Leben, Entmannung oder unsittlichen Handlungen verbunden ist
(S. 127 f.); 11) Anmaßung der Würde eines Geistlichen (S. 128); 12)
Beleidigung eines orthodoxen Geistlichen (S. 128).
4) Ernst Heymann, Die dingliche Wirkung der handelsrecht-
lichen Traditionspapiere (Konnossement, Ladeschein, Lagerschein).
Heymann unterzieht die alte Streitfrage nach der dinglichen
Wirkung der handelsrechtlichen Traditionspapiere, die nach der Neu-
regelung wieder zu neuem Leben erwacht ist, einer gründlichen
Untersuchung (S. 133—241, die längste unter den zehn Arbeiten).
Er leitet seine Abhandlung ein mit einer Uebersicht über die
dogmengeschichtliche Entwicklung dieser Frage, an deren Schlofi
er den gegenwärtigen Stand der Lehre skizziert und ankündigt,
eine Lanze für die absolute Wirkung der Traditionspapiere zu
brechen, ateo für die Theorie, daß die Papierbegebung eine beson-
dere eigenartige Form des Erwerbs von Sachenrechten sei (S. 136
bis 146). Dann prüft er noch, bevor er auf das eigentliche Thema
eingeht, die Besitzfrage. Der Schiffer oder sonstiger Uebemehmer
der Ware wird Besitzer, nicht bloß Besitzdiener. Sind mehrere
Konnossemente ausgestellt und gelangen sie in verschiedene Hände,
so haben die sämtlichen Konnossementslegitimierten mittelbaren Mit-
besitz (S. 150). Die Beendigung des Besitzes wird kasuistisch be-
sprochen (S. 151), die Theorie vom fiktiven Besitz zurückgewiesen
(S. 153 f.). In der Sache selbst stellt Heymann zunächst die ab-
solute Theorie und die relative Theorie, welche den Rechtserwerb
auf die allgemeinen Grundsätze über den Erwerb von Sachenrechten
zurückführt, scharf gegenüber. Bei der letzteren werden die ver-
schiedenen Standpunkte von Boyens, Schaps, Gierke und insbe-
sondere Hellwig einer genauen Kritik unterzogen. Als besonders
wichtigen Unterschied in den praktischen Konsequenzen hebt Hey-
Festgabe für Felix Dahn 747
mann hervor, daß in allen Fällen der Papierbegebung durch einen
nichtbesitzenden Nichteigentümer der Zeitpunkt des Eigentumser-
werbs für den gutgläubigen Erwerber der des nachträglichen Besitz-
erwerbs ist >im Gegensatz zur absoluten Theorie, nach welcher der
Erwerb mit der Papierbegebung eintritt« (S. 169 S.). Auch bei Er-
werb eines Vertragspfandes zeigt sich der Gegensatz in voller
Schärfe (S. 172flF.)' Heymann führt für die von ihm vertretene ab-
solute Theorie selbst im wesentlichen drei Gründe ins Feld: den
Wortlaut des Gesetzes (S. 177 f.), sodann die Entwicklungsgeschichte
der neuen reichsgesetzlichen Bestimmungen (S. 179 ff.) und drittens
hauptsächlich die Stellung dieser Papiere in unserm Rechtssystem
(S. 183 ff.). In letzter Hinsicht legt er dar, daß eine analoge An-
wendung der allgemeinen Sätze des BOB. über Sachenrechtserwerb
hier nicht haltbar sei, weil die Voraussetznngen für die Analogie
hier fehlten. Auf die absolute Wirkung soll schließlich auch die
historische Entwicklung jener Papiere hinweisen (S. 187 ff.). Hey-
mann führt die dingliche Konnossementswirkung in ihren Ursprüngen
im Gegensatz zu Goldschmidt und im Anschluß an Brunner auf
die fränkisch-romanische Urkunde und die traditio cartae zurück
(S. 188 f.). Der Zusammenhang des Konnossements mit einer der im
mittelalterlichen Verkehr zur Mobiliarübertragung oder Verpfändung
verwendeten cartae traditionis ergibt sich nach Heymanns Ansicht
aus dem Seödarlehn: der Gläubiger erhielt fur das Seedarlehn einen
Seewechsel mit Pfandklausel. Daneben war die dingliche Wirkung
der Konnossementsbegebung selbst zunächst überflüssig, weil die
Verpfändung der Ware durch Begebung des Seewechsels, der als
carta traditionis fungierte, erfolgte. Mit der Entwicklung der Tratte
wurde die Pfandklausel im Wechsel unpraktisch, sie ging in das
Konnossement über, und dieses übernahm die Funktion als carta
traditionis (S. 205 ff.). Die römisch-rechtliche Doktrin hat die Weiter-
entwicklung der carta traditionis gehemmt. Aber die dingliche
Wirkung des Konnossements hat sich erhalten. >Au8 der Präsen-
tationspapierqualität des Konnossements erklärt sich, daß hier ein
Fall der traditio cartae bis in die neueste Zeit fortbestehen konntet
(S. 216). — Sodann wird noch die Brauchbarkeit der absoluten
Theorie an Einzelfragen erprobt (S. 219 ff.). Es wird insbesondere
die Regelung bei Mehrheit der Konnossementsexemplare besprochen
(S. 219 ff.). Vollen Parallelismus zwischen Papier- und Warenerwerb
lehnt Heymann jedoch mit Rücksicht auf den Wortlaut der §§ 424,
450, 647 HGB. ab: der gutgläubige Erwerber eines Konnossements
erwirbt nicht das Sachenrecht an der gestohlenen Ware (S. 230 ff.).
— Zum Schlüsse wird näher ausgeführt, daß die dingliche Wirkung
748 GGit gd. Anz. 1906. Nr. 9
des Traditionspapiers sich nur auf Rechte an Sachen und den Er-
werb solcher Rechte durch Uebergabe bezieht (S. 234^-41).
5) Ernst Jacobi, Die Pflicht zur Berufung der Generalyersamm-
lung einer Aktiengesellschaft (S. 243 — 267).
Der Verfasser behandelt die Frage, wann die Voraussetzung des
§ 253 Abs. 2 H6B. : >Die Generalversammlung ist . . . zu berufen,
wenn das Interesse der Gesellschaft es erfordert < vorliegt Das Reichs-
gericht hat in einer Entscheidung vom 3. Mai 1902 ausgesprochen,
»daß Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet seien, sich vor Einlassung
auf wichtige, kostspielige, riskante und deshalb das Interesse der
Aktionäre in besonderem Maße berührende Unternehmungen der Ein-
willigung der GV. zu versichern <. Diese Entscheidung rief einen
Sturm der Entrüstung hervor. Der Juristentag von 1904 beschäftigte
sich eingehend mit der Frage. Jacobi spricht die sämtlichen diesbe-
züglich vertretenen Ansichten durch. Er selbst kommt zu folgendem
Resultat. > Abgesehen von den einzelnen im Gesetz oder Statut an-
gegebenen Fällen ist hiernach vom Vorstand eine GV. zu berufen:
1) wenn der Vorstand von ihm erteilten Weisungen abweichen will;
er braucht es nicht, wenn Gefahr im Verzuge ist und er die Geneh-
migung vermuten darf; 2) wenn das Abweichen von jenen Weisungen
der Gesellschaft vorteilhaft ist. Hier gilt das gleiche, wie wenn der
Vorstand abweichen will; 3) wenn Verhältnisse eingetreten sind, die
Maßnahmen nahe legen, zu denen ein Beschluß der GV. notwendig
ist oder die doch solchen Maßnahmen wirtschaftlich gleich oder sehr
ähnlich sind. — Bei dieser Auflassung ist die Pflicht zur Berufung,
wie sie Rehm, und noch mehr, wie sie Simon annimmt, zu eng, wie
sie Lehmann und Staub annimmt, zu weit gesteckt; die Riessersche,
auch vom Juristentage angenommene Auffassung ist dagegen die
richtige, sie ist aber einer festeren Umgrenzung fähige. (S. 265).
6) Herbert Meyer, Die rechtliche Natur der nur scheinbaren
Bestandteile eines Grundstücks (§ 95 BGB.). (S. 269—301).
Meyer beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage, ob die mit
dem Grund und Boden verbundenen Nichtbestandteile (§ 95 BGB.)
zu den beweglichen Sachen gerechnet werden müssen oder unbeweg-
liche sind. Das Reichsgericht hat sie, von dem Standpunkt ausge-
hend, daß nur Grundstücke und die mit diesen verbundenen Bestand-
teile unbeweglich sind, für bewegliche Sachen erklärt. Gegen diese
Entscheidung (Urteil des fünften Zivilsenats vom 19. September 1903
RGZ. 55 S. 284) wendet sich Meyer: >wenn wir näher betrachten,
was für Sachen im einzelnen zu diesen juristisch beweglichen, tat-
sächlich unbeweglichen gehören können — Häuser, Eisenbahnober-
bauten, Brunnenschächte, Tunnel — , dann sträubt sich bei jedemi
Festgabe fur Felix Dahn 749
der nicht ganz in juristischem Formalismus erstarrt ist, das Rechts-
gefühl gegen eine solche Einordnung<. (S. 271). Der Entwurf I sagte
in § 781 positiv ^ Unbewegliche Sachen sind die Grundstücke <. Diese
Bestimmung ist zwar gestrichen, aber ohne daß die Gesetzgeber ihre
Ansicht geändert hätten. Meyer weist dieses gegen ihn sprechende
Moment damit zurück, daß jene Worte jedenfalls nicht Gesetz ge-
worden seien. Nach seiner Ansicht soll die Natur der Sache darüber
entscheiden, ob sie zu den beweglichen oder den unbeweglichen zu
rechnen ist ; zu verwerfen sei die Auffassung, daß für das BGB. un-
bewegliche Sachen und Grundstücke identisch seien. Eine Haupt-
stütze sieht Meyer für seine Ansicht darin, daß sich das Sachenrecht
streng an das deutsche Rechtsbewußtsein anschließt. Er legt die
deutschrechtliche Entwicklung in den Grundzügen dar. Die Gewere
und ihre rechtliche Behandlung und Bedeutung für den Gegensatz
von Fahrnis und Liegenschaft sowie der Zubehörbegriff des deutschen
Rechts werden eingehend besprochen. Aus der Betrachtung gewinnt
er sodann folgende Konsequenz: >Die völlige Uebereinstimmung der
geschilderten Grundgedanken des deutschen Sachenrechtes mit un-
serm geltenden bürgerlichen Recht macht es zweifellos, daß es sich
bei diesem um eine organische Fortbildung germanischen Rechtes im
modernen Sachenrecht handelt. Bei dieser Lage der Dinge dürften
historische Gründe bei der Entscheidung der Frage, ob diese Nicht-
bestandteile Fahrnis oder liegendes Gut sind, wohl mit Fug schwer
ins Gewicht fallenc. (S. 288). Dann weist er an der Hand einiger
Lübecker Stadtbucheintragungen nach, >daß ihrer Natur nach unbe-
wegliche Anlagen auf fremdem Boden nach deutscher Rechtsauffassung
auch juristisch selbständige Immobilien sind und als solche behandelt
werden €. (S. 290).
Es scheint mir doch recht fraglich, ob man der historischen Ent-
wicklung in dem Maße entscheidende Bedeutung für diese ganz spe-
zielle Frage beimessen kann, wie Meyer es will. Das steht doch
außer Zweifel, daß das BGB. nur den Gegensatz > bewegliche Sachen <
und »Grundstücke€ kennt. Grade wenn das BGB. den Ausdruck un-
beweglich sorgfältig vermeidet, so spricht dies doch in hohem Grade
dafür, daß es begrifflich nur diese Teilung gelten lassen und die
Sachen entweder als beweglich oder als Grundstück behandelt wissen
will. Zuzugeben ist Meyer, daß sich aus dem BGB. die Identität
des Ausdrucks »unbewegliche Sache< mit Grundstück mit überzeu-
gender Bestimmtheit nicht nachweisen läßt, ebesowenig indessen auch
das Gegenteil. Der Standpunkt des Reichsgerichts gewinnt jedoch
m. E. eine erhebliche Stütze in dem Wortlaut des §864 ZPO.: >Der
Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen unterliegen außer
750 66tt gel Anz. 1906. Nr. 9
den Grandstücken die Berechtigungen, für welche die sich auf Grund-
stücke beziehenden Vorschriften gelten, und die im Schi£Esregis(er
eingetragenen Schiffe«. Hier wird man bei einigermaßen objektiyer
Betrachtung kaum umhin können zuzugeben, daß das unbewegliche
Vermögen aus den Grundstücken und nur aus diesen besteht. Das
trifft umsomehr zu, als die fraglichen Nichtbestandteile unter die
Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen, wie auch Meyer
zugibt, nicht fallen.
Dem Einwand, daß sich das Rechtsgefühl sträuben muß, Häuser,
Tunnel und andere ihrer Natur nach zweifellos unbewegliche Gegen-
stände unter die beweglichen Sachen zu rechnen, ist schwerlich so
übermäßig große Bedeutung beizulegen. Man wivd sich durch der-
artige Aeußerlichkeiten in der Rechtswissenschaft und ganz besonders
in der Praxis dann nicht beirren lassen, wenn die dadurch erzielten
Resultate praktisch sind und dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechen.
Natürlich müssen solche Unebenheiten nach Kräften im Gesetz ver-
mieden werden. Wir haben es ja aber hier grade, wie Meyer mit
Recht im Anschluß an Gierke hervorhebt, mit einem Fall zu tun,
dessen Regelung der Gesetzgeber übersehen hat, wo also die Un-
ebenheit eine unbeabsichtigte, rein zufällige ist.
Meyers Auffassung führt in manchen Einzelheiten zu bedenklichen
Resultaten. Ihr entsprechend rechnet er Gebäude, die dazu be-
stimmt sind, von Ort zu Ort bewegt zu werden, wie Zirkusgebäude
u. dgl., ferner Baracken, Bretterbuden u. s. w. zu den Mobilien. Alle
anderen Bauwerke dagegen sollen als unbewegliche Sachen gelten, so
Tunnel, Brunnenschächte u. dgl., ebenso aber auch unterirdisch ge-
legte Rohr- und Eabelnetze. Wenn demgemäß mit einer Betriebs-
anlage, wie das besonders im Bergwerksbetriebe, aber auch sonst
durchaus nicht selten der Fall ist, derartige Anlagen (Rohr- und Ea-
belnetze, Wasseranlagen zur Speisung der Maschinen, die weite
Strecken durch fremdes Gebiet geführt werden) verbunden sind, die
über fremde Grundstücke gehen, müßten bei einer Veräußerung und
zwar sowohl beim obligatorischen als auch beim dinglichen Geschäft
über solche Anlagen besondere Geschäfte abgeschlossen werden, weil
sie wegen ihrer Immobiliarqualität nicht Zubehör sein können; das
scheint mir doch unpraktisch zu sein.
Wenn Meyer dazu gelangt, eine große Anzahl der Vorschriften
über Mobilien auf diese nach seiner Ansicht unbeweglichen Sachen
anzuwenden, so sehe ich darin keinen Gegengrund gegen seine Auf-
fassung. Man wird, wenn man von der Mobiliarqualität ausgeht,
auch umgekehrt gewisse für Grundstücke gegebene Vorschriften an-
zuwenden haben. So dürfte z. B., wenn der Nießbraucher das von
Festgabe für Felix Dahn 751
ihm auf dem Nießbrauchsgrundstück errichtete Gebäude vermietet,
für die Kündigung § 565 Abs. 1 BGB. und nicht Abs. 2 anwend-
bar sein.
Meyer will die Reichsgerichtsentscheidung — es handelt sich um
die Frage, ob A, der ein Fabrikgrundstück in der Zwangsverstei-
gerung erstand, auch einen Anbau, den der Vorbesitzer als Pächter
eines Nachbargrundstücks auf diesem errichtet hatte, mit erwarb —
in folgender Weise begründen: >Der Anbau ist Bestandteil des
Fabrikgebäudes und steht als solcher im Eigentum des A<. Dem
stimme ich zu. Aber dabei ist doch nicht notwendige Voraus-
setzung, den Anbau für unbeweglich zu erklären; diese Begründung
hätte auch bei dem Standpunkt des Reichsgerichts gepaßt, und m. E.
sogar besser als die aus der Zubehöreigenschaft.
Bekanntlich hat das Reichsgericht in seiner neusten Entscheidung
auf diesem Gebiet (B6Z. 59 S. 21) seinen Standpunkt mit aller
Schärfe festgehalten. Demnach dürfte kaum noch Aussicht vor-
handen sein, daß Meyers Auffassung für die Praxis den Sieg ge-
winnt. Den gleichen Standpunkt wie Meyer vertritt auch Kohler,
Lehrbuch des bürgerlichen Rechts B. I S. 455.
Wenn ich auch dem Verfasser in der Hauptsache nicht beizu-
treten vermag, so erscheint mir die Abhandlung doch als ein wert-
voller Beitrag zu dieser dunklen Frage.
7) Richard Schott. Ueber Veräußerungsverbote und Resolutiv-
bedingungen im bürgerlichen Recht, (S. 303--341).
§ 137 BGB. Satz 1 bestimmt >Die Befugnis zur Verfügung über
ein veräußerliches Recht kann nicht durch Rechtsgeschäft ausge-
schlossen oder beschränkt werden«. Können die Vertragschließenden
den hiermit verbotenen Zweck privater dinglicher Verfügungsbe-
schränkung im Wege der auflösenden Bedingung erreichen und
damit das Veräußerungsverbot umgehen? Diese Frage, die von er-
heblicher praktischer Bedeutung ist, unterzieht Schott einer genau-
eren Prüfung. Er legt zunächst (S. 309—316) die Vorgeschichte der
einschlagenden Bestimmungen des BGB. dar, ohne jedoch fur die
streitige Frage, für deren Verneinung nur Cromo und vielleicht auch
noch Schlossmann (S. 306) eingetreten sind, eine Ausbeute zu ge-
winnen. Auch die bloße Betrachtung nach allgemeinen Grundsätzen
genügt nach Schotts Ansicht nicht, um zu einer Entscheidung zu
gelangen. Mit Recht weist er die Begründung der Zulässigkeit der
Resolutivbedingung >im Fall der Veräußerung< mit der allgemeinen
Erwägung, daß Bedingungen überall zulässig seien, wo sie nicht be-
sonders verboten sind, entschieden zurück. Im Gegenteil steht die
752 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 9
Lehre von den Bedingungen genau so unter den Verbotsgesetzen der
§§ 134 ff. wie jeder andere Teil des BGB.
Schott geht sodann auf eine nähere Prüfung der einzelnen Fälle
ein. Hier unterscheidet er drei Gruppen:
1) Das reine Veräußerungsverbot, ohne daß eine andre Person
bestimmt wird, der die Sache bei Uebertretung des Verbots zufallen
soll (S. 322£f.). Kasuistisch werden eine große Anzahl hierher ge-
hörender Geschäfte aufgezählt. Sie alle fallen unter § 137. Eine
Schwierigkeit entsteht hier nicht, die fragliche Resolutivbedingung
kann hier nicht praktisch werden.
2) In einem Vertrag unter Lebenden wird bestimmt, daß ein
Gegenstand nicht veräußert werden darf und daß er im Fall der
Veräußerung auf den andern Kontrahenten oder auf einen Dritten
übergehen soll, (S. 324 £f.). Hier kommt in Frage, ob sich nicht
hinter einer solchen Verabredung eine Resolutivbedingung mit ding-
licher Wirkung verbirgt. Schott weist nach, daß die Möglichkeit in
solchen Geschäften Resolutivbedingungen zu erblicken, nur eine be-
schränkte ist (S. 325 f.). Es muß schon eine Veräußerung des Gegen-
standes seitens des verbietenden Kontrahenten an den anderen vor-
liegen. Ist ein Dritter als Anfallsberechtigter benannt, so ist die
Annahme der Bedingung nach Schotts Meinung ausgeschlossen, weil
der Dritte nur ein obligatorisches Recht erwirbt. Immerhin ließe
sich m. £. die dingliche Wirkung dadurch herbeifuhren, daß der
verbietende Kontrahent von vom herein dem Dritten Eigentum unter
der Suspensivbedingung des Eintritts der Resolutivbedingung über-
trägt. Bei Grundstücken kommt hier wie auch, wenn eine Ver-
äußerung nicht erfolgt, die Sicherung des obligatorischen Anspruchs
durch Vormerkung in Frage. Schott führt gegen die Zulässigkeit
der Bedingung in diesen Fällen drei Gründe an. Einmal spricht
dagegen, daß im Verkehr Veräußerungsverbot und Resolutivbedingung
sich häufig nicht scharf scheiden lassen. Das ist richtig. Die Folge
wäre, daß man die Bestimmung, da nicht anzunehmen ist, daß die
Parteien Nichtiges gewollt haben, bei Zulässigkeit der Resolutivbe-
dingung stets als solche auslegen müßte. Schott weist auch mit
Recht auf § 140 BGB. hin. Sodann würde, wie Schott darlegt, die
Möglichkeit gegeben sein, auf diesem Wege Vermögensstücke in Ewig-
keit dem Verkehr zu entziehen. Der Hauptgrund gegen die Za-
lässigkeit ist jedoch der, >daß durch sie genau der Tatbestand ge-
schaffen würde, dem der § 137 die Rechtswirksamkeit versagen will«.
Damit wendet Schott sich gegen die überwiegende Meinung, welche
die streitige Frage bejaht (Dernburg, Riezler, Endemann, Scherer u.a.}.
Diese Meinung sieht nämlich, hauptsächlich wohl mit Rücksicht auf
Festgabe für Felix Dahn 768
die Motive (B. III S. 77), in der Beifügung der betreffenden Resolu-
tivbedingung ein in fraudem legis agere nicht, weil dieselbe nicht
gegen die ratio des Gesetzes verstoße ; ratio sei die Verhinderung
relativ dinglicher Rechte, diese Gefahr bestehe bei der Einfügung
der fraglichen Bedingung nicht. Schott wendet sich unmittelbar
gegen diese Stütze der von ihm bekämpften Auffassung eigentlich
nirgends. Ich halte schon jenen Satz nicht für durchschlagend. Ob
ich mit jemandem, dem ich eine Sache übertrage, ein Veräußerungs-
verbot vereinbare, daß jede Veräußerung mit dinglicher Wirkung
nichtig sein soll, oder ob ich sie ihm unter der Resolutivbedingung
der Veräußerung übertrage, wobei die Bedingung lediglich zu dem
Zweck eingefügt ist, die dingliche Wirkung gegen den Dritten zu
erzielen, ist doch völlig gleichbedeutend. In zweiten Fall wird im
praktischen Resultat genau so ein relativ-dingliches Recht herbeige-
führt wie im ersten. Angedeutet ist auch bereits in den Motiven,
daß § 137 in sachlicher Hinsicht schon dadurch gerechtfertigt werde,
daß der Schuldner nicht vermittelst solcher Rechtsgeschäfte sein
Vermögen den Gläubigern entziehen dürfe. An diesen Punkt knüpft
Schott an: > Genau dasselbe würde aber auch bei Vorliegen einer
solchen Bedingung eintreten, da sie ja ausdrücklich schon auf den
Fall der Weiterveräußerung und der ihr gleichstehenden Pfändung
gestellt ist« (S. 331). Treffend weist er den Einwand, das sei bei
allen Resolutivbedingungen so, zurück: grade bei der Resolutivbe-
dingung sei im allgemeinen die Zwangsvollstreckung zulässig. Da-
durch wird wenigstens >die Sache seinem Schuldner einstweilen ent-
zogen, und ist diesem so die Möglichkeit genommen, hinter Reso-
lutivbedingungen verschanzt seiner Gläubiger zu spotten und behaglich
im Genuß der Sachen zu leben. Dieses Sicherungsmittel entfällt na-
türlich, wenn schon der Fall der Weiterveräußerung oder der ihr
nach § 161 stets gleichstehenden Zwangsvollstreckung den Eintritt
der Bedingung bildet« (S. 332).
3) Letztwilliges Veräußerungsverbot und Resolutivbedingung
(S. 333 ff.). Reines Veräußerungsverbot ist auch hier nichtig. Be-
zweckt der Erblasser mit einem derartigen Verbot den Vorteil oder
die Sicherung der Anwartschaft eines Dritten, der jedoch genannt
sein muß, dann liegt kein eigentliches Veräußerungsverbot vor, son-
dern es handelt sich nur um Vor- und Nacherbschaft. Dement-
sprechend ist dann das Verhältnis zu regeln (S. 335). Der Erb-
lasser muß sich aber mit seinen Bestimmungen in dem gesetz-
lichen Rahmen dieser Institute halten. Verbietet er darüber hinaus
etwas, so versagt die Umdeutung im Wege der Auslegung. Dann
greift wieder § 137 platz. Kann nun der Erblasser durch Setzen
754 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 9
der Resolutivbedingung >im Falle der Veräußerung oder Pfänduogc
den § 137 BGB umgehen? Da es sich um die Auflösung des Erb-
rechts des Erben handelt, braucht ein Dritter in diesem Falle nicht
genannt zu werden. Schott prüft auch hier wieder die Fälle im
einzelnen. Bei beweglichen Sachen und Forderungen ist die Bestim-
mung des Erblassers, daß sie im Falle der Veräußerung an den
Dritten fallen sollen, unzulässig, weil darin ein > Einsetzen zum Vor-
erben unter gleichzeitiger Wegnahme der vom Gesetz dem Vorerben
gelassenen Befugnisse, über Mobilien und Forderungen zu verfugenc
liege. Die Bedingung >Fall der Pfändung oder Beschlagnahme« ist
mit Rücksicht auf § 773 ZPO. bedeutungslos. Für Grundstücke
könnte man geneigt sein, die Bedingung für zulässig zu erachten,
weil der Vorerbe zu deren Veräußerung nicht befugt ist. Indessen
weist Schott darauf hin, daß dem Vorerben nach Erbrecht doch
immer ein interimistisches Verfügungsrecht bleibt, das ihm nicht
durch solche Bedingungen entzogen werden darf. Die Rücksicht anf
die Gläubiger fällt hier, wie Schott hervorhebt, wegen § 773 ZPO.
nicht weg, weil § 773 ja nicht die Zwangsverwaltung ausschließe,
welche als eine der privaten Veräußerung gleichstehende > Verfügung
im Wege der Zwangsvollstreckung« im Sinne der §§ 161. 2115 BGB.
angesehen werden müsse. Ich trage kein Bedenken, wie in der
Hauptsache so auch bei der dritten Gruppe den Ausführungen Schotts
beizustimmen.
Die klare und gründliche Abhandlung verdient volle Aner«
kennung.
Göttingen H. Walsmann
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwartz in Gottingea
Oktober 1906 Nr. 10
Badolf Smend , Die Weisheit des Jesus Sirach, hebräisch und deutsch
heransgegeben. Mit einem hebräischen Glossar. Berlin, G. Reimer, 1906 (VI, %
und XXIV, 82 S.).
Derselbe: Die Weisheit des Jesus Sirach erklärt. Mit Unterstützung der
Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen. Berlin, G. Reimer,
1906 (CLX, 518 S.).
Durch die Entdeckung des Urtextes der Weisheit des Jesus
Sirach ist uns eins der wichtigsten Apokrypha des Alten Testaments
gleichsam neu geschenkt. Der Bestand der althebräischen Literatur
ist damit um einen nicht unerheblichen Bruchteil gewachsen, dessen
innerer Gehalt seinem äußeren Umfang entspricht Nach seiner
spi achlichen und literarischen Form von den kanonischen Büchern
eigenartig verschieden, trägt das hebräische Buch zu ihrer Erklärung
und zu ihrer geschichtlichen Würdigung in hohem Maße bei, nicht zum
wenigsten auch dadurch, daß es zur Geschichte ihrer Ueberliefenmg
sehr lehrreiche Parallelen bietet. Bedeutsam ist der Fund aber zu-
nächst deshalb, weil eine hervorragende Persönlichkeit und eine
wichtige Epoche der jüdischen Geschichte durch ihn zum ersten Mal
näher bekannt geworden ist. In allen diesen Beziehungen waren die
Uebersetzungen ein sehr unvollkommener Ersatz des Originals.
Man hatte längst erkannt, daß der griechische und der syrische
Uebersetzer, die beide aus dem Urtext schöpften, ihre Vorlagen an
sehr vielen Stellen schlecht wiedergegeben haben. Aber jetzt hat
sich herausgestellt, daß sie oft auch da willkürlich verfahren sind,
wo man sich unbedenklich auf sie verlassen hatte. Obendrein weichen
sie gerade an solchen Stellen ab, an denen der Urtext über die
Entstehungszeit des Buches deutlichen Aufschluß gab. Damit war
die geschichtliche Bedeutung Sirachs und die Tendenz des Buches
verdunkelt. Denn auf Grund der Uebersetzungen ließ sich nicht
mit voller Sicherheit entscheiden, ob der Hohepriester Simon ben
G6it. gel. Ans. 1906. Nr. 10 53
756 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
Onia, der Sir. 50 als ein älterer Zeitgenosse Sirachs erscheint, Simon L
ben Onia I. war, der nach Josephus etwa am Anfang des 3. Jahr-
hunderts y. Chr. anzusetzen wäre, oder Simon n. ben Onia IL, der
am Anfang des 2. Jahrhunderts, nicht lange vor der syrischen ReB-
gionsverfolgung lebte. Herzfeld und Grätz hatten freilich an einigen
wenigen Stellen, die für sich allein nichts bewiesen, Polemik gegen
den Hellenismus gefunden. An anderen hatte neuerdings H. WUlrich
(Juden und Griechen, Göttingen 1895, S. Ii2fif.) Hinweise auf die
Streitigkeiten um das Hohepriestertum gesehen, die zum Ausbmch
der syrischen Religionsverfolgung den Anlaß gaben. Auch diese
scharfsinnigen Vermutungen konnten auf Grund des griechischen und
des syrischen Textes nicht zur Gewißheit erhoben werden. Dagegen
hat der Urtext sowohl Willrich als auch Herzfeld und Grätz in über-
raschendem Maße Hecht gegeben.
Der hebräische Wortlaut von c. 50 zeigt, daß der damalige Hohe-
priester im Unterschiede von seinem Vorgänger, dem in v. i— st hoch-
gefeierten Simon, ein Hellenist war, und das in solchem Grade, daß er
am Versöhnungstage im Tempel nicht mehr funktionierte. Unzweideutig
ergibt sich das aus der im Griechen und im Syrer unkenntlich gewor-
denen Apostrophe v. 23.14. Denn nach dem Hebräer hält Sirach hi»
den Söhnen Simons die Herrlichkeit vor Augen, in der ihr Vater an
jenem Festtage inmitten des hohenpriesterlichen Geschlechts und der ge-
samten Priesterschaft seines Amtes gewaltet hatte. Deshalb müssen die
Leute, die sich nach 42, s des Gesetzes des Höchsten und der heUigen
Institutionen schämen, in der Tat Hellenisten sein. Ebenso steht et
mit den Verächtern des Gesetzes, die 41,5— 10 so ingrimmig ver-
wünscht werden. Sie sind auch hier, wenigstens zu einem Teil, in
der hohenpriesterlichen Familie zu suchen. Denn 41,6 des hebni-
schen Textes wird ihnen das warnende Beispiel des Hauses Elis vor-
gehalten.
Aus dem hebräischen Text geht ferner hervor, daß das in-
brünstige Gebet von 33, 1—12 sich speziell gegen die Griechen und
ihren König richtet. In der 32,u~26 vorhergehenden Anklage sind
aber die jüdischen und die heidnischen Unterdrücker des Volkes so
eng zusammengefaßt, daß man kaum feststellen kann, wo der Ueber-
gang von den einen auf die anderen gemacht wird. Man muß daraus
schließen, daß die jüdische Aristokratie schon damals mit den grie-
chischen Oberherren gemeinsame Sache gegen das Volk noachte.
Einigermaßen sieht Sirach 41,6. 45,26. 50,28.24 den Sturz des
hohenpriesterlichen Hauses voraus, und dabei ermahnt er es xor
Treue gegen die väterliche Religion, zu Gerechtigkeit und Eintracht
R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 757
Schon in seiner Zeit bestanden somit innerhalb der Dynastie die
Zwistigkeiten, die ihren Untergang veranlaßten.
Man muß nach alledem annehmen, daß der Sir. 50 gefeierte
Simon kein anderer als Simon II. ist, und Sirach unter Onla III.,
nicht lange vor der syrischen Religionsverfolgung geschrieben hat.
Es ist kaum denkbar, daß die inneren Zustände des jüdischen Volkes,
die das Einschreiten des Antiochus Epiphanes herbeiführten, schon
nach dem Tode Simons I., d.h. etwa 100 Jahre früher, in allen
diesen Beziehungen dieselben waren. Obendrein hat Willrich (a. a. 0.
S. 107 £f.) gezeigt, daß Simon I., den Josephus den Gerechten nennt,
aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein Doppelgänger Simons II. ist.
Es ist nun weiter zu vermuten, daß Simon II. als der letzte ge-
setzestreue Sadokide ha-saddi^ hieß. Eben dahin wird der Name
auch in den beiden Talmuden gedeutet.
Zu dieser Datierung des Sirach stimmt die antihellenistische
Tendenz des Buches, die sich viel weiter erstreckt, als Herzfeld und
Grätz vermuteten. Sie hätte auch aus den Uebersetzungen erkannt
werden können und wäre längst erkannt, wenn man sich in neuerer
Zeit um die Auslegung des Buches ernstlich bemüht hätte. Im
Gegensatz gegen die jüdische Ueberlieferung hatte schon Ewald ge-
meint, daß die Religionsverfolgung nicht allein durch den Ehrgeiz
einiger Aristokraten und die Politik und die Geldnot der Seleuciden
hervorgerufen sein könne. Er hatte daneben eine vorausgehende
friedliche Hellenisierung der Juden postuliert. Was er nur postu-
lierte, bezeugt das Buch Sirachs durch seinen gesamten Inhalt. Es
ist ein Kompendium jüdischen Glaubens und jüdischer Bildung, das
Sirach in Verteidigung der väterlichen Religion dem Griechentum
entgegenstellt. Dieser Gegensatz erhellt deutlich aas der eigentüm-
lichen Art, in der Sirach die Weisheit definiert, and aus der Bedeu-
tung, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, die er aber auch
tatsächlich in seiner Zeit gehabt haben muß.
Sirach hat nicht nur in seiner Schulstube und in den öffent-
lichen Disputationen geredet, in denen die Weisbeitslehrer im Wett-
kampf Schüler an sich zu ziehen suchten (6,84—86). Er ist auch im
Tempel aufgetreten (31, si— 33,18». 36,i6b— 22, vgl. 51,1—12) und hat
bei den Fürsten und Häuptern des Volkes Gehör verlangt (30,2?
vgl. 45,26. 50,22— 2i). Im Unterschiede von den übrigen Weisheits-
lebrem des A. T., die entweder anonym oder unter fingiertem Namen
schreiben, nennt er sich mit Namen (50, 27), und in höchst auffälligem
Selbstgefühl spricht er von seiner Aufgabe. In göttlicher Inspiration
will er die Lehre weithin leuchten lassen und für alle Zukunft die
Wahrheit verkündigen. Denn wenngleich er wie ein Spätling aufge-
53*
758 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
Standen war und er selbst anfänglich auf keinen großen Erfolg ge
rechnet hatte, meinte er gleichwohl den kanonischen Autorität^ u
die Seite getreten zu sein (24,so— S4. 30,25-2?). Dies Selbstgefühl
ist bei einem gewöhnlichen Weisheitslehrer unbegreiflich, es kam
nur dahin gedeutet werden, daß Sirach ein hervorragender Wort-
führer der Religion gegenüber einer ihr feindlichen und gefährlichen
Zeitströmung war, d. h. aber gegenüber dem Hellenismus.
Hieraus begreift sich auch der bei aller Verwandtschaft mit dei
Proverbien sehr eigentümliche Inhalt seines Buches. Im unter-
schiede von den Proverbien und vom Buche Hieb hat er die Weis-
heit, die bis dahin neben und über der Religion ihren Weg gegangea
war, mit der Religion identifiziert und umgekehrt hat er das ge-
samte Gebiet des Glaubens in die Weisheit einbegriffen. Die Wee-
heit Salomos ist ihm darin gefolgt. Soviel er auch von der Moni
und nebenher von der Weltklugheit handelt, die Moral ist für ilm
identisch mit dem väterlichen Gottesglauben, und überall will er in
Grunde dem jüdischen Selbstbewußtsein, namentlich auch nach mva
geschichtlichen Seite, Ausdruck geben. Daher tritt die Weltklugheit
bei ihm hinter der Moral zurück, dagegen redet er ganz ausführlich
von der Geschichte und der gesamten Eigenart seines Volkes, anck
von seinem Kultus. Er ist deshalb auch ein Beter und Psalmdichter.
Das berühmte Selbstlob der Weisheit (c. 24) ist nur das abstrakte
Komplement des Lobes der Väter Israels (c. 44 — 49). Antihellenistisck
wie der ursprüngliche Schluß des Buches (c. 50) ist auch der Ein-
gang (l,i-2o). >Alle Weisheit kommt von dem Herrn und bei ihm
ist sie von Ewigkeit her«. Damit formuliert er seine Absage an die
griechische Allerweltsweisheit. Gegen hellenistische Skepsis richtea
sich aber auch seine Ausführungen über Willensfreiheit, Verantwort-
lichkeit und über die individuelle Vergeltung, über die Auserwählong
Israels, über die Vollkommenheit der von Gott geschaffenen Welt,
über das menschliche Leiden und den Tod.
Als das Wesen der väterlichen Religion erscheint ihm der Glaube
an die Allmacht des Guten, das in Israel seine Stätte hat Gegen
den Kultus ist er freilich keineswegs gleichgültig. Er ist für um
sogar von hohem Wert als die äußere Form des Bekenntnisses zu
Gott und als die höchste Auszeichnung Israels vor der Welt. Aber
als der eigentliche Inhalt des Gesetzes gilt ihm die Moral (17,i4).
sie ist der Maßstab, nach dem Gott jeden einzelnen Menschen un-
fehlbar behandelt. In hohem Ernst, und doch frei von pietistischer
Aengstlichkeit, tritt er für ihre Forderungen ein. Der Mensch soll
sich aber auch damit begnügen, diese Offenbarung Gottes zu er-
forschen. Das Verborgene, das darüber hinaus liegt, geht ihn nichts
B. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 759
an. Denn vielerlei, unsicher und gefährlich sind die Spekulationen
der Menschen (d. h. der Griechen), ewig gewiß ist die Eine Wahr-
heit der Gebote Gottes (3,21—24). Von hier aus nimmt er in uner-
schütterter Zuversicht Stellung gegenüber der griechischen Welt.
Die Späteren konnten sich in Folge des gewaltsamen Zusammen-
stoßes mit ihr nur auf Kosten der geistigen Freiheit, und auf
griechischem Boden auch nur auf Kosten der inneren Wahrheit,
gegen sie behaupten. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode,
die Sirach ohne Zweifel kannte, lehnt er ab, aber aufs engste schließt
er die Rechtfertigung des Einzelnen mit der endlichen Rechtfertigung
Israels zusammen. Damit gibt er dem religiösen Gemeingefühl den
größten Inhalt und die größte Kraft.
Als Schriftgelehrter war er zunächst Weisheitslehrer gewesen,
d. h. er unterrichtete die vornehme Jerusalemische Jugend, die viel-
fach in den Dienst der griechischen Könige trat. An den Höfen in
Alexandria und Antiochia waren diese jungen Aristokraten der Helle-
nisierung am meisten ausgesetzt und sie übertrugen das fremde
Wesen von da in die Heimat. Uebrigens hatte Sirach selbst weite
Reisen gemacht, Gutes und Böses unter den Menschen kennen ge-
lernt und vielleicht auch in griechischem Dienst gestanden. So
wurde er in kritischer Zeitlage aus einem Weisheitslehrer zu einem
Wortführer der Religion. Für ihn fiel daher die Weisheit mit der
Religion zusammen, und diese Identität ergab sich fortan für das
gesamte Judentum. Gegenüber dem Hellenismus mußte es sich mehr
als je zuvor auf seine geschichtliche Eigenart zurückziehen und in
einem früher unerhörten Grade zu einer Schule werden. Diesen
Umschwung kündigt Jesus Sirach an, so verschieden er auch von
der Juristerei der späteren Schriftgelehrten ist.
Sirach appelliert an das jüdische Selbstbewußtsein, indem er die
Reihe der Väter von Henoch bis auf Nehemia aufzählt. Jede mensch-
liche Größe war dem Volke Gottes in seinen Helden beschieden; es
stellt den Adel der Menschheit dar, der seinen Stammbaum auch auf
die unvergleichliche Herrlichkeit des ersten Menschen zurückführen
kann. Zugleich aber war Israel in der Succession der Propheten
von Anfang an der Träger der Weisheit. Henoch, >das Wunder der
Erkenntnis für alle Geschlechter«, eröffnet die Reihe seiner Ahnen.
Als die göttliche Intelligenz, von der das All erschaffen wurde und
immerdar beherrscht wird, ist sie Israel als die Führerin zum Heil
verliehen und als solche ist sie immerdar in Israel gegenwärtig und
sein unverlierbares Gut. Den Frommen ist sie angeboren und bei
ihren Nachkommen wird sie ewig bleiben. Wie in prophetischer In-
spiration darf daher noch Sirach als ihr Lehrer auftreten. Sie ist
760 Gdtt gel Anz. 1906. Nr. 10
aber auch identisch mit dem Gesetzbuch, das durch Mose ein für
alle Mai geoffenbart ist und als die unerschöpfliche Quelle der Er-
kenntnis für alle Zukunft ausreicht, das keiner VervoUkommnang
fähig ist und keinen Abzug und keine Zutat verträgt. Die Zeit der
Offenbarung liegt deshalb doch dahinten, und in femer Vergangen-
heit liegt auch die menschliche Verwirklichung der Weisheit in den
heiligen Männern Israels. Nehemia war der letzte Heilige.
Mit unverkennbarer Absicht weist Sirach im Lobe der Väter
nebenher auch auf die heiligen Bücher hin, die neben dem Penta-
teuch die Wahrheit bezeugen. Der Prophetenkanon bestand zu
seiner Zeit im Wesentlichen so, wie wir ihn besitzen, auch der
Hagiographenkanon war seiner Grundlage nach vorhanden. Die
Psalmen, die Proverbien und Hieb galten ihm augenscheinlich als
heilige Bücher. Er kennt sodann außer Ezra-Nehemia die Chronik
selbst oder ein ihr ähnliches Buch. Auch auf Koheleth scheint er
anzuspielen und ihn für salomonisch zu halten. Aber autoritativ ist
für ihn weniger die Sammlung der heiligen Bücher, als die heilige
Geschichte, in der die Wahrheit geoffenbart, überliefert und verwirk-
licht war. Diese kanonische Zeit der Religion schließt mit Nehemia,
dem schon Sirach die eigentliche Wiederherstellung Jerusalems zu-
schreibt. Von Ezra schweigt er, vermutlich deshalb, weil er über
die Entstehung des Kanons noch nicht reflektiert. Dagegen war die
Wiederherstellung Jerusalems die letzte große Tat, die Gott za
Gunsten seines Volkes vollbrachte, und das Angeld auf die zukünftige
Herrlichkeit Zions. Weiterhin war der große Umsturz gefolgt, den
die völlig fremdartigen Griechen in Asien anrichteten. Seitdem hatte
man erst recht die Gegenwart den Heiden überlassen und die Zo-
kunftshoffhung auf die Erinnerung an eine ferne Vergangenheit
gründen müssen. Die kanonische Zeit war deshalb auch die vor-
griechische und als solche wird sie namentlich Sirach erschienen sein.
Die hebräischen Fragmente geben uns aber nicht nur über eine
bedeutende Persönlichkeit und eine wichtige Epoche der jüdischen
Geschichte authentische Kunde, sie sind mindestens ebenso wertvoll
als eine Ergänzung der althebräischen Literatur. Sie umfassen nahe-
zu Vs <l6S Buches, was ungefähr dem Umfang des Buches Hieb ent-
spricht. Der Bestand der uns erhaltenen althebräischen Literatur
ist also etwa um V«^ vermehrt. Ueber manche Stelle des A. T. ver-
breiten die Fragmente neues Licht, unsichere Worterklärungen wer-
den durch sie sichergestellt und allgemein angenommene korrigieit,
woneben zugleich eine Reihe von bisher unbekannten Wörtern, Wort-
verbindungen und Wortbedeutungen auftauchen. Ueberhaupt aber
tritt uns ein nach Form und Inhalt eigenartiger schriftstellerischer
B. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 701
Typus entgegen, der bei aller Anlehnung an die kanonischen Muster
nicht unwesentlich von ihnen abweicht. Deshalb gibt dies mit Sicher-
heit zu datierende Apokryphon den wichtigsten Anhalt für die An-
setzung der so schwer zu datierenden Hagiographen. Lexikalisch
merkwürdig ist z. B. npre in der Bedeutung Almosen, pbn in 'der
Bedeutung schaffen und das 50, 12 freilich nur indirekt bezeugte briD
= Palme. Aramäisch erscheint der Gebrauch des Pronomens der
dritten Person als Kopula, an das Neuhebräische erinnert die Stellung
des Frageworts am Schluß des Fragesatzes, fast ohne Analogie ist
der reflexivische Gebrauch des Suffixes der zweiten Person am Ver-
bum. Auffällig ist das große Ebenmaß des Distichons, das Sirach
ausschließlich gebraucht, und daneben die strophische Gliederung,
die sich fast überall bei ihm beobachten läßt. Ausdrücklich redet er
von Gesetzen der dichterischen Form, die in den Psalmen befolgt
seien und die er selbst beobachtet haben will. Im Unterschiede von
den Proverbien bewegt er sich fast überall in zusammenhängender
Rede, in der er namentlich die Probleme der Religion ausführlich
erörtert. Seine Diktion klingt in hohem Maße an die kanonischen
Bücher an, und er gefällt sich dabei in zahllosen Anspielungen, die
bei den Lesern eine völlige Vertrautheit mit dem Wortlaut der
heiligen Schrift voraussetzen. Anderseits weiß er sich auch sehr
originell auszudrücken, und er ist darauf bedacht es zu tun. Des-
halb verfällt er öfter in Künstelei und zugleich in Ausdrucksweisen,
die dem Althebräischen fremd sind. In beider Hinsicht verrät er
sich als Epigone. Indessen erklären sich die Vulgarismen seiner
Sprache zum Teil wohl auch daraus, daß er nicht nur in der Schul-
stube geredet hat, sondern auch, und das in erregter Zeit, ein Wort-
führer im Parteikampf war.
Das Buch hat im älteren Judentum in hohem Ansehen gestanden.
Im Talmud und im Midrasch werden über 80 Stichen aus ihm
zitiert. Oefter geschieht das in derselben Form, in der die Schrift-
zitate eingeführt werden, einmal wird das Buch sogar zu den Ke-
thnbim gerechnet. Außerdem läßt die jüdische Liturgie an manchen
Stellen seine Einwirkung erkennen. Gleichwohl wurde es als un-
kanonisch verketzert, florilegistische Auszüge, die das Brauchbare aus
ihm ausscheiden sollten, traten an seine Stelle, und auch diese Aus-
züge gingen unter bis auf dürftige Reste. Daß in Kairo Fragmente
von eigentlichen Sirachhandschriften entdeckt wurden, erscheint des-
halb als ein sonderbarer Zufall. Denn R. Saadia (10. Jahrb.), dessen
Sirach-Zitate sich durch die Güte ihres Textes vor allen andern aus-
zeichnen, hat nicht mehr das Buch selbst, sondern nur zwei Flori-
legien aus ihm gekannt, und auch diese vielleicht nur von Hören-
762 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
sagen. Danach war das Buch zu seiner Zeit verschollen, denn
Saadia kannte die damalige jüdische Welt vom Fajjum bis nach
Babylonien. Aber schon betr. der älteren rabbinischen und der
talmudischen Zitate ist es zweifelhaft, wie weit sie auf vollständige
Sirachtexte zurückgehen.
Wann die Eairiner Handschriften in der Geniza vergraben wur-
den, läßt sich nicht bestimmen, und unsicher ist auch ihr Alter, be-
treffs dessen die Meinungen der jüdischen Gelehrten zwischen dem
9. Jahrhundert und dem Anfang des 12. schwanken. Ueber das 9.
Jahrhundert kann aber deshalb keine hinaufdatiert werden, weil sie
sämtlich von Papier sind. Sicher ist dagegen, daß wenigstens zwei
von ihnen, B und D, aus der Peripherie des Judentums, nämlich aus
Persien stammen. Entweder sind sie selbst dort geschrieben oder sie
sind Kopien von persischen Vorlagen. Denn der Text des Cod. B,
der, abgesehen von zwei größeren Lücken, c. 30, n— 51, so, umfaßt,
ist, wie seine Randbemerkungen zeigen, von einem persischen Juden
mit einer Handschrift verglichen, die völlig oder fast völlig mit Cod.
D (= 36,29— 38, i) übereinstimmte. Für Cod. A (= 3,6—16,26) ist
derselbe Ursprung zu vermuten, weil sein Text mit dem der Codd.
B und D wesentlich gleichartig ist. Sowohl A wie B und D haben
nämlich einen Text, der durch Addition von zwei oder gar drei
Textgestalten entstanden ist. Nur der florilegistische Cod. C scheint
von anderer Herkunft zu sein. Es ist sodann kaum zufällig, daß A
und B in so glücklicher Weise einander ergänzen. Von beiden hat
der letzte Eigentümer schwerlich viel mehr besessen als uns vorliegt,
und wahrscheinlich sind alle diese Sirachiana von einem Sammler in
Kairo importiert. Friedrich Andreas möchte annehmen, daß sie aus
dem südlichen Persien stammen und von da auf dem Seewege nach
Aegypten gelangt sind.
Die in A B D vorliegende Addition verschiedener Textgestalten
reicht in ziemlich frühe Zeiten hinauf, im Wesentlichen hat sie eben-
so schon dem syrischen Uebersetzer vorgelegen. Freilich hat der
Syrer im Anschluß an den Griechen die meisten Dubletten des
hebräischen Textes übergangen, aber an manchen Stellen verrät er
deutlich, daß er sie las. Ueberhaupt war seine Vorlage von dem
gegenwärtigen hebräischen Text nicht sehr verschieden. Namentlich
war das alphabetische Lied am Schluß des Buches in ihr fast genau
so verstümmelt und entstellt.
Die talmudischen und rabbinischen Zitate haben im Ganzen einen
viel schlechteren Text als die Fragmente, einzelne talmudische Zitate
zeigen übrigens auch die hochgradige Entartung, die der Text der
Fragmente an vielen Stellen aufweist. Es ist sehr unwahrscheinlich,
R. Smend, Die Weisheit des Jesas Sirach 763
daß die Fragmente hierbei vom Talmud beeinflußt sind. In einem
merkwürdigen Fall läßt sich sogar beweisen, daß der stark entartete
Text eines talmudischen und rabbinischen Zitats auf sehr alter hand-
schriftlicher Grundlage beruht. Der von den Kirchenvätern viel
zitierte Vers 3, »i lautet im Babylonischen Talmud (Cowley-Neubauer,
The Original Hebrew etc. p. XIX zitieren falsch) und bei Saadia
fast genau so wie in der hebräischen Handschrift, und wenig anders
hat Sirach ihn geschrieben. Stark entstellt erscheint der Vers da-
gegen im Jerusalemischen Talmud, und zu einem Tetrastichon er-
weitert wird er in Bereschith Rabba zitiert. Hier sind die Lesarten
der beiden Talmude vorausgesetzt. Daneben hat der Midrasch einer-
seits im Unterschiede von den Talmuden eine ältere Lesart erhalten,
wogegen er anderseits eine neue Variante aufweist. Aber den eigen-
tümlichen Lesarten des Jerusalemischen Talmuds und des Midrasch
folgte schon die zweite griechische Uebersetzung des Sirach, die
älter und wahrscheinlich viel älter ist als der Lateiner. Jene hebräi-
schen Lesarten dürften daher mindestens bis in das 1. Jahrhundert
n. Chr. zurückreichen.
Viele und z. T. unheilbare Verderbnisse sind übrigens älter als
die Uebersetzung des Enkels.
So wertvoll der hebräische Sirach für die A. Tl. Wissenschaft ist,
er stellt ihr zugleich ein sehr schwieriges textkritisches Problem. In
vergrößertem Maßstabe läßt er die Faktoren erkennen, die die Ent-
artung der kanonischen Texte herbeigeführt haben. Insofern ist er
geeignet, für den Zustand der kanonischen Texte unsem Blick zu
schärfen. Alle möglichen Schreibfehler, die durch Verwechslung, Aus-
lassung und Wiederholung von Buchstaben und Wörtern, durch Ab-
irren des Auges von einem Wort zum andern oder von einer Zeile
zur andern entstehen konnten, harmlose Korrekturen und Glossen,
die den Ausdruck erleichtern oder erklären, Einschiebung von Pa-
rallelstellen aus Sirach selbst oder auch aus dem Kanon, rein will-
kürliche Abwandlungen des Ausdrucks nach kanonischen Parallelen,
Glossierung durch vollständige Stichen oder Distichen, souveräne
Umdichtungen von ganzen Versen, zuweilen mutwilliger, zuweilen
auch tendenziöser Natur, — alle diese Erscheinungen lassen sich
hier durch zahlreiche Beispiele belegen. Oft stehen im Text zwei
Varianten neben einander, anderswo sind Varianten an falscher Stelle
in den Text geraten und haben dabei manches Mal echte Bestand-
teile des Textes verdrängt. Es erklärt sich das aus der Art, in der
Cod. B, gewiß nach alten Mustern, auf Grund genauer Kollation des
Cod. D (oder einer mit ihm übereinstimmenden Handschrift) mit
Randlesarten versehen ist. In derselben Weise sind oft Varianten
764 GöU. gel. Anz. 1906. Nr. 10
von ganzen Versen oder auch Parallelstellen, die an den Rand ge-
schrieben waren, in den Text eingedrungen, wodurch mehrmals echte
Verse verdrängt sind. Zu alledem kommt, daß die Blätter durch
Abnutzung, namentlich aber durch Feuchtigkeit, stark gelitten haben.
Etwa 200 Zeilen smd mehr oder weniger zerstört.
Die Emendation des hochgradig verderbten Textes wird einiger-
maßen dadurch erleichtert, daß diese Aufgabe von keiner exegeti-
schen Tradition belastet ist. Zu Gute kommt ihr ferner die Durch-
sichtigkeit des Gedankengangs Sirachs, die Regelmäßigkeit des Vers-
baus und der strophischen Gliederung und namentlich die Eonstanz
der Ausdrucksweise. Eine Konkordanz des hebräischen Textes wird
schon aus diesem Grunde auf die Dauer unentbehrlich sein. In
erster Linie muß aber die griechische Uebersetzung des Enkels zur
Korrektur des Hebräers herangezogen werden. Vorher bedarf diese
Uebersetzung freilich eingehender Untersuchung, sowohl in Betreff
ihrer Uebersetzungsart, als auch in Betreff ihrer Ueberlieferung.
Der Enkel sah, wie er selbst sagt, den Mangel jeder Ueber-
setzung in der Wörtlichkeit, und findet, daß die Septuaginta, den
Pentateuch einbegriffen, aus diesem Grunde vom Original sehr ver-
schieden sei. Er weiß sich selbst von jenem Fehler nicht frei, er
hat ihn aber nach Möglichkeit zu vermeiden gesucht und bewegt
sich im Ganzen mit ebenso großer Freiheit wie etwa die Uebersetzer
der Proverbien und des Hiob. Offenbar reflektiert er auf Leser, die
kein > griechisch verkleidetes Aramäisch«, sondern wirkliches Grie-
chisch sprachen. Er hat dabei auch schwerlich allein die ägyptischen
Juden im Auge, sondern auch die Griechen, auf die er im ersten
Satz des Prologs einen Seitenblick wirft. Denn die Vergleichung des
Hebräers zeigt, daß er an manchen Stellen den Sinn des Originals
abgeschwächt, unterschlagen, ja geradezu gefälscht hat, und dabei
ist er eher wohl von der Rücksicht auf Griechen als von der auf
seine Glaubensgenossen geleitet. Abgesehen vom Prolog, bei dem er
sich vielleicht fremder Hülfe bediente, erscheint sein Griechisch oft
sonderbar. Er setzt z. B. (hierin weit über die LXX hinausgehend)
für jedes hebräische b gelegentlich ein iv. Ungriechisch sind auch
wohl manche der rhetorischen Floskeln, mit denen er seine Arbeit
reichlich aufgeputzt hat. Rhetorisch ist seine Uebersetzung über-
haupt. Vielfach löst er die hebräischen Wortverbindungen auf, an-
derswo kehrt er sie um oder knüpft sie neu; oft vertauscht er auch
die Synonyma der parallelen Sätze. Zuweilen gibt er ganze Sätze in
freier Umschreibung wieder. Man kann deshalb den Wert seines
Zeugnisses nur durch Massenbeobachtung feststellen, und ich habe
meinem Kommentar einen vollständigen griechisch-syrisch-hebräischen
R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 765
Index zu Grunde gelegt, der demnächst im Druck erscheinen soll.
Es ergibt sich daraus, daß der Uebersetzer sehr oft willkürlich ver-
fahren ist, aber auch, daß seine Willkür gewisse Regeln, und daß
sie überdies bestimmte Schranken hat, die ihr namentlich durch seine
mangelhafte Kenntnis des Griechischen gezogen waren. Deshalb kann
der von ihm gelesene Text in den meisten Fällen immerhin mit
einiger Wahrscheinlichkeit erschlossen werden.
Von besonderer Schwierigkeit, aber auch von hohem Interesse,
ist sodann die kritische Aufgabe, die der griechische Text fur sich
selbst stellt. Die Diskrepanz seiner Ueberlieferung ist seit den ersten
Ausgaben der griechischen Bibel bekannt. Sie trat in der Complu-
tensis einerseits und der Sixtina und der ihr naheverwandten Aldina
anderseits auch sofort in ihren äußersten Gegensätzen zu Tage.
Augenfällig war sie in den 120—130 Stichen, die die Complutensis
voraushatte, sie besteht aber hauptsächlich darin, daß der Sixtinische
Text (= Cod. B) ebenso sehr spontan verdorben ist wie der Gomplu-
tensische (= Cod. 248) durch Korrektur, und daß die beiden in un-
gefähr gleichem Maße mit guten Sonderlesarten einander gegenüber
stehen. Alle später bekannt gewordenen Textzeugen erscheinen in
jeder Hinsicht mehr oder weniger als Mittelglieder zwischen diesen
Gegensätzen, aber so, daß, wenn auch in verschiedenem Grade, fast
jeder von ihnen gute Sonderlesarten hat. Dabei sind junge Minuskeln
den Uncialen vollkommen gleichwertig.
Allerdings sind der Cod. Venetus I (=== Cod. 23) und die 11
Minuskeln, die neben der Sixtina und dem Cod. A von Holmes-
Parsons benutzt sind, z. T. wenigstens schlecht verglichen. Für
Codd. 23, 106 ergibt sich das aus Lagardes Kollationen, für Cod. 253
aus der Kollation von £. Klostermann, für Cod. * 308 aus den An-
gaben David Höschels, der eine Kollation dieser früher Heidelberger,
jetzt Vatikanischen, Handschrift besaß. Schlecht verglichen ist auch
der sehr leicht zu lesende Cod. *307 (= Monacensis 129), den ich noch
nach Vollendung des Druckes untersucht habe. Aus dieser Hand-
schrift fehlen bei Holmes-Parsons etwa 100 Varianten, die freilich
zumeist von keiner Bedeutung sind. Bemerkenswert ist aber, daß
auch er 30,ii.i2 die Stichen xal [x-J] TcaptSiQc tag ar^voiaq a6toö. xd|i-
(|)ov t6v TpdxT]Xov a^Toö h vsöttju mit den meisten Handschriften aus-
läßt, dagegen die Stichen 7,i6.i7 mit SA und den meisten Hand-
schriften in richtiger Beihenfolge liest. Im letzten Satz des Prologs
läßt er Y^P ^us, hat 34, le [it^tcots (iioyj^c» 37,22 inl otö|iatoc inl
oTÖ|iaTO(; Tctotot (so). Vor 9,2 hat er die sonst nicht bezeugte Ueber-
schrift TTspl Y^vaixÄv und vor 12,? wepl lx*P^^- Sodann liest er 3,t7
singular und gut if' a(Lapt(av und im ersten Satz des Prologs f&r
766 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
Tooc <ptXo|tadoöVTac xpT]ot|i.ooc nur ^iXoTi(jLoövTa<;. Er nähert sich da-
mit dem nur vom Syrohexaplaris bezeugten ytXoÄovoDvta<; Ypnoi^o^.
Man wird nun aber auch wohl touc tilgen müssen. Dazu kommt
noch, daß bis jetzt kaum die Hälfte der vorhandenen Handschriften
verglichen ist, allein in Paris befinden sich zehn bisher unbenutzte.
Gleichwohl darf der Text von 5 Uncialen (Aß CS 23) jetzt als zu-
verlässig bekannt gelten, wozu außer dem Syrohexaplaris noch 6 Mi-
nuskeln kommen, nämlich der in der Complutensis anscheinend gut
wiedergegebene Cod. 248, sodann Codd. 106, 253, sowie die von
mir verglichenen Codd. * 307, 70 (= Cod. Hoeschelii) und k (= Cod. 6
der großen Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen). Auf Grund
dieses Materials glaube ich den Zustand der Ueberlieferung im We-
sentlichen mit Sicherheit beurteilen zu können und dabei auch die
übrigen von Holmes-Parsons aufgeführten Minuskeln verwerten zu
dürfen, so fehlerhaft die von ihnen benutzten Kollationen im Ein-
zelnen auch sein mögen. Denn unverkennbar tritt in der Oxforder
Ausgabe die relative Selbständigkeit der Gruppen 55,254 — 155,296,
♦308 sowie ihre Beziehung zu den übrigen 248, 70 — Syroh. 253,23,
S — B — A, C — 106, k, 157, *307 hervor.
Innerhalb gewisser Grenzen läßt sich ein Stammbaum der hand-
schriftlichen Ueberlieferung aufstellen, wozu neben den einzelnen Les-
arten auch die Vollständigkeit und die Anordnung des Textes den
Maßstab an die Hand geben. Indessen ist die ursprüngliche Ver-
wandtschaft der einzelnen Textgestalten durch Korrektur im höchsten
Grade alteriert. Es erscheint deshalb als fraglich, ob man für den
Sirach neben der Rezension des Origenes, die vielleicht im Syro-
hexaplaris vorliegt, auch eine Rezension des Lucian und des Hesy-
chius wiederherstellen kann. Obendrein wäre damit nur eine gewisse
Phase der Textgeschichte aufgehellt, auf den ursprünglichen Text
würden diese drei Rezensionen keinen Rückschluß erlauben. Denn
es ist sehr zweifelhaft, ob die Urheber der drei Rezensionen von
derselben Textgestalt ausgingen, und vollends zweifelhaft, ob das der
ursprüngliche Text war. Dazu kommt, daß die weitaus meisten
Fehler unserer Handschriften älter sind als die Vetus Latina. Im
Wesentlichen bietet also der uns vorliegende Text dasselbe Bild der
Verwirrung, die vor Origenes bestand. Sodann hat der Text des
Sirach schon in vorhexaplarischer Zeit eine ziemlich weitgehende
Korrektur erfahren, die in allen unseren Handschriften durchge-
drungen ist. An manchen Stellen las die Vetus Latina noch ri]v
<|«)X'i(]v 000 (a&toö), wo jetzt alle Handschriften oeaotöv (iaotöv) haben,
ebenso las sie Sn^xoooev t^c ycovfjc aÜTwv für jetziges iTnjxoooev ah-
Töv, cL'xcL^A und Stayopa für xP'^V'^'^^i YXwooa eöxapt« (= "jn ^TWtD)
R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 767
für '(XiboocL eöXaXoc. Daß in solchen Fällen die Latina wenigstens nicht
überall der zweiten griechischen Uebersetzung folgt, sondern einem un-
korrigierten Text der ersten, zeigt 18,23, wo Lat. hat praepara animam
tuam, die griechischen Handschriften kxoi^aooy asaoTÖv. Nur der erste
Korrektor des Cod. S bietet das ursprüngliche lTo(|iaoov rJjv s^xi^v
000, das früh in lToi|iaoov rfjv tl^uxu^v aoo entstellt war. Die genannten
Korrekturen gehen aber auch nicht auf den Prototyp aller unserer
griechischen Handschriften zurück, sondern sie beruhen auf einer
Diorthose des Textes, die wahrscheinlich jünger ist als die Yetus
Latina. Aus dieser Diorthose ist es zu erklären, daß bald diese bald
jene Gruppe von Handschriften, und bald diese bald jene einzelne
Handschrift gegen den Consensus aller übrigen das Richtige bewahrt
hat. In allen solchen Fällen liegt die Annahme vor der Hand, daß
eine schlechte Korrektur nicht völlig durchgedrungen ist. 44, le heißt
Henoch in den Handschriften uTcöSeiYiia {xetavoiac taic ^B)fBalqj wo die
Latina hat: ut det gentibus poenitentiam. Allein Cod. 23 hat ent-
sprechend dem Hebräer (nach Lagardes Kollation) 8iavo[ac, und eben-
so ein Cod. Corbeiensis: sapientiam. Im Allgemeinen kommt dem
Cod. 23 keineswegs eine führende Rolle zu.
Noch merkwürdiger sind folgende Erscheinungen, die ich in den
Prolegomena des Kommentars nicht genügend hervorgehoben habe.
4,2s und 40,7 ist h xaipcj) ocoTTQptag (= opiag) beide Mal Fehler für
iy xaipcp xP^'^^^y ^^»17 ii a&twv Fehler für l£ avdpcoicüov (= avwv).
Diese Fehler sind allen bisher bekannten Handschriften gemeinsam,
sie werden auch von sämtlichen Uebersetzungen, den Lateiner ein-
begriffen, ausgedrückt. Nun sind die hierbei in Betracht kommenden
Abkürzungen, so viel man weiß, christlichen Ursprungs, für opia
= oa>TY]p[a ist das nicht zu bezweifeln. Ist die Latina 4, 28 und 40, 7
nicht nachträglich korrigiert, so steht man vor der Alternative: ent-
weder gehen alle bekannten Handschriften und Uebersetzungen auf
Ein christliches Exemplar zurück, in dem diese Abkürzungen ver-
lesen waren, oder es hat eine allgemein durchgedrungene Diorthose
der christlichen Sirachtexte gegeben, die älter ist als der Lateiner,
der noch in das zweite Jahrhundert gehört. Das letztere ist das
allein denkbare.
Für die Rekonstruktion des griechischen Textes ergibt sich so-
mit die Notwendigkeit eines eklektischen Verfahrens. Maßgebend sind
für die Auswahl unter den Varianten überall nur innere Gründe,
wobei in erster Linie die Uebersetzungsweise und der Sprachgebrauch
des Enkels in Betracht kommen.
Wichtig sind für die Emendation des Griechen die Zitate der
Kirchenväter, von denen sich in Lagardes Nachlaß eine reichhaltige
768 Gott «eL Anz. 1906 Nr. 10
Sammloog findet An mehreren Steilen ist in ihnen allein das Rich-
tige erhalten. Unter den Afterübersetznngen nimmt die Vetos Laüna
den ersten Rang ein. Allerdings befindet sich ihr eigene Text in
Folge zufälliger Entstellung und mehr noch in Folge fortgesetzter
Korrektur nach dem Griechen in einem höchst desolaten Zustande.
Wie weit es überhaupt möglich ist, ihn wiederherzustellen, wird die
Yon Ph. Thielmann vorbereitete Ausgabe zeigen. Für die Erschließung
des hebräischen Textes kann freilich die jüngste Korrektur nach dem
Griechen gelegentlich ebenso gut den Schlüssel bieten, wie die ur-
sprüngliche Lesart des Lateiners. Denn seine griechische Vorlage
war ein merkwürdiges Gemisch von guten, z. T. sonst nirgends über-
lieferten, Lesarten und völlig sekundären. Sie war übrigens, wie die
höchst auffallige Uebereinstimmung des Lateiners mit Clemens Alexan-
drinus zeigt, ägyptischen Ursprungs. Dagegen waren die jüngeren
ägyptischen Texte, die der sahidisch- koptischen und der äthiopi-
schen Uebersetzung zu Grunde liegen, weniger originell, aber auch
freier von sekundärer Entartung. Näherer Untersuchung bedürfen
noch die armenische und die altslavische Uebersetzung.
Die Kritik des griechischen Textes ist übrigens noch dadurch
erschwert, daß mit der Uebersetzung des Enkels in den Handschriften
eine zweite griechische Uebersetzung vermischt ist, die auf einem
erweiterten hebräischen Text beruht. Wenigstens der Hauptsache
nach müssen dieser zweiten Uebersetzung die etwa 150 Stichen an-
gehören, die Codd. 248, 70 Syroh. 253, 23, 106 u. a. vor dem Vulgär-
text voraushaben. Denn für eine Anzahl von diesen Stichen findet
sich in deutlich sekundären Versen der hebräischen Fragmente das
Original, andere weisen unverkennbare Uebersetzungsfehler auf. Da-
bei haben alle diese Stichen wesentlich denselben sehr eigenartigen
Sprachgebrauch. Der zweiten Uebersetzung werden zumeist auch die
kürzeren, oft nur aus einem Worte bestehenden Zusätze entstammen,
die sich in denselben Handschriften am Schluß von manchen Stichen
finden. 6,ii liegt in den hebräischen Fragmenten sowohl der ältere
kürzere wie der jüngere erweiterte Urtext vor, dem ein kürzerer
und ein erweiterter griechischer Text gegenüberstehen. Die jüngere
hebräische Textgestalt wich aber auch abgesehen von größeren und
kleineren Zusätzen von der älteren ab. Der erste Korrektor des
Cod. S (S^) hat z. B. 3,21. 16,8 Varianten, die jüngeren hebiüischen
Lesarten entsprechen. l,io ist eine Korrektur nach der zweiten
griechischen Uebersetzung in sämtlichen griechischen Handschriften
mit einziger Ausnahme des Cod. 106 durchgedrungen. Stärker als
unsere griechischen Handschriften war die Vorlage des Lateiners von
der zweiten Uebersetzung kontaminiert. Gelegentlich finden sich in
R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 769
den hebräischen Handschriften ganze Distichen in doppelter Gestalt,
von denen die eine im Griechen, die andere im Lateiner übersetzt
ist. In geringerem Grade lassen die übrigen Afterübersetzungen des
Griechen den Einfluß der zweiten Uebersetzung erkennen. Inhaltlich
ist sie dadurch merkwürdig, daß sie vom Leben nach dem Tode
bezw. der Unsterblichkeit redet, imd an die Stelle der Gottesfurcht
regelmäßig die Liebe zu Gott setzt. Wie weit sie darin auf dem
jüngeren hebräischen Text beruht, ist bis jetzt nicht festzustellen.
Neben dem Griechen kommt der Syrer für die Emendation des
Hebräers nur in zweiter Linie in Betracht, d. h. im Wesentlichen
nur an den freilich sehr zahlreichen Stellen, an denen der Grieche
seine Vorlage schlecht wiedergegeben oder schlecht gelesen hat.
Denn so weit die Vorlage des Griechen für uns erkennbar ist, er-
weist sie sich fast überall als der Vorlage des Syrers bezw. dem
Text der hebräischen Handschriften überlegen, zugleich aber können
die beiden letzteren als aus ihr entartet begriffen werden. Die Vor-
lage des Syrers war nicht nur bedeutend jünger als sie, sondern auch
im Ganzen nicht viel besser als der Text der Handschriften. Sodann
hat der Syrer, obwohl seine Aufgabe viel leichter war, seine Vorlage
noch schlechter wiedergegeben als der Grieche. Er ist nicht nur an
manchen Stellen nachlässig und willkürlich verfahren, er hat auch,
was Bickell schon vor der Entdeckung des hebräischen Textes ver-
mutete, den Griechen benutzt, und zwar in viel höherem Grade, als
Bickell meinte. Dabei folgt er öfter einem stark verderbten griechi-
schen Text oder auch der zweiten griechischen Uebersetzung, und,
was noch schlimmer ist, er hat manches Mal zwischen dem Hebräer
und dem Griechen einen Kompromiß geschlossen. Schließlich ist er,
wenigstens in einzelnen Handschriften, nachträglich nach dem Griechen
korrigiert. Daraus ergibt sich, daß die Uebereinstimmung des Grie-
chen, des Lateiners und des Syrers gegen den Hebräer an sich nichts
beweist, und daß, wo der Hebräer fehlt, die Uebereinstimmung des
Lateiners und des Syrers gegen den Griechen an sich nichts beweist.
Dabei können der Syrer und Lateiner durch Vermittelung der zweiten
griechischen Uebersetzung, der Syrer aber auch direkt, auf einen
jüngeren hebräischen Text zurückgehn, der möglicher Weise in un-
seren hebräischen Handschriften vorliegt. Deshalb kann auch der
Grieche gegen den Konsensus des Hebräers, des Lateiners und des
Syrers im Becht sein.
Trotz aller dieser Hindernisse ist es innerhalb gewisser Grenzen
möglich, den Text der hebräischen Fragmente auf die Gestalt zu-
rückzuführen, in der der Enkel das Werk des Großvaters gelesen
bat. In manchen Fällen kann auch darüber hinaus die ursprüngliche
770 Gott gel Anz. 1906. Nr. 10
Lesart mit Sicherheit konjiziert werden. Hierbei ergänzen einander
die bei aller ihrer Willkür inunerhin kontrolierbare Ueberseizongs-
weise des Griechen and die konstante Aasdmcksweise, die stets skh
gleichbleibende poetische Form und der konsequente Gedankengang
des Autors. Außerdem bieten die hebräischen Fragmente so Tiele
ParaUelen zu den nur griechisch und syrisch erhaltenen Stücken, dafi
auch für diese der hebräische Wortlaut an sehr vielen Stellen er-
schlossen werden kann. Wie weit das möglich ist, kann überall nur
der Erfolg lehren. Ueberall aber muß durch eine vergleichende
Statistik des hebräischen Textes und der Uebersetzungen der Dissens
der Textüberlieferung geschlichtet und zugleich positiv ihr Wert ge-
sichert werden. Dies Denkmal des älteren Judentums ist auch wert-
voll genug, um den Aufwand an Mitteln zu rechtfertigen, den seine
Erschließung erfordert.
Meine gleichzeitig erscheinende Gesamtausgabe des hebräischen
Textes, die ich im Kommentar voraussetze, beruht zu allermeist auf
den im J. 1901 veröfifentlichten Facsimiles of the fragments hitherto
recovered of the book of Ecclesiasticus in Hebrew, Oxford, Cam-
bridge, University Press. Aus Autopsie kenne ich nur die Oxforder
Blätter des Cod. B, die ich im J. 1897 an Ort und Stelle unter-
sucht habe. Für diese Blätter (wie auch für das Blatt Lewis-Gibson)
standen mir außerdem Photographien zu Gebote, die mir damals aus
England nachgesandt wurden. Auf der in Oxford angefertigten Kolla-
tion und diesen Photographien beruhte meine Ausgabe der zuerst
gefundenen Blätter vom J. 1897 (Das hebräische Fragment der Weis-
heit des Jesus Siracb, in den Abhandlungen der Königlichen Gesell-
schaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse,
N. F., Bd. 2, Nr. 2). Die Facsimiles vom J. 1901 sind jedoch so gut,
daß sie im Wesentlichen für den Originalen gleichwertig gelten
können. Das gilt auch fur die Facsimiles der Oxforder Blätter, die
ich anfangs zu niedrig eingeschätzt habe. Sie sind mir bei näherer
Untersuchung wertvoll gewesen zur Kontrole von Lesungen, die ich
allein aus den Photographien gewonnen und in meine frühere Aus-
gabe aufgenommen hatte. Ich habe aus den Facsimiles gesehen, daß
ich die Lesbarkeit der Photographien an einzelnen Stellen überschätzt
hatte und deshalb mehrfach von ihnen irre geführt war. Immerhin be-
halten die Photographien, die von den Oxforder Blättern vor ihrer
Reinigung und Ueberklebung genommen sind, ihren besonderen Wert
und an den meisten und wichtigsten Lesungen, die ich aus ihnen ge-
wonnen hatte, muß ich auch im Besitz der Facsimiles festhalten.
Außerdem aber habe ich auf Grund der Facsimiles für fast sämtliche
R. Smend, Die Weisheit des Jesus Sirach 771
Blätter die Lesungen der ersten Herausgeber auch jetzt noch er-
gänzen und verbessern können.
Von einer Vokalisation des Textes glaubte ich absehen zu sollen.
Auch der Anfänger wird sie überall leicht aus der dem hebräischen
Text beigegebenen deutschen Uebersetzung finden, die zugleich zur
Entlastung des Kommentars bestimmt ist.
Bei Benutzung des Kommentars bitte ich die am Schluß beige-
fügten Berichtigungen und Zusätze zu beachten. Uebrigens ist in
den Prolegomena S. LXXXU Z. 13 v.u. >45,3 h 8ö£ig« zu streichen,
ebenso S. CXLVI Z. 2 v. o. >47,8 üV^by^ (Berol.)«. In der deutschen
Uebersetzung ist S. 27 Z. 3 v. u. >Werke< für »Worte< zu lesen.
Göttingen R. Smend
Antonio Baamstark, Liturgia Romana e Liturgia delF Esarcato.
II rito detto in seguito patriarchino e le origini del canon missae Romano. Ri-
cerche storiche. Roma, Frederico Pustet MDCCCCIV. 192 S. 4,80 Mk.
Dieses Buch habe ich mit großer Freude begrüßt. Ich hatte in
einer Studie >Zur Entstehungsgeschichte des Kanons in der römischen
Messe € (Studien zur Geschichte des Gottesdienstes und des gottes-
dienstlichen Lebens I, Leipzig und Tübingen 1902) zum erstenmal
die traditionelle Anschauung, als sei der römische Kanon eine alte,
im Wesentlichen einheitliche Schöpfung ohne besondere Geschichte,
zu erschüttern und die Thesen zu beweisen versucht: 1. Der heutige
römische Meßkanon hatte einst denselben Aufbau wie die syrische
Jakobus-Liturgie (Renaudot, Liturg. orient. coUectio II, 29 ff. und
Swainson, The Greek Liturgies 1884, p. 335 ff.). 2. Der römische
Meßkanon hat seine heutige Gestalt durch eine gewaltsame Um-
stellung, eine Zerbrechung erhalten, und zwar wahrscheinlich durch
Papst Gelasius I. (f 496). 3. Diese Umgestaltung ist auf Einfluß
der ägyptisch-alexandrinischen Liturgie zurückzuführen. Gegen mich
hatte sich unter den Katholiken namentlich Professor Funk in meh-
reren Artikehi gewendet (Historisches Jahrbuch der Görres-Gesell-
schaft 1903, S. 62 ff. und S. 283 ff., Tübinger Theol. Quartalschrift
1904, S. 122). Er lehnte meine These rundweg ab. So stark stand
auch er noch im Banne überlieferter Anschauung, daß er den Satz
schreiben konnte: > Soweit man sieht, hat der Kanon bei der Schöpfung
den überlieferten Aufbau erhaltene. Da trat B. in die Diskussion
ein. Er hat meine Thesen, von denen er schon vor meiner Dar-
legung überzeugt war, bestätigt; nur in Bezug auf den Zeitpunkt
der Umstellung ist er anderer Meinung als ich. Aber er erhebt
gegen mich den Vorwurf, daß meine Beweisführung an mehr als
aOit. g«l. Ans. 1906. Nr. 10 54
772 Oött gel Ans. 1906. Nr. 10
einem Punkte oberflächlich und auf eine zu schmale Basis gestellt
sei. Mit dem ersten Vorwurf steht es aber in merkwürdigem Wider-
spruch, dafi er es wiederum Funk vorwirft, er habe nicht einmal
den von mir vorgetragenen >Bin8enwahrheiten€ Glauben geschenkt
Also kann meine Beweisführung doch nicht so wertlos sein. Auch
habe ich an nicht wenigen Stellen seines Buches den Eindruck ge-
habt, daß gerade er nicht das Recht hatte, mir diesen Vorwurf zu
machen. Wäre ich unhöflich, so könnte ich ihm mit gleicher Münze
zahlen, aber das will ich nicht tun. Was aber die > breitere Basis«
betrifit, auf die er nun selbst seine Untersuchung gestellt hat, so
fragt es sich, ob er sie wohl auch würde für nötig gehalten haben,
wenn er Funks Kritik nicht gekannt hätte? Hätte ich geahnt, wie
ungewöhnt an eine historische Kritik auf liturgischem Gebiet auch
ein so trefflicher Historiker wie Funk noch ist, so würde ich wahr-
scheinlich auch weiter ausgeholt haben. Femer fragt es sich, ob die
»breite Basi8< B.s auch so tragfähig ist, wie er anninmit B.8 Buch
hat, obwohl es für die Grundthese keinerlei neues Beweismaterial
beibringt, nun auch Funk, wenn auch nicht in jedem Punkte, so
doch in der Hauptsache überzeugt^). Daß B. durch eine neue um-
sichtige Begründung meinen Thesen zum Siege verhelfen und mir
die Arbeit der Gegenkritik gegen Funk in der Hauptsache abge-
nommen hat, dafür bin ich ihm, abgesehen von der reichen För-
derung, die ich sonst seinem höchst anregenden Buche verdanke,
herzlich dankbar. B. verfügt über eine reiche Kenntnis des Stoffes.
Er sieht auch scharf. Allein er ist in seinen Schlüssen oft zu rasch
und zu kühn. Ich glaube nicht, dafi die Gesamtstruktur der Ent-
wicklung des römischen Kanons, die er uns vorlegt, sich durchsetzen
wird. Aber in Einzelheiten hat er ohne Zweifel das Problem sehr
gefördert.
Nach einer Einleitung (p. 9—25), in der B. über die bisher über
den römischen Meßkanon geltenden Anschauungen, bez. angestellten
Untersuchungen Rechenschaft gibt, wendet er sich im ersten Kapitel
(p. 27 — 62: Eucharistia, anaphora e canon missae) den > Funda-
mentalfragen < zu, nämlich 1. der Frage nach der ursprünglichen
inneren Verwandtschaft zwischen der römischen und den orientali-
schen Liturgien, und 2. der Frage, ob sich im Orient die ursprüng-
liche Form wirklich länger als in Rom erhalten habe.
Als sichrer Ausgangspunkt für die erste Frage soll Justins Be-
richt über die eucharistische Feier gelten. Justin kenne den litor-
gischen Brauch von Palästina, Kleinasien und Rom, aber er wisse
1) Tübinger Theol Quartalschrift 1904, S. 600 ff.
Baumstark, Litorgia Romana 773
nur von einem einzigen liturgischen Typus: zu seiner Zeit gab es
noch keinen Unterschied in der Liturgie im Orient und im Occident,
in Aegypten oder in Gallien oder Rom. Schon diese Voraussetzung
hat etwas Verblüffendes. Diese Behauptung hat m. W. auch noch
niemand so rundweg aufzustellen gewagt ^). Zunächst sagt Justin keine
Silbe davon, daß es in der Kirche seiner Zeit nur einen litur-
gischen Typus gebe. Es wird wohl richtig sein, daß zu seiner Zeit
ungefähr in gleicher Weise die Christen überall den Gottesdienst
hielten, aber der Beweis dafür muß auf ganz andern Stützen ruhen
als allein auf den Angaben Justins. Denn selbst wenn er in dieser
Meinung seine Angaben gemacht hat, wer bürgt dafür, daß er da-
mit recht hatte? daß nicht um 150 schon in Aegypten oder auch in
Gallien oder in Mailand sonderliche Bräuche sich eingestellt hatten?
Nun will B. zeigen, daß die von Justin geschilderte Liturgie in
den Liturgien und Zeugnissen des zweiten und dritten Jahrhunderts
deutlich wiederzuerkennen sei. Man erwartet hier mit Recht eine
sorgfältige Feststellung dessen, was sich aus Justin ergibt. Aber
auch das tut B. nicht. Er stellt nur fest, daß Justin ein großes
eucharistisches Gebet kenne, daß sogar e6xapiaTia schlechtweg ge-
nannt werde ^), aber aus Dank- und Bittgebet (eoxai) bestanden habe.
Auf die Frage, ob Justin die Einsetzungsworte als liturgisches Ge-
betsstück kenne, ob sich nicht sonst deutliche Anklänge an die wei-
teren Gebetsstücke der altkirchlichen Liturgien finden, geht er gar
nicht ein. Nur behauptet er schlankweg, die ehxoii Justins seien das
Interzessionsgebet. Den nötigen Beweis dafür bleibt er schuldig.
Allerdings läßt sich das beweisen, und ich glaube es bewiesen zu
haben ^). Aber so ohne Weiteres genügt doch die bloße Behauptung
nicht. Auch läßt sich zeigen, daß Justin ein Konsekrationsgebet
kennt, so daß B.s Bemerkung, er erwähne es nicht ausdrücklich
(S. 31), sehr der Einschränkung bedarf.
Will man also für die Frage nach der ursprünglichen Gestalt
des römischen Kanons eine > breite Basis < schaffen, dann muß man,
will man bei Justin einsetzen, diesem eine wirklich eingehende Unter-
suchung widmen, oder man baut auf unsichren Boden.
Aber wird man überhaupt von Justin allein ausgehen können?
Es ist ein Problem für sich und von großer Schwierigkeit, die Abend-
1) Vgl. allerdings Rietschel, Lehrb. der Litorgik I, 1900, S. 252.
2) Diese Behauptung ist sicher nicht richtig, vgl. über den Gebrauch von
tbxapmia in der altchristl, Literatur Ztschr. f. prakt. Theol. XX (1898), S. 98 ff.;
üher Justin S. 108 f.
3) Vgl. Heft n u. ni meiner Studien zur Gesch. des Gottesdienstes u. des
gottesdienstl. Lebens 1906, S. 69 ff.
54*
774 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
mahlsliturgie um 150 auch nur in ihren Hauptumrissen zu rekon-
struieren. Möglich scheint es mir, und ich bin dabei, in den »Unter-
suchungen über die sogen, dement Liturgie im VIU. Buch der apo-
stolischen Konstitutionen« es zu versuchen. Aber das geht nicht ab ohne
die eingehendsten Einzeluntersuchungen. Damit, daß man im Allge-
meinen feststellt, daß sich mit dem Abendmahl ein Dankgebet für die
Schöpfung und Bittgebete verbunden haben, ists nicht getan. Wenn
daher B. den ersten Abschnitt des letzten Kapitels mit den Worten
schließt: >L' e^xapiatia cristiana antica — presa sempre nel suo
largo senso — h passata sostanzialmente in tutte le liturgie occiden-
tali non meno che in tutte le orientali< (S. 36), so ist damit erst
dann etwas wirklich Wertvolles gesagt, wenn der Inhalt dieses alt-
christlichen Gebetes genau untersucht und festgestellt ist und mne
Anklänge in allen Liturgien eingehend nachgewiesen sind.
Einen weiteren Beweis für die Uebereinstimmung der östlichen
und westlichen Liturgien sieht B. in der Tatsache, daß sich von
Westsyrien, Aegypten und Konstantinopel aus als Bezeichnung f&r
das Mittel- und Hauptstück der eucharistischen Liturgie der Opfer-
gedanke durchgesetzt und die alte Bezeichnung e^x^ptoTla verdrängt
habe. In den genannten Kirchengebieten trage dies Stück den Namen
iva^opd. In der Mailändischen Liturgie erscheine diese Bezeichnung
wieder als oblatio, in der gallikanischen als immolatio, in der spani-
schen als illatio. Von Afrika wisse man so gut wie nichts. Nur R(Hn
scheine eine Ausnahme zu machen. Allein in Bezug auf die Mai-
ländische Liturgie befindet sich B. im Irrtum. Die von ihm p. 37
Anm. 1 und 2 angeführten Stellen beweisen nichts. Vielmehr ist
schon mehrfach, wie mir scheint, mit Recht beobachtet worden, daO
Ambrosius das eucharistische Dankgebet mit oratio bezeichnet^).
Jedenfalls wird sich nicht beweisen lassen, daß er es oblatio nenne.
Daß auch Augustin dieses Gebet oratio nennt, scheint mir auch außer
Zweifel zu sein ^). Was nun den Ausdruck canon actionis oder canon
betrifft, den wir in Rom treffen, so behauptet B., daß das Wort actio
nach dem Sprachgebrauch zu erklären sei, den dieses Wort in der
römischen Rechtssprache gefunden hat. Nach seiner Meinung ver-
stand man darunter »un formulario obligatorio per compiere valida-
mente Pincarico avuto dal Signore, corrispondente ai formulari di
1) Vgl. Probst, Die Liturgie des 4. Jahrh. und deren Beform S. 245. 247;
Magistretti, La Liturgia della chiesa Milanese nel secolo lY., I (1899), p. 88
u. 96 f. Vgl. Ambrosius, de Cain et Abel I, c. 9 n. 85 u. de instit. virg. c. 2 n. 8
u. 9 (opp. cur. Ballerini, Mediolani I (1875), 266; IV (1879), 817).
2) Vgl. Probst a. a. 0. u. Magistretti a. a. 0. ; vgl. Augustin ep. 149, n. 16
MSL 33; 636 f.
Baomfltark, Litorgia Bomana 775
accusa prescritti dalla legge pei procedimenti giudiziari ossia ai
formulari processuali ed in generale ai giuridici< (p. 38). Gegen
diese Ableitung spricht, daß dann der Ausdruck canon actionis, wie
B. selbst zugiebt, eine Tautologie ist. Und ehe man einen kultischen
Ausdruck aus der Rechtssprache erklärt, empfiehlt es sich, sich erst
einmal in der kultischen Sprache umzusehen. So gut wie der Aus-
druck praefatio der altrömisch-heidnischen Kultsprache entlehnt ist ^),
so wird das Wort actio der Kult- und nicht der Rechtssprache ent-
stammen. Nun kann ich das Substantiv actio allerdings nicht in
einer kultischen Bedeutung nachweisen, wohl aber das Verbum agere ^.
Nicht allein, daß es mit Substantiven wie sacra, sacramenta, my-
steria, baptismus, sacrificium verbunden erscheint, es wird auch
absolut gebraucht, um den Vollzug einer heiligen Handlung zu be-
zeichnen'). Beachtet man das, so wird der Ausdruck canon actionis
ganz verständlich: >Richtschnur für den Vollzug« sc. des heiligen
Gebetes oder des Sakraments oder Mysteriums oder Opfers. Ein
besonderer Zusatz war gar nicht unbedingt nötig. Wie es denn auch
im liber Pontific. heißt: »Hie constituit, ut intra actionem populus
hymnum decantaret: Sanctus« (ed. Mommsen 11). Mit der &va(popd
des Ostens hat aber diese Bezeichnung nichts zu tun. Man hat sie
jedenfalls eingeführt, als bereits in dem folgenden Stück Abweichungen
vom bisherigen Brauch vorgenommen worden waren, die man nun
durchsetzen wollte.
Faßt man das Alles ins Auge, so schrumpft der an diesem Punkt
behauptete Zusammenhang des Westeos mit dem Osten bedenklich
zusammen.
Im Weiteren wendet sich B. der Tatsache zu, daß sich der
römische Kanon von den östlichen Liturgien durch das Fehlen der
Epiklese und durch die auffallende Unordnung der einzelnen Gebete
unterscheide. Die Frage wegen der Epiklese wäre gegenstandslos,
wenn die Behauptung Schermanns richtig wäre (Rom. Quartalschr.
17, 1903, S. 248 ff.), daß die Epiklese nicht ursprünglich sei. lieber
diese Frage habe ich mich in dem Artikel Epiklese in Herzog-Haucks
Realencyklopädie der protestantischen Theologie (Bd. V, S. 409 ff.)
ausgesprochen. Auch ich bin der Ueberzeugung, daß die Epiklese
erst später in die Liturgie eingedrungen, daß noch später ihr konse-
krierende Kraft zugeschrieben worden ist. Dennoch kann es keinem
1) Praefatio sacroram bedeutet hier die Einleitung des eigentlichen Opfers
durch ein Yoropfer (Wissowa, Religion u. Kultus der Römer, 1902, S. 147), bez.
die solenne Einleitungsformel der Opferhandlung (Liv. 45,5).
2) Vgl Thesaurus linguae latinae I, p. 1390, 18 ff.
3) Vgl. z.B. Augustin, ep. 108,8 MSL83,203; Itin. Sylviae 27,5; 35,1.
776 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
Zweifel unterliegen, daß zar Zeit Gelasins I. die römische Litargie
eine Epiklese hatte, und zwar als Konsekrationsgebet ^). Auch B.
ist davon überzeugt.
Der nächste Abschnitt schreitet zu der Frage nach dem Aufbau
des großen eucharistischen Gebetes in den verschiedenen Liturgien
fort, um aufs klarste zu zeigen, daß der heutige römische Kanon in
seiner Struktur allein steht. Zwei Haupttypen sind zu unterscheiden:
Die orientalischen Liturgien (mit Ausnahme der alexandrinischen, der
nestorianischen und der alten maronitischen) zeigen folgenden Auf-
bau: 1. Dank für die Schöpfung und Erlösung, unterbrochen durch
das Trishagion; 2. Einsetzungsbericht; 3. Anamnese und Epiklese;
4. Interzessionsgebet — eine Konstruktion von einleuchtender innerer
Logik. Dem gegenüber stehen die alexandrinische Markus-Liturgie,
die koptische Liturgie des Cyrill, die abessinische Liturgie, auch
z. T. die oberitalienische, gallikanische und spanische Liturgie, ja
auch die nestorianische und alt-maronitische. Hier ist der Aufbau
folgender: 1. Lob- und Dankgebet; 2. Interzessionsgebet; 3. Trishagion;
4. Konsekration. Der Unterschied zwischen beiden Typen ist also
der, daß einmal das Interzessionsgebet der Konsekration nachsteht
(tipo postpositive), das andere Mal ihr vorgerückt ist (tipo preposi-
tivo). Der römische Kanon schließt sich nun keinem dieser Typen
an, denn in ihm ist das Interzessionsgebet zerrissen und teils den
Konsekrationsgebeten vor-, teils nachgestellt. So stehen wir vor der
zweiten grundlegenden Frage: Haben wir die orientalische avo^pd
nach dem römischen Kanon oder umgekehrt den römischen Kanon
nach der orientalischen ava^opd zu rekonstruieren?
Das führt weiter zur Frage nach der Bezeugung des römischen
Kanons. B. meint : Wir sind ausschließlich auf den Meßkanon Gregors
d. Gr., also auf einen Text angewiesen, der aus dem Ende des
sechsten oder aus dem Anfang des siebenten Jahrhunderts stammt.
Damit > müssen wir die Lücke ausfüllen, die zwischen der Liturgie
des zweiten Jahrhunderts und den ältesten orientalischen Anaphoren
liegt. < Wie alt aber sind diese? Ihre ältesten Bezeugungen fallen
in die Zeit etwa von der Mitte des dritten bis zum Ende das vierten
Jahrhunderts. > Angesichts dieser Tatsache sagen zu wollen, der
römische Meßkanon gehe in seiner jetzigen Gestalt, obwohl er nur
erst an der Schwelle des siebenten Jahrhunderts erscheint, dennoch
recht wohl weiter zurück, wäre in der Tat eine grundlose Behaup-
tung und darum ohne wissenschaftlichen Wert, auch wenn wir nicht
wüßten, daß diese Form wenigstens in einem Punkt, nämlich in der
1) Meine »Entstebungsgeschicbte des Kanons« S. 28f.
Baamstark, Litargia Romana 777
Epiklese, nach dem Anfang des fünften Jahrhunderts geschaffen
worden ist« (p. 62). B. kommt also zu dem Ergebnis : Bei diesen
Ältersverhältnissen der östlichen Liturgien und des römischen Meßka-
nons hat man keinen Grund, die Konstruktion des letzteren als die
ursprünglichere anzusehen und demnach die Anaphoren in jenen nach
dieser zu rekonstruieren, sondern das Umgekehrte wird richtig sein.
Wir stellen fest, daß wir damit keineswegs auf sicherem Boden
stehen, sondern nur auf Hypothesen. Es ist eine Hypothese, daß
der uns vorliegende Kanonstext auf Gregor d. Gr. zurückgehe; es
ist eine Hypothese, daß der Kanon im Gelasianum eine spätere Ein-
Schiebung sei ^). Aber angenommen, dies alles sei der Fall, wir könnten
keine Spur des Kanons vor Gregor d. Or. nachweisen, so ist es doch
wieder nur eine Hypothese, zu sagen: Also hat der Kanon auch
nicht früher so existiert. Denn wer bürgt dafür, daß es nicht ein
Zufall ist, daß wir keine ältere Bezeugung haben?
So ist also keineswegs mit Sicherheit jene Frage beantwortet,
die B. als die zweite Fundamentalfrage bezeichnet. Wir sehen, B.
hat uns allerdings auf eine »breite«, aber auf keine sichere Basis
gestellt, und ich bedauere nicht, diese seine Basis nicht zur Grund-
lage meiner ersten > Studie« gemacht zu haben.
Ich gebe zu, wenn sich jene Frage mit aller Sicherheit dahin
beantworten läßt: nicht der römische Kanon, sondern die syrische
Anaphora zeigt den ältesten Aufbau, so hat man von vornherein ge-
wonnenes Spiel, wenn man an die Rekonstruktion des römischen Ka-
nons herantritt. Aber diese Frage läßt sich nicht auf zehn Seiten,
wie B. tut, beantworten. Sie setzt den Nachweis voraus, daß Rom
ursprünglich ein eucharistisches Gebet hatte, das nicht das des heu-
tigen Kanons, sondern im wesentlichen das des Ostens war, daß in
Syrien besondere Umstellungen in diesem Gebetsstück nicht vorge-
nommen worden sind, daß überhaupt die syrischen Liturgien die ver-
hältnismäßig ältesten sind, bezw. die ältesten Bestandteile weiter-
tragen. Das zu beweisen, dazu gehört nicht allein die Frage der
äußeren Bezeugung, sondern die sorgfältigste Vergleichung der Li-
turgien unter einander. Das ist eine ganze große Aufgabe für sich.
Ich habe sie in meiner » Studie < nicht aufgegrilBfen, weil bei dem
völligen Brachliegen der Untersuchungen der Liturgien überhaupt
irgend an einem Punkte einmal kühn und frisch eingesetzt werden
mußte. Ich ging von der Voraussetzung aus, daß der Kanon der
römischen Messe wegen seines unlogischen, offenbar zerstückelten
Aufbaus, den auch B. nicht leugnen kann, sondern offen zugibt, nicht
1) Vgl. Funk, Theol. Qaartalschrift 1904, S. 607 ff. Kann nicht in Hanc
igitar die SteUe: diesque nostros etc. sp&terer Zusatz sein?
778 Oott. gel Anz. 1906. Nr. 10
ursprünglich sein könne. Diese Voraussetzung ist um kein Hatr
kühner, als die Voraussetzungen sind, von denen B. ausgeht.
Im zweiten Kapitel (Te igitur ed Hanc igitur. Dnplicati uel
canon missae romano prima del racconto della istituzione p. 63 — 113)
geht B. zunächst der engen Verwandtschaft zwischen den einzelnen
Gebeten im römischen Kanon und der jerusalemischen Liturgie nach,
während andrerseits der Abstand zwischeä jenen und der alexandri-
nischen Liturgie ins Licht gestellt wird, so daß der Schluß als ge-
sichert erscheint, daß ursprünglich die Interzessionsgebete nicht ?or,
sondern nach den Einsetzungsworten auch in der römischen Messe
gestanden haben müssen. Eine Bestätigung dieses Schlusses findet
B. mit Recht in dem Brief Innocenz' L an Decentius von Gubbio
vom Jahre 416. Die betreffende Stelle ist nicht so ohne weiteres
klar. Die Deutung, die ich ihr in meiner >Studie« I, S. 35 gegeben
habe, versuchte Funk, Histor. Jahrb. 1903, S. 68 ff. zu entkräften.
Ich hatte behauptet, Innocenz kenne die Verlesung der Namen nor
nach der Konsekration, habe also noch den früheren Aufbau des Ka-
nons. Funk aber meint, die Angaben jenes Briefes wären durchaus
verständlich, wenn der Kanon schon damals seine heutige Gestalt
hatte. B. tritt in allem Wesentlichen auf meine Seite. Funk hat in
der Besprechung der B.schen Schrift in der Theol. Quartalschr. 1904,
S. 614 nur kurz bemerkt, daß er auch durch B.'s Ausführungen noch
nicht überzeugt sei, er geht aber auf die Sache nicht wieder ein.
Sein früher vorgetragener Hauptgrund gegen die Annahme, unter
den sacra mysteria seien die konsekrierten Elemente zu verstehen,
war der, daß das commendare oblationes, wie einige Sekrete im sa-
cramentarium Gelasianum ^) zeigten, schlechterdings jeden Gedanken
an eine Konsekration ausschlössen. Auch gebe es wohl keine Stelle,
in der das commendare den Sinn von konsekrieren habe. Nun hat
B. tatsächlich in der mozarabischen Liturgie eine solche Stelle nach-
gewiesen (M S L 85, 205). Aber abgesehen davon, so geht es nicht
an, den Ausdruck bei Innocenz nach einigen Sekreten im Gelasianum
zu deuten. Denn entweder hatte man in Gubbio — und Innocenz
wußte doch darüber ganz offenbar Bescheid — bei der Verlesung
der Namen außerhalb des Kanons zugleich eine nichtkonsekrierende
commendatio, wie sie jene römischen Sekreten zeigen, dann schlug
sich der Papst mit seiner Entgegnung selbst ins Gesicht Oder sie
kannten in Gubbio diese römische Sekreten-commendatio nicht» dann
kann Innocenz dem Bischof von Gubbio auch nicht von einer com-
mendatio in einem spezifisch römischen Sinn reden. Also darf man
1) Vgl. ed. Wüson p. 7. 164. 167. 173. 188. 195 (zwei).
Baumstark, Liturgia Bomana 779
den Ausdruck commendare oblationes im Briefe des Innocenz nicht
nach dem Sinn auslegen, den die Formel in einigen, noch dazu gar-
nicht datierbaren römischen Sekreten hat, sich also nicht darauf ver-
steifen, daß comm. obl. keineswegs eine Konsekration in sich schließen
könne. Aber wenn das auch der Fall wäre, so ist damit gamichts
entschieden. Die Hauptsache ist doch die Frage: Mit welchen
Gründen verteidigt Innocenz die römische (offenbar jüngere) Sitte,
die Namen im Kanon zu verlesen und nicht bei dem Dar-
bringungsakt vor dem Kanon, wie die ältere in Gubbio noch heimi-
sche Sitte war? Er sagt: Es ist sinn- und zwecklos, an dieser
Stelle die Namen zu nennen. Denn Gott weiß doch wahrlich diese
Namen auch ohne ihre Verlesung. Der Zweck der Namensnennung
kann doch nur sein, über die Genannten möglichst sicher und mög-
lichst reich Gottes Gnade herabzuflehen. Das wird man am besten
erreichen, wenn man die Gaben der zu nennenden Darbringer wirk-
lich erst einmal Gott als Opfer dargebracht und um freundliche An-
nahme dieser Opfer gebeten hat. Worin aber besteht diese freund-
liche Annahme? Darin, daß Gott seinen heiligen Geist über sie
sendet, sie wandelt zu sacra mysteria und sie hinaufnimmt auf seinen
himmlischen Altar. Dem so gnädig gestimmten und gesinnten Gott
tragen wir nun unsre Bitten sicher mit Erfolg vor, meint Innocenz.
Hat Gott so die Gaben angenommen, wird er auch unsre Bitten an-
nehmen. Der Nerv der ganzen Beweisführung ist doch ohne Zweifel
r- es ist mir unbegreiflich, wie man das verkennen kann ^, daß aus
den oblationes sacra mysteria müssen geworden sein : sie erst bürgen
für eine wirkliche Erhörung des Gebets. Nach Funk, der unter den
sacra mysteria einen Teil, und zwar das Te igitur des Kanons ver-
steht und diesem andre mysteria, andre Gebete, außerhalb des Ka-
nons entgegensetzt (zu alia, quae ante praemittimus, ergänzt er my-
steria), schrumpfte der Gegensatz zwischen der römischen und gubbio-
nischen Praxis zu einer Lappalie zusammen und die Ausführungen
des Papstes gipfelten in einer kleinlichen Spitzfindigkeit, die auf den
bedenklichen Bischof kaum einen Eindruck machen konnte. Darnach
waren die Gaben hier wie dort ungeweiht, wenn die Namen der
Opfernden genannt wurden. Was machte es aus, wenn diese nur
an einer andren Stelle genannt wurden? Endlich aber hat Funk —
aber auch B. und ich selbst habe in meiner > Studie c darauf nicht
Wert gelegt — ganz übersehen, daß nach des Papstes Meinung die
Gaben als Opfer dargebracht sein müssen (cuius hostiam necdum
oflFeras), ehe die Namen verlesen werden. Ich frage : Welches Kanons-
gebet ist denn das eigentliche Darbringungsgebet? Etwa Te igitur,
weil das Wort offerre darin vorkommt? Funk kann nicht leugnen,
780 Gott. goL Anz. 1906. Nr. 10
daß jenem kleinen Gebetsstück auch diesen Charakter noch auf-
bürden wollen, die Tatsachen vergewaltigen heißt. Te igitur ist ein
Interzessionsgebet. Oder sollte Funk das Haue igitur dafür an-
sprechen? Auch dies ist ein verkürztes Interzessionsgebet. Das
eigentliche Darbringungsgebet ist vielmehr Unde et memores, mit
den Worten: offerimus praeclarae maiestati tuae etc., denen sich die
Empfehlung des Opfers in Supra quae und Supplices te anschließt
So scheidet bei einer vorurteilsfreien Behandlung der Stelle tatsach-
lich das Te igitur aus. Es wird also dabei bleiben: Innocenz kennt
noch die alte Struktur des Kanons, wonach die Namensnennung
nach dem Einsetzungsbericht, der Anamnese, der Darbringung und
Epiklese stand.
Des Weiteren zieht B. (p. 74 ff.) für unsre These eine Stelle
aus einem Briefe Cölestins I. an Theodosius n. v. J. 432 heran, auf
die auch ich schon aufmerksam gemacht hatte (meine > Studie < S. 35,
Anm. 1). Es sind die Worte: »Ecce nunc domus Domini orationibus
vacant, et vestrum per omnes ecclesias Deo nostro oblatis sacrificiis
commendatur Imperium c. B. versteht die Formel: oblatis sacrificüs
von der Rubrik Unde et memores. Dagegen hat Funk (Theol. Quar-
talschr. 1904, 615 f.) bemerkt, man dürfe den Ausdruck nicht pressen;
er sei dem Zusammenhang nach sehr wohl vom eucharistischen Got-
tesdienst überhaupt zu verstehen. Allein einmal ist das nun wieder
eine ungerechtfertigte Abschwächung des Wortlautes; und sodann
fragt es sich, wie die Stelle zu übersetzen ist. Doch ohne Zweifel:
>in allen Kirchen empfehlen (die Priester oder die Gläubigen) euer
Reich unserm Gotte durch die dargebrachten Opfere. Das com-
mendare will doch berücksichtigt sein. Die commendatio geschieht
nicht durch Gebet allein, sondern durch die Opfer, die Gott darge-
bracht smd und die Gott angenommen hat ^) ; durch sie gewinnt das
Gebet die Bürgschaft für die Erhörung. Wir haben also hier genau
denselben Gedanken, den wir soeben in der Briefstelle des Innocenz
gefunden haben. Ist diese meine Auslegung richtig, so spricht in der
Tat auch dieses Briefzitat für unsere These. Keineswegs ist die
Briefstelle so leichter Hand zur Seite zu schieben, wie Funk meint.
Und ist i. J. 416 die alte Struktur des Kanons nachweisbar, so ist
es sehr wahrscheinlich, daß sie auch noch 432 vorhanden war. We-
nigstens liegt nicht das geringste Anzeichen vor, daß sie in der
Zwischenzeit verlassen worden sei.
1) Die Konstruktion ist hier also genau dieselbe wie in der Sekrete bei dem
EvangeUsten Johannes im Sacr. Gelas. : »Supplicationibus apostolicis beati loannis
evangelistae, quaesomus, ecciesiae suae, Domine, commendetor oblatioc (ed.
Wilson p. 7).
Bamnstark, Litnrgia Eomana 781
Ferner geht B. auf die auffallende Tatsache ein, auf die ich in
meinem Artikel: >Messe< in der Protest. Realencyklopädie (3. Aufl.
Bd. 12, 706) hingewiesen hatte, die ihm aber selbst vorher schon ins
Auge gefallen war, daß nämlich im Sacramentarium Leonianum in
der Pfingstmesse das Communicantes dem Hanc igitur folgt, also die
umgekehrte Ordnung erscheint wie im heutigen Kanon. Funk hatte
sich dagegen gewendet (Histor. Jahrb. 1903, S. 301 f.), daß ich daraus
Kapital für meine These geschlagen hatte. B. tritt erneut für die
Beweiskraft dieser Stelle ein, während Funk (Theol. Quartalschr. 1904,
S. 611 f.) von neuem sich bemüht, sie lahm zu legen. Man wird zu-
geben müssen, daß eine sichere Entscheidung, ob wir oder ob Funk
recht hat, nicht gefällt werden kann. Aber zu beachten bleibt, daß
diese eigentümliche Anordnung in der der Taufe folgenden Messe
erscheint. Wie leicht ist es möglich, daß diese besondere Messe
eine alte Anordnung beibehielt, während sonst schon die Umstellung
üblich war. Ein strikter Beweis ist freilich aus dieser Stelle des
Leonianums nicht zu führen.
Hatte mir B. bisher in allem Wesentlichen zugestimmt, so erhebt
er von nun (p. 79 ff.) an lebhaften Widerspruch gegen mich. Gern
gestehe ich zu, daß er in seiner Kritik mir gegenüber in vielem
recht hat, so wenn er es zurückweist, daß für meine These einige
Gebete der gallikanischen Liturgie herangezogen werden könnten.
Aber ich bin leider nicht in der Lage, nun meinerseits seinen posi-
tiven Aufstellungen in den wichtigsten Punkten zuzustimmen. Seit
ich meine erste > Studie < geschrieben habe, glaube ich mancherlei
gelernt zu haben, das mich über B. hinausführt. Um es sofort zu
sagen, was mich von B. trennt, so ist es dies: B. nimmt, wie auch
ich getan habe, als den Urtypus der römischen Liturgie den der
jerusalemischen (Jakobus-)Liturgie an. Ich bin jetzt der Ueberzeu-
gung, daß die Jakobus-Liturgie zwar auf die römische Liturgie stark
eingewirkt hat, daß diese aber ursprünglich dem Typus der sogen,
clementinischen Liturgie zugehört, deren für uns erreichbare älteste
Relation im 8. Buch der apost. Konstitutionen vorliegt und die auch
in der Byzantinischen Basilius-Liturgie, weniger deutlich in der
Chrysostomus-Liturgie noch weiterlebt. In der Fortsetzung meiner
»Studien« (Heft II/III) glaube ich für diese These, daß Roms Liturgie
ursprünglich von dement. Typus war, den ausführlichen Erweis er-
bracht zu haben.
Von diesem Standpunkt aus muß ich sofort meinen Widerspruch
gegen die Behauptung B.s erheben, man könne aus I. Gl. 34, 7 den
Beweis dafür entnehmen, daß unmittelbar auf das Trishagion in der
'ältesten römischen Liturgie der Dank für die Wohltaten der Erlö-
1
782 Gdit gel. Anz. 1906. Nr. 10
suDg gefolgt sei. GewiQ, darin hat B. recht, in der ältesten Stroktor
des römischen Kanons kann auf das Trishagion nicht das H&nc igitor
oblationem gefolgt sein. Das war auch meine Meinung nicht, die
ich wohl mißverständlich ausgesprochen habe, wenn ich das Wort
> ursprünglich« hier brauchte (>Studie< I, S. 25). Allein aus I. Gl.
37, y. 7 und — füge ich hinzu — v. 8 folgt vielmehr mit ziemlicher
Sicherheit, daß man »die großen und herrlichen Verheißungen«, von
denen Clemens hier spricht, nicht auf die Erlösung beziehen darf,
sondern auf die Segnungen, die durch die Eucharistie verbürgt werden.
Vergleicht man nämlich die in Betracht kommenden Liturgien von
clementinischem Typus unter einander und mit I. Cl. 37, 7 u. 8, so
kann es kaum zweifelhaft sein, daß Clemens hier eine Stelle zitiert,
die in dem üblichen Gebet vor der Kommunion vorgekommen sein
wird *).
Wenn B. weiter die drei alten Ueberleitungsformeln zum Trishagion
im Kanon mit den entsprechenden Formeln im Osten vergleicht und
dabei zu dem Schlüsse kommt, daß auch hier die Verwandtschaft
mit der jerusalemer Liturgie handgreiflich sei, so hat er völlig recht.
Dagegen erscheint es mir sehr unwahrscheinlich, daß die Formel:
Per Christum . . . per quem ein Rest des zweiten Teiles des ursprüng-
lichen eucharistischen Gebetes sei, wie es sich nach dem Trishagion
fortgesetzt habe, in Analogie zur jerusalemer Liturgie. Die Formel
sei nur eben vor das Trishagion geraten. Wenn man nämlich die
Tatsache ins Auge faßt, daß ursprünglich das ganze große euchari-
stische Gebet in Rom analog dem Gebet in den apost. Konstitutionen
VIII, 12 gestaltet war, und daß jedenfalls diejenigen Uebergänge zum
Trishagion in der römischen Liturgie, in denen nicht für, sondern
mit der Schöpfung gedankt wird, auf eine spätere Beeinflussung
durch die jerusalemer Liturgie zurückgehen, so kann das per
Christum etc. noch sehr wohl der Rest eines Passus sein, der mit
Ap. Const. VIII, 12,5 (Brightmann, p. 15, 7flF.) verwandt war*).
Ein besonderes Wort muß noch über die Formel: »Cum quibus
et nostras voces ut admitti iubeas, deprecamur supplici confessione
dicentesc gesagt werden. B. meint, daß sie ursprünglich nach dem
Trishagion der Engel gestanden und die Einleitung zu dem Vere
sanctus, das er auch für die älteste römische Liturgie als sicher an-
nimmt, gebildet habe. Er beruft sich zum Beweis dafür vor allem ein-
mal auf die kappadozische Basilius-Liturgie (Brightmann, p. 325% 5 ff.),
und zwar besonders auf die Worte (jLaxapicov Sovdc|ie(iDv, in denen er eine
Parallele zu dem beata Seraphim in der röm. Formel sieht, nnd so-
1) Das Nähere vgl. in meinen »Studienc II/III, S. 161 ff.
2) Vgl. meine »Studienc n/m, S. 182.
Baumstark, Liturgia Romana 788
dann auf I. Gl. 34, 7*. In dem hier vorkommenden ixtev&c sieht er
die Vorlage fur das lateinische: supplici confessione. Er glaubt, weil
in I. Gl. 34 auf das Trishagion (v. 6) jene Stelle folgt, die ihm als
die Grundlage zu dem Gum quibus etc. erscheint, so werde auch
ursprünglich das Gum quibus nach dem Trishagion gestanden haben.
Allein so ohne weiteres läßt sich das aus I. Gl. nicht herauslesen.
So sklavisch braucht sich Glemens in seinem Brief nicht an die Li-
turgie gehalten zu haben und hat er sich sicher nicht gehalten. Nun
liegt aber auch gedanklich, selbst wenn B. mit seiner Deutung des
supplici confessione recht hätte, zwischen I. Gl. 34, 7* und der Ea-
nonsstelle eine tiefe Kluft. Und es läßt sich nicht aus der Welt
schaffen, daß der Gedanke der römischen Formel eben im ägyptischen
Typus, von dem allerdings prinzipiell die römische Liturgie ver-
schieden ist, wie B. mit Recht annimmt, seine greifbaren Parallelen
hat (die Stellen bei B. S. 92 Anm. 1 ; hinzuzufügen ist, noch Serapi-
onsgebete I, ed. Wobbermin p. 5, 10). Nun ist aber ein doppeltes
möglich: Entweder die syrischen Liturgien haben den Gedanken um
freundliche Annahme des Gememdelobgesangs ursprünglich auch ge-
habt, haben ihn aber getilgt; nur Rom hätte ihn dann in jenem
Sätzchen bewahrt. Oder aber er ist wirklich ein spezifisch ägypti-
sches Gut, und dann hat Rom eben diese Formel von Aegypten her
aufgenommen; dann ist sie aber aus der ursprünglich römischen Li-
turgie zu tilgen. Und dies letztere ist meine Meinung. Denn ver-
wunderlich wäre es doch, wenn dieser Gedanke in der syrischen Li-
turgie so gründlich getilgt worden wäre, daß keinerlei Spur davon
noch zu entdecken wäre.
Von nun an kann ich mich in meinem Bericht und in meiner
Kritik viel kürzer fassen. Denn wenn B. nunmehr darangeht (3. Ka-
pitel : Supra quae, Supplices e Te igitur ; il Nobis quoque. Duplicati
nel canon missae romano depo il racconto della istituzione p. 115 —
156), den Gharakter der einzelnen Kanonsgebete zu untersuchen —
und darin sieht er vieles sehr Richtige — und sie auf ihre Herkunft
zu prüfen, so sind dies Fragen, die ich gleichzeitig auch in meinen
> Studien < Heft H/III, S. 130 ff. behandele, und ich kann daher auf
sie verweisen. Wir sind insofern verschiedener Meinung, als B. eine
Reihe von Kanonsgebeten (das vorgregorianische Hanc igitur, das
Quam oblationem, den größten Teil des Supra quae, des Supplices
und Teile des Nobis quoque) als nichtrömisch ansieht, die mir, weil
ich in der dement. Liturgie den Urtypus der römischen Liturgie er-
kannt zu haben glaube, in ihrem Kerne alle als echt römisch er-
scheinen. B. läßt sie aus einer fremden Liturgie eindringen, die er
erst konstruieren muß. Daß dies für seine These nicht günstig ist,
784 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
liegt auf der Hand. Ebenso ungünstig steht es mit seiner Behaup-
tung, daß die Fusion des römischen mit einem ausländischen Kanon
Leo der Große begonnen, Gregor der Große aber, indem er die Um-
stellung vorgenommen habe, vollendet habe. Es lohnt sich nicht,
auf diese so gut wie ganz in der Luft schwebenden Thesen näher
einzugehen. Auch Morin sagt in seiner Besprechung mit Recht:
>L'attribution du travail de fusion ä saint L^on, de simplification et
de transposition ä saint Gr^goire, repose, on pent le dire, sur de
vraies pointes d'epingles^).< Vorläufig habe ich jedenfalls keinen
Grund, von meiner These, daß Gelasius I. die Umstellung des Kanons
vorgenommen habe, abzugehen, denn sie hat ohne Zweifel stärkere
Zeugnisse der Ueberlieferung für sich. Ich hatte auf den Aufenthalt
des orthodoxen Bischofs von Alexandrien, Johann TalaKa, unter
Felix III. und Gelasius I. in Rom hingewiesen^. Ich stellte es als
möglich hin, daß auf dessen Einfluß hin der zu zweit genannte Papst
die römische' Liturgie nach der alexandrinischen gestaltet habe. B.
weist diesen Gedanken als ganz verunglückt ab. Aber wenn nun
der Papst dadurch, daß er sich auch von der Liturgie von Byzanz
lossagte, deutlich und entschieden seinen Widerspruch gegen das
ketzerische Byzanz zum Ausdruck bringen wollte? Ist das so ganz
undenkbar? Hatte nicht Acacius von Byzanz den Namen des Pap-
stes aus den in der Messe zu verlesenden Diptychen gestrichen?
Konnte es nicht sehr wirkungsvoll sein, wenn sich Rom auch in der
Liturgie von Byzanz lossagte und dafür an Alexandrien anschloß?
Gab es einen lauteren und deutlicheren Beweis der Parteinahme des
Papstes für die Orthodoxie Alexandriens gegen Byzanz? So halte ich
noch immer meine Hypothese für erwägenswert. Jedenfalls hat sie
B. durch keine irgend bessere ersetzt.
Das letzte, das vierte Kapitel (Roma, Ravenna ed Aquileia.
I piü antichi monumenti del rito detto in s6guito patriarchino;
p. 157 — 180) setzt alles Bisherige als sicher erwiesen voraus und
baut nun munter einen luftigen Bau auf dieser unsicheren Grundlage
auf. Den bisher allein bekannten liturgischen Typen Italiens, dem
römischen und Mailändischen, setzt B. kühnlich einen bisher vöUig
unbekannten an die Seite, >perciocche S. Leone M. ha certamente
tolto da una liturgia italiana gli ampliamenti fatti da lui alia patria
anafora, supposto che li abbia desunti da una latina. Ora i brani in
questione del nuovo canon romano non fanno Timpressione di ver-
sioni dal greco< (p. 158). So viel Sätze, so viel unbewiesene Be-
hauptungen. Denn unbewiesen ist es, daß die von B. als fremdartig
1) Revue Bdn^ctine, 1905, p. 378.
2) »Studiec I, S. 38.
Baumstark, Liturgia Romana 785
bezeichneten Gebete des Kanons wirklich nicht römisch sind — ich
halte sie, wie gesagt, für römisch — ; unbewiesen ist es, daß Leo diese
Fusion vorgenommen habe; unbewiesen ist es, daß diese angeblich
fremdartigen Stücke in einer lateinischen Liturgie wurzeln müßten.
Aber B. ist kühn genug, von dieser Basis aus auf die Suche nach
dieser bisher unbekannten lateinischen Liturgie Italiens auszugehen.
Er glaubt sie in Ravenna gefunden zu haben, und zwar soll sie in
der pseudo-ambrosianischen Schrift de sacramentis enthalten sein,
deren Verfasser in jener wichtigen norditalischen Stadt zu suchen
sei. Leo der Große habe dann die Liturgie, wie sie hier bezeugt
werde, auf die römische angewendet. Das sind alles nichts mehr
als Vermutungen, die B. zwar mit großer Sicherheit vorträgt, die
aber nicht ernst genommen werden können. Und wenn er nun gar
Bildwerke von Ravenna als Belege für seine These heranzieht, so
folge ihm auf diesem unsicheren Wege, wer den Mut dazu hat. Man
habe bisher in Rom auf keiner bildlichen Darstellung Abel, Abraham
und Melchisedek vereinigt gefunden, während diese drei tatsächlich
in Mosaiken von Ravenna erscheinen. Folglich, so schließt B., ist
die Rubrik Supra quae, in der jene drei alttestamentlichen Gestalten
erscheinen, ravennisch, nicht römisch; sie fehlt in der römischen
Messe vor Leo d. Gr. Allein, wer bürgt dafür, daß nicht morgen in
Rom das gleiche Bild zu Tage tritt? Und wer bürgt femer dafür,
daß die Mosaiken von Ravenna nicht schon römisch beeinflußt sind?
Aber eins fällt besonders ins Gewicht, was B. nicht beachtet. Jene
drei Namen stehen bereits in der clementinischen Liturgie, und zwar
im eucharistischen Gebet nahe bei einander (Brightman, p. 17, 15 f.:
xal too |jiv 'AßäX o)c 6o[oo 9rpoo56£d(jL6Voc fyjv ^ooiav; 17, 28 f.: oo ei 6
töv 'Aßpaa(jL ^i)oa(ievoc icpOYOVixTjc ^losßeiac xal xXt]pov6(jlov too x6o|i.oo
xataotTJoac xal i[tyavtoac aotcp töv y(fiiaz6y ooo, 6 töv MeX^toeSte ^PX^"
epda o^c Xatpeiac icpox£tptod|i8voc). Sodann fahrt auch ein Präfations-
gebet des Leonianums (ed. Feltoe p. 161)^) jene drei an. Wenn ich
nun recht habe mit meiner Annahme, daß die altrömische Liturgie
Clement. Liturgie-Typus trug — und dafür spricht doch eben auch,
daß sowohl in der Rubrik Supra quae, als auch im Leonianum jene
drei Männer genannt werden, während in keiner andren alten Litur-
gie diese drei zusammenstehen — , so dürfte auch jenes Stück von
Supra quae auf einer altrömischen Vorlage beruhen. Jedenfalls ist
gegen diese Vermutung aus den Bildwerken Roms oder Ravennas
kein irgendwie stichhaltiger Beweis zu führen.
So glaubt B., die Liturgie von Ravenna entdeckt und sicher in
der Hand zu haben, so sicher, daß er sogar im Anhang, wo er die
verschiedenen liturgischen Typen des Kanons in Paralleldruck wieder-
1) Vgl meine »Stadiet I, S. 21, Anm. 1.
786 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
gi^bt, den Kanon von Ravenna (unter B) uns zu bieten wagt. Kein
Wunder, daß seine Kombinationsgabe nun noch weitergreift: er glaubt
mit dieser Liturgie von Ravenna den sogen, ritus patriarchinus, der
in Aquileja und dessen Gebiet herrschend gewesen sein soll, in Ver-
bindung bringen zu können. Hier fehlt freilich jegliche Einzelunter-
suchung, und unsere Ueberzeugung, daß es sich hier doch wohl um
den Mailändischen Typus handle, wird durch nichts erschüttert. Denn
auch der letzte Punkt, den B. behandelt, und der zur Stütze seiner
These dienen soll, steht auf so schwankenden Füßen, daß er das Un-
sichere sicher, ja auch nur wahrscheinlich zu machen, nicht im Stande
ist. Nämlich das Sakramentarium von Brescia aus dem neunten Jahr-
hundert, das Ebner (Missale Romanum; Iter Italicum, 1896, S. 22 f.)
beschreibt, enthält ein langes Hanc igitur, das der Ueberschrift in
der Handschrift nach von Paulinus von Aquileja eingefugt sei (Ebner
a.a.O. S. 415f.). Das mag richtig sein. Aber folgt daraus, daß wir
es hier mit einem echten Stück des von B. entdeckten Liturgie-Typus
zu tun haben? Kann das Gebet in seinem Grundstock nicht sehr
gut römisch oder auch mailändisch sein?
So muß ich die Lösung, die B. für das Problem der Entstehung
des römischen Kanons bietet, ablehnen. Gewiß, ohne Hypothesen,
ja ohne kühne Hypothesen wird man hinter die Entstehung der rö-
mischen Messe, wie überhaupt hinter die Entwicklung der alten Li-
turgien nicht kommen. Aber reine Luftschlösser soll man nicht
bauen. Ich fürchte aber, daß B. dieser Gefahr an nicht wenigen
Stellen seines lehrreichen Buches, vor allem im zweiten Teil, erlegen
ist. Uebrigens bleibt die Frage, wie denn nun eigentlich der alexan-
drinische Typus auf Gregor d. Gr., den ja B. als den Umsteller der
Kanonsstruktur ansieht, so habe einwirken können, daß er ihm fol-
gend den Kanon gestaltete, ganz bei Seite liegen.
Wir werden also im Ganzen durch B. nicht über den Punkt
hinausgeführt, bis zu dem uns meine erste >Studie< bereits gebracht
hatte. Er hat Verbesserungen im Einzelnen und viele Anregung ge-
boten, das erkenne ich gern dankbarst an, aber so sehr er sich auch
mir gegenüber auf das hohe Pferd setzt, seinen Untersuchungen und
seinen Ergebnissen werden wenige Gefolgschaft leisten.
Nicht unerwähnt kann ich lassen, daß sich in den Stellenangaben
in den Anmerkungen viele Ungenauigkeiten finden. Aus den von
mir nachgeprüften Stellen könnte ich eine ziemlich stattliche Reihe
von Korrekturen zusammenstellen.
Das Buch ist dem Papste gewidmet. Deshalb erfreut es sich
wohl einer so selten vornehmen Ausstattung.
Gießen P. Drews
Haassleiter, Zwei apostol. Zeugen f. d. Johannesevangeliam 787
Johannes Haassleiter, Zwei apostolische Zeugen für das Johannes-
Evangelium. München 1904. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. 58 S.
Karl Horn, Abfassungszeit, Geschichtlichkeit und Zweck von
Evang. Joh. Kap. 21. Leipzig 1904. A. Deichert'sche Verlagsbuchhandlung.
XII, 199 S.
Die beiden Schriften von Haussleiter und Horn behandeln das
gleiche Thema, denn auch die Haussleitersche Schrift beschäftigt
sich mit dem Schlußkapitel des vierten Evangeliums. Beide sind im
Geiste der Rechtgläubigkeit verfaßt und kommen auf verschiedenem
Wege zu nahe beieinander liegenden Zielen oder vielmehr sie ver-
teidigen, jede auf ihre Weise, zwei sich nah berührende Behaup-
tungen.
Mit größerem Anspruch tritt die kleinere Schrift auf. Sie ver-
spricht nichts geringeres, als die Frage nach dem Ursprung und
Urheber des Evangeliums durch die Autorität der berufensten Zeugen
zu entscheiden (S. 1).
Ich stelle fest, daß hier ausdrücklich die Frage nach der Ur-
heberschaft des vierten Evangeliums anerkannt und somit das Zeugnis
der Ueberlieferung nicht ohne weiteres als genügend angesehen wird.
Es wird vielmehr eine neue und einwandsfreie Entscheidung ange-
strebt. Das strittige 6 YP<*^ac taöta 21, 24 wird auf c. 1—20 einge-
schränkt und der Nachweis versucht, daß die Verfasser des Schluß-
kapitels die beiden Apostel Andreas und Philippus seien. Es ist
klar, daß alles darauf ankommt, wie dieser Nachweis geführt wird.
Wird eine sichere Kunde an irgend einem Orte außerhalb des
Evangeliums nachgewiesen, daß Andreas und Philippus das Schluß-
kapitel verfaßt haben, schön, so haben wir ein Zeugnis dieser Apostel
für die Urheberschaft des Evangeliums. Es ist dann nur noch nach-
zuweisen, wer der Jünger war, den der Herr lieb hatte, es sei denn,
daß man dies ohne weiteres für ausgemacht hält. Ist aber ein
äußeres Zeugnis nicht zu finden, so kann es sich nur darum handeln,
aus dem 21. Kapitel selbst durch innere Gründe seine Verfasser zu
ermitteln. Gelingt dies, so wäre ein Zeugnis gewonnen, dem zwar
die äußere Beglaubigung fehlte, das aber durch seine innere Kraft
um so stärker ins Gewicht fallen möchte. H. hat, da ihm nicht
etwa, wie man nach dem Titel des Buches vermuten könnte, ein sen-
sationeller Fund geglückt ist, den zweiten Weg betreten. Aber er
hat dabei, ohne es zu merken, seinem Nachweis die Kraft genommen,
das zu erhärten, worauf es ihm doch ankam, nämlich den johannei-
schen Ursprung des Evangeliums, indem er bei seinem Nachweis
diesen, den er doch erst sicherstellen wollte, vielmehr schon voraus-
QOti. gaL Ans. 1900. Nr. 10 55
788 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
setzte. Denn er hat das Schlußkapitel nicht losgelöst von dem E?aD-
gelium betrachtet, sondern im engsten Zusammenhang mit diesem
und zwar so, daß er nicht sowohl bewies als behauptete, daß dieses
von einem Augenzeugen aus dem Kreis der Zwölfe geschrieben und
daß dieser Augenzeuge der Zebedaide Johannes sei, und erst aus
dieser Behauptung hat er gefolgert, daß das Schlußkapitel von An-
dreas und Philippus hinzugefügt sei.
Es ist also in Wahrheit in der Schrift von H. nicht sowohl die
Rede von dem Zeugnis des Schlußkapitels für die Urheberschaft des
Evangeliums als vielmehr von einem Zeugnis des Evangeliums für
die Urheberschaft des Schlußkapitels. Daraus ergibt sich, daß fur
das eigentliche Evangelium auf keinen Fall etwas gewonnen ist,
möglicherweise aber etwas für das Schlußkapitel, wenn der Zu-
sammenhang zwischen beiden ein solcher ist, daß er einen Schluß
von der Autorschaft des einen auf die des andern zuläßt. Da aber
H. davon ausgegangen ist, daß das Evangelium sich selbst als
johanneisch bezeuge, dieses vermeintliche Selbstzeugnis aber auf seine
Wahrheit nicht geprüft hat, so können seine Folgerungen im besten
Falle nur eine bedingte Gültigkeit haben. Denn angenommen, es
wolle das Evangelium von Johannes und das Schlußkapitel von An-
dreas und Philippus verfaßt sein, so brauchten sie doch darum tat-
sächlich gar nicht beide verschiedene, sondern könnten sehr wohl
denselben Verfasser haben, der eben diesen Schein hervorrufen wollte.
Das ist aber das Resultat, auf welches man geführt wird, wenn man
H.S Voraussetzungen anerkennt.
H. findet nämlich, daß Joh. 1,35 ff. der Name des Johannes in
durchsichtiger Weise verschleiert und daß mit ihm der Jünger, den
der Herr lieb hatte, identisch sei. Dieselbe Art durchsichtiger Ver-
schleierung ist nach seiner Meinung auch in dem Schlußkapitel an-
gewendet, wo neben Simon Petrus, Thomas, Nathanael und den
beiden Söhnen des Zebedaeus zwei Jünger ohne Namen eingeführt
werden, in welchen beiden er eben Andreas und Philippus deutlich
zu erkennen glaubt. In dieser Uebereinstimmung aber sieht er >das
bedeutsamste Moment des Johanneischen oder Johannisierenden der
Darstellung. € Wenn aber diese beiden ungenannten Jünger Andreas
und Philippus seien, so seien sie auch die Verfasser des Schluß-
kapitels, und eben diesen Zusammenhang zwischen der Anonymität der
beiden Jünger und der Verfasserschaft des Nachtrags findet er echt
johanneisch (S. 41). Gesetzt, es wäre das bewiesen und es wäre
wirklich das gleiche schriftstellerische Raffinement in dem Schluß-
kapitel wie in dem Evangelium selbst angewendet, so müßte man
doch fragen, welchen Orund zwei Apostel zu einem solchen Verfahren
Haassleiter, Zwei apostol. Zeugen f. d. Johannesevangeliam 789
gehabt hätten, die als ebenbürtige Zeugen für ihren Mitjünger ein-
treten wollten und dem Evangelium zugleich eine von diesem nicht
beabsichtigte Ergänzung gaben. Hätte das Schlußkapitel wirklich
einen so echt johanneischen, d. h. so sehr im Geiste des Evangeliums
gehaltenen Zug, so läge es doch näher, dem Verfasser des Evan-
geliums auch das Schlußkapitel zuzuschreiben, in welchem Falle
freilich schwerlich H. in ihm den Apostel würde sehen wollen.
Die Annahme aber, daß Schlußkapitel und Evangelium von dem-
selben Verfasser, aber nicht von Johannes sind, legt H. unabsichtlich
gleich von vornherein nahe. Seine ganze Argumentation geht von
dem Gedanken aus, daß in dem vierten Evangelium auf das Zeugnis
ein ganz besonderer Wert gelegt und die Forderung anerkannt
werde, daß ein Zeugnis unter Umständen auch beglaubigt werden
müsse. >Wenn der Evangelist sich mit den ersten Jüngern Jesu zu-
sammenschließt, wer beglaubigte sein Zeugnis ?< fragt H. und er
stellt die Beglaubigung, die Jesus 8,18 für sich geltend macht, mit
der Beglaubigung in Parallele, die das Zeugnis des Evangelisten in
dem Schlußkapitel erfährt (S. 14). Wenn aber das Evangelium wirk-
lich der Beglaubigung bedarf, die ihm in dem Schlußkapitel erteilt
wird, so sieht es doch ganz so aus, als wenn das Evangelium von
vornherein auf dies Kapitel angelegt sei. Da dies nun aber in Wirk-
lichkeit nur möglich war, wenn der Verfasser des Evangeliums mit
denen, die es beglaubigen sollten, also nach H. Johannes mit An-
dreas und Philippus, sich sogleich ins Emvemehmen setzte, H. aber
diese Annahme ausdrücklich ablehnt (S. 34 ff.), so sehe ich nicht
ein, was anders übrig bleibt, als die Annahme einer schriftstellerischen
Fiktion.
Zeigt sich, daß man auf logischem Wege von den angenommenen
Voraussetzungen zu ganz andern als den gewünschten und ver-
heißenen Resultaten gelangt, so ist es kaum nötig, sich auf die
Voraussetzungen selber einzulassen. Diese stehen zudem mit meiner
eigenen Auffassung des Evangeliums in einem solchen Widerspruch,
daß ich fürchten muß, ihnen nicht gerecht werden zu können. Ich
will daher nur kurz andeuten, was ich dagegen einzuwenden habe.
Nach meiner Meinung kann man den Verfasser des Evangeliums
nicht stärker mißverstehen, als wenn man ihm zutraut, er habe eine
Beglaubigung von menschlicher Seite für zulässig, geschweige denn
für wünschenswert oder gar nötig gehalten. Es ist doch von Zeugnis
in dem vierten Evangelium nur darum so viel die Rede, um zu
beweisen, das es ein Zeugnis in dem gewöhnlichen Sinne des
Wortes, so wie es das Gesetz vorschreibt, von dem eingebornen
Sohne des Vaters nicht geben kann, sondern daß der Sohn sich
65*
790 Gott gel Adz. 1906. Nr. 10
selbst als solchen bezeugt hat, und dadurch daß er es getan hat, ihn
zugleich der Vater. Der Evangelist aber stellt Jesus Christus mit
und in seiner Umgebung so dar, wie er ist und wie er sich zeigen
mußte. Er gibt im Wort ein unmittelbares Bild von ihm ; wozu soll das
bezeugt werden, da es sich doch dem Gläubigen eben so durch sich
selbst bezeugt, wie das Urbild es tat?
Der Evangelist bezeugt, was er gesehen hat, und er weiß, daß
es wahr ist, weil er den Geist hat und weil es mit der Schrift
stimmt (auf die ganz unmögliche Interpretation von 19,35 auf S. 27
kann ich mich hier nicht einlassen). Nicht darauf, daß er zeugt,
sondern, was er zeugt, kommt es an. Er hat alles geschaut als der
Jünger, den der Herr lieb hat, aber er ist nicht dieser oder jener
von den Zwölfen. Es ist nirgendwo im Evangelium gesagt und auch
nicht angedeutet, daß dieser Jünger der Zebedaide Johannes sei.
Wenn H. sagt, die Exegese von 1,35 bis 42 zeige, daß das eine
Brüderpaar, von dem dort die Rede ist, Andreas und Simon Petrus,
das andere Johannes und Jakobus sei (S. 44, vgl. S. 4 f.), so ist da-
gegen zu bemerken, daß aus dem Satze v. 42 »dieser (nämlich An-
dreas) fand zuerst seinen eignen Bruder« (wo die Handschriften
zwischen np&zov und icpcdtoc schwanken, eine Differenz, die aus
Gründen handschriftlicher Autorität nicht entschieden werden kann),
keineswegs mit Notwendigkeit folgt, daß der zweite von den beiden
V. 35 erwähnten Jüngern, der ungenannt bleibt und von dem nicht
weiter die Rede ist, darauf gleichfalls seinen Bruder gefunden habe.
Gesetzt aber, es wäre v. 42 wirklich so zu interpretieren und es
hätte der vierte Evangelist eben das Brüderpaar Jakobus und Jo-
hannes im Auge, so möchte ich wissen, wer mir beweisen will, der
Evangelist habe gemeint, Johannes habe den Jakobus und nicht etwa
Jakobus den Johannes gefunden. Ich meine, Jakobus hätte genau
denselben Anspruch, unter dem ungenannt bleibenden Jünger ver-
standen zu werden. Also gerade, wenn man in v. 42 eine Andeutung
der Zebedaiden findet, so kann man nicht annehmen, . daß der Ver-
fasser des Evangeliums sich v. 35 habe verstecken wollen, da man
ja aus der Situation allein unmöglich erschließen könnte, welcher von
den beiden Zebedaiden gemeint wäre.
Wenn nun, unter einer mehr als unsicheren Voraussetzung,
1,35 ff. eine Andeutung der Zebedaiden vorliegt, so ist dagegen auf
keine Weise einzusehen, warum wir 21,2 für die beiden hier unge-
nannt bleibenden Jünger just auf Andreas und Philippus raten sdlen.
Wenn H. sagt, wir würden auf den Anfang des Evangeliums zurück-
gewiesen (S. 44), so ist dagegen zu erwidern, daß 1,35 ff. von fünf,
resp. sechs Jüngern die Rede ist, 21, 1 dagegen von sieben; daß von dies»
HaoBsldter, Zwei apostol. Zeugen f. d. Johannesevangeliom 791
im 1. Kap. bestimmt genannt nur zwei werden, nämlich Petrus und
Nathanael, daß aber der c. 21 genannte Thomas c. 1 nicht genannt
wird. Aber wären auch v. 2 Andreas und Philippus gemeint, so ist
doch völlig unerfindlich, warum daraus folgen sollte, daß diese beiden
auch die Verfasser des Kapitels sind. Was H. zugunsten des Andreas
anzuführen hat — denn für Philippus hat er überhaupt nichts anzu-
führen, daher es denn auch heißt, der eigentliche Erzähler sei An-
dreas gewesen (S. 45) — , nämlich daß grade Andreas als Bruder ein
Interesse daran gehabt hätte, von der Rehabilitierung des Petrus zu
reden und dgl. mehr, so lohnt es wirklich nicht, sich dabei aufzu-
halten. Was sollten aber Andreas und Philippus oder irgend welche
anderen Apostel bezeugen, wenn das Evangelium, wie H. meint, das
Oesamtzeugnis der Apostel zum Ausdruck bringt? Stellt es sich
nicht durch sich selbst als solches hinlänglich sicher dar, so kann es
auch nicht durch ein Zeugnis aus diesem Kreise an Sicherheit ge-
winnen, das seinerseits erst wieder erschlossen werden muß. Nun
soll aber nach der eigenen Meinung des Evangelisten dies Gesamt-
zeugnis auch einer Beglaubigung gar nicht bedurft haben (S. 34),
aber, meint H., der scharfe und gefährliche Gegensatz — darunter
versteht er Kerinth und Genossen — , gegen den sich das Zeugnis
19,35 richte, habe die Bezeugung von Augenzeugen nötig gemacht
(S. 37). Aber gerade für dieses Zeugnis konnten weder Andreas und
Philippus noch sonst wer als Augenzeugen eintreten, da es einen
Vorgang betrifft, den der Evangelist ganz allein erlebt hatte.
Wenn nun ferner dem Gesamtzeugnis das Zurücktreten des ein-
zelnen >Ich< zur Beglaubigung dient, wie H. sagt (S. 21), so be-
greift man um so weniger, warum die Zeugen für den Evangelisten sich
ebenfalls in Anonymität hüllen, da sie doch kein Gesamtzeugnis zum
Ausdruck bringen. Freilich haben nach H. Andreas und Philippus
gerade dadurch, das sie ihre Namen verhüllt haben, Sorge dafür
getragen, daß man sie kennen kann (S. 49) ; aber man muß doch
sagen, daß sie damit keinen sonderlichen Erfolg gehabt haben, wenn
es erst im Anfang des 20. Jahrhunderts dem Scharfsinn eines Theo-
logen gelang, die Welt über ihre Absicht aufzuklären.
Ueber die zweite Schrift kann ich mich kürzer fassen. Auch
Horn nimmt an, daß Kap. 21 ein zu Lebzeiten des Apostels Johannes
geschriebenes Nachtragkapitel sei. Aber nach ihm ist es, wenn auch
nicht unmittelbar aus der Feder des Johannes geflossen, so doch in
seinem Auftrag und auf Grund seiner Erzählung von Männern nieder-
geschrieben, die ein Urteil über die Geschichtlichkeit des johannei-
schen Berichtes haben konnten (S. 77). Er nimmt an, daß dies die
ephesinischen Presbyter waren, daß unter jenen Männern auch Augen-
792 Gott sei. Ans. 1906. Nr. 10
zeugen gewesen seien und nennt vermutungsweise eben die Apostel,
die Haussleiter für die Verfasser des Kapitels erklärt (S. 29 Anm. 5).
Horn setzt sich vorzugsweise mit fremden Meinungen auseinander,
am eingehendsten mit der Rohrbachschen Hypothese, daß Kap. 21
eine Umgestaltung des verlorenen echten Markusschlusses sei. In der
Kritik dieser Hypothese scheint mir H. in manchen Punkten Recht
zu haben, aber seine eigenen Ansichten lassen sich nicht diskutieren.
Wenn er meint, das Schlußkapitel sollte >die unbedingte, aber ge-
segnete Abhängigkeit der Jünger von ihrem souveränen Herrn < ver-
anschaulichen, und erklärt, in der Erzählung des Fischzuges zeige
sich »wie erforderlich, aber auch wie gesegnet es sei, wenn eben die
Jünger alles Eigenwählen dem Willen ihres Meisters unterordnen«,
so mögen solche Betrachtungen von der Kanzel herab vielleicht der
frommen Einfalt erbaulich klingen, aber mit wissenschaftlicher Exe-
gese haben sie nichts zu tun.
Wihnersdorf bei Berlin P. Corssen
Haas LIetmmui, Apollinaris von Laodicea and seine Schole.
Texte und Untersuchongen. I. Tubingen, J. C. 6. Mohr (F. Siebeck) 1904.
XVI u. 323 S. 8». 9 Mk.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften hat vor 10 Jahren
die Sammlung und Untersuchung der Hinterlassenschaft des ApolU-
naris als Preisaufgabe gestellt, und dadurch H. Ldetzmann anger^
diese ebenso große Anforderungen an den Bearbeiter stellende wie
dringend notwendige Arbeit zu wagen. Dräsekes Monographie über
ApoUinarios von Laodicea 1892 hatte mehr Verwirrung als Klarheit
geschaffen; hier galt es, durch die vorsichtigste Verwertung des
Ueberlieferten einmal erst sichere Grundlagen zu schaffen, die auf
Apollinaris und seine Schüler zurückgehenden Texte in zuverlässiger
Gestalt, soweit das bei solchen Fragmenten möglich ist, vorzulegen, an
der Hand dieser Quellen zu prüfen, wie weit die kirchlichen Bericht-
erstatter über Apollinaris und seine Schule Glauben verdienen, die
> Jagd« aber nach anonymen oder pseudonvmen Schriften des 4. Jahrb.,
die vielleicht apolllnaristischen Ursprungs sein könnten, der Zukunft
vorzubehalten.
Im Unterschied von G. Voisin, der 1901 in seinem Werke
TApoUinarisme mehr literar- und dogmengeschichtliche Unter-
suchungen anstellti bat sich Lietzmann in erster Linie bemüht, die
vorhandenmi »apoDinaristischen« Texte in einer Mustenrasgibe xn
H. Lietzmann, Apollinaris und seine Schule 793
edieren. Von entbehrlichem Ballast bat er diese, ohnehin bei der
Sprödheit des Stoffes nicht bequem zu genießende, Sammlung frei-
halten können, weil gleichzeitig die Göttinger Gesellschaft in ihren
Abhandlungen (phil.-hist. Klasse N. F. VII 4) die von Flemming und
Lietzmann bearbeiteten syrischen Uebersetzungen apoUinaristischer
Texte mit den Versuchen griechischer Rekonstruktion erscheinen ließ.
Hier, S. 166—322, sind es ganz überwiegend griechische Urtexte, die
uns geboten werden, nur Weniges ist blos in lateinischer oder syrischer
bzw. arabischer — dies wird uns in deutscher Sprache zugänglich
gemacht — Uebersetzung vorhanden; doch haben wir blos einen
ersten Band vor uns, der die dogmatischen Schriften und Fragmente
von solchen enthält ; ein zweiter wird (außer den Registern) die exe-
getischen Fragmente und >eine etwaige Nachlese« bringen; von
einer Darstellung der Theologie des Apollinaris scheint L. in diesem
Zusammenhang Abstand zu nehmen. Von den 4 Kapiteln, die in
unserem Bande den Texten vorangehen, bildet das letzte (S. 129 — 163)
die zu einer wissenschaftlichen Textausgabe unentbehrliche Einleitung;
die Schriften, die nachher folgen, werden in der gleichen Reihenfolge
wie im zweiten Teil genannt, charakterisiert, soweit es angeht, der
Gedankengang aufgezeigt, die Anhaltspunkte zur Bestimmung von Ab-
fassungszeit, Veranlassung, Tendenz, eventuell der Adressaten, und was
über den Zustand ihrer Erhaltung zu sagen ist, mitgeteilt. Vielfach
empfängt dies Kapitel eine Ergänzung aus UI (S. 79—128), wo in
einheitlicher Darstellung die Ueberlieferung der apoUinaristischen
Schriften beschrieben wird. Klar wird da unterschieden zwischen
den Fragmenten, welche uns Zeitgenossen in direkter Polemik gegen
den Apollinarismus gerettet haben, und den weit zahlreicheren, die
den Interessen des monophysitischen Kampfes ihr Fortleben verdanken,
teils, wie bei Theodoret, herangezogen unter ihrem echten Namen,
um den Monophysitismus als Nachgeburt einer längst abgetanen Hä-
resie zu diskreditieren, teils, wie bei Cyrill, unter den hochtönenden
Namen orthodoxer Größen wie Gregorius Thaumaturgus, um die eigne
Theologie damit zu stützen. Also hat inzwischen der Kunstgriff der
Apollinaristen, die Bücher ihrer Lehrer unter fremden Namen in An-
sehen zu erhalten, oder geradezu unter den Namen unangefochtener
Orthodoxer aus älterer Zeit ihre Lieblingssätze in neuer Darstellung
vorzulegen, Erfolg gehabt: zum ersten Mal wird i. J. 452 ein Zweifel
an der Echtheit dieser > Zeugnisse < laut, und mit Leontius nach 500,
dessen Werk Kaiser Justinian gründlich fortsetzt, beginnt die Auf-
deckung dieser dem Ansehen des Monophysitismus nun natürlich blos
noch schädlichen apoUinaristischen Unterschiebungen. Bis in 7. Jahrh.
(Lateransynode 649, 6. ökumenische zu Constantinopel 680) reichen
794 Q(Ht gd. Aitt. 1906. Nr. 10
die Enthüllungen dieser Art: alle Handschriften, die, wenn aoch bios
indirekt, in die Periode der monophysitischen und monotheletisdien
Streitigkeiten zurückreichen, insbesondere Florilegien, müssen auf
etwaige Apollinariszitate durchsucht werden.
Was uns nun Lietzmann an Fragmenten, bereits gedruckten und
ungedruckten, liefert, erweist den Herausgeber als würdigen Schüler
von Hermann Usener. Mit gleicher Sorgfalt wird das Wichtigste und
das Unbedeutendste behandelt, immer und bei allem die best^
Quellen aufgesucht, und kein Mittel ungenutzt gelassen, um dem
Leser den Ueberblick über das Verhältnis der Texte zu den bisweüeo
ziemlich frei mit den Worten des Gegners umgehenden Zeugen zq
erleichtem. Für den Apparat an Varianten gilt der yerständige
Grundsatz, daß hier nur sachlich interessante Notizen hergehöre;
was ich kontrolieren konnte, rechtfertigt das Vertrauen. Einige un-
klare oder zweideutige Stellen sind ja wohl vorhanden: zu 216,24
fehlt die Angabe, ob das erste oder zweite t6 gemeint sei, ahnlich
306,19 bei xaC, auch 304,1 mußte Y für mind^tens i^v 6 xoptoc
h (?) icv60|jAti ÄYicp iay(t angegeben sein. Die Notizen über Y zn
307,1 (wonach ti^c fehlt) und zu 307,1 f. (wonach es verschoben
ist) stimmen nicht ganz; die Note zu 287,1 gibt einen Sinn nur,
wenn man 8 f. in 4 f. verbessert; ob zu 210,22 C wirklich ooxoc td
liest und nicht oStcoc td, oder 208,25 Seiv und nicht wie Zacagni
sagt §£i? In dem Text des Antirrheticus Gregors von Nyssa hat L.
einzelne Versehen des ersten Herausgebers (Zacagni) »stillschweigend«
verbessert; in mehreren Fällen wünschte ich doch, daß er sich darüber
geäußert hätte, weil Andere geneigt sein werden Zacagnis Text za
bevorzugen oder wenigstens genau wissen möchten, ob er ohne hand-
schriftliche Unterlage verfahren ist, z. B. 208, 19, wo xstTssan^U^srai
(Zac.) sicher richtig ist (statt L. xataYYdXXetai), oder 208,28 oi>v6{l-
;csoo5<3a (Zac.) neben oo|i.9ceoo!>oa (L.) 211,8 f. em{Lvi2odi2a»|uda
(Zac.) St. -oö(uda (L.), vgl. auch 208,12. 209,11. 211,14. Denn
daß sich auch Lietzmann verschreiben kann, zeigt sein oove'pcetv im
Text 208,26 statt oovsveYxeiv, von den Accentfehlem 210,5. 218,26.
274,10 und dem sehr fatalen xr.org 236,35 statt xuotq sowie den
falschen Anführungsstrichelchen 304, 9 f. oder irreführender Inter-
punktion (z. B. das Komma vor obra 305, 5) zu schweigen. Ich be-
daure, daß L. nicht kurze Anmerkungen, die seine Auffassung vom
ursprünglichen Text gegenüber Korruptionen rechtfertigen, in seinen
Apparat aufgenommen hat, etwa so wie es in der neuen Berliner Aus-
gabe der Kirchenväter und in einigen Bänden der Wiener (Tertullian!)
mit großem Geschick gemacht worden ist: die Hinweise auf F&-
rallelstellen, die in einem derartigen Kommentar nie fehlen werden
H. Lietzmann, Apollinaris and seine Schale 795
and bei einer Fragmentensammlung das Wichtigste sind, können doch
nicht als erschöpfend gelten; bei den notierten Bibelstellen habe ich
sogar größere Lücken wahrgenommen. Z. B. 288, 29 fehlt I. Tim.
1,7, 287,5 Rom. 16,17, 291,25 Gal. 6,16, 303,23 I. Tim. 6,20. Zu
304,1 war das ttjv Sixaioa6vir]v und h icveGpiaTi als Paraphrase von
I. Tim. 3, 16 ISixaicoth] h icve6|iati kräftig zu kennzeichnen. Hätte L.
das bemerkt, so würde er das unentbehrliche Komma vor xal 303, 26
wohl nicht fortgelassen, dagegen die Streichung des ^v vor Soxev als
Wiederholung der Schlußbuchstaben von SixaiooovYjv erwogen haben;
jedenfalls soll das 6|ioXoYetv 303,25 zwei Objekte erhalten.
In der Konstituierung des Textes bei verschiedener Ueber-
lieferung wird man in den meisten Fällen ohne Bedenken L. bei-
treten ; daß noch verdorbene Stellen in seiner Edition übrig geblieben
sind, wird er sich selbst nicht verhehlen. Warum er zwar 210, 15
nicht mit H oaitooatdcoc (st. oaiKooat^coc Zacagni) schreibt wie 296,21.
305, 11, ist mir unklar; 210, 1 würde ich erst recht mit H 6&ifvco|ioo&vT)c
statt i'{y(ü^. wählen, da hier nur ein (ironisches) Lob angebracht ist;
aus dem guten Gedanken des Apollinaris, den Gregor sofort formu-
liert, daß Gott nicht eine seelenlose odpg erhalten haben kann,
folgert er ja dann bequem die Vollkommenheit des vom Logos ange-
nommenen Menschen. Die Zeile 209,16 hätte ich fortgelassen, da
sie das Endstück des vorhergehenden Satzes darstellt; 303,20 mag
s^ifteiac pure Konjektur von Y sein, es gehört aber doch in den Text,
weil l7ci^|iiac Unsinn ergibt. 307, 1 sollte ebenfalls mit Y Sia toö
o6oapxä>o^ai statt Sia zh gelesen werden, 306,24 halb nach Y icpic
iaoTÖv statt icpöc aotöv; 305,7 halte ich onsSiga) aller Handschriften
für echt (die avtiX^Y^vtec t(i> \6^i^ rufen das dem Logos zu!), oics-
SdgaTo bei c ist matte Erleichterung. 305,10 wird man mit (lövov,
das dem orthodoxen Schreiber in die Feder floß, sowie der Name
des Samosateners erklang, doch nichts anfangen können, Y streicht
es mit Recht, (was noch keine Rechtfertigung für seinen gescheiten
Ersatz |i^ t6v ist); 303,5 dürfte auch ßXaofYjitia (vgl. 307,12) dem
ßXao(p7i(tt(üv vorzuziehen sein. 168,4 (vgl. 132 f.) verbessert L. den Un-
sinn der codd. VM, die Gegner führten einen Logos ein ö|ioto>c t$
xata Tcpoyopdv tj Siavotav o&8^ [tt^ OÄoatAoei o^k [iöviQ ; es müsse jiovg
heißen; weder Persönlichkeit noch ewige Dauer schrieben die
Ketzer dem Logos zu. Auf 169,25 z. B. könnte sich L. zu Gunsten
dieser Fassung berufen; nur ist diese |ioviQ doch etwas gar zu kühn
in einem Abschnitt, wo Alles von (lovo^evu^c, (tövoc, (lovdc ertönt: sollte
nicht gegenüber 167,15 [itdc xal {iövTjc oSoyjc tfjc v. ftpYjoxeiac auch
lediglich für die oTcöotaoic des Xö^oc dasselbe (tfa xal jiövr] in An-
spruch genommen werden? Unannehmbar daucht mir die Konjektur
796 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
169,21 (= S. 133), zwischen TtatdXaßev "EXXtJvcov iolßetav und rijv
'looSaicov aniotiav k^i^iioaxo für das überlieferte, allerdings recht stil-
lose inl taonjv 07cd0Tp6(|)sv zu setzen: in aTcdnjv oTc^otp. Denn stil-
los ist auch das ohne eine dritte Person wie Heiden und Juden:
sollte nicht vielmehr iid zabrqy 6ffdotpe(|)6V zu streichen sein als alte
Glosse, die das Annehmen heidnischer Gottlosigkeit zensieren wollte
im Sinne von II. Petr. 2, 22 als Rückkehr des Hundes zu seinem
Gespei?
Manche Frage ähnlicher Art wird sich leicht beantworten lassen,
wenn erst die vollständigen Register vorliegen und die reichen Ueber-
reste aus den Bibelkommentaren des Apollinaris im 2. Bande ebenso
musterhaft wie hier die dogmatischen Fragmente publiziert sein
werden.
>Untersuchungen<, die auch ganz unabhängig von den Quellen
hätten veröffentlicht werden können und die namentlich von denen
gründlich gelesen werden sollten, die den öden Weg durch die
Wüstenei apollinaristischer Spekulation scheuen, bieten die Kapitel I
und U in unserm Band. Die Ueberschrift des ersten, > Politische
Geschichte < ist nicht gerade glücklich, während die des zweiten,
> Quellen und Chronologie c den Inhalt genau umschreibt: Kap. I
erzählt die Geschichte des Apollinaris und der von ihm in der Kirche
hervorgerufenen Erschütterungen. Vielleicht, so denkt man beim
Lesen manchmal, stünde Kap. I besser hinter H, oder auch beide
hinter den Quellen des 2. Teils — denn durch Verweisung auf die
dort abgedruckten Stücke hätte sich z.B. S. 43— 45 Manches rascher
erledigen lassen, und woher das Wissen des Verfassers über die
Jugendgeschichte des Apollinaris S. 1— 3 stammt, erfährt man erst
in Kap. IL Daß auch Kap. IH, die Geschichte der Ueberliefernng,
wertvolle Beiträge zu der »politischen Geschichte< liefern muß, ist
jedem Kenner der kirchlichen Kämpfe des 4. Jahrh. von vornherein
klar. Und der Historiker Lietzmann verdient nicht minder Aner-
kennung als der Philolog. Nicht daß er überall Neues vortrüge
— in der chronologischen Einordnung der Basiliusbriefe schließt er
sich durchweg an Loofs an — , aber er hat sich mit der Kirchen-
geschichte jener Zeit aus den Quellen gründlich vertraut gemacht,
geht z. B. in der Verwertung der Briefe und carmina Gregors von
Nazianz seine eignen Wege und weiß, wie etwa in der Darstellung
der Zustände in Antiochien seit der meletianischen Spaltung, die
maßgebenden Momente scharf herauszuheben.
Es liegt an der außerordentlichen Schwierigkeit der Materie,
wenn in diesen Partien öfter Einwendungen gegen Lietzmanns Re-
sultate erhoben werden können. Ein bloßer Schreibfehler wird 76,1
H. Lietzmann, Apollinaris and seine Schule 797
>Theophilus< für Timotheus verschuldet haben, ebenso 82,35 >fünftenc
Jahrhunderts statt sechsten, und 92,21 Synode von 428 statt 448.
Encyclicon S. 92, 28 statt Encyclion wird dem Korrektor, dem über-
haupt mehrere Versehen entgangen sind, zur Last fallen, und für
Lesarten wie Sirmondi, Edyssa, Scurialensis, scizziert würde ich den
Vf. so wenig verantwortlich machen, wie es ein Unglück ist, wenn
er den guten Griechen Ephraimios, Bischof von Antiochien konstant
Ephraem schreibt, den berühmten Syrer aber Ephraim. S. XV soll
Theodosius noch 378, vor 1. Januar 379, Kaiser geworden sein, er
ist's aber erst im Januar 379 geworden. Mehr komisch berührt es,
wenn der Tod des Apollinaris zwischen 388 und 395 angesetzt wird
unter Berufung auf das Zeugnis des Hieronymus, der ihn sub Theodosio
imperatore sterben läßt. Da das Zeugnis des Hieronymus anno 392
niedergeschrieben worden ist, fallen die Jahre zwischen 392 und 395
wohl fort, und der alte Ansatz >um 390« bleibt in Ehren. Beharrlich
hat L. es verschmäht, eine Vermutung über das Geburtsjahr des Apoll,
zu äußern, ein wenig zu seinem Schaden; denn etwas rasch stellt er
uns S. 2 Vater u'nd Sohn Apollinaris schon als die Wortführer der
orthodoxen Partei in Laodicea unter Bischof Theodotus vor: dieser
hat zwischen 332 und 335 bereits einen Nachfolger gehabt, demnach
käme jene Exkommunikation der beiden ApoUinare durch Theodotus
um 330 zu liegen. Der Jüngere, unser Held, war damals Lektor (6
waic, ÄvaYvoxjTTfjc Stt) — und doch bereits der Wortführer? S. 4 em-
pfiehlt L. die Annahme, Apollinaris sei 360 von den strengen Nicaenem
in Laodicea zum Bischof erhoben worden an Stelle des abtrünnigen
Georg, den Acacius durch einen in seinem Sinn Oesinnungstüchtigeren,
den Pelagius ersetzt hätte, sodaß Laodicea nun zwei Bischöfe besaß.
>In der Metropole Antiochia hatte es seit 330 bereits so ausgesehene fügt
L. hinzu ; in Wahrheit stellt sich die Zweiheit der Bischöfe dort erst
361 ein, und der jüngere Apollinaris als Bischof einer Gemeinde, in
der — doch bestimmt noch i. J. 362 — sein Vater als so viel amts-
älterer Presbyter funktionierte, kommt mir nicht natürlich vor. Be-
darf übrigens die Erklärung des Basilius ep. 224,2, er habe etwa
i. J. 350 einmal an Apollinaris geschrieben, aber als sie beide noch
Laien waren, in diesem Zusammenhang gar keiner Erwähnung? Bios
dem Sokrates zuliebe , dem ja L. S. 45 zu meiner Verwunderung
unehrliche Benutzung seiner Quellen zutraut, würde ich das Jahr
360 nicht als Epoche in der apollinaristischen Bewegung, am wenig-
sten als das Jahr der Ordination des Apoll, zum Bischof von Laodicea
festlegen; alles spricht für einen späteren oder einen viel früheren
Termin. S. 13 f. wird die Reise des Silvanus von Tarsus mit Ge-
nossen nach Sicilien und Bom ins J. 367 verlegt; da sie aber bei
798 Gott gel Anz. 1906. Nr. 10
Liberius noch gute Aufnahme fanden und dieser im Herbst 366 ge-
storben ist, wird die Verbesserung in 366 unausweichlich (audi auf
S. XIV). S. 124 (vgl. S. XII) wird das Religionsgespräch zu Con-
stantinopel, bei dem Hypatius von Ephesus den SeTerianem ihre
orthodoxen Zeugnisse als apoUinaristische Fälschungen entwand, auf
553 datiert, S. 92 heißt es statt dessen: Konzil zu Constantinopd
von 531. Nach den Konzilienakten bestände die letzte Zahl zu Recht,
aber 533 wird das Richtige sein, s. Kugener im Oriens Christianas
II 1902, 279.
Daß Gregor von Nyssa zu dem Konzil von Ancyra gefesselt
transportiert worden ist, will Basilius 225, 1 schwerlich sagen, er be-
zeugt nur militärische Eskorte; für die Berechnung der Episkopats-
jahre des Theodotus von Antiochien den Theophanes S. 78 auch nor
zu nennen, heißt ihm zu viel Ehre antun, da er doch die beiden
Vorgänger des Theodotus, den Porphyrins und Alexander ein&ch
unterschlagen hat: 419 — 427 ist für Theodotus ein im Anfang wie
Ende sehr wenig glaubhafter Ansatz.
Befremdlich wirkt die Sicherheit, mit der L. S. 143 Tillemonts
Identifizierung des nostrum ipsorum episcopum Diodorum im Brief
der verbannten Bischöfe in Diocaesarea mit dem Metropoliten der
Provinz, Diodor von Tyrus >äber jeden Zweifel erhaben« findet. Dio-
caesarea hat im 6. Jhrh. nachweisbar eigne Bischöfe, ist eine Stadt
in Galilaea (= Sepphoris), die als solche zur Provinz Palaestina II
gehört: was geht die Diocaesareenser der Metropolit von Phoenicia I
an? Die Verwandlung des Tarsensem in Tyrensem wäre an der
fraglichen Facundus-Stelle eine weit leichtere Hebung des Anstoßes.
Es kann nicht wohl an zwei verschiedene Personen gedacht sein (ab-
stinuisset!); den von Apollinaris bedrohten Diodorus bezeichnen sie als
einen durch die Gemeinschaft mit Athanasius hinreichend beglaubigten
und vielleicht um sie durch persönliche Wohltaten verdienten (ob darom
nostrum ipsorum episcopum?) Mann: den Tarsenser hat aus einer
sehr begreiflichen Sehnsucht nach Zeugnissen zu Gunsten der 3 >Ka-
piteh Facundus in seinen Text hineingelesen. S. 76 f. bemüht sich L.,
für die Homilie des Chrysostomus de anathemate den Spätherbst
386 als Abfassungszeit durchzusetzen. Die Hypothese von F. Cavallera
(le schisme d'Antioche) und von Ed. Schwartz über Flavian als Ver-
fasser dieser sicher nicht chrysostomischen Homilie konnte L. noch
nicht bekannt sein; aber es wundert mich, daß er die auf Apoll, be-
zügliche Stelle daraus abdruckt (verbessere auch Sid tootfov in Sii
TooTo) mit dem Schluß t) Sta HaoXtavöv t] 'ATcoXXivdpiov X^ovtec und
sie übersetzt: > damit meinen sie den Paulinus oder den ApoUinaris.«
Wenigstens eines Wortes hätte das HaoXiavöv doch bedurft; mir
H. Lietzmann, Apollinaris and seine Schnle 799
drängt der Zusammenhang, zumal der darauf folgende dunkle Satz
über die xaivoto^tCa ixdotoo to6To>v — übrigens zur Beleuchtung von
14 n. 1 mit S)caotoc (nicht Ixdtepoc) zu verwenden! — immer wieder
den Verdacht auf, es sei gar nicht von Paulinus, sondern von einem
der indirekten Schüler des Paulus von Samosata, die man ja Paulianer
nannte, Arius oder Aetius oder Eunomins die Rede: jener Paulinus
eignete sich doch gar zu übel zum Seitengänger des Apollinaris!
S. 82 erblickt L. den Gipfel des gegen die Schriftstellerei des
Apollinaris gerichteten Fanatismus in der Vertilgung selbst seiner
Streitschrift wider Porphyrins, obwohl darin doch schwerlich Erheb-
liches an Ketzerei gestanden haben werde. Nun, bekanntlich sind
alle Streitschriften gegen Porphyrins von der Kirche vertilgt worden,
seitdem Porphyrins' Werk selber verbrannt worden war, in der
klugen Berechnung, daß das Gift des Porphyrins nur dadurch ganz
aus der Welt gescha£ft werde. Dann aber darf keine Nichtachtung
des Apoll, aus dem Verschwinden dieses einst »so gefeierten Werkes <
erschlossen werden. Ich erwähne das als einzige Korrektur, die ich an
dem 3. Teil von Lietzmanns Untersuchungen anzubringen wüßte; gerade
was er über die Geschichte der Ueberlieferung feststellt, über die
Quellen, aus denen das bescheidene Wissen der Späteren stammt, über
die Kirchengeschichte des Timotheus von Berytus, auch seinen Pinax,
der vielleicht die Vorarbeit zu einer geplanten Gesamtausgabe der
Schriften seines Meisters Apoll, sein sollte, ist ein Muster literar-
geschichtlicher Analyse.
Möchte nur der 2. Band nicht zu lange mehr ausbleiben, und
Lietzmann sich doch noch entschließen, in einem dritten Bande die
Darstellung der Theologie des Apollinaris anzufügen. Denn die Ge-
schichte dieses Mannes muß unmittelbar über den wiederaufgedeckten
Ruinen apollinaristischer Bauten auferbaut werden ; seine Schule lebt
ja vollständig von ihm, und durch einen größeren Zusammenhang,
den man hier aufsucht, würde man, fUrchte ich, das Interesse fär
die Einzelheiten und Eigentümlichkeiten des Zusammenhanges in dem
bunten Garten apollinaristischer Hinterlassenschaft gefährden.
Marburg i. H. Ad. Jülicher
Ben6 DnsMad, Notes de Mythologie Syrienne. II— IX et Index. Paris
1906. Ernest Leroux. (S. 67—189).
In diesem zweiten Teil seiner syrischen Mythologie hat Dussaud
wiederum — wie in dem ersten, der GGA. 1904 S. 282 £f. ausführlich
rezensiert ist — eine große Fülle von zerstreutem Material ge-
sammelt und durch zahlreiche Abbildungen illustriert, wofür allein
schon ihm jeder Forscher auf diesem Gebiet dankbar sein wird. Da^
800 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
ZU kommt noch, daß auch hier neue Probleme aufgeworfen, bereits
behandelte Probleme neu beleuchtet und alte Erkenntnisse neu be-
gründet werden. Da freilich unser Wissen von der syrischen Mytho-
logie so gering ist und da wir oft auf die recht unsichere Deutung
von Bildwerken beschränkt sind, so kann der Widerspruch nicht
fehlen. Häufig wird man Fragezeichen setzen zu dem, was der Ver-
fasser als gewiß oder wahrscheinlich vorträgt, immer aber gleich
dankbar sein für die Belehrung wie für den Widerspruch.
In Kap. II (S. 67—71) bespricht Dussaud eine verloren gegangene
Statue des Jupiter Heliopolitanus der Sammlung Garimberto. Das
mit symbolischen Ornamenten und mit Bildern geschmückte Gewand
des Gottes bietet mancherlei interessante Einzelheiten. Aus den
darauf dargestellten Greifen wie aus anderen Nachrichten dürfen wir
vielleicht schließen, daß der Sonnenwagen nach der in Syrien —
nicht in Indien, wie Philostratus (Vita Apollonii III 48) behauptet —
geläufigen Anschauung von Greifen gezogen wurde, wie nach der
israelitischen Vorstellung Kerube vor den Himmelswagen gespannt
sind.
Kap. HI (S. 72—80) handelt von dem Gottesnamen Bei in Syrien.
Bei ist ursprünglich ein mesopotamischer Gott, der speziell in Nippur
verehrt, dann aber mit Marduk verschmolzen und zu einem Sonnen-
gott gemacht wurde. Auf syrischem Boden ist Bei ein fremdes Epi-
theton geblieben, das den Lokalnumina beigelegt ist oder deren Namen
verdrängt hat. In Palmyra gibt es keinen Gott Bei, sondern Bei ist
bloßes Epitheton und als Aequivalent für Schamasch aufzufassen, da es
in gleicher Weise neben den Namen der beiden Sonnengötter, Malakbel
und Jarchibol, steht. Denn während 'Aglibol ein Mondgott ist, sind
Malakbel, der Stammgott der Banü-Taimi, und Jarchibol, speziell
der Gott der Quelle Ephka, Sonnengötter wie der Bei von Edessa
und der von Apameia. Auch Dagon, über den sich Dussaud aus-
führlicher verbreitet, ist weder Fischgott noch Getreidegott, sondern
Sonnengott so gut wie der Melkart von Tyros und der El-Eronos von
Byblos.
In Kap. IV (S. 81— 116) unterscheidet Dussaud zunächst (§ 1)
scharf zwischen dem syrischen und dem phönikischen Pantheon. Def
Gott Hadad gehört nicht zu diesem, sondern zu jenem. Ebenso ist ^
Atargatis eine syrische Göttin, deren Name aus Ischtar und Ate —
eine analoge Bildung haben wir in dem Doppelnamen Hadad-Ramman
— zusammengesetzt ist und die nicht zu verwechseln ist mit der
phönikischen Astarte. Das Attribut des Hadad und der mit ihm ver-
schmolzenen Götter ist der Stier, während der Löwe das Attribut
der Atargatis und ähnlicher Göttinnen ist. Andererseits finden wir
Ren^ Dussaud, Notes des Mythologie Syrienne 801
den Löwen als Sonnensymbol und den Stier als Mondsymbol, das
erst unter griechischem Einfluß nach Syrien gekommen ist. Beiläufig
leugnet Dussaud schwerlich mit Recht, daß Europe und Astarte
irgend etwas mit einander zu tun hätten. Daran schließt sich die
Erörterung zweier höchst interessanter Reliefs von ed-Duwair (bei
Tyrus) und von Qasr el-Abiad (e^-Safä). — In § 2 wendet sich
Dussaud gegen die These Lajards, der fälschlich in der Zypresse ein
Symbol der orientalischen Venus gesehen hat. Die Zypresse dient
vielmehr in den mythologischen Abbildungen zur Bezeichnung der
himmlischen Meta. — In § 3 bespricht Dussaud die Darstellungen
der Atargatis und verwandter Gottheiten. — § 4 handelt von Simios
und Simia. Simios (= Mercurius) war neben Hadad (= Jupiter
Heliopolitanus) und Atargatis (= Venus) die dritte Hauptgottheit
der Syrer. Der Sohn der Atargatis, den der Lyder Xanthus 'Ix^6c
nennt, ist Simios. Was Diodorus Siculus II 4 von der Semiramis er-
zählt, bezog sich ursprünglich auf die Simia, deren Name verderbt ist.
In Kap. V (S. 117 — 130) weist Dussaud zunächst auf die Votiv-
hände hin, die dem phrygischen Gotte Sabazios geweiht sind: die
drei ersten Finger geöffnet, die beiden letzten geschlossen. Sie
symbolisieren die Macht des Gottes. Man weiht solche Hände, um
der Gottheit zu danken oder um sich die Erfüllung eines Wunsches
zu erbitten. In der römischen Epoche sind Votivh'ände, deren Finger
sämtlich geöffnet und die mit Inschriften versehen sind, auch im sy-
rischen Kult nachweisbar. Im Anschluß an Cumont nimmt Dussaud
einen historischen Zusammenhang an zwischen den Händen, die man
dem Sabazios, und denen, die man dem Jupiter Dolichenus darge-
bracht hat. Es wäre lehrreich, das Problem der >Hand Gottes< und
der Votivhände in größerem Zusammenhang zu verfolgen. Was
Dussaud über diesen Gegenstand ausführt, erschöpft nicht im Min-
desten die Fülle von Material, die uns in den Abbildungen und in
der Literatur benachbarter Völker überliefert ist.
In Kap. VI (S. 131-— 155) behandelt der Verfasser das phöniki-
sche Pantheon und geht zunächst auf den Bericht des Philon Byblios
ein, dem er sehr skeptisch gegenübersteht Er weist gewiß mit
Recht die Annahme zurück, daß dieser ein phönikisches Original
übersetzt habe, gibt aber zu, daß Philon phönikische Traditionen ge-
kannt habe, die jedoch mit zeitgenössischen Ideen, d. h. aramäi-
schen und griechischen Elementen, stark durchsetzt seien. Wenn
man so auch der Hauptthese Dussauds im Allgemeinen zustimmen
wird, so scheint doch manches Einzelne wenig stichhaltig, wie z. B.
die Ableitung des Ooacöoc von nto >der (erste) Künstler <, oder
[i&Yoc als eine Verderbnis aus Sl'^oq u. a. m. Zum Schluß behauptet
802 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
Dussaud, daß Herakles auf Melkart gewirkt habe und nicht umge-
kehrt, und daß keine Verbindung zwischen Melkart und Melikertes
Palaimon bestehe. Seine Gründe haben mich ebenso wenig überzeugt
wie die von Maass. Ausführlich wird dann noch Eschmun-Adouis,
sein Kult und seine Darstellung behandelt.
In Kap. VII (S. 156—161) leugnet Dussaud mit Recht die Exi-
stenz eines phönikischen Gottes Meiek oder Milk, die man früher,
ohne Beweise dafür zu haben, angenommen hat. Denn die theophoren
Eigennamen, die mit Melek zusammengesetzt sind, reichen dazu nicht
aus. Einen Gott Melek (Molek) kann es schon deshalb nicht gegeben
haben, weil das Wort stets mit dem Artikel begegnet. Ham-molek
ist daher eine Abkürzung für den melek qart von Tyrus, wie hab-ba'al
für den Baal von Tyrus. In einem Schlußabschnitt wendet sich
Dussaud gegen die allerdings nur vermutungsweise von Baudissin
ausgesprochene These, daß die Menschenopfer in eine Zeit des Ea-
nibalismus zurückreichten, wo auch die Götter Menschenfleisch aßen.
Er beruft sich dabei auf die von unseren Theologen viel zu wenig
beachtete Studie von Hubert et Mauss: Essai sur la nature et U
fonction du sacrifice, die im U. Bande der Ann^e Sociologique er-
schienen ist.
In Kap. VUI (S. 162—166) macht Dussaud den Vorschlag, das
viel behandelte ßpa^o des Philon Byblios in ßpa/o zu emendieren
und dies mit dem Gebel Barük, einem Teile des libanon, zu identi-
fizieren, der bei Polybios ßpö/oi genannt wird.
Kap. IX (S. 167—181) sucht aus den Münzen von Adraa und
Bostra Kapitd zu schlagen für den Kult des Dusares. Das Baitylion
— bisweilen sind es drei Baitylien — des Gottes ruht darnach auf
einer breiten kubusartigen Basis, genannt die Ka'aba, die durch
einen calembour des heiligen Epiphanius zu einer Jungfrau, zur
Mutter des Dusares, geworden ist. Bei den Nabatäem hieß sie mit
einem speziell nabatäischen Ausdruck mötab, was mit > Altar < zu
übersetzen ist. Die Spiele zu Ehren dieses Gottes, die Actia Dusa-
ria, sind oft auf Münzen erwähnt. Dusares selbst wird dargestellt
nach dem Muster des zur Römerzeit berühmten Jupiter Ammon.
Einige Zusätze und Verbesserungen und ein ausführlicher Index
schließen den Band, aus dessen reichem Inhalt nur eine kleine Aus-
lese geboten werden konnte.
Kiel Hugo Greßmann
Dutoit, Das Leben des Buddha
Das Leben des Buddha. Eine Zusammenstellung alter Berichte aus den
kanonischen Schriften der südlichen Buddhisten. Aus dem P&li übersetzt und
erläutert von Dr. Jaiios Dutolt« Leipzig 1906, Lotus-Verlag.
Als ich dieses Buch, dessen Besprechung in diesen Anzeigen ich
übernommen hatte, zu Gesicht bekam, war mein erster Eindruck
der, daß für eine wissenschaftliche Kritik hier eigentlich kein Grund
vorlag, weil es sich eben nicht um eine wissenschaftliche Leistung
handelt. Ich dachte sogar daran, das Rezensionsexemplar der Redak-
tion zurückzusenden mit der Bitte mich aus besagtem Grunde der
übernommenen Verpflichtung zu entheben. Bei näherer Betrachtung
und genauerer Durchmusterung ergab sich mir dennoch, daß die ge-
wissenhafte Arbeit Dutoits, dessen Gelehrsamkeit und methodische
Forschung ich aus seiner früheren wissenschaftlichen Schrift >Die
duskaracaryä des Bodhisattva in der buddhistischen Tradition« (von
mir angezeigt in der niederländischen kritischen Zeitschrift Museum^
Juli 1906, Spalte 368 fg.) kannte, ein Totschweigen wissenschaft-
licherseits nicht verdient. Erstens, welchen Zwecken auch diese
aus Uebersetzungen von Pälitexten aneinander gereihte Sammlung
dienen mag, der Zusammensteller und Uebersetzer erweist sich als
ein selbständig arbeitender, philologisch geschulter Gelehrter, der dem
großen Publikum kein Machwerk zweiter Hand, sondern die Früchte
eignen Studiums darbietet, und zweitens könnte eine Anzeige dieser
Catena von Berichten der heiligen Schrift über den Buddhawandel
an sich auch ihren Nutzen haben, insofern sie in einem kritischen
Blatt erscheint, das auch für Andre als Sanskritisten und Pälicisten
vom Fache bestimmt ist.
In der Tat ist das geschmackvoll ausgestattete, mit großen
Lettern auf starkem Papier schön gedruckte, 358 u. XXTTT Mittel-
Oktavseiten zählende Buch auf einen größeren Leserkreis, nicht auf
die Fachgelehrten berechnet. Dieses liest man nicht in dem Vor-
worte des Verfassers (S. V— VI), wo man sich vor allem darüber er-
kundigen möchte. Nachdem D. gesagt hat, daß »in den letzten Jahr-
zehnten eine solche Fülle von wissenschaftlichen wie populären Werken
über Buddha und Buddhismus veröffentlicht worden, daß es fast als
Kühnheit erscheinen möchte, diese so reiche Literatur durch ein
neues Buch zu vermehren«, und sich mit ein paar Worten des Nach-
weises enthoben hat, warum er demungeachtet sich an ein neues
Leben Buddhas herangemacht hat, unterläßt er es völlig, seine Leser
zu belehren, welcher Gattung der betreffenden Werke, der »wissen-
schaftlichen« oder der »populären«, das vorliegende neue Buch zu-
G«ti gel. Abi. 190«. Nr. 10 56
804 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
zurechnen sei. Aus dem Buche selbst können sie sich aber bald Yest-
gewissem, daß diese Sammlung ausgewählter heiliger Texte der
sogenannten südlichen Buddhisten abgefaßt ist, um in weiteren Kreisen
das richtige Verständnis und die Würdigung des Buddhismus %ü
fördern. Das spricht sich schon in der Art und Weise aus, wie die
Uebersetzungen eingerichtet und gehalten sind: vielfach ohne ge-
naue Angabe der übersetzten Stellen nach der Seitenzahl der Aas-
gaben der Originaltexte; ohne Literaturangabe; ohne daß — wenn
nicht ausnahmsweise ein- oder zweimal — bei Meinungsverschieden-
heit der abweichenden Auffassung früherer Uebersetzer ErwähnuDg
getan wird; für gewöhnlich werden diese nicht einmal mit Namen
genannt. Die Erläuterung der alten kanonischen Berichte, von wel-
cher auf dem Titel die Rede ist, ist mager. Sie besteht aus 20
Seiten > Anmerkungen < (S. 319 — 339) und einem 19seitigen erklären-
den > Register < der Eigennamen und technischen Ausdrücke (S. 339
bis 358), welche bei dem Leser so gut wie gar keine Vorkenntnisse
voraussetzen und meistens ziemlich oberflächlich gehalten sind. So
viel vom Standpunkte des Sammlers und Uebersetzers.
Vom Standpunkte des Verlegers ist es klar, daß er das Buch
für propagandistische Zwecke herausgegeben hat. In dem mir zuge-
schickten Rezensionsexemplar fand sich der Prospekt einer deutschen
Uebersetzung der nachgelassenen Schriften von H. P. Blavatsky^),
und am Ende des Buches ist ein zwei Seiten ausfüllendes Verzeichnis
einer Reihe im Lotus -Verlag erschienener Werke theosophiscben
oder neo-buddistischen Inhalts angehängt.
Es sei mir gestattet, in parenthesi mich über diese propagan-
distische Literatur auszusprechen. Ich halte es nicht für gut, daß
wissenschaftliche Indologen tun, als ob die Sache sie nichts angeht
Dafür ist sie von zu großer Bedeutung. Es ist ein nicht zu leugnen-
des Faktum, daß bei den Kulturvölkern Europas und Amerikas es
heutzutage eine philo-indische, teilweise mit schärferer Begrenzung,
philo-buddhistische Bewegung der Oeister gibt, welche auf nicht
Wenige einen großen Reiz ausübt. Diese Bewegung soll man ja
1) Für Manchen, der sich zu den kontemplativen und ekstatischen Uehongen
modemer Theosophen hingezogen fühlen möchte, mag es seinen Nutzen hahen,
folgendes Zeugnis über die tibetanischen Mahatmas dieser Schwindlerin ans
Waddells Lhasa and its mysteries (London 1905, John Murray) .auszuschreiben.
W. erzählt da, wie er sich in Lhasa mit dem Regenten Tibets, dem Ti Bem-
pochd, unterhalten hat. »Regarding the so called 'Mahatmas', it was important to
elicit the fact that this Cardinal, one of the most learned and profound scholars
in Tibet, was, like the other learned Lamas I have interrogated on the subject,
entirely ignorant of any such beings. Nor had he ever heard of any secrets of
the ancient world having been preserved in Tibet« (S. 409 fg.).
Datoit, Das Leben des Buddha 805
nicht unterschätzen. Sie läßt sich am einfachsten begreifen, wenn
man bedenkt, wie wenig die alte, anthropozentrische, einen mehr
oder weniger anthropomorphen Gott bedingende Naturanschauung,
wie sie in den unter sich nahe verwandten jüdisch-christlich-moham-
medanischen Dogmen vorliegt, zu einer Weltanschauung paßt, welche
mit den Fortschritten der modernen physischen, chemischen und bio-
logischen Wissenschaften im Einklang sein soll. Es existiert bei
Manchen ein religiöses Bedürfnis, das von den herrschenden occi-
dentalischen Glaubenslehren und Glaubensdogmen nicht oder nicht
genügend befriedigt, zur indischen Theosophie und Mystik sich
flüchtet, um den alten, überkommenen Glaubensinhalt entweder zu
ersetzen oder zu ergänzen. Wie einmal, nach Alexanders des Großen
Eroberungen, die Bekanntschaft mit den west-asiatischen Religionen
allmählich eine gänzliche Umgestaltung der religiösen Kulte im Occi-
dent hervorbrachte, um zur Entstehung und schließlich zum Siege
des Christentums zu führen, so fängt in unseren Tagen die grandiose
indische Weltanschauung mit ihren, jeder Zeit und jedes Raumes
spottenden Vorstellungen des Unendlichen an, für viele Gemüter
eine große Anziehungskraft zu haben. Daß diese in mancher Hin-
sicht gerechtfertigte Bewunderung auch leider nur zu oft mit falschen
Ansichten zusammengeht und bedauernswerten Verirrungen und Tor-
heiten Vorschub gegeben hat, ist bekannt. In den Sekten der Neo-
buddhisten und der Theosophen unsrer Zeit herrschen nicht richtige,
sondern phantastische und sektarisch gefärbte Vorstellungen uralter
indischer Weisheit vor. Diesem Uebel und den damit zusammen-
hängenden Schäden für das körperliche und geistige Wohlsein der-
jenigen, welche dem sogenannten indischen Yoga nachhängen, kann
die Verbreitung nüchtern objektiver Tatsachen und die Belehrung
über die indischen Theosophien in historischer Beleuchtung steuern
und dadurch Nutzen stiften. Und wer ist besser im stände, dieses
zu leisten als die Gelehrten vom Fach? Doch gehört diese Ver-
wendung ihrer Kenntnisse und ihrer Arbeitskraft nicht zu ihrer
wissenschaftlichen Tätigkeit, und so gehe ich auf diese Angelegenheit
hier nicht weiter ein.
Ob Dr. Dutoit das schon 1896 als Volume 3 von Lanmans rühm-
lichst bekannter Harvard Oriental Series erschienene, ausgezeichnete
Buch H. G. Warrens Buddhism in Translations gekannt hat, als
er es unternahm, die wichtigsten Zeugnisse über Buddhas Leben und
Wirken aus dem Tipitaka ins Deutsche zu übertragen und zusammen-
zustellen, ist nicht ersichtlich. Ich glaube es kaum; sonst würde er
in den Fällen, wo er dieselben Texte wie jener übersetzt hat, hier
56*
806 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 10
und da einige Uebersetzungsfehler vermieden haben ^). Hat er es
gekannt, so würde er seinem Zwecke bei weitem besser gedient
haben, wenn er anstatt seine eignen Wege zu gehen, dieses eng-
lische Buch ins Deutsche übertragen hätte. Die Warrensche Samm-
lung läßt die neun Jahre später erschienene Dutoitsche Schrift eboi-
soweit hinter sich, als der in der Ghändogya upani^ad (4,16) er-
wähnte ekapad vrajan ratho vaikena cahrena vartcunänah hinter
demjenigen zurücksteht, der als ubhayapäd vrajan raiko vöbhäbkyä^
caJcräbhyäfii vartamänah bezeichnet ist. Während D. nur über den
Buddha berichtet, über den Dharma und den Sangha nur gelegent-
lich handelt, insofern als in seinen, das >Leben des Buddha< be-
tre£fenden Texten davon die Rede ist, verteilt sich der Inhalt des
Warrenschen Werkes, wie es sich gehört, über jedes der drei ratnäni;
110 Seiten sind dem Buddha, 281 der Lehre, 97 der Mönchsgemeinde
gewidmet. Auch sind die Erläuterungen Warrens reichlicher, ein-
gehender und gründlicher als die ziemlich oberflächlichen, manchmal
unbedeutenden Anmerkungen Dutoits.
Noch eme andere Diskrepanz mag hervorgehoben werden. Sie
ist prinzipieller Natur. Während Beide sich auf den Pfilikanon be-
schränken, und die in Sanskrit und Pseudosanskrit abgefaßten heiligen
Texte der sogenannten nördlichen Buddhisten beiseite lassen, be-
trachtet W. das Tipitaka mitsamt den von der orthodoxen Kirche
autorisierten Kommentaren als ein einheitliches Ganze, D. aber will
sich nur an die »alten Erzählungen< halten, wo, wie er im Vorwort
sagt, »uns das Bild Buddhas in seiner Menschlichkeit entgegentritt,
ohne noch viel durch mythisches Beiwerk entstellt zu 8ein.< Eine
konsequente Durchführung dieses Prinzips würde für das Bodhi-
sattvastadium des Lebens des ^ftkyaprinzen uns der einzigen zu-
sammenhängenden Darstellung der betreffenden Ereignisse im Pali
Tipitaka berauben. Sie liegt bekanntlich vor in der sogenannten Ein-
leitung in das Jätaka (1, 47—77 ed. F.), d. h. dem ersten Teile des
kanonisch anerkannten Jätakakommentars, und gehört gewiß nicht
zu den ältesten Schriften. Dennoch hat W. keinen Anstand ge-
nommen, für diese Periode alle seine Berichte dieser »jüngerenc
1) z. B. Samafig. Viläs. 1,45 ap. Dutoit S. 211 ft, ap. Warren S. 91ff. W.
hat Praesentia »while the Lord of the World is entering . . . gentle winds clear . . .
other winds bring . . .< etc., D. Praeterita ; bei D. S. 218 dnd die Worte »be-
trachtete er ihre Verhältnisse« unverständlich, W. (p. 92) besser »with dne con-
sideration for the different dispositions of their mind« ; S. 214 D. »nach religiöseD
Erwägungen zu fragen«, richtiger W. (p. 93) »At this point some would ask the
Blessed One for exercises in meditation«, »Stoff zum Nachdenkenc wfirde der
adäquate Ausdruck sein; köstlich ist (S. 213) die Uebersetznng »Laienbmderc an
einen upäsaka zu bezeichnen.
Dntoit, Das Leben des Buddha 807
Quelle zu entnehmen. Praktisch ist D.s System schwerlich durch-
föhrbar und hat sich ihm auch als solches erwiesen. In den aner-
kannt älteren Teilen der heiligen Schrift, wo der Buddha in zahl-
losen Gesprächen und Lehrreden Punkte der Lehre erörtert oder
autoritative Vorschriften für das Betragen der Mönche gibt, wo er
selbst spricht oder richtiger: loquens inducitur, werden die Ereig-
nisse seiner Bodhisattvaperiode nur gelegentlich erwähnt, und wird
oft nur teilweise auf solche Sachen angespielt. Dieses Material hat
sich D. selbstverständlich als zu dfirftig erwiesen, als daß er auf die
»jüngeren < Quellen völlig hätte verzichten können; das wäre auch dann
nicht angegangen, wenn er jenes Material völlig erschöpft hätte. Er
hat, seiner Theorie zum Trotz, Einiges aus dem Jätakakommentar,
ja selbst ein paar Abschnitte aus einem so späten Werke wie der
Sumangalavilftsini, aufgenommen. Wenn er in seinem Vorwort sagt,
daß er das tat um den Unterschied in der Behandlungsart der
älteren und der jüngeren Quellen klarer hervorzuheben, so ist das
eben nur Selbsttäuschung, wie schon hinlänglich aus der äußerlichen
Form der Darstellung, da beiderlei Berichte unterschiedslos dem ge-
bildeten Laien vorgeführt werden, zu ersehen ist.
Der Strauß, den Dutoit sich also zusammengelesen hat, besteht
aus Folgendem. Für die Bodhisattvaperiode hat er aus dem Majjh.
Nik. die Suttas 12. 26. 36 und 123 verwertet, 111,38 des Aiig.
Nik., aus dem Saiby. Nik. den Abschnitt in, 4 und 5. Drei Texte
entnahm er dem Suttanipäta: in, 1. 2 und 11. Dem Jätaka ent-
lehnte er zwei Abschnite aus der Einleitung, nl. 1,50 Z. 3 ed. F.
Tada kira bis 53 Z. 19 S^nodarh nadi und 1,58 Z. 3 v. u. AtV
ekadimsam bis 66, 1 Räjagaham pavisi, letzteren »etwas gekürzte.
Für den Zeitraum der >Lehrtätigkeit Buddhas« fand er im Vinaya-
pitaka, und in diesem besonders im ersten Buche des Mahävagga
eine Anzahl ihm passender Stellen, diesem entnahm er 1, 1 — 24 und
54; VI,31; Vm,15; dem Cullavagga VI4,9; VII2-4; Xlfg. Dazu
kommen aus den > jüngeren Quellen c das paccuppannavaUhu von
Jät. nr. 285 (11,415 — 417 ed. F.) und Sumangalaviläsini 1,45 — 48;
239—242. Den letzten Abschnitt > Buddhas letzte Lebenszeit und
Tod< bildet die vollständige Uebersetzung des Mahäparinibbänasutta
(S. 221-318).
Ich will nicht mit Dr. D. darüber rechten, in wie weit eine der-
artig zusammengebrachte Blütenlese, in der so viel qualitativ Un-
gleichartiges quantitativ so ungleich verteilt und ohne Ebenmaß
disponiert ist, ein Laienpublikum dazu anzuleiten vermag, sich in
den Geist des Buddhismus und der buddhistischen heiligen Schrift
hineinzudenken, und ich will ihm gerne die Ulusion belassen, daß er.
808 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
indem er einerseits manchen allbekannten und jedem Buddhisten ab
wesentlich zur Buddhageschichte gehörenden Zug entweder beiseite
läßt oder nur kurz berührt, andrerseits mancherlei dogmatischen Ans-
führungen, wie über die dui^ikaracaryä (S. 36-— 50), über die Tugenden
der Mönche (S. 226 — 231), über die »Sphären des üeberwinders« und
die acht >6efreiungen< (S. 261—263) einen verhältnismäQig großen
Platz einräumt, seinen Lesern das ihnen versprochene Leben des
Buddha nach >historischen< Quellen vorführt. Ihm selbst möchte ich
raten, seine gute Schulung und sein Studium des Päii lieber durch
fortgesetzte Forschung zu erweitem und zu vertiefen, um sie seiner
Zeit zum Nutzen der Wissenschaft anzuwenden, als durch populäre
Schriftstellerei Gefahr zu laufen, daß seine Gelehrsamkeit nicht aus-
reift und er im Dilettantismus untergeht.
Uebrigens gebe ich gerne zu, daß, nach verschiedenen Stich-
proben zu urteilen, D. sein Päli ziemlich gut versteht, besser als
das buddhistische Sanskrit, gegen das er in seinen Uebersetznngen
aus Lalitav., Buddhacarita und Mahävastu in seiner Schrift über die
du^karacarya sich arge Verstöße hat zu Schulden kommen lassen^).
Allein in den Geist des Buddbismus und in das richtige Verständnis
der Vorstellungen und Begriffe dieser Religion hat er sich nicht
genug hineingelebt, um jetzt schon dem großen Publikum der Ge-
bildeten ein sicherer und didaktisch tüchtiger Führer in diese fremde
Gedankenwelt zu sein. Selbst für einen Meister ist diese Aufgabe
eine schwer zu lösende. Es ist ziemlich leicht, die indischen Wörter,
welche die termini der Heillehre sind, durch deutsche Wörter wieder-
zugeben, aber bei dem Worte soll sich doch etwas Richtiges denken
lassen! Die Anmerkungen D.s, auf welche ich hier weiter nicht ein-
gehe, sind nicht geeignet, die Begriffe, um die es sich handelt, in
ihrer Bedeutung für die Lehre und ihren Zusammenhang anschaulich
zu machen.
Eine Kritik der Richtigkeit von D.s Uebersetzungen zu liefern,
hat weiter keinen Zweck. Im großen und ganzen sind sie gelungen,
1) Z. B. in seiner Uebersetzang von Lal. ed. Lefm. 248, 13 — 251, 15 sieht
er S. 59 seiner genannten Schrift phtüa für phcUaküf jcUa für jala an, verkennt
er den Dvandva aväkchirotkutuka, and glaubt daß mit väsoblUh, dem Instr. Ton
väsah »Kleid«, »Aufenthaltsorte« gemeint sind ; S. 60 faBt er paratra als param
auf. Sonderbar auch, daß Jemand der so tut, als sei er in der buddhistischen
hdUgen Schrift bewandert, S. 63 einen so gewöhnlichen Ausdruck wie sammiiijana-
prasärana mißversteht und S. 64 die drei yäna^s mit »die drei Beförderungen«
wiedergibt. Das Schönste auf diesem Gebiete bleibt S. 73 »YoUe zwölf Nayutas
Marumenschen sind durch die drei Beförderungen gezügelt« als Aequivalent von
dvädmanayuiä pürnä vimiä marumäntA^äs tribhir yänaih (Lal. ed. LefoL 260, 13).
Anderes siehe in meiner oben (S. 803) zitierten Anzeige im Museum,
Dntoit, Das Leben des Buddha 809
was auch nicht zu schwer war, da die von ihm übersetzten Texte
schon längst in guten, von ausgezeichneten Gelehrten gemachten
englischen Uebersetzungen in den Sacred Books veröffentlicht sind
(Suttanipäta in Bd. X, Mahävagga und Gullavagga des Vinayapitaka
Bd. Xin, XVin u. XX, das Mahäparinibbänasutta Bd. XI), das Jä-
takabuch in der bekannten Version von Cowells Schülern. Es ist
auch schwerlich anzunehmen, daß wer in der Folge eine maßgebende
Uebersetzung dieser Texte für wissenschaftliche Zwecke braucht, das
D.sche Buch den genannten englischen Standardwerken vorziehen
wird. Dazu kommt, daß D. nur sehr selten zu seinen Vorgängern
Stellung nimmt *), was er doch tun würde, wenn er selbst seinen et-
waigen Abweichungen wissenschaftlichen Wert beimäße.
Dabei könnte ich es bewenden lassen, denn über das Buch habe
ich gesagt, was ich zu sagen auf dem Herzen hatte. Ich will aber
diese Gelegenheit benutzen, um einigen alten und irrigen Meinungen
entgegenzutreten, welche noch aus der Zeit stammen, als man die
buddhistische Sanskrit- und Pseudosanskritliteratur kaum oder wenig
kannte, und welche am schärfsten formuliert gerade in den Kreisen
der Nicht-Indologen verbreitet sind.
Ich greife auf den Passus in D.s Vorwort zurück, wo er sagt:
»In diesen alten Erzählungen tritt uns das Bild Buddhas in seiner
Menschlichkeit entgegen, ohne noch viel durch mythisches Beiwerk
entstellt zu sein.« Ich möchte fast sagen: das sind beinahe ebenso
viele Irrtümer als Worte. Die » Menschlichkeit < Buddhas, obgleich
er als Mensch und in der Menschenwelt geboren ist, ist doch nicht
mit dem gewöhnlichen Maßstabe zu messen. In dem ersten von D.
übersetzten Text, einer > alten Erzählung <, erzählt er selbst, wie er,
Bodhisattva, noch vor seiner letzten Geburt, aus dem Tu^ita-Himmel
in den Schoß seiner Mutter einging, von welchem Wunderzeichen
dieses Ereignis begleitet wurde, und wie die Devas und Devaputtas
während der Schwangerschaft über Mutter und Frucht wachten. Der
letzte von D. übersetzte Text, auch >eine alte Erzählung <, das
Mahäparinibbänasutta enthält den Zug: >Als aber der Erhabene zum
vollkommenen Nirvana eingegangen war, entstand zugleich mit seinem
Eingang ins vollkommene Nirvana ein großes Erdbeben, ein furch-
bares, schaudererregendes, und die Donner des Himmels brachen
los€ (D. S. 305). Und daß der >in seiner Menschlichkeit« uns ent-
gegentretende Meister und Lehrer des Saddharma das divyam cak^u^^
besitzt, womit er Götter und göttliche Dinge schaut, bezeugt wieder
1) Genannt werden Rhys Davids (Anm. 3; 71) und FausböU (Anm. 31), auch
sonderbarerweise Neumann (Anm. 83), dessen dumme, nur seine Unwissenheit dar-
legende Erklärung von aotäpanna doch wahrUch der Erwähnung nicht wert ist.
810 Gott gel Anz. 1906. Nr. 10
eine Stelle aus einer von D. Übersetzten »alten Erzihlang«, siehe
S. 288. So viel über die >Men8chlichkeit€.
Ferner ist das »Mythischec in der Buddhageschichte nicht >Bei-
werkc. Es macht vielmehr einen wesentlichen Bestandteil der Tradi-
tion aus, auch der ältesten. In der legendären Geschichte des ^-
kyamuni stimmen die verschiedenen Abteilungen der Kirche (der
nördlichen und der südlichen) bis in Kleinigkeiten überein, and im
großen und ganzen herrscht hier zwischen den verschiedenen >ältereo<
und »jüngeren« Quellen die schönste Uebereinstimmung. Die Wunder-
geschichte des Großen Wesens, das für das Heil der Geschöpfe als
Mensch geboren wird, um, nachdem es selbst den Besitz der höchsten
Wahrheit sich erobert hat, den zum Nirvana führenden Weg zu
lehren, gehört eben zu den wesentlichsten und ursprünglichsten
Dogmen der Kirche. Die »supposed accumulations«, wie Kern,
Manual of Indian Buddhism S. 12 sie nennt, finden sich schon in
den ältesten Teilen des Tipitaka vor. Will man Beweise? Sie liegen
auf der Hand, selbst in den von Dutoit selbster wählten »historischen
Texten« (Vorwort, S. V). Schon im 123. Sutta des Majjh. Nik.
(Dutoit, S. 1—5) verläßt der Bodhisattva den Tu^ita-Himmel; halten
vier devaputtas Wache zum Schutz der schwangeren Frau; macht
der künftige Buddha gleich nach seiner Geburt die legendarischen
sieben großen Schritte, und läßt er, purusottama wie er ist, sein
gewaltiges Wort, seinen slhanäda, hören! Auch heißt es daselbst,
daß, >als der Bodhis. aus dem Schöße seiner Mutter hervorginge in
allen Welten, auch in den finstersten, > unermeßlich großer Glanz«
sichtbar wurde, »der noch die überirdische Macht der Götter übe^
stieg.« Auf das Wunder des dhyäna unter dem Jambübaume wird
in einer von D. (S. 59) aus dem 36. Sutta des Majj. Nik. übersetzten
Stelle angespielt; ein anderes Wunder von dem zur Sambodhi ge-
langten Gotama wird in der alten Quelle Vinayapitaka, Mahavagga,
1,8 (bei D., S. 91) erzählt; u. s.w. Daß der zukünftige Buddha in
der Gestalt eines weißen Elephanten seinen patisamdhüh ganhi, wissen
wir nicht nur aus dem Zeugnisse der >jüngeren Quelle« Nidänakathä
des Jätakakommentars (D., S. 5—11), sondern dieses wunderbare Er-
eignis steht bekanntlich schon auf dem Stüpa von Bharhut abge-
bildet.
Auch die Prophezeiung des Asita, welche D. (S. 11—14) nach
S. N. ni, 11, 1— 20, wiedergibt, ist voll mythischer Züge. Der
seinerzeit von Oldenberg (Buddha, S. 101 der ersten Ausg., 1881)
vertretenen Ansicht, daß Suddhodana ursprünglich ein reicher adliger
Grundbesitzer vom ääkyastamme gewesen sei, den erst spätere Tradi-
tion zum Inhaber der Eönigswürde gemacht habe, scheint D. jetzt
Dtttoit, Das Leben des Buddha 811
noch zu huldigen, wenn er überall, wo in dem Nälakasutta der jung-
geborene Bodhisattva kumara genannt wird, dieses Wort mit »Knabe <
übersetzt, und nicht mit >Prinzi. FausböU hat hier überall >prince€,
und das mit Recht, denn vs. 8 tato Jcumarath jalitam iva suvanmth
. . . dassesu puttam Äsitavhayassa Sakyä wird kumära mit putta ver-
bunden (bei D. heißt es etwas komisch: >Darauf zeigten die Sakyas
ihm ... das Kind, den Knaben c). Auch vs. 12 Sakyaputigavam weist
darauf hin, daß äuddhodanas Sohn als Königssohn und zukünftiger
Erbe des Königreiches gedacht ist. Um schließlich jeden Zweifel zu
heben, verweise ich auf eine andre, von Dutoit nicht ausgewählte
Stelle desselben Suttanipäta: V, 1,16 Purä kapilavatthunä j nikkhanto
hkanäyako I apacco OkJcäkarajassa [zu lesen: apacc' Okk.] / SaJcyapiMo
päbharhkaroj in Fausb.s üebersetzung: > Formerly went out from Kapila-
vatthu a ruler of the world, an ofifspring of the Okkäka king, the
Sakya son, the light-giving.« Also auch in den ältesten Quellen des
Pali Tipitaka — s. über Suttanipäta V die Preface p. IV Fausbölls
in seiner Ausgabe dieser Perle der buddh. heiligen Schrift — ist der
Bodhisattva Säkyamuni nicht ein steinreicher, in drei Palästen wohnen-
der Sohn eines adligen Grundbesitzers, sondern ein Prinz aus einer
alten Dynastie.
Daß die von den Wahrsagern aufgestellte Alternative, entweder
Cakravartin oder Buddha, im Dutoitschen »Leben des Buddha« gar
nicht erwähnt wird, darf nicht zu dem Irrtum verleiten, als sei dieser
Iv toic {idXiota essentielle Zug der Legende nur aus jüngeren Zeug-
nissen bekannt. Sein Bestehen und seine Bedeutung für die Ge-
meinde der Buddhabekenner schon zur Zeit der Abfassung des Suttani-
päta geht so klar wie möglich aus Selasutta (S. N. III, 5) hervor, in
Fausb.s Üebersetzung S. 100. Hier werden dieselben Merkmale eines
zukünftigen Cakravartin oder Buddha und dieselben ratnäni des
Ersteren aufgezählt und mit Gotama Buddha in Verbindung gebracht,
wie sie der Senartschen Solartheorie zu Grunde liegen. Also auch
hier zeigt sich diese Legende als uraltes Element buddhistischer
Tradition; übrigens vgl. noch S. N. V, 1, 25— 28 (in F.s üebers.
S. 187).
Die schlichte Weise, auf welche die nächtliche Flucht aus dem
Palaste zu Kapilavastu in Majjh. Nik. Sutt. 26 (ed. Trenckn. S. 163)
erzählt wird: So klio aJiam bhikkhave aparena samayena daharo va
saniäno stisu kalakeso u. s. w., übersetzt bei D. S. 18, darf nicht als
argumentum ex silentio gelten, um zu beweisen, wie Oldenberg es
tat, daß Gotamas Weltflucht dort erwähnt wird von Leuten, welche
die wunderliche und poetische Fassung dieser folgeschweren Begeben-
heit nicht kannten. Der Buddha erinnert in diesem Passus seine
812 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
Hörer einfach daran, daß er, nachdem er zu der Einsicht gekommen
war, daß, um die jatij die jara, den byodhi^ das maranaj den soka^
die saiMc%lesä{s) los zu werden, er nach dem nibbana zu forschen
hätte, sein Haus verließ um ein Hausloser zu werden, und bedient
sich dabei der bekannten Formel: agarasmä anagariyam pabbajm.
Wie sein agara^ als er noch in der Welt lebte, beschaffen war,
und unter welchen mirakulösen Umständen sein mahäbhini^kramana
stattfand, dieses zu erwähnen lag ja an der betreffenden Stelle
kein Grund vor, wo von der Art und Weise, wie er durch Nach-
denken und Uebung allmählich zur samhodhi kam, die Rede ist
Diese Stelle beweist nichts, weder pro noch contra. Die überein-
stimmende Fassung in der späteren südlichen und der meinetwegen
»späterenc nördlichen Ueberlieferung , welche hier aber zeitlich
zweifelsohne älter ist als Buddhaghosa, hat dagegen eine sehr große
Beweiskraft. Wenn Dutoit in seiner Anm. 55 in der Bekehrungs-
geschichte des Yasa das Prototyp des Weltekels des Bodhisattva
sieht, stellt er eben die Sache auf den Kopf.
Noch eine andere Bemerkung über den Ausdruck »das Bild
Buddhas in seiner Menschlichkeit.« Er enthält eine contradictio in
adiecto. Der Name Buddha benennt keinen Menschen; höchstens
würde Uebermensch hier der annähernd entsprechende Ausdruck sein.
Auch ist > Buddha c nicht ein individueller Eigenname. Man kann
nur sagen >der Buddha«. Vor dem Säkyamuni, dem Stifter des
Buddhismus, hat es eine Unzahl von Buddhas gegeben, und wird es
nach ihm wieder geben; daß sie durch endlos lange Zeiträume von
einander getrennt sind, ändert die appellative Natur des Begn&
nicht. Die in D.s alphab. Register ausgesprochene, und wenn ich
nicht irre, außerhalb der Kreise der Fachgelehrten von Vielen ge-
teilte Ansicht, daß das Dogma von der Pluralität der Buddhas sich
erst »allmählich« ausgebildet habe, sollte doch auch einmal be-
wiesen werden! Nach dem Sachverhalte der Tradition über die
Erleuchtung, die samydksamhodhi, zu urteilen ist der Begriff eines
Erleuchteten, eines Buddha, das Prius, Gautamas Erreichung dieser
übermenschlichen und übergöttlichen Stellung das Posterius. Mit
andern Worten, die Buddhaidee ist älter als der Buddhismus, wie er
von Gautama gelehrt und gepredigt ist, ganz wie die messianische
Idee älter ist als das Christentum. Wenn das Päli und das Sanskrit
einen Artikel besäßen, wie das Griechische, würde man auch in der
ältesten Tradition bei dem Worte Buddha den Artikel finden, auf
analoge Weise wie z. B. Ev. Joh. 3, 22. 7, 26 fg. 6 Xpiotö«. Und
während Xpiatöc früh zum individuellen Eigennamen geworden ist,
weil es nur einen geben konnte, war solches mit dem Namen des
Datoit, Das Leben des Buddha 813
Buddha nicht möglich, weil theoretisch die Erlangung der samyaJcsam-
bodhi nicht auf eine Person beschränkt war. Schon vor dem Buddhis-
mus muß das Wort buddha >der Erwachte, der Wache« in der Be-
deutung von ßanin (in den Augen der großen Menge ja ein »Doktor
Allwissend«) Kurs gehabt, und in engerem oder weiterem Sinne bald
jeden Asketen, bald den Meister der Asketen, der die höchste Weis-
heit erlangt hat, bezeichnet haben. Streng genommen heißt letzterer
der sambuddha und samyaksambuddha. Von der weiteren, älteren,
durch die Existenz der Buddhareligion früh verblichenen Bedeutung
des substantivierten Adjektivs bvddha, finden sich im Tipitaka noch
einige Beispiele. Ghilders zitiert die Stelle Dhp. 338 ed. F. (1855)
hifh samano Gotamo buddho mayam pi buddha. Eine andere Stelle
ist Jät. 111,408, vs. 142, für welche ich auf die Anm. zu S. 21 meiner
Uebersetzung der Jätakamälä (Sacred Books of the Buddhists, vol. I)
verweise. Und eine allgemeinere Bedeutung möchte das Wort auch
Jät. 11,417, 15 fgg. haben, wo Buddhanarh steht, obgleich man Bod-
dhänath [= skt. Bauddhänäm] erwartet.
Auch die Geringschätzung der kanonischen Schriften der nörd-
lichen Buddhisten, welche man besonders in populären Werken über
den Buddhismus antrifift und die auch von Dutoit zur Schau getragen
wird, ist unberechtigt und durch unzulängliche Kenntnisse bedingt.
Wie viel auch im Mahäyäna an den Dogmen und den metaphysischen
Ansichten des älteren Buddhismus geändert sein mag, in Betrefif der
Tradition über ^äkyamuni besteht, wie oben gesagt, die schönste
Uebereinstimmung zwischen der Einleitung in das Jätaka, welche
notorisch später schriftlich abgefaßt ist als Lalitavistara und Buddha-
carita, und diesen Werken. Die nördliche Tradition enthält bisweilen
mehr als die südliche. Sind diese Züge darum > Entstellungen ?€
Kann nicht auch Altes und Aechtes vorliegen? Wer von vornherein
diese ganze Tradition der Sanskritbücher beiseite schiebt oder als
minderwertig betrachtet, stellt sich auf den orthodoxen Standpunkt
eines buddhistischen Singhalesen, nicht auf den wissenschaftlichen
eines unparteiischen Forschers. In seiner Schrift über die du9kara-
caryä gibt Dutoit selbst ein Beispiel, wie eine vorgefaßte Meinung
das Urteil beirren kann. Sein S^ genanntes Zeugnis des Majjh. Nik.
nr. 12, dessen Unsinnigkeit er selbst (S. 49 der betreffenden Schrift)
eingesteht, soll nach ihm das Vorbild gewesen sein, das in Lalita-
vistara 248, 13 fgg. (ed. Lefm.) verwertet worden ist! Es ist aber
ofifenbar, daß im Gegenteil letztere Sanskrit-Stelle eine ältere, die
den ältesten Teilen des Tipitaka zugehörige Stelle des Majjh. Nik.
nr. 12 eine jüngere Fassung derselben Sache enthält. Hiermit
hängt auch zusammen, daß in solchen Fällen, wo derselbe Text in
81i Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 10
mehr oder weniger yerschiedener Redaktion in beiden heiligen Schriften,
der nördlichen und der südlichen, vorliegt — und wie man wdfi,
sind diese Fälle gar nicht selten — , D. gar nicht daran gedacht
hat, wie nützlich in kritischer und exegetischer Hinsicht für die
richtige Feststellung des Textes und das richtige Verständnis die
Vergleichung beider ist. Namentlich hat er bei seiner Uebersetzung
des Padhänasutta des S. N. (111,2) von den Ergebnissen der von
Windisch, Mära und Buddha (S. 7fgg.) angestellten Vergleichung
dieses alten Liedes mit der an mancher Stelle besser erhaltenen Ver-
sion in Lalitavistara (S. 327 fgg. ed. Räj. = 263 fgg. ed. Lefm.) keinen
Gebrauch gemacht. Das ist umso sonderbarer, als er das Buch von
Windisch nennt und kennt (in seiner Anm. über M&ra, S. 350). Nor
vs. 25 des betreffenden Liedes stimmt seine Aufifassung mit der von
W. überein; vs. 7. 16. 19. 21 hat er offenbar falsch übersetzt, wdl er
die darauf bezügliche Stelle bei W. nachzuschlagen versäumte. Wu
er über vs. 16 a esa muüjath [oder murlcafh] pariharß^ einen evident
korrupten päda, schreibt, ist reiner Unsinn; FausböU, dessen weises
Stillschweigen er in seiner Anm. 30 (S. 322) seiner eigenen Erklärung
gegenüber mißfällig erwähnt, wollte nicht übersetzen, was er nicht
verstand. Was gemeint ist, ist aus der Lal. Version ersichtlich, s.
Windisch, 1. 1. S. 7 Anm.
Bekanntlich ist Fausbölls Ausgabe des Suttanipäta drei Jahre
nach seiner englischen Uebersetzung im X. Teile der Sacred Books
erschienen, und betonte er S. VIII seiner >Preface< : >The reader ynü
see from the punctuation of my text that I now understand a few
passages otherwise and, as I hope, better than when I translated
the book.i Dieses hat Dutoit richtig im Auge behalten, z. B. bei
S.N.m,l,16.17.
Pabba]jäsutta(S.N. in,l) vs. 2: sambädho 'yam gharovaso rajas-
säyatanofk üi abbhokäso ca pcibbajja. D.s Uebersetzung verhüllt den
Gedanken. Etwas besser F. Die Schwierigkeit der Uebersetzung liegt
hier, wie oft, in der Doppelsinnigkeit. >Das Leben im Hause (d. h.
in der Welt) ist Bedrängnis, weil es der Sitz des gu^a rajas ist,
Hauslosigkeit {pabbajja) dagegen ist abbhokä$a€ (zugleich »die gänz-
liche unbeschränkte Freiheit von Fesseln jeder Art< und >the open-
air lifec wie F. es übersetzt). — vs. 9 Sapadänam caramano bedeutet
nicht > unausgesetzt weiter wandelnd« sondern >den Bettelrundgang
machend Haus an Haus, in regelmäßiger Folge, ohne jemand vorzu-
ziehen oder zu übergehen, c Man sehe Ghilders s. v. sapadänam. Die
Bedeutung ist sicher, die Etymologie des Wortes völlig unbekannt
Die von Ghilders erwähnte Stelle in Ehaggavisänas (S. N. 1, 3) hat
nicht padänacarij sondern gleichfalls sapadänacäri.
Datoit, Das Leben des Buddha 815
VS. 19 na käme abhipatthayam. Die Uebersetzung »da ich kein
Gefallen fand an den Lüsten < ist nachlässig. ÄbhipaUheti hat nur
6me Bedeutung, die des Begehrens, Verlangens, Bittens; daher muß
iäma hier > Genuß c bedeuten, nicht >Lust<. FausböU richtig >not longing
for sensual pleasures«. Solche Uebersetzungsnachlässigkeiten sind in
populären Werken noch schlimmer als in wissenschaftlichen, da sie nicht
so gut der Kontrolle zugänglich sind. Sie finden sich in der D.schen
Uebersetzung leider auch da, wo sie gar nicht zu entschuldigen sind.
So gibt erMahäv. (des Vin. Pit.) VI, 31, 7 >Lust, Sünde und Irrtumc
als Aequivalent von kätna, dosa^ moha^ indem er übersieht, daß dosa
hier nicht = skrt. do^a^ sondern = dve^a ist, und obgleich er aus
der englischen Uebersetzung der Stelle (S.B.E. XVU,112) hätte
lernen können, daß käma mit >Lust<, dosa mit >ill-will<, moha mit
»delusion« wiedergegeben wird. Was soll sich »the general reader«
dabei denken, wenn er S. 129 von der Verabredung Säriputtas und
Mogallänas liest: »Wer zuerst zum Ewigen gelangt, der soll es dem
anderen mitteilenc = Mahäv. 1. 1. 1, 23, 1 yo pafhamam amatam adhi-
gacchoH so aroceitUi? Auch hier ist die Uebersetzung von Rhys-
Davids und Oldenberg (S.B.E. XIII, 144) verständlicher: »to the im-
mortal (am ata, i. e. Nirvana).« In der Jätakaeinleitung (1,50,11
ed. F.) sagt D. (S. 5 a. E.): >Da hatte sie folgenden Traum: Vier
Großkönige hoben sie samt ihrem Bett auf c u. s. w. Wie kann der
geneigte Leser daraus begreifen, daß die vier mythischen Lokapälas
gemeint sind? Bei Kem-Jacobi oder bei H. C. Warren hätte er das
Richtige finden können.
4 vädayanti heißt nicht »reden«, wie D. gedankenlos schreibt,
sondern >make music« (F.).
6 vattessati cakkam >will tum the wheel (of the Dhamma)«, so
richtig F. Warum zerstört D. die Vielseitigkeit des Ausdrucks durch
die nur eine Seite berücksichtigende Uebers. »wird sein Reich be-
gründen?«
17 Wie kann Asita seinen Neffen in der Lehre des Buddha
unterweisen, welche erst in der Zukunft offenbart werden sollte? Zur
Zeit gab es doch keinen Buddha. Diese auch dem >general reader«
von selbst hier auftauchende Frage hätte D. darauf aufmerksam
machen sollen, daß seine Uebersetzung von samadapesi falsch ist.
F.s »induced him to embrace the Dhamma of the incomparable one«
kommt der Wahrheit viel näher. Asita bewog seinen Neffen Nälaka
zum Gelübde, die Lehre des Buddha, wenn sie einmal verkündigt
werden würde, anzunehmen. Samädiyaii > generally used of a reli-
gious undertaking or vow to fulfil some or all of the religious pre-
816 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
ceptsi (Childers s. v.) wird in dem Tipitaka in dieser Bedeutung oft
genug verwendet.
Zum Schluß ein paar Bemerkungen zu Jät. 11,415—417 (über-
setzt S. 198—202). Hier hat D. Rouses Uebersetzung benutzt. S. 199
»Zu dem Asketen Gotama, denn ich wohne mit ihm zusammen in
einem duftenden Gemache« == Jät. 11,416,5 samanassa Gotamassa
santikaih aham hi tena ekagandhdkutiycm vasätnUi, Warum nicht
lieber >ich übernachte mit ihm zusammen in seinem Schlafzimmer«?
Die Zelle Gotamas ist die gandluxkuß, — Einige Zeilen weiter (Jät
1. 1. Z. 16) ranna anurlnCUa attano upaffhäke gahetva Jetavanatk ganivä
vicinantä; hier sind beide Uebersetzer irre gegangen; es sind nicht
des Königs Diener, welche nach Sundari suchen, die Tirthikas hatten
nur um Erlaubnis gebeten, dieses selbst durch ihre Diener verrichten
zu dürfen. UpafthäJco = upasthüyakah (skt.) heifit eines Mönches Auf-
wärter, nicht eines Königs Scherge; attano Gen. Sing, nach der be-
kannten Regel, daß das refl. ätman im Sing, steht, auch wenn es
sich auf Mehrere bezieht. — Dem ibid. Z. 30 aus Dhp. (vs. 306)
zitierten Spruch äbhütavaäl nirayam apet%\yo väpi katvä na karamiH
cäha/ubho pi te pecca sama bMvanti / nihTnaJcammä manuja paraUha
tun Rouse und D. Unrecht, indem sie das letzte Wort anders fassen
als Max Müller in seiner Dhp. - Uebersetzung (S. 74). Paratiha
kann unmöglich etwas anderes bedeuten als >in the next world <;
R.S >as men of evil deeds elsewhere shall risec ist unrichtig, und
D.S >die Menschen, die anderswo Niedriges getan haben< noch
schlimmer. Doch auch nihindkamma ist m. E. in dieser Verbindung
nicht richtig verstanden. Der Sinn des Ganzen ist: »Der Lügner, so
wie derjenige der Wahres verhehlt, gehen zur Hölle. Beide Kate-
gorien von Menschen stehen nach dem Tode gleich, indem sie in
der andern Welt ein trauriges Los haben, weil ihr Karma ein
niedriges ist.<
Leiden J. S. Speyer
Jacob, Erwähnungen des Scbattentheaters 817
1. Erwähnungen des Schattentheaters in der Welt-Litteratur
zusammengestellt von Dr. Georg Jaeob, ao. Professor an der Universität Er-
langen. 3. Termehrte Ausgabe der Bibliographie über das Schattentheater. Berlin,
Mayer & Müller 1906. 49 S. kl. 8«. (Mit einer Tafel in Photographie).
2. Die Liebenden von Amasia. Ein Damascener Schattenspiel,
niedergeschrieben, übersetzt und mit Erklärungen versehen von Dr. Joh« Gott-
fried Wetzstein, weiland Kgl. preußischem Konsul in Damascus. Aus dem Nach-
lasse desselben herausgegeben von G. Jahn. Leipzig. In Kommission bei F.
A. Brockhaus. (Mit dem Bilde Wetzsteins). X + 160 S. 8^ (= Abhand-
lungen für die Kunde des Morgenlandes, hrsg. von der Deutschen Morgen-
ländischen Gesellschaft. XIL Band, No. 2).
3. Ein ägyptisches Schattenspiel. Von Dr. Curt Prflfer. Erlangen 1906.
Druck der Üniv.-Buchdruckerei von E. Th. Jacob. XXUI + 151 S. 8«. (Er-
langer Inaugural-Dissertation.)
Seit einer ganzen Reihe von Jahren beschäftigt sich nun schon
mein werter Erlanger Kollege Jacob mit Studien Über das Schatten-
theater, und eine recht stattliche Anzahl von Publikationen über
diesen Gegenstand stammt aus seiner Feder oder aus der Feder
andrer, jüngerer Leute, die J. für diese Studien zu interessieren
wußte. Mit großem Fleiße hat J. die Weltlitteratur über dieses in-
teressante Produkt der menschlichen Kultur durchmustert und zu-
sammengetragen, was er in den Werken von Philologen und Literar-
historikern, Geschichtsschreibern und Geographen hierüber finden
konnte; die Ergebnisse dieser Sammelarbeit erscheinen hier zum
dritten Male ediert und in willkommener Weise erweitert. Eines
beschämt mich geradezu, wenn ich von J. im > Vorbemerke das voll-
begründete Verlangen nach Veröflfentlichung von Proben des tunisi-
schen Schattenspiels ausgesprochen sehe, daß nämlich ich, der ich
schon viermal auf längere Zeit in Tunis gewesen bin, diesem Zweige
der arabischen Volksliteratur niemals meine Aufmerksamkeit geschenkt
habe. Hoffentlich übernimmt diese Pflicht bald ein andrer. Wenn
ich J.s reichhaltige Liste von Monographien über diesen Gegenstand
oder von Publikationen, in denen er berührt wird, durchmustere, so
wird es mir schwer, Zusätze zu machen. In einem, in meinem Be-
sitze befindlichen Buche finde ich noch etwas hierüber, nämlich in
dem alten Zweibänder Malerische Reise um die Welt verfaßt von
einer Gesellschaft Reisender und Gelehrter unter der Leitung des
Herrn Dümont d'Urville. Ins Deutsche übertragen von Dr. A. Diez-
mann, Leipzig 1835 fif. J., U. Band, S. 152 (und dazu Tafel 32),
— das javanische Schattenspiel betreffend ; doch sind die betreffenden
Mitteilungen augenscheinlich einem früheren Werke entnommen. Zu
beachten ist aber die von mir weiter unten (S. 820) zitierte Stelle
818 Oött. gel Anz. 1906. Nr. 10
ans Y. Hammers »Schirinc, wenngleich es daselbst nicht recht er-
sichtlich wird, ob Schatten- oder Marionettentheater gemeint ist (doch
weist der »Mann hinter dem Vorhangec auf das erstere hin). Herrn
Prof. J. ist aber vielleicht der Hinweis willkommen, daß mein Vetter
Dr. med. K G. Stumme in Leipzig, der Eigentümer einer sdir
bedeutenden Faust -Sammlung, ihm gewiß noch Beiträge zu dieser
Materie liefern könnte. Eorrekturversehen finde ich bei J. so got
wie gar nicht, S. 9 Z. 15 heißt es aber doch wohl beidemal entweder
jaer oder jaar; 23,8 L Mickiewicz für Minckiewicz; 27,3 y. u. ist
für ' H (lat. Antiqua) natürlich V (griech. Kurrent) zu setzen.
Als neue Proben einer Volksliteratur der berührten Art sind die
im folgenden zu besprechenden beiden Schattenspiele freudigst zu
begrüßen. Das erste der beiden, das arabisch ^^^Ult^ iyäXmSi und
deutsch (wie oben ersichtlich) >Die Liebenden von Amasiac betitelt
ist, hat der treffliche Wetzstein (f 18. Januar 1905 zu Berlin) Ende
der fünfziger Jahre (s. S. 148 Anm. des Buches) in Damaskus auf-
gezeichnet, übersetzt und mit Exkursen versehen. Der jetzt in Berlm
lebende, ehemalige Eönigsberger Professor G. Jahn, der im Vor-
worte der Person und der verdienstvollen Privat-Lehrtätigkeit des
Verstorbenen in warmen Worten gedenkt, hat das Stück auf den
Wunsch der Frau Eapitänleutnant Rust (W.s Tochter) ediert, bei
dieser Arbeit unterstützt von Herrn A. Ma'arbes vom Orientalischen
Seminar zu Berlin. Die Editionsarbeit scheint keine einfache ge-
wesen zu sein bei dem > stellenweise fast unleserlichen Zustande des
längst vergilbten Manuscriptes< (S. VI). Im Allgemeinen hat J. am
W.schen Manuskripte wohl nichts geändert, doch giebt er (S. VII)
an: >ich habe die von Wetzstein herrührende, vom Schrift- Arabischen
abweichende Vocalisation selbstverständlich beibehalten und nur in
den metrischen Gedichten, die in Schrift-Arabisch geschrieben sind
(abgesehen von den Mawals), öfter ein Gezm als Fingerzeig für das
von der strengen Metrik abweichende Metrum, ebenso die Sterne
und Interpunktionszeichen hinzugefügt. Den metrischen Mängeln,
welche sich im Original hier und da finden, habe ich abzuhelfen ge-
sucht, auch offenbare Schreibfehler verbessert, aber die Lesart des
Originals gewissenhaft unter den Text gesetzt. In den deutsche
Partien habe ich, da das Manuskript nicht druckfertig ist, hier und
da stilistische Aenderungen vorgenommen. < Nun, hoffentlich ist dies
Hierunddaändem nicht allzuoft eingetreten, — J. dürfte es da sehr
genau zu nehmen haben, da er dies m semer Streitschrift >Fort-
setzung des Mesha-Streites trotz des Sträubens des Vorstands der
morgenländischen GeseUschaft. Anti-Eönig, zweiter. Von G. Jahn.
Göttingen 1906< in dieser Beziehung so tragisch nimmt Daß J. die
Wetzstein, Die Liebenden Ton Amasia 819
Oesamtarbeit (Text, Uebersetzung , Exkurse) W.s mit erläuternden
Noten versieht, ist sehr verdienstvoll; zwischen den J.schen Glossen
stehen noch Originalnoten Wetzsteins und solche Noten, die auf
Information von selten Ma'arbes' zurückgehen (stets durch W. oder
M. signalisiert). Indeß hat W. seine Noten recht ungleich verteilt
und oft gerade da, wo wir sie brauchten, sie zu geben unterlassen;
ebenso ist's mit seinen Exkursen: das W.sche Manuskript war eben
noch nicht druckfertig (s. oben S. 818), und die Exkurse waren noch
nicht zu Ende geführt (YII, 20). Deshalb müssen wir die später zu
rügende Unterlassung, daß wir über den Ursprung des Vor-
wurfs des Stückes so rein gar nichts erfahren, J. zu Lasten
schreiben. Die Namen der Spieler des Stückes läßt W. (in leider
nicht konsequenter Transkription) folgendermaßen lauten (s. S. 2 und
den dann folgenden arab. Text): Dali Ferhät (oL£>^ i\S), Sitt
Shirin (^^xä y^y^S, auch^^^i va^umJOi Umm Shkurdum (p>yC& ^i)»
Rama(Jän Aga (Ul q^^J), Karakoz (j^^y5), 'Ewäz (^1,^), El-Mu-
dellel CyJodl), Shebanlko (yCJU&), Umm Earküz (j^y'^^t, — sie
ist die >Frau des Earakoz«) und Umm MaVaza (Kb^^t, die
Frau des 'Ewäz). Von diesen Namen wird nur äkurdum von W.
mit einer Anmerkung bedacht, nämlich mit der Angabe (S. 7) >=
Knoblauch«, wozu dann J. setzt: >ich finde es nirgends <; scordium
= oxöpStov! Zu Schlrin giebt J. die Note >persisch, = süß< (S. 13),
womit wohl keinem orientalistischen Leser etwas neues gesagt wird.
Aber zur Schreibung des Namens des alten guten Färhäd als ^b
ol»ji war eine philologische Bemerkung vonseiten J.s zu erwarten,
da nicht alle Arabisten hier zu einem richtigen Urteile kommen
werden (da leider nicht alle Arabisten das Türkische verstehen); d. h.,
es war etwa zu sagen: ^L^^ und ol»*y ist dem Türken für die
Aussprache beides gleich f^rhat, und das $ des türkischen Wortes
d^li (v^,y^) >Held< ist für den syrischen Araber seinem Imäle-ä
so ähnlich, daß er skrupellos dieses für jenes q einsetzt. Beim Namen
'ewäz genügte ein Hinweis auf G. Jacobs Schriften; zur Erklärung
von Sebanlko (oder Sbäniku, wie wir uns den Namen vorstellen)
möchten wir auf neugriech. oicavixt > Spinat < verweisen und eine
Verdrehung des Wortes auf der Basis plebejischer Angleichung an
die v/^lui nicht für unmöglich halten; warum die Frau des l^aräköz
sich als umm ^arküz giebt, bleibt uns allerdings räthselhaft (d. h.
nicht das umm, denn das ist hier Titel). Doch die Hauptsache
— nämlich daß in diesen > Liebenden von Amasiac wieder einmal
eine Bearbeitung der alten Färhäd-u-Sirln-Geschichte vorliegt —
Göti. gel. Ans. 1906. Nr. 10 57
I
820 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
durfte von J. nicht verkannt werden. Die Art , wie J. den Vorwurf
des Stückes (S. VIII f.) würdigt , sieht deshalb recht sonderbar aus.
Hat denn J. so wenig Erinnerung an Goethes West-östlichen
Divan, und an Hammers Schirin? Wie kann einem diese
Schirin mit ihrer unglaublich drolligen Pathetik entschwinden, — dies
kuriose Lied, in dem Färhäd in seiner Einöde zum Zeitvertreibe die
Fledermäuse, die sich an seinem blauen Schwefelfeuer verbrennen,
mit Petroleum einbalsamt und ihnen feierlich >Maal und Stein< setzt!
Es scheint mir als habe den verdienstvollen Arabisten die turko-
arabisierte Schreibung oL>i statt ^LP^ dermaßen hinters Licht ge-
führt, daß er gar nicht auf das dritte der wohlzubewahrenden sechs
Liebespaare verfiel. Die Romanze vom Färhäd und der Schirm ist
heute ein ganz abgedroschenes Puppen- und Schattentheaterthema
des Orients; interessant ist, daß das auch schon der Fall war, als
V. Hammer sich mit seinem Schlrln-Gedicht im Busen trug, denn
wir lesen in diesem (mir liegt es in folgender, anonymer Ausgabe
vor: Schirin. Ein persisches romantisches Gedicht nach morgen-
ländischen Quellen. Zwei Teile. Leipzig, bei Gerhard Fleischer dem
Jüngern. 1809) auf S. XXVII ff.: »Nicht nur in Persien, als in ihrer
Heimath, sondern auch in ganz Vorderasien, und besonders in Con-
stantinopel ist Schirins Geschichte allgemein gäng und gäbe. In der
jüngsten Zeit nahm man aus ihr in der Sultansstadt sogar den Stoff
zu dramatischen Vorstellungen, wenn dies Drahtpuppenspiel der
Türken, wo der Mann hinter dem Vorhange mit wechselnder Stimme
für alle Personen spricht, anders diesen Namen verdienet. Auf einem
solchen Marionettentheater wurde noch vor ein Paar Jahren Schirins
Geschichte mit Chosru und Ferhaden als Tragödie vorgestellt. Eine
wahre Karikatur, wiewohl auf das ernstlichste angelegt, so wie z. B.
ehemals die Passionspiele nichts weniger als die Leidensgeschichte
zu entweihen gemeint waren. Schirin, die georgische Prinzessinn,
und Chosru, der persische Eayser, sprachen gerade wie die Markt-
weiber und Lastträger zu Constantinopel, deren Leben den täglichen
Stoff zu den Possen dieses Puppenspiels hergiebt. Ferhad zerhieb
mit seiner Axt den ganzen Berg Bisutun in Stücke, und die Stelle
Schaburs, des kayserlichen Unterhändlers, vertrat eine ganz gemeine
Kupplerinn.< Vielleicht geht nun der ^y^t^ /^^ so direkt auf eine
türkische Vorlage zurück, daß er teilweise geradezu eine üeber-
setzung einer solchen ist (eingeflochtenen türkischen Redensarten, wie
hä ku§um >auf, mein Vogel [Falke] !c, der jagenden Schirin [S. 19]
möge man in dieser Hinsicht seine Beachtung schenken).
Jahn schließt die Vorrede zum ^yiUll^ fjjSJa mit den Worten:
>Dem Stücke prophezeie ich, daß es zur Lieblingslectüre der Arabisten
Wetzstein, Die Liebenden von Amasia 821
gehören wird.« Dem pflichte ich gern bei; denn ist auch der Ge-
genstand, den das Stück behandelt, kein neuer, so tut doch die
schlichte und innige Sprache des Stückes dem Herzen wohl, und die
Handlung langweilt den Leser niemals. Zu betonen ist aber auch
noch, daß die W.sche Uebersetzung eine ganz vorzügliche ist, wenn-
gleich wir die sowohl metrische wie gereimte Uebersetzung der Lieder
als eine bisweilen allzufreie bezeichnen müssen. Die philologische
Ausbeute beim Lesen der verdienstvollen Publikation ist eine recht
bedeutende, denn zahlreiche neue oder bisher wenig gebrauchte Aus-
drücke treten uns hier vor die Augen; nur ist es schade, daß J. in
seinen Erläuterungen eigentlich nur Dozys Supplement aux dic-
tionnaires arabes zur Hand nimmt, Schriften neueren und neuesten
Datums dagegen ignoriert, — von solchen hätten namentlich heran-
gezogen werden sollen: Hartmann, Arabischer Sprachführer';
Landberg, Proverbes et Dictons de la Province de Sjrie 1883;
AI m k V i s t , Kleine Beiträge zur Lexikographie des Vulgärarabischen
1891; Tallqvist, Arabische Sprichwörter und Spiele 1897 ; Oestrup,
Contes de Damas 1897; Bauer, Lehrbuch zur prakt. Erlernung der
arab. Sprache (Jerusalem) 1897; So ein, Diwan aus Gentralarabien
1900/1; Da Im an. Palästinischer Diwan 1901; Littmann, Arabi-
sche Schattenspiele 1901; Sag 'an, Sprichwörter und Redensarten
aus dem Libanon 1902 (Mitt. des Or. Seminars); Littmann, Neu-
arabische Volkspoesie 1902 (Abh. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Gott.);
Litt mann. Modern Arabic Tales, Vol. I 1905; Löhr, Der vulgär-
arabische Dialekt von Jerusalem 1905. — Wir geben nun eine Reihe
von Einzelbemerkungen:
S. 8, 7: über ^^Ij >augenscheinlich<, das W. (in S'^\ ^1 e^b
^juüi^ >ich sehe, du bist eine im Schatten und Tau gezogene Pflanze«)
nicht übersetzt und das Ma'arbes, wie es scheint, auf ^<^l; bringen
will, s. Socin, Diwan § 54f isfSS) \\ S. 8, 11: zu ^1 in »^ ^1 ^J
>in welcher Gegend?« setzt J. >aus ^t entstanden«; richtiger: aus
^ ^1 entstanden || S. 10, 15: sy^^ ^ Jub ^Jd ^ ^ >ei, betrachte
doch dieses Grün!«. J. dazu: > woher kommt dies €l^ in der Bed.
,sehen'?«. Hier liegt kein Verbum €l^ vor, sondern ein stark ver-
ändertes ^1 tfkJI; s. hierzu folgende Stellen: 88, 10 \:j^^ ^^y^^
^^S^[t »Lieber, soeben wird man dich zur Hochzeit abholen Ic (das
sufl&gierte Pron. der 3. pers. plur. comm. lautet im syr. Vulgär be-
kanntlich hin); 70,14 ^jXt J^t t^ >seht das aufgeputzte Ea-
57*
822 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
mel!<; 76,3 s^aaXJI t^\y^\ ]ySLi >seht ihr das große Tor dort?<;
100, 5 i^L> jy^l IP^ <k^ 1>^3 > wartet etwas ! Da kommt die Alte!«
Hier wird niemand die Ableitung von A^\, ^iXJI verkennen. Wird
dieses in der arabischen Grammatik auch mehr als = J^, tyX^
erklärt, so ist andrerseits von >da hast da!< zu > da siehst du! < nur
ein Schritt. Daß ein ^t ^t zu Jj eU gekürzt werden kann, er-
scheint mir nicht befremdlich, da ich ihm den Wert eines Imperativ-
Exponenten gebe und dem Vulgärarabisten bekannt sein muß, welche
Schicksale Ausdrücke wie ^\j , yL» , ^XaII , J^ u. a. in dieser Be-
ziehung haben können. Daß aber im Damaszener Arabisch dieses
^uT, \ySi^ hinsichtlich seiner Suffigierung mit ^uU, ^U 'alek,
'al£kon (nicht 'alfiku) diskrepiert, kommt daher, daß die jUk in
jenem ^^ doch schließlich ein verbales Etwas sieht, dem bei
Pluralisierung eine Imperativ-Endung anzufügen sei. Für eine Ana-
logie hierzu auf vulgärarab. Gebiete s. meine > Märchen und Gedichte
aus der Stadt Tripolis in Nordafrikac (Leipzig 1898), S. 246 (§ 68),
woselbst tripolit. dünek > wohlan. Manne ic und düüku »wohlan,
Leute!« angeführt werden (diskrepierend hiervon: 'alik, 'altkum) |
S. 20, 6 : Zu dem von W. nicht übersetzten t^ß^ in den Worten
der Mutter Schlrins an ihre auf die Jagd ziehende Tochter kx>> ^
jjs^^l 3t j4c>^^iJl er 1^^^ i^^ C^^ JuU'l^t Q« AhijnA^ »wenn
dich nur kein Landstreicher beleidigt oder kein Wegelagerer anfallt ic
setzt J.: »aus türk. ^^^>ojiC^ ,Läufer'?<; ich erblicke »Trunkenbolde«
darin und möchte das Wort siker^iji lesen (Thema: ydJ). Aus mag-
rebinischen Gegenden kenne ich in dieser Bedeutung sikr&fi und
sekk&rgi|| S. 36,6: Die Bemerkung »« coj^^c J.s zu v;>^^ »du
hast abgewiesen« ist recht unnötig, da die Abwandlungsweise radd,
raddet, raddßt eine fundamentale Sache der vulgärarabischen Gram-
matik ist. Doch scheint J. jenes s:;^^ W.s sich falsch als r(e)dtt
vorzustellen, statt als radd6t, — weil er nämlich zu (42, 17) ^ßi^JCf^
>du bist toll geworden« in der Note bemerkt: »,/II> statt j:sls>'<
(als Explikator darf er sich aber das- von ^^^^ nicht schenken!)
und weil er zu (90, 5 v.u.) LfJC^fi^K^t »ich habe sie verdient« be-
merkt , daß die ägyptische Mischform (U -[- X) istarajja^ und »die
entsprechende äthiopische Form« zum Vergleiche herangezogen werden
Wetzstein^ Die Liebenden von Amasia 823
könne! Aber ^4s,J^3^iM^ gehört zur einfachen, X. Form: istaba^,
ista^ialpHet, ista^ia^kfit. Andrerseits liegt aber in Jjuu >du wartest <
(wiederum 36,6) gerade eine Mischform II + X vor, denn istanna
steht nicht (wie J. in Anm. 3 will) fur ista'nä, sondern fUr ista'annä
(vgl. meine Grammatik des tunisischen Arabische, Leipzig 1896, § 36
und dazu Völlers in ZDMG. 50, 331 oder etwa auch Nallino im
Oriente, Vol. II [Rom 1897] Anm. 2 der 9. Seite des Artikels)] ||
S. 46, vi. Z. ^jSü (>wir durchstöbern«) Druckfehler fur ^Ji^ ||
S. 52, 10 : iXJIj:^ tSj^^ ^t/^ ^ ^ 6ß^ y^^ >und was soll ich dir
von seinem Schlosse und dessen (sie) Einrichtung und von seinen
Mamluken sagen ?<; zu ^yii^ sagt noch ganz speziell die Anmer-
kung: > Einrichtung. W.c Mir ist dies ^yX» vollständig rätselhaft;
ferner kann aber das Suffix « nicht auf das Feminin iL^jm gehen.
Mir schössen hier e&vooxo^ durch den Sinn; ich will sie aber lieber
fortlassen. An pers. 3^^ £f^T, das u. a. >in8titutum< bedeutet,
mußte ich auch denken || S. 54, 3 : Zu \oS^ in li>» ^^^t U t jJ^
>angenommen, es findet sich keiner< (vgl. 94,3 v. u. tJaal ^^
luiadlj aJ^ aI v£>JC> (^^t ot J Q« |i^ ^^ji v«>^^ L^cXi^ ^^j^ ^ c;^ ^
i^j Lü ij^ f^ »wie könnten wir ihm dies Mädchen, diese Rose
geben? Er nähme sie zu sich und eines Tages sagte sie ihm viel-
leicht ein unpassendes Wörtchen ; da spränge er auf und schlüge ihr
den Kopf entzwei<) bemerkt W.: >= jUj«. Also etymologisch
wohl \s>S ^ II S. 54, 16: UUÄÄyd Ji^^ :i > schreie (Weib) uns nicht
die Ohren taub!<; W. hierbei zu Jo^If: >plärre nicht!«, J. zu
LUÄfi;^: >Du wirfst uns zu Boden, machst uns tot<. W.'s Mscr.
bietet aber wohl UaäcJü^ || S. 56,13: ^xJS ^ j^joitl eUt oo»^
Lß^ l>>l J^ /4^ ^^^^ Sii^S zu ihnen, hob, wendete und legte sie,
bis ich sie hatte, wie ich wolltet. J. sagt hier zu ^: >= <ius!
oder J}Out^< und zu j2lL>: >so im Ms. corrigirt statt jfh^ des
urspr. Textes. Letzteres giebt auch einen, freilich derberen Sinne.
Wir bemerken hierzu: Das Verbum feäm, je^dm des syr. Vulgärs ist
nur aus IV abzuleiten ; W.'s <2lL> könnte aber nurauf J^l» zurück-
gehen (= ;2uL> , wie jenes ^hx^ natürlich auch als ;iuLl3* gemeint
ist) II S. 62,1 »Ju^ >Kissen<, 4 v. u. 1^, 2 v. u. g^l Druck-
824 Mit. gel. Ans. 1906. Nr. 10
fehler für »o^, l^, f^^ II S. 62, 5 giebt J. za J^Uo U > meinet-
wegen < in der Note: >= ich frage nicht darnach«. Das fahrt aber
irre, denn es liegt die 3. s. m. impf, von Ju. III vor; man spricht
hier nämlich nur selten bi, sondern meist bi (also bisSjil), und des-
halb bleibt das ja oft ungeschrieben || S. 66, 4 v. u. (js> s^^jl^^ U
L(a9 sKj^Juufr'i JUM^ >du wirst nicht den Preis eines Strickes finden,
an dem du dich aufhängen kannst«. So, wie dasteht, ist allerdings
zu übersetzen : >an dem du riechen kannst« jj S. 70, 3 |^y >zeigt!<
und 90, 3 V. u. A^/ »ich habe dir gezeigt« geben das Verbum f&r
> zeigen« nicht so, wie ich es hinsichtlich seiner Aussprache in Da-
maskus (wo ich mich 1889 und 1890 dreiviertel Jahr aufgehalten
habe) kenne, wohl aber tut dies fargini bachti in Exkurs 72. Ich
habe nämlich immer fär2a, ifär2i in Damaskus gehört, wie dies anch
Hartmann, Sprachführer^ S. 282 auffuhrt, während Oestrnp
1. c. S. 143 nur den Imperativ >fer2i« gelten lassen will. Dieser
Erweiterungsvorgang der ^Tsp^i zu ^j^/ hat übrigens gerade hier
im ÄyMüd^^ (Jf^ seine Analogie, nämlich in sz^^^jJ^^ v^^^m^ va^uJ^
^^>wa^ >ich weinte mir die Augen aus und lief mir die Schuhe durch«
(86, 2 f.), wozu J. ganz richtig bemerkt: >Quadrilitera in der Bed.
,sich abmühen* und ,einem zusetzen', wie es scheint durch Anhängen
eines schwachen Buchstaben aus Triliteris gebildet. Vgl. ^ ,den
Knochen abnagen' und sJlJ- ,bedrängen'«. Wenn nur W. im obigen
\ys>^ und tflÄ>^ nicht etwa etymologisierend geschrieben hat ! Ganz
sonderbar und unbegreiflich ist aber die Schreibung 90, 10 ^u^ij)
J^3 ^^ jjL=^I L5^y »ich werde dir zeigen , wie weit die Hände
einer alten Frau reichen«. — Für > zeigen« finden wir in dieser
Publikation jedoch noch einen andern Ausdruck, nämlich . J, dem
ein ^^j\ (wie dem J^ ein ,^jS) zur Seite steht ; s. 72, 3 v. n.
jjCi^ li^^t »zeigt uns eure Künste!« und 76, 15 ^ m^\ Aa>.^
jüCflj^ U dy v3^ »ich werde dir heute zeigen, was du dein Lebelang
nicht gesehen hast« (zum letzteren (f)uo^^^ setzt aber W. selber em
»sie«); rätselhaftes Wort! || S. 74,8 setzt J. Jijt^ (»wieviel?«) für
^jMbjJü) des Ms. ein, hätte aber lieber ^Ji!jiijs3 schreiben sollen!
S. 76,14: zu k>yj5;,yt >Schaukel« bemerkt J. »sonst i»^:>y««. Sicher
Hörfehler (stimmloses für stimmhaftes seh verhört) W.b, — aber &m
Wetzstein, Die Liebenden von Amasia 825
Fehler, der viel öfter begangen wird, als im Allgemeinen angenommen
wird, was ich, der ich nachgerade zahlreiche Dialektstudien-Manu-
skripte durchgesehen habe, wohl aussprechen darf || S. 84, 9 fif. : zu
dem im Hochzeitsgesange der Umm gkurdum jedem Verse nach-
gesetzten LP33T awüha (so!, mit a vorn) bemerkt W. in der Note:
>Die Beduinen sagen LpLp. Man sagt, L^^^T sei Plural des imperat.
3T ,bringt sie Lii^U (in ihr neues Domizil)'. < Ohne daß wir uns über
diese Deutung aussprechen wollen, verweisen wir auf äwiha bei
Da Im an. Pal. Diwan S. 186 ff., und auf hä-i-ä in Jerusalemer und
aha in syrischen Hochzeitsliedem bei Litt mann, Neuarab. Volks-
poesie S. 96 bezw. 139 || S. 106,3: s^^ /öaL Jju^jud^ jc>^ »ein
Gesicht und ein Busen, die einem Körbchen Apfelblüten gleichen <.
Nach J. bemerkt W. zu s^IZi > Präsentierteller < ; doch das geht wohl
auf (jt^'f bei Almkvist 1. c. 399 steht übrigens ein nammüra ü«Ji,
das > Butterkuchen < u. a. bedeutet || S. 130, vi. Z. : U3yü eU> U
>hast du uns noch nicht kennen gelernt ?<. J. bemerkt hierzu, >in
eU> steckt dl^ in der Bed. Jetzt'«. Ich halte t£U> vielmehr für
Zusammenziehung von eU J^, vgl. Dozy, Suppl. I, 311bÄl3^U
^^, >il ne peut pas encore 6tre venu« (Bocthor). Vielleicht hat J.
eine Explikation Ma'arbes' falsch verstanden, der mit hallaq, halla'
operiert zu haben scheint. S. 136: von hier an häufen sich die
Eorrekturversehen (korrigiere etwa auch schon 84, 11 L zu l^; 106,7
j^xaJ^ zu j^^joals^; 112,10 ßA\f zu jj^l)' So ist 136,5 v. u.
Tum^me statt Tumeme zu lesen, 4 v. u. Hashabshab st. ^ash., 1. Z.
Strick St. Stück; 137,4 lä'ib st. lä 'ib, Z. 13, 18 u. 21 Makra'a statt
Makra'a, Z. 23—26 i^\ o^^^' zökän, köra st. hJü\ qI^, gokän,
^ura (doch könnte man ein kura wohl durchgehen lassen ; auch wollen
wir das g von gokän, da W. darunter i meint, nicht bemängeln, wohl
aber das kurze 0 dieses Wortes, das auf pers.-türk. qI(^ geht);
138, 6 ganz st. genz, Z. 34 Anatolien st. Anastolien u. s. f.
Beim Zitieren habe ich gelegentlich etwas reichlich gegeben
und mehr als bloß das zu besprechende einzelne Wort herangezogen,
da der Leser sehen sollte, in welcher Gestalt sich der Dialekt in der
Schreibart W.s präsentiere ; der Vulgärarabist verschafft sich hierüber
sofort das richtige Urteil : in einer Gestalt, die, wegen des bis in die
Mitte des vorigen Jahrhunderts üblichen aszetischen Verzichtleistens
auf Anwendung europäischer Schriftzeichen fur Darstellung des ge-
sprochenen Arabisch, das richtige Lautbiid nur hier und da ahnen
826 0«tt gel Anz. 1906. Nr. 10
läßt. W. folgt darin eben dem Znge seiner Zeit. Sehen wir ?on
diesem fundamentalen Mangel ab , so ist die Arbeit W.s höchst be>
lehrend und verdienstvoll, wie nicht minder ihre Herausgabe durch
Jahn.
Der Vorwurf des zweiten arabischen Schattenspieles, das wir
hier anzeigen wollen — des Li'b ed-d6r (>Das EIoster<) — , ist
nicht von der Art jenes romantischen Vorwurfs des ersten Stückes
und redet nicht so warm zum Herzen wie jener , vielmehr redet er
zum Verstände und zum theologischen Gewissen, — er charakterisiert
sich als: Besserung eines lasterhaften Muslim und Bekehrung einer
Koptin zum Islam. Dabei ist das Stück an Widersprüchen, wie an
Trivialitäten reich. Aber anderseits ist die Handlung in ihrem Kul-
minationspunkte recht gut disponiert, nämlich da, wo die Koptin
'Alam mit ihrem Vater Menagge über den Islam disputiert, wenn
auch hier öfters Entgleisungen vorkommen, teils auf dem Gebiete
der Aesthetik (der Vater nennt sein Töchterchen >Schweinemädchen<
u. dgl.), teils auf dem der Realität (die Kopten sind gelegentlich
Juden!). Dies alles erkennt Dr. Prüfer natürlich selber und setzt
es ins richtige Licht. Sehr willkommen sind uns die Illustrationen
des Buches, die uns Szenerie und Spieler sehr anschaulich vor Augen
führen. Interessant bleibt das Stück aber trotz aller jener Mängel
und steht höher als die große Masse andrer z. B. der türkischen
Schattenspielstücke. Dr. P. überliefert uns den Text des Stückes
natürlich in Transcription, — so, wie er es > Herbst 1905< (so
S.XVIU, 4; die Arbeit muß dann fabelhaft rasch fertiggestellt worden
sein) in Kairo nach mündlichem Vortrag aufgezeichnet hat. Zahl-
reich sind die poetischen oder sag'-Partien des Stückes ; bei der Fes^
Stellung der Versmaße und den metrischen Emendationen hat Prof.
Martin Hartmann seine Hilfe geliehen, bei der sehr fleißigen und
umfangreichen Kommentierung des Stückes nach Sprache und Inhalt
dagegen Herr Prof. G. Jacob (der auch zahlreiche Originalnoten
dieser Erlanger Dissertation beigiebt). Daß der Transcriptionstext
aller Interpunktion entbehrt, können wir nicht billigen (hiergegen
habe ich aber schon oft genug gepredigt). Im Einzelnen bemerken
wir zu der fleißigen Arbeit folgendes:
S. 2,2: Was die Anmerkung zu filxajäl — die übrigens einen
Passus aus Spittas Grammatik (§ 22 u. 23) zitiert, den ich nicht
unterschreiben möchte — besagen soll, wird mir nicht klar; auch
fürs klass. Arabisch liest man doch schon fil^yäl, nicht filhüäl |
4, 1 I. e^sädiq es^iddiq für e^sädiq e^sidiq || 6, 9 1. wel meraqqis
wäqif 'ala \ß\uh sab'e käsir jöm elwagä haggäm (nicht hag&m !) >aiif-
gerichtet steht der Tänzer da, ein reißender Löwe, der am Tage
Prüfer, Ein ägyptisches Schattenspiel 827
des Eampfgetümmels angreifte || 8, Anm. 2 : Was soll die Schreibung
^äggi in Qäggi Mu^mmad el-Gindl?|| 20,3: Hier findet sich ein
Ausdruck kali'ün, den P. mit > Kanaille < übersetzt; besser schon mit
>Kiyong< , denn dieses — d. h. ital. coglione — liegt vor. In der
Anmerkung müht sich ein kairenser Gelehrter ab mit einer kasuisti-
schen Herleitung des Wortes vom Müristän Qalä'ün, die Dr. P. na-
türlich nicht acceptiert || 28, 2 beginnt ein Gedicht , bei dem sich
Dr. P. (wie bei den übrigen) um die Emendierung des Metrums in
anerkennenswerter Weise bemüht hat, bei dem er aber unterläßt,
die strophische Einteilung des Gedichtes zu veranschaulichen (da-
mit Text und Uebersetzung immer auf gleich hohe Zeilen der linken
und rechten Seiten zu stehen kommen, unterbleibt — wie es scheint —
die Veranschaulichuug der strophischen Technik). Das Gedicht (Me-
trum sarf ), das 88 Verse (Zeilen) umfaßt, besteht aus einem 4zeiligen
Eingange, dessen 1. und 4. Vers auf ä^ reimen; dann folgen 10
Strophen zu je 8 Zeilen, deren letzte wieder auf ftb reimt. D. h. :
so sollte es sein. Da nun 4 + 10 . 8 = 84 ist, hat das Gedicht ent-
weder 4 Zeilen zu wenig oder zu viel. Unschwer ist nun zu er-
kennen, daß die Zeilen 2 und 3 auf S. 32 zu streichen sind und
ebenso 2 Zeilen der letzten (36, 10) beginnenden Strophe. Es be-
ginnen dann also die Strophen (nach dem 4zeiligen Eingange) fol-
gendermaßen: 1: 28,7; 2: Z. 15; 3: 30,5; 4: Z. 13; 5: 32,5; 6:
Z. 13; 7: 34,3; 8: Z. 11; 9: 36,2; 10: Z. 10. Ein strophen-
endendes was§abah in Strophe 2 (30, 4) ist natürlich Druckfehler
für wa§sabäb, wie in Str. 6 (34,2) luqum f. lukum || 86,15 (u.
Anm.): Bei magür >ein Holznapf, aus dem gegessen wird« war ein
Verweis auf Dozy I, 10 b (^~o^1) angebracht || 88, 2 v.u.: Sonderbar
und in ihrer etymologisierenden Art unangebracht ist die Schreibung
gaj-buh in: ana mä-li wemä-lahl (warum hier ein -?) edd£r jaxdum
minni ellaban wana gaj-buh lik >was scheeren mich die Klosterleute !
Sie nehmen mir die Milch ab, und ich komme zu dir damit« (und
warum nicht: >ich bringe sie dir?«) || 93,1 — 1. Z. : Herr Dr. P.
weist nicht extra darauf hin, daß wir es hier mit allerhand bösen
Obszönitäten zu tun haben. Die meisten Leser merken wohl, um
was es sich handelt, und das Unterlassen eines Hinweises ist voll-
kommen berechtigt. In arab. Volksrätseln wird der y) s^^^ häufig
als Vogel (Hahn, Sperling, Tauber) charakterisiert, der im einsamen
Neste, zwei Eier bebrütend, klagt u.s. w. u.s.w. || 132,13 1. iza
(= ]i\) st. izza.
Abgesehen von diesem wenigen ist hinsichtlich Textgestalt und
Uebersetzung, sowie im Notenapparate nur noch wenig zu bean-
828 G6tt, eel. Anz. 1906. Nr. 10
standen. Die von Prof. Jacob eingeführte und hier angewandte
Transkriptionsmethode der Buchstaben fjo, Jo, Jo durch kursives d,
sf, t, der Buchstaben a, und ^ durch x iind y und des (J^ durch das
schreckliche seh (bei ,^ hat der Setzer also sechsmal in den Kasten
zu greifen !) gefällt mir nicht, doch wäre das schließlich eine Aenßer-
lichkeit; etwas bedenklicher ist die Tatsache, daß Dr. P. in seine
phonetische Schreibung gelegentlich eine etymologisierende einmengt,
— vgl. dazu das oben (827) erwähnte gaj-buh lik (das wir gdbülik
zu lesen haben) und Äeußerungen wie >w wird in 'afw fast wie u
gesprochene (8, Anm. 1), »das h ist in ismuh nicht hörbar, ich
schreibe es nur, um die Form zu verdeutlichen < (21, Anm. 3), femer
S. 3, Anm. 6 und S. XIX, 13—21. An der letzten Stelle wird
Spittas Theorie >die meisten Vokalnüancen kommen von selbst,
wenn die begleitenden Konsonanten scharf und richtig artikuliert
werden« angenommen; aber gerade dieser haben wir es zu verdanken,
daß der ägyptische Dialekt des Arabischen der heutzutage am schlech-
testen transkribierte geworden ist. — Haben wir nun auch dies und
jenes an P.s Arbeit auszusetzen gehabt, so ist diese Erlanger Doktor-
schrift trotz alledem eine sehr lobenswerte Leistung, zu der wir ihren
Verfasser beglückwünschen.
Leipzig Hans Stumme
Georf Graf, Die christlich-arabische Literatur bis zur frän-
kischen Zeit (Ende des 11. Jahrhunderts), f^e literarhistorische
Skizze. (Straßburger theologische Studien, hrsg. von A. Ehrhard und E.
Müller. Vn. Bd. I.Heft.) Freiburg i. B. Herdersche Yerlagshandlung. 1905.
X,74S. 2Mk.
Die christlich-arabische Literatur ist von der Wissenschaft lange
als Stiefkind behandelt worden. Der koptischen Kirchengeschichten
in arabischer Sprache hatten freilich schon im 17. Jahrh. Pococke
und im 18. Renaudot und die Maroniten sich angenommen ; aber der
große Aufschwung unserer Studien im 19. Jahrh. kam fast aus-
schließlich der islamischen Literatur zu gute. Man interessierte sich
wohl gelegentlich auch für einen christlichen Text, aber meist doch
nur, weil er als Quelle für den Vulgärdialekt wichtig schien, oder
weil er wie die Bibelübersetzungen die Geschichte des Kanons zu
fördern versprach. Erst in den letzten Jahren hat man begonnen,
diese ja freilich armselige Literatur um ihrer selbst willen zu bear-
beiten als eine Quelle für die Geschichte des Christentums im Orient.
Es ist hauptsächlich das Verdienst der Jesuiten in Bairut und der
Graf, Die christlich -arabische Literatur 829
Herausgeber der beiden in Paris erscheinenden Patrologien uns diese
Literatur ei*st einmal zu erschließen. Es mag noch recht lange
währen, bis wir sie auch nur so genau kennen wie das syrische oder
das abessinische Schrifttum. Eine wirkliche Geschichte dieser Lite-
ratur zu schreiben ist zur Zeit noch unmöglich, da man für die
meisten Werke lediglich auf die Angaben der Kataloge angewiesen
ist. Trotzdem ist es äußerst wünschenswert, einen Ueberblick über
das erhaltene Material zu gewinnen. Im Anschluß an seine Bear-
beitung der islamischen Literatur gedachte der Ref. einen solchen zu
geben, verzichtete aber auf diesen Plan, da er erfuhr, daß Garra de
Vaux ihn gleichfalls auszuführen beabsichtigte. Nun ist Graf jenem
zuvorgekommen. Seine Arbeit reicht zunächst allerdings nur bis zu
den Kreuzzügen, doch dürfen wir wohl hofien, daß er sie noch wei-
terführt, sodaß wir in Deutschland mit Steinschneiders Geschichte
der jüdisch-arabischen Literatur eine vollständige, wenn auch nur
vorläufige Aufnahme des arabischen Schrifttums besitzen werden.
Graf beginnt mit einer Einleitung über die Literatur der christ-
lichen Araber in der vorislamischen und der ersten Kalifenzeit, in
der er mit Recht Cheikhos überkühnen Versuch, so ziemlich die
ganze alte Poesie für das Christentum zu reklamieren, zurückweist.
Sein eigentliches Thema gliedert er etwas äußerlich in zwei Ab-
schnitte über die anonyme Literatur und über die einzelnen Autoren.
Im ersteren handelt er recht ausführlich über die Bibelübersetzungen,
läßt aber die zahlreichen Uebersetzungen von Apokryphen beiseite,
da er sie durchweg in eine spätere Zeit setzen zu müssen glaubt.
Seine Notiz über die älteste, nicht erhaltene Evangelienübersetzung
des jakobitischen Patriarchen Joliannan (S. l) ist unvollständig geblieben,
weil er nur aus Barhebraeus schöpft, der seine Quelle Michael Syrus
422 a (Chabot) nur zur Hälfte ausgeschrieben hat. Mich, berichtet
weiter, daß der Patriarch die Bischöfe und Laien aus seiner Diözese,
die Syrisch und Arabisch verstanden, um sich versammelte, von ihnen
in gemeinsamer Arbeit die Evangelien übersetzen ließ und dies Werk
dann dem Prior überreichte. Dankenswert sind seine eingehenden
Mitteilungen über die beiden Münchener Handschriften der spanisch-
arabischen Evangelienübersetzung, auf die neuerdings wieder Völlers
und V. Dobschütz die Aufmerksamkeit gelenkt haben.
Der zweite, über die einzelnen Schriftsteller handelnde Abschnitt
ist rein chronologisch geordnet, obwohl es doch wünschenswert ge-
wesen wäre, die Leistungen der Kopten von denen der Syrer und
hier wieder die der Jakobiten und die der Nestorianer zu sondern.
Seine Angaben über Hss. und Ausgaben sind durchweg vollständig
und zuverlässig. Bei Severus b. al Muqafifa' S. 43 fehlt noch Evetts'
830 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
Ausgabe (Patrologia or. 1, 2). Unbekannt ist ihm wie den beiden
Herausgebern geblieben, daß in Hamburg eine von den Clodices in
London und Tübingen, von denen Oraf den letzteren anch nicht
nennt, stark abweichende Handschrift der Patriarchengescbichte liegt,
über die der Katalog des Ref. demnächst eingehend berichten wird.
Entgangen ist Graf auch der Nachweis von A. A. Vasiliev un
BH3aHT. BpeMeHHHRB XI, Nr. 3 und 4, daß die im Florentiner Codex
CXXXn erhaltene Weltgeschichte des Erzbischofs von Mabbug Mat^büb
(Agapius) b. Konstantin i. J. 941 verfaßt ist, also noch in die Yon
ihm behandelte Periode gehört.
Verdient Grafs Fleiß in der Materialiensammlung alles Lob, so
darf leider doch nicht verschwiegen werden, daß seine philologische
Akribie etwas zu wünschen übrig läßt. Die Umschrift der arabischen
und der syrischen Namen ist gar zu sorglos. Die langen Vokale smd
ganz inkonsequent bezeichnet, und Formen wie ümmaija S. 5, Abd
*Iäua* S. 33, Hödatha S. 37, üseibij S. 47, Mijäfariqin S. 52, 'Bnjib
S. 61, 'ISäjäb 63 u. a. wird man nicht als Druckfehler ansehn können,
an denen es freilich auch nicht mangelt. Al-nab! al-ummt ist nicht
der Nationalprophet (S. 26), sondern der illiterate Prophet
Königsberg G. Brockelmann
Die Ma^allika des Zahair mit dem Kommentar des Abu Qa*far Ahmad
Ibn Muhammad An-Nahhis, nebst einer Einleitung und Anmerkungen heraus-
gegeben von J. Haasheer. Berlin, Reuther & Reichard, 1905. 83, Tö S. SM.
Unter den arabischen Kommentaren zu den sieben Ma'allalMU
ist der älteste, uns vollständig erhaltene, der des ägyptischen Gram-
matikers an-Nabbäs (1338/950). Er ist recht ausfuhrlich gehalten
und enthält mancherlei wertvolles lexikalisches Material, daneben
allerdings auch viele unsere Erkenntnis nicht eben fördernde gram-
matische Erörterungen. Dieser Kommentar ist in dem von Lyall
herausgegebenen Scholienwerke des Qamasaerklärers al-Tibrizi sehr
stark benutzt und oft wörtlich ausgeschrieben. Bei der hohen
Wichtigkeit der Mu'alla^ät für unsere Kenntnis der altarabischen
Dichtung und des Beduinenlebens ist es wünschenswert, daß alles
noch erhaltene Material für ihre Erklärung nutzbar gemacht werde.
So war es ein guter Gedanke von Hausheer, dem 1876 in einer
Hallenser Diss, von E. Frenkel herausgegebenen Kommentar des an-
Na^^äs zur Mu'allal^a des Imru'ulkais den zu Zuhair folgen zn
lassen. Ein Teil seiner Arbeit ist schon vor längerer Zeit gleichfalls
als Hallenser Diss, erschienen.
In einer Einleitung stellt H. noch einmal alle Nachrichten fiber
den Namen des Dichters und die Veranlassung des Gedichtes in
Hausheer, Die Ma'allaka des Zohair 831
Zitaten zosammen. £r führt dann die Ausgaben und Uebersetzungen
aller Mu'allal^ät an; darunter fehlt nur die neueste: The seven golden
odes of pagan Arabia, known also as the Moallakat, translated from
the original Arabic by Lady Anne Blunt, done into english verses
by Wilfrid Scawen Blunt, London 1903. Er geht dann zur Be-
sprechung der Kommentare über. Bei dem ältesten Erklärer erwähnt
er nur die den Kommentar zu Imru'ull^ais enthaltende Handschrift
des India Office, nicht aber die die Schollen zu Imru'ull^ais, Tarafa>
Labid, 'Amr und ^ärit enthaltende Berliner Hs. Glaser 41 (Ahl-
wardt 7440), aus der Schlössinger ZA. 16,15—64 den Kommentar zu
'Amr herausgegeben hat, obwohl er auf ZA. 16, 15fif. selbst hinweist.
Ausfuhrlich bespricht er dann den Kommentar des An-Na^tiäs und
seine Ueberlieferung. Die Textausgabe, der die Leidener und die
Berliner Hss. zugrunde liegen, für die aber auch die Tibrizihss. mit
herangezogen sind, ist sehr sorgfältig hergestellt; selbst Druckfehler
wie sXs>\^\ für Jc>t^l rf , l sind sehr selten. Zu beanstanden wäre
höchstens die mißbräuchliche Verwendung der Medda auch für ä',
die in europäischen Drucken nicht mehr geduldet werden sollte. In
den Anmerkungen hat er mit großem Fleiß die Varianten der sonstigen
Ueberlieferung des Gedichtes zusammengestellt. Auch zu den Sawähid
des Kommentars bietet er sehr reichhaltige weitere Nachweise.
Königsberg G. Brockelmann
Semitle Study Series, edited by R. J. H. Gottheil and M. Jastrow. Nr. lY :
A Selection from the Prolegomena of Ibn KhaldiUi with Notes and
an engliflh-german Glossary by D. B. Macdonald. Leiden, £. J. BriU, 1905.
VI, f . 109 S. 2 8. 6 d.
Dieses Heft bringt, von Macdonald besorgt, einen Ausschnitt aus
Ibn galdäns Mul^addama, der seit A. Sprengers und A. v. Kremers
Arbeiten auch in weiteren Gelehrtenkreisen bekannt gewordenen ge-
schichtsphilosophischen Einleitung des magrebinischen Historikers in
seine Weltgeschichte. Mit glücklichem Griflf wurde jener lehrreiche
und für das weit seiner Zeit vorauseilende, wenn auch z. T. recht
befangene Denken Ibn Haldüns charakteristische Abschnitt gewählt
(pag. 7—23 des I. Bandes der Büläl^erausgabe), welcher die Methode
einer an unverbürgten Nachrichten zu übenden Kritik zum Gegen-
stand hat und diese an mehreren berühmten Beispielen erläutert,
z. B. an der 'Abbäsageschichte als Ursache des Falles der Barme-
kiden.
Die Sammlung soll Lehrzwecken dienen und diesen wurde auch
Heft IV angepaßt. Einige vom Hrsg. und Bearbeiter selbst als
dunkel bezeichnete Stellen werden dem Lehrer Gelegenheit zu text-
832 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
kritischen Auseinandersetzungen geben, ebenso dürften einige ?om
Verf. im Glossar gebotene Erläuterungen zu modifizieren oder schärfer
zu fassen sein. Daß der arabische Text ganz ohne Interpunktion
fortläuft^), wird man vielleicht — der mangelnden Uebersicht
wegen — bedauern. Die Araber wenden in ihren Hss. zwar keine
Interpunktion in unserem Sinne an, aber sie bezeichnen selbst kleinere
Einschnitte mit c fc u. s. w. Wir sollten es ihnen nachahmen, beson-
ders in Textausgaben, welche Schülern in die Hand gegeben werden.
Mit der Einrichtung des Glossary kann ich mich nicht einyer-
standen erklären. Es gibt die Vokabeln nicht nach Wurzeln in
alphabetischer Ordnung, sondern nach Art von Schulpräparationen
in der Reihenfolge des Textes. Die Bedeutung der Wurzelderivate
wird aber der Schüler bei seiner späteren Lektüre erst aus ihrer
Vergleichung an mehreren Stellen schärfer erkennen lernen. Dazn
kann er nur durch wirkliche Glossare mit Konkordanz erzogen
werden.
Das Büchlein erlebt hofifentlich bald eine Neuauflage. Dann
möge ein auch der deutschen Sprache vollkommen mächtiger Arabist
in die Redaktion des Glossars eingreifen, einige störende Druckfehler
tilgen und Unklarheiten des Ausdrucks ebnen. Z. B. pag. 56 des
Glossars Z. 3 unten >Faselnc statt >Toben<, 57 Z. 1 >auf etwas
kommen, es merkenc statt >stolpern<, 59 Z. 1 >weithergeholte< statt
> alberne i. Ebenda im Text pag. 11 Z. 16 möchte ich vorschlagen,
die 2. Person JUU^' statt des Feminins zu lesen und auf das Zitat
bei Dozy s. v. tks>^ II hinweisen. Pag. 103 wäre der malerische Aus-
druck >schluckt seinen Speichel, würgt an seinem Speichel< wört-
lich zu übersetzen gewesen.
Graz N. Rhodokanakis
Max Beisohle, Aufsätze und Vorträge. Herausgeg. u. mit einer biograph.
Einleitung versehen von Th. Häring a. Fr. Loofs. Tübingen, Mohr, 1906.
Am IL Dezember 1905 wurde Max Reischle, noch nicht 48
Jahre alt, aus seiner Wirksamkeit abberufen. Er war keiner der
bahnbrechenden Geister in seiner Wissenschaft, aber einer der tüch-
tigsten Arbeiter in ihr. Es ist sehr berechtigt, daß zwei seiner
nächsten Freunde, Theodor Häring und Friedrich Loofs, eine Samm-
lung von einer Anzahl seiner wissenschaftlichen Abhandlangen und
Vorträge veranstaltet haben. Die Arbeiten, die sie bieten, waren bis
auf zwei bereits früher gedruckt und auch nicht allzu schwer zu er-
reichen. Aber es entspricht wirklich ihrem Werte, nicht nur der
1) pag. 10 Z. 5, 15 Z. 3 findet sich ein lobenswerter Ansatz dazn.
Reischle, Aufsätze und Vorträge 833
Schätzung, die die Freunde für sie hegen, daß sie zusammengestellt
und nun doch wohl weiterer Beachtung und größerer Nachwirkung
erhalten sind, als die ihnen in der Zerstreuung zu Teil geworden
wäre. Vorangestellt ist der Sammlung eine knappe biographische
Skizze. Häring, der ältere Freund und württembergische Landsmann,
schildert uns R.s Jugend und seinen Entwicklungsgang bis dahin, wo
er recht eigentlich die Höhe beschreitet, nämlich bis zu seiner kurzen
Wirksamkeit in Göttingen, Herbst 1895 bis Ostern 1897. Loofs hat
dann den Jahren, in denen er R. als seinen Kollegen und speziellsten
Altersgenossen (R. war einen ganzen Tag älter) in Halle neben sich
sah, die zweite Hälfte der Lebensskizze gewidmet. In den Halle-
schen Jahren war es R. beschieden, vollends zur Anerkennung in
weitem Kreise zu gelangen. Ich selbst habe den Verewigten 3^1%
Jahre in Gießen zum Kollegen gehabt. Er bekleidete dort die Pro-
fessur der praktischen Theologie, die er mit größter Gewissenhaftig-
keit und mit herzlicher Anteilnahme an den mannigfachen Disziplinen,
die sie umfaßt, verwaltete, war aber unverkennbar von der stillen
Hoffnung beseelt, einmal in eine Professur der systematischen Theo-
logie übergeführt zu werden, die seinem eigentlichen wissenschaft-
lichen Interesse mehr entsprach. Eine solche war es denn auch, die
ihm, in erwünschter Kombination mit einem Teile der Verpflichtungen
eines >Praktikers<, an der Georgia-Augusta und dann in Halle zu
Teil wurde. In Göttingen war R., nächst Häring, der zweite Nach-
folger Albrecht Ritschis auf dem Lehrstuhle. Er hatte als einer der
ersten jungen schwäbischen Theologen sich den Einwirkungen der
Theologie dieses Mannes erschlossen, in seiner Kandidatenzeit noch
einmal als Student zu seinen und Hermann Schultz' Füßen gesessen
und als Tübinger Repetent der >Ritschlschen Theologie« Jünger ge-
worben. Er hat es nie verläugnet Ritschlianer zu sein, aber er war
es von Anfang an mit großer Selbständigkeit im wissenschaftlichen
Urteil und in der inneren Stellung. Als er zuerst hervortrat, hatte
der Streit um die Ritschlsche Theologie schon begonnen an Heftig-
keit zu verlieren, und es war dann gerade R.s ebenso sachkundiger
wie freier Weise besonders mit zu verdanken, daß Ritschi wenigstens
nach dem Tode allmählich gerechtere Würdigung auch bei Gegnern
fand, als ihm bis dahin zu Teil geworden. Man kann sagen, daß R.
der > jüngste < Ritschlianer war. Die Generation, zu der er seinem
Alter nach gehörte, begann bereits wieder nach neuen Sternen aus-
zuschauen. Er hörte es gern, wenn man ihn noch der »älterenc
Generation zurechnete. Seine letzte größere wissenschaftliche Arbeit
galt noch der Auseinandersetzung mit der » neuen c Richtung, die
sich als die religionsgeschichtliche zu bezeichnen pflegt.
834 G5tt gel. Anz. 1906. Nr. 10
Aus Härings feiner, mit Recht nirgends in das Detail allzo
intim eintretender Darstellung von R.s persönlicher Art habe ich
erst erfahren, welch sinniger künstlerische, dichterische Zag in dem
werten Manne lag; mir war nur sein musikalischer Sinn, seine
Freude am Singen, ofifenbar geworden. Dazu die sonnige Freundlich-
keit, die ihm eigen war. R. war in erster Linie zum Lehrer veran-
lagt. Seine Neigung zum Psychologisieren , seine strenge Selbst-
disziplin, seine ungewöhnliche Fähigkeit die Probleme klar und über-
sichtlich vorzuführen, seine sichere Art das Wichtige an einer Sache
zu erkennen, machte ihn im besten Sinne zum »Professorc. In pfarr-
amtlicher Tätigkeit hat er nur kurz gestanden. Ehe er an die Uni-
versität berufen wurde, war er Lehrer am Gymnasium, schon damals
als solcher von großem Einfluß auf die Jugend. Als Prediger war er
vorwiegend überlegsam, warm, aber nüchtern und schlicht, kein hin-
reißender Redner, aber ein gewinnender, immer selbst ergriffen von
seiner Sache, aber bescheiden zurückhaltend in der Bezeugung seiner
Ergriffenheit. In der Sammlung, die Häring und Loofs bieten, steht
eine Predigt voran, die letzte, die er hier in Göttingen hielt Sie
ist in ihrer taktvollen Weise, die Situation eigentlich gar nicht zu
berühren und doch gerade etwas zu sagen, was einem Abschied en^
spricht, so recht eine Probe von seiner herzlichen, maßvollen und
doch innerlich kraftvollen Art. R. war ein Mann von Greist, eben
darum zeigt er sich nie geistreich; er hatte offensichtlich Scheu vor
glitzernder Rede und Darstellung. Seine Methode ist zuweilen etwas
umständlich, aber man folgt seiner Erörterung auch dann ohne
Langeweile, da man erkennt, daß er sich nie ins Kleinliche verliert
Ganz reizend, inhaltreich und doch in der Form dem Stoffe ent-
sprechend leicht und gefällig, im besten Sinne spielend, ist sein Vor-
trag über >Das Spielen der Kinder in seinem Erziehungswert« R.
war von Herzen an der Pädagogik interessiert und wenigstens in
Gießen gehörte sie auch zu den Thematen seiner Vorlesungen. Man
merkt den Kinderfreund in dem Vortrage allenthalben. Dem Ge-
biete der Pädagogik gehört auch der Vortrag über > Simultan- und
Konfessionsschule« an. Er ist aus abkürzungsreichem Konzepte ge-
druckt, das R.s treue Lebensgefährtin mühsam entziffert hat; ihn
drucken zu lassen legte sich schon durch den Umstand nahe, daß er
unmittelbar vor R.s schwerer und nicht mehr zur Genesung führen-
der Erkrankung gehalten ist. R. greift hier in die Verhandlungen
über das neue preußische (erst nach seinem Tode verabschiedete)
Schulgesetz mit ein. Wie sachlich, als rechter Akademiker, er das
tut! Es ist eine knappe, klare, absolut nicht advokatische, aber ein-
dringliche Empfehlung der Konfessionsschule, was wir bei ihm leaen;
Reischle, Aufsätze and Vorträge 836
im Vordergrunde steht die Rücksicht auf die notwendigen, nicht
abstrakt zu formulierenden, sondern durch das Leben unsers Volkes
gebotenen Ziele des Unterrichts der Volksschule. R. ist sehr weit
entfernt von konfessionellem Fanatismus; er hat nur einen klaren
Blick für die Realitäten, unter denen die Schule wirken muß, und
erwartet von der durch den Staat beherrschten konfessionellen Schule
am ehesten etwas für den wirklichen konfessionellen Frieden.
Aus dem Gebiete der systematischen Theologie sind vier Auf-
sätze in die Sammlung aufgenommen. Einer, mit der Ueberschrift
>Kirchliche und unkirchliche Theologie, < vom Jahre 1901, hat Be-
zug auf eine gerade damals etwas hitzig betriebene Debatte. Daß
die Kirche nicht das Recht hat, der wissenschaftlichen Erforschung
des Christentums einen Riegel vorzuschieben, ist unter protestanti-
schen Theologen im Grunde für jeden eine Selbstverständlichkeit,
aber wer soll sich noch für die Theologie und ihre Arbeit interessieren,
wenn nicht die Kirche? R. erörtert die Frage, welches das richtige
Interesse der Kirche an der Theologie sei, und bringt umgekehrt
den Theologen zum Bewußtsein, daß ihrer Arbeit der Lebensodem
ausgehen würde, wenn sie ihrerseits die Kirche einfach ignorieren
wollten. Schleiermachersche Gedanken bilden das Grundgewebe der
R.8chen Erörterung, die übrigens darin ausläuft, daß im Einzelnen
Konflikte zwischen dem kirchlichen Interesse und der theologischen
Forschung nie ganz zu vermeiden, bei Einsicht in die wirkliche
Sache des Glaubens aber auch zu ertragen und letztlich auch auszu-
tragen seien. R. lebt der guten Zuversicht, mit der Kirche, daß der
christliche Glaube nicht Lügen zu strafen sei. Zwei kleinere Aufsätze
behandeln die Frage nach der Bedeutung des Historischen für den
Glauben, der eine in allgemeiner Fassung: »Der Glaube an Ge-
schichtstatsachen,« der andere in besonderer Zuspitzung: > Zur Frage
nach der leiblichen Auferstehung Jesu Christi.« Die Aufsätze sind
in der > Christi. Welt« erschienen und wollen Laien orientieren. Für
ihren Zweck vortrefflich geeignet, sind sie wissenschaftlich nicht sehr
eingehend. R. selbst hat in anderen, strengeren Untersuchungen sich
den gleichen Fragen noch mehrfach zugewendet. Ich denke, die
beiden Abhandlungen werden das Interesse wecken, gerade auch das
zu lesen, was R. anderwärts zu ihren Problemen gesagt hat. üeber-
baupt soll niemand denken, daß er R.s andere Arbeiten bei Seite
lassen könne, wenn er die paar Stücke der Sammlung kennen gelernt!
Die umfänglichste Abhandlung, die der Sammlung einverleibt ist,
trägt die Ueberschrift > Erkennen wir die Tiefen Gottes?« Sie war
es, die R.s wissenschaftlichen Ruf besonders begründete. Mit ;ihr
rechtfertigte er es sogleich im ersten Jahrgang der von Gottschick
herausgegebenen »Zeitschrift für Theologie und Kirche, < daß er
Ofttt g«l. Au. 1906. Mr. 10 58
836 QOtt. gel. Ans. 1906. Nr. 10
unter die Zahl der >Mitheraasgeber< aufgenommen war. Sie war
auch der direkte Anlaß für seine Berufung nach Gießen. Ich meine,
daß die Abhandlung wohl überhaupt die bedeutendste unt^ K&
wissenschaftlichen Arbeiten sei. Es ist ja gar nicht so selten, d&fl
ein hoch veranlagter Geist in jugendlicher Leistung bereits das Größte
hervorbringt, was ihm beschieden sein soll. Das macht die späteren
Leistungen nicht an sich geringwertiger. Denn sie können geeign^
sein, einem erst recht zum Bewußtsein zu bringen, was ihr Urheber
schon längst im Rate der Forscher an Geltung beanspruchen durfte.
In der Tat hat R. nachher noch recht vieles geschaffen, wie auch
jene Abhandlung nicht die erste Leistung war, die er den Fachleuten
vorlegte. Aber jene Abhandlung offenbart, zumal im Rückblick, wie
voUreif R. als Systematiker schon damals als Dreiunddreißigjähriger
war. Gerade gegenüber allemeuesten Strebungen der ReligionsphQo-
Sophie und theologischen Glaubenslehre erscheint R.s Abhandlung
wie eine Vorwegnahme wichtiger Probleme und Lösungen; sie kann
in dem Streite um Transszendenz oder Immanenz Gottes, am Mög-
lichkeit und Recht Gott als Persönlichkeit zu denken, um die rechte
Bewertung all des Irrationalen im Weltleben, welches die christlidie
Anwendung der Liebesidee auf den Inhalt des Wesens Gottes be-
drängt, gerade jetzt vielleicht ihre vollste Bedeutung erlangen. Idi
meine, wir dürfen in dieser Abhandlung auch eine gewisse Aus-
gleichung der schmerzlichen Spannung der Gefühle finden, die R.8
vorzeitiges Ende uns hinterließ. Gewiß ist es R. nicht beschieden
gewesen, sich auszuwirken. Er hatte seither vieles in Arbeit ge-
nommen und hoffte noch auf die eigentliche Frucht seines Lebens.
Er hatte, zumal in Halle, weitere Einzelproben seiner philosophischen
Gelehrsamkeit und Veranlagung so reichlich vorgelegt, daß wir alle
uns freuten auf die > Religionsphilosophie«, die er zu schreiben zu-
gesagt hatte. Aber den >Wurf<, daß ich so sage, gerade seiner Beli-
gionsphilosophie, hat er ohne Zweifel in jener Abhandlung schon
getan gehabt. So mag sie, auch in der geschliffenen, feinen Form,
die sie trägt, uns die innere Befriedigung gewähren zu glauben, dafi
er doch das >Ganze< seiner Gedanken andeuten durfte.
Ein Verzeichnis sämtlicher literarischer Arbeiten R.s, das seine
Gattin hergestellt hat, bildet den Schluß des kleinen Bandes. Ein
gutes Bild des Verblichenen erinnert seine Freunde an den lebhaften
gütigen Gesichtsausdruck, den wir an ihm kannten; es wird ihm ge-
wiß noch bei vielen etwas von der Sympathie erwecken, die er wohl
jedem unmittelbar eingeflößt hat, der sich in seinem Leben mit ihm
berührte.
Göttingen ^___^__^^^ F. Kattenbnsdi
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. Eduard Schwarts in GMtiBfen
November 1906 Nr. II
€• Lneilil e«niiinain reliqniae, recensuit enarravit FridericusMarx. volamen
prius: prolegomena, testimonia, fasti Luciliani, carminum reliquiae', indices.
1904. Yolumen posterius : commentarius. 1905. Lipsiae, in aedibus B. G. Teubneri.
8«. I: CXXXVI + 169 S., II: XXIV + 437 S.
Dieses Buch loben ist leicht. Wer nur ein paar Seiten des
Commentars liest, muß sehn daß jeder hinfort den es angeht das
Buch nicht nur lesen sondern studiren muß. Es ist nicht zuviel ge-
sagt, daß es durch mehr als eine Eigenschaft an Lachmanns Lucrez
erinnert, vor dem es die allseitige Erklärung voraus hat, während
es sich freilich auf Untersuchungen, die die Grenzen des Gegen-
standes überschreiten, nicht einläßt. Eine solche Fragmentenerklärung
gibt es überhaupt bisher nur in Proben; jede folgende kann sich
getrost an dieser das Muster nehmen. Jedes Wort überlegt und ge-
prüft, aller Stoff, der grammatische litterarische historische staats-
rechtliche archäologische, ins Tiefe durchgepflügt, alles mit voll-
kommener Knappheit und Klarheit vorgelegt; ein sicher schreitendes
und führendes Gefühl für das Richtige; ein Latein so scharf und
persönlich wie die Untersuchung. Denn persönlich ist sie durchaus,
nichts von Schema und Schablone. Solche Arbeit an den Trümmern
einer großen Production geleistet ist schöpferisch, der Dichter, sein
Kreis, seine Zeit fügen sich vor unsern Augen zusammen. Man darf
sagen, daß wir Lucilius erst jetzt kennen. Marx hat selber vor 25
Jahren durch seine Erstlingsschrift den Weg bereitet; man hat auf
ihn gewartet, und er führt uns nun so sicher aufs Ziel zu, daß man
glaubt es greifen zu können.
Ein Buch wie dieses lobt sich selbst; wer es nur zu loben hat,
soll das lieber dem Buche überlassen. Wer seine productive Wirkung
spürt, muß sich vor allem mit dem Buche auseinandersetzen und zu-
sehn ob er weiter kommt. Ich unterlasse aber nicht ausdrücklich zu
betonen, daß wenn ich irgendwo einen Schritt weitergekommen sein
sollte, mir das nur durch die von Marx geleistete und oft kaum
durch Worte angedeutete Arbeit, die Sichtung des Ueberlieferten,
OOtt g»]. Au. 1906. Nr. 11 59
838 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
Vorlegung des Tatsächlichen, Auscheidung der Meinungen und Vor-
urteile, möglich geworden ist. neque tarnen finitam esse poetae diffi-
cillimi emendationem et interpretationem, sed coepisse sagt Marx I
S. CXVII.
Es war bisher in der Tat schwer an Lucilius heranzukommen.
L. Müller verstrich die Nichtigkeit seiner Leistungen durch ein ödes
stilwidriges Interpoliren, und die elende Dürftigkeit seines C!om-
mentars, ohne Ahnung von den Aufgaben die im Gegenstande liegen,
führt in die Irre oder doch auf dem Wege nicht weiter. Lachmann,
so vieles er richtig gesehen, hat doch zu viel conjicirt und zu wenig
interpretirt. Marx spricht I S. CXV S. über seine Vorgänger kurz
und treffend. Zwischen J. Dousa und Scaliger dort und Marx hier
kann man außer Lachmann eigentlich nur Bücheier nennen als einen
der die Kritik der Fragmente wirklich gefördert hat
Die Ueberlieferungsgeschichte der Satiren und der Grammatiker-
citate behandelt Marx I S. L if. Philocomus ist ihm grammaiicorum
equitum doctissimus; die dagegen erhobenen Einwendungen beachtet
er nicht; mir erscheinen sie noch heute sehr triftig. An gar zu
dünnem Faden hängt leider die Reconstruction der chronologisch
geordneten Ausgabe, die er (S. LIII) aus Varro de 1. 1. VII 47 er-
schließt; daß die drei Citate auf einer Sammlung von Fischglossen aus
Lucilius beruhen, ist sehr wahrscheinlich. Das Princip der metrisch
geordneten Ausgabe erläutert er sehr schön durch die Folge episch
elegisch jambisch. Daß Macrobius III 16. 17 aus alten Luciliusscholien
schöpft, ist einleuchtend und wichtig. Von Verrius Flaccus sucht
Marx (S. LXU if.) nachzuweisen, daß er seine Luciliuscitate nur aus
zweiter Hand habe; ob die Argumente ausreichen, eine so auffallende
These zu beweisen, ist mir zweifelhaft. Auf die eingehende Unter-
suchung über das Verhältniß des Charisius und Priscian zu Caper
(LXVff.) kann ich nur hinweisen. Marx beweist aus der verschie-
denen Art zu citiren, daß bei beiden Capers eigne Excerpte aus
Lucilius vorliegen, daß aber lulius Romanus (bei Charisius) Lucilius
nicht aus Caper citirt hat. In den Abschnitt über Probus ist eine
aufklärende Erörterung über den Vergilcommentar eingelegt (LXmf.),
der als (syp^^i^h'^ 6icö(i.vifjjta auf Probus' Vorlesungen zurückgeführt
wird.
Der Hauptabschnitt ist natürlich über Nonius (S. LXXVIII ff.).
Sehr hübsch erläutert Marx, wie Nonius die Aufgabe des Excerpirens
an seine servi litterarii verteilt hat, von denen der eine immer Af.
Tullit4S, der andere immer Cicero^ der eine Lucilius satyrarum lib. /,
der andere Lucilius lib. I setzte; was dann der Redactor der ganzen
Compilation, d. h. Nonius, beibehielt. Weittragende Folgerungen zieht
Lucilius ed. Marx vol. I. 11 839
Marx aus dem Umstände, daß in den Citatenreihen aus Buch XXVI
bis XXX in der Regel, in denen aus I — XXI zuweilen die Bücher
des Lucilius in umgekehrter Folge aufgeführt sind (tabellarische
üebersicht S. LXXXVII— CVI). Wo diese Folge der Bücher erscheint,
sind nach seiner Ansicht auch die Citate nicht in der vom Anfang
zum Ende vorschreitenden Folge, sondern vom Ende zum Anfang
zurückschreitend in die Compilation aufgenommen worden. Marx
stellt sich das so vor (S. LXXXIII), daß die Excerptoren die Rollen
aufgewickelt hatten, um die Citate zu bezeichnen, und nun, um die
Arbeit des Zusammen- und Wiederaufrollens zu sparen, beim Zu-
sammenrollen die Citate von hinten nach vorn auflasen. Hierdurch
gewinnt Marx ein festes Princip für die Anordnung eines großen
Teils der Fragmente, indem er die Reihen des Nonius umdreht;
woraus sich dann weitere Schlüsse über die Zahl und metrische Ord-
nung der Satiren ergeben.
Ich glaube nicht, daß sich diese Ansicht wird aufrecht erhalten
lassen. Für die Umdrehung der Bücherreihe gibt es freilich bisher
keine rationelle Erklärung (vgl. Lindsay Non. Marc' diet, of republ.
Latin S. 101); aber diese ist auch durch die Voraussetzungen von
Marx nicht erreicht. Denn die umgekehrte Bücherfolge bedeutet nicht
umgekehrte Excerptenfolge. Das würde nur der Fall sein können,
wenn wir einen Pergamentband anzunehmen hätten, der die Bücher
XXVI— XXX zusammen enthielt; dann aber wäre zu dem von Marx
angenommenen Verfahren kein Anlaß gewesen, und seine ganze
Hypothese gründet sich daher auf die Voraussetzung, daß es ein-
zelne Rollen waren. Wenn man zugibt, daß diese, da sie einmal auf-
gerollt waren, beim Zurückrollen gleich die angezeichneten Citate
hergeben mochten, .ist doch garnicht einzusehn, warum man 5 Rollen
eine nach der andern aufrollen und dann das Zurückrollen mit der
letzten hätte beginnen sollen. Diesen Einwand hat sich Marx ohne
Zweifel selber gemacht; aber die Beweisführung, mit der er ihm be-
gegnet, ruht auf zwei sehr wenig tragfähigen Stützen. Einmal sind
die Horazcitate in Kap. II bis IV, wenn man sie zusammennimmt, in
umgekehrter Buchfolge (sat. II. I carm. IV. I), zwei von ihnen, aus
sat. I, in umgekehrter Satirenfolge (3,81; 2,89) gegeben. Aber es
sind im ganzen 5 Citate, über 155 Noniusseiten (vielmehr über die
drei Kapitel von mehr als 350 Seiten) verteilt; sat. 13,81 ist p. 134,
sat. 12,89 ist p. 196 citirt. Daraus ist in der Tat garnichts zu
folgern, der ganze von Marx vorausgesetzte Vorgang ist auf 5 Stellen,
die aus 9 bis 10 HorazroUen herausgeholt worden wären, die auf eine
Compilation von 557 Seiten unsrer Zählung zu verteilen waren, gar-
nicht anzuwenden. Noch weniger beweisen, wie Marx selber andeutet,
69*
B40 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
die Excerpte aus Ciceros Academica posteriora und dem 15. Buch
der Episteln, da in jenen die Folge wechselt, in diesen die Reihe
nicht gleichmäßig abläuft. Von andrer Art sind die drei Gitaten-
gruppen aus Ciceros Tusculanen, die Marx in einem Nachtrage II S. VI
anführt. Sie stehen im ersten Teil von Kap. IV, ihnen gegenüber
eine große Zahl von Citaten aus demselben Werk in diesem und
anderen Kapiteln des Nonius. Von den drei Gruppen scheidet die
zweite (V 97.15) aus, da man doch nicht umhin kann, die auf p. 266
überlieferten Belege für contentus unter dies Lemma p. 264 zu stellen.
Auf die zweite (1 42. 37) komme ich gleich zu sprechen. Die erste
(V 62. 57. 4) bleibt übrig; das zweite dieser drei Citate ist vom ersten
fast 6, das dritte vom zweiten über 10 Noniusseiten entfernt; die
drei zusammenzunehmen ist so wenig angezeigt wie bei den Horaz-
citaten. Nimmt man sie aber zusammen, so bilden sie gegen die
übrigen Citate aus den Tusculanen (z. B. p. 66. 443) eine Ausnahme,
die nicht geeignet ist einem Princip als Grundlage zu dienen, es
auch nicht wäre wenn die Ausnahmen zahlreicher wären. Das zweite
Argument betrifft die Luciliuscitate selbst: Nonius citirt p. 405 sq.
Buch XXIX. XXIX. XXVI (diese Zahl falsch, da es ein Senar ist;
richtig XXIX oder XXVIII) XXVUI. XXVII. Die beiden ersten dieser
Citate hat Lachmann und nach ihm Marx in umgekehrter Folge zu-
sammengefügt (830— 833 M.):
et amabat omnes. nam ut discrimen non facit
neque signat linea alba (in albo marmore),
sie Socrates in amore et in adulescentulis
meliere paulo facie: signabat nihil
quem amaret.
(über den Text s. u.). Daß die Verse in dieser Folge zusammen-
gehören, steht außer Zweifel; wer sie in der Folge, in der Nonius
sie bietet, zu interpretiren versucht, wird sich davon überzeugen.
Hier liegt also eine Umkehrung der Citate innerhalb umgekehrter
Bücherfolge vor. Die Sache liegt aber so: Nonius führt unter dem
Lemma signare an v. 832 für die Bedeutung designate , ostendere^
V. 830 für die Bedeutung discernere, separate. Er hat sich also die
Versgruppe, in der das Verbum zweimal vorkommt, ausgeschrieben,
hat die Bedeutungen von signare nach seiner Gewohnheit in c IV
(z. B. grade vorher squalidum^ sicut plerumque, dicüur sardidum^ dann
fülgens; sedet significationem habet claram, dann placet; susiuia est
susum tülitj er exit, dann abstulit; spargere significat destülare vd
guttoHm fundere, dann madefacere — separate — inplere) so geordnet, dafi
die ursprüngliche Bedeutung voransteht, die Variationen folgen, und
Lucilius ed. Marx vol. I. 11 841
hat nun selbstverständlich den Vers mit der ursprünglichen Bedeu-
tung als Beleg vor dem mit der abgeleiteten eingesetzt. Dieser Fall
klärt sich also vollkommen aus der inneren Anordnung der Artikel
auf und beweist durchaus nichts für die von Marx aufgestellte These.
Von ähnlicher Art sind die beiden Gitate Cic. Tusc. 1 42 und 37, von
denen oben die Bede war: beide sind Belege für constat, 42 für die
erste Bedeutung (vcUet, consistit), 37 für die dritte (eredus est): da-
her die umgekehrte Folge der ursprünglich in der Folge des Textes
excerpirten Stellen.
Es scheint mir danach, daß die These mit ihren Gonsequenzen
fallen und Lindsay mit seinem in drei Besprechungen des Werkes
und im Philol. 64, 461 ff. erhobenen Widerspruch recht behalten wird.
Ein wertvolles Supplement zu diesem Abschnitt über Nonius
bringt der 2. Band S. VIII ff.: das Verzeichniß der Gitate aus Luc.
I— XXV, die in einer von der stehenden Gitirweise des Nonius ab-
weichenden Art eingeführt werden. Marx weist zu jedem einzelnen
nach, daß das Gitat mit der Glossirung aus grammatischer Arbeit
stammt.
Was die Ueberlieferung des Lucilius durch die Noniushand-
schriften angeht, so hat Marx ganz recht mit der Hindeutung (S. GXIU),
daß eine Luciliusausgabe keine Noniusausgabe ist. Er beschränkt
seinen Apparat auf den Leidensis (L) und den Guelferbytanus (G).
Das ist freilich zu wenig oder zu viel, denn G konnte man entbehren
und L ist nicht immer genug. Im allgemeinen ist wohl eine Ueber-
lieferung wie die des Nonius, die auf einem Archetypus etwa des
8. Jahrhunderts beruht, durch die beste der vorhandenen Hand-
schriften hinreichend repr'äsentirt und es kommt nicht viel darauf
an, ob die Lesart, um die die Handschrift gerühmt wird, wirklich
nur in ihr erscheint (wie v. 473 inquin) oder die allgemeine der nicht
interpolirten Handschriften ist (wie v. 480 versi fictOy 680 inpura
modum). Aber es kommt vor, daß die adnotatio LG in die Irre
führt, wie z. B. 79. 80, wo L^ parum statt fartim hat, fartim purum.
(G) aber überhaupt schlecht bezeugt und die Wahrscheinlichkeit da-
für ist, daß parum verschriebenes fartim ist. Nicht zu billigen ist
die Mißachtung der Varianten des Florentinus. Sie bieten p. 67 im
Varrofragment pareutactae (Marx II 123 *non magni faciendum'); v. 733
das erlesene und ganz tadellose miserlnum, wo miserrimum proso-
disch bedenklich und der Superlativ schlecht ist (ardumy miserrimum
atque infelix lignum); v. 1062 mensu iabinOf das mit mensülibano der
Handschriften auf das längst gefundene mensula vino zurückgeht;
Marx erwähnt die Variante nicht. Für die bei Gharisius erhaltenen
842 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
Fragmente verwertet er sehr sorgfältig die von Dousa mitgeteilten
Lesarten des verlornen Goloniensis.
Die Hauptsache ist die Behandlung der Fragmente, das Schwer-
gewicht des Werkes liegt durchaus im Commentar. Ich will ihn
nicht noch einmal rühmen oder auf die schlagenden Emendationen
und einleuchtenden Erklärungen überall besonders hinweisen. Den
Leser nehmen besonders die Beconstructionen des Inhalts, von der
aus den Studia Luciliana bekannten Art, gefangen und geben ihm in
einziger Weise ein die Zerstückelung der Reste überwindendes Ge-
fühl des Zusammenhanges, des Ganzen. Die Götterverhandlung in I,
der Proceß des Albucius und Scaevola in II, vor allem die Reise in
III und so fort: es sind Meisterstücke der Interpretation besonders
durch das Aufspüren und Verknüpfen der zueinander gehörigen und
ineinander greifenden, die verlorene Einheit herstellenden Momente.
Was ich im folgenden bespreche sind nur Einzelheiten; meist solche
die ich anders als Marx beurteile; das Ganze wird kaum irgendwo
dadurch berührt.
Gleich in v. 1
aetheris et terrae genitabile quaerere tempus
genitabüe zu Substantiviren und quaerere temptis est zu verstehn ist eine
Härte, die zu motiviren Prop. 1110,1 keineswegs ausreicht und die man
nur acceptiren könnte, wenn die natürliche Verbindung genitabüe
tempus (wie genitabilis aura, genitalis origo bei Lucrez) Schwierigkeiten
machte. Die Frage nach der Zeit, in der Himmel und Erde (Diog.
L. VII 138 xöofjLoc — Sc fTQOi HooeiScoviog — ooonjfjia IS o^pavoö xai
Y*^?) entstehen können, setzt die Y^veoig voraus, ist also stoisch und
bezog sich je nach dem Zusammenhang entweder auf das periodische
Vergehen und Werden (Zeno frg. 98 Arn. xatd ttvag 6l|i.ap|iivoD<; xpo-
voog IxTcopoöodat töv oüjiTcavta xöojiov, eit' audic ÄoXtv Staxoojteio^at)
oder auf den Frühling als Werdezeit: Chrysipp frg. 584, II p. 180
Am. (Philo) tempus autem tnundi conditi — vemum tempus est; hoc
enim tempore omnia universim florescunt ac germinantur.
V. 33 ist überliefert (bei lulius Rufinianus als Beispiel des en-
thymema): si me nescire hoc nescis quad quaerere dico, quare divinas
quicquam aut quare debes ipse? et si scis q. b. e. scire hoc d. t. Marx
schreibt, nach Gesner, an tu quaerere debes ipse? Aber der Gegensatz
zu si nescis ist doch durch et si scis gegeben, das am Versanfang
seine beste Stelle hat; und da aut quare vollkommen gut anschlieüt,
darf man dem Schein der Conjectur nicht folgen. Die Comiptel liegt
nur in dd)e$, emendiren kann ich sie nicht; die Anfangsbuchstaben
im dritten Verse lassen nur ein Raten zu:
Lucilius ed. Marx vol. I. II 843
si me nescire hoc nescis quod quaerere dico,
quare divinas quicquam aut quare sapis ipse?
et si scis, quare bonus es? scire hoc dabis? tempta.
bantis^ wie die Götter sein müssen (Apollo, der dem Redner nicht
aus der Verlegenheit hilft); hoc, die eben gestellte Doppelfrage. Zu
vergleichen Lukian lup. tr. 26 ff.
V. 36 schreibt Marx nodum in scirpo insane quaerere vtUtis, über-
liefert ist nodum in scirpo insano facere ulcus; das ist Buchstabe für
Buchstabe richtig:
nodum in scirpo, in sano facere ulcus.
Vorher ging etwa hoc quid erit? Es ist, in deutlicher ümbiegung
des bekannten Sprichworts, gesagt von dem, der an der Binse einen
Knoten macht, weil er keinen findet; so am gesunden Körper eine
Wunde. Cicero pro Sest. 135 non ea est medicinal cum sanae parti
corporis scalpellum adhibetur atque integrae: carnificina est isla et
crudelitas. Der Versschluß wie v. 426 neque mu facere umquam (nicht
inquam). Uebrigens ist das Fragment in Wessners Donatausgabe
(Andr. 941) richtig gedruckt.
Bei Donat ist auch v. 56 überliefert: zu Phorm. 123 {qui ilium
di omnes perduint): ^qui* utinam est, ut Lucilius in secundo: ^qui te
montane malum ad cetera pergiV. aut per(tinet ad) ^hoc consilium quod
dicam dedif^). Marx hat mit Recht montane (nicht Nomentane) bei-
behalten; er versteht es als rauh und bäurisch, vgl. Friedländer zu
luv. 2,74. Auch mit der Auffassung des Ganzen, daß der Redner
nach einer Verwünschung des Gegners ad cetera pergit, hat Marx
ohne Zweifel recht. Nur die Form, die er dem Satze gibt, kann
nicht richtig sein: qui (di) te, montane, malum — {atque) ad cetera
pergit. Erstens darf qui te nicht getrennt werden (PI. Trin. 997 be-
weist nichts) ; wollte man qui te di (wie v. 240 qui te bonus luppiter)
einsetzen, so würde malum nach Marxens Auffassung nicht mehr leicht
mit te zu verbinden sein. Aber diese ganze Construction von malum
ist nicht statthaft ; es folgt auf das Fragewort oder auf das Personal-
pronomen (Lorenz zu Pseud. 236, zu Most. p. 203). Also läßt sich
malum nur als Subject verstehn:
- qui te, montane, malum — (tum) ad cetera pergit,
wobei ein Verbum wie perdat zu verstehen ist. Man muß sich wohl
damit begnügen; aber zu wünschen wäre, daß qui te den Vers an-
1) Ich habe den SchluE des Scholions miitausgeschrieben, weü erst dadurch
die Grenze des Fragments bestimmt ist. Der Sinn ergibt sich aus dem nächsten
Scholion und aus dem später folgenden secundum quosdam ordo est *qui Aoc cofi-
silium quod dicam dedit\ Wessner hat die SteUe gewaltsam behandelt.
844 Oött gel Abk. 1906. Nr. 11
finge, der Ausdruck gebräuchlicher und montane durch ihn motivirt
wäre. So bin ich auf folgende Fassung gekommen:
qui te (mens,) montane, mali — tum ad cetera pergit.
Fl. Epid. 84 in te innu>nt monies mäli, Most. 352 malt, maeroris
montem (Mere. 163 ffiensaurum malt). Zu verstehen obruat.
V. 66 fällt es schwer an impuno zu glauben, zumal in den Frag-
menten noch zweimal impune vorkommt; auch macht die von Marx
eingeführte Frageform den Ausdruck gezwungen. Bei impuno{e) est ist
doch auf keine Weise zu bleiben, die Umstellung heilt den Vers:
homo impuratus et est impune rapister. — Zu v. 67 : quae harts stMaia
duabus omnia sunt sole occaso ductu Qtuius man%^)que.
Scaligers Nomentanus hat Marx mit Recht auch aus v. 69 ent-
fernt; namen ist hier so passend wie dort montane. Aber der Vers-
anfang den er gebildet hat: nunc (in) nomen iam ist schwerUch
statthaft. Cäsur in einsilbigem Wort nach spondeischem Wort kommt
sonst in den Fragmenten nicht vor (nach daktylischem oft), 449
acribus inter se ist anders; in vierter Hebung 1067 quis totum sets
corpus iam perolesse bisulcis (wo Lachmann mit Recht corpus scis ge-
stellt hat) will Marx durch den Vers Lucr. II 907 sed tarnen esto iam
stützen, der auch nunc in nomen iam zu sichern nicht ausreicht.
Doch würde man das hinnehmen, wenn es überliefert wäre; nicht
gegen den überlieferten Anfang nunc nomen. Diesem nunc ist das
folgende iam entgegengesetzt:
nunc nomen, iam (iam) quae ex testibus ipse rogando
exculpo, haec dicam.
nämlich nunc nomen (dico), d. h. den von ihm in die Abrechnung
eingetragenen Posten, gleich werde ich euch durch die Zeugen
darüber aufklären.
V. 82 interpungirt Marx: non dico: ^vincat licä, et vagus exulet,
err et exlex' und erklärt sehr künstlich; et sei adversativ; wenn d
adversative Begriffe verbindet, so verbindet es doch nur und kann
nicht selbst ein so starkes adversatives Element hinzugeben wie es
hier der Fall sein müßte. Draeger, auf den Marx verweist, hat
nichts dergleichen und überhaupt meist Unzutreffendes. Das un-
brauchbare einfache et führt auf den richtigen Ausdruck:
non dico 'vincat licet': et vagus exul et erret
exlex.
exlex steigert das asyndetisch (wie 292 solem auram, 293 tristes
difßcüeSt 296 graciia pemix) zusammengenommene vagus exul. Beide
Adjectiva Accius 415, Cicero pro Cluent. 175 (cum vagus et exd
Lucilius ed. Marx vol. I. II 845
erraret, vgl. Ovid Ib. 113 exuJ inops err es), erret iicö xoivoo. 'Ich
sage nicht 'mag er den Proceß gewinnen' : im Elend soll er schweifen
und vogelfrei\
Zu den Stellen für inimicus — Jiostis (v. 94) möchte ich (zu
II S. 44) hinzufügen Cicero ad Att. 11 19, 3 inimici erant equitibus —
hostes Omnibus; und zu andern Stellen einiges was nicht ganz über-
flüssig sein mag. Zu v. 210 (IIS. 86): Cicero ad Att. 118,3 consul
— quem nemo — aspicere sine suspiritu possit; v. 356 (II 133) vero:
Cicero de rep. 158; v. 442 (II 165): PL Men. 101; v. 540 (II 203)
Cic. de nat. deor. 179, Hör. sat. 16,67, Sen. contr. 112,12; v. 881
(11298) fehlen die Plautusstellen : Bacch. 1101, Most. 1109; 884 sq.
(II 299): PI. Irin. n4; v. 1020 (n327): PI. Men. 115; v. 1268
(II401): Arist. £q. 94. Anderes gelegentlich. Ausdrücklich bemerke
ich, daß Marx nur gewählte und charakteristische Stellen zur Er-
läuterung anzuführen pflegt.
Die Behandlung von v. 185—188 in dem großen Brie£fragment
des 5. Buches erregt Bedenken. Marx nimmt Anstoß an der Bildung
oo(i.(i.6ipaxio)86(; {symmiradodes die maßgebenden Handschriften des
Gellius; Marx schreibt die griechischen Fremdwörter mit lateinischen
Lettern: mitBecht, vgl. II S. 10,79.114.203). Das Compositum hat
in der Tat keine ratio, aber die Verbindung lerodesque simül totum ac
symmiradodes zeigt, daß der Dichter den Begriff des Vollständigen
recht kräftig pressen und herausdrücken wollte; er hat darum das
Wort gebildet nach der Analogie einerseits von o6|i.9cX6a)g ot)|i.9cXi^pT)g,
andrerseits von lateinischen Adjectiven der Umgangssprache wie con-
dignus condensus consucidus combardus, deren con lediglich steigert.
Daß im Parisinus s. XIII si mircUiodes steht, hat garnichts zu sagen.
Der durch si miraciodes entstehende Gedanke verlangt si (videtur)^
nicht das allein von selbst entstehende si (est) ; dagegen in der Ver-
bindung delectat quod gibt quod (est) den richtigen Gedanken. Man
darf also nicht quod atechnon absondern, wie Marx es tut:
hoc nolueris et debueris te
si minus delectat (quod atechnon) et Eissocratium hoc
lerodesque simul totum ac si miraciodes,
non operam perdo, si tu hie.
Vielmehr muß man fragen, was die auffallende Verbindung atechnon
et Isocratium zu bedeuten hat, die Scaliger und alle Herausgeber,
selbst Lachmann, verführt hat texviov Isocratium zu schreiben; damit
hat erst Marx aufgeräumt. Da nun 'looxpdxetov und t&x^iq kein Gegen-
satz ist, kann itexvov hier nicht die allgemeine Bedeutung 'sine
arte' haben ('casu non arte effectum' Marx), sondern die sich von
846 G5tt. gel. Anz. 1906. Nr. 11
selbst specialisirende 'praeter artem\ d. h. gegen einen bestimmten
Teil der td^viQ verstoßend, ixe/voc heißt 'kunstlos' und 'kunstwidrig'
wie Svo|i.oc 'gesetzlos' und 'gesetzwidrig', atechnon et Isoeraiium, ver-
stoßend gegen den Teil der t^viq, der die gorgianisch-isokrateische
Figur ausschließt, d. h. gegen die Lehre vom loxvöv, speciell und
durch den Fall gegeben gegen die peripatetische Brieftheorie, wie
sie bei Demetrios n. Ip(i.. 223 fi. vorliegt. Artemon, der die Lehre
bei Demetrios vertritt, kann man mit einiger Sicherheit in die Gene-
ration nach Aristarch setzen, also in die Zeit des Lucilius. Daß die
Rhetorik an Herennius und Cicero de inventione die Lehre nicht er-
wähnen, hat nichts zu bedeuten, da Cicero sie kennt (ep. 1X21,1
epistulas cotidianis verbis texere solemus, Demetr. 231 Sv Ävöjjiaoiv
^TcXoiCt 228 al — xata t^jv IpitTjvetav b^YAüSioTzpaa oh |i.a rJjv iXi^dstov
IfftotoXal Y^votvt' $v etc.). Vgl. Radermacher Dem. S. 109, Peter der
Brief in der röm. Litt. 21 ff. Brief ist Gespräch: mintis tibi accuratas
a me epistulas mitti quereris ; quis enim accurate loquitur nisi qui vult
putide loqui? beginnt Seneca ep. 75; 6 y^P c>otc0<; SiaXe^öftevoc ki-
S6ixvoiLdv(|> lotxe iidXXov, o& XaXoövtt Dem. 225, i^ fip Totaonj «doa
ip|i.Y)V6Ca xal (jL((i.ir]oig (hier handelt sichs um die X&oic: § 193) oico-
xpiT^ icp^et (idXXov, oh 7pafO|i.^vaic ImoxoXatc 226. Gorgianische
Figuren im Brief anzuwenden ist für diese Theorie schlimmste Ge-
spreiztheit; der gebildete Leser nimmt, sobald er das nolueris cum
debueris gehört hat, Anstoß an der Stilwidrigkeit. Isokrates dagegen
schreibt seine Briefe in genau demselben Stil wie die Reden (Wila-
mowitz Arist. u. Ath. II 392). In dem atechnon et Isocralium ist ein
Ton des alten Gegensatzes zwischen Peripatetikern und Isokrateem.
So schreibt also Lucilius:
ut periisse velis quem visere nolueris cum
debueris. hoc *nolueris' et 'debueris' te
si minus delectat, quod atechnon et Isocratium hoc
lerodesque simul totum ac symmiraciodes :
non operam perdo, si tu hie.
'Wenn dir der Gleichlaut nicht recht behagt, weil er regelwidrig und
Isokrateisch und zugleich läppisch ganz und gar und gründlich schul-
jungenhaft ist : ich verschwende meine Mühe nicht, wenn du bist wie
du bist'. Er leugnet den Verstoß nicht, kündigt aber gewissermaßen
an, daß er sich in diesem Brief überhaupt nicht um den Stil kümmern
werde; dissimulator opis propriae.
V. 193 bezieht Marx auf die lex Fannia oder auch Licinia de
sumptu, wie er denn mit großem Erfolge alles, was sich in den
Fragmenten auf überlieferte Zeitereignisse beziehen läßt, ins Licht
Lncilius ed. Marx vol. I. II 847
stellt. Aber weder dieses noch die folgenden Fragmente enthalten
eine Andeutung, daß von gesetzlich eingeschränktem Luxus die Rede
war. Vielmehr gibt Charisius, der v. 193 citirt, den Zusammenhang
an: deridens rusticam cetiam enumercUis muUis herbis bringe Lucilius
den Vers. Das bedeutet viel eher ein ländliches Mahl in einem
Bauernhause, zu dem sich Lucilius irgendwo unterwegs hat bequemen
müssen, als eine schlechte Bewirtung in der Stadt, o rus — quando
faba Pythagorae cognata simulque unda satis pingui ponentur holus-
ctda lardo? sagt Horaz mit anderm Ethos (sat. II 6, 60). Das ein-
fache Mahl in der Stadt hat auch Lucilius in andern Tönen be-
schrieben: nugari cum illo et discindi ludere donec decoquerdur Jiolus
soliti (111,73). Es wird durch diese Verschiedenheit der Situation
von der des Briefes überhaupt schwierig, die Fragmente des 5. Buches
einem Gedichte zuzuweisen {^cenam modestam aegroto poetae apposuit
familiaris quidam legis siimptuariae observans* Marx). — Die Notiz
über assidue bei Terenz II S. 83 trifft nicht zu, vgl. Ihm Thes.
1. 1. II 887; und wie kann man an der terenzischen Form zweifeln,
weil der Victorianus einmal dssiduo hat?
V. 241 ist die Ergänzung improbe neben dominum nicht recht
verständlich; vielleicht dominum (male) fortem. Warum v. 259 nobili-
tate facul propellere iniquos der einfache Ablativ nicht zu verstehen
sei, leuchtet nicht ein; wenn es aber Genetiv sein soll, so ist er
überliefert und bedarf es nicht der ungrammatischen Schreibung
nobilitatij so wenig wie v. 491 der Aenderung von aäate in aetati.
Die bekannten Beispiele sind sehr stark zu vermehren; tellure in der
Inschrift CLE 1829,9 hat Bücheier als Genetiv erkannt.
V. 264 führt Nonius für desquamor an : rador subvellor desquamor
pumicor ornor expilor pingor. Mit expüor nach subvellor müßte man
sich auseinandersetzen, wenn expilor pingor den Vers beginnen könnte;
da aber die Corruptel sicher ist, muß ohne Frage expüor expingor
oder exque pilor pingor hinter Tousas expolior pingor zurückstehn.
rador bis pumicor die Toilette beim Bade, ornor bis pingor beim An-
kleiden; wie PL Poen. 220 lavari aut fricari aut tergeri aut omari
poliri expoliri pingi fingi die erste Gruppe lavari bis tergeri, die
zweite omari bis fingi. So das Mädchen bei Terenz Heaut. 288
ornata ita uti quae ornantur sibi, nulla mala re esse (n. arte malas
Fleckeisen) expolita midiebri. In der Mostellaria tritt Philematium
nach dem Bade auf (157), läßt die Dienerin das eben angelegte Kleid
prüfen (166), dann den Spiegel et cum ornamentis arculam geben,
ornata ut sim, quom hue adveniat Philolaches (248, vgl. 282 aurum),
vollendet die Frisur (254) und geht dann ans Schminken (258).
V. 287 behält Marx nicht nur iratae ad bei, was durch v. 25 zu
848 GöH. gel. Anz. 1906. Nr. 11
begründen wäre, wenn der Vers vollständig wäre; er ergänzt anch
(fltque leae) iratae ad cattdos accedere tnuföum, wie er anch v. 1029
speciem vitae esse ptUamus umstellt. So viel liegt ihm an den Unter-
suchungen andrer Leute. Was die Ergänzung anlangt, so bedeutet
zwar der Einwand gegen tigris nichts, da ein solches Bild nicht auf
die persönliche Erfahrung des Lesers Bezug nimmt und die Römer
wohl auch nach dem. 4. Mai des Jahres 743 nicht häufig versucht
haben werden, einer Tigerin ihre Jungen zu rauben, aber Marx hat
recht daß an die Löwin zu denken näher liegt ; und ein vollkommen
guter Vers ist iratae {leae) ad cattdos accedere inuUum. Diese Ver-
wendung des jambischen Worts steht mit der übrigen Technik des
Hexameters bei Lucilius im Einklang. S. unten zu 1072.
V. 294 muginamur molimur subdudmur erklärt Marx kaum
richtig ^dum muginamur et cessamuSy dum nova molimur praesen-
tium contemptores bonorum, vitalibus auris subducimur\ Vielmehr
'wir wollen nicht daran, wir machen uns zu schaffen, wir drücken
uns\ subdudmur oicoxc0poö(jL6V, Ter. Eun. 628 se ülinc subducet scio,
795 cum eo te dam subduocti mihi,
V. 314 ergänzt Marx velle tolutim hie semper (agt) inc^turus
videtur. Er stellt unbedenklich ein jambisches Wort in Synalöphe vor
ein mehrsilbiges, ebenso durch Ergänzung v. 478 und 1299 (wie 287).
Ueberliefert ist es, soviel ich sehe, nur vor atque v. 544 (315. 570).
In V. 314 aber wird durch die Conjectur der sehr fragliche Gebrauch
des Participium in -urus hergestellt, fraglich überhaupt und auch
durch die üeberlieferung hier wie v. 567 und 662 (s. u.). Ueber die
drei Stellen hat kürzlich Sjögren Zum Gebrauch des Futurums im
Altlateinischen S. 226 gehandelt und mit Recht wieder (e^ incepturus
videtur empfohlen : 'er scheint immer zu wollen und im Begriff zu
sein'. Vorher ging vielleicht ire gradatim,
V. 344 schreibt Marx : (et) laterem qui dudt^ habet nihü ampHus,
natum quam commune lutum a palds cenoque aceratum. Die Hand-
schriften (Nonius) haben nam statt natum, das neben commune nicht
erforderlich scheint. Die letzten Worte sind mir nicht recht verständ-
lich (Marx sagt nichts zur Erklärung) ; überliefert ist a paleis cenum-
que aceroso (das letzte Wort aus dem Lemma emendirt); lutum ac
paleas caenumque aceratum (Francken) gibt den richtigen Ausdruck.
Das Ganze hat Marx durch die Zusammenstellung mit 322 (vom
frumentarius) aufgeklärt: der Gutsherr spricht, dem Ziegelstreicher
hat er nichts zu liefern als Lehm und Häcksel:
(et) lateres qui ducit habet nihil amplius a me
quam commune lutum ac paleas caenumque aceratum.
Lucilius ed. Marx vol. I. II 849
Für habet a me Beispiele bei Lommatzsch Thes. 1. 1. 1 18, 12 sq. Die
Handschriften haben kUere; man schreibt later em, ohne Not; freilich
wendet Vitruv, der sonst lateres ducere sagt (113), das Wort auch
einmal coUectiv an : § 2 Vticenses latere si sit aridas et ante quin-
quennium duäus — tduntur.
V. 328 wird doch wohl in cerno das Subject stecken, ein Name
von der Form Cicero^ Capita. Danach ist fluvium schwerlich Genetiv,
sondern zuerst allgemein ostrea fluvium sapere^ dann speciell limum
ac caenum ipsum. — V. 332 hat der Leidensis ramite, und das ist
die richtige Form, s. zu PI. Mere. 138.
V. 334 hat man bisher in nimmi opus atque obsit statt obsit mit
Lipsius geschrieben assis; Marx atque subit, gewiß besser, ja assis
nach nummi ist augenscheinlich falsch. Aber mir scheint die Ueber-
lieferung das Ursprüngliche fast rein erhalten zu haben:
si nihil ad faciem et si olim lupa prostibulumque,
nummi opus atque obsi.
Wo Plautus und Terenz obsonium sagen, sagt Lucilius obsum, 2!<{)ov
(im Sprichwort mantisa obsonia vincit 1208); das ist ganz in seiner
Art. Antiphanes ine. 28 M. lottv ^o)f xpirjotöv, iTcaYcoY^^ ndvo. Solche
Hetären gibt es in der Komödie freilich nicht; aber in größerem
Maßstabe schickt Diniarchus (True. 580) dona quae vides illos ferre
et has quinque argenti minas: die dona sind obsonium (561. 609).
V. 385 ist (bei Nonius 262) nach einem Citat aus Paeuvius nur
durch idem lib. eingeführt, idem lib. X hat nur G und die Correc-
turen der nicht interpolirten Handschriften. Das Zeugniß für das 10.
Buch ist also unzuverlässig, darum aber aus dem Verse einen Vers
des Paeuvius zu machen (Lindsay im Nonius, vgl. Class. Rev. 1906,
63) geht nicht an, einmal weil improbus confidens nequam malus
videatur keine tragische Diction, zum andern weil es kein seenisches
Metrum ist. Sowohl die Beziehung auf Lucilius wie die Herstellung
(ui) videatur wie die Folgerung, daß ein Luciliuscitat vorher ausge-
fallen, wird richtig sein.
V. 386 (Nonius sumere significat eligere) hat bei Marx folgende
Fassung :
herum est indicium, crisis ut discribimus ante,
hoc est, quid sumam, quid non, in quoque locemus
was er, in der Hauptsache mit Bücheier Rh. Mus. 39, 288 überein-
stimmend, fortsetzt unumquidque loco; dies gewiü richtig, sei es von
den Worten (Bücheier) oder mit Marx von den Sachen zu verstehn.
Ueberliefert ist honorum est iudicium crassis ut discribimus ante.
Dousa hat descripsimus geschrieben, wobei Bücheier geblieben ist;
850 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 11
phrasis Bücbeler, dafür crisis Marx, honorum est iudicium Orassis
mit seinem scheinbaren Sinn ist in der Tat sinnlos und das Nächste
zeigt, daß von ganz anderem die Rede war. bonorum und homm ist
gleichermaßen probabel. Aber 'discribimt^ eodem modo quo nos did-
mus 'ut Lucilius ante scribit' potuit opinor dicere poeta' ist eine
kühne Behauptung. Marx meint wohl describimtiSj aber abgesehn
vom Tempus paßt auch das Verbum gamicht in den Satz, crisis
soll Lucilius 'tamquam interpretamentum necessarium' auf iudicium
haben folgen lassen. Brauchte denn iudicium eine Uebersetzung ins
Griechische? 'Grasses exturbat metrum' sagt Marx; sobald aber fest
steht, daß discribimus corrupt ist, kann davon keine Rede mehr sein;
denn warum sollte der Vers nicht mit iudicium beginnen? Lucilius
spricht von iudicium mit Bezug auf litterarische Arbeit; Leuten,
denen dies iudicium zukommt (horum, nämlich subtiliorum hominum,
von denen eben die Rede war) stellt er crassi gegenüber; die crassi
sind also was bei Martial 1X22,2 vulgus crassaque turba; zum Dativ
crassis gehört nicht discribimus sondern scrihimus. Flinius schreibt
an Vespasian (praef. 6): quid ista Ugis, imperatar? humüi vulgo
scripta sunt, agricolarum opificum turbae, denique studiorum otiasis. quid
te iudicem facis? Gleich darauf citirt er die bekannte Stelle aus
Lucilius XXVI (592 ff.), wo Lucilius gesagt hat (Gic. de fin. 1 7), daß
er des Persius, Scipio, Rutilius iudicium reformidans TarenHnis se
et Consentinis et Siculis scribere. Ob er sich mit ante so viele Jahre
später auf diese Aeußerungen bezieht, steht dahin; wenn nicht, so
hat er im Anfang des 10. Buchs oder dieser Satire des 10. Buchs,
in der er selber die Dichter seiner Zeit kritisirte, bei passender Ge-
legenheit ähnliche Aeußerungen getan. Horaz, wo er Lucilius kriti-
sirt (1 10) und an dessen Dichterkritik erinnert (53) und zugibt daß
Lucilius mehr gekonnt habe als die andern Alten (65), erhebt mit
guter Absicht, ehe er die Repräsentanten des vulgus abweist und in
die Anrufung der erlesenen iudices einmündet, die entgegengesetzte
Forderung (73): neque te ut miretur turba labores, contentus pauds
lectoribus. Es bleibt also crassis scribimus und zu ui ante fehlt das
Verbum:
herum est
iudicium; crassis, ut dixi, scribimus, ante.
hoc est, quid sumam, quid non, in quoque locemus
(singula verba loco).
Für die kühne Wortverschränkung hat Marx I S. 161 f. (im Lidex)
Beispiele gegeben und II S. 22. 287. 391 (zu v. 44. 825. 1229) be-
sondere Fälle besprochen. Das eligere und locare in derselben Reihen-
folge Horaz A. P. 42 sq. : hoc amet hoc spernat^ dann caUida iunäura.
Lucilius ed. Marx vol. I. II 851
V. 388 ist ne (ilium ego) schwerlich richtig, ne (ego) muß bei-
sammenstehn. — Wie firmiter essent (390) mit a construirt werden
kann, sehe ich nicht; gewiß reicht das anzunehmen die Analogie von
tutus nicht aus. Hier scheint ac für a so notwendig wie v. 325 (fludi-
bus ac vmtis quae adver sis firmiter essent Bücheier). — V. 391 lan-
guor ohrepsitque pigror torporque quietis gehört languor nicht zu einem
andern Verbum ('homines invasit inertes languor ohrepsitque pigror'
Marx), sondern das eine umfaßt die drei nomina (Anal. PL 1 8 f.). —
V. 447 cut parilem fortuna locum fatumque tulit fors ist es schwerlich
statthaft, fatum als Genetiv zu fassen ; deutlich der Gegensatz fortuna
locumj fors faium. Zeugmatisch ist nicht nur parilem^ sondern auch
tulit, — V. 461 düectum video studiose vulgus habere vielleicht vom
Volk, das sich seine Lieblinge auswählt. PL Pseud. 391 tibi nunc
düectum para ex multis.
Das Fragment v. 474. 5
idne aegre est magis, an quod pane et viscere privo?
*quod viscus dederas tuquidem, hoc est: viscera largi'
ist durch Bücheier und Marx vollständig aufgeklärt. Aber sollte
privo nicht, wie v. 49 (abdomina tunni advenientibus priva dabo) oder
Hör. sat. H 5, 11, das Adjectiv sein? *Seid ihr ungehalten mehr (daß
ich euch so selten ein Mahl ausrichte) oder daß ich es tue mit
einem Brod und dem zugehörigen Fleisch für jeden?' So erklärt
sich der Nominativ viscere, der durch pane privo motivirt ist; und
so die Pointe der Antwort: 'nicht viscus möchten wir, sondern
viscera\ Mit dem Verbum privo ist viscus dederas nicht verständlich.
In V. 504.5
cum tecum est, quid vis satis est; visuri alieni
sint homines, spiram palias redimicula promit
enthält sint einen hypothetischen Vordersatz und verlangt, da ein
einzelner Fall vorgestellt wird (anders z. B. Ov. met. VUI187 omnia
possideatj non possidet aera Minos), im Nachsatz promet. Beispiele
der Construction aus Dichtern Sen. trag. I 224 (fehlt u. a. Prop.
IV 5, 9 ilia velit, poterit magnes non ducere ferrum) ; Cicero de har.
resp. 55 (anderes Kühner II 761, Reisig Haase Landgraf Lat. Synt
389). Die älteste mir bekannte Stelle ist diese des Lucilius. Flautus
hat in ähnlicher Weise den Imperativ: Rud. 1010 tange: adfligam
ad terram te und umgedreht 1015 mittam: omüte vidulum (anders,
d. h. rein parataktisch. Mere. 770 eras petitOj dabitur, von Dräger
II 218 angeführt). Marx stellt im Index (1 163) einige Verse unter
^si ut vulgo dicitur omissum' zusammen. In 458 ist die innere Ver-
bindung der parataktischen Sätze adversativ ; 322 und 1077 ist indic.
862 GM. geL Ans. 1906. Nr. 11
praes., 786 indic. füt. in beiden. Beispiele mit fat. n im Vordersatz
gibt Marx zu y. 788 (II 277). v. 505 ist auch promat syntaktisch mög-
lich, liegt aber der Ueberliefemng und dem Sinne femer. Durch die
zu y. 532 yon Marx angefahrten praesentia wird prcmü nicht ge-
schätzt
Die Berofang auf Ennins' Satiren zn y. 530 (11 200) dfirfite doch
nur mit allem Vorbehalt gemacht werden, da aus der Ueberlieferung
nichts heryorgeht als daß die Verse yon einem Dichter yor Terenz
herrühren. — Daß das Fragment 540—546 yon Penelope oder im
Gespräch mit ihr gesprochen werde, läßt sich nicht halten; allein
habuisse y. 545 widerlegt es. Es spricht ein Leser des Epos. — Gar
kein Anlaß ist zu glauben, daß Lucilius docentum gemessen habe,
weil bei Nonius y. 555 geschrieben ist mUia dueewtum frumenH
tcilis medimnumy y. 1051 quid vero est, centum ac dueenium passideas
8i tnilia, beides ohne besondere Bezeugung des Worts; dort ist tu
centum oder dum centum gegeben, hier ac nur Schreibang für atgue.
Zum Ueberfluß hat y. 481 dücentos, ygl. y. 108.
V. 567 rausuro tragicus gut carmina perdit Oreste kann nicht
richtig sein, nicht nur wegen der Construction (s. o. zu 314), sondern
auch weil für den yon Marx geforderten Sinn ein part, praes. oder
rauco erforderlich wäre. Wackeruagel bei Sjögren Zum Gebr. des Fu-
turums im Altlat. S. 226 yermutet rausura tragicus qui carmina perdit
Orestes, bedenklich wegen der doppelten Correctur und weil Priscian
eine Verbalform bezeugt. Die Satzform wird gewesen sein: (scimus)
rausurum^ tragicus qui carmina perdit Orestae (Orestae die Hand-
schriften). Orest singt bei Euripides nicht, aber Cicero Tusc. 11159
führt eine ^fjotg aus der Hypsipyle als Euripideum carmen an; so
wird auch carmina Orestae am sichersten zu yerstehen sein.
In dem Epigramm auf Metrophanes y. 579 hält Marx das über-
lieferte quamquam, und die Erklärung ist sehr erwägenswert. Aber
es ist doch schwer zu glauben, daß auf das erhaltene Distichon
seryos neque infidus domino neque inutilis quamquam
Lucili columella hie situs Metrophanes
ein zweites gefolgt sei des Inhalts iXX' apsToc ßiotdc ai^ C«>oiot (lire-
oTtv oder a&Tap i<; at^pTjy ^x)x^ ^ßv)- Die so construirten Epigramme
(z. B. CLE 1375 quamvis note tuos mors invida ruperit annos — non
tarnen etc., 1439 sis licet in numero — ista tamen miseros neqwwiA
solare par entes, 1849 quamvis saeva tuos prqperans mors ruperü annos
nee rata sint vitae tempora longa tuae, sunt tibi pro rapido tamen
haec sdacia leto) haben ihrer Natur nach einen pathetischen Ton,
nicht die einfache Aufzählung der Vorzüge, wie sie durch kic situs
Lucilins ed. Marx vol. I. n 853
est der Regel nach abgeschlossen wird. Das sehr starke Lob des
Pentameters macht es wahrscheinlich, daß der Ausdruck im Hexa-
meter kräftiger war als neque infidus neque inutüis. Richtig wird
sein neque inutiUs quaquam, was auch Marx in Erwägung zieht, qua-
quam *in irgend einer Weise' ist sonst nur in nequaquam vorhanden;
diese Verbindung und äliqua reichen aus es zu stützen; neque qua-
quam wie neque quoquam bei Plautus (Amph. 276) und Lucr. 1 1055
neque quoquam posse resolvi.
Zu y. 588 bemerkt Marx sehr richtig, daß in den Worten nunc
üidem populo istum scriptoribus nur istum corrupt ist; er ergänzt
populo (placere nolo) his cum scr. Aber das wahrscheinliche ist doch,
daß nach itidem die Dative populo und scriptoribus auf gleicher Stufe
stehn; dadurch fällt die Annahme einer Lücke. Der Gedanke
bietet sich:
nunc itidem populost ut scriptoribus:
voluimus capere animum illorum, (nostrum capere illi volunt).
Zum Ausdruck: PI. Bacch. 1109 quid tibist? Pol mihi par^ idemst
quod tü>i.
V. 602 ist überliefert (Nonius): quam fastidiosum ac vescum
fastidio vivere, die interpolirten Handschriften {G) haben cum fastidio^
was Lindsay beibehält, den ersten Vers mit fastidio schließend. Aber
cum fastidio ist nichts anderes als fastidiosum. Darum fastidio zu
streichen (Lachmann, Müller, Marx nach Gerlach) ist gamicht ange-
zeigt, da es mit seinen Silben grade den Vers füllt. Sicher scheint mir:
quam fastidiosum ac vescum fastidito vivere.
'besser Hungers sterben als in Ekel und abgezehrt von der Speise
vor der man sich ekelt leben', fastidito wie empto, rapto vivere. Hör.
ep. 117, 15 fastidiret holus. Die Figur ähnlich wie 905 cuius si in
periclo feceris periculum.
Die alte Emendation möchte ich zurückführen v. 611 porro amiei
est bene praecipere, Tusci bene praedicere (Mercier). Die von Marx
gewählte Fassung ist als Aenderung kühner und als Gedanke schwächer.
— V. 618 scheint mir der Gegensatz nur so herauszukommen: genium
suom defrudet, ali(eno) parcat. — V. 642 ist richtig überliefert:
nequam prius quam venas hominis tetigit ac praecordia,
der schlechte Arzt verschreibt vor der Untersuchung, v. 643 ist also
nicht mit 642 zu verbinden. — In V. 644 hat Bücheier in der Jen.
Lit.-Zeitung 1874 S. 394 sanctorum für exauäorem geschrieben.
V. 656 kann nee minimo nicht richtig sein; Athene spricht oder
von ihr ist die Rede, und zwar nicht mit Bezug auf Agamemnon,
sondern auf Aias; dem aber gewährt sie für keinen Preis ihre pa:r.
OMt foL Abs. 190e. Vr. 11 60
^A GdCt gd. Anz. 1906. Xr. 11
Ueberliefert ist nu minimo et prosferatur paz qmod Cassamdram tifmo
deripuU, der Sinn wenigstens dieser:
nee homini mea prosperator pax, quod Cassandram (meo)
signo deripnit.
Von V. 662 war schon oben zu 314 die Rede: mee esse ist nor
bei einer sonst einwandfreien Ueberliefemng zu acceptiren, capimms
syntaktisch bedenklich nnd der Satz dunkel, anch in Marxens Para-
phrase. Das Folgende ist nor ein Versuch, nach PL Trin. 474 tL :
<utere)
malis nee, si lautum e mensa pure captnru's dbiim,
<assidens vereeundare).
Die corrupte Ueberliefemng von v. 673 {doctior quam eäeri sis
asa mittis mutes aliquo te cum satra facta uäiä) läßt gegen Ende so
deutlich sacra facta erkennen und das ist ein so geläufiger Ausdruck,
daß man berechtigt ist, bei der Herstellung von den Worten mdes
aliquo te cum sacra facta auszugehn. Der Angeredete soll sich ent-
fernen , nachdem die Opfer zu Ende sind ; wahrscheinlich doch , um
sich dem Opferscbmause oder den Spielen (vgl 677) zu entziehn.
doäior quam ceteri und mutes aliquo te hat Marx richtig erklärt;
das Ganze (doetior quam ceteri sis, ab amicis mutes aliquo te, cum
satias facta sit) weicht zu sehr ab. Ich vermute:
doetior quam ceteri
si sis, ab illis mutes aliquo te, cum sacra facta ultima.
(quod Uli V. 722).
Mit ego enim kann v. 734 gewiß anfangen; aber mit ego enim
an? das bedürfte doch der Belege. — v. 758 persuade et transi vd
da quam ob rem transeas beißt: 'überrede mich ehe du übertrittst
oder wenigstens gib an warum du übertrittst', transire ist genau
|t6Tad6odai, auch in absoluter Verwendung; von einer aipsoi^ zur
andern. Da da weniger ist als persuade j erhält vel die Bedeutung
*oder wenigstens'; da zu vd da durch quam ob rem transeas das
transire vorausgesetzt ist, wird et transi inhaltlich zu beiden Impera-
tiven gezogen: 'zuerst überrede und dann tritt über; oder doch, sage
warum und tritt über'. — v. 766 verstehe ich nach der Erklärung
von Marx in hinc ad me, hinc, licet das hinc nicht; es müßte hue
oder istinc sein. — v. 768 ist in diem schwerlich richtig ; Hör. c. in
29, 41 ist anders, vgl. Kiessling zu sat. n 6, 47; zu vergleichen PL
Aul. frg. 3 und Amph. frg. 12. — v. 770 ist haut nego (Onions)
besser als at (ut codd.). — v. 781 muß te abstuleris bewahrt werden;
aber nicht tde, sondern (tu) te.
Das Fragment v. 784—790 bedarf, wie mir scheint, nachdem
Lacilius ed. Marx vol. I. 11 855
Bücheier und Marx es interpretirt haben, noch einiger Bemer-
kungen.
hoc cum feceris,
cum ceteris reus una tradetur Lupo.
non aderit: ipx^x^c hominem et stoechiis simul
privabit, igni cum et aqua interdixerit.
duo habet stoechia; adfuerit: anima et corpore
(y*^ corpus, anima est tcvsöjiä), posterioribus
stoechiis, si id maluerit, privabit tamen.
Vor allem stehen entgegen non aderit und adfuerit, entsprechend
privabit und privabit tamen \ man kann also anima et corpore nicht
mit adfiierit verbinden, ohne den Gegensatz undeutlich zu machen.
Er stellt mp und o5a>p voran , ihnen y^ und icveoita als posteriora
atotxsta gegenüber (den Witz, der recht gut ist, ermöglicht die
Uebersetzung anima, die Ennius eingeführt hat und wie Lucilius auch
Varro r. r. I 4, 1 und Cicero im Timaeus befolgen). Das geht nicht
auf philosophische Theorie; so könnten nur, nach empedokleisch-
stoischer Ansicht, dem Feuer die drei übrigen Elemente gegenüber-
gestellt werden (Emped. 36. 37 Diels, Chrys. 413 Arnim); vielmehr
sind ihm Feuer und Wasser die beiden, die als apxal und ototxeia
zugleich bezeichnet werden können, ipx^^c et stoechiis simtU privabit :
er denkt an die vielgenannten Thaies und Heraklit, nicht an Anaxi-
menes. duo habet stoechia: das Subject kann nur der Angeklagte
sein, wie der Fortschritt der Verba zeigt. Zwei ototxeta hat er, er
trägt sie an sich (so Marx). Dagegen das Subject zu maluerit kann
aus demselben Grunde nur der Richter sein, der erstens gewiß ver-
urteilt und zweitens nach Willkür die Strafe wählt.
In V. 797 omnia crede mihi presse auferet omnis ist zwar res
sicher, aber omnia verlangt ein neues Verbum, das in die Klimax der
übrigen passen muß:
omnia viscatis manibus leget, (omnia sumet,)
omnia, crede mihi, prendet, res auferet omnis.
Marx schreibt v. 802 tironeo et (hoc) non mortifero adfectus vo-
micae vulnercy aber so kann ein trochäischer Vers nicht anfangen.
Er verwirft Chironeo, weil Xtpwvetov iXxoc unheilbar und iXxoc nicht
vulnus sei. Ganz richtig, um so eher kann Chironeus hier bedeuten
was es in XCpa>voc ^iCa und Tcdvaxec Xipcbvsiov bedeutet; übereinstim-
mend mit der einleuchtend richtigen Beziehung auf lason, die Marx
gefunden hat.
V. 825 läßt sich vi deiectusque nicht durch die enge Verbindung
vi deiectus erklären ('tamquam unum vocabulum' Marx), sondern in
60*
8$« Gdtt. gd. Ajo. 190i^ Nr. 11
ddruBUM Ma vi deieäusque Italia gehört n* zn beiden Partkipien:
kia lialia verbindet llirx mit Becht — t. 826 ei^inze ich at. tu-
quam^ veieratarem Ulum, vehdmm lupum. AttnAalem aeceptum (fan
dabo); vgL Pen. 457 nunc ego lencnem Ua kodie intruatmm dabo, ui
ipsm $es€ qua $e erpediat nesdatj Ter. PhoruL 974 ki$ce ego älam
diäis Ha tibi incensam dabo^ ut ne restinguas, Brix zn CapL 345.
Langen Beitr. 213 ff. 217. — Ueber t. 83001 oben S. 840. üeberiiefert
ist T. 833 signal nihilque amaret ; der Zusammenhang mit 830 d ama-
hat omnes steht außer Zweifel An die Vergleichung ui discrimtn hon
facU kann sich sie Socrates nur mit dem Imperfectum anschlieCen;
und es folgt quem amaret. So bilden sich Versende und Anfang yon
selbst. — y. 861 ist paulisper comedent: tarn edet haec se^ ut pol^pus^
ipsa fast überliefert; wer und was sie allmählich zum Verdruß der
Zuschauerin aufessen werden, weiß man nicht. True. 593 qui ipsus
se earnest (hier auch cumest CD).
Marx erkennt keine andern Metra für Lucilius an als Hexameter
Septenare Senare, in XXII Distichen. Anapäste sind freilich, da sie
bei Terenz nicht mehr vorhanden sind, ganz unwahrscheinlich; daß
y. 884 nicht anapästisch ist, zeigt der Inhalt und die Zusammen-
gehörigkeit mit 886.7 {alieni umzustellen, da die überlieferte Stel-
lung kühner und an sich gut ist , scheint mir bedenklich : ^yj age
nunc summam sumptus (sub)duc atque aeris simtd \ adde alieni). Von
y. 870 gilt erstens, daß es die schönsten Anapäste sind (nee tenio-
rum flamina flando suda secundent) , ganz ennianische , und zweitens
daß es tragische Diction ist (Marx U 295 f.). Nun trifft es sich
merkwürdig, daß die Verse wie gute Anapäste so auch ein schlechter
Hexameter sind; und das gibt wohl die Lösung: Lucilius hat den
Vers, wahrscheinlich des Ennius, unter seine Hexameter aufgenommen,
was eine groteske Wirkung tun mußte, non ridet versus Enni gra-
vitate minores? Etwas ähnliches hat Hipponax : Ipico fap o5tö> • KoX-
X-iJvtg Matdi5oc 'Ep|t>J (Prise. II 426); eine Pointe von ähnlicher Art
Horaz : non quivis videt immodulata poemata iudex. Dagegen y. 936
{quin amplexetur qui velit, ego non sinam me amplectier) ist, wie es
dasteht, ein jambischer Octonar; yon Unvollständigkeit kann keine
Rede sein, Priscian bezeugt den passivischen Gebrauch. Aber mit
velü kann ein Senar schließen, mit ego der nächste beginnen, beide
sind richtig gebaut. Andre Verse hat Marx emendirt (z.B. 882, wo
aber übi me, nach Festus, die richtige Wortstellung ist, nicht me «6i
nach Nonius); 801 L. erwähnt er gamicht, so viel ich sehe.
Da Terenz die Synalöphe -us vor Vocal nicht mehr kennt, ist
es mehr als gewagt, sie Lucilius zuzuschreiben; und es ist wirklich
Lacilios ed. Marx vol. I. n 857
kein Raub an der Ueberlieferung , v. 919 prarsum stM prorsus zu
schreiben; so wenig wie 1224 improbus müto statt omüto.
V. 942 (nasum deductius \ quam pandit^s (si) pauh vdlem Marx)
ist eher daktylisch als jambisch:
nasum deductius pandius paulo
quam vellem!
quam timeo Terenz, quam cupio Cicero, pandius paulo soll man
nicht trennen. Auch nicht 979 curati cocti.
V. 1021 {quod tua lades culpes non proficis hilum Nonius) hilft
weder tu (st) noch tu (nunc) dem Gedanken: quod tu a(lios) laudes
cülpeSj non proficis hilum, YVödt oaotöv.
V. 1034 circum oppida lustrans *rings umher die Städte berei-
send' : der Schauplatz braucht ja nicht Rom zu sein. — v. 1043 anne
et succedere aratro {ante et corr.): et *auch' beim Verbum sehr zwei-
felhaft (649 et tu, Marx zu 1282 II 405). Ein Name wie Änyte?
Lucilius spricht hier wie 1041 zu einem bestimmten Mädchen.
Zu V. 1071 (nemo istum ventrem pertundet delicietque uti via at-
que videbis Nonius s. ddica) bemerkt Marx mit Recht, daß es nichts
hilft das Gitat unter das Lemma delicere zu bringen, da delicietque
keinen Sinn gibt. Ebenso weist er uti via aus Cicero ad Att. II
19, 2 als richtig nach : utor via sagt Cicero , ich gehe als einer von
vielen auf der Straße, nicht auf meiner semita. In delicietque liegt
also erstens das Lemmawort kurz vor dem Versschluß, zweitens das
dem uti etc. unmittelbar Voraufgehende, dazwischen ist Versschluß
und Anfang verloren. An zwei Stellen zu ergänzen ist kein Anlaß
Qdelica\ aitque: utiperge via a. v. Marx); uti via atque vid&bis mit dem
jambischen Wort im Hiat ist unangreifbar. Die ersten Worte bezieht
Marx auf das YaotptCetv, TcaUtv elc f^v Yaotdpa, das kann pertundere
nicht bedeuten; es ist gewiß obscön, wie Catull 32, 11. Daß Dialog
vorliegt, hat Marx erkannt; etwa so mag es laufen:
'nemo istum ventrem pertundet; delicat (ipsa\
fac veniat) liceatque uti via, atque videbis.
'Keiner kommt ihr bei, sie sagt es selbst'. ^Laß sie nur kommen
und die Bahn frei sein, dann sollst du sehn'. — Die Ergänzung zeigt,
wie der Fehler leicht entstehn konnte.
Von dem Fragment v. 1138—1142 muß man sagen, daß die
Probe, auf die Marx in der Vorrede des 2. Bandes S. V ausdrücklich
hinweist, leider nicht stimmt. Denn die Verse in dieser Fassung
kann niemand verstehn und die Paraphrase U 361 macht sie nicht
deutlicher; unmöglich aber ist es anzunehmen, daß Lucilius vom d-
naedus des Scipio gesprochen habe.
858 Gott gel. Anz. Id06. Nr. 11
Marx zweifelt nicht daran, daß Lucilius von dem Gastmahl bei
Granius zweimal erzählt habe (I p. XXVn. XLIX. 80 ; II 212. 290.
373); denn bei Cicero steht (Brut. 160), das Tribunat des Crassus
sei so stille gewesen, daß wenn er nicht in dem Jahre bei Granius
gespeist hätte idque nobis bis narravisset Lucilius, man nicht wissen
würde daß er Tribun gewesen sei. Wie soll es aber zu denken sein,
daß Lucilius dieselbe Sache zweimal erzählt habe, beidemal mit Schil-
derung der Gesellschaft und Einführung des Crassus, und zwar beide
Erzählungen in seinen letzten Gedichten (denn die cena hat im J.
107 stattgefunden)? und kann sich Cicero so ausgedrückt haben,
statt zu sagen 'wir wüßten nichts davon, wenn Lucilius es uns nicht
erzählt hätte'? Ich zweifle nicht, daß bis nichts ist als die irrtümlich
wiederholte zweite Silbe von nobis. Lambin hat bis gestrichen,
Stangl in seiner Ausgabe ist ihm mit Recht gefolgt.
y. 1217 scheint Marx anzunehmen, daß handschriftliches ai ein
Zeugniß für adversatives at sei. Er schreibt deshalb at sese tenä
intus und gibt Dousas notwendige Ergänzung intro nos voeat ad
(oder cU) sese, tenet intus (apud se) auf. — ore corupto v. 1242 ist
gewiß richtig von Lachmann als Scherz erklärt, obwohl die Pointe
verloren ist; ähnliches habe ich zu PL Rud. 888 angeführt.
Wenn Marxens Herstellung von 1344. 5 richtig ist, so war Lucilius
ein dunkler Stilist, quo vüio minime tendxUur, um mit Sueton über
Horaz zu sprechen. Persius sagt (1, 26) usque adeone sdre tuum
nihil est, nisi te sdre hoc sdaJt alter?, nach den Schollen schließt er
sich an folgende Stelle des Lucilius an: u^ me scire volo dicimus
mimi consdus sum ne damnum faciam. sdre hoc se nesdt nisi alios
id scire sderit. Den Anfang, bis fadam, hat Bücheier hergestellt;
Marx zieht nun scire hoc se nesdt noch zum Citat; aber auch das
folgende ist nicht Paraphrase des Persius, sondern sein Vorbild (so
Lachmann 1075). Der Grammatiker hat nur die Wortfolge regel-
mäßiger gemacht:
'ut me scire volo dici, mihi conscius si sum,
ne damnum faciam\ scire hoc nescit se, alios id
scire nisi scierit.
Die Ordnung und darum Zählung der Fragmente hat Marx aus
keiner der früheren Ausgaben übernommen, auch nicht die Anord-
nungen der Vorgänger bezeichnet, so daß man bei diesen die Frag-
mente mit Hilfe der indices suchen muß. Jenes wenigstens war
nicht zu vermeiden, nicht nur wegen der Auffassung die sich Marx
von der Citatenfolge bei Nonius gebildet hat. Vor allem sucht er
die zu einem Gedicht oder innerhalb des Gedichts zu einem Gedanken-
Lucilios ed. Marx vol. L II 859
gang gehörigen Fragmente zusammenzuordnen. Dies ist ein Haupt-
moment seiner Interpretation, das er mit consequenter Strenge durch-
führt. Es ist für das Verständniß der Fragmente von größter Be-
deutung geworden ; viele treten so auf einmal in ihr wahres Licht,
andere, die bisher nur unverständliche Wortcomplexe waren, bieten
nun der Emendation eine Handhabe ; daß es viele gibt, für die Marx
nur eine Möglichkeit zuläßt, während sie mehr als eine enthalten,
hat dem großen Gewinn gegenüber wenig zu bedeuten.
Aehnlich steht es mit einer andern von Marx angewandten me-
thodischen Regel. Wo das Metrum in Ordnung ist, läßt er die Worte
unangetastet. Auch hierdurch hat er viel erhalten und gewonnen
was verworfen zu werden pflegte ; auch hier ist das nur durch festes
Einhalten der Regel möglich gewesen; das granum sails mögen
andere hinzutun.
Noch einen Blick muß ich auf die Prolegomena werfen, über die
ich oben nur berichtet habe soweit sie die Ueberlieferung angehn.
Sehr anfechtbar ist der erste Abschnitt, der vom Worte satura han-
delt. Die Erörterung des Diomedes zerlegt Marx in drei Bestand-
teile, von denen der Grammatiker den ersten aus eignem Bestände,
den zweiten aus Varros Plautinae quaestiones, den dritten aus Ver-
rius Flaccus geholt habe; dadurch gewinnt er die Möglichkeit, Varro
aus der Erörterung des Diomedes, soweit es sich um deren Kern
handelt, auszuschalten. Das ist aber vergebliches Bemühen. Die
Yergleichung des Festusartikels mit Diomedes lehrt, daß die Quelle
gemeinsam ist, d. h. Varros Erörterung über die Bedeutung des Wortes
satura ; dafür kann ich auf einen früheren Aufsatz (Hermes XXIV)
verweisen. Es ergibt sich daraus zugleich, daß Varro das Wort sa-
tura für die poetische Gattung anwendete ; wenn das für einen Mann
bewiesen werden muß, der libros IV saturarum geschrieben hat
(Hieron.), der Menippum in saturis aemulatus est, quas ipse appeüat
Menippeas (Gell. U 18, 7) , der , wenn diesen Citaten gegenüber die
Ausflucht späterer Prägung des terminus noch anwendbar sein sollte,
de compositione saturarum geschrieben hat (Nonius 67). Nämlich
Marx behauptet, der Name satura habe vor Horaz nicht existirt,
Ennius und Lucilius haben nur poemata per saturam gekannt ; aber
per saturam setzt die satura voraus , wenn auch nicht die poetische;
und wenn'Horaz sagt sunt quibus in satura videor nimis acer et ultra
legem tendere opus und quid prius itdustrem saturis musaque pedestri,
so bedarf es keines Beweises, daß er hiermit keinen neuen Ausdruck
prägt, sondern einen längst vorhandenen anwendet; um so sicherer
als sein eigner Titel nicht saturae ist. Die lex operis geht auf keinen
andern als Lucilius. Die saturae des Lucilius werden von den Gram-
860 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 11
matikern, soweit sie sie bezeichnen, als saturae bezeichnet, die beiden
Spielarten des Horaz als sermones nnd epistuiae; nirgend kommen
poetnata per saturam des Ennius oder Lucilius vor. Wie Ennius zu
dem Namen kam, erläutert Diomedes (Varro) vollständig; die Ent-
wicklung des Begriffs seit Ennius hat Eießling richtig dargelegt.
Im folgenden Abschnitt, de vita et poesi C. Lucilii, verbindet
und belebt Marx die Bruchstücke der äußeren Geschichte des Dichters
mit ähnlichem Erfolge wie im Commentar die Bruchstücke seiner
Gedichte. Manches ist unsicher, wie die zeitliche Einschränkung der
Tätigkeit des Lucilius nach den Aeußerungen des Velleius und Pli-
nius (S. XXVI f. : auf das Plusquamperfect müüaverat ist zu großer
Wert gelegt, und Plinius denkt nur daran, daß Lucilius während des
Gimbemkrieges gestorben ist) ; daß Cicero de or. U 284 von LuciUos
spricht, ist sehr unwahrscheinlich, da er wußte daß Lucilius nicht
Senator war und gesagt hätte, wie er bei dieser Gelegenheit in den
Senat gekommen sei (S. XXI); in einer von Marx oft mit Erfolg
eingehaltenen Richtung weit über das Ziel hinaus geht die Behaup-
tung, Horaz habe als Cäsarianer gegen den Pompejaner Lucilius ge-
kämpft (S. XX, vgl. LI). Aber ich halte den Widerspruch gegen
Einzelheiten zurück, um nicht immer wieder versichern zu müssen,
daß das Ganze der Zustimmung und mehr als Zustimmung sicher ist.
Den Prolegomena sind angehängt die Testimonia über die satura
und die über Lucilius, endlich (S. CXXXV) fasti Luciliani. Der erste
Band hat 4 indices: der Eigennamen, der zwischen Text und adno-
tatio verzeichnete^^ 'auctores', einen vollständigen Wortindex , die
griechischen Wort^ von den lateinischen gesondert, endlich einen
'index grammaticus metricus rerum memorabilium'. Dagegen ent-
behrt der ^ommeii^r des unentbehrlichen index rerum.
Wie gesagt, wv können Lucilius erst jetzt verstehn oder ihn zu
verstehn versucHenf Aber ihn zu beurteilen, direct aus seinen Versen,
werden wir auch^etzt nur in sehr beschränktem Maße versuchen
dürfen. Denn) wir^haben kein ganzes Gedicht und wir wissen durch
Horaz, daß die^^SF^iohte in der Ausführung unausgeglichen und so-
mit in ihren Jl^ileo. von ungleichem Werte waren. Wenn das sehr
geringsch^mge Umil zutrifft, das Marx über das große Fragment
1326—36 mllt (U S. 425), so folgt daraus zunächst nur, daß Horaz
mit seinen lAngnffenpeeht hatte, die doch mit hoher Anerkennung
zusammengehn.3 p^ antiken Aeußerungen über Lucilius als Dichter
bespricht MSrx I/S. C^U ff. ; wir werden uns auch künftig an diese
halten müssen^^^i^-wir einen Maßstab für seine Bedeutung haben
und das Einzemfc rii^htig einschätzen wollen. Die Entwicklung das
Dichters hat M!arx in ihren wichtigsten Phasen durch die Datirong
Lucflios ed. Marx vol. I. n 861
der einzelnen Bücher aufgezeigt. Nur den Ausgangspunkt verdunkelt
er S. XVU durch eine metrische Speculation. Die trochäischen Te-
trameter, mit denen seine Dichtung anfängt, zeigen daß er von Ar-
chilochos ausgeht (vgl. Marx U S. 253 zu v. 698). Nur allmählich
hat er sich von dem für griechische Begriffe veralteten Maß dem
Hexameter zugewendet, der in der griechischen Poesie der Zeit immer
entschiedener zur Herrschaft kam. Ob einzelne seiner Gedichte auch
dem Inhalt nach allmählich mehr epischen Charakter, im Sinne der
hellenistischen Dichtung, gewonnen haben, ist eine Frage die auf-
zuwerfen eine Kühnheit ist; die scharf zu bestimmenden und die
ganzen Bücher umfassenden Handlungen der Bücher I — HI sprechen
dafür.
Ich fürchte von dem Inhalt des Buches keine ausreichende Vor-
stellung gegeben zu haben; aber vielleicht ist das der geringste Be-
censentenfehler einem Buche gegenüber, das doch jeder lesen muß
und das alles Becensiren überdauern wird.
Oöttingen Friedrich Leo
Mlehaelis Ephesil in libros de partibas animalium de animaliam
motione de animalium incessu commentaria. ConsiUo et auctori-
tate academiae litteramm regiae Bomssicae edidit Michael Hayduck
(Comment, in Arist. Graeca ed. cons, et anct. acad. litt. reg. Boross. vol. XXII
pars n). Berlin, G. Reimer, 1904. XIV, 193 S.
Wer die Liste der griechischen Aristoteleskommentare, wie sie
sich aus den erhaltenen Werken dieser Gattung und den Nachrichten
über verlorene zusammenstellen läßt, auf die Auswahl der zu er-
klärenden Werke hin durchmustert, wird das gänzliche Fehlen oder
die schwache Vertretung dreier Werke oder Gruppen von solchen
besonders bemerken, der Politik, der Bhetorik und der Schriften zur
Zoologie und Anthropologie. Die Politik ist für uns ein Kleinod und
hat auf neuere Lehrbildungen eingewirkt wie wenige Werke des
Aristoteles. Daß sie von der antiken und mittelalterlichen Exegese
völlig beiseite gelassen werden konnte, ist bezeichnend für das da-
mals entschwundene Interesse an politischer Theorie. Für die Tat-
sache, daß zur Rhetorik nur zwei späte Kommentare bekannt sind %
hat schon Usener^) die überzeugende Erklärung gegeben: die Rhe-
torik blieb in den Händen der Fachmänner. Für diese aber hatte
1) Als dritter käme hinzu der im Anecd. Hierosol. (Comm. in Arist Gr.
ini p. Xyni nr. 17) angefahrte des Michael Eph. S. übrigens die Bemerkung
von Wendland z. d. St.
2) Rhein. Mus. 20 (I860) S. 134.
862 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
spätere Doktrin, vor allem die des Hermogenes, Aristoteles in den
Schatten gestellt. Auch die Yernachlässigung der zoologischen und
anthropologischen Schriften darf trotz der gewaltigen Autorität, die
Aristoteles auch für naturwissenschaftliche Dinge im Altertum und
Mittelalter besaß, nicht Wunder nehmen. Der Unterrichtsbetrieb in
Lykeion und Akademie, in dem im letzten Grunde auch die schrifUicb
erhaltenen Exegesen wurzeln, hatte mit der Erklärung der grund-
legenden, philosophisch in erster Linie wichtigen Lehrschriften, der
logischen vor allem, dann der Metaphysik, der Physik, der Abhand-
lungen IIspl o&pavoD und Ilepl 4^ox^c, der nikomachischen Ethik voll-
auf zu tun, und daß diesen gegenüber die zoologischen und an-
thropologischen Werke in den Hintergrund traten, ist um so begreif-
licher, als wohl mit seltenen Ausnahmen der Philosophieprofessor
dem überreichen naturkundlichen Stoffe, der hier die prinzipiellen
und philosophischen Gedanken umkleidet, mit der Unsicherheit und
Befangenheit des Nichtsachverständigen gegenüberstand. Es ist cha-
rakteristisch für den rastlosen Interpretenfleiß des Boethius, daß er
vor dem Riesenunternehmen einer Uebersetzung und Erklärung des
ganzen Aristoteles trotz der Mannigfaltigkeit des dabei zu betätigen-
den fachwissenschaftlichen Interesses nicht zurückschrak. Daß es nicht
zur Ausführung kam, müßte man, auch wenn Boethius ein längeres
Leben beschieden gewesen wäre, erklärlich finden. Als später der
scholastische Betrieb byzantinischer Zeit das Organen immer einsei-
tiger in den Vordergrund rückte^), war vollends für jene naturwis-
senschaftlichen Schriften kein regeres zur Kommentierung führendes
Studium zu erwarten. Aristoteles' Lehren auf diesen Gebieten fanden
abseits von der schulmäßigen Exegese andere Kanäle, durch die sie
in das Sammelbecken mittelalterlicher Gelehrsamkeit gelangten, wie
uns deren einen das im Supplementum der akademischen Kommentar-
sammlung herausgegebene Tierbuch erkennen läßt ^. Als Kommen-
tator zoologischer und anthropologischer Schriften wird in dem darch
cod. Marc. 203 ") , Vatic. 241 ^) und Hieros. Patr. 106 ^) erhaltenen
1) Einen Beleg gibt u. a. aach das von M. Treu, Byz. Zeitschr. 2 (1893)
S. 96 ff. behandelte byzantinische Schalgespräch. Zunächst werden hier (S. 99) die
Schriften des Organons eingehend, and zwar in Uebereinstimmong mit dem
Anecd. HierosoL, aufgezählt. AUe anderen aristotelischen Werke bilden alsdann
als diejenigen, welche fjirrd to Upyavov htX dvaytvwoxctv, eine zweite Grappe. Als
£pfjLi)vc6f(v Touc iralSac t6 'Opyavov wird a potion die philosophische Lehrtätigkeit
des Johannes Tomikes bezeichnet, an welchen der von Heisenberg, Georg. Acrop.
opera n p. 67 ff. edierte Brief gerichtet ist; vgl. dort S. 67, 8 f.; 69,21 f.
2) Vgl. aach Krumbacher, Gesch. d. byz. Litt. « S. 264 Nr. 3 a. E.
8) Vgl. Usener, Rhein. Mus. 20 (1865) S. 135 f.
4) Vgl. Hayduck, Comm. in Aristot. Graec. XVIII 3 p. V.
5) Vgl Wendland, Comm. in.Arist Gr. UI 1 p. XV ff.
Commentaria in Aristotelem graeca XXn 2 863
Verzeichnis aristotelischer Exegeten nur Michael von Ephesos ge-
nannt, und auch sonst sind die Spuren einer kommentierenden oder
der Kommentierung sich nähernden Beschäftigung mit diesen Ab-
handlungen gering : von Georgios Pachymeres verzeichnet der Biblio-
thekskatalog des cod. Paris. 2328 nach Cramers Anecd. Paris. I
p. 393 Elc tö Tcepl Ccpodv Yevvi^oscDc und Elc tö Tcspl C(i>Q>v [toplcov, und
Theodores Metochites verfaßte Paraphrasen zu einer Reihe hierher
gehöriger Werke ^). Daß gerade Michael diesem vernachlässigten
Teile des aristotelischen Korpus seine Aufmerksamkeit zuwandte,
darf man, scheint es, darauf zurückführen , daß mit ihm einmal ein
Professor^ die philosophische Lehrkanzel bestieg, in dem sich Be-
herrschung der im engeren Sinne philosophischen Disziplinen mit
naturwissenschaftlichem Interesse verband. Schon in seiner Knaben-
zeit geben ihm die Füße einer Heuschrecke, die er zunächst freilich
in absichtslosem Kinderspiel vom Körper des Tieres getrennt hat,
Anlaß zu physiologischer Beobachtung (Parv. ®) 102, 19 flF.). Von einem
Studiengenossen läßt er sich dessen Träume erzählen, die er psycho-
logisch verwertet (Parv. 62, 3 flF. ; 64,11; 81, 7flf.; ein anderer ihm
durch Hörensagen oder Lektüre bekannter Fall 62, 5). Mit natur-
wissenschaftlichem Sinne schlägt er von seiner täglichen Erfahrung
.Brücken zur Theorie und vermag so persönlich Erlebtes für die Exe-
gese fruchtbar zu machen. Ein Kinderspiel, das er gesehen hat,
dient ihm zur Veranschaulichung der Tätigkeit der Polypenarme
(Part. 83, 13 AT.), an der Spindel erklärt er die Rolle des Rücken-
marks (Part. 37, 15 AT.), der Behauptung des Aristoteles (part. anim.
686 b 15 flf.), daß nur junge Pferde imstande seien, mit dem Hinter-
fuße den Kopf zu berühren, ältere aber nicht, weiß er eine eigene
Beobachtung entgegenzustellen (Part. 84, 31 f.), Aristot. gen. an. 763
a 9 hat sich ihm durch das, was er selbst an Käsewürmern gesehen,
bestätigt (Pg. 163, 24fl[.), und zu gener. anim. 779 a 14 flf. kann er
1) Näheres Krambacher, Gesch. d. byz. Litt. ' S. 552 f.
2) Daß er diese Stellung einnahm, hoffe ich unten wenigstens wahrscheinlich
machen zu können.
8) Ich bezeichne hier und im Folgenden mit Parv. den Kommentar zu den
Parva naturalia (ed. Wendland^ Comm. in Aristot. Graeca vol. XXII pars I), mit
Part, Mot.) Inc. die in dem vorliegenden Hefte enthaltenen Kommentare zu de
part, anim., de mot. anim., de ine. anim., mit Eth. den Kommentar zur Ethik.
Ps. - Philoponos zu de gener. anim. (ed. Hayduck, Comm. vol. XIY pars III),
Ps. - Alexander zu Metaph. E-N (ed. Hayduck, Comm. vol. I p. 440 ff.) und
Ps. - Alexander zu Sophist, elench. (ed. WiJlies, Comm. vol. H pars III) nehme
ich als Eigentum des Michael in Anspruch — die Berechtigung dazu werde ich
weiter unten nachweisen — und bezeichne den ersten mit Pg., den zweiten mit
Am., den dritten mit As.
864 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 11
aus] persönlicher Anschauung einen Fall erzählen, in welchem ein
Nachtwandler nach dem Erwachen keine Erinnerung an das im Schlaf-
zustande Getane besaß (Pg. 215, 30 ff.)- Ebenso verwertet er psycho-
logisch bedeutsame Vorgänge, die er an sich selbst beobachtet und
im Gedächtnis behalten hat (Parv. 61, 32 ff.; 79,18!.; 80, 23 f.;
85, 4 ff.; vgl. auch 24, 23 ff. ^)). Es wäre zu wünschen, daß an der
Hand der Kommentare der naturwissenschaftliche Horizont des Ver-
fassers durch einen Sachverständigen bemessen und gezeigt würde,
wie weit z.B. aus den die Sehtätigkeit berührenden Stellen (s. die
Indices zu Parv. Part. Mot. Inc. Pg. s. v. xpootaXXoeiSi^c , ömixög),
die manches bieten, was aus Aristoteles nicht zu entnehmen war, auf
anatomische oder physiologische Studien zu schließen ist^.
Von den im Verzeichnis des Marc. 203 und Vatic. 241 aufge-
zählten zoologischen Kommentaren scheint nun der zu Hepl Ccpcov
loToplac , falls er überhaupt existiert hat % verloren. Der Kommentar
zu Hepl C(pa>v Yev^oecoc ist unter dem üblich gewordenen Namen des
Philoponos, auf den ihn der erste Herausgeber willkürlicherweise ge-
tauft hatte, als HI. Teil des XIV. Bandes der akademischen Kom-
mentarsammlung bereits 1903 erschienen. Die übrigen enthält das
vorliegende Heft. Wie durch den Verfasser, so sind auch durch die
handschriftliche Ueberlieferung diese Kommentare eng mit dem zu
den Parva naturalia verbunden, an den sie sich in der Ausgabe der
Akademie unmittelbar anschließen. Die Ueberlieferungsverhältnisse
sind allerdings für die drei in dem neuen Hefte vereinigten Schriften
nicht ganz die gleichen. Bei den beiden kleineren Kommentaren zu
De mot. anim. und De ine. anim. ist die Sachlage die nämliche wie
bei dem zu den Parva naturalia (vgl. Wendland Gomm. vol. XXII
1) Nicht als wirkliches Vorkommnis aufzufassen ist wohl Far?. 25, 14 ff.
2) In der Nicolaischen Literaturgeschichte m S. 806 finde ich die ich weiß
nicht woher entnommene Bemerkung, M. sei vermutlich Arzt von Beruf gewesen.
Zu dem ohen Ausgeführten würde sich das wohl fügen. Die Stelle Pg. 215, 30 bildet
aUerdings ein Gegenindiz, insofern sie zeigt, daß M. wenigstens zu einer gewissen
Zeit nicht Arzt gewesen ist. M. berichtet hier: ^jv ydp iinb^ au^drjc tic t^v t^x^jv
{aTpdc. So drückt sich nicht aus, wer selbst dem gleichen Berufe obgelegen hat
Man müßte erwarten : . . . (juvi^Ot)? ti« xal o{>t6c Tr^y xi^yriw ioxpö;.
8) Das Anecd. Hier, kennt ihn nicht. Die Aufzählung bei Michael selbst
Par?. 149, 8 ff. enthält zwar die anderen zoologischen Kommentare, diesen aber
nicht Natürlich kann er nach Abfassung dieser Stelle ausgearbeitet sein. Auch
die, freilich nicht zu dieser Gruppe gehörigen, Kommentare zur Ethik und zu den
Soph, elench. fehlen bei Michael, und der Kommentar zu Ilepl XP^H'^'^^'^ ^ da-
mals noch in der Zukunft, während die Liste des Marc, und Yat. ihn als ausge-
arbeitet kennt. Andererseits ist nicht unmöglich, daß der Verfasser dieser Liste
die zoologischen Schriften des Aristoteles sämtlich nannte ohne zi\ beachten, daß
die eine in den Kommentaren des M. nicht vertreten war.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 865
pars I p. VII). Unsere Textesquellen, soweit sie für die recensio
ausgebeutet worden sind, zerfallen in zwei Klassen; die eine umfaßt
cod. Paris, gr. 1925 saec. XIV (S) und die 1527 erschienene Aldina
(a), die andere cod. Paris, gr. 1921 saec. XIV (P), cod. Paris, gr.
1923 saec. XIV (R) und cod. Vatic. Column, gr. 2199 (C) saec. XII.
Doch enthält C nur Mot. , nicht auch Inc. ^). Die Scheidung der
beiden Familien tritt auch in Mot. und Inc. ebenso wie in Parv. mit
aller nur wünschbaren Deutlichkeit hervor; nur zeigt sich G hier
wie dort von einer Hs. der andern Klasse gelegentlich beeinflußt.
Charakteristisch ist u. a. das häufige Zusammengehen von PRC bez.
PR in Auslassungen, die durch Homoioteleuton bewirkt sind: vgl.
z.B. p. 107, 12— 14; 111,17—19; 113,2.9; 116,4—6; 118,16—17;
120,15-16.17—19; 121,24; 122,28—29; 123,17-18; 124,13-16
(das Z. 16 hinter (i^pog stehende tijc xapStac wurde als Wiederholung
getilgt); 126,27—29; 148,1.3—5; 167,6—7.: Nicht so häufig sind
S und a durch solche Auslassungen verbunden, wie z.B. p. 114|, 10
—12; 147,34; 162,28; 165,9—10. Wie für Parv., so erweist sich
auch hier die Klasse Sa im allgemeinen als die bessere Ueberlie-
ferungsquelle. Besonders hervorheben möchte ich die Stelle p. 127,
32 ff. (Z. 24 f. zb Yap h T^(itv depjtöv xal ßapö xal xoöyöv lottv . . . .)
•g (1^ xoöcpov, oLVziyBi Tupög ta ßap^a ti Ädoövta xal i7CoßtaW(ieva a&tö
xdtoD . . ., •g 8fe TcdiXtv ßapö iotiv, ivrd/et Tupöc ta ßap^a ta ivoo-
douvta xal avappiTCTOövTa ahxb S,V(ü (ava^XY] ^ap ta ßap^a icpöc '^ol xdta>
yspöiieva av(ödetv abzb ävco). So Sa (bis auf hier nicht in Frage kom-
mende kleinere Varianten). CPR haben xoo^a statt des gesperrten
ßap^a und schreiben am Schlüsse ayd^xY) Tupöc ta xdctco 7&p6|ieva ta
ßap^a xtX. Es liegt hier in der Ersetzung des ßap^a durch xoo^a
eine Konjektur vor, zu der allerdings grofie Versuchung vorhanden
ist. Der Gegensatz ig jjl^v xoö^ov, ant/Bi «pöc ta ßapda, -g 81 ßap6
lottv, ivt^/st Tcpöc . . . scheint sie zu fordern, und Arist. p. 703 a
26 f. begünstigt sie. Sie wird aber durch die Parenthese widerlegt.
Daher wohl auch die Abänderung dieser Parenthese in CPR, die nun
den Gedanken enthalten soll: es ist notwendig, daß (das Leichte)
gegenüber (d. h. im Gegensatze zu) dem nach unten Strebenden, dem
Schweren, es (nämlich tö iv i!)|jliv bezw. Iv t^ xapStof depftöv) aufwärts
stoße. In dieser Form genügt die Parenthese aber weder den Regeln
der Grammatik noch den Forderungen des Sinnes: im Accus, c. inf.
fehlt das Subjekt, und Tcpöc heißt nicht >im Gegensatze zu<. Zwei-
fellos hat der Herausgeber recht getan, Sa zu folgen. Die im all-
gemeinen größere Zuverlässigkeit von Sa, die hier in charakteristischer
1) Vgl. Wendland a. a. 0., Haydack p. VI unserer Ausgabe. Es muß also
auf einem Versehen beruhen, dafi zu Inc. p. 136, 3. 29 f. C im Apparat erscheint.
864 OM. g«L Axis. 1906. ^*
.icäerlA Verderbnisse im
aus; persönUcher Anschaanng eine' ^^^^ erwähnten durch Ho-
Nachtwandler nach dem Erwa^^ ^^ g^den sich Versehen und
zustande Getane besaß (P^ ^/p^ 155 1 „, ^ ^^ u^d dort.
logisch bedeutsame V ^^ .^ ^^ ipiotepcp «pö toö TcpoßTäv«
im Gedächtnis be' ^^ili den Zusammenhang nicht gerecht-
85,4flf.; vgl. ar .^ehmen sollen. Auch 143, 14 f. wird die
Hand der Kor VpcbTuoo Äva>, Sott 86 inl avdpcoÄO!) (rö
**f^®™^^*"^ /(jfä zb «XTjoidCsiv T$ ao/^vt, 6 o6v knl iv-
wie weit ' — ^; av<ö, toöTO Siel täv tetpairoSoDV ol -p. aröS.
^^^^ ^'^, die die hier gesperrten Worte nicht kennt,
**® ^ ';^^, dafi M. häufig im Bestreben nach der erreichbar
■"*** ''^.^keit in etwas umständlicher Weise die gleichen Worte
. Jjtfiid aus dem gleichen Bestreben! eine Vorliebe für die
..• [\^, /eigt^, und zwar auch an Stellen, wo ebenso wie hier
.■'"*)^altete Satz so kurz ist, daß auch ohne Wiederaufnahme
*^' fl%igs der Periode eine Unübersichtlichkeit der Konstruktion
'^^ gu befürchten wäre; vgl. z.B. Part. 42,5; 45,12; 159,29.
'%0 Epanalepsis nach kurzem Schaltsatz tritt besonders ein , um
'^(/din wiederaufnehmenden Satzstücke den Schaltsatz selbst zu ver-
^rten nach der Formel: von a (a aber = b), von a = b also gUt
c^ oder : von a (a aber = b), von b also gilt c. Vgl. z.B. p. 59, 38 f.
^{sotfi^aai 8k ivcodev (Xi^cov £va>dev t^v xapSiav) 8cva>dsv ouv ex tt^c
xapSiag Sisotö^oai xtX.; 44, 15 f. a&ttxa tö toOto Se (toöto Xd^cov töv
iY>t^aXov) TÖV ^YX^yaXov Syj 6pÄVT6c xtX. ; 58, 8 f. k^ Sh t-g jisyoXtq
xapSiG^ [ttxpbv 5v tö at(ia (Xd^si [ttxp&v xö oXtyov) öXiyov ouv ev
taotiQ ov TÖ atfta ^bx^zai %zk. ; 139, 29 f. Stöicep ooS&v iftsX^c (Xi^wv
&|uXic tö {fJj Ixov öpYavtxa «pög t-J]V xivYjotv {i^pTT)) StÖTcep oo6ev jitj
S^ov opY^vixa Tcpög fj]v xtvijotv {t^piQ Sovatat xivTfiO-ijvai xtX.
Aehnlich z. B. As. p. 195, 28 ff. . Ebenso an unserer Stelle o oov kl
&vftpcbicoD x^^P^^ "^ ^^^f nachdem der Schaltsatz x^^P^< ^^^ £va> ver-
bunden hat. Was also PR geben, stimmt in allem bestens mit dem
Brauch des M., und es ist weit wahrscheinlicher, daß im Archetypus
1) Aaf dieses Verfahren als pädagogisches Mittel mancher Lehrer macht an
der Hand des neugefundenen anonymen Theaitctkommentars aufmerksam Diels,
Berliner Klassikertexte II S. XXXIV f. Vgl. für Michael z. B. Parv. 3, 2 ff. ^{veTai
T^C . . . xtv/jOeu>c. Part. 45, 6 ff. ^x hi tf,; xapS(a; ayouaiv Sxepa ^Xeß^a xai av)p.;p-jor:n
TOlc Trepl Tov ^yx^^oXov ^Xcßfoic, dcp' cuv cpXcß^cuv twv dro Tf,c xapSfa; dtvEpyopivfüN
dvaSföoxat xxX. Aehnliches Part. 82, 4, Inc. 156, 23 f. u. ö. Michael hat es erreicht,
das muß man ihm lassen, daß seine Darstellung mit seltenen Ausnahmen klar and
deutlich ist und sich rasch und glatt lesen läßt.
2) Darüber unten S. 891.
\
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 867
Sa gekürzt, als daß in dem von PR der Text so durchaus im
^n der Ausdrucksweise des Verfassers erweitert wurde. Für
SttI (iivdpa>7coo Svco spricht übrigens auch die Parallele Z. 12
^icl TOO tot) xdto). Umgekehrt scheint mir an folgenden
iwoin Anlaß zu sein, mit dem Herausgeber die Lesungen der
.en Klasse denen der ersten vorzuziehen: 108,17 &nb tijc T^c
.vtpov o!)aif)<; Sa, denen aus der zweiten Klasse G beistimmt; k.
T. Y. x^tpoo o5o. PR. Für M. ist jene Konstruktion nicht unerhört.
Vgl. z. B. Am. 799, 14. Hayduck selbst bemerkt zur Lesung von
SaO >fortasse recte<. 135, 23 f. ootcöc av oIjiäi oayic Y^^T^öt^ Sa,
. . . Y^voito PR. Ueber äv c. coni. als Potentialis s. u. 139, 2
haben Sa den bei M. sehr verbreiteten Nomin. absol. statt des
Genet, absol., ein Grund zu ändern liegt nicht vor. 124, 18 f. xal
Yotp xal toö Iv xat<; oxd<paic 58aTOc 6pÄ[tev zb jiiv a&toö xtvoft-
(J16V0V . . . t6 5' '^pe(jLoöy. So Sa; x. ^ap (Yotp fehlt in P) ix too
Iv T. ox. 58. 6p. zb [t^v xivoöjisvov . . . t. 8' "^pefi. CPR; x. 7.
X. t. I. T. ax. 08. 6p. zb [tlv xiv. . . . tö 8' 'l)pe(jL. Hayduck. Man
vergleiche zunächst 126, 3 f. sl y«? 't<öv xtvoo(i^vTOv tö {t^ aätÄv (a&-
TOD C) xiveitai tö 81 iipB\iBi. Hayduck bemerkt yahz&v fort, delen-
dumc. Das wäre aber abgesehen von der Einhelligkeit der Ueber-
lieferung auch deshalb nicht am Platze, weil das a&Tc&v einen sehr
augenfälligen Daseinsgrund hat. Ohne dieses Wort könnte die Par-
tition so verstanden werden, daß von den sich bewegenden Körpern
a und b wechselsweise der eine sich bewege, der andere ruhe. Durch
die Hinzufügung von ahz&v wird der Sinn unter Ausschließung jedes
Mißverständnisses dahin festgestellt, daß bei den sich bewegenden
Körpern jeweilen ein Teil von ihnen, d. h. sowohl ein Teil von a wie
ein solcher von b, sich bewege, ein anderer ruhe. Ein ähnlicher
Grund ist allerdings 124,19 für die Einfügung des Pronomens nicht
vorhanden. Aber auch hier erklärt sich der Zusatz leicht daraus,
daß das vorangestellte und von dem regierenden Worte durch 6pd&itsy
getrennte toö . . . ^SazoQ für das Gefühl den Wert einer adverbiden
Bestimmung: >bei dem in den Wannen befindlichen Wasser« oder
eines Adverbialsatzes: »gießt man Wasser in eine Wanne« erhält.
137, 7 ^roioövtai (Subjekt ta z^zpinoSa) Sa nomzai CPR. Plurales
Verbum bei einem Neutr. Plur. als Subjekt ist bei M. reichlich zu
belegen (Beispiele aus Parv. bei Wendland S. 164 s. v. neutrum);
auch rascher Wechsel zwischen pluralem und singularem Verbum ist
nicht selten (z. B. Part. 33, 22; 51, 7 ff., Parv. 47, 3 ff.). 142, 22 zer-
stört das von Hayduck aus PR aufgenommene ipia\ii!vm den Sinn
der Stelle, wie auch Aristot. 706 a 5 ff. zeigt. 147, 18 gab der Arche-
typus von Sa ta&n]c , dessen Aufnahme kein genügender Grund ent-
868 G5U. gel. Anz. 1906. Nr. 11
gegensteht. Das Gleiche gilt von 152, 18 licav . . {liXXot, 158, 5 xav
. . . ixxö4)6tsv. 170, 1 ist das von Sa gebotene SlScoxe ifop logisch ohne
Anstoß. Darch seine nachfolgende speziellere Behauptung begründet
der Kommentator die vorangehende allgemeinere des Aristoteles.
Schwanken zwischen beiden Familien kann man z. B. p. 106, 6 f.
12 ; an ersterer Stelle geben Sa, an letzterer S allein die Konstruk-
tion ^rpooßdXXsiv TÖv lotöv tcp xovx$, die übrigen Hss. 9cpooß(£XXety t^
loT$ TÖv xovt6v. Die Stelle Z. 8 f. zb ^ap «Xotov äv ttc . . . J)*^ jtsta
j^dßSoD {) xovtoö ^rpooßdXXcAv xal anepeiScov töv xovtöv tcp (OTcp ^ SXXcp
tivl [t^psi toö ;rXo[oo bringt keine Entscheidung, da] unsicher bleibt,
ob npooß. xal intptiS. t. xovt. zu verbinden oder ;rpooß. zum Voraus-
gehenden zu ziehen ist. Auch daß Z. 12 a mit CPR geht, ist bei
dem gleich zu besprechenden Charakter von a nicht ausschlaggebend.
Mangels anderweitiger entscheidender Indizien wird man, vom Heraus-
geber abweichend, der im allgemeinen zuverlässigsten Hs. S zu folgen
haben.
Was nun die einzelnen Textesquellen innerhalb der beiden Klassen
betrifft, so verlangt besonders a eine aufmerksame Betrachtung. In
den meisten Fällen, in welchen ich mich hinsichtlich der Konstituierung
des Textes mit dem Herausgeber nicht einverstanden erklären kann,
kommt die Bewertung von a in Frage. Zunächst ist festzustellen,
daß a ein von S unabhängiges, ihm koordiniertes Glied der ersten
Familie bildet. Mehrfach bietet a den vollständigen Text, wo S Aus-
lassungen oder Kürzungen zeigt; vgl. z.B. p. 146, 1 f.; 159,29.
Femer lassen sich manche Differenzen zwischen S und a mit Wahr-
scheinlichkeit darauf zurückführen, daß S und a auf einen Archetypus
zurückgehen, der in den Wortendungen zahlreiche Kürzungen und
Ligaturen enthielt, die von S und a verschieden ergänzt und auf-
gelöst, von ersterem öfters auch als solche übernommen wurden.
Daher die besonders zahlreichen Differenzen zwischen S und a im
Numerus, der Anwendung von Infinitiv, Partizipium oder Yerbum
finitum, Aktiv oder Passiv u. ä. Man vergleiche z. B. ^) 106, 19 |j.8XX
S (liXXoi CPRa; 121,29 ffpoXaßd>y SPR TcpoXaßsiv a; 139,23 (psp' S
^ipstai a fdpei PR; (139,24 ^dpetai Sa, PR fehlen, richtig 7^»;)
139, 25 ^ep' S fdpeo^ot a ^^peivPR; 152,30 xditictetai SPR xaiticteiv
a; 153,37 6p S ip^ic a 6p»övPR; 155,3 6p4 SPR 6päcai a, icpoß&XXt)
SPR npoßdXXcDV a; 155,5 ßpax&tepov SPR ßpaxotdpooc a; 155,8 Sx^vtsc
SPR, i/ona a; 155, 10 f. I£ ivd^x^c ^ivstat SPR H ivaY^vstat a; 155,20
iva^xaiov SPR ivtk^Tai a; 154,4 ocüxpirooc SPR o&^xoq a; 156,2
1) Selbstverständlich ist zuzugeben, daß fär viele der hier aofges&hlten FiUe
auch andere Erklärungsweisen in Betracht kommen.
Commentaria in Aristotelem graeca XXn 2
869
acoxpcitooc aPR oa>[taTO<;^S; 159, 14 to6To>v SPR to&too a; 160, 27 tcdv
Xe^oiiivcov SPR too XeYO|iivoo a; 161, 12 Xi^ei SPR XiYtt> a; icpoevex^^v
X
SPR 7cp06vox-Jlv a; 161, 14 ivevsx*^v SPR ivsvox-^v a; 161,23 rj) xot
S T<p xoiX(|) a rj xoiXiof PR; 162,17 xataxp(S>itevot xaXooitev S Ttata-
Xpco(i6vot xaXoooiv PR xataxpa>|i'6V0(; xaXet a; 162, 29 f. tac «posipifjfii-
va<; . . . alTia<; SPR rJjv 7rpostpif](i6vif]v . . . altCav a; 162, 31 to&c it6Sa<;
SPR T71V TuöSa a; 165,20 xat^ovtec SPR xat^ooot a; 165,29 jiivetv
SPR {t^v a; 166,4 TcpoßeßYjxÖTa SPR Tcpoßeßi^xaot a; 166,32 täv «ts-
poYtfiov S tTjc WTdpoYOc a täv TctspOYcov PR; 170, "2 fj Tmjosi SPR taic
Tcn^aeai a. Auch in einigen Fällen, in welchen Sa zusammengehen,
ist die Einwirkung einer Abkürzung noch erkennbar. Sie liegt aber
hier weiter zurück als der Archetypus von Sa, aus dem S und a die
Auflösung bereits entnommen zu haben scheinen. 150,35 geben Sa
2xe 8e icpoTfiY^Joetat . . . itj^erat (Iffetat a) für das Stav 81 «pOTj^i^aiij-
«X
tat ... . i^nzai der übrigen (vgl. dazu auch 156,2 Sts xd^t S
8te xd(jLicT6i a Stav xditirtiQ PR); 154,2 (Uta Sa {i^ttc^ov PR; 164, 12
xoCXyjv SaR xotXiav P.
Als S koordinierte Textesquelle ist nun a gewiß von großem
Wert. Gleichwohl ist in seiner Benutzung Vorsicht am Platze. Die
Hs. selbst ist uns nicht erhalten, sondern nur die nach ihr veran-
staltete Ausgabe.. Hier mag manche Unebenheit geglättet, mancher
Anstoß durch Konjektur beseitigt sein. Vielleicht hatte ein solches
Verfahren bereits in der Hs selbst seine Spuren hinterlassen. Ich
stelle einige charakteristische Beispiele zusammen:
PR S a
125, 23 f. iv&'fY.yi xb xb Xoixöv (lipoc • • tb Xoiicbv [lipoc • .
Xoiicöv (lipoc ... '^ipeitsiv . . '^psiteiv . . "^psiLei.
125, 24 f. §v Spa Sovd- Iv &. 8. Svta xb §v &. 8. Sv tb AE
(tei Svta ta AE ivepxe^o^ AEiv. 8. $ocai(soSC) iv. 8. Sorai.
86o Sarai
136, 33 ff. favepöv £pa ^avepbv £pa Stt i- favspöv £pa Stt i-
Ott Jvavrlox; 6 £vdpa>icoc vavticoc 6 ävdp. rJjV vavtUoc 6 ävdp. r^jv
xal 6 Spy ig itjV tcdv axe- mv oxeXcbv xd^t^^iv to^v oxeXo^v x&ii^tv
X(öv xd|i(|)iv noioövtai Tcoieltai ^roieicai icpbctbv
8pvtv.
150, 35 f. Stav 8i wpo- 8x6 8i 9cpoii]7i) o e- 5x8 8k wpoTj^i^oe-
ir]Y'y)<3if)xat 6 ipioxspöc xai 6. &p. &[&., Stj^e- tat 6. &p. &it., S^e-
üi[tO(;, S4^Y)xat 81 xö 86£iöv xat 8i t. 8. lo^. xxX. xat 8i x. 8. lox. xxX.
loX^ov, 7[vexai xopxbv (liv
at 86Stal nXeopaC ....
G4tl. g«l. Am. 1906. Hr. 11
61
870 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
a hat wohl bemerkt, daß das Futurum nicht am Platze ist und
demgemäß die zweite Form geändert, ^cpoTjY^etai aber, das nicht so
leicht in ein Präsens zu verwandeln war, unangetastet gelassen.
PR S a
136, 32 ÄijXov oov 8ti 8i)Xov 8ti icoisitai xal df)Xov 8ti «ot-
. . . icoteitat sttat.
In ähnlicher Weise ist an vielen Orten nachgeholfen, Verderbtes
korrigiert und zwar bisweilen, wie sich aus dem Vergleich mit an-
derer Ueberlieferung ergiebt, falsch korrigiert, Gutes durch Besseres
oder vermeintlich Besseres ersetzt. P. 116,20 hat der bei Michael
nicht seltene Indikativ nach idv^) dem Kom'unktiv weichen müssen.
165, 3 f. wurde mit xäv et . . . ixCvoov (xivöotv S xivcdev PR), IS» äv
i^ivovzo die reguläre Form der irrealen hypothet. Periode erstrebt.
136, 16 ff. ist die Konstruktion inl Sk toö Spvi^oc . . . Si^Xov Srt . . .
9coiettai durch die schulmäßig korrektere 6 5k Spvic • • • SijXov Sti
. . . 9cot£itai ersetzt. 152, 1.5.18 ist in a der Konjunktiv nach tl
(vgl. zu diesem Gebrauch die Ind. zu Parv. As. ; et xb^'i z- B- noch
Inc. 153,20; 161,27 [hier hat a wieder korrigiert], As. 81,15 [A
T6xot]. 16 [aA T6xot]) beseitigt. 151,28; 155,35 mußten dat^poiv und
ddtspoc den Bildungen toiv k^poiv und 6 Srepoc den Platz räumen.
113,32 sollte Svexev für Svexa wohl den Hiatus, 115,5 Sicep fur S (es
folgt 6p|i7]tixdv) die Kakophonie beseitigen, 117, 5 tö für r^v die Kon-
struktion der unmittelbar vorangehenden angleichen, wobei vergessen
wurde auch an SijXijv am Schlüsse des Satzes die Hand zu legen.
144, 11 wurde icpötspov Sk icpoSiopCCetai als Tautologie empfunden und
daher die Präposition im Verbum gestrichen. 151,35 wird das Lemma
tö |iäv Ydp ooS^ 8X(i)g 07cöaTif]|ia g/^i erklärt durch den Satz: toot^att
tö l^ov (tdvov ?va icö8a 8Xa)c t)icöorr]|i.a xal Ipstoji^ o5x ^bi. Da &«ö-
aTif](ia hier sowohl in dem zu erläuternden Satze wie in der Erläu-
terung vorkommt, wurde es in a durch das synonyme o7coxei|tsvov er-
setzt. 160,12 schien tb oxdXog sachgemäßer als toöc icöJac, wobei
übersehen wurde, daß nun 12. 13 toog icp^o^ev und to&c 5äio*sv nicht
mehr paßt. 161,34 ([i^pic oo), 163,10 (Xi^ei 8k) sollten die Aen-
derungen grammatische Besserung bringen, 168,9 ist eine Flüch-
tigkeit des Verfassers (to6too^ — lo/dtooc mit Beziehung auf icpoa^Uov
xal 6ictcjÄCci)v [oxsXäv]) korrigiert. Aehnliche Verbesserungsbestrebungen
waren wohl auch 137,11 (Inf. Fut. statt Aor. nach {liXXet), 125,23
'^p8|jLoöv tt statt tt '^p8|ioöv) maßgebend. Dahin gehört femer, daß bei
Anführung aristotelischer Werke, die mehrere Bücher umfassen, der
Singular des Artikels durch den Plural ersetzt wird: 113,22 h t^
Hepl (füxf)« SCPR iv Tow H. f a; vgl. 144,3; 146,23; 151,17;
1) S. die Indices zu den Michael gehörigen Schriften unter dFv.
Commentaria in Aristotelem graeca XXn2 871
159, 14. Häufig sind die Lemmata nach Aristoteles, gewöhnlich der
Vulgata, korrigiert; vgl. 107,8; 104,18; 116,16; 117,2; 118,16;
123,31; 128,17; 130,27; 137,9; 141,23; 159,8.9; 163,22; 164,4
(das übergeschriebene xal wurde als Verbesserung für [it] aufgefaßt
und verdrängte so dieses); 164,9; 165,15; 167,27; 170,22.23.
Gelegentlich verrät sich der Korrektor durch Mißverständnis des
Textes, wie z.B. 114,31.
Unter diesen Umständen wird man da, wo a allein Ansprechendes
bietet, von Fall zu Fall zu erwägen haben, ob nicht Konjektur oder,
im aristotelischen Texte, Korrektur nach Aristoteles im Spiele ist.
Gewiß verdienen manche seiner Lesungen, wie 117,8 Sk\ 130,16 tb;
166,5 oL^f oxipoK;, Aufnahme; beruhen sie auf Konjektur, so verdient
die Konjektur Beifall. Ebenso wird man 114,14; 117,18; 142,11;
149,25; 152,22 den aristotelischen Text mit a herstellen müssen.
In anderen Fällen aber hätte der Herausgeber zurückhaltender sein
sollen. 124, 6 f. ist überliefert: (liaov toö a(l^(i.atoc Xd^st njv xapSCav
xal t6 iv aorg ?cv8ö(i.a. f7]al Se 8ti fg te^v C(p<i»v xtvi^oet St>vd(t6t
(jL^ gy, IvepYeCc^ 8k S&o. So GPR. Statt t^ tddv Ccp^i^v xtvi^aet giebt S
1^ Td^v C<i><i>v xivYjaic, a t6 zm C(p(uv |i.laov, womit in willkürlicher Weise
ex coniectura dem Satze ein Subjekt gegeben ist. Letzteres fehlte
jedenfalls schon im Archetypus unserer Ueberlieferung — daher die
Verwandlung des Dativs in den Nominativ in S — , vielleicht war
von Anfang an dem Leser überlassen, es aus dem vorangehenden
Satze zu ergänzen. Andernfalls wäre zu vermuten : (p-qoi 8k Zzi tooto
Tg T. C. xivi^Gsi. Auf keinen Fall durfte die Emendation von a in
den Text gesetzt werden. An einigen Stellen hat der Herausgeber
durch Aufnahme des von a Gebotenen die grammatische Eigenart
des Schriftstellers verwischt: 127,14 geben SCPß äYttat &<: fiv ixetvo
älfot, a ÄY. ö)<: äv 4x. ÄYig. Vgl. As. 103, 17; Acropol. ed. Heisenberg
I p. 337 s. V. äv post relat. c. opt. 142, 18 schreiben SPß «d*otsv
nach iTcdv bez. iTceiSdv, a bessert unter Einführung des Singulars bei
einem Neutr. Flur, als Subjekt icd^. Der Optativ nach iv, idv, 8tav
findet sich bei M. häufig ; vgl. Wendland, Index zu Parv. s. v. £v, idv ;
Hayduck, Ind. zu Pg. s. v. äv, zu Eth. V s. v. Sv; Wallies, Ind. zu
As. s. V. äv; s. auch Inc. 165,24. Ebensowenig anstößig ist es bei
M. , wenn 151,13 im Nachsatze der irrealen hypothet. Periode das
£v fehlt; auch hier hat a gebessert, und der Herausgeber ist ihm
gefolgt; vgl. jedoch die Indices zu Eth. V, Pg., As. s. v. Sv, Eth.
IX 467, 1, X 616,24, Heisenberg im Index zu Acropol. H p. 118 s.v.
Äv. Der gleiche Fall wiederholt sich 163, 2. Vgl. auch 163, 9. 158, 9 f.
schreibt M. mit gewohnter Nachlässigkeit in der Konstruktion des
61*
872 Mtt gel Ans. Id06. Nr. 11
Partizipiums ^) : aS6vatov fop |ii) xtvttv aotoo^ xivr^d^voi, wo a xsvcövrs
emendiert 170, 2 liest man in SPR SiSwLsy o&v {SiSmrtß lap S) oö-
toic 1^ ^ic tooc xöSac, ?va xoxiioavtec ^ ^ m^ost ßgi8tCs££y iv
rg Yf ; herzustellen ist ßaSiCotev, nicht mit a ßa8CC«»oty. Zweifelhaft
bleibt Yorläufig 130,20; £|i^ ist hier von SCPR als indeklinabel
behandelt, a schreibt iiupoiv entsprechend Aristot. 703 b 33. Die
größere Wahrscheinlichkeit spricht for letztere Form ; die Abweichong
in S könnte wieder auf gekürzte Schreibung zurückgehen. Immer-
hin wäre die Behandlung des Wortes an anderen Stellen des M. za
beobachten. 141, 9 ist das Fehlen von i(szai und 5^ in SPR in dem
Streben nach knappster, stringentester Formulierung des Gedankens
begründet. 111, 23 f. ist der Vers Horn. 0 21 in SPR jo wieder-
gegeben : oXX' o&x Sv ipooait' (ipooets SC IpCKHQt" a) ü o&vod ssSiovSe.
Auf dieses ü o&pavoö ist Z. 28 flf. Bezug genommen : acte &a (lbv «qö
sbceiv >iXX' ob% Sv ipooaitec iSi^Xoiasy Sti n&wq iotlv ax£yi]Toy, &a tt
too iicev£7xetv Sti >i£ o&pavoü< ^vt£ato Sn bctbc tou o&pavoö. Cm so
weniger durfte an der ersten Stelle mit a, dem allerdings hier C
zur Seite tritt, aus Aristoteles, der 699 b 37 den Vers zitiert, das
homerische Ü o&pavd^ev hergestellt werden.
Ich reihe diesen FäUen einige andere an, in denen umgekehrt
der Bedeutung, die a trotz seines oben gekennzeichneten Charakters
für die recensio besitzt, nicht genügend Rechnung getragen ist. Nicht
selten steht a zu PR gegen S. Soweit an derartigen Stellen nach
Prüfung der Sachlage a der Konjektur nicht verdächtig erscheint,
haben diese Lesungen als solche des Archetypus der beiden Familien
ein bedeutendes Gewicht, das nur durch schwere innere Gründe, die
der betreffenden Lesung entgegenstehen, aufzuwiegen ist. Der Herans-
geber hat hier des öfteren m. E. ohne genügenden Grund zugunsten
von S entschieden. Es wäre zu schreiben 106,25 iiiXXoi (mit CPRa;
ebenso 106,19 [hier {teU S]; 111,10.21 mit CPRa; 125,18 mit
SaCR); 128, 1 npb<: td; 142, 2. 11 zb Se^bv xal apiatepöv; 143, 21 dva-
to^v . . . 86<Jtv (vgl. 108,6; Eth. V 8, 6; As. 163,6.7; Am. 703, 15);
146,5 u. 157,25 ^icsiSt] (146,35; 151,12 scheiden sich die beiden
Familien: inü Sa licsiS^ PR); 147,28 tddv lvae(ui>v C^mov; 148,13 tö
Sva> xal %6lz(ü (voran geht tö Ss£i6v xai dpiotepöv ; so Sa, denen Hay-
duck mit Recht folgt; tb Seftbv xal tb &piGtepbv PR) ; 150,33 sie (die
Ersetzung durch icpbc in S hat wohl in dem vorhergehenden elc to5-
Tciadtv ihren Grund); TcapsxxXCvovtoc ; 152,2 icoii^ckxito ; 152,15 (löpta
(die Wahl des gleichen Wortes wie im Vorangehenden entspricht dem
bei M. oft zutage tretenden Streben nach höchster Deutlichkeit. S. u.);
1) Vgl z. B. die von Wendhuid im Index zu Pary. s. ▼. partic. gesammelten
Stellen.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 873
155, 27 Sttsp; 158,3 iclrso^at; 158, 4 iicoTd|ioi; 159, 23 iveSdxeto;
159,28 u. 160,13 Tcpörov; 160,7 t^c X^Secoc (t6 [tij SSfJc tijc X^Sewc
z.B. Parv. 45,30; 48,12; 73,10; 106, 14 f.; Pg. 87,12; As. 88,22;
95,28); 163,7 Tcpoo^ioic, 8 Tcpoo^icov; 163,28 ta (xal ti icpöo*ta xal
tot dnio^a Aristot. 712 a 2 f.); 167,29 [i^pt; 149,19.23 und 165,20
ist die Wortfolge nach PRa zu ordnen. Auch 154,24 würde ich
7cpoßdXX7]Tai trotz des folgenden Y^vYjtai aufnehmen. Ein Zweifel
bleibt 148,21, wo PRa geben Seigic ivapYnjc, S 8etY|i.a Ivap^dc, was
Pg. 158,19 wiederkehrt; 163,23, wo X^y^^v leicht von a einer- und
dem Archetypus von PR andererseits in X^ei gebessert sein könnte.
Dieses Xd^cov ohne die Stütze eines Verbum finitum ist bei M. unge-
mein häufig; vgl. z.B. 126,17 (Xd^et CPR); 142,6 u. unten.
Gegen die gesamte Ueberlieferung hat der Herausgeber im
ganzen selten entschieden. Sehr mit Recht. Wenn irgendwo, so ist
bei einem byzantinischen Texte, bei dem uns alle kodifizierte Gram-
matik und Stilistik als Kriterium im Stiche läßt, der äußerste Kon-
servatismus am Platze. Um so auffallender sind einige schlecht be-
gründete Ausnahmen, die z. T., scheint es, aus einer unwillkürlichen
Anhänglichkeit des Herausgebers an die klassische Grammatik her-
zuleiten sind. 105,16 (o&S* SXwc äv Y^VTjtat xCvYjötc), 108,26 (o^x- Sv
xtvi^oTQ [xtvT^oY] SaC und vielleicht R xtvi^oet P]), 128,3 (oSt' äv avw -jj)
gebraucht M. den Konjunktiv mit £y als Potentialis. Hayduck setzt
den Optat. mit äv. Vgl. jedoch Part. 96,5, wo allerdings Hayduck
gleichfalls gegen die einstimmige Ueberlieferung emendiert, ferner
die Stellen im Index zu As. s. v. äv c. coni. pot., Eustr. in eth. Nie.
p. 272,26; 304, 2 f., Anon. in eth. Nie. VH p. 415, 25.27 f., Georg.
Acrop. ed. Heisenb. I p. 337 s. v. äv. Auch 111,22.28 scheint sich
dieser Potentialis in das Homerzitat eingeschlichen zu haben; an
letzterer Stelle geben CPRa ipboti te, S ip6oet5, an ersterer SC
ipöoete a Ip&oTjt' PR ipboait". 106,8 und 125,23 war das einstimmig
überlieferte el (idXXot beizubehalten (s. o. S. 872 über 106, 25 u. a.
St.), 143, 18 mit allen Hss. zu lesen tip o&pav(p und dementsprechend
Z. 17 mit PRa irpöc t(p (141,llfif. allerdings tb ävco ijrot tag ^iCac
I^Qüot Tcpig th Toö icavtig xdtci) fjjv 7ijv... t6 xdtci) ijtot toög xXdSooc
Äpöc tö TOÖ icavTÖc ävco ijtot t6v oäpavöv, aber 143, 22 f. icpic tote
TOÖ TcavTÖc slot nka^ioi^). 152,26 ist überliefert äXXa (t^jv zb i^0D|i6VÖv
ioTiv äpa xal t6 XfJ^ov. Hayduck restituiert ä. |t. t. f^Yooitsvov ^oTtv,
<5oTtv> äpa X. T. X. Dabei ist übersehen, daß äXXa |i.-f)v zb T^Y^&iisvov
(ohne iotiv) stereotype Formel ist; vgl. z. B. Procl. in remp. 1241,6
Kroll, Syrian in met. 177,30 Kroll, Simpl. in phys. 329,11; 489,32
Diels. Man schreibe also: äXXa (t-fjv xb i^Yo6|i.evov, loTtv äpa xal tb
X^Y^v. Unrichtig emendiert scheint mir 125,7. Der Zusammenhang
874 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
(vgl. Z. 3 f. 30 f. und Aristot. 702b 25 f.) verlangt Sbo £lolv ivsp7£uj,
Iv 8^ 8ov4|i.et ^Cvetai . . . ^). Dafür geben die Hss. : 86o elol 8ovd{tEi, §v
8fe ivspYelof Y^vetat ... Es war wohl durch Versehen an beiden Stellen
geschrieben IvspY^io^, und das als Korrektur notierte 8Dvd(isi trat an
die Stelle des ersten statt an die des zweiten Ivsp^eio^. Hayduck
bessert 8&o elolv Ivsp^Elot • iv Sk Ivsp^etof Ytvstat ... — Von richtigen
Entscheidungen hebe ich besonders die über 109,2 hervor, wo durch
C einzig und allein der Weg gewiesen war, während die sonstige
Ueberlieferung durch die Schlimmbesserung eines Lesei-s getrübt ist,
der den Sinn des ivaXXdf (s. dazu Eth. V 22, 14 ff.) nicht verstand
und an dem Gleichlaut der beiden Glieder Anstoß nahm. — P.
126, 5 f. interpungiere man (ooto) ^ap o6x av ^v i|tepf)), o&x... (|»oxt^,
ÄXX' äXXo tt, sISoc . . .
Nicht ganz die gleiche ist die Grundlage der recensio für den
Kommentar zu Ilepl Ccpcov |iop(o>v, der den Anfang des Heftes bildet.
S und P smd auch hier die hauptsächlichen Hülfsmittel, aber R
(und C) fehlen und anstelle der Aldina tritt die zu Florenz 1548
erschienene Editio princeps des Petrus Victorius (a). In diesen
drei Textesquellen fehlt aber ein beträchtliches Stück des zweiten
Buches (p. 25,3—36,11), in S außerdem der Schluß, p. 85,35
bis 99, 20. In der Lücke des zweiten Buches bietet einen Ersatz
cod. Paris, gr. 1859 (F), der den Kommentar bis 42,1, aber in stark
abweichender Fassung enthält. Man muß also für das ergänzte Stück
mit der Tatsache rechnen, daß wir einen wesentlich anderen Text
vor uns haben, als der des Archetypus von SPa gewesen ist. Die
Abweichungen von F in den erhaltenen Partien von SPa sind in
einem Anhange der Vorrede mitgeteilt. Sie zeigen nicht nur Diffe-
renzen in der Formulierung des gleichen Inhaltes, sondern bieten
auch einige z. T. bemerkenswerte Zusätze, wie p. IX 1. 5 ff. die > de-
mokritische c Ableitung des Unterschiedes der Rund- und Spitzbärte*)
sowie des hellen und dunkeln Blicks des Auges aus der verschie-
denen Lage der Atomdreiecke; die Barttheorie jedenfalls nichts an-
deres als ein, vom Scholiasten freilich für bare Münze genommener,
schlechter Witz auf die Atomenlehre und insofern interessant, da hier
ein, vielleicht auf das Altertum zurückgehendes^), Stück antiato-
1) Etwas aufiäUig ist aUerdings das Y^vexat, wofür man ^orfv (^v) erwarten
soUte.
2) 'AtcoSwouc 6 ATjfioxptxoc aitfav xoü touc fiiv oSuxaxov xov nwyoiva lyti^y '^"*»
hk Tcepupep^, x^v xpiytovix^v xÄv dx<$fi.u>v Oiaiv xal 7:apdtXXa&v -jxiaxo. Äv f*iv ^ip ai
xopu^al xÄv xptY(i>vu>v xoxd xo dfxpov x6)^u)ai auveX&oüaat xoü 7cti)y<Dvoc, ö&jTcpoc Y^vc-
xat, 5v 5* al ßctaeic, Tiepupep^c xal axpoyYuXoc (itcpi^ip^ xal axpojYiiXov die Ha.)!
3) Man erinnere sich der yon Usener, Epicorea p. LXVIII ff. besprochenen
Persiflage epikurischer Lehren.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 875
mistischer Polemik vorliegt. Eine Anspielung auf Plat. Theaet.
p. 155D enthält p. XII 1. 15 f. Darnach wäre die Stelle dem Sinne
nach etwa folgendermaßen herzustellen: ^aD|iaCö|i6va "^äp Tcod'oövtai.
8ib xal 1^ ^Iptc <6aö|tavToc Sx^ovog oh xaxö^g oicö täv ico^Xatöv iXtftzo}.
avtixauaXXdtTstal ti xtX. (Lemma Aristot. 645a 3).
Was nun die Konstituierung des Textes betrifft, so muß es etwas
befremden, daß der Herausgeber, nachdem sich S sowohl für Parv.
wie für Mot. und Inc. als beste Textesquelle bewährt hat, in Part,
zunächst einem Eklektizismus huldigt, dessen ratio im einzelnen Falle
nicht immer ganz klar ist, um schließlich am Ende der Vorrede zu
bemerken, daß er sich an S enger hätte anschließen sollen. In der
Tat wird man an einer stattlichen Reihe von Stellen zugunsten von
S zu ändern haben. Glücklicherweise handelt es sich dabei selten
um tiefergreifende, sachlich und sprachlich jsonderlich wichtige Diffe-
renzen. An den meisten Stellen besteht die Diskrepanz in abweichen-
der Wortfolge, wie z.B. 9, 12 f.; 13,3.5; 41, 15. 20. 21. 23 f. 25; 54,33;
57,30; 69,23; 72,14. Femer wäre mit S zu schreiben z.B. 5,19
tootüov; 5,20 iTceiSt) zh (es liegt kein Grund vor, zu betonen, daß
sowohl das Feuer wie auch die Luft aufwärts streben; vgl. auch
im folgenden ^f) xal oSwp); 39,19 xivoo|i.^votg; 40,31 tijc 8fe icdXiv t.
ahz. idp. T. 8nf]x^«; 41,6 iS^c; 46,25 tsTpdtTroov; 53,25 o5te yAp
Xeaivei ta&tTjv oSte Tc^ttst xtX. ; 56,9 und 62,35 Soicep; 56,18 8ti
ToöTo S^ xal; 78,14 o?; 80,5 4v rj (vgl. 79,24; 88,36; 104,8; 8.
auch 77,11; dagegen h z^ 77,13 [a 4v tofg]; 86,19f.; 95,33; 130,5);
80,16 icoppcot^po) ; 81,35 und 82,9 xal; 84,14 ouxl. An einigen Stellen
berühren die Diskrepanzen wieder die oben erwähnten grammatischen
Punkte (Freiheit in der Konstruktion des Partizips [Nom. abs. für
Gen. abs.], Modusgebrauch u. a.). Sofern es sidi hier um Dinge
handelt, deren häufiges Vorkommen bei M. nachgewiesen ist, ist es
methodisch allein richtig, jeweilen der besten Ueberlieferung zu
folgen; so z.B. 12,6; 60,24; 68,26; 69,1 f. Wie hier Pa, so ändert
a für sich allein auch anderwärts im Sinne einer korrekteren Syntax,
z.B. 69,16; 77,25; 83,13, wo Hayduck den von a nach Srav herge-
stellten Konjunktiv nicht hätte aufnehmen sollen. Eine für M. nicht
unerhörte Nachlässigkeit der Konstruktion haben Sa74, lOf. er-
halten: To&Tcov U, Tootlött z6 te (statt tö te geben Sa töte P too te)
Tüöppo) Xiav iic' aXXijXo>v 8i6on)x^at xal tb elvai oove^i), woran der
Herausgeber um so weniger hätte Anstoß nehmen sollen, als im
zweiten Gliede (xal tö slv. gov.) auch P beistimmt. Ebenso war mit
Sa 59, 33 zu schreiben el t6xoi (anderwärts erlaubt sich M. allerdings
auch sl TÖxig, s. oben); 41,13 ist icapaoxeoACov wohl verschrieben für
TcapaoxeodCot, was statt des von Pa gegebenen Konjunktivs aufzu-
876 GMt gtL Au. 1906 Hr. 11
nehmeD wäre. Die Nkhtwiederholimg der Pripontk»
Gliede 81,26 ist aoffiaDeDd, aber doch dvrch Sa
42|12 wird t6y ^op durch den Zusammenhang erfordert. 44.34 iBL
gegen aiabyicffiw^, 74,12 gegen Xctjcst (zom intransitiTeB Gehraach
▼gl. die in den Indices zu Panr. und As. s. ▼. Terzd^DeCea Scefiea /
nkhts einzuwenden. Zweifeln könnte man 12,30 aber £üu& (gcgeft S
spricht die Korresp<msion SXXi] — izipa Z. 28 f.); 71,33 x^ vaazm zsi
(vor xr/op.). Nicht zahlreich sind die SteDen, an denea ich mich
Yom Heraasgeber abweichend für P bezw. Pa gegen S bezw. Sa er-
klaren möchte. 40, 12 hat sich Haydnck nachtn^ich (PwweL p. VI
not. 2) für Sa entschieden. Gewiß mit Unrecht Die Epanalepsis mmi
insbesondere die Art, wie in d^ Epanalepsis der Schaltsalz ver-
wertet ist (s. 0. S. 866), tragen den Stempel des M., nnd die Ab»-
lassang des St&ckes in Sa wird am so verdächtiger, als es
Vorangehenden Homoioteleaton bildet. 48,27 durfte mit Pa xod
4ftat, 57,8 vielleicht ßdXtioy o&v xal tö iv za lesen sein. Oefier
glaube ich die gesamte Ueberlieferung gegen koiyekturale Bessenrngen
des Herausgebers in Schatz nehmen zu sollen: 9,32 belasse man
{xootov; 10,21 flL wird der Beweis f&r das mehrfache Vorkommen dem-
selben Begriffes in der Definition ausdrucklich allerdings nor for
oxdxoov geführt. Gleichwohl scheint mir kein genügender Grund vor-
handen, mit Hayduck 10, 20 f. xal Sic t6 Süroov und 25 f. nal Sucoov
zu tilgen. Nor das in S nicht überlieferte xal xoXoiroov xb SüRxyv (21)
ist Interpolation. 31,14 — 16 ist unantastbar, wie die Vergleichuag
mit Aristoteles 648b 30 — 32 zeigt, doch ist nach Ciov ausgefallen
S8c»p, und für tpltoo erwartet man Seot^poo. Die Beispiele in der
aristotelischen Folge werden vom Kommentator mit der Au&ahlung
30, 28 ff. in Verbindung gebracht; die di^ 31,15 schien auf die a!b-
drjoic 30,31, also den zweiten Tropos hinzuweisen, während die
nächstvorangehenden Beispiele für später folgende Tropoi die Belege
boten. Schreibt man 31,14 für tpCtoo Ssot^poo, so ist jeder Tropos
durch ein Beispiel vertreten, beläßt man tpitoo, so erhalt der dritte
Tropos zwei Beispiele, während der zweite eines solchen völlig ent-
behrt; tilgt man mit dem Herausgeber 31,14 — 16, so erhält man
einen Tropos und ein Beispiel zu wenig. 41,7 ist man nicht befugt,
das von SP mit den Aristoteles-Hss. ESVY, mit denen das Exemplar
des Kommentators auch sonst Verwandtschaft verrät, gebotene at-
|i&8(i)v ((i|i|i&So>v a) in das i|i&So>v der aristotelischen Vulgata abzu-
ändern. Formen wie iHiotiaq 49,17 (so 52,2 SÄcete Pa. Vgl. Script
orig. Constant, reo. Preger I p. 76,13 icpoScboavtoc, 77,14 imSciKsxic in
einem Zweig der Ueberlieferung. Diese Flexion ist im Neugriechi-
schen zur herrschenden geworden [Thumb, Handb. d. neugriech.
Ck>mmentaria in Aristotelem graeca XXn2 877
Volkssprache § 166,5]), durften nicht wegkorrigiert werden. 60,8
ergeben die Lesungen von Pa (ivaTcvJ)) und S (ivaTcvei) ivaTcvJ), das
nicht in ivaicviig zu bessern war. Ebenso war m. E. zu belassen
60, 35 ip^iooc, 68, 23 f. oovbtatat — ivCoTarat (nach oooyiYYYjTat. Mo-
duswechsel ist bei M. wie bei Byzantinern überhaupt nicht selten
[Parv. 143,7; As. 6,2; 41, 25 f.; 71,28; 92,20; 103,27; 123,3f.u.ö.;
Heisenberg Acrop. I 337], tva c. indic. ist nicht unerhört [Preger
a.a.O. 133 s. v. Modi]. Ein Beispiel bietet Mich. Parv. 131,20),
95,10 akiav ^vTuep ohne Einfügung von St', ebenso 98,12 aeXaxcttST)
£XX7]v, 96, 5 GovepYijaiQ (über £v c. coni. als Potentialis s. o. S. 873).
Zweifel an der Berechtigung einer Aenderung hege ich angesichts
der Schreibweise des M. oder der paläographischen Sachlage z. B.
53,32 (Svteg); 57,35 (das nur in a stehende al ist zur Not entbehr-
lich; aber voraus geht xal, das einen frühen Ausfall erklärlich macht);
70,10 (xal). Andererseits ist mir an folgenden Stellen^ an weichen
der Herausgeber der Ueberlieferung folgt, die Notwendigkeit einer
Emendation teils wahrscheinlich, . teils gewiß: 11,12 iTcetdi] XCav av-
öftota Y) xal Tcdvtig (Stay^povta) icpög äXXijXa tOYX^voootv. 27,37 töv
£XXo>v alo^i^GSüdv xal 6|ioio|iepd^v Svtcov xal aTcXd^v, ok ippi)^, (olov)
oSaToc (inC) toö i^i^aXiiioö xal tf^c ^^^scug xal alpoc iid rjjc ixoijc • • •
49,35 el [iT^ TIC a&Töv zb aTÖ|ia iTctxXivst (ItcixXCvyj S IaixXCvsi Pa) xal
olovsl xüpTwost ^ xotXavet. 54,20 iTctYXcöTtCSog] yXc&tttjc; von der Be-
wegung der Zunge, nicht von der des Kehldeckels ist in dem folgen-
den mit ^Ap angeknüpften Satze die Rede; jeder Zweifel ist ausge-
schlossen durch Arist. p. 664 b 33. 54,27 ij rtg] ^ttc. 59, 14 f. X^yst Sft
xal T^jv |t6YdXTf]v yX^ßa irdvia ^xeiv xa Svai|ia (yavepöc)» Svia 8^ rfjv
aopdiv ayavÄc; vgl. Aristot. p. 668 a 3. 61,7 xb (überliefert tö ts)
StyofJ [ifev etvai. 62, 1 t) <'^) aiod'YjTtX'J] ^^X^' 8^» ^5 [xal] tot? «oolv.
84,23 4x8t)XöTepov] hi 87)XöTepov. 78,30 ist mir i|i6v6öÄat &7cö = »sich
wehren gegen« sehr verdächtig. Ist nicht aizb zu schreiben? Anders
als es vom Herausgeber geschehen ist, möchte ich emendieren 97, 30 ff.
Der Satz ta ^oyzol TcoXXd ßpdYXta . . . 5|ia t(p ISeX^etv toö SSotoc
^vi^Gxet bildet die Antithese zu dem vorangehenden (24 ff.) Ivia to^v
iXovTCöv ta ßpdYXta iXdttco . . . ISw 'coö oSaroc Sövavtai Ci^v icoXov XP^vov,
war also durch Sk mit ihm zu verknüpfen. Nachdem dieses 8h durch
Versehen einem [i^v gewichen war, wurde 33 ff. als Antithese diesem
Satze mit td 8k S^^vta ßpdyxt* iXCya . . . Jovatat l^co 9coXoy xP^vov Cijv
der wesentliche Inhalt von 24 ff. gegenübergestellt, doch so daß der
Satz in der Allgemeinheit seiner Behauptung (td 8k Ixovta ßpdfxta
äXC^a, also alle) sowohl jenem vorausgehenden Satze (24 ff. IviaxtX.)
wie auch Aristot. p. 696 b 20 widerspricht. Es ist also 30 herzustellen
td S' Sxovta und 33 — 35 td 8k — xata(|)&£8a>c zu tilgen. 34, 33 f. ist
878 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
Überliefert &<; iv arf^tin^ woTcepsi iott toöto, rg ts xapSio^ xai täte
tpke^L Hayduck tilgt ^aicepsC; mir scheint es richtiger, in Berück-
sichtigung der von Brinkmann, Rhein. Mus. 57 (1902) S. 481 ff. er-
örterten Schreibergewohnhei 0)^ durch a>a7i:6pel zu ersetzen'). 46, 18 f.
wäre auch möglich: ta ydp ooro) xivoo|ieva et [i'j] xtX. Vom Heraus-
geber abweichend zu interpungieren ist 7,24 (t^viq Sx^ftev), 56,15
(^6p(i.ÖT6pa Std), 57,32 (eticetv otcö), 63,22 (§isa7cap|iiva ve^ppoeiS*^).
37, 37 ff. waren die Worte 6 |t^v ^ap ... xb dep|i.öv rip 4>oxPV ^^ (frei
wiedergegebene) aristotelische Darlegung durch Anführungszeichen zu
kennzeichnen (Inhalt des iTud^et, vgl. 5,31; 39,4; 148,2 und unten
S. 892). 47, 5 war zu interpungieren xal 8td xi oxXYjpöv, Xi^et ott ;
ebenso 61,20 xal nob cd TOtao'cai fXdßec t^iavtat, X^et ort, über die
Konstruktion s. u. S. 892 ^).
1) Ein sicheres Beispiel für diese Gewohnheit bietet P Part. 94,38S^
2) Eine vom Heransgeber nicht genannte TextesqneUe, die immerhin einer
Erwähnung wert ist, bildet der Kommentar des Nicolans Leonicns Thomaeos znm
ersten Bache von Aristot. de part. anim. Derselbe wurde 1540 von dessen
NeflFen Magnus Leonicus veröffentlicht. Seit dem Tode des Verfassers war aber
damals nach der Vorrede des Herausgebers schon längere Zeit verstrichen. Der
Kommentar des Thom. ist also um eine Keihe von Jahren älter, als die 1548 durch
Petrus Victorius veranstaltete editio princeps des Michael. Für Thom. bildet nun
M. eine HauptqueUe. Er wird mehrmals als Ephesius ausdrücklich zitiert, so p. 163.
165. 168. 183. 184. 188. 189. 190. 191 (»virum hunc optime de philosophia meritumc).
193. 225. 237. An einigen Stellen äußert Th. gegenüber der Interpretation des
M. Widerspruch oder Zweifel. So bekämpft er p. 189. 191 sehr mit Recht die
Ansicht, daß Arist. p. 642 a 35 ff. auf die platonische Darstellung des Atmungs-
prozesses gehe (Mich. p. 9, 4 ff.), indem er hervorhebt, daß Piatons Lehre über
diesen Punkt eine ganz andere sei. P. 237 äußert er Bedenken gegen die Mich,
p. 17, 25 ff. vorgetragene Deutung von Arist. Metaph. p. 1038 a 19. Weit zahl-
reicher aber sind die Stellen, an denen er sich an M., und zwar oft längere
Strecken hindurch, so anschließt, daß sein Text einer üebersetzung des M. ziem-
lich gleichkommt und ein Urteil über die Hs. (oder Hss.?) des Byzantiners ge-
stattet, deren er sich bediente. Dieselbe stimmte teils zu S teils zu Pa. Man
vergleiche : M. 7, 23 tojttjv 5£, ?pT)a{, ttjv ^px^^v xal ahiay . . . l^ofACv S Taura xtX.
Pa hoc autem principium ingerit et hanc causam . . . nos habere T. 173 — M.
8,36 &(5Tt S, das in Pa fehlt, quam ob rem T. 188 — M. 10,2 -(iyo^t^ S Y^verai
Pa inventam fuisse T. 198 — M. 14, 6 f. 86o U S xal 86o Pa et duo T. 216 —
M. 14,22 \jTz6norjs xal dfirouv S dcTrouv xal {>ir«^7rouv Pa pedatum et impedatum T. 220
— M. 18, 12 8^ov U hzis S 8^ov U laxw Pa opus autem est T. 236 — M. 18, 15 f.
xe(aOu) li Zxt xal t6 S^ttouv xeXeuta^a hzX xal iT/iavri Sia^opd xal eCc dfXXac Staipcl-
a&ai fi.7) SuvafiivT) S, für TeXeutafa geben Pa TcXeutatov; ponatur igitur bipes pro
ultima et individua sicut est differentia quae in alias secari non potest — M. 18, 15
äpa fehlt Pa (in P am Rande nachgetragen), igitur T. 236 — M. 19, 9 xol t6 5{-ouv
fehlt Pa et bipes T. 239 — M. 20,21 Sia'^popa cp6a« vevJfAtafrai Pa SicE^opoi ^uactc
vo|jL{CovTO(t S natura ipsa sunt separata T. 244 — M. 23, 13 nepl t^c ^tjc p-op^f^c
Pa Ticpl TTjc Tou 5Xou fAopcp^c S de universa forma T. 258 — M. 23, 14 Cv xe toCc
Comraentaria in Aristotelem graeca XXn2 879
Mit dem vorliegenden Bande sind die in das akademische Korpus
aufzunehmenden Schriften des Michael abgeschlossen, und es ist jetzt,
da alles in wohlbearbeiteten Texten vorliegt und Indices sprach-
liche und sachliche Vergleichungen erleichtern ^), an der Zeit zu ver^
suchen über die gesamte Hinterlassenschaft des Mannes, die erhal-
tene und die verlorene, einen Uebeyblick zu gewinnen. Parv. 149,8flF.
zählt M. selbst eine Reihe von ihm verfaßter Kommentare zu aristo-
telischen Werken auf und stellt eine Erklärung von Ilepl xp«opt'^'^«ov
für die Zukunft in Aussicht. Wendland, der praef. p. V die Stelle
bespricht, hat wahrscheinlich gemacht, daß diese Aufzählung, soweit
sie die Kommentare zu zoologischen und anthropologischen Schriften
xaxd T^x'^Tjv xal h xotc (puotxoTc Pa ; für h toIc (puotxolc schreibt S xaxd ^uaiv ; non
magis in arte constantibas quam in natoralibus rebus T. 258 — M. 10, 20 f. 26
wird die Lesung von S (s. o. S. 876) durch T. 200 bestätigt — Von Interesse ist
T. 244 .verglichen mit M. 20, 22 f. Hayduck tilgt hier 6 (Jpvtc xal 6 ix^J«- Neben
dem grammatischen Bedenken kommt in Betracht, daß in dem Passus sonst nur
von der gleichen Benennung entsprechender Körperteile, nicht der Lebewesen
selbst die Rede ist. Dem Satze x^va ydp xotvwvfav ^uaecuc xal TauTÖxr^xa Exet Stiele
xal Tcrepov t) ^pdyyiioy xal itvc6|jl(uv, tuaxe uic f^^a xi; ^6aic \ofl(jt(S%ai [6 ^pvu xal ir
^X^uc] xal Old xouxo xal xotvtp 6\6[iaxt Trpo; xj xauxdxT]xi xrjc ^uaetuc irpoaaYopeueadai;
entspricht bei T. innerhalb eines längeren aus M. übersetzten Abschnittes Folgen-
des: quamnam enim naturae communionem convenientiamve alae habent cum
squammis aut branchiae cum pulmonibus, ut una quaedam illarum partium natura
tnerüo esse censeatur avtstiue et piscis eiusdem dicantur esse naturae, quamobrem
communi quodam nomine haec adeo distincta inter se genera recte appellari non
poterunt. Leider ist durch die von T. vorgenommene Umgestaltung der genaue
Wortlaut seiner Vorlage nicht mehr erkennbar. Aber das steht fest, daß er als
Subjekt von wc |ji{a xt; 9601; ).ofiZt<3%ai die vorher genannten Körperteile, nicht
Vogel und Fisch verstand. Wo er 6 ^pvi; xol 6 ix^\)z las, ist nicht klar zu er-
kennen. Nicht ausgeschlossen wäre durch seine Uebersetzung xal Std xouxo xal 6
opvtc xal 6 iyßb^ xotv<ji iWjiiaxi Trpoc x^ xaux((x7)xt x^c ^(xstrnz icpoaaYopc6codai. Da-
mit würde sich 6 opvtc xal 6 ix'^jz als Interpolation verraten, die aus einer Rand-
bemerkung entstanden in verschiedenen Ueberliefcrungszweigen an verschiedenen
Stellen sich in den Text einschlich. — M. 22,8 wird durch T. 249 cum totius
corporis tum membrorum partiumque Hayducks Konjektur ^ou xoü atupLaxoc be-
stätigt. Natürlich bleibt die Möglichkeit, daß der Uebersetzer gebessert hat.
1) Dem Wortindex des vorliegenden Bandes hätte ich etwas engere Fühlung
mit den Indices zu den anderen michaelischen Schriften, besonders mit dem Wend-
lands zu Parv. gewünscht. Die sprachliche Uebereinstimmung würde so schärfer
hervortreten. Jetzt fehlt bei Hayduck manches, was Wendland berücksichtigt hat
und was sich aus Part., Mot. oder Inc. gleichfalls belegen ließ. Ich gebe nur
einige Nachträge, die sich mir gelegentlich darboten: d{i(pope6c 43,6 (in gleicher
Verbindung wie Parv. 110,4); Sv c. opt. 165, 23 f.; iizayfuXtiy 55,10; 145,27;
151,19, vgl. die Indices zu Parv. As. und die dort verzeichneten Verbindungen
(doacpü); Part. 55,10; ^t7cu>c ebenda). Das in seiner oftmaligen Verwendung für
M. charakteristische indytis fehlt, ebenso aacpij hk xd i^c (Xoiica'). Andere Lieb-
lingsausdrücke, die im Index vollständiger zu berücksichtigen waren, s. oben im
880 Gdtt. gel. Asa. 1906. Nr. 11
betrifit, chronologisch geordnet ist^). Hinzufügen ließe sich, daß
Part, und Inc. zusammen herausgegeben zu sein scheinen. So erklärt
sich neben der Form der Anführung, IIspl Ccpoiv {lopCcov xal «opeCoc
am besten auch die Tatsache, daß Part. 92, 34 ff. mit den Worten tt
Si T& Soo> xal H(ü xal iceptf epdc» BXptizal (jloi Iv täte eU 'cb IIcpl Ctp^v
icoptlac cxoXaic Inc. 135, 24 ff. zitiert wird, während es umgekehrt
Inc. 151, 17 f. heißt: Sta xb elpTjx^ai taöta xal iv rQ Ilepi C«p»v
|iopC<ov xal i^(iitc iv täte Ixelvcov cs^oXatc Ixavö^c ^epl to&tcov elpipUvat^.
Auch daß Mot. 112,18 Ilepl C(t><i»v (topicov und Ilspl C<f><ov iröpetac, bez.
die Kommentare zu den beiden Schriften verwechselt werden, wird
durch diese Annahme leicht verständlich. Ein weiteres Werk wird
Pg. 88, 7 ff. angeführt mit den Worten : efpTjtat Sk icspl vob iipo^ Sitok
8ia3Copd>(i.66st ta y(jp&\iata a6t6c ^"il XP«ow&|tevog, ixptßfi&c i^(Ltv h t^
SsDtipc^ Xd^cp Ilspl <|)oxi2c. Mit der Vorbereitung dieser Schrift bringt
Wendland a. a. O. p. VI Anm. 1 a. £. die Parv. 85, 10 erwähnten Ge-
spräche wohl mit Recht in Verbindung. Pg. ist nun vor Parv. abge-
faßt und in der oben erwähnten Aufzählung genannt. Also muß auch
der >866t8poc Xöyoc icspl <|)ox>2<;« zur Zeit, als jene Aufzählung nieder-
geschrieben wurde, bereits vorhanden gewesen sein. Dafl sie nicht
genannt wurde, ließe sich durch die Annahme erklären, daß sie sidi
nicht als Kommentar zu Arist. ic. ^oy(ifi% sondern als selbständiges
Text S. 885 ff. Für nicht sehr häufige V^endongen, wie xotra xd^Orrov (auch 8S,16X
icaptYxX(vt(v (auch 150,88), ^pxT)ati^c (auch 116,4) wäre ToUständiges SteUenyer-
zeichnifl wünschenswert. Ai((c> das hier wie in anderen Schriften als O^fensats
zn Siflcvota h&ofig ist, fehlt S. 182 (den Gegensatz zeigen einige der s. y. Scivoca
gesammelten SteUen, wie 120,14; 128,81; 145,20). Unter TcXi^pTjc yerdiente der
z. 6. 52,28; 136,14; 148,4 heryortretende Gebrauch Berückdchtigiing, vgl. Parr.
Pg. As. Ebenso ist die Verwendung von t^cuc 44,22; 107,16; 6,28; 57, 1.2 (an
den letzten SteUen = saltem) bemerkenswert. S. 192 ist zu de part. anim. nach-
zutragen 170,29.81, S. 193 zu den Corrig. p. 153,86 irc^vric.
1) Ein weiteres Zeugnis enth< Inc. 142, 1 f., wo Mot als zukünftig er-
scheint — Da8 As. später verfaßt wurde als Parv., was sclion durch das Fehlen
▼on As. in der Liste in Parv. wahrscheinlich ist, wird dadurch bestätigt, daß As.
186, 6 ff. ein in die Erklärung von Ilepl (xvi^fArjC xocl dvafjiv/^aecuc gehöriges Beispiel
(Pary. 82, 2 ff.) verwendet.
2) Einen zweiten Weg der Erklärung eröffnet die Tatsache, daß diese
Kommentare wahrscheinlich aus mündlicher Lehrtätigkeit hervorgegangen, bei
solchen Schriften aber Anführungen der der Herausgabe nach späteren durch die
früheren gäng und gäbe sind.
8) Womit natürlich engster Anschluß an Aristoteles nicht ausgeschlossen
ist. Die Richtung des M. bringt es mit sich, daß auch seine freien Arbeiten im
wesentlichen eine erklärende Darstellung der aristotelischen Lehre gewesen sein
werden. Die Grenzlinie zwischen Originalarbeit und Kommentar wird dadurch,
wenigstens was den Inhalt, nicht die Form, angeht, mehr oder weniger verwischt.
Die Kollegien, auch soweit sie nicht als Exegetika auftraten, gingen wohl anter
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 881
Werk gab. Auf diese Schrift wird sich auch die Verweisung Pg.
84, 28 ff. beziehen, wonach M. über den ^öpadev voö^ >iv SAXoig &xpt-
ß^oTspovc gehandelt hatte ^). Des weiteren sind zu der Aufzählung in
Parv. noch hinzuzufügen der Kommentar zu Eth. Nie. V (Comm. in Ar.
Gr. XXII 3), IX. X (Comm. in Ar. Gr. XX p. 461 ff.) und der hier (in
eth. Nie. IX p. 467, 5) erwähnte zii den aof tat. SXe^xot, der letztere,
wie wir sehen werden, identisch mit As. Außer den aof . SX. hat M.
noch weitere Stücke des Organon erklärt: die 'AvaXot. icpöt. nach
As. 58,26; 10,9 (vgl 1,3 f.; 194,10 iv t<p Ilepl ivaX6oea)c ooXXotujjiäv
|i.6(Ladi^xa|i8v; dazu Comm. in Arist. IUI p. XYIU), die 'AvaX. Sct.
nach As. 1,4 f., Eth. V p. 9,31, Am. 475,20; 789,35, vgl. Am. 585,15
a>c ^v Totc Totdpoic 'AvaX. &|i.ddo(i.6V '), die Topik nach As. 4, 27 f.;
den seit Aristoteles hergebrachten Namen für die einzelnen Dissiplinen. Dasselbe
Kolleg, die gleiche literarische Arbeit konnte, sobald man anf die Form kein Ge-
wicht legte, bald mehr unter den Gesichtspunkt einer Behandlung der betre£fen-
den Disziplin, bald mehr unter den einer Kommentierung der betreffenden aristo«
telischen Schrift gerückt werden. Lehrreich ist in dieser Beziehung As. 109, 16 f.
%a\ ToüTo 48e{Jafi.tv h x^ AtaXixTixj iv -nj) 6yh6i^ täv ToitixÄv. Es 'w&re der Gipfel
verschrobener Ausdrucksweise, die sonst nicht zu Michaels Schwächen gehört,
wenn hier in einem und demselben Zitate bei Bezeichnung des aristotelischen
Gesamtwerkes und eines einzebien Buches aus demselben yerschiedene Namen f&r
dieses Werk angewendet wären. AiaXtxxixi^ geht vielmehr auf die Behandlung
dieser Disziplin durch M., und die Stelle ist zu übersetzen: »auch das haben wir
in der Schrift (im Kolleg) über die Dialektik bei Interpretation des achten Buches
der (aristotelischen) Topik gezeigt.« Gleichwohl ist diese Dialektik die n&mliche
Schrift, die As. 4, 27 f. als Kommentar zur aristotelischen Dialektik zitiert wird.
— Beiläufig mache ich auf das merkwürdige Nebeneinander aristotelischer Schriften
und wissenschaftlicher Disziplinen aufmerksam, das in dem von M. Treu, Byz.
Zeitschr. 2 (1898) S. 96ff. veröffentlichten byzantinischen Schulgespräch vorliegt.
Nach Aufzählung der Bestandteile des Organon heiit es hier S. 99 : T( (jirrcc x6
'OpYovov Sei dvoYtvuioxciv ; <I>uatxgt* (ud* ä t6 IIcpl oOpavoü, xd MtxiiopOf td Mrcd xd
^uoixdf, Td Iltpl CH><ttv fiiop{(ttv, xd Iltpl ycv^octoc xal ^^pSc, xd Ilcpl Ccpo» icopc(«c,
TO Ilepl ato^i^oeuic xal a^adi^tiöv, x6 IIcpl ^u^^c xal $oa dXXa toü 'ApcatoxiXouc * xi^v
'p7)Toptxi]v aOroü, xdc lloXixt^a; (Verwechslung mit den uoXtxixo^; ebenso Mich, in
Eth. Nie. X p. 611,12 u. ö.), xd O^xovofxtxe^, xd 'H&txcE. clxa dptd(jirjxtxyjv, yccufaxp^av»
fxouatx^v xal xd dTroxeXeafiaxixd f^xoi x^v doxpovofifav. k&ii xd xoü IlXdxwvoc xxX.
1) Möglicherweise in Anlehnung an Philop. ic. ^x^^ (^S^* den Index zu
diesem s. v. voüc). Daß M. dieses Werk gekannt hat, ergibt auch eine Yergleichung
von Eth. IX 606, 4 ff.; X 634, 15 ff.;; 638, 27 ff. mit Phüop. de anima 271, 3 ff.
Die Erklärung des Philoponos ist hier von M. in Aristoteles selbst hineingetragen.
Zu diesem Verfahren vgl. Nauck, Trag. Graec. firagm., adesp. 188. S. auch Pg.
88, 7 ff. und dazu Hayduck a. o. und Praef. p. lY, sowie Philop. p. 394, 14 ff.
2) Soweit ich beobachten konnte, zitiert M. mit c&c iv . . . (UfMtdi^xafMv (if^d-
^ofAtv) seine eigene Exegese der betreffenden aristotelischen Schrift, und zwar
treffen diese Zitate meistens auf Exegesen, die auch schriftlich abgefaßt waren.
Anders scheint sich die Sache Pg. 110,21 («b« ht xiji xcxdpx^ t«^v Mmcbp«iv (AtfAa-
^xafuv) zu verhalten, da ein schriftlicher Kommentar zu diesem aristot Werke
882 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
109, 16 f. Dazu kommen endlich noch Kommentare zur Rhetorik (As.
98,12, Anecd. Hieros. No. 17) und zur Physik (As. 163,14; 178,7,
vgl. Am. 516,23. Auf die Exegese der Topik und Rhetorik spielt
möglicherweise an Parv. 29, 7 f.), sowie ein solcher zu FIspl o6pavoö
nach Am. 703, 1 ff. Kein Kommentar sondern ein Originalwerk des
M. war die Mot. 116, 10 f. 13; 117, 16 f. (vgl. auch 114,24) erwähnte
Abhandlung Ilepl 6p|tf)c (te >cal t^g öpitYjttx^g 8ovd|i.e(üc). Freilich
stutzt M. sich auch hier wesentlich auf Aristoteles (vgl. 114, 24 f. und
die Mitteilungen aus jener Schrift 114, 27 ff.; s. z. B. zu 115, 2 f.
Arist. p. 437a 2.6 zu 115,10ff. Arist p. 701b20ff. 28, zu 115,15ff.
Arist. p. 701 b 25 ff. , zu 115,23 Arist. p. 701b 33 f.); immerhin ist
auch anderes beigemischt (zu 114,31 i^Y6|tovtxöv vgl. Parv. 3,8; veo-
pooicaottxöv 115,6 ist Aristoteles fremd; in entsprechendem Sinne
braucht Mark Aurel veopooTcaoteiv und veopooicaatia [s. d. Indices zu
Mark Aurel s.v.] zu 114, 30 f. üicYjpeTixTij — f^7S|tovtxöv vgl. Theod.
Metoch. Mise. p. 599. 600. 601 Müller-Kiessl.), und für die Einreihung
des Verfassers in den philosophiegeschichtlichen Zusammenhang wird
man die Stelle im Auge behalten müssen.
Ich habe bisher vorausgesetzt, daß Pg., Am. und As., drei
Schriften, von denen die erste anonym auf uns gekommen ist, die
zweite und dritte von einem Teile der Ueberlieferung Alexander,
von einem andern M. zugeschrieben werden, unserem Kommentator
gehören, und muß nun den Beweis nachholen. Hinsichtlich der ge-
wichtigen Argumente, die von anderen bereits vorgebracht worden
sind, genügt es auf Val. Rose, De Aristot. libr. ord. et auct. p. 147 ff.
und die Vorreden von Hayduck zu Pg. (p. UI f.) und Wendland zu
Parv. (p. VI Anm. 1) zu verweisen ^). Für die Identität der Verfasser
sonst nicht erwähnt wird. Dieses Zitat geht also wohl auf ein exegetisches KoUeg.
Vgl. auch Freudenthal, Hermes 16 (1881) S. 217 Anm. 1. Eine Untersuchung der
Technik der antiken Exegese, die Wendland GGA 1906 S. 369 sehr mit Recht
verlangt, wird auch auf solchen Wortgebrauch achten müssen. (Geht Pg. 7,8
lafAcv ix T. IT. Chmov toTopfac auf den jetzt verlorenen Kommentar?)
1) Einer Widerlegung bedürfen noch die Gründe, mit welchen Freudenthal,
Abb. d. Berl. Ak. 1884 S. 53 ff., für Am. die Annahme der Autorschaft des Büchael
bekämpft. Nach Freudenthal sind wir zunächst nicht berechtigt, M., >diesen un-
klaren, aber für seine Zeit sehr gelehrten und um die Erklärung der aristoteli-
schen Schriften eifrig bemühten Mann für einen Betrüger zu haltenc, als welchen
sich Ps.- Alexander verrate. Allein da wir von M.s Person nichts Näheres
wissen, fäUt dieses Argument dahin, ganz abgesehen davon, da£ die Frage, ob
ein Betrug vorliegt (die SteUe 661,3 Bonitz, auf die Fr. Gewicht legt, ist von
ihm falsch gedeutet; Ps.-Alex. zitiert nicht die im Vorausgehenden ausge-
schriebene Abhandlung des Alexander als seine eigene Schrift, sondern er ver«
weist nur auf das vorher Gesagte) und, wenn dies der FaU ist, wer dafür verant-
wortlich zu machen ist, ob Ps. • Alexander oder eine spätere Hand, die die
Commentaria in Aristotelem graeca XXn2 883
spricht vor allem die Uebereiustimmung in der Sprache, insbesondere
einer großen Reihe häufig wiederkehrender Redewendungen, eine
Uebereinstimmung, die so weit geht, daß der Gedanke an Zufall oder
Nachahmung ausgeschlossen ist. Für Am. erhebt sich hier allerdings
ein Einwand. Er ist weit weniger reich an Abweichungen von der
klassischen Grammatik, als die unter M.s Namen gehenden Schriften.
Hayducks Index zu Comm. in Arist. Gr. I läßt freilich für solche
beiden heterogenen Kommentarteile zusammenschweißte, erneuter Prüfung bedarf.
Schwerer scheint das zweite Argument zu wiegen. Ps.- Alexander, meint Freuden-
thal, ist nicht Christ, sondern Anhänger des griechischen Götterglaubens. Aber
die hierfür ins Feld geführten Stellen beweisen das keineswegs. An aUen bis auf
die zwei gleich zu nennenden spricht Ps. -AI. im Sinne des Aristoteles. Auf
dessen Rechnung wiU er die vorgetragenen Anschauungen gesetzt wissen. 800,12
Bonitz mußte das <paa{v der stringenten Form des Syllogismus zuUebe faUen,
685, 18 f. 26 f. Bon. wird nicht, wie Fr. will, der »Anthropomorphismus der grie-
chischen Religion und der Zoomorphismus des ägyptischen Tierdienstes verteidigt«,
sondern es werden die religiösen Institutionen der Griechen und Aegypter als
Wirkungen der Staatsraison in einer Weise dargestellt, die sich mit dem christ-
lichen Bekenntnis des Verfassers vorzüglich verträgt. Uebrigens unterstützen die
anderen Kommentare des M. in diesem Punkte die Zuteilung von Am. an M. sehr
wesentlich. Direkte Beziehungen auf Christliches sind ganz vereinzelt (s. n.
S. 902), und nur selten sucht M. die aristotelische Lehre in christlichem Sinne zu
nuancieren oder umzudeuten (s. auch unten S. 896 Anm). So ist er Pg. 64, 3 ff.
mit dem aristotelischen xal xauta irofvra euX<$7(u; Vj cpuaic 67)(jLioupYeT nicht recht zu-
frieden und bemerkt 6 ff. auvrj^c hi aut^ji ttjv Toia6TT)v d^xfy^» '^^^ iroXurfjjiijTov
V 0 0 V , 9uaiv xaXeTv. aa^wc ouv xal 6ii toutwv Sefxvurat ir p 6 v o i a v ^fAoXoycov . . .
cuXo'Ytuc ouv, ;p7]a{v, 6 ^eoc xal i^ ^uai; raOxa IS7)fiio6pYTjOev (6 %t6Q xal i^ 9601c ver-
bindet übrigens auch Aristot. p. 271 a 33). Dagegen sagt er selbst Pg. 157, 21
«piXoTijxeTxai . . . f^ «puaic iti xi daufxaoxöv ttoicIv und in ähnlicher Weise bewegt er sich
auch sonst in aristotelischer oder allgemein antiker Anschaungsweise auch über das
von dem jeweiligen Lemma erforderte Maß hinaus. Die Gestirne sind ihm ^Ta
ocufjiaxa Mot. 109,23; 110,4, As. 50,4. An letzterer SteUe werden sie überdies im
Widerspruch mit dem Christentum als ungeworden bezeichnet. Der rpAxoc %t6^
erscheint wie an der von Freudenthal angeführten Stelle Am. 683, 8 (707, 35 Hayd.)
auch Mot. 104,17. Eth. 1X473,25 wird das aristot. (1166 a 24) ...xtji)]v U 70-
vcOsi xaOaTiep OeoT; gestützt durch den antiker Anschauung entsprechenden (vgl.
meinen »Hieroklesc S. 45 ff. 153) Satz 0«oc yap i^ifAüiv xal & Ttaxi^p ioxi. Alle der-
artigen Anbequemungen an aristot. Denkweise haben zunächst nui: hypothetischen
Charakter. Sie gelten solange man sich in der aristotelischen Atmosphäre bewegt,
wie es die Exegese aristot. Schriften mit sich bringt. Aber dieser hypothetische
Charakter konnte verblassen und mehr oder weniger aus dem Bewußtsein ent-
schwinden. Es darf nicht vergessen werden, daß wir uns in der Zeit der be-
ginnenden byzantinischen Renaissance befinden, die mit der abendländischen neben
anderen Zügen auch den gemein hat, daß man sich, ohne dem Christentum abzu-
sagen, doch in sehr weitem Maße antike Anschauungen aneignete. Die Befreiung
der Philosophie von kirchlichen Rücksichten und die Fehde zwischen Philosophie
und Kirche zur Zeit des Johannes Italos stehen damit in Wechselwirkung.
884 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 11
Fragen im Stiche. Doch haben mir größere Partien umfassende
Stichproben das Ergebnis geliefert, daß Dinge wie el c. coni., orav
c. ind., nomin. für genet, absol. u. dgl. hier verhältnismäßig selten
sind. Das erklärt sich aber sehr einfach daraus, daß dieser Kommen-
tar bestimmt wurde, die Fortsetzung zu dem des Alexander zu
bilden. Sollte hier nicht ein selbst für den Ungeübten sofort bemerk-
barer Riß klaffen, so mußte eine wenigstens oberflächliche sprach-
liche Reinigung dieser Partie stattfinden. Immerhin ist dabei genug
stehen geblieben, um zu zeigen, daß es sich eben um eine solche
nachträgliche Säuberung handelt. Für el c. coni. vgl. z. 6. 451, 14 f.;
454,37; 643,23; 669,22; 711,34; 829,17f., für 8tav c.ind. 676, 26 f.—
483,18 steht (in A) $v c. coni. als Potentialis (s. o. S. 873), ebenso
486, 22 f.; 710,25 oU äv yaveiev, 508,35 6icoiov äv eiij, 833,17 xäv ...
7 iv7]tai . . . , Gt]|i8iov £v '^v als irreale Periode, und 703, 4 ff. versetzt uns
die Konstruktion ... (Jistd ^coXXf^c ^X privat ti^c lictiuXsCac, oxeS&v xal
T& ... Ixetoe iitiffioA^By Ol vollständig in die sprachliche Atmo-
sphäre unseres Byzantiners. Uebrigens weisen audi die unter M.S
Namen einheitlich überlieferten Schriften unter einander sprachliche
Unterschiede auf. M. hat sich wohl im Laufe der Zeit gewöhnt, das
Konzept seiner Vorlesungen vor der Herausgabe einer strengeren
Durchsicht zu unterwerfen und an seine sprachliche Darstellung
höhere Anforderungen zu stellen. So ist er z. B. der ermüdenden
stereotypen Wendungen wie oa^f) 8h xä Iffjg, td Sk Iffjc Si^ka u. s. w.»
mit denen er in den frühesten Kommentaren über die einer Erklä-
rung nicht bedürftigen Textespartien hinwegzugehen pflegt (vgl. z. B.
Part. 22,17; 24,17; 50,10; 68,16; 69,1; 70,28; 71,20.35; 83,6;
Wendland, Index zu Parv. s. v. I£f)c), gelegentlich selbst überdrüssig
geworden, was ihn freilich nicht hindert, sich ihrer später doch wieder
zu bedienen. Part. 90, 19 ff. merkt er an, er werde die Formeln nicht
mehr anwenden, sondern das ohne weiteres . Verständliche still-
schweigend übergehen '). la^f} Sk zä ISf]g erscheint dann aber wieder
am Ende des Kommentars 99, 18 und ist in Inc. nicht selten (135,21;
137,31f.; 151,lf.; 152,16; 157,21; 158,29; 169,33f.); auch Met.
(119, 10 f.; 127,16, vgl. 112,8) hat es. Die gleiche Anmerkung wie
Part. 90, 19 ff. bringt Pg. 2, 12 ff. (für die icapoöoa TcpaYiiateCa), aber
in Pai*v. ist die Formel schon wieder häufig (s. Wendlands Index
s. V. I£^c» ^7s£^c; 56,5). Aehnliches findet sich auch noch später,
vgl. As. 142,12; 186,24; 195,6 (td Sk ggf^c oa^^dc xatoXi^et — Mot
1) Auf diese Deutung, in der ich Haydack (Praef. zu Pg. p. DI) folge,
führt die ParaUele Pg. 2, 12 ff. An sich betrachtet könnte die Stelle auch den
entgegengesetzten Sinn haben und das Verfahren für die Zakonft in Aussicht
stellen.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII^ 885
112,8 oatpäc Sk ta l^f^c xatoXiifsi), Eth. V13,29. Im ganzen ist die
Schreibart in Part. Mot. Inc. besonders salopp. Die Art wie oft
mehrere Sätze unmittelbar hintereinander oder doch in allernächster
Nachbarschaft mit X^et 8^ xal oder X^et 8^ eingeleitet werden,
macht den Eindruck geradezu kindlicher Ungelenkheit ; s. z. B. Part.
59,22.25.31; 63,31.34; 64,24.33; 65, 15.21.24 (32 xataX^et 8^ xal);
69,25.34.37; 91,9.22.26.34.37; 92,6.7.23.25; 93,7.9.15.28;
94,11.30; 95,13.21. — 45,32; 46,5 und 46,28 beginnen drei Ab-
schnitte nach einander mit {teta z%bxa X^ei, Mot. 103, 18 ff. ist eita
in 9 Zeilen 8 mal verwendet. Demgegenüber erscheint der Stil der
späteren Kommentare reifer und gewandter. Ich muß mich freilich
auch hier auf den bei der Lektüre empfaügenen allgemeinen Ein-
druck und auf Stichproben verlassen, die der Ergänzung durch eine
umfassendere Untersuchung bedürfen.
Ich stelle im folgenden eine Reihe übereinstimmender sprach-
licher Erscheinungen zusammen, durch die Pg. Am. As. mit den
widerspruchslos als michaelisch überlieferten Schriften verbunden
werden. Finden sich manche der hier zu verzeichnenden Wendungen
auch bei anderen Autoren^) da und dort vor, so wird doch die ge-
samte Liste einen und denselben durch die sämtlichen genannten
Kommentare vertretenen Schriftsteller mit Sicherheit hervortreten
lassen.
la^i^veia im Sinne von Erklärung^) findet sich in zwei Anwen-
dungsformen häufig: es wird gesagt, daß itpö ti}c t«dv Xe^oiiivo^v
(X^4ea>v, ^YjTCdv) oa^veCac etwas zu bemerken sei (Eth. V30,12, vgl.
Parv. 60,11, Pg. 25,16; 58,3; 154,32, As. 164,12, Am. 466, 37; 502,34;
539, 7 ; 589, 9 ; 834, 15), oder es werden Vorbemerkungen und allgemeine
Erörterungen mit dem Satze hcl 8k ry]v tä>v X870|iiv«>v (Xö^ecov) oa^veiav
l(0|jL6v (Itiovy 6p{iif)tiov 0. ä.) abgeschlossen (Mot. 104,3, Parv. 6,5, Pg.
2, 17 ; 26, 1 ; 67, 10 ; Am. 467, 13 ; 602, 20). — Die Exegese wird von M.
mit Vorliebe nach 8idvoia und X6(ic geteilt in Wendungen, die in allen
Kommentaren mehr oder weniger wörtlich genau wiederkehren : s. die
Indices s.v. 8idvoux, Eth. 1X468,26; 469,22, für Am. auch 650,28;
671,17; 728,23; 736,9; 805,19; 829,33; insbesondere vgl. Parv.
45, 14 1^ |iiv oov tä>v Xe^oiiivcov 8idvoia aStii], ta dk xata d)v X6£iv &Si
ttcoc ^x^t, Pg. 47, 13 f. xal i^ (liv twv Xe^oiiivoiv 8tdvota a5t7], tA Sk tfjc
XigesDC <i>8^ ng iyjiiy As. 126, 5 f. i^ |tiv o&v Sidvoia ... xotabtti '^^ ^^
1) Verhältnismäftig yiel findet sich bei Philoponos wieder. Eine nähere
Untersuchung des Verhältnisses von M. zn diesem Konunentator wäre auch wegen
der sachUchen Beziehungen angezeigt
2) So z. B. aach David proL philos. p. 28,22; 44,6, Prod, in EucL p.
238,26; 418,19.
GMt. gtl. Abs. 1906. Hr. 11 62
886 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 10
efij, ta 8k xata rjjv Uiiv wSs av S/^i (vgl. 48,14), Am. 728,23 ij
[kkv oov o6|JL9ca<3a Sidvoia tdiv Xe^oiiiviov aott], td Sk xata rijv >i£ty «»tt
irg ^Bu Ferner Parv. 142,13 ttvfec 8e twv x^P^s^^^P^^^v t^c P'iv 8ta-
voCac l^dTctovtai oicopdcSijv, to5 8k ri]v Xi^tv xaOiatdvetv 9cöppa> icoi airo-
9cXavä>vtai, Pg. 93,11 piqzioy 8k 9cpc»tov [tfev rJjv töv Xe^ofL^vcov Scdvoucv,
81^' ooTO) rijv X^Siv xaTaotfJoai icetpatdov, Am. 499,31 xod ;^ (l^ töv
Xe^ofidvcov Stdvoia aStYj äv 6tTf], xataonjaatc ^ äv rJjv Xdjiv &8b (As.
59,10 Set o5v xataoTfJoat rJiv XdStv). Die Erklärung wird eingeleitet
mit TÖ Si X6YÖ(i6vov totoötöv lotiv o. ä.: Part. 41,32; 48,31; 54,36;
66,12; 84,2, Inc. 149,7; 155,34, Parv. s. Wendl. Ind. s.v. Xd^stv,
As. 87,12; 99,4; 129,28; 186,15, Am. 446,17; 684,8; 769,28;
772,16; 776,31} 801,32, oder 8 Xd^et totoötöv iott o. ä. Mot. 121,23,
Eth. X607,27, As. 26,30; 80,33; 175,8, Am. 446,30; 483,9; 676,8;
696,9; 737,3; 776,9, tö XeYÖ|isv(Jv iottv (2tt) o. ä. Mot 110,13;
126,28; 127,25, Inc. 152,13, Parv. s. Index s. v. X^etv, Am. 683,27,
häufig auch tö Xe^öfi. (8 Xi^et) 8ovd(i6t totoötdv iattv, lott Ss ti Xs^ö-
|jL6vov 8ovd(i6t 0. ä. Parv. s. Index s. y. Xd^stv, Eth. X610,3, Pg. und
As. s. Index s. v. 86va(itc, Am. 637,24; 669,27; 830,29. — 8ovd|ut
X^Ycov Mot. 119,5, Parv. und Pg. s. Index s. v. Sovajjitc, Eth. X 579, 22,
As. s. Ind. s. V. 8ov4|iet, Am. 506,21; 559,4; 575,29; 590,5; 673,7;
674,2; 709,39; 740,38^). — tö >. ..< (tö XsYÖjtsvov) ibov iod t^
u.a. Part. 54,37; 55,14; 63,1; 66,9, Mot. 107,5; 110,16.20; 114,3;
119,12; 122,18; 137,18; 145,21, Parv. s. Ind. s.v. Iboc, Pg. 61,26;
91,22; 98,15; 104,20; 105,31, As. 66,9; 87,21; 95,9; 137,12;
140,8; 175,30; 183,7.9; 193,16.24, Am. 673,21; 675,35; 683,32;
688,29 (feov U^m tcp); 701,31 (Toov Xd^wv t^; ebenso 713,39);
702,3; 835,11. — ...taäteJv iott t^ Mot. 126,2, Inc. 157,26, Parv.
s. Ind. s. V. aätdc, Pg. 4,10; 84,33; 103,7. — Beliebt ist die Wen-
dung tö . . . 8if)Xo>ttxdv iatt too, s. d. Indices, besonders bemerkenswert
die Uebereinstimmung in eingeschobenem oder nachgetragenem too-
too (tootcov) Ydp Joti 8if]Xo)ttxöv ((iTfjvotixöv) tö . . . o. ä. : Part. 63, 24,
Mot. 108,9; 109,27, Parv. 17,18; 91,-5; 100,9; 120,12.28; 126,4;
137,11, Pg. 68,18; 91,6; 198,16, As. 36,20; 59,15, Am. 596,14;
662,6; 669,9; 677,4; 728,19; 739,13; 743,13; 744,25; 747,29;
758,5.34; 768,3; 772,23; 774,20.
Die Kritik des aristotelischen Textes hinsichtlich seiner Klarheit,
Vollständigkeit, seines Zusammenhanges u. s. w. vollzieht sich in Wen-
dungen wie di7ca77dXXstv mit Adv. (aa^ cöc, ioa^ c^c, äXXuccdc Q* 8. w.),
vgl. Ind. z. Parv. As. s. v. äicaYY^^w, IXXwnJc u. s. w., Am. s. v. sXXi-
1) Unter den Verbindungen von Suv^fiet sei hier auch notiert l, ouUot^-
Ccadat Pg. 71,29.85; 86,20, As. 94,15, Am. 448,7; 445,21; 464,85; 664,85;
665,4; 748,20; 796,1; 802,8.
Commentaria in Aristotelem graeca'XXII2 887
ÄÄC u. 674,8, Part. 55,10; 151,19, Parv. 36,20, Pg. 89,18; 168,6.
Mit Parv. 9, 34 icdvo 8k ioa^ «oc xal (ie(isXav(i>iiiva)c &9can^^et • • •
zeigen Pg. 196, 11 ndvo S" aoa^cdc xal (i6(isXavoi|JL^va)c ^icd^et za(z
altCac, Am. 519,14 r^v Xooiv iaauf&i xal Xiav (i6(ieXava)|jLdva)c inaYft-
^(bv» 653,4 &aaf(oc S^ icdvo xal (ie(i6Xavtt)|jL^voi>c ipfiifivs&ei taota be-
sonders auffallige Uebereinstimmung, IXXi9cä>c und ioa^cAc verbinden
Part. 55,10, Parv. 104,21, Am. 462,9. — Parv. 65,35; 79,9; 83,30
oaf (AC xaraX^Ystv = As. 195,6. Oefters wird in ähnlichen Wen-
dungen UnVollständigkeit oder Unklarheit auf die aristotelische ßpa-
XüXoYia zurückgeführt: Parv. 135,7 aaafä>c iTriJxtat 8ta ßpaxoXoYtav,
Am. 596,29 a<3afä>c xal alvqiiatcoScdc tö icapaSsifiia iTCj^xtai 8iä r^v
oovTJ*T) ßpaxoXoYiav aöTcp; Pg. 188,10, Am. 446,16; 663,36; 758,3,
Vgl. femer Parv. 35,5 ioAyeiav 8k woXXijv Iveffoiifjos mit Pg. 26,5
äoAfeiav wdivo äoXX-Jjv iceicoCtjxev, As. 23,16 äoXX-Jjv 8^ rJjv aodyeiav 6
'Ap. licoCifjoe, 59,7 iody etav 8^ tcj) Xö^cp Ivewoiijoe, Am. 474, 15 aoAyetav
iffotifjoe ÄoXXijv, 655,27 äävo äoXXtjv aoA^eiav SvewoCiijoev; 736,10;
805,22. — Parv. 36,20 iXXiiccdc xal In axaTaXXi]Xa)c imj^YeXtat ta
pif]td, Pg. 213, 16 doa^cAC 8^ dicaYYeX^stoa i^ Xd^tc xal dxataXXi^Xcoc»
Am. 663, 14 Sott 8k ixatdXXifjXoc xal äävo ioayfjc t^ Xd^ic. — Part
63,25 slif] 8' av tö t^c Xigecoc xatdXXtjXov toioötov = Pg. 196,15. Vgl.
auch Parv. 62,32; 78,9; 87,12; Pg. 166,9; As. 73,21 lou 8^ zb
xaT(iXXif]Xoy Tfjc Xd^ewc toioötov = Am. 736, 34, vgl. Am. 655, 30. — Mot.
126,18 «^v 8' av xataXXijXötepov, el . . . Parv. 57,13; 137,15; Pg.
237,21. — Inc. zb 8k Ig^c tfjc X^Seox; toioötov (vgl. 160,7, Parv.
45,30; 73,10), Pg. 87,12 eitj 8' äv xb t^c X^ewc Igijc toioötov; ebenso
As. 95,28, Am. 810,10. — Tö 8^ t^c Xdgsöic oovsx^c toioötov Jotiv
0. ä. Mot. 111,33; 119,16, Parv. 16,25; 22,3; 56,24; 68,24, Am.
671,18; 677,20, vgl. 663,21; 692,38. Ebenso gebraucht M. oov^eia
(gewöhnlich i^ toö Xd^oo o.) z.B. Part. 98,16; 167,8, Parv. 114,21,
Pg. 75,33, Am. 457,24; 511,14; 605,28. — "EoTtv oov -^ oovaYcoTYj
TOÖ XÖ70Ü TotaoTtj 0. ä. Part. 13,6; 148,11; Pg. 67,8; 68,8; 230,13,
Am. 765,33. — Ist der aristotelische Ausdruck unvollständig (Parv.
21,15 loTi 8k Xlav IXXwrJjc ii Xißtc; 35,10; vgl. Pg. 19,22; 21,5), so
wird die Ergänzung gerne mit tva ig tö icXi^pec (rjjc X^gewc) 0. ä. ein-
geleitet: Part. 52,28 Xelwei tö >...<, fv' ig tö icXfJpec toioötov >...<;
59,17; 89,19, Inc. 136,13 xal 8ei äv tj) TOiaÖT-j Xdgei Äpooowaxoöetv
TÖ »...«, 7v' -^ xb ffX^pec >...<; Inc. 148,3; 160,7, Parv. 68,10
(vgl. auch 37,5; 58,11), Pg. 87,9 Xeticst ...tö »...<, tv' ig tö icXfJpec
>...«, As. 31,27 861 8k Tcpoooicaxo&etv . . . tö >. . .«, tva ig tö icXfJpsc
xfi<; Xd4so)c TOIOÖTOV, Am. 448,30 86t 8k itpoaoicaxoöetv tö >...<, iva tö
Ädv lg toioötov; 674,23 iXXslÄst rj XkUi xb >...<, iva ig tö 5Xov toioö-
tov; vgl. 454,25; 693,27. In anderer Weise werden das iXXiic^ und
62*
888 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
das 7cXf]p6c einander entgegengestellt Part. 55, 10 äXXticftöc 8i xal ont-
f ä>c ain^eXtat tö . . . eii] S' Sv tö icXfJpec roiot>Tov ; im wesentficha
gleich Pg. 19,22; 21,5; 44,2; 99,3, As. 76,17; 80, 24; 91,28; 180,28,
Am. 683,24; 760,22. Vgl. auch Parv. 37,1, Pg. 89,18; 92,6.-
Die Uebereinstimmung in einigen anderen bei der Interpretation
aristotelischer Worte verwendeten Ausdrücken bietet weniger Ghank-
teristisches. Es mag genügen hier auf die Indices zu verweisen & t.
9cap^Xx6iv (daß Am. meist, aber nicht ausschließlich [vgl. 736, 32] die üb-
Schreibung mit dem Partizip und elvai (icapdXxov iavt) anwendet, ist bd
der beschränkten Zahl der im Index genannten Stellen ohne Bedeu-
tung), Tcpoooicaxo&etv (häufig mit dem Genetiv, vgl. z. B. Index n
Parv. u. Am. 674,10; 675,18; 693,25; 830,1), ix TrapaXXiJXoo tiAim,
Ix Kap. x£to^ai. Unter ffapeitßdXXstv verdient das übereinstimmend
Parv. 8,28, Eth. 1X518,36, Pg. 75,23; 76,1; 93,31; 177,11, Am.
836, 19 gebrauchte td S' &XXa (td Sk Xoiicd) (lerago icap6|Lßiß)ii]TB
(sropsvsßXn^^) Erwähnung (Part. 5, 14 xal (terato ^roXXa xapevscfMc
iicdYst, Pg. 81,4 xal 8id |iiooo tivd Äapevetpou; iwi^aYe). — Mit fest-
stehender Formel wird über die Interpunktion entschieden: Mot
127, 23 ÖÄOOtixt^ov elc tö »...<, st^ o!ka>c ina%xioy xb >..,€ (vgl. fir
weitere Beispiele die Indices zu Part. Mot. Inc. Parv. Eth. s. ?.
fticootiCsiv), Pg. 22,9 oicoouxtdov el<; tö >...<, elta äicaxrdov xb >...<
(ebenso 204,13; vgl. auch 237,21), As. 169,11; 196,26, Ahl 726,27;
745,35 stimmen dazu wörtlich. — Für Angabe einer zweiten Lesart
ist f ipetai Sh xal iXXi] 7pacp')] Sx^ooa ootco^ die stereotype Wendung,
die z.B. Parv. 34,15; 44,25; 139,28, As. 156,23; 167,16; 188,31
(hier eopTjtai für cpdpetoi). Am. 468,31; 717,32 (mit &S^ für oScik)
wiederkehrt, vgl. auch Parv. 45,20 (anders der echte Alexander
58,31; 273,37; 356,34; 439, 3). — Verdeutlicht Aristoteles ein«
Satz durch Beispiel oder Erklärung, so sagt M. häufig oo^vCCmv • • •
äTCTJ^ars (iwÄYei); so Part. 21,24; 43,3; 59,27; Inc. 145,18; 147,34;
167,7, Parv. 37,24; 96,13; 104,6, Pg. 2,26; 94,7; 104,11; 132,29;
180,3, As. 30,22; 143,24, Am. 472,1; 490,19; 661,26; 678,14;
764,22; 787,11; 809,28*). — Außerordentlich beliebt ist das Fort-
spinnen der Darstellung durch slxibv ... (taöxa ekä>v) X^ei; von dea
Beispielen, die fast jede Seite dieser Texte bietet, führe ich nur
wenige an: Part 8,2.27; 12,3; 19,15, Inc. 135,17, Parv. 47,7;
98,17, Inc. 142,23.31; 143,1; 135,12; 145,23, As. 55,2; 57,3;
66,12; 70,20; 76,26 (iptjotv für )iTct); 93,23; 96,17 (yifjotv); 193,3,
Am. 608,5; 663,7; 670,24; 676,34; 682,6; 692,36; 695,39; 702,4;
715,15; 742,3. Vielleicht noch häufiger ist slicd)v . • . (raota eucoiy)
1) Beiläufig bemerke ich, daß Parv. 72, 8 f., wie aus Am. 463,29; 609,12;
674, 12 hervorgeht, ivX (»ico^c(7|Aatoc herzustellen ist.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 889
hcii^a^B (intk'^ei): Part. 2,11.18.27; 4,32; 5,12; 11,16, Inc. 153,5;
154,14, Parv. s. Index s. v. iTcdvetv, 10,29; 93,17, Eth. 1X520,34,
X579,19; 582,21, Pg. 46,18; 94,20.36; 105,24; 179,31; 180,2;
185,25; 195,22; 207,7, As. 26,28; 46,32; 72,11; 79,10; 80,21.31;
87,9; 186,11, Am. 638,12; 676,5; 678,31; 688,27; 691,16; 693,32;
694,15; 713,37; 716,20; 752,3; 763,4; 771,4; 779,26; 796,25. —
ekwv . . . rJiv attCav tootoo iirfffa'^B o. a. Parv. 85,13; Pg. 194,28
slicwv ... YopYÄc Ttjv altiav toötoo IznjYaYev, womit Am. 681,34 xal rjiv
altlav YopYwc irjjYaifev, As. 166,15, xal djv altCav . . . Yop^wc ti^eixs,
183,14 xal TTjv alxCav tootoo xolx^(a^ I^Ya^e zu vergleichen ist*),
Pg. 14,6; 46,28; 72,12; 74,5; 152,7, As. 68, 1*; 141,14, Am.
702,13; 709,37; 722,25; 755,24; 8.S3,8. — KataoxeodCcov (toöto)
ä«^aY6v Parv. 13,13; 49,28, Pg. 112,21. — Kai ooiiffspaivsrai Xd^oov
Part. 8,15; 155,31, Pg. 57,19, Am. 617,28; 658,7; 680,9; 696,30;
699,37; 747,12; 754,18; 764,29; xaUowcöv (Jü|iic. Xd^. Parv. 127,17,
Pg. 77,33, X. oo|wc. Xotfföv X^^. Am. 523,7; taota sIäwv oo|i7c. X^yodv
Parv. 75,5, Am. 468,35; 479,21 (ohne U^m)] 824,3; 828,30; taota
ek. oojiff. (...) xöv (...) X(Jyov Parv. 18,17, Am. 485,28; 510,5;
836, 34 ; xal G0|jLiC6patvet (-etat) töv oofiicavta Xö^ov Xd^oiv . . . Inc.
160,3, Am. 591,3; ootcoc oov SeC^o«; • • • <30(i7cepaivstat \t((üy . . . Eth.
V13,2, As. 74,15, Am. 613,41, vgl. 483,12. — IIpoTldetat Ctjrijoai
Parv. 60,2, Am. 602,11; weitere Verbindungen von wpot. mit d.
Infin. Pg. 114,14, As. 8,15; 14,14; 16,25; 20,15, Am. 494,26. —
Töv Tcepl ... TcpoxstpCCetai Xö^ov Parv. 42,3, Am. 668,11. — 'Hjielc
6h ... iid (icpöc) tö TcpoxeCfisvov iicav^Xd(i>(isv Parv. 142,17, As. 3,3
(vgl. 72,4; 83,5) — IldtXiv licavaXa|iß(ivei (Iwav^Xaßs) töv Xö^ov Parv.
15,3; 70,29, Pg. 68,15, Am. 455,26.34 (taöta ekwv wie Parv.) —
(A5töc) icpoia)v Ipsi Parv. As. Index s. v. Tcpoidvai, Eth. 1X487,39;
X 576, 30, Pg. 6,16; 23,27; 76,6; 124,25; 206,12. — Von einem
gegen Aristoteles zu erhebenden Einwände und seiner Widerlegung
ist in übereinstimmenden Ausdrucksformen z. 6. an folgenden Stellen
die Rede: Parv. 8,28 So« 8^ tö XeYÖ|ievov iwdvTTfjotc xal Xöotc icpöc
Svotaatv toia&nfjv Sova(idvif]v y^peodat wpöc ta ^7]d^vTa, Am. 620,13 tö
Sh ... Xogk; iotlv Ivotdoscoc Sova(idv7]c f^psodai Tcpöc töv ... Xöyov; vgl.
auch Pg. 240,6, Am. 515,5; 614,15; 695,10; 707,32, Part. 54,9
«pöc 8-}] taötifjv rJjv Svotaotv licijxtai tö . . . Am. 620, 20 Tcpög ta6Tif]v
oov ol|JLat t7]v Svotaotv toöto Iwijxtai tö X^^ov; vgl. Parv. 94,1, Eth.
1X497,6. — Die bescheidene Färbung des eigenen Urteils des Inter-
preten führt Parv. 22, 26, Am. 443, 29 in dem Satze et tt xP^ '^'8 ^V't
1) £{icu)v . . . ouvT($fjLU)c T^v a{T(av TouTou itrfiyaytw steht Am. 668, 18; vgl. auch
468,11; 617.23; 622,35; 671,10; 807,21 und dazu Parv. 28,9; 43,16; 56,18
(auvxfifiu);, IC 8 xal daa^pd);, vgl. Am. 468,11 auvT<5fjLuK xat itd toüto daa^üc).
890 Qött gd. Anz. 1906. Nr. 11
«poolxetv jiavteect (nach Plat. Alcib. I p. 127E) zu wörtlich übereinstim-
mendem Ausdruck. — Der Gebrauch folgender Wörter und Wortverbin-
dungen dient dem gewonnenen Resultat noch zur Stütze ^i äXX' (»v
Inc. 158, 16.18, Parv. (s. v. oov), Eth. V 71,28, As. (s. v. aXXd); äWrn;
xaiaiXXwcParv., As.; $XXco(;'F6(xal)Part.58,15; 66,4, Inc. 143,17; 162,30,
As.; Sjta (te) xal xata laötov Parv. 114,28, As. 30, 34; aicapoXXdxrtK
Parv., Pg., Am.; iTcoSsixtixö« Ssixvovai Parv. 20,17, Am. 741,11;
aico8i8övat aixtav Parv., As., Am., Pg. 71,28; 123,21; 124,30; ip-
xoövtfioc Parv., As.; ao icdXiv Parv., As.; ßaoaviCetv Mot., Parv., Pg.;
ijtot (= ij^oov) Inc. 154,4; 158,25; 167,30, Parv., As.; xaCtot c. part.
Parv., As.; xataYivsodai Parv., Eth. V., As., Am., vgl. insbesondere
Parv. 84,7; As. 96,17.18; 99,1 (icepl icoXXd xataY-); xaraoxet>a<jtixö;
Part., Parv., Eth. V., Pg., As., Am., besonders xal toöto xara(37C8t>aum-
xöv ioii too... Parv. 43,3, Eth. 1X495,10, Pg. 44,20, Am. 731,36;
Sota) 8^ (Yap) Xc^oo x^ptv (x«^ptv Xö^oo) ... Parv. 7,3; 34,29; 119,2,
As. 162,11; ivetpcoTTco metaphor. Part., Am. (vgl. Proleg. in Plat
philos. 8 p. 203 Herm.); ÖTnjvtxa Parv., Eth. IX, Eth. V 62,35, As.;
6t^ \Lt/ — 6t^ 8i Parv., As.; tö wapöv ßißXtov Parv., As., Am. 440,9;
516,16; 794,5, 1^ Äapoöoa i:pa^\LazBia Parv. 88,19; 98,30, Pg.,
As. 1,7; 4,3, Am. 722,18; 785,35; 787,19, 1^ icpoxetiidvTj rpar-
jtaxeta Inc. 135,2, Pg. 2,11, As. 7,24; 104,9, Am. 440,18.22;
516,10; 675,15; 722,2; rJiv «Cotiv gx^^v ix (iiA) Parv., Fg.; ea«v
...moToötai TOÖTO Inc. 142,13 (vgl. Parv. 93,17), Pg. 48,3; 132,16;
133,34; TcX-fjv = sed Parv., As.; icpoosxöc Parv., Pg., Am.; t^co« Part
6,28, Inc. 152,6, As., Am. 445,28; 530,18; OÄÖ»eot<; (d)c -^ o., xati
TT)v 0.) Parv., Pg. ; xpootvoc Eth. X 554, 28, Am. 535, 20, /dXxivoc Am.
512,7. — Einige Ausdrücke terminologischen Charakters und solche,
die den sachlichen Inhalt der michaelischen Interpretation näher be-
rühren, seien hier besonders zusammengestellt: Parv. 9,5 rot ^ap h
aoT-ß (sc. fjj ^avxaotc}) I^Ypay^vta . . . öpöv 6 voög aTcoooXt^ toic
xadöXoo Xöfooc aotä>v. Am. 483, 25 6 . . . xadöXoo Svd>pa>3cog, 6v 6 voöc
6 iQ(i^t6pO(; ÄTcö TÄv xa*' Sxaota aTceooXijoe; vgl. 509,10; 514,19;
s. auch Elias prol. 28, 6, Philop. de anima u. phys. — Atairop^sosiv
von den einen Eindruck übermittelnden Sinnen Parv. 70, 19. 25, Pg.
223,15; 225,1, vgl. Part. 40,17. — Inc. 168,22 tö iceptrtöratot ivri
Toö iStwg xal 8iaf öpooc itpöc ta iXXa Ixoootv elXifjÄtai, Pg. 157, 7 tö iceptrtöv
foov IotI T(p daojtaoTÖv xal 8iay^pov ffpög ta SXXa. — ^'Evotaotc und avtiica-
paoTaotc Inc. 157,30, Am. 588,3; vgl. besonders die Sätze Inc. 158,2
Xooac oov a&T^v ooxcoc (nämlich durch ivtucapdoraGic nach dem Voraus-
gehenden) Xöei taonjv xal xata rJ]v Svotaotv Xi^cov . . ., Am. a. a. O. X&goc
1) Wo ich keine SteUen angebe, sind solche aus den Wortindices ohne wei-
teres ersichtlich.
Cömmentaria ip Aristotelem graeca XXII 2 891
oov a&T-Jjv xata Ivotaoiv X6ei a&r^v xal xata ivtiTcapÄoraotv Xd^wv . . . —
'EffaYooipij 8. d. Indices; vgl. besonders Parv. 78,30 (ffioxoötat Ix tijc
teaTcofJlc) mit Pg. 43,11, As. 74,23. — Parv. 21,3 Xi^diijc RÖfev SXwc
{leooXaßifjoÄoYjc , Am. 531, 1 Xi^dTjc (t*?) [leaoXaßifjodoTfjc. — Oöoioöo^at
8. d. Indices; insbesondere vgl. Parv. 138,29 toöto ifdp lottv ii yootc
a&toö xal Iv Toötcp o&oCwtai, Am. 602,2 toöto ahzb Xd^ovtsc eivat djv
yooiv a&Toö xal Iv tooxcp o&oi&odai. — QaXtvSpo(ieiv (von der Natur)
Parv. 100,26; 109,5, Pg. 106, 15. — npovooo|iiv7i o5v (totvov) (...) i^
(p6oi<; (...) TcewotTfjxev ... Part. 68,20, Pg. 141,31. — Ilpöoxptoic (der
Nahrung) Mot. 113,19; Pg. 205,1; vgl. d. Indices s. v. itpooxptvetv.
— 'EpptCöodat s. d. Indices s. v. piCoöv u. vgl. Inc. 158,32 oh ^&p
slotv sie ßAdog lpptCcü|ilva, Pg. 227,19 Iv aitcp ^ap tcp S^pfiatt eloiv
4ppiCc«>|i^vai, iXX' oöx el? ßAdo? ... 21 too (i-}] elc ßadog aötag ippi-
CÄodat. — Parv. 23,1 XP^ •••> avaYivwoxeiv 84 &:r6pßatddc oSxooc; vgl.
Pg. 18,17, Eth. V44,27, As., Am. (Ind.). Häufig ist der Hinweis
auf die Gewohnheit des Aristoteles sich so oder so auszudrücken:
aovTjdsc YÄp aitcp ... Part. 15,12, Pg. 64,5, As. 39,15; 84,7; 183,21,
Am. 459,18; 466,20; 475,20; 496,16; 518,16; Idoc 8k a&tcp Parv.
137,17, Eth. V12,5; 20,7, Eth. IX. X s. Index p. 647 s. v. 'Aptoto-
tIXyjc, As. 159,10, Am. 807,37 vgl. 548,1. — Ein anderer für die
Exegese verwerteter Gesichtspunkt ist die ^iXöoof oc e&Xdßeia des A. :
Parv. 100,4 xb »laaxjc 8ia ^tXöooyov xeltat e&XAßeiav (ebenso Part.
2,37, Eth. X530,2, vgl. auch 585,9), Am. 513,36 xb 8' >Xo(üc€
icpöoxeitat y) 8ia f iXöoof ov e&Xdcßeiav . . .
Von grammatischen Erscheinungen, die in allen diesen Kommen-
taren wiederkehren , wie el c. coni. , Stav c. ind. , £v c. coni. als
Potentialis, fehlendem Sv im Nachsatze der irrealen Periode, nom.
absol., ist bereits oben mehrfach die Rede gewesen. Ich weise hier
nur noch auf einige Punkte hin. Die Epanalepsis, gewöhnlich mit
Sil ^^^^ ^^^> ^^^ ^^^ ^'1 besonders in früheren Schriften, geradezu
Manier. Einige Beispiele bieten die Indices zu Parv. und As. s. v.
8i^, oov, ootog. Auch der vorliegende Band enthält Belege in Menge,
z.B. 37,11; 39,15; 40,12; 44,15; 45,12; 57,33; 69,9.36; 70,11;
75,23; 84, 12. 25. 32; 91, 18; 145, 2. 10. 14; 151, 7. 28. 31. Die näm-
liche Vorliebe zeigen nun auch Pg. (vgl. u. a. 6,31; 10,25; 12,25;
16, 27; 22, 18. 31; 24, 12. 19. 30; 26, 34; 27, 35; 66, 10; 118, 33;
123,1.24; 134,4; 164,15; 217,16.26), As. (Ind. s. 81}, oov) und
Am., so z. B. 440, 8; 448, 13; 451, 10; 576, 12; 577, 34; 579, 33;
583,28; 589,13; 594,18.29; 603,7; 646,36; 672,1.5.14 (vgl.
hierzu und zu 589,31 besonders Inc. 147,20); 774,22; 776, 11. 15;
784,20; 824,13; 829,15; 831,25; 832,9; 833, 23 ; 834, 35), und zwar
findet sich auch hier (z.B. Pg. 24,19; 123,1; 134,4; 217,26, Am.
892 Gott, gel Anz. 1906. Nr. 11
594, 18) , wie an den oben S. 866 genannten Stellen und andern
der unstrittig michaelischen Kommentare, die Epanalepsis nicht sdta
nach ganz kurzem Zwischenstück ; das dem Verfasser in Fleisch mid
Blut übergegangene Streben nach Deutlichkeit ') hat hier zur Pe-
danterie geführt*). Auch eine andere oben Ö. 866 berührte Bgen-
tümlichkeit, die Verwertung des Schaltsatzes in dem wiederaet
nehmenden Satzteile, tritt beispielsweise Pg. 136, 15, Am. 466,12
hervor. Die Ellipse Part. 5, 30 xal icäc äv «epl ä(x^oiv iX^ojuv (sc.
oayifjvCCwv) Imj-jfaYs >xX{vif] ^dp lott xtX.€ (ebenso 37, 37 xai ääc, i^s.
>6 ji^v -{äp xtX.<, 39,4; 47,5; 61,20; 148,1 u. ö.) findet sich z. R
Pg. 57, 24 xal tU 6 xaWXot> Xö^o^, licÄYst »ivd^xi] ^ap xtX.«, äbl
447,9; 713,28.33. — Ebenso ist das sehr häufige an kein ?erb.
finit* sich anlehnende \i^m (vgl. z. B. Part. 60, 1 ; 62, 17. 23, Inc.
140,1; 142,6; 145,17; 147,24) auch durch Pg. (z. B. 120,15; 121
8; 123,1) und Am. (z. B. 742,23; 744,11; 791,8; 806,10; 832,17:
834, 33) vertreten. — MdtXXov beim Komparativ hat wie Part 80,3.4,
Eth. IX 499, 6 auch As. 133, 18.
Es ist im Hinblick auf die mehrfach behandelte Frage nach dem
Verhältnis des Ps.-Alexander zu Syrian sehr lehrreich, im Lichte
dessen, was bisher über den Stil des M. festgestellt worden ist, pa-
rallele Abschnitte von Am. und S(ynan) zu vergleichen. Es springt
in die Augen, wie S. in Am. in den Stil des M. übertragen worden
ist. lieber die Priorität des S. kann so kein Zweifel mehr bestehen^
Im umgekehrten Falle wäre es unerklärlich , wie S. gerade den für
Am. und die verwandten Kommentare charakteristischen Wendungen
aus dem Wege gegangen sein sollte. Einige Proben mögen den Sach-
verhalt klarstellen:
1) 8. 0. 8. 872.
2) Auch hier läSt sich freilich auf den mündUchen Vortrag als Gnudkge
dieser Kommentare hinweisen, der bei der Leichtflüssigkeit des gesprochene!
Wortes und der Unmöglichkeit, die Parenthese durch Interpunktionszeichen abxn-
sondern, mit Epanalepsen freigebiger zu sein pflegt, als die schriftliche Dv-
steUung.
3) KroU, der sich Conun. in Arist. Gr. VI 1 p. VI gegen Freudenthal für dai
umgekehrte Verhältnis entscheidet, nimmt daran Anstoß, daß Ps.-Alexander,
der Verfasser einer fortlaufenden Paraphrase, Syrian benutzt haben soUte, der
seinem andersartigen Zwecke entsprechend Aristoteles nur gelegentlich pan-
phrasiert, und findet es wahrscheinlicher, daß Syrian, wo er zu paraphrasieres
Anlaß hatte, den kontinuierlichen Kommentar nachgeschlagen habe. Die sprscli-
liehe Untersuchung zeigt,, daß das a priori Unwahrscheinlichere doch Tatsadie
ist. Der Name des Syrian hatte Gewicht genug, um den gelehrten Byzantiner ftr
seinen fortlaufenden Kommentar dessen gelegentliche Paraphrase aufsuchen and
verwerten zu lassen.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2
893
S. 133, 31flf. Am. 758, 3flF.
'EXXiffc&C efpifjxe 8ia at>VTO(iCav, 'EXXwcöc 6fpt]tat ^) 8ta ßpa-
t6 84 t^Xeiov too Xö^oo tocoötöv x^Xo'^la^^, lou 84 to r^Xetov too
iotiv • iXXi (i^jv 0&84 tooto 8et Xöifoo toioötov, aXXa ]L^y ohSh toöto
Xavddveiv, Sti at)[ißaCv6t xatdc ta&- 8er Xavddiveiv, Stt at)[ißaCvet xata tao-
tYjv rJjv &ffödeotv SvMa^ 8od8a>v nrjv t^jv ^Tcodeotv 8od8a(; 8Dd8o>v wpo-
elvai ffpot^pac vm SXXodc aptdfiODc . . tdpac slvai (toötooYAplott 811]-
XcDtixöv to ffpot^pac xal &ot§pac
eivat 8oA8ac) xal SXXoog ffdXiv aptd-
|io6c . . .
Am. 762, 17 f.
Toöto foov lotl t(j) 8i(bdaotv
aicopeiv Tcpög iaoto&c ot 8taf tfpooc
tac (iovd8ac X^ovte?' tö8'iffopo6-
[tevov toioötov*), Tcötepov 4ffö
too 860 ...
Am. 765, 33 f.
Kai lottv 1^ oovaYooT^l '^^^
XöYoo toiaott]' el 6 (laOijjtati-
xöc* . .
Am. 771, 12 f.
'EXXi7Cü)(; iwTijYYeXtai* -^v
8'äv to tfjc X§$6o>c tlXeiov,
el ootco 7ca>c "Jiv 7eYpa[i'|Ji'6-
vov*)' Stt ätoitov . . .
Am. 772,22flF.
^'Ett, ytjoC, xal ix tÄv |ie7ed'ti>v
S. 138,24.
Elcodaoi, yifjolv, iffopstv, wötepov
&ICÖ too 800 .. .
S. 141, 7.
'0 |i4v oov Tcdg Xö^oc toioötog'
el 8 (ta^iJLatixbc . . .
S. 149,15.
AelTcei t(p X6yc|), to ^ap tdXeiov
•^v Stt ätoffov . . .
S. 150,28f.
''Ett, ytjal, xal Ix twv |ie7ed(&v
i86Cxvoov, 8tt (L^pt 8exd8oc icpod^etv 8eixv6eiv iwetpövto 8ti (i^t tfjc
XP*?] töv dpid[iöv. 8exd8o(; (taöttjc Y^p 4ott 811]-
Xoottxöv to (iixP^ ^^^^^) ^po^Y^tv
Xp*?) töv iptO(idv.
S. 152,30flF. Am. 776,llflf.
'EicetS-?) (a6t(j)) tcp Svl, fifjol, ta&- . , . I7cei8i) a&tcp tcp evl, taätöv
töv 84 elicetv tg apx'JjYtx^ |iOvd8t, 84 eliceiv rj apxixj) (iovd8i, &(ioto-
1) Das Passiv ist in dieser Verbindung bei M. weitaus das Gewöhnliche.
2) Auch auvTO(A{a findet sich bei M., doch ist in den Wendungen, in welchen
es sich um die Kürze als Ursache des ÜXnzU oder iaa^ii handelt, ßpaxuXoY^z vor-
herrschend oder alleinherrschend.
8) Vgl. Eth. V60,4 loTi li t6 dicopo6|uvov . . . toioOtov (Mot. 109,24 Ion U
zb diropo6(ievov).
4) Vgl. dazu Konstruktionen wie Mot. 126,18, Parv. 22,22; 57,13, Eth.
V19,21; 42,6; 66,6 (dazu Am. 774,34; 835,26), Pg. 104,3, As. 189,34; zum
Schluß (c{ . . . i^v 7tTpafi|Uvov) auch Eth. V 41, 18 (c{ . . . cti] jqpaixfAivov).
894
Gdtt gd. Anz. 1906. Nr. 11
6|i.ototipa iotlv i^ iv rQ SodSi (lovac
ijicep 1^ 8oAc {'il piv YÄp Swctpen^,
1^ 8fe aStalpetoc), to 84 rj ipxt)
6|toidx6pov icpörepov , icpotdpa Sv
sfij . . .
8. 153,28f.
''A{l4v Iv toDTOic aicopel, toiaöcd
ioxiv • apa TOO Sv6c too 7cpa)xoo d]v
itpa>nf]v Tfjc 8t)48oc jiov48a taxt^ov
hfzifi^ ^ oS.
S. 189,34flF.
*E£f)c 86 fifjoiv 8x1 oovtCd>eyTat
^litXXov ol ipt^jtol h Totc Xö^otg yJ
icoXXaicXaotdCovtat *
tdpa iotlv 1^ iv rQ SodSt (fcovac IjffEp
1^ 8odc (i^ |tiv Y^P '^C Stotpen^,
1^ 88 (iovac 1^ iv a&rg aStaCpetoc . . .)
iicel oov 6|ioioT^pa i^ Iv Tjj
8od8t (Lovac t'g ^PX^^t) P*^
vd8t (Epanalepsis), xb Sk tf &pxi
6|ioiötspoy icpöt^pov, icpot^ ov
efif] . . .
Am. 776,31.
. . . Soti Sb zb X67d|L6Vov
totooTOV icdrepov Tcp Ivl tcp 9cpo-
tq) xal ipx^)^ ti)v xpconQV Tijc aito-
8t>d8oc (iovd8a taxtdov Iqpef-jjc ^ oS.
Am. 830, 26 ff.
El9cd>v 84 8x1 iv rg vodv ototxeuAV
|jl[£6i oovxidevxai itdtXXov ol apid^oi,
oXX' o6 icoXXaicXaoidiCovxai » tT]v
alxiav 8i' ijv o& icoXXaicXaotACovxot
X^Yst' to Yap a&rö, f^TjoC, 8st 7^0;
6ivat iv xatc icoXXaicXaoidoeotv * 8
84 X4y6i 8ovd{i8t rotoöxöv
4otiv Iffsl Yap 6v xotc TcoXXawXa-
otaoiiotc if) |iCa xXeopa xal 6 etc
aptd>(iöc (tetpet töv SXov ipcdjiov . . .
Am. 832, 17 f.
... 81' &<; attta X^ooot raöta
(xaoxa X4yü>v xodc ipt^{io&c) tiov
icpaYititoDV.
Am. 835, 11 f.
''Ofoov 4<3tl xcp iicetS:^ ta iCSta
tdtaxxai xal ael &<3a&ta>c £x^^ itoXXy^
4x' a6tfiöv e6icopia . . .
Die Identität der Verfasser von Pg., As. und Am., die sich uns
bisher aus sprachlichen Indizien ergab, wird nun auch durch sach-
liche Momente bestätigt. Eth. IX 467, 2fif. bemerkt M.: iv S^xa
Yap xal tpiol tpöicotc 1^ ib^naooL itetpa y) i(ticeipCa toota>v (sc. twv
aofiozm) 4<3tivtt>xat, 6(io>vo(iiG} a(ifißoXiG} oov^daei 8taip4oet TcpoocpSiG^
(syil^ati X^^eox; xal XoiTcotg e^ctdc, xal efpifjvtai icAvxec iv tote So^totixoic
iX^YX^^C tcp 'ApiototiXei xal 4|iol iv taic <elc> ixelvooc ^paLfp^loai^ jtot
ayipkali;. Daß mit diesen oxoXal As. gemeint ist, ergiebt sich daraus,
daß wie an der ausgeschriebenen Stelle so auch A3. 20, 15 ff., und
SXo)c Y^P ^v '^o^C ?coXXa7cXaataG(iotc
\Lia icXeopa {tetpet töv 8Xov aptO-
(töv.. .
S. 191, 13.
... 81* Sc altia XdYOoai taöta
tftbv 3cpaY|iAttt>v.
S. 193, 13 f.
'EÄ6t8'}] ta it8ia x4xaxtai xal isl
a)oa&to>(; Sx^t, tcoXXt^, ^Yjoiv, iic*
a6t(ov e^Tcopta . . .
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 895
zwar hier in ausdrücklichem Gegensatz zu Aristoteles ^), der Ausdruck
tpdicoi nicht wie bei Aristoteles ^ für die beiden Hauptgattungen der
Paralogismen, sondern für die unter diesen Gattungen begriffenen Arten
gebraucht wird. Ebenso stimmen beide Stellen überein in derVereinigung
der tpöTcoi beider Klassen zu einer 13 betragenden Gesamtheit (so auch
As. 1,13). Wie hier mit Eth., so wird As. mit Parv. dui-ch eine be-
reits von Wendland zu Parv. 32, 3 (vgl. Praef. p. VI Anm. 1) her-
vorgehobene Berührung verbunden. — Reichliche Verwendung findet
bei M. der Gegensatz oTcoxeitt^vcp — Xöifcp, der allerdings nicht ihm
eigentümlich ist (vgl. z. B. Simpl. in phys. 439, 33 ; 446, 3, Alex, in
met. 257, 27, Philop. in phys. 729, 11 [728,6]). S. die Indices zu
Parv. Pg. Am. Besonders nahe stehen einander im Gedanken As.
126, 35flf., Am. 449, 20flf. — Der ffpötoc voöc, von dem Parv. 10,13
und der Parv. 24, 27 f. zitierte Vers reden (vgl. dazu Wendland
praef. p. VI Anm. 3), kehrt Am. 710, 36 ; 714, 12 u. ö. (s. Index)
wieder; mit dem Epitheton 7coXoT{(iif]toc, das der (icpcdtoc) voög Parv.
10, 13 erhält, ist der voöc Am. 463, 34 u. ö. (s. Index s. v. vo6c; mit
710, 36 TÖv ffoXoT[|iTf]tov xal icpc&tov voöv vgl. Parv. 10, 13 töv icpmov
xal 7coXoT(|nf]Tov voöv) und als wpwnf) ipx^i auch Pg. 64, 6 ausgezeichnet.
Die letztere Stelle wird durch die Bezeichnung der 7rpa>T7j ipxi}
als C(pov (^[Stov Sptotov (dies aristotelisch, cf. 1072 b 29) mit Am. 699,
28 verknüpft, wie Parv. 11, 14. 22 durch den xa*' ijtv (Iv ISet) voöc
mit Am. 697, 17; 698, 2. Die nämliche Anschauung über die gXXa(t(|)ic
des dopadev voöc bekunden Eth. X 580, 19flF. und Pg. 84, 27flF. —
Die 4>t)xixY] SüvajtK; spielt Inc. 145, 7. 35 ; 1 48, 28, Pg. 47, 1 die gleiche
Rolle. — As. 159, 10 f. tcp 8^ tö8e ti Idoc a&tcp inl f^c atö|ioo xp*^"
oftai o&otac berührt sich nahe mit Am. 459, 18 f. o6v7]d6(; ^ap t$
'AptotOT^Xei ivtl TTjc o^atac tö töSe tt xal zb zi iozi Xa(ißdveiv; das
Gleiche Am. 640, 32 f. ; 807, 37 ; 812, 5 f. Auf naturwissenschaftlichem
Gebiete stimmen z. B. Part, und Pg. in dem was sie über das xpo-
oxaXXoetS^c des Auges (Part. 45, 1 f. Iicel ^dtp Jott tö tijc 8<|)6a)<; al-
oÄTjTTiJptov tö xpooxaXXoeiSdc, Pg. 112, 15 f. X^^cov alo^TjtTiJpiov tö xpo-
otaXXoeiS^c, vgl. auch Pg. 217,26, für weitere Stellen die Indices),
die iictixi) SövajiK; (Part. 45, 8, Pg. 112, 16), die xi'f<«jV6<; der Augen
(Part. 45,10, Pg. 112,17.29.31.32) über Aristoteles hinausgehend
lehren, unter einander überein. Man beachte ferner die Verwendung
1) Zu Arist. 165 b 23 : NOv irpoT^detat X^yeiv irepl täv TpfJiruiv täv irapoXoTtOfiüiv
hixa Ik xal Tptöv a^txdjv ^vTtüv Wo Tp<$7couc a{>Td)v thai ;pT)aiv. tt-q V 5v dvtl tou
etSou; Tov Tp<j7:ov 7:apaXa(jißc^vu)v xal lan Tp<J7cov xivd Xiycov outcoCy Äri zthri
Tcuv ao;p(aT(xu)v lvo^Xi^aeu>v eCat 56o xal zb piv Sv tujv e^Süv li Tp($icouc ntpci^cc,
Touc Tcapd t)]v Xi&v XcYOfjL^u;, t6 hi Irepov kmd, ot^c l^ta xoXel t^c Xi£eu)C.
2) Soph, elench. p. 165 b 23. Später, p. 166 a 14 ff., verwendet Ar. den Ausdruck
für spezieUe Variationen^ einzelner Arten.
896 Oött gel. Anz. 1906. Nr. 11
von kffjfoptb^ und olvoc zu Vergleichen Part. 43,6, Parv. 110,4, Pg.
25,28.31, Am. 461,7; 518,36, (Part. 56,8 nach Arist. 666 a 17 f.),
die mehrfache Uebereinstimmung der Exegese in der Behaodlnng
der Konjunktionen (s. d. Indices s. v. a6v860(ioc), das fast wörtliclie
Zusammengehen von Eth. Y 43, 10 1 xal oxÖTcet ri]v 'ApiototiXooc
ifX^votav Ziciöc . . . ivdftjve . . . und Am. 520, 18flF. xal 5pa rJjv too 'Apt*
otoT^XoDc ifx^voiav Sttcoc . . . I(if aCvst . . . , den ähnlich lautenden Anfang
von Eth. R: Tö irapöv ßißXtov, 8 Sdxatov (idv iovt xcov 'Hdixc^v Nixo-
Ita^sUttv, K % SOoc toic Ix toö IlepiTrdLtoo iirt^pd^eiv und Metapb. A
(Am. 668,2): 'Ev tcp irapövxt ßißX[«j> t^<; Meta ta 4>t>oixd, 8 XdiißSa
ToiC IIspticanrjTixolc iict^pd^etv odvyjOsc (vgl. auch Am. 633, 23) und
dergL mehr.
Wir erhalten so für die Beurteilung der kommentierenden Tätig-
keit des M. eine genügend breite Grundlage. Das Urteil wird, so-
weit es sich ohne Kenntnis der Quellen des M. überhaupt fällen läßt
(s. unten), im ganzen nicht ungünstig lauten. Der Verfasser ist zwar
kein tiefdringender philosophischer Geist mit eigenen Gedanken, wie
manche antiken Kommentatoren. Dafür entschädigt er aber den Leser
reichlich dadurch, daß er seinen Schriftsteller in nüchterner usd
tendenzloser Weise aus sich selbst erklärt ohne ihm fremde Ideen
aufzuzwingen, ohne unter dem Gesichtswinkel des Piatonismus gegen
ihn zu polemisieren, wie Syrian, und ohne den Versuch ihn mit Piaton
in Einklang zu setzen, wie Simplikios u.a. Wir werden zwar weiter
unten gelegentlich recht deutliche Kennzeichen des Platonismos
späterer Zeit bei ihm hervortreten sehen. Aber solche platonischen
Anschauungen haben doch seine Auffassung und Darstellung der ari*
stotelischen Lehre nicht in tiefgreifender Weise beeinflußt^). So
mögen diese Kommentare trotz mancher Verkehrtheiten im einzelnen
1) Aristoteles ist für ihn überaU die grofte Autorität. Er nennt ihn nach
dem Vorgang Früherer wiederholt iatfjtrJvio; (s. d. Indices u. d. W., Part. 16, 13),
Am. 538, 28 daufxaaToc o^e dvi^p. Pg. 158, 27 ist ihm Arist. ^t'^raxoc tloX ^iXosö^w
xopu^pai^xaToc, ebendort rühmt er mit Rücksicht auf das gen. anim. 760 b 27 ff. Be-
merkte seine jxeTpidtT];, an anderen Orten seine dtyx^voia (Eth. V43, 12 [Parr.
84,11], Am. 520,19; 690,3), Am. 538,28 sein eufjiidoSov und dYxivo'jöxaTov. Seine
Verdienste am die Logik betont As. 198,13 (vgl. auch 101,25), seine Bedeutung
fftr die Lehre von 8uvdf(jiei und htpftic^, xaO* auT(5 und xaxd crufißeßTjXfSc nach dem
Vorgang anderer Erklärer (fi; «paoiv i^jrixd) Part. 32,27. In der Unsterblich-
keitsfrage darf kein Widerspruch zwischen A. und der christlichen' Lehre be-
stehen: Eth. X 576, 31 xal ^Xov i% to6tu)v <i)« ol X^yovcec xov ApiOToxiXT^v OvtjTijv
8o5dC«v T^v 4n)xV o6Wv Ti X^Youaiv. — Die Verehrung für Arist. hindert ihn aber
nicht, gegen dessen DarsteUung gelegentlich einen Tadel zu äußern. So Am.
673, 34 ff. irflfvu TeTapayfAivtug xal «p6p8T)v xal o<i xcTaYfjivwc 0'j5' dxoXou^c hzdhiti td
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 897
doch im ganzen die aristotelischen Studien im Byzanz der damaligen
Zeit wohl gefördert haben, und sie dürften sich zur Beihülfe für das
Verständnis des Aristoteles auch heute nicht ganz unbrauchbar er-
weisen, vorausgesetzt daß der Anfänger das vdf e xal (t^pao' iiciotetv
beherzigt. Die hier in breiter Weise geübte periphrastische Art der
Erklärung, die den aristotelischen Ausdruck vervollständigt und von
Satz zu Satz die Gedankenbrücke schlägt, ist bei der Knappheit des
Stils der aristotelischen Lehrschriften von großem Werte, und wenn
M. dabei manchmal platt und trivial wird, so geschieht es im lieber-
eifer, den Gedanken des Schriftstellers so klar zu machen wie irgend
möglich. Auch ist nicht zu vergessen, daß die Lehrvorträge, die dem
Kommentare zugrunde liegen, sich an Anfänger richteten. Ein häufig
angewandtes Mittel der Verdeutlichung ist die Anführung von Bei-
spielen. Die Absichtlichkeit tritt hier klar hervor, wo solche Bei-
spiele in den Text einer sonst fast wörtlich ausgeschriebenen Quelle
eingefügt sind, wie dies z. B. Eth. V 11, 29 f. geschehen ist; olov i^
(Loixsta xtX. ist hier Einschub in den vom Anonym, in Eth. Nie. V
213, öflF. (Comm. in Arist Gr. vol. XX) gelieferten Text. Ebenso
Eth. V 31,27 otov <el> ixbfXfüoi ttc ttva ivtito^Xw^^vai, (al) Sto^pev,
ivTiToyd^vat verglichen mit Anon. 222, 20, Eth. V 32, 7 «oö ^ap tö
xat' iSiav, el SoöXoc s&7svfj xxX. 10 o5 ^ap iSövta ivtl iSövtoc xtX.
verglichen mit Anon. 223, 2. 4. Aehnliche Veranschaulichungen am
Einzelfall enthält z. B. Part. l,14ff. ; 3, 5fif. Wenn möglich liebt es
M. Erfahrungen aus seinem eigenen Leben oder dem seiner Itaipot
zu verwerten; s. o. S. 863. Nicht selten wird die Darstellung da-
durch lebendiger gemacht, daß Sprechende mit direkter Rede einge-
führt werden, wie z. B. Eth. V 26, 34 ff.; 38, 20 ff.; Prosopopöie der
Tiere und Pflanzen Part. 22, 21 ff.
Ein Umstand, der der Exegese sehr zustatten kommt, ist die
ausgedehnte Beschäftigung des Verfassers mit vielen Teilen des ari-
stotelischen Korpus, wie sie schon in der verhältnismäßig großen Zahl
von Kommentaren zu sehr heterogenen Schriften zutage tritt. Er
ist so imstande, für eine Stelle aus einer andern Belege oder Bei-
spiele zu gewinnen und so jene durch diese zu beleuchten. So wird
Eth. IX 486, 15 die eovoux in ihrem Unterschiede von der ^ iXta durch
das aus den Magn. moral, entnommene Beispiel von solchen, die in
Qriechenland lebend dem Dareios wohlgesinnt waren, ohne daß dieser
von einer solchen eSvoia etwas wußte, veranschaulicht, 488, 28 der
Begriff der Metapher durch Beispiele klar gemacht, die die aristote-
lische Rhetorik liefert Nicht selten sind Verweisungen auf die von
M. selbst kommentierten Schriften, wie Eth. V 9, 31 f., As. 10, 9 u.
a. a. St. Oft gelingt es durch Heranziehung von Begriffen und Ter-
898 Gott gel Anz. 1906. Nr. 11
mini aus anderen aristotelischen Stellen ein Problem schärfer zu fassen
oder ihm neue Gesichtspunkte abzugewinnen, wofür z. B. Part. 2, 32 ff.
(Anwendung der Termini »synonyme und »homonym«) zu ver-
gleichen ist.
Von anderen Philosophen ist naturgemäß am stärksten Piaton
berücksichtigt. An einigen Stellen, für welche eine Vergleichong mit
der Quelle möglich ist, zeigt sich, daß die Piaton und Platoniker be-
treffenden Bemerkungen Zusätze des M. sind; sie zeugen also für
sein persönliches Interesse für die platonische Lehre. So Eth. V 25,
28ff.^) verglichen mit Anon. in Eth. V 219,10, Eth. V 47, 17 mit
Anon. 233, 1, Eth. Y 66, 5 ff. mit Anon. 248,30. Unter den selteneren
Erwähnungen nacharistotelischer Philosophen ist u. a. Eth. X 598,
20 ff. (Stoic, vet. fr. coll. J. ab Arnim in no. 17) von Interesse, wo
der Beweis angetreten wird, daß nach epikureischer und stoischer
Lehre die Glückseligkeit auch den Sko^a C(pa zukomme im Gegen-
satze zu platonischer und aristotelischer Doktrin, die die 6&8ai(iovta
auf die voep& C<oi^ begründe. Wir treffen hier einen Niederschlag
sehr alter Polemik, in die uns, was Epikur betrifft, auch der plutar-
chische Gryllos einen Einblick gewährt ') ; für die Stoa käme die von
Dyroff, Blatt, f. d. Gymn. 33 (1897) S. 399ff., 34 (1898) S. 416ff.,
Hobein, De Max. Tyr. quaest. philol. sei. (Jena 1895) S. 70 tt. be-
handelte Literatur in Betracht. Die Polemik gegen die Stoa bewegt
sich hier in anderer Richtung, aber hier wie dort spielt die Nator-
gemäßheit des Tierlebens eine entscheidende Rolle.
Was die Einrichtung der Kommentare angeht, so pflegt M. wie
viele unter seinen Vorgängern jeweilen zunächst den Sinn ddr ari-
stotelischen Stelle im allgemeinen festzustellen, um alsdann zur Be-
sprechung des Wortlautes im einzelnen überzugehen: Parv. 146, 33 f.
Sei Sh Tcpötepov t^v iräoav 'AptototiXooc Stdvoiav ixO^oOae. xal mxtA^ tä
icepl djy Xiiiv iTceXOsiv^. Die Stellen, an welchen in dieser Weise
Scdvota und Xdgtc einander entgegengestellt werden, sind, wie schon
oben S. 885 gezeigt wurde, sehr zahlreich. Daß es sich hier um
zwei mit Bewußtsein unterschiedene Seiten der Technik des Eommen-
tierens handelt, zeigt am besten Parv. 142, 11 ff., wo M. von den
Nachfolgern seines hochgepriesenen Lehrers klagt, daß unter ihnen
1) Der dem angeklagten Sokrates in den Mond gelegte Anssprach Soxp^njv
'A8i)vaIoi flXd^oLt filv Suvavrai, dlixf^aai li o6 S6vavTai ist eine Umformang toh Plat
apol. SOG. Das MittelgUed büdet die Formaliemng bei Epiktet u. a. (s. d. Stetten
bei Hobein, De Maximo Tyrio quaest. philol. seL p. 33) : iyii ^i 'Avuroc xal MiXi^to«
dTCOXTcIvai (jiiv S6vavTat, ßXct<{;at hk o!j (o6 S6vavTat).
2) Vgl. Usener, Epicorea p. LXX.
3) S. über dieses Verfahren auch GfGA. 1904 S. 382 f., Id06 S. 532 AbulS.
Vgl. auch Philop. in phys. 175, 26.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 899
die einen von dem Sinn dee in den Schriftwerken Niedergelegten
überhaupt nichts verstehen, itv^g S^ twv x^P^e^'c^pcov ttJc jtäv Siavoiac
If dictovtat <3icopdlSif]V, toö S& tyjv X^^tv xadiotdveiv icöpp«) icoi iicoTcXa-
vcovtaiy SXXot 6' SXXa>c. Gewöhnlich geht bei diesem Verfahren die
Besprechung der Sidvoia voraus und die der Xi£i(; folgt, doch hat
bisweilen auch die umgekehrte Reihenfolge statt, wie Eth. V 37, 7 ;
41, 20, Am. 653, 19.
Ein abschließendes Urteil über die Kommentare des M. wird
sich erst fallen lassen, nachdem festgestellt ist, wieweit er von Vor-
gängern abhängig ist und wie er diese benutzt hat. Für viele Partien,
für welche uns heute jedwede Parallele fehlt, wird die Frage unge-
löst bleiben. Für andere wird eine Vergleichung mit dem echten
Alexander, Syrian, Philoponos, den Kommentaren zu einzelnen Büchern
der nik. Ethik u. a. zweifellos Ergebnisse liefern, lieber das Ver-
hältnis von M. in eth. V zu dem Kommentar eines A(nonymu8) zu
dem gleichen Buche (Comm. in Arist. 6r. XX p. 205 ff) hat V. Rose,
Hermes 5 (1871) S. 71, ohne Begründung die Meinung ausgesprochen,
A. bilde die wesentliche Grundlage für M. Das erweist sich bei
näherer Untersuchung als richtig; nur scheint M. einen bessern Text
von A. besessen zu haben als wir. Jedenfalls steht die Priorität von
A. fest. Schon oben sind uns Stellen begegnet, an denen M. die
aristot. Darstellung durch Beispiele erklärt, die A. nicht kennt Es
ist wahrscheinlicher, daß M., dessen Vorliebe für solche Zutaten sich
aus seinen anderen Kommentaren beweisen läßt, hier Zusätze gemacht,
als daß A. gestrichen habe. Das Gleiche gilt von den eingestreuten
Bemerkungen über platonische Sätze. Auch für manche weiteren
Stücke ist wohl ein subjektiver Grund zur Einfügung durch M., nicht
aber ein solcher zur Tilgung durch A. zu erkennen. So ist 12, 5 ff.
9 ff. unter Verweisung auf die aristot. Metaphysik die Theorie von
den (lexa^t) ((t^oa) tä>y ts oovo>v6(i(i>v xal tcov (xop£o)c) 6(io>v6(io>y und
den isf Ivöc xal irpög h vor A. 213, 13 eingeschoben. Der Gegen-
stand lag M. nahe, der ihn im Kommentar zur Metaphysik (Am. 641,
17 ff.) behandelt hatte ^). Ebenso erklärt sich die Verweisung auf
die Toxepa avaXottxd 9, 30 ff. (vgl. A. 211,29) leicht daraus, daß M.
auch diese Schrift kommentiert hatte. Das Gleiche gilt von der
Quellenangabe Iv tote Toicixoic 4, 5, wo A. 206, 25 die aristot. Schrift
ungenannt gelassen hatte. Manche Zitate liegen bei A. vollständiger
oder richtiger vor als bei M., ohne daß irgendwelche Indizien für
1) Die Theorie gehört nicht Aristoteles, der an den hierher gehörigen Stellen
(met 1060 b 31 ff., lOOSaSSff.) weder der \U^ol auvo)v. x. 6{jui)v. noch der d^' h*^
xal 7tp6c h gedenkt. Michael faftt wohl auf Alex, in metaph. 241, 8 ff. Vgl. auch
Syr. in met. 54, 23 ff. \ 56, 17 ff. ; 57, 18 f.
900 G(ytt. gel. Anz. 1906. Nr. 11
nachträgliche Ergänzung oder Korrektur sprächen; vgl. A. 210, 12
mit M. 8, 11, A. 222,25 mit M. 31,32. Zu dem A. 234, 16 aas
Herodot. 5, 92 angefahrten dixauoost Sk Köptv^v setzt M. 49, 13, am
den Satz nicht subjektlos zu lassen, nach eigener falscher Vermataog
ein 6 Zs^c hinzu. Daß A. die Herkunft des Zitates gekannt und den
Zusatz gestrichen haben sollte, ist äußerst unwahrscheinlich.
Die Gleichgiltigkeit gegen die philologische Erklärung, die M.
8,11; 31,32 zur Streichung der Dichterstellen veranlaßte, tritt 46,
22 ff. in charakteristischer Weise auch gegenüber dem tod A. 232,
15 ff. beigebrachten historischen Material zutage und führt zur Kür-
zung in einer Form, die wieder das Prioritätsyerhältnis erkennen
läßt. A. führt Aristot. 1134b 21 f. tb päc XoTpo6ad>at auf einen
zwischen den Athenern und Lakedaimoniem über die Auswechslung
der Gefangenen geschlossenen Vertrag zurück, für welchen er sich
auf eine Androtionstelle beruft lieber das bei Aristoteles folgende
«6 aqa ^6eiv &XXa |i.t] 8&o icpößata hat er oder der von ihm ausge-
schriebene Vorgänger nichts finden können, und er bemerkt daher
t6 8i alfa Meiv iXXa |i'i) 86o icpößata o&x inb lotopCac tivöc elpifcau
Bei M. ist die Notiz über jenen Vertrag zwischen Athenern und
Lakedaimoniem durch Folgendes ersetzt: xal tooc cdxv^aX&voo^ nm-
Xtlv &c ßo6XovToii ol xexpaDQXÖtec xal Siä icoCcov iSidcf opov "J^v, vöfLOo ü
teddvToc (iiQf (tv^ 9ci9cpdax6iv o&x SXXooc &9C62C8oov tl ifi] 2ia (tvdc. Gleich-
wohl ist die Bemerkung über t6 Sk aqa ^oetv u. s. w., die bei A.
nur ein Ausdruck der Verlegenheit ist, jetzt nicht mehr wie Torher
einen bestimmten geschichtlichen Anlaß angeben zu können, stehen
geblieben, freilich in der etwas veränderten Form: tb ik atifa ^bscv
iXXa it-i] 86o icpößata o&x inb lotopCac (nvöc ist unterdrückt) 8tXi]«Tat,
d. h. M. hat immerhin bemerkt, daß, nachdem auch im Vorangehenden
im Unterschiede von A. nicht (otopla tic erzählt ist, das Ttvöc hier
nicht mehr am Platze sein würde.
Für die Annahme, daß der Text des A., den M. benutzte, besser
war als der unsrige, ließe sich eine Anzahl Stellen anführen, an
welchen unser Text offenbar verderbt ist und aus M. berichtigt werden
kann, wie A. 218,34 (vgl. M. 25,9); 228,32 (M. 41, 17f.); 240,6
(M. 55, 20). An der Mehrzahl solcher Stellen war freilich dem Texte
durch freie Ergänzung ex coniectura leicht aufzuhelfen. Weniger
leicht war dies A. 205, 14, wo der Fehler dem Herausgeber ent-
gangen ist. Der ursprüngliche Zusammenhang ist durch M. 2, 21 ff.
vollkommen klar. Zwei Gedanken sind zu sondern: 1. der Satz, die
Gerechtigkeit sei eine Ht^ axf* ige ßo6Xovtai ta 6(xaia icpdtteiv ist kein
6pioii.6c9 sondern eine uicoYpofH]; denn die Sixatoo6vi] gehört zu den
9coXXaxfi»e Xeiföiuva, von solchen ist es aber nicht möglich Eva Xdftyy
Commentaria in Aristotelem graeca XXn2 901
xal 6pto|iöv aTcoSoövat. Daher sagt Aristoteles &<; h TOÄcp = Jx; Iv
oTcoYpay-o (21 — 26)! 2. (Erklärung des Lemmas oo ^ap töv aotöv ^x^t
TpÖÄov xtX. p. 1129 a UflF.) Die fSetc unterscheiden sich von den
iniovfi\LOLi und 8uvd|i.ei<;, insofern diese beiden Entgegengesetztes zum
Inhalt haben (die ärztliche Kunst befähigt Gesundheit und Krankheit
zu schaffen), die ISetc nicht (26 ff.)- Von diesen beiden Erörterungen
erscheint die erste bei A. 205, 12—14 Xd^ovrat vollständig, von der
zweiten fehlt der Anfang, an den der Nebensatz inü Soxoootv at ahzal
iÄtonjjLat Tö>v IvavTicDV xtX. sich anlehnte. Die größte Wahrschein-
lichkeit spricht dafür, daß M. hier den ursprünglichen Text verarbeitet,
nicht den lückenhaften des A. ergänzt. — A. 237, 3 f. heißt es in
Anknüpfung an Aristot. 1135b 2: yoaecix; yap Svt6<; dvYj-c^c oh xöptoi
lojtev TOO inl toöto |i.t] IXdeiv avdfxiQ yap r^xoitev. Bei M. 52, 16 sind
die Worte, deren Anfang hier lautet yöoet y^P 2vt6<; dvY]Toi, einge-
führt mit der Bemerkung 8ta toöto xal 6 Tcottjrfjc slice xpooet xtX.c
Daß es sich in der Tat um eine Dichterstelle handelt, zeigt der An-
fang, der das Metrum bewahrt hat. — A. 229, 20 ff. bringt zwei Bei-
spiele, ein homerisches und ein biblisches, die sich schon durch die
Konstruktion als späteren Zusatz verraten. M. 42, 14, der sich im
Vorangehenden an A. ziemlich eng anschließt, hat sie nicht.
M. verfährt also in diesem Buche ganz nach der gewöhnlichen
Kommentatorenweise. Er wählt sich einen Vorgänger, dem er für
den Inhalt seiner Exegese Gefolgschaft leistet. Er gießt diesen In-
halt aber in seine eigene Darstellungsform, deren oben gekennzeich-
neten Eigentümlichkeiten wir auch hier auf Schritt und Tritt be-
gegnen, so, um nur zwei Punkte hervorzuheben, der Unterscheidung
des allgemeinen Sinnes einer Stelle und der Xd^c (19,19; 21,22;
24,21; 33,7; 37,7; 41,20; 42,19; 44, 24; 48, 3; 53, 35; 54, 30;
56,20; 60,20; 62,27; 66,3) und dem Fortschreiten mitekcbv...
(taöta ekwv) ini^a-is oder ind^^i (6,8; 7,6; 9,12; 12,28; 13,24.
32; 14,21; 18,24; 43,4; 44,4; 46,16; 51,10). Aber auch im In-
halt macht er Zusätze (s. o.) und Streichungen, je nachdem ihn eine
Frage interessiert oder nicht. So ist die Erörterung darüber, daß
und mit welchem Recht Aristoteles die spezielle Gerechtigkeit |i.dpo<;
und nicht elSoc der Tugend nenne, A. 215, 13 ff., von M. unterdrückt.
Die Erklärung liefert M. 3, 27 flf. MdXXcDv Setxvostv Zxi icoXXaxwc "fi
StxatooüVT] xal loTtv t^ jiiv Äc SXov t^ xadöXoo 8t7catoo&VY], t^ 8^ <S>c
Itdpog, fi ii ji^v ö><; Y^voc 1^ 8' &<; 6l8oc (ttv^c {t^v ^ap rriv xadöXoo
8ixatoo6vY]v ^ivoc iTceyiijvavTO njc av8p{ac xal töv Xoitcäv tpuüv apetöv,
Tiv^g 8^ ob Y^vo? iXX' 8Xov) xtX., d. h. die Frage ist für ihn nicht
entschieden, und er muß sich mit der Mitteilung der einander wider-
sprechenden Ansichten begnügen.
GöU. foL Am. 1900. Nr. U 63
iu0t imi ate B nt
Iktamur ^m^ yuim
auiimr. J!ftr^ nofer
Vsirfeji »1IÄ JfaiL I v'l 111
'jiMi(f»m wMe^sn^ tfiala ''. liit uhst iik
/lan :ii 'if mt ipiiosr T^'^kcmsr, It»
iMiirfM K/ic;änaimL wie» Ijl ill 141:
f>!9^/ Atkdim ^an^Azt dies« HfyKkeK
5v!^ ihm h^ H. 4m glekfe Pchm ait PicA»^
Mkbi^ VtnvnakßA (U/Jl^U/:^.
tr^/f^Ah ^*m EpbcMi mwiAt. Ib dieser Scdtaag kat er bbA aOi&b
mm« KtmmeuUre rerfifit mid ack deshilb dem Bmwm >der
KptMMkr< g^gdks. Dagegai sprieht scbos die ZosirBastieile \\^A9
\f lUfm^to iMft keio fjrmad tot, Panr. «2,4 ■dt Weadluid (laia s. ▼.
WA9//fJ^/iß uttOir 4^sm Wyhx/sj/^ itsm n Tcntdbea. Ef kiadeh sick «■ da nr-
«t//ft/4»i«n I>!^r^ d«r VhSUg&o^M^ 6a wit \aa (Z) jjiwwjljuu xxt^^vpar* so 143,5
*l) S^, VftI, K^if«, J>e Arittot lihr. aid. ct aoctor. p. 148.
»; VftI, Hz/M a. a. 0, mißfersleht djw ledi^ich indrndiialisiemde (Bowtz,
Iii4i;ji Arkt/zt. p. 41f& •, v, Oc) tt^?^ Pg. 2S,7, weon er au der SCcDe anf Ab-
fa««uiiK in Atben scbJleftt
4; Nimmt man dan Wort fan Sfama voo »SCndlengenoaae« mid setzt vaii da-
M ann&ii«;md« OleirbaltrigkeH roraas, so wire au Parr. 85,6ff. za folgera, dal
M. «ebon in ju({endlirbem Alter tlcb der Pbilofophie widmete, da ein Hmpoc ▼<»
Ibm Jung uml daber ftfXivK iv ^^^(^ t^^vouc xct«pcßXi^x«>c gestorben ist.
h) H. dii) Indices s. v. Mr/a^X and oben 8. 866.
0) Ich entnebme dies aus Leo Allatias, Diatriba de PselliSy Migne Patr. gr.
torn. Vn p. 49H. Ilier auch die im Texte gleich folgende Hypothese dee AOatios.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 903
p. 229,26 Dind.), auf die Allatius sich beruft: ...^-ffpt^ oovoSix'q
|ii]Tpo7coXic7]c 'Ey^ooo X6xetpotövr|to xal &nai yotTi^oa<; Ixei ina-
v^Xds xal iv Tj TOO Mavooi]X iiovg iTcotelto div SCat-cav. Die Zeit des
einmaligen Besuches in Ephesos reichte zu der umfangreichen Schrift-
stellerei des M. nicht aus, und nach seiner Rückkehr wird er sich
kaum auf grund jenes vorübergehenden ephesischen Aufenthaltes
Ephesier genannt haben. Daß wenigstens eine Stelle in Eth. X auf Eon-
stautinopel als Abfassungsort führt, ist oben bemerkt worden. Ferner
heißt es bei Zonaras im Anschluß an die oben ausgehobene Stelle:
Iteta 6^ tö TÖv BotaveidtTjv -cfjg ßaoiXeCac ixTcsTctcöxivat dvijoxcöv ootoc
6 Mixa'JjX xtX., d. h., wenn darin eine Zeitangabe enthalten sein soll,
Michael starb unmittelbar oder doch jedenfalls nicht sehr lange nach
dem Ende der Regierung des Botaneiates. Letzteres fällt 1081. Da
M. 1078 abdankte, müßten also seine Kommentare in nicht viel mehr
als drei Jahren verfaßt sein, was recht unwahrscheinlich ist. Dazu
kommt noch, daß die Kommentare des M. wahrscheinlich nicht ein
Erzeugnis schriftstellerischer Muße, sondern einer mündlichen Lehr-
tätigkeit sind, wie wir sie für Michael Parapinakes kaum voraus-
setzen dürfen. Die handgreiflichen Spuren des mündlichen Vortrags
sind freilich bei der Redaktion, der das Konzept zum Zwecke der
Herausgabe unterworfen wurde, im allgemeinen verwischt worden.
Doch ist mir ^ine Stelle begegnet, die ihrer Natur nach sich einer
Umänderung widersetzte und daher, wollte man sie nicht streichen^
in ihrer ursprünglichen Form belassen werden mußte. Die Behaup-
tung, daß Flößen auf der Vorderseite breiten Fischen zum Schwimmen
nichts nützen, wird Part. 96, 5 ff. folgendermaßen veranschaulicht:
&07C6P Y^p ei ^v ^8e i^ d&pa Ix^&C» et^X^ Si iv tcp icpavei zä. icte-
pu^ia, oh% &v ^TctovTO too oSatoc • . . ., ooto> xal Iv Ixslvoi^ ai)|Lßaiv6tv
Ubi. Aber auch wo solche Spuren nicht zutage liegen, wird der fein-
fühlige Leser doch oft den Ton der mündlichen Rede durchklingen
hören, wie beispielsweise Parv. 142, 16 ff.; Eth. X 598, 20 ff. Die
Nonchalance, mit der M. an letzterer Stelle Aristoteles sich und
Piaton den Epikureern und Stoikern gegenüberstellen läßt, bildet
das genau entsprechende Gegenstück zu der G6A 1904 S. 390 be-
sprochenen des Olympiodor. Daß Hin- und Herverweisungen in zwei
Schriften und die Vorliebe für Epanalepsen auch nach kurzen Schalt-
sätzen vielleicht mit dem Ursprung der Kommentare in der münd-
lichen Exegese in Verbindung zu bringen sind, wurde schon erwähnt.
Hingewiesen sei auch darauf, daß der achtenswerte Parisinus 1843
den Kommentar zu den ZofioT IX. überschreibt azb ^cdv^c FX^^l^
fiXoGÖfoo TOD ifea(oo^).
1) Vgl. Comm. in Arist Gr. US p. VI Anm. 8.
63*
Vm ivi «Im; der FbikMKiplueprofefiBor. mil dem wir « zs tsn
biJ>tf;ci. IM«$ fiibrt vott Allathis" V^nnitimg ib «of erne sndsR Spvr.
4k freilkb «.oeb bald genug im Sude Teriiiift Mmn ennneBl aA
«off/rt d4fr iffi dften itbrfaoodert neabegr&Bdeten Akademie, u der
tlt$ <;nrt4^r Hiikwopbieprofemor Psellos, als demen Kacfafolger Jdmms
lUUm wirkte. In dienern Kreise, auf dem Kathedo- imd nicM auf
dem liinchoüwUAUs oder im Kloster wird man den Ephesier zu sad«
habefi. l^rüft man in dieser Ricbtong, so ergibt sich manches, wis
di^r Vi^rmutung günstig ist. Eine gewisse Wärme bridit herror.
wenn M, auf Kragen des Unterrichts, besonders des philosophischai,
/u Mpri^^hen kommt, wie Parv. 142, 7 ff., Eth. X 467, 22flE.; 612,33iL
Vgl. auch Ktb. X 610, 11 f Wichtiger ist, dafi die gleiche Yerbm-
durig von AriKtotelismus und neuplatonisch gefärbtem Platonismns^
wto kIo fUr jono Akademie charakteristisch ist^), ihren Niederschlag
auch in M.h Kchrifton hinterlassen hat. Zahlreiche Anführungen ver-
raton, wii) wir schon oben sahen, sein Interesse für Piaton. Dafi
di«N()H abor nicht lediglich aus der Beschäftigung mit den platonischen
Workon Keine Nahrung zog, beweist die Umformung der platonischen
Lohrvi, die auf eine späte Zeit hinweist und bei M. sich daraas er-
klllrt, daü er von dem Botrieb der platonischen Stadien in seiner
nigonon Umgebung abhängig ist. Die 6|i.o[(doi<; dec^ xard t6 Sovatdv,
die In der Zeit, dos Eudoros, als nach stoischem Master nun auch
dor PlatoniNmuH sein tiXoc sollte angeben können, als ein solches
auf grund von Thoaet. 176 B an die Spitze des Systems trat und
dtoHon Platz fortan behauptete'), findet sich in dieser Rolle wie
X. n. bei Psollos 720 D; 722 A so auch bei M. Eth. X 579,4;
Attl, 2!). In Anknüpfung an die aristotelische Hochschätzung der
l^i»(i(oi wird diese 6|Lo((i>atc ^t^ an der ersteren Stelle der d^mpTf
i ttx9) •i\fittt|i.ov(oi gleichgesetzt. Gleichfalls im Anschluß an Aristoteles
hoiüt aio dio otxpotdn] rl)c I^^X^C ivip^sia. Eine neoplatonische
Färbung orhält sie dadurch, daß sie mit der Svcmrc sp^ m %psixzm
\) Vffl Knimbachor, (^e«ch. d. bji. Litt* S. 429 and die dort
UlMutur,
ü> U«lof9t<vll<Mi liiid«B sich in Fülle. Mab veifleidK etw» Eador» (Ar.
\M) h Su>K Kci 114^.9, AlbiB ^ 151.4, Heim. (Sd^Läl Ficni.): isa,7;
ISt.h^tr U<^rm.« l<A(^rt. IHog, $,7S; Anoa. Komm, in PUt. TkeaeL ber. t. Dieb
n SoKuhMl vlVrUn«r KU»ikeit«xti^ 11) ccO. 7, l$f^ Clem Alex. ttroBL ä.lSl p.
i^ V, rKNtiii K;:^. 1 C. Ammoa. in PcaiOL isafr. 3.Sf.. EU» Pr;^. }Ulii&. l«.ia
IVaxüI l^^^^^ )^iU%^ Itv^N; IS.^: :li\:£^ Xmf^ Hemm «fo. kf ;vm«. 4
|v :^)\ C M^pMv B^ BxAAiituMni uacki pdepwäiA «Mk 4a. wt a»
^'b^ i^^'hiM «ur jB^trnA virl didw IVauuik« aat iifl Geoct. Akng^ «d. ]
>^^n\^' «»a daf« KtiAs d4.;itlC, IHHd 1«.^C. A»im Tim d.
I^utm. IN$. JMi»cltr. 14 OÄW Sl 315l.7r
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 905
identifiziert wird. Weiteres Neuplatonische fijudet sich mehrfach, so
Eth. X 591, 21 f. (S5o|i.oto5v laoTooc toic a*avdTot<;, talc vot]Tat<; StiXaS-Jj
xal vospaic oTcdp^soiv); 533, 22ff. (besonders 33ff.)> ^^- 600,26;
714, 19 if. u. Ö. Plotin wird Eth. X 529,21 zitiert.
Bleiben wir nun im Kreise der byzantinischen Akademie, so tritt
uns sofort als deren Hauptgestalt wieder Psellos entgegen, und es
fragt sich, ob sich Beziehungen M.s zu ihm wahrscheinlich machen
lassen. Die Hypothese des Leo Ällatius taucht also wieder auf, aber
mit der Modifizierung , daß es sich jetzt nicht mehr um Psellos'
kaiserlichen Zögling, sondern um einen aus seiner Schule ins Lehramt
übergetretenen Schüler handelt. Li dieser Form hat die Hypothese
Zustimmung gefunden^). Die Uebereinstimmungen zwischen Psellos
und M., auf die man hingewiesen hat ^, ließen sich leicht vermehren.
Von der 6|i.oi(Daic dec^ war soeben die Rede. Die Unterscheidung
der ethischen und politischen Tugenden, die nach Eth. X 578, 15 f.
den Piatonikern eignet, während für die Peripatetiker die ii^ixii und
die TcoXitix'i) ipsx-fi zusammenfallen, kennt auch Psellos p. 717D. Wenn
femer M. Eth. V 7, 16flF. die yootxi] ipsti^ und die •Jj^tx-jj apeti^ als
besondere Stufen unterscheidet (wie früher z. B. schon Elias prol.
19,32) und die letztere charakterisiert als itsTa^povi^oecDcxal
6pdoö Xöfoo ojcoiLsveTix-i] zm \i^'(i(3X(üy iv toi<; 7coXd|ioic xivS&vcdv, so
findet auch dies eine Parallele bei Ps., der p. 717D die ^oaix'J) und
'^dixT] ipsxii als die beiden untersten Xugendstufen bezeichnet und,
allerdings nicht die ii^iY.% wohl aber die zunächst folgende tcoXitix'))
ipstT] als [teta Xö^oo xal ypovi^oecix; xaTopdoo|i.dv7] beschreibt, während
nach p. 720 B die rjdiXY] aperf] äicb fipoviQoecix; |i.^v Tcpöetoiv, oo itdvtoi
{teta fpovi^oscDg Ivsp^el. Eine bemerkenswerte Uebereinstimmung be-
steht zwischen M. Eth. X 578,18flF. und Ps. 722 B. An ersterer Stelle
heißt es in Ausführung eines schon dem antiken Piatonismus geläu-
figen Gedankens (Ammon. in Porph. Isag. 3,10; 4,9; 11,12, David
Prol. 17,12): Iv jt^v t<^ Tcpmcp ßißXicp sks Tcepl TcoXtttxTjc eoSai-
|iov[ac, xad' f)v 6 TcoXittxöc 668ai|Wüv xoa|i.ei ta /sipcD tcp Xö^Cj)
(wie das Folgende zeigt, handelt es sich dabei um das itstpeiv
ta 7cd*T]')), Iv TOOTcp 8^ Xd^st Tcepl tf)<; dscopYiTtx-^c 668at|i.ovCa<;
xtX. (vgl. auch 580, 8 ff.), bei Ps.: i^siSi] y*P> ?^oiv (sc. 6 IlXdtcDv),
6 deöc 8tTrJ]v l/^t div Ivdpvsiav, div xad' f^v Iv decopiof töv SXcov
loTt . . . njv 61 xad' ^v töv x^^P^^*^^ Tcotsttat t^jv Tcpövotav, 8td
Tauta xal 6 £vdpo>9coc |i.i|i.o&|lsvoc töv deöv Iv |lIv Taic TcoXttixaic
1) So nennt auch Krambacher , Qesch. d. byz. Litt. ^ S. 430 Michael einen
Schüler des PseUos.
2) S. darüber Wendland, Praef. zu Par?, p. VI Anm. 3.
3) Vgl. dazu Plotin 1, 2, 2.
906 Qött. gel Anz. 1906. Nr. 11
ipe-caic liciotpdystat icpöc 'ci rjSe xal xoojLet tooc xataSeeotipooc
Tale itsTpioTcddeiav ^ epoooaic apsTaic, iv 81 tip dscopetv avaßac
xtX. Wer suchte, würde solcher Berührungen wohl noch eine ganze
Reihe aufdecken. Leider lösen sie das Problem nicht, weil be^ dem
derzeitigen Stande unserer Kenntnis eine Scheidung 46ssen, was
Psellos eigentümlich ist, von dem, was der gesamten Philosophie
seiner Zeit und Richtung gehört, nicht möglich ist. Auch wird es
geraten sein, auf der andern Seite die Diskrepanzen zwischen M. u.
Ps. nicht zu übersehen. Letzterer geht in der Berücksichtigung des
Neuplatonismus viel weiter als M. So ist in der p. 717 C ff. (omnif.
doctr. c. 48 flF.) ausgeführten Tugendlehre, in der es freilich an Wider-
sprüchen nicht fehlt, die höchste, über der theoretischen liegende
Stufe der Tugend die theurgische (c. 49 p. 720 A ; vgl. auch c. 55
p. 721 D; dagegen bilden allerdings c. 48 p. 717 C die d6o>pT]Ti)cat
xal voepaC die Spitze), M. Eth. 579, 6 fif. wird die decDpTjtix'J] 6^Sai|iovia
ausdrücklich als xö äixpöxaTov xal TsXeidtaTov i^ficov tiXog bezeichnet,
womit für die deo>p7]T. ipetnj, in der die dscopi]!. 6oSai|iovia beruht,
eine analoge Stellung gegeben ist. Ps. 726 D 728 A kennt die sechs
akiai, die ein Teil der Neuplatoniker aufstellt ^), M. (an verschiedenen
Stellen der Kommentare, s. d. Indices) nur die vier aristotelischen
in der später üblichen Terminologie. Selbstverständlich liefern diese
und zahlreiche andere Dififerenzen nicht den Beweis, daß M. nicht
der Schüler des Ps. gewesen sein könne, aber sie vermögen doch
den Uebereinstimmungen , insofern diese als Argument für diese
Schülerschaft benutzt werden, einigermaßen das Gegengewicht zu
halten.
Die Frage ist also noch nicht spruchreif, und M. bleibt seiner
Persönlichkeit nach vorläufig im Dunkel. Aber wie in byzantinischen
Dingen überhaupt, so ist auch hier von der Zukunft noch Licht zu
erhoffen. Material, das die Lösung der Frage in sich bergen könnte,
ist massenhaft, teils unediert oder schwer zugänglich, teils ungenutzt,
vorhanden. Von Psellos ist der in Frage kommende Nachlaß noch
nicht vollständig herausgegeben, und eine Sichtung des Publizierten
und seine Verwertung für das philosophische Bild des Psellos ist
noch ein frommer Wunsch. Von Johannes Italos ruht das meiste noch
im Staube der Bibliotheken, von Späteren, wie Theodores Metochites
u. a. ganz zu schweigen. Für jetzt sind wir der Leitung der Samm-
lung der Aristoteleskommentatoren auch dafür zu Dank verpflichtet,
daß sie durch die Aufnahme des schon wegen der Ausdehnung seiner
aristotelischen Studien bedeutsamen Michael für die weitere Beschäftig
1) Vgl. GGA. 1905 S. 534.
Commentaria in Aristotelem graeca XXII 2 907
gung mit dem Aristotelismus byzantinischer Zeit eiuen Erystallisations-
punkt geschaffen hat. Wer mit UsenerO das Verlangen nach »noch
etwas mehr Byzantinern« als berechtigt anerkennt, könnte seinen
Wunsch jetzt, da die Sammlung nahezu abgeschlossen ist, in die
Form kleiden, daß die Berliner Akademie unter die Schriften, die
mit ihrer Unterstützung außerhalb jenes Corpus, aber in Ergänzung
desselben herausgegeben werden, auch solche des Psellos und Johannes
Italos einreihen und damit dem Studium einer in mehrfachem Be-
tracht nicht unwichtigen Periode byzantinischer Philosophie eine
Grundlage schaffen möchte.
Bern Karl Praechter
Walter Altmann, Die römischen Grabaltäre der Kaiserzeit. Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung 1905. 806 S. Gr. 8 <> mit 208 Abbildungen im
Text und 2 Heliograyüren.
Es bedarf einer Erklärung, wie ich, der neuere Kunsthistoriker,
dazu komme, die Arbeit eines Archäologen an dieser wissenschaft-
lichen Stelle zu besprechen. Zunächst liegt eine Aufforderung der
Redaction vor; aber die hätte ich ablehnen können. Wenn ich das
nicht tat, so geschah es aus prinzipiellen Gründen. Nach meiner
Ueberzeugung ist das, was wir akademisch »Archäologie« und »Kunst-
geschichte« nennen, im Wesentlichen ein Fach. Die Trennung ist
eine rein chronologische, System und Methode sollten in den Prin-
zipien wenigstens durchaus die gleichen sein. Ich kann keine Kunst-
historiker brauchen, die von der Kunst des alten Orients und der
Antike zu wenig wissen und ähnliche Ansprüche sollte der akade-
mische Vertreter der sog. Archäologie an seine Schüler stellen, so-
weit die neuere Kunstgeschichte in Betracht kommt. Das Hauptge-
biet der klassischen Archäologie war immer die antike Kunst. Mit
den Realien beschäftigen sich heute die Philologen, Historiker und
Epigraphiker mindestens ebenso eingehend wie früher die Archäo-
logen; dadurch haben diese letzteren, sollte ich meinen, soweit freie
Hand bekommen, daß sie mit einem gewissen Stolz in voller Unab-
hängigkeit den großen Problemen ihres eigensten Faches nachgehen
können. Es gibt bereits mehrere Vertreter dieser Art an unseren
Universitäten. Da die vorliegende Arbeit an der Grenze zwischen
Archäologie und dem, was ich Kunstwissenschaft nenne, steht, so
1) GGA. 1892 S. 1008.
908 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 11
eignet sie sich trefflich dazu, einige Gesichtspunkte geltend zu machen,
die sich dem neueren Kunsthistoriker beim Beschauen des herrlichen
Materials, das uns hier vorgelegt wird, einstellen.
Ältmann hat sich 1899 mit einer Arbeit über Architektur und
Ornamentik der Sarkophage eingeführt. Von diesem mageren Büch-
lein sticht der vorliegende stattliche Band sehr auffallend ab; es ist
A. zum Bewußtsein gekommen, daß mehr als alle Worte im Gebiete
der bildenden Kunst die Anschauung wirkt. Schon das flüchtige Durch-
blättern reizt den Appetit, gibt dem Beschauer unabhängig vom
Autor eine Vorstellung der zu behandelnden Denkmäler und regt
ihn zu Fragen an, für die er in dem Buche Antwort sucht. Wo
haben wir nur unsere Augen gehabt! Ueber den Statuen selbst
wurden ihre Postamente vergessen; indem wir den Blick gewohn-
heitsmäßig nach vorn und oben richteten, blieben die unten vor den
Wandsockeln stehenden Denkmäler einer > artigen < Schmuckkunst
unbeachtet. Die vorzüglichen, in einem ohne weitere Unter-
stützung erscheinenden wissenschaftlichen Buche auffallend zahlreichen
Abbildungen regen an, die Museen einmal auf diese Dinge hin durch-
zumustern. Im Lateran hat sich mancher schon früher in dieser
Richtung angeregt gefühlt; auch die Galleria dei candelabri hätte
dazu helfen können, wenn nicht der Aerger über die glatten Er-
gänzungen, die für Augen, die Originalität empfinden, unerträglich sind,
alle Freude am Problem im Keim erstickt hätte. Geht man jetzt
durch die Inschriftengallerie in die eigentlichen vatikanischen Samm-
lungen, oder durch das Thermenmuseum, die kapitolinischen Museen,
die Uffizien oder das Museo Borbonico, dann drängt sich eine
solche Fülle wertvoller Zeugen einer blühenden Kunstindustrie auf,
daß wir Altmann dankbar sind für die Erschließung einer Welt, die
bisher unter dem Blickniveau geblieben war. Es ist ein Vorrang
der alten, inmitten großer Ruinenstätten entstandenen Museen, daß
sie — was wir jetzt wieder bewußt anstreben — eine malerische
Anordnung der Denkmäler bringen konnten: Frau Venus erscheint
nicht isoliert auf einem modernen Sockel, sondern wird getragen —
eben von einer römischen Grabara.
Die Methode, die A. eingeschlagen hat, ist scheinbar die ge-
wöhnliche >ikonographische<, wie sie der neuere Kunsthistoriker nennt,
die Vorführung nach Typenreihen, sagt der Archäologe. Der Weg ist
der, daß man zunächst einen möglichst vollständigen Katalog zu-
sammenzubringen sucht und dann nach äußeren Gesichtspunkten
ordnet. A. hebt also nach Behandlung der bedeutendsten Fund-
gruppen — der Grabaltäre der Pisones und der Volusier, sowie der
Altmann, Die römischen Grabaltäre der Kaiserzeit 909
Aschengefäße der Platoriner — zunächst das Guirlanden- und Bu-
kranienmotiy heraus, dann die Verzierung mit Widderköpfen, die
Verwendung von Ammonshörnern, Victorien und Eroten, ferner mit
Fackeln, Dreifüßen, Kandelabern und Palmen, endlich mit friesartigen
Umrahmungen, Säulen, Larenaltären und der corona civica. Den
Schluß bilden die figürlichen Darstellungen : Totenmahl und Familien-
szene, statuarische Typen und die Masse des übrigen. Ich gebe zu,
daß auf diese Art rasch ein Ueberblick über das Gegenständliche des
Schmuckes gewonnen wird und die Anordnung auch ungefähr (wie
man aber erst am Schluß erfährt) der tatsächlichen Entwicklung ent-
spricht. Ist dieser Einteilungsgrund aber ein künstlerischer, haftet
ihm nicht vielmehr recht auffällig die philologisch - archäologische
Tradition an? Es handelt sich dabei doch lediglich um die sakralen
Voraussetzungen für die Entstehung des Schmuckes und es ist be-
zeichnend, daß das künstlerische Hauptmotiv der ganzen Gruppe, die
schlicht auf die Fläche gelegten Zweige, bei dieser Einteilung völlig
unter den Tisch fällt — mit Unrecht wahrscheinlich, auch wenn ich
nur vom Gegenständlichen ausgehe.
A. hat diese Denkmäler-Gruppe vielleicht mit auf Hülsens An-
regung vorgenommen, der auf die leicht zu datierenden Inschriften
hinweisen konnte und wie fertig das Material im CIL eigentlich bereits
gegeben sei. Wie, wenn A. nach einer Einleitung über das Gegen-
ständliche, ein Thema, das jetzt fast sein ganzes Buch füllt, zunächst
an einer Auswahl der besten datierten Stücke gezeigt hätte, wie
diese Denkmälerklasse von ihrem frühesten nachweisbaren Auftreten
auf römischem Boden bis zu ihrem Aussterben sich in ihrem künst-
lerischen Werden und Vergehen darstellt? Es wären dabei sofort
einige entwicklungsgeschichtlich wertvolle Tatsachen, die man sich
jetzt zwischen den Zeilen zusammensuchen muß, ins richtige Licht
gekommen. Die Grabaren füllen ungefähr den Zeitraum des ersten
Jahrhunderts n. Chr., gehören also der besten römischen Zeit an^).
Die für den Kunsthistoriker wichtigste Tatsache ist die, daß diese
Aren, die Leichenverbrennung voraussetzend, mit diesem Brauch auf-
hören und im IL Jh. den Sarkophagen weichen. Im allgemeinen läßt
sich also sagen, daß die Gruppe der Aren durch die der Sarkophage
abgelöst wird. Und dieser Eonstatirung folgt gleich eine andere.
Der Grundtypus der Ära ist ein ornamentaler, die Sarkophage da-
gegen bevorzugen weitaus die figürliche Darstellung. Es ist nun sehr
1) Nebenbei sei erwähnt, dal eine datirte Grabara im Museum zu Aquileja
(Secundo Ti Claudi Caesaris Äug Germanid servo etc.) einen Akanthusrahmen
und seitlich Kandelaber zeigt.
910 Oött gel. Anz. 1906. Nr. 11
merkwürdig, daß die Ära in ihrer Entwicklung deutlich die Neigung
vom Ornament zur Figur erkennen läßt, also künstlerisch die Sarko-
phage vorbereitet. Diese Tatsache widerspricht der von mir ange-
stellten Entwicklungstrias: Pergamenischer Altar — Ära pads —
Mschatta (vgl. Jahrbücher für das klass. Altertum 1905 S. 21) und
hätte Gegenstand eingehender Untersuchungen sein müssen. Wie ist
es möglich, daß die hellenistische Gesamtentwicklung von der antiken
Figur zum persisch-syrischen Ornament drängt, auf dem Gebiete der
Sepulcralkunst in Rom aber während der Kaiserzeit sich die ent-
gegengesetzte Tendenz geltend macht? Liegt das an Einflüssen, die
außerhalb des rein künstlerischen Gebietes zu suchen sind, etwa in
einem absichtlichen Betonen des antiken Mythus gegenüber den nea
auftauchenden und immer mehr an Boden gewinnenden halb orienta-
lischen, synkretistischen Kulten? Beginnt also schon im n. und HL
Jh. jener Rückstoß, der die wunderbarste Blüte hellenischer Kultur,
die Freiheit der Kunst bricht und diese in ihre alte orientalische RoDe
als Dienerin der Mächtigen in Staat und Kirche zurückverweist? Die
Ansätze zu diesem Umschwung würden dann wohl in den Residenzen
der Diadochen zu suchen sein.
A. nimmt an (S. 287), es sei die in flavischer Zeit infolge der
fabelhaft üppigen Dekorationskunst eintretende Uebersättigong ge-
wesen, die einem Bedürfnis nach Inhalt und Darstellung Ranm ge-
macht hätte. Es wäre also eine sehr oft wiederkehrende entwicklungs-
geschichtliche Gesetzmäßigkeit, die sich in dieser Zeit, wie später,
etwa beim Tode Louis XIV. geltend machte. Voraussetzmig fireilich
wäre, daß Rom um 100 n. Chr. eine ähnlich starke, anf sich selbst
gestellte Kunstströmung besaß wie Paris sechzehnhundert Jahre später.
Das aber dürfte nach meinen Erfahrungen schwerlich zutreffen. Der
Archäologe Altmann geht m. E. von einer Annahme aus, wie sie auch
den Kunsthistorikern Wickhoff, Riegl und Schmarsow gemeinsam ist,
er rechnet mit einer griechischen Kunst, der eine römische gefolgt
sei. So einfach liegen die Dinge nicht. Die eingehende Beschäfti-
gung mit den Anfängen der christlichen und islamischen Kunst haben
mich gelehrt, als Untergrund der Entwicklung dieser späten Kunst-
kreise weder mit der einen, noch mit der andern zu rechnen. Was
für die Jahrhunderte um Christi Geburt in Betracht kommt, ist viel-
mehr eine zwischen den beiden eigentlichen Polen der alten Kunst,
Hellas und dem Orient, differenzirte Reihe von Kunstzentren, von
deren Mannigfaltigkeit wir heute kaum noch eine Ahnung haben.
Ich dachte früher in erster Linie an die hellenistischen Großstädte
am Mittelmeer, voran Alexandreia und Anüocheia, dann Klemasiea
Altmann, Die römischeo Grabaltäre der Kaiserzeit 911
und Nordafrika ; dazu aber sind jetzt die mehr orientalisch gefärbten
Hinterlande und neuerdings vor allem Seleukeia am Tigris und das
Städtedreieck Nisibis-Edessa und Amida im Norden gekommen (Jahr-
buch der preuß. Kunstsammlungen 1904 S. 324 f.). Hinter dem allen
dann noch Persien und das centrale Asien mit Indien und China. So
lange wir die Kunst dieser Gebiete nicht kennen, läßt sich nicht
über römische Denkmäler arbeiten, weil Rom, wie später Byzanz und
noch später Bagdad als Sitz des Hofes und der Zentralbehörden die
Kräfte aus allen Teilen des Reiches aufsog und vor allem auf dem
Gebiete der bildenden Kunst einem Polypen gleicht, der seine Fang-
arme heute nach dieser und morgen nach einer anderen Richtung
ausstreckt.
Ich freue mich, diese Anschauungen bei einem Manne bestätigt
zu finden, der am längsten von uns allen inmitten der römischen
Denkmäler lebt, bei August Mau. Auf dem Boden Pompejis ge-
wann er die Ueberzeugung (Pompeji S. 448), daß die Kunst auf dem
Gebiete der figürlichen und landschaftlichen Malerei schon vor den
für Campanien in Betracht kommenden zwei Jahrhunderten ihr ganzes
Können erreicht habe und nur noch eklektisch von den Errungen-
schaften der Vergangenheit zehre. Und für die vier Omamentstile
nimmt er S. 458 f. an, daß der dritte sowohl wie der vierte unab-
hängig von einander auf den zweiten Stil zurückgingen und zwar
in der Art, daß während in Alexandreia der zweite Stil in den dritten
überging, in einem anderen Zentrum des Ostens, etwa in Antiocheia,
eine parallele Entwicklung den vierten Stil gezeitigt haben mochte.
Dies sei wenigstens der wahrscheinliche Hergang. Ermüdung am
dritten Stil habe in Rom zur Annahme des vierten geführt. Man
sieht, wieder wird dieses Auskunftsmittel angewendet ; möglicherweise
mit ebensowenig Recht, wie bei der Geschmacksänderung am Schluß
der flavischen Zeit. Die Diagnose Antiocheia an sich trifft vielmehr
wahrscheinlich das Richtige, wie ich an anderer Stelle zeigen zu
können hoffe. Der alexandrinischen Mode folgte die antiochenische.
Auch die römische Grabara bezw. der Sarkophag schließen z. T. an
diesen den Verlauf der Kunst im ersten Jahrhundert bestimmenden
Moden Wechsel. Wie A. (S. 287) dazu kommt zu sagen, das ganze
erste Jahrhundert hindurch habe eine große Beständigkeit des Ge-
schmackes geherrscht, kein Verlangen nach raschem Wechsel der
Formen,, das verstehe ich nicht.
Die Grabaren zeigen eine Gestalt, die von alters her tektonisch
als Untersatz, >Postament< gebräuchlich war: ein vierseitiges Prisma
mit angearbeitetem Fuß- und Kopfprofil. In hellenistischer Zeit wird
912 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
im Anschluß an die Architektur die plastische Hauptgestalt und ihr
tektonischer Unterbau auseinander gesprengt: der Untersatz wandert
unter die an der Straße stehende Säule, die Büste oder Statue wird
vor der Säule auf einem Consol aufgestellt. Die Säulenstraßen von
Palmyra z. B. geben den charakteristischen Eindruck (vgl. dazu auch
Beiträge zur alten Geschichte II, 103 f.). Bei der Ära erscheint das
»Postament« selbständig, soweit nicht das darauf darzubringende
Opfer es doch wieder zum Unterbau herabsetzt. Der schmückende
Handwerker empfindet die vier Flächen des Prismas weder als archi-
tektonische Eonstruction , noch als Vorbereitung eines plastischen
Organismus, er läßt sich gehen, materialisirt die am Altar ge-
brauchten Opferbeigaben und Geräte, wie unsere Dutzendbildhauer
heute noch, taub gegen alle Proteste, Mädchengestalten plastisch neben
das Postament stellen und sie bekränzend an die Büste herantreten
lassen. Was mangelt, ist das eigentliche künstlerische Gefühl für die
einheitliche Raumform. Alles sieht sehr appetitlich aus, aber diese
Grabaltäre bleiben doch ein sonderbares Mittelding zwischen Natur
und Kunst: sie stehen im Zeichen jener Vortäuschung der Wirklich-
keit, die im Gebiete der realistischen Malerei aufkommt und alle
Formprobleme raffinirt ausnutzt, die Hauptsache im Rahmen des
älteren griechischen Reliefs aber, unzweideutige Raumschichten bei
überall senkrechter Blickrichtung zu geben, ganz beiseite läßt.
Diese Art ist nicht erst römisch, sie entwickelt sich in helle-
nistischer Zeit und es scheint, daß Pergamon auch daran Anteil hat
Ich danke zwei wertvolle Hinweise F. Winter. Er klärte mich
darüber auf, daß ein prachtvoll dekoratives Stück, das mir im Mu-
seum zu Konstantinopel aufgefallen ist: ein Akanthusstamm , nach
beiden Seiten je drei Zweige entsendend, eine Balustrade aus Perga-
mon und zwar aus der Altarzeit etwa sei. Da finden sich die Lieb-
lingsmotive der römischen Grabara, der Lorbeer-, Eichel- und Wein-
zweig, die Aehren-, Granat- und Mohnmotive völlig, auch stilistisch,
in gleicher Art entwickelt. Auch sind unten an den Rand, sagen wir
in den Schatten der Zweige figürliche Motive, so eine Frau auf einem
Löwen reitend gesetzt. Und mehr: beim Durchblättern der Tafeln
für den neuen von Winter vorbereiteten Band des Pergamonwerkes
stießen wir auf eine Rundara, die inschriftlich genau datirt ist in die
Zeit Eumenes II. (197 — 159) ^) . . . Sie zeigt Guirlanden von einer illu-
sionistischen Kraft und Mannigfaltigkeit der Früchte und Blätter, gegen
welche die Fruchtschnüre der Ära pacis eintönig wie schlechte Copien
wirken. Wo bleiben da die phantasievollen Neuerungen, die A. 289
1) Die Tafel wird in Bd. YII erscheinen. Die Inschrift steht Bd. Yin, I, 131.
AltmaDn, Die römischen Grabaltäre der Kaiserzeit 913
annimmt, jenes gleichartige Streben, mit der er die römische Kunst
von dem hellenistischen Osten freimachen möchte.
S. 285 f. wird ein Punkt berührt, der uns Kunsthistoriker leb-
haft interessirt, die Frage der Entstehung neuer Schmuckformen
durch Uebertragung aus einem Material in das andere. Hauser hat
auf die Verwandtschaft zwischen augusteischer Marmor- und gleich-
zeitiger Stuckplastik hingewiesen und nimmt letztere und Alexandreia
als Prototypen. A. meint es wäre unerhört, daß man in Zeiten des
Luxus und der Prunksucht in edlerem Material Wirkungen erstrebt
habe, die mit einem schlechteren, unechten zu erreichen waren. Ist
der Stuck an sich ein schlechtes, unechtes Material? Im alten Aegypten
und in Hellas freilich, weil man da mit Stein baute. Nicht so im
Lande des luftgetrockneten Ziegels, in Mesopotamien. Da ist der
Stuck ein durchaus allen übrigen Verkleidungsmaterialien wie z. B.
dem am Aeußeren verwendeten Emailziegel gleichwertiges Material,
nur mußte es an seiner Stelle d. h. zum Schmuck der Innenwände
verwendet werden. Wenn die Römer oder besser die hellenistischen
Künstler typische Stucktechniken wie die Komposition im Tiefen-
dunkel (vgl. Jahrbücher f. klass. Altertum XV, 23 f.) oder noch be-
zeichnender die um des Metallglanzes willen geschweiften Flächen
der Toreutik in Marmor nachahmten, so taten sie etwas, was immer
das naive Schaffen am Beginn neuer Strömungen charakterisirt.
Die Seldschukenkunst in Kleinasien läßt sich (ähnlich wie die sog.
römische Dekorationskunst) nur so verstehen, daß man in dem Stein-
lande Kleinasien die Formen vergänglichen Materials, wie sie die
Türken in Ghasna und Bagdad kennen gelernt hatten, in >edlem€
Stoff nachahmt. Daraus erklärt sich auch, warum wir heute wohl
die römischen und seldschukischen Nachahmungen, nicht aber die
Originale nachweisen können: sie sind eben zugrunde gegangen und
nur so konnten die Epigonen in den Ruf schöpferischer Künstler
kommen.
Darin aber wird A. wohl recht haben, daß speziell für die Deko-
ration der Ära, sagen wir in Pergamon, garnicht Stuck oder Metall,
sondern, wie er sich mit WickhoflF ausdrückt, der Illusionismus, besser
die technisch hoch entwickelte Malerei, die sich an täuschende Nach-
ahmung der Wirklichkeit wagen konnte, Wurzel ist. In der Malerei
zuerst wird man auf den künstlerischen Irrweg des Wettkampfes
mit der Natur geraten sein (Orient oder Rom S. 5). Wenn ich das
wie von einem Holländer ausgeführte Mosaik des Hephaistion aus
Pergamon in den Kgl. Museen zu Berlin betrachte, dann verstehe
ich auch, wie dort, in Pergamon, die Balustrade in Konstantinopel
914 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 10
und die Ära des Eomenes entstehen konnte. Desw^en können dodi
später auf die Art der technischen Durchführung toreutische oder
Gewohnheiten der Stuckatoren eingewirkt haben.
Altmann ist einer der feinsinnigsten Denker in der Gruppe
eigentlicher Kunstgelehrten, die sich allmählig, dem modernen Stande
der Altertumswissenschaft entsprechend, unter den Archäologen bildet
Man lese seine Studie über das Mädchen von Antinm (Jahreshefte
1903 S. 186 f.) und wird sich freuen an der reichen Qualitätempfin-
dung, die ihm heute schon eigen ist. Er hat die letzten Jahre etwis
rasch gearbeitet ; daraus erklären sich vielleicht manche Fehler seines
eben besprochenen Hauptwerkes; ein Epigraphiker dürfte nicht über
das wertvolle Buch geraten. Die Grabaren sind nur die zahlreichste
Gruppe hellenistischer Dekorationskunst; ergiebiger wird vielleicht
die Behandlung der Dreifüße und Kandelaber, der Vasen, Tische
u. dgl. sein. A. hat das Material gesammelt, möchte er es uns in
einer weitausgreifenden Gesamtdarstellung nach Jahren als einen
Hauptbeitrag zum Verständnis spätantiker Kunstentwicklung vorlegen.
Graz Josef Strzygowski
Hierokles' ethische Elementarlehre (Pap. 9780) nebst den bei Stobto
erhaltenen ethischen Exzerpten aus Hierokles unter Mitwirkung von W, 8eh«tert
bearbeitet von H. t. Arnim (= Berl. Klassikertexte Heft VT), Berlin 1906.
Als Frachter vor 5 Jahren den Stoiker Hierokles bei Stobäns
entdeckte, hätte er wohl nicht gedacht, daß seine Ansicht bald eine
solche Bestätigung finden würde. Derselbe Papyrus, der uns Didjmos'
Schrift icepl A7]|Loodivooc geschenkt hat, trägt auf der Räckseite eine
Abhandlung mit dem Titel 'kpoxXdooc tj^ix*)] otoixe^o>atc, und daß wir
in dieser ein Werk desselben Stoikers vor uns haben, dem die Ex-
zerpte bei Stobäus gehören, darttber läßt schon die erste Lektfire
keinen Zweifel aufkommen. Dazu hat der Herausgeber nicht bloß
durch den Abdruck der Stobäusexzerpte, sondern auch durch einen
sorgfältigen Index und einen besonderen Abschnitt der Vorrede da-
für gesorgt, daß die Uebereinstimmung im Wortschatz und im Stil,
besonders in den Uebergangsformeln, anschaulich hervortritt.
Der Text der Abhandlung stammt aus derselben Zeit wie der
des Didymos, d. h. aus dem 2. Jahrhundert. Wie dieser war er
nicht ein buchhändlerisch vertriebenes Exemplar, aber ebensowenig
ein einfaches Kollegheft. Das beweist nicht nur die Korrektheit des
Textes, sondern auch die Sorgfalt in der Darstellung und Wortwahl
Hierokles, ethische Elementarlehre 915
6 Kolumnen sind gut erhalten, von 6 weiteren wenigstens einzelne
Teile, während der Rest, nach der Analogie des Didymos zu schließen
etwa ein Drittel, gänzlich verloren ist.
V. Arnim hat der Abhandlung den Titel gegeben > Ethische Ele-
mentarlehre<. Damit führt er aber irre, denn, wie er selbst p. XIII
richtig darlegt, bietet die Schrift nicht etwa einen kurzen Abriß der
Ethik. Vielmehr hat Hierokles otoix6^<»<'LC in dem Sinne gefaßt, wie
er p. 52,18 Arn. die Ehe aioix^iiüSBoxdTq im xoivoovicdv nennt. Er
will eine »Grundlegung der Ethik< geben, die Prinzipien darlegen,
auf denen sich eine wissenschaftliche Ethik aufzubauen hat. Das tut
er mit uns ungewohnter Ausführlichkeit. Denn der ganze uns deut-
lich erhaltene Text begründet nur den Satz, daß der ursprüngliche
Trieb des Lebewesens der Selbsterhaltungstrieb ist. Am Schlüsse
der 12. Columne geht dann Hierokles — das können wir den Zeilen
54 — 57 entnehmen — zur Bestimmung des ethischen Zieles über.
Da er aber vorher, soviel wir sehen können, noch garnicht das eigen-
tümliche Wesen des Xo^ix^v Ccpov behandelt hat, so wird er über
diese Erörterung im Reste der Rolle nicht hinausgekommen sein.
Die ganze otoixetcDoic deckte sich also inhaltlich ungefähr mit dem,
was Diogenes § 85—87 als Einleitungskapitel der stoischen Ethik
bietet (vgl. auch Cic. de fin. Ill c. 5).
Wie verhält sich diese Abhandlung zu den bei Stobäus erhal-
tenen Exzerpten? Diese behandeln einzelne Kapitel der Pflichten-
lehre, die alle zu einem größeren Werke gehörten. Vor den Pflichten
gegen die Mitmenschen hatte dabei Hierokles nach p. 62, 1 A. die
Pflichten gegen die eigene Person behandelt. Mit diesem Abschnitt
hatte Prächter die Behandlung der Lehre von den Tugenden identi-
fiziert, auf die Hier, an andrer Stelle verweist (p. 48, 7). Dagegen
macht V. Arnim mit Recht geltend, daß die Gegenüberstellung »Tu-
gend—Pflichten« für den Stoiker ein ganz anderes Einteilungsprinzip
ergibt, und folgert, der Pflichtenlehre müßte eine besondere Tugend-
lehre als theoretischer Unterbau vorangegangen sein. Damit er-
hielten wir ein systematisches Werk über die Ethik, zu dem die
otoix^uoou; die Einleitung gebildet haben könnte. Verschieden davon
seien die bei Suidas zitierten ^ iXoaofo&tteva.
Gegen diese Annahme spricht eine Stelle aus den Stobäusex-
zerpten. In dem Kapitel über die Ehe heißt es p. 52, 23 : o&xoov
iouv 6 jtstd 7d|i/>o ßCo?, 6 8' ävso ^ovatxöc ^wtta TcepCotaotv • ßat' licstS-Jj
XP^l |i^ ^v oU TS Soyd(t6da, |Li|uiodai töv l^^vta voov, zobzif Sk «poTj^o»"
licvdv ioTi TÖ 7a|Leiv, Sf^Xov 8ti xal '^(iiv av eii) xad^xov, st ^8 \yfpiQ ^^
916 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 11
TCcptotaoic i|L7coS(Dy. Hier bezieht sich Hier, ausdrücklich auf eine theo-
retische Erörterung über die Frage, d 7a|Lii)Gei 6 oo^. Diese hat
aber nicht, wie man nach v. Arnim voraussetzen sollte, in einem
Abschnitt über die Tugend gestanden, sondern in einem Kapitel über
das Hauswesen, das doch wohl auch die Pflichtenlehre betraf. Wahr-
scheinlich ist es dasselbe, das bei Stob. flor. 85,21 exzerpiert ist
(vgl. p. 62, 23 u. 63, 29 Am. und Frachter S. 8). Mindestens kann
also Hierokles keine scharfe Scheidung zwischen dem theoretischen
Unterbau und der Pflichtenlehre durchgeführt haben. — Die eben
ausgeschriebenen Worte berühren sich aber aufs engste mit dem
Zitat, das Suidas s. v. ijiicoScov aus dem zweiten Buche der ^ iXoao-
yo6|teva gibt: tCc Tap ahzö^y (sc. twv ytXoaöyoDv) ob-/} xal iifTfJite xal
icalSac iveiXato xal ohaiaq iicstteXi^dir] iLYjSev^c ltiicoSd>y ovto^; v.
Arnim will trotzdem beide Stellen verschiedenen Werken zuweisen.
Das geht aber nicht. Denn Hierokles verweist eben — darauf hat
V. Arnim nicht geachtet — an der Stobäusstelle auf eine frühere
Erörterung, wo ganz sicher auch ausgeführt war, 8ti 7a|LT]osi 6 ooföc
(t7]86y6c i{i?coSa)v Kvtoc (vgl. den Schluß der Stelle). Damit ist der
Schluß geboten, daß er sich eben auf die Stelle der fiXooo^oottsva
bezieht und daß dann natürlich auch die Stobäusexzerpte diesem
Werke entnommen sind. Diese Annahme lehnt v. Arnim nur deshalb
ab, weil sie zu seiner Ansicht von Hierokles' Werk über die Ethik
nicht stimmt. Freilich haben wir nun gesehen, daß Hierokles tat-
sächlich im 2. Buch der ^ iXoso^oöiLsva auch theoretische Erörterungen
gab. Trotzdem wird man sich schwer ein Bild machen können, wie
dies in einem systematischen Werke über die Ethik geschehen sollte,
zumal dazu der Titel fiXoGOfooiLsva schlecht paßt (v. Arnim S. XV).
Nehmen wir hinzu, daß bei Stobäus manche Stellen sich mit der
ozoix^ltüoi^ nahe berühren, ohne daß eine Verweisung stattfindet
(p. 52,29 zu col. 11,14), so ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß die
ototxelcoGic mit den fiXooofoo|Lsva und den daraus entnommenen
Stobäusexzerpten nichts zu tua hatte.
In der Grundlegung will Hierokles, wie gesagt, zeigen, daß der
erste Naturtrieb des Lebewesens auf die Selbsterhaltung geht Da
aber jeder Trieb durch eine Vorstellung verursacht wird, so führt er
zuerst den Beweis, daß jedes Lebewesen eine Wahrnehmung von sich
und seinen Organen hat. Dies beweist er erst allgemein, dann zeigt
er, daß die Selbstwahrnehmung ununterbrochen fortdauert, drittens,
daß dies von der Geburt an gilt (v. Arnim S. XXX). Der zweite
Beweis bietet Schwierigkeiten. Vier Prämissen legt Hierokles von
col. 3,56 an zu Gründe, ehe er den Schluß zieht: 1. die Seele ist
Hierokles, ethische Elexnentarlehre 917
als Körper berührbar, 2. sie durchdringt vermöge der xpaoic St' SXcov
den ganzen Leib (zum Beweise wird dabei auf die ooiLicdcdeta von
Leib und Seele hingewiesen, die in einer an Poseidonios cf. Jahrb.
Suppl. XXIV S. 630 f. erinnernden Weise geschildert wird. — Col.
4,19 ist wohl zu lesen: {i^pt ooYxpoooecdc (JSövtcov Itt Si ^(ov^c
iTciGx^oecdc xal to5 SXoo (?cpoG(l^7c)oo |LeTa|Lopcpa)ae(i>c, vgl. z. B. Plut.
de coh. ira. 6 oderBasilius adv. iratos F. 6r. 31 p. 84), 3. die Seele
ist eine 86va|itc aloftYjTixiJ, 4. (ttvoc |t(dvTot> Set Tstdptoo ta (C<ö)vTa;
col. 4,27) die Seele besitzt wie Ui<: und yöatc die tovtx^) xCvnjotc.
Hierokles fährt dann fort: inü toCvov ii &|L^OTdpa)y 4otI tö C<pov o6v-
detov, Ix o&jiatoc xal ^oxr^c (es folgt eine Rekapitulation der 4 Prä-
missen), S^Xov Stt Siavexfidc aio^dtvott' äv tö C«pov laotoö (col. 4,38—44).
V. Arnim meint hier, die ununterbrochene Fortdauer der Selbstwahr-
nehmung müsse schon vorher erwiesen sein, und sucht den Beweis
in dem arg zerstörten vierten Abschnitt. Allein die Begründung
kommt erst im Folgenden, wo es heißt: teiyo|L^ ^ap I£(d i^ ^ryy(^
|L6t' a^^oecDC icpooßdXXst icdtot to5 0(i>|Latoc tote (i^pectv, licstSif] xal
x^patat «dot, «pooßdXXoooa Sk ivrtffpooßdXXetaf ivttßattxöv ^äp xal
TÖ acofta xa^diTcsp xal t^ ^^X^' **^ '^^ ffA^oc oovspetottxöv 6|toö xal
ivtepetoTtxöv iicoteXettat. xal iicö täv ixpotdcrcov jtepcbv stoö) vsoov liül
•ri)v T^YSK'OvCav t . . . *oüc o . . . iva^^petat , a)c ivtlXifj^l^tv ^Cveoftat täv
(tepcov aicdcvtcDV rav te too a(i>|Latoc xal tibv t^c ^^X^^' '^^'^^ Sd lortv
toov tcp TÖ Ccpov aiaddveodat iaoTo5. Erst hier muß also auf
Grund der vier Prämissen der Beweis geführt sein, daß das Lebe-
wesen ununterbrochen sich und alle zwei Teile, die leiblichen wie die
seelischen, wahrnimmt. Das ist der Fall. Die Seele dehnt sich vom
Zentralsitze (dem Herzen) vermöge der xpaotc 8t' SXodv (2) durch alle
Teile des Leibes aus (4) und tritt in allen ihren Teilen mit dem
Leibe in Berührung (1). Dabei ist nicht sie allein aktiv, vielmehr übt
der Leib einen gewissen Widerstand aus, der sich in umgekehrter
Richtung geltend macht (äcvTtßaTixöv). Dadurch ergibt sich das
Widerspiel zentrifugaler und zentripetaler Kräfte (covepetGTtxöv xal
&vT£petaTixöv), in dem die Stoa nach dem Vorbilde von Heraklits
«aXivTovoc Äp|iovt7j das Wesen der Tovtx^j xivTjotc (4) sah (cf. Chrys.
fr. II, 454 u. ö.). Wirkt aber der Leib auf die Seele, so erleidet
diese ein Tud^oc, und zwar tritt dieses Tudldoc in jedem einzelnen Teile
der Seele solange auf, als die Berührung mit dem Leibe dauert,
d. h. ununterbrochen. Da nun aber die Seele eine S&ya|Ltc alo^Ttxij
ist (3), so ruft dieses Tcddoc in den Seelenteilen eine Wahrnehmung
hervor, die von den äußersten Teilen nach dem Zentralorgan über-
GöU. gtL Ans. 190«. Nr. 11 64
918 OMt g«L Ans. 1906. Nr. 10
mittelt wird und es bewirkt, daß unnnterbrocheii das i^sfkovtxöv alle
Teile der Seele und damit auch des Leibes wahrnimmt.
Damit verschwinden die Schwierigkeiten und Unklarheiten, die
Y. Arnim hier findet (S. XXVII), und es fragt sich nur, was als Sub-
jekt zu i'^afipBzai zu ergänzen ist. Ausgedrückt muß der Vorgang
sein, durch den die alb^7)oic im i^YS|i^vtxöv zum Bewußtsein kommt,
zur ^avtaaia wird. Dabei ist, wie es scheint, die a!bdT]oic in ein ob-
jektives Element, xb Tcd^oc, und ein subjektives zerlegt. Ein Terminus
fär dieses ist mir nicht bekannt, doch könnte man in Erinnerung an
die Darstellung des Theätet 191 flf. t{b toö ic&)^ooc o(7)|utov) — dieses
Wort abgekürzt — lesen.
Um die Kontinuität der Selbstwahmehmung zu erweisen, fuhrt
Hierokles weiter aus, daß diese auch im Schlafe fortdauert. Wenn
er dabei auch den Betrunkenen anfUhrt, der im Schlafe die Flasche
festhält, so darf man das nicht mit v. Arnim als unwesentlich be-
trachten. Denn das Festhalten der Flasche setzt eine 6(>(li^ seitens
des Trinkers, diese selbst aber eine f avcoota voraus.
Erst col. 6, 24 geht Hierokles dazu über, aus der Selbstwahr^
nehmung den Selbsterhaltungstrieb abzuleiten (auch hier könnte man
wieder an die Ergänzung oijiuiov denken, da etwas erwähnt wird,
was die Seele zwingt, die Aufmerksamkeit auf die f avTaola zu richten).
In der Auffassung dieses Abschnittes stimme ich ganz v. Arnim bei,
dagegen erscheint mir die Vermutung, daß die folgenden, zerstörten
Goluomen eine Polemik gegen Epikur enthalten haben, darum un-
wahrscheinlich, weil grade hier eine Streitfrage zwischen Kleanthes
und Ghrysippus behandelt war.
Dann muß Hierokles allmählich zu dem Oemeinschaftstrieb ge*
kommen sein, der uns mit allen Menschen verbindet, zur Staaten-
bildung wie zur privaten Freundschaft führt. Der Gedankengang
ist aus dem Papyrus nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht darf man
aber zur Ergänzung ein Werk heranziehen, daß doch ungefähr zur
selben Zeit von einem Kollegen des Hierokles verfaßt sein maß. Ich
meine den anonymen Gommentar zum Theätet. Warum der Platoniker
dort col. 5,14—7 eine Oelegenheit vom Zaune bricht, um ausführ-
lich gegen die icoXo^p&Xnjtoc oix6lo>otc zu polemisieren, die von den
Stoikern als Grundlage der Gerechtigkeit bezeichnet werde, das zeigt
uns Hierokles' Werk ja deutlich. Wenn dabei der Platoniker als
stoische Lehre voraussetzt, daß wir die olxeioMtc gegenüber allen
uns gleichartigen Wesen in gleichem Maße empfinden, dabei aber
auch mit der Möglichkeit rechnet, daß die Stoiker verschiedene
Grade der Intensität bei dieser olxeCcooic annehmen, so stimmt das
Hierokles, ethische Etementaflefare 919
ganz zu der Theorie, die Hierokles bei Stobäus flor. 84, 23 (p. 61,2 A.)
entwickelt und die auch in der otoi/sCcooic dargestellt sein mußte.
Daß etwa in dem Theätetcommentar unmittelbare Polemik gegen
Hierokles vorliegt, läßt sich natürlich nicht behaupten. Bemerkens-
wert ist aber, daß jener sich ganz in den Bahnen unserer Schrift
bewegt; wenn er darauf hinweist, wir empfänden auch gegenüber den
Organen des eigenen Leibes nicht die gleiche Zuneigung, und noch
auffallender ist, daß wir in beiden Schriften eine sonst nicht be-
kannte qualitative Scheidung innerhalb der olxeUüosic finden (Th. col.
6, 26 ff. H. col. 9) und daß beide Male die alpetixn] als ein Trieb be-
stimmt wird, der auf den Besitz der äußeren Dinge geht
Bisher sind natüriich die Punkte hervorgetreten, wo ich von dem
Herausgeber abweiche. Um so mehr sei jetzt anerkannt, daß seine
Erläuterungen im ganzen vortrefflich sind. Vor allem aber hat er
die Hauptaufgabe, die Herstellung des Textes, ausgezeichnet gelöst.
Die Unterstützung, die er dabei an Schubart gefunden hat, hebt er
in einem Nachwort dankend hervor. Korrekturen brauchten dabei
am Texte kaum vorgenommen zu werden^). In der Ergänzung der
Lücken hat er oft mit starker Hand durchgegriffen und bisweilen
ganze Wortgruppen eingefügt, wo eine andre Ergänzung ebensoviel
Wahrscheinlichkeit geboten hätte'). Das schadet aber nichts, und
ich kann es auch nicht mißbilligen, daß v. Arnim in der Umschrift
die Kennzeichnung der Ergänzungen unterlassen hat. In der Ab-
schrift hat man ja die Kontrolle, und es werden so die für Auge und
Geist gleich lästigen Klammem vermieden.
Zum Schluß noch ein Wort über die Bedeutung des Fundes.
Sie liegt weniger in den zahlreichen Einzelheiten, die wir neu lernen,
auch nicht in der Persönlichkeit des Autors, sondern darin, daß wir
sehen, wie ein stoischer Professor der Kaiserzeit in systematischer
Darstellung für seine Lehre wirkte. Besonders interessant ist dabei
der Vergleich der beiden ungefähr gleichzeitig wirkenden Männer
Epiktet und Hierokles. Dort haben wir den v^oc looxpdiryjc, bei
dem sich wohl nicht bloß die Paränese unwillkürlich in den Dialog
auflöste und selten der Vortrag den Gang der regelrechten Unter-
suchung nimmt, hier den dozierenden Professor, der in schön ge-
drechselter Rede sein Kolleg liest und wohlgefällig schmunzelt, wenn
er durch ein erstens, zweitens, drittens oder einen wortreichen
Uebergang seinen Hörern die wohlüberlegte Disposition zu Gemüte
1) Col. 2, 59 ist vieUeicht imxtfioüoa zn lesen ; cf. p. 62, 6.
2) So gefäUt mir coL 6,60 dor Artikel xoTc xeSXXc^i nicht. Man könnte er-
gänzen: oO 7dp 8^ <zä dau(Aao>ToTc xdXXcoi %a\ (itjiOeaiv {>icep<<xovt« |Atfv>a xxX.
64*
920 Om. gel. Anz. 1906. Nr. 11
f&hren kann. Dort der Feuerkopf, der mit ganz wenigen Dogmen
operiert, aber diese Sätze als Evangelium verkündet mit dem Be-
wußtsein, daß sie allein dem Menschen Leben und Seligkeit zu geben
imstande sind. Hier der Systematiker, der eine große Reihe von
Einzelheiten sich angeeignet hat, aber dabei die Grundgedanken der
Stoa so ziemlich vergißt und lieber sich in Vorschriften ergeht, wie
der Mensch beim Holzhauen und Eohlbauen seine Gemütsruhe be-
wahren kann. Zu Epiktet kommen die Großen der Erde, wenn sie
sich bei schweren Schicksalsschlägen aufrecht erhalten wollen, Hie-
rokles schreibt für die spießbürgerlichen Verhältnisse der Kleinstadt.
Er mag etwa im eigentlichen Griechenland gewirkt haben. Aber
wäre er in Rom tätig gewesen, den hätte auch Domitian nicht ver-
bannt.
Göttmgen Max Pohlenz
Für die Redaktion verantwortlich : Prof. Dr. Eduard Schwartz in Göttingen
Dezember 1906 Nr. 12
Johannes Hoops, ord. Professor an der Universität Heidelberg, Waldbäume
undKultarpflanzen im germanischen Altertam. StraEborg (Trübner)
1905. 8^ XVI + 689 S., 8 Abb. im Text und 1 Tafel.
Wenn ein Philologe ein botanisches Thema bearbeitet, wird sein
Werk von der Mehrzahl der Botaniker mit Mißtrauen aufgenommen.
Nicht mit Unrecht. Das botanische Wissen besteht, namentlich wo
Systematik und Geschichte in betracht kommen, aus einer großen
Menge von Einzelheiten, deren Ordnung unter bestimmte Gesichts-
punkte und feste Regeln bisher nur unvollkommen gelungen ist, so
daß ein Außenstehender sich schwer darin zurecht findet. In der Tat
haben wir ja erlebt, daß ein so tüchtiger Mann wie Victor Hehn
wichtige Kulturpflanzen mit einander verwechselte und aus über-
lieferten Beschreibungen nicht die gemeinte Art erkannte. Andrer-
seits ermöglicht aber der geschilderte Zustand unsres botanischen
Wissens, daß ein Nichtbotaniker sich in einzelne Zweige desselben
einarbeiten kann, auch wenn es ihm an Zeit oder Lust fehlt, die
Grundlagen des Faches in der Gesamtheit sich anzueignen. Hoops,
der stets eine gewisse Vorliebe für Pflanzenkunde gehabt hat, be-
herrscht die für sein Thema in Frage kommenden botanischen Spe-
zialgebiete in ausreichendem Maße. Und wenn sein Buch über die
Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum anonym
und ohne Einleitung erschienen wäre, hätte mancher Meister der
Botanik gewiß nicht gemerkt, daß er Bönhasenarbeit vor sich hat
Freilich sind in dem Buche, wie ich später zeigen werde, Fehler,
von denen man sagen kann, daß ein Botaniker sie nicht hätte machen
dürfen, aber von solchen Fehlem sind auch die Arbeiten berufener
Fachleute nicht immer frei.
Hoops ist Anglist, und seiner botanischen Liebhaberei folgend
hat er den altenglischen Pflanzennamen besondere Aufmerksamkeit
zugewandt. Und diese Namen haben ihm wertvolle Beiträge zur Auf-
Göii. gtL Abs. 190«. Nr. 12 65
922 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
klärung der Vorgeschichte des englischen Volkes an die Hand ge-
geben, durch welche die Arbeiten von Seelmann im XII. (1886)
Jahrgang des Niederd. Jahrbuchs und die Ausfuhrungen Detlefsens
im ersten Bande seiner Geschichte der holsteinischen Eibmarschen
(1891) in schöner Weise ergänzt werden. In einem 1795 von
Siemssen^) im Magazin f. d. Naturkunde und Oekonomie Mecklen-
burgs IL Bd. publizierten Verzeichnis mecklenburgischer Pflanzen-
namen finden sich für die Mispel Apenärseken und Apenirschen.
Boll, der 1860 eine Flora von Mecklenburg herausgab, kannte diese
Namen nicht mehr, machte aber auf die merkwürdige Uebereinstim-
mung dieser Benennung mit dem bei Shakespeare (Romeo und Julie
II, 1) vorkommenden open arse aufmerksam. Hoops weist nun im
14. Kapitel seines Buches nach, daß nicht nur dieser Mispelname,
sondern noch eine Anzahl anderer Wörter, die ihrer Bedeutung wegen
nicht in vorrömische Zeit hinaufreichen können (die Mispel ist
durch die Römer ins Germanenland gebracht), den Engländern und
Niederdeutschen seit dem frühen Mittelalter gemeinsam waren, aber
den Oberdeutschen fehlen. Es ergibt sich aus den weiteren Aus-
führungen, daß die römische Kultur am Niederrhein sowohl die Nord-
deutschen als auch die über die Niederlande nach Britannien ziehen-
den Sachsen beeinflußt hat. Das ist meines Erachtens eins der
sichersten Ergebnisse der Hoopsschen Arbeit.
Ueber sein anglisches Spezialfach hinaus hat Hoops nun auch
die indogermanischen Pflanzennamen allgemein studiert und ist bei
dieser Arbeit zu der Ueberzeugung gekommen, daß jenes hypotheti-
sche Volk, welches die älteste indogermanische Sprache bildete, im
heutigen Norddeutschland gewohnt haben müsse. Der Begründung
dieser Hypothese ist der größte Teil des in Rede stehenden Buches
gewidmet. Gegen die Art und Weise, wie Hoops seine Hypothese
aufbaut, kann man Bedenken haben. Mehr als einmal schließt eine
Einzeluntersuchung mit dem Satze: >es kann so sein,< im folgenden
Absätze heißt es dann: >es ist so,« und nun wird auf diesen Unter-
bau ein neues Hypothesenstockwerk aufgesetzt. Natürlich wird das
Ganze ein Kartenhaus, aber dessen ist sich der Verfasser wohl be-
wußt, wie er im 9. Kapitel erkennen läßt; nur um überhaupt weiter-
bauen zu können, hat er vorübergehend das nur Mögliche oder
Wahrscheinliche als sicher hingestellt.
Die Hypothese der norddeutschen Heimat der Indogermanen ist
die eigentliche Grundlage des Hoopschen Buches, sie ergibt sich
nicht mit Notwendigkeit aus dem beigebrachten Material, sondern sie
1) Ich dtiere die Quelle, weü Hoops den in Mecklenburg jetzt ganz unbe-
kannten Namen ohne Quelle aufführt.
Hoops^ Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 923
ist durch dem Wissen vorauseilendes Denken geformt und dann durch
eine oftmals lückenhafte Beweisführung unterbaut.
Das Urteil der naturforschenden Kreise über das Buch wird
wesentlich davon abhängen, wie sich jeder Einzelne zu der Frage
der Lage Urindogermaniens stellt. Denn die allermeisten von uns,
insbesondere die ganze Haeckelsche Richtung, wissen mit Büchern,
die von einer der eigenen fremden Anschauung ausgehen, nichts an-
zufangen. Für Victor Hehns Kulturpflanzen und Haustiere haben
die Meisten nichts übrig als ein Achselzucken. Vielleicht tragen
einige Phantasten vom Penka-Wilserschen Schlage die Hoopssche
Hypothese in weitere Kreise, sie würden die nüchtern Denkenden
dadurch nur noch mehr scheu machen. Auf botanischer Seite wird
nur das kleine Häuflein der historischen Pflanzengeographen das
Hoopssche Buch als eine Fundgrube für wichtige und wertvolle Einzel-
heiten dauernd hochschätzen. Die Philologen haben im allgemeinen
eine ganz andere Art zu lesen, als die Naturforscher. Von vorn-
herein gewohnt sich mit Werken längst vergangener Zeiten und mit
Bruchstücken zu beschäftigen, sehen sie zunächst die Einzelheiten
der Arbeit — zuweilen leider nur diese. Auch diejenigen unter
ihnen, welche die Hypothese von der Indogermanenheimat ablehnen,
werden das Hoopssche Buch wegen der darin enthaltenen wertvollen
Details als wertvoll anerkennen. Für wertvoll halte ich beispiels-
weise den HI. Abschnitt des 8. Kapitels, in welchem die Qerste als
Hauptgetreide der Indogermanen nachgewiesen wird, sodann den IV.
Abschnitt im 10. Kapitel über den Spelz, in welchem Gradmanns
Hypothese vom allemannischen Ursprung seines Anbaues gründlich
widerlegt, und nachgewiesen wird, daß unter far adoreum der Römer
und oXopa der Griechen diese Weizenart zu verstehen sei. Der alte
Name rams für Allium ursinum, der Seite 466 f. besprochen wird,
hatte bisher kaum die gebührende Beachtung gefunden. Die scharfe
Scheidung der circumalpinen neolithischen Kultur von der nordischen
und die Ableitung europäischer Kultur von Afrika (S. 338, 339) zeigt,
wie Hoops auch die Ergebnisse der Archäologie für seine Unter-
suchung nutzbar zu machen verstanden hat. Das Referat würde viel-
leicht länger als das Original, wenn ich alles Gute und Brauchbare
hier herzählen und erläutern wollte. Einzelnes hebe ich später noch
hervor. Es stecken aber in dem Buche auch Unklarheiten, Fehler
und Mängel, und auf diese hinzuweisen muß im folgenden meine
Hauptaufgabe sein, ich hoffe dadurch die Brauchbarkeit des Werkes
zu heben.
Ich schließe mich in der Reihenfolge meiner Bemerkungen den
einzelnen Kapiteln des Buches an.
65*
924 Gott. gel. Ans. 1906. Nr. 12
1. Kap. Die Seiten 13 bis 24 sind geschrieben, um aus der
Reihe der postglazialen Vegetationsperioden Nordeuropas die nach
der Birke oder Espe benannte zu streichen. Nachdem schon Gunnar
Andersson an von Hoops zitierten Stellen die Ueberzeugung ausge-
sprochen hat, daß diese Birken- und Espenzeit verhältnismäßig kurz
gewesen sei, daß sie nur als eine kurze Uebergangsperiode zwischen
dem Zurückweichen der arktischen Flora und der Einwanderung der
Kiefer zu bezeichnen sei, eine Auffassung der kein Botaniker wider-
spricht, kommt Hoops nach langen Auseinandersetzungen zu dem
Schlüsse, daß die Kiefer ziemlich gleichzeitig oder nur wenig später
einrückte als die Birke und Espe. Was ist daran neues? Indem
Hoops nun die Birkenperiode formell streicht und auf die Dryaszeit
gleich die Kiefemperiode folgen läßt, meint er Seite 24, daß durch
diese Aenderung des Schemas der Abstand, welcher die Gegenwart
von der Eiszeit trennt, um eine volle Periode vermindert werde. Ja,
ist denn Periode ein Zeitmaß? Dabei kann Hoops die von ihm ver-
vehmte Periode in der Entwickelungsreihe der Floren gar nicht
missen, auf einem Umwege führt er sie S. 25 wieder ein, indem er
der »eigentlichen Kiefemzeit< eine >Birkenkiefemzeit€ vorangehen
läßt. Gegenwärtig gibt es sowohl auf Skandinaviens Gebirgen als
auch auf der Ebene der Halbinsel Kola zwischen dem Nadelwalde
und den baumlosen Feldern einen wenn auch schmalen und an ein-
zelnen Stellen unterbrochenen Birkengürtel; vgl. die Karte von
Alfred Fetrelius in Fennia HI (1890) und deren Wiederabdruck in
den Acta Societatis pro fauna et flora Fennica VI Nr. 3 (1890). Es
entspricht also einer weit verbreiteten und gut begründeten An-
schauung, wenn wir annehmen, daß in der Tat die Birke vor der
Kiefer von den eisfrei gewordenen Ländern des Nordens Besitz er-
griffen hat. In den Alpen und Sudeten freilich gibt es solche Birken-
zone ebensowenig wie in Nordsibirien. Hoops zieht nicht nur
mecklenburgische, sondern auf S. 21 sogar salzburgische und Züricher
Moorfonde heran, um das Fehlen einer Birkenzeit für Nordeuropa
zu beweisen. Dagegen weiß er auf S. 51/52 ganz gut, daß es nicht
erlaubt ist, die Florengeschichte dieser Länder mit der der nordi-
schen gleich zu setzen.
Auf Seite 29 lesen wir von der Kiefer: Sie ist namentlich in
Jutland und Dänemark durch die Eiche und ihre Begleiter voll-
ständig ausgerottet worden und hat sich bis auf den heutigen Tag
nicht wieder einbürgern können. Auf S. 184 im 5. Kapitel weiß
Hoops, daß auf den Inseln Läsö und Anholt noch im 16. Jahr-
hundert alter Nadelwald war, und aus der dort zitierten Quelle muß
er auch wissen, daß diese Nadelhölzer durch Menschen ausgerottet
Hoops, Waldbäame and Kaitarpflanzen im germanischen Alterinm 925
sind. Doch auf S. 184 weiß Hoops auch, daß es gegenwärtig in
Dänemark an vielen Orten Kiefern gibt. Auf Seite 205, wo das zeit-
weise Verschwinden oder Seltenwerden derselben Baumart im deut-
schen Nordseeküstenlande erörtert wird, hören wir nichts davon, daß
die Eiche die Kiefer ausgerottet habe, sondern das ozeanische Klima
wird für den Rückgang des Nadelholzes verantwortlich gemacht. Nun
kann ja dieses Klima gleichzeitig das Nadelholz benachteiligt und
die Eiche begünstigt haben, so daß schließlich beide Annahmen auf
dasselbe hinausliefen. Jedoch bildet die Kiefer in der Gegenwart im
dänischen und deutschen Küstenlande nicht nur Bestände in den
Forsten, sondern man sieht auch auf Mooren hier und da einzelne
Bäume oder Gruppen. Freilich sind alle jetzt in Dänemark lebenden
Kiefern durch Menschen eingeführt oder sie stammen von innerhalb
der letzten 200 Jahre eingeführten ab. Aber ihr Vorhandensein und
Gedeihen beweist, daß weder Boden noch Klima die Ausbreitung der
Art verhindern, und das Aushalten alten Nadelwaldes auf den Katte-
gatinseln läßt kaum die Annahme zu, daß der ozeanische Charakter
des Klimas in der Vorzeit für diese Waldform verderblich gewesen
sei. Wenn man Jutland, Schleswig, Fünen und Seeland für sich
allein betrachtet, dann läßt sich die Behauptung, daß die Kiefer
durch die Eiche ausgerottet gewesen sei, wirklich nicht widerlegen,
denn ihrer Wiedereinführung durch den Menschen ist eine ganz er-
hebliche Lichtung der Eichenwälder voraufgegangen. Unwahrscheinlich
ist nur, daß der Rückgang des Nadelwaldes in Holstein und dem
linkselbischen Heidegebiete eine andere Ursache gehabt habe, als in
den eben genannten Landschaften. Nach allem, was wir wissen, ist
die Eiche im deutschen Nordseeküstenlande erheblich früher einge-
wandert als in Dänemark, und doch hat sie die Kiefer nicht aus-
rotten können, wie unten bei Besprechung des 5. Kapitels nachzu-
weisen sein wird.
Von der auf S. 30 besprochenen Ilexflora habe ich schon 1894
(Botan. Centralblatt LX Nr. 10) nachgewiesen, daß sie nicht an ein
warmes Klima gebunden ist. Semander und Holmboe haben dann
übereinstimmend dargelegt, daß die zerstreuten Standorte der zu
dieser Genossenschaft gehörenden Pflanzen nicht als Reste einer ehe-
maligen zusammenhängenden Verbreitung vom Sunde her, sondern
als über das Skagerrak vorgedrungene Vorposten jetzt erst ein-
wandernder Arten anzusprechen sind. Hex stellt an das Klima er-
heblich geringere Ansprüche als die Eiche, aber sie wandert viel
schwerer als diese.
Dasselbe gilt von der Seite 31 f. besprochenen Buche, worüber
Alb. Nilssons Arbeiten zu vergleichen sind (besonders Om bokens
926 Qött. gel. Anz. 1906. Nr. 12
utbredning och förekotnstsätt i Sverige in der Tidskrift for Skogs-
hushäll 1902). Die späte Einwanderung von Hex und Buche io
Skandinavien beruht also aui der Schwerbeweglichkeit dieser Arten,
sie kann — muß aber nicht — in Beziehung gebracht werden zu
der von Hoops S. 38 — 39 erörterten Klimaverschlechterung. Schon
in Holstein wanderte die Buche erheblich später ein als die Eiche.
Aber im nördlichen Vorlande der Alpen ist sie, wie es ihrer An-
passung an das Klima entspricht, wahrscheinlich sehr früh erschienen.
Am Schweizersbild sind Kohlen, die mit großer Wahrscheinlichkeit
als Buchenkohle bestimmt wurden, zusammengefunden mit den Resten
einer Tierwelt, die dem letzten Stadium der Umbildung der glazialen
Felder in boreale Wälder entspricht; hier folgt, wenn meine Auf-
fassung der Funde richtig ist, auf die Birkenzeit eine Buchenzeit
Hoops zitiert die Nüeschsche Arbeit, auf die ich mich hier beziehe
und auf die ich noch mehrmals zurückkommen muß, erst auf S. 95
bei Besprechung der Steppenfrage. Daß die Buche in der Neuzeit
die Alleinherrschaft in Dänemarks Wäldern gewonnen und die Eiche
verdrängt habe, ist nicht genau. Hoops zitiert Vaupell als Gewährs-
mann. Sollte der wirklich 1857 so geschrieben haben, so hat er doch
1863 in de Danske Skove die Verhältnisse richtiger geschildert, in-
dem er sagt, daß zwar grundsätzlich die Eiche der Buche unter-
liegen müsse, daß es aber doch nur wenige Buchenwälder gäbe, ans
denen die Eiche ganz verdrängt sei^). Die letztere ist bis heute
häufig genug geblieben, und die reinen Buchenbestände sind eine
ganz vorübergehende Erscheinung gewesen: erst im 18. und 19. Jahr-
hundert durch Herausschlagen der übrigen Baumarten, namentlich
der Eichen, zustande gebracht, haben sie sich auf den meisten Böden
so wenig bewährt, daß man sie nicht verjüngen konnte. Gegenwärtig
sieht man im inneren und westlichen Jutland fast mehr Fichten- als
Buchenwälder. Auch in den alten Eichenwäldern um Husum wachsen
Fichtensämlinge überall reichlich und freudig auf. Die von Hoops
S. 57 entwickelte Theorie, daß die Fichte für ein insulares Klima
außerordentlich empfindlich sei, ist demnach falsch. Auf S. 205 wird
diese Theorie zwar dahin eingeschränkt, daß am Meere liegende Ge-
birge der in Rede stehenden Baumart zusagen können, aber auch in
dieser Beschränkung bleibt sie unhaltbar, denn Jutland und Schles-
wig sind Flachland. Und die Gegend des Loch Katrin im schottischen
Hochlande, wo die 'Fichte ebenfalls gedeiht, und zwar im Gemenge
1) A. a. 0. S. 265 : ligesaa umuligt det er for Egen under almindelige For-
hold at modstaae Bögen, ligesaa sjaldent er det at finde en BögeskoT, hoorfra
Egen er aldeles forträngt.
Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 927
mit yerschiedenen Laubhölzern, hat eigentlich auch kaum Gebirgs-
charakter, sondern gleicht mehr einem Plateau.
Seite 61 ff. wird die prähistorische Baumflora der Alpenländer
besprochen. Hier hätten die Ergebnisse von Nüeschs Ausgrabungen
am Schweizersbild unter allen Umständen verwertet werden müssen.
Sind dort aueh fast gar keine Pflanzenreste geborgen, so sind doch
die massenhaften Ueberbleibsel pflanzenfressender Tiere hinreichend,
um, wenn auch nicht die einzelnen Pflanzenarten, so doch den Vege-
tationscharakter der Vorzeit zu erschließen. Die Fundstelle ist vom
Gletscher der jüngsten Eiszeit bedeckt gewesen. Bei dessen Rück-
zug wurde sie lange Zeit von Schmelzwassern überströmt und mit
Schotter bedeckt. Sobald das Land trocken blieb, lebten dort der
Maulwurf und drei Spitzmausarten, Bär, Wolf, Vielfraß, Fuchs und
Eisfuchs, Hermelin und Wiesel, zwei Hamsterarten, die Scheermaus,
die nordische und eine sibirische Wühlmaus (Arvicola ratticeps und
gregalis), mehrere Feldmausarten, ein Lemming (Myodes torquatus),
ein Pfeifhase (Lagomys pusillus) und der Alpenhase, ferner Renntier,
Pferd und Rhinoceros tichorrhinus, Alpen- und Moorschneehuhn, Auer-
hahn u. s. w. Und gleichzeitig kamen Menschen vor, die sich später
gerade hier festsetzten. Sie hinterließen Feuersteingerät vom Made-
lainetypus, Knochen- und Horngeräte, auf Stein gezeichnete Tier-
figuren und Muschelschmuck, der höchst wahrscheinlich aus der
mainzer Gegend eingeführt ist. Die Kohlen ihrer Feuerstellen rühren
meist von Nadelholz her, aber ein Stück wurde mit hoher Wahr-
scheinlichkeit, wie bereits erwähnt, als Buchenkohle bestimmt. Wäh-
rend dieser Kulturperiode kamen noch die meisten oben erwähnten
Tiere vor, aber auch u. a. folgende : Edelmarder, Manul (eine Katzen-
art, welche jetzt nordostasiatische Hochfelder bewohnt), Biber, Eich-
hörnchen, Steinbock, Hirsch, Reh, Wisent, Wildschwein, Pferd und
Kulan (der jetzt in Tibet und der Mongolei lebende Wildesel), Birk-
huhn, Rebhuhn und Kiebitz. Unter den von Menschen abgebildeten
Tieren ist mit ziemlicher Sicherheit das Mammut zu erkennen. Diese
Tierwelt spricht sehr dafür, daß damals schon Buchen und andere
Laubhölzer in Gemeinschaft mit Nadelbäumen vorkamen, während
gleichzeitig noch große Strecken des Baumwuchses entbehrten, steppen-
ähnliche Felder waren. Wir stehen in der Uebergangszeit zwischen
Feld und Wald, einer Periode, die entwickelungsgeschichtlich der
nordischen Birkenzeit entspricht, aber eine viel reichere Flora be-
sessen haben muß. Wenn Hoops Seite 64 die Buche als wärmelieben-
den Laubbaum hinstellt, der erst spät eingewandert sein könne, so
ist er im Lrtum, die Buche geht in den mitteleuropäischen Gebirgen
bis zur obersten Waldgrenze, konnte also in postglazialer Zeit auch
928 Gott gel. Ans. 1906. Nr. 12
ZU den am frühesten einwandernden Arten gehören, lieber der be-
schriebenen Eulturschicht lagen nun am Schweizersbild 120 cm hoch
Kalktrümmer, die durch Verwitterung von den überhängenden Felsen
abgebröckelt sind, dazwischen keine Spur vom Menschen, aber
Knochen vom Sieben- und Gartenschläfer, Eichhörnchen und Edel-
marder, Maulwurf, Spitzmäusen, Wiesel, Scheermaus, dSr nordischen
Wühlmaus, dem Zwergpfeifhasen und dem Renntier. Die Glazialfauna
ist im Aussterben, der Wald ist dicht geworden und hat selbst den
Menschen vertrieben. — Die Menschenfeindlichkeit des Waldes hat
Hoops S. 91 sehr richtig dargestellt. — Entwickelungsgeschichtlich
ist diese Periode neben die nordische Kiefemzeit zu stellen. Später
wandert dann der neolithische Mensch ein, der dem Walde mit
besseren Werkzeugen entgegentritt
2. Kap. In dem Literaturnachweise auf Seite 66 vermisse ich
die mir wichtig scheinende Arbeit von Georg F. L. Sarauw: en
stenalders boplads i maglemose ved MuUerup, welche zuerst in den
Aarböger f. nord. oldkyndighed og historie 1903 erschienen ist.
Sarauw sucht hier nachzuweisen, daß schon während der Dryaszeit
Menschen mit paläolithischer Kultur in Dänemark gelebt haben.
Sicher stellt er fest, daß am Ende der Kiefernzeit, als die Hasel be-
reits eingewandert, aber von der Eiche noch keine Spur zu bemerken
war, auf Seeland ein Volk lebte, welches unpolierte Steingeräte, kein
Haustier außer dem Hunde und keine Kulturpflanzen hatte. Leider
läßt sich das Alter der untersuchten Siedelung geologisch nicht sicher
bestimmen, Sarauw setzt sie in die Ancylusperiode. Jedenfalls reicht
die Kjökkenmöddingerkultur rückwärts bis zum letzten Abschnitte
der Kiefernperiode, vorwärts bis weit in die Eichenzeit hinein. Bei
der Ausgrabung dieser altsteinzeitlichen Kulturschicht von Mullerup
wurde auch ein Stück Buchenholz gefunden, welches nach Sarauw
zufällig und nachträglich in die oberste Schicht hineingeraten sein
muß. Es liegen schon mehrere Angaben über solche an unerlaubter
Stelle gefundene Buchenreste vor (Hoops S. 75), es ist noch immer
gelungen, sie wegzudisputieren ; aber im Auge behalten muß man
diese Funde, denn es könnte für die Buche ein höheres Alter auch
im Norden nachgewiesen werden, wie Hoops S. 76 andeutet. In der
Schweiz ist man nicht so skeptisch wie im Norden, in den Pfahl-
bauten sind mehrere wichtige Kulturgewächse nur durch einzelne
Fundstücke nachgewiesen. Der Beginn der eigentlichen neolithischen
Kultur (mit poliertem Feuerstein) an der westlichen Ostsee ?rird Seite
80 richtig datiert. Ein fernerer Nachweis für ihr Auftreten am Sunde
vor Vollendung der Litorinasenkung findet sich einem Aufsatze Gunnar
Hoops, Waldbäume and Kulturpflanzen im germanischen Altertum 929
Anderssons im Ymer 1902 Heft 1 (En stenälders-boplats pä Hven;
Referat im Globus 85 S. 384).
Ungenau ist die Angabe auf Seite 84, daß Litorina litorea in
der Ostsee gegenwärtig nicht leben könne. Diese Schnecke ist noch
bei Wamemünde recht häufig, nur erreicht sie nie dieselbe Größe
wie in der Nordsee.
3. Kap. Die Wechselbeziehungen zwischen Steppe, Wald und
Siedelung werden unter gänzlicher Uebergehung der russischen
Literatur ^) behandelt. Was würden wohl die deutschen Gelehrten
sagen, wenn ein Franzose über die Heidekultur arbeitete ohne deut-
sche Bücher heranzuziehen? Dagegen prangt in dem spärlichen
Literaturverzeichnis auf Seite 90 mein Aufsatz von 1893 über die
salzigen Gefilde. Da Hoops meine spätere Bearbeitung desselben
Gegenstandes auch benutzt hat, so mußte er wissen, daß jene erste
gänzlich antiquiert ist.
Seite 94, 95 folgt auf >die Glazialzeit < eine Interglazialzeit,
darauf ozeanisches Klima, dann eine letzte Kälteperiode und schließ-
lich ein Kontinentalklima. Dazwischen finde ich mich nicht zurecht.
Erst die folgende Anknüpfung an die hier beiläufig erwähnten Funde
vom Schweizersbild läßt erkennen , daß jene letzte Kälteperiode die
letzte Eiszeit sein soll, dieselbe welche in den voraufgegangenen
Kapiteln als Eiszeit schlechtweg gegolten hat, und daß Hoops sich
deren Ende durch das Einsetzen eines kontinentalen Klimas erklärt.
Was Hoops vom prähistorischen Landschaftsbilde sagt, daß der ein-
wandernde Neolithiker zahlreiche Lichtungen im Waldgebiete vorge-
funden und diese zuerst besiedelt habe, das ist gewiß richtig ; Boden-
kunde, Tier- und Pfianzengeographie sprechen übereinstinunend für
diese Annahme, lieber die Ursachen dieser Lichtungen läßt sich
streiten. Der neolithischen Kultur war eine paläolithische vorausge-
gangen, und diese war wahrscheinlich durch die Zunahme des Wald-
wuchses gleichsam erstickt worden. Ging nun der neolithischen Neu-
besiedelung des Landes ein Wiederlichtwerden des Waldes voraus?
Ich habe schon oben bei Besprechung der Schichtfolge am Schweizers-
bild angedeutet, daß ich nicht dieser Ansicht bin, vielmehr annehme,
daß der Neolithiker schon solche Lichtungen wohnlich fand, die für
den Paläolithiker nicht genügend ausgedehnt gewesen waren ^). Wo-
1) Eine kurze Uebersicht über die biologischen Verhältnisse der Steppen
ließ die rassische Regierung auf der chicagoer Weltaussellung verteilen. — V. V.
Dokuchaev, The russian Steppes. St. Petersburg 1893. — Auch in russischer und
französischer Sprache ausgegeben.
2) Da£ europäischer Urwald noch bis in die Eisenzeit als unbewohnbar
gelten konnte, dafür steht ein schönes Beispiel bei Theophcast hist, plant. V,8.2
(mißlungener Siedelungsversuch der Römer auf Corsika).
930 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
durch blieb nun das Waldkleid Mitteleuropas löcherig? Hoops
S. 104 — 105 nimmt Eorzchinskys These an, daß die Steppe sich
ebenso selbst erhält wie der Wald. Aber die Steppe als Vegetations-
formation hat dem Walde gegenüber nur den negativen Charakter
der Baumlosigkeit ; der Wald erhält sich durch seinen Samen, die
Steppe aber muß irgendwo, im Klima, im Boden oder in ihrer Tier-
welt, baumfeindliche Elemente bergen, welche sie gegen den umsich-
greifenden Wald verteidigen. Nach meiner Ansicht, die mit der-
jenigen der meisten russischen Fachleute übereinstimmt, ist es in
unserem Klima hauptsächlich das Vorkommen von Salz im Boden,
welches Steppenvegetation begünstigt und Waldwuchs fernhält. Wohl
kann diese Anreicherung des Bodens mit Salzen eine Folge des
Klimas sein, wo die Verdunstung stärker ist als der Wasserzu-
fluß, aber ein solches Klima kann kaum in Mitteleuropa geherrscht
haben, als die Wälder sich auf den ehemaligen Glazialfeldem aus-
breiteten. Und daß zwischen jener Ausbreitung der Wälder, welche
die paläolithische Kultur vernichtete, und dem Beginne der neolithi-
schen Zeit eine Periode mit so dürrem Klima eingeschaltet gewesen
sei, daß neue Salzansammlungen im Boden Lücken im Walde schufen,
für eine solche Annahme 0 haben wir bis jetzt gar keinen Anhalt.
Ich kann diese Auseinandersetzungen hier nicht weiter ausführen und
muß auf die einschlägige Literatur hinweisen^). Salzstellen und
namentlich Lößgegenden, welche den Baumwuchs hinderten und den
Graswuchs förderten, sind nach meiner Ansicht die Plätze gewesen,
welche im prähistorischen Urwaldgebiete zuerst besiedelt wurden,
sie stellen den > alten Steppenboden c dar, den Hoops durchaus richtig
würdigt. Ein Beispiel für derartige Verhältnisse bietet in der Gegen-
wart die Umgegend von Jakutsk^) in Sibirien. Hier finden sich
1) Ein neaer Yersach zur Begründang einer ähnlichen Annahme ist von
Gradmann in der Geogr. Zeitschrift 12. Jahrg. 6. Heft 1906 unternommen.
2) Ernst H. L. Krause, Vegetationsskizze d. russ. Gouvernements Poltawa
im Glohus 72 S. 315. — Tanfiljew, G. J., Die Waldgränzen in Südrußland. Herausg.
V. Forstdepart. d. Minist, f. Landwirtschaft und Domänen. 1894. Mit ausführ-
lichem deutschem Resume'* und Karte. — Tanfiljew, Die vorgeschichtlichen Steppen
d. europ. Rußlands = [^oäCTopHHeCKiH CTcnn EBponcHCROH PoccIh in
der 3eilueB'feAeHHe 1896 II S. 78—92]; an die beigegebene Karte paßt die mei-
nige im Globus 65 S. 4 wie eine westliche Fortsetzung. — Tanfiljew, Ueber die
Schwarzerde im Gouv. Wladimir [0 B.ISUHMHpKeM'B HepHOSeM'B], gedruckt
auf Veranlassung der K. Freien Oekon. Gesellsch. zu St. Petersburg. Ohne Jahr.
— Wer größere russische Arbeiten lesen kann (ich kann es nicht) studiere auch den
XYI. Band der Marepia^ibi Kx oiCBUKX seMeaB no^iTaBCRoä ry6epHiH,
eCTeCTBeHHO-HOTOpHqeCRaH hbctb 1894.
3) Cajander, Beitr. z. Kenntnis d. Veget. d. Alluvionen d. nördl. Eurasiens.
Acta Societatis Scientiarum Fennicae XXXII No. 1 1903.
Hoops, Waldbänme and Kulturpflanzen im germanischen Altertum 931
mitten im Waldgebiete, ungefähr 9 Breitengrade vom Nordrande der
Steppen entfernt am Ufer der Lena Landschaften mit ausgeprägter
südsibirischer Steppenvegetation, die Viehweiden der Einwohner von
Jakutsk. Ihre Flora enthält so viele charakterische Salzpflanzen,
daß kaum daran zu zweifeln ist, daß eine durch Salz verursachte
Waldlichtung hier zur Ansiedelung von Menschen Anlaß gegeben hat,
die nun weiter und weiter den Wald zurückdrängen. Was die nord-
deutschen Heiden (Seite 109) betrifft, so hat Graebner seine Ansicht
in dem mit Hoops Buche gleichzeitig erschienenen Handbuche der
Heidekultur stark modifiziert. Weber hat schon früher (Abh. nat.
Ver. Brem. XV. p. 272 ff.) anerkannt, daß nur auf Hochmoor Heide
ohne menschliche Hülfe sich als Naturdenkmal konservieren ließe,
und er hat neuerdings *) den Nachweis erbracht, daß auch der ärmste
Heidesand über starkem ungebrochenem Ortstein stattlichen Kiefern-
wald wachsen läßt. Größere Urheiden können also im Nordsee-
küstenlande nur auf abgestorbenen Mooren und auf aus dem Wasser
gehobenen Flächen da entstanden sein, wo pflanzenfressende Tiere
oder Menschen diese in Besitz nahmen, ehe sie Zeit hatten sich zu
bewalden. Selbstverständlich halfen die Armut des Bodens und das
stürmische Klima dem Felde in seinem Kampfe gegen den Wald.
4. Kap. Die Seite 117 f. verteidigte These, daß der alte Stamm
daru — Spöc u. s. w. nicht Baum, sondern Eiche zur Urbedeutung
habe, wird sich schwerlich je beweisen lassen. Falsch ist die Ver-
mutung, daß dieses Wort im Germanischen die Bedeutung Kiefer^
angenommen habe: engl, tree, dän. träd und schwed. träd bedeuten
unfraglich Baum und nicht Kiefer, im Deutschen ist das Wort durch
die verschiedenen Gehölznamen anhängende Endsilbe der oder ter
vertreten. Hinter das altisländische tyrr = Kiefer wage ich ein
Fragezeichen zu setzen. Hoops nennt keine Quelle für dies wichtige
Wort und bietet keine Gewähr dafür, daß es richtig gedeutet und
richtig gelesen ist. Littauisch derwä Kienholz ist wohl nur speziali-
siert aus der allgemeineren Bedeutung Holz — russ. drawa.
Wichtig ist der Hinweis auf indisch pargai für Quercus ilex
Seite 119. Wenn auch der entsprechende Sanskritname für Ficus
religiosa gebraucht ist, so kann dennoch die Bedeutung Quercus ilex
1) Br. Tacke und 0. A. Weber, Ueber einen alten, gut gewachsenen Rot-
föhrenbestand über hartem and starkem Ortstein. Zeitschr. f. Forst- and Jagd-
wesen 1905 Heft 11.
2) In diesem Kapitel nennt Hoops die Pinus silvestris Föhre, während er sie
bis dahin Kiefer genannt hatte. Bei der immer noch herrschenden Unsicherheit
in der vulgären Nadelholznomenclatar ist solcher Namenswechsel nicht zweck-
mäßig.
932 Gtott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
die ursprüngliche sein. Und damit wäre die Eiche in die urindo-
germanische Flora aufgenommen. Dann wird auch die Wahrschein-
lichkeit sehr groß, daß das germanische fereha — foraha (Seite 118)
früher Eiche bedeutet habe als Kiefer. Freilich ist nicht ausge-
schlossen, daß schon zwei Wörter verschiedener Bedeutung gebildet
waren, ehe die germanische Sprache selbständig wurde; wie z. B.
lat. equus und aqua trotz ihrer Wurzelverwandschaft schwerlich erst
nach Isolierung der lateinischen Sprache ihre verschiedene Bedeutung
bekommen haben. Ja, können nicht ahd. foraha Kiefer und lango-
bardisch fereha Eiche grundverschiedene Wörter sein? Bei Hoops
findet sich altenglisch furh auf Seite 434 in der Bedeutung Kiefer
und Seite 345 in der Bedeutung Furche; Fuhre bedeutet in Nord-
westdeutschland sowohl Kiefer als auch Wagenladung und Fahrt;
Kiefer endlich bezeichnet nicht nur den oft genannten Baum, sondern
auch die Knochen, welche unsere Zähne tragen. Kein Philologe
denkt daran, diese Wortpaare zusammenzukoppeln. Wie Hoops
Seite 125^ zitiert, ist neuerdings auch faYstv von tprff6^ getrennt
Also können auch foraha und fereha verschiedenen Ursprungs sein.
Vielleicht denkt einmal ein Philologe daran, ob nicht der föhrenbe-
standene Berg Pyrrhaion auf Lesbos (Theophr. hist, plant. IQ. 9, 5)
seinen Namen von dieser Baumgattung haben kann. Ich bemerke
schließlich, daß die indische pargai von unseren Eichen recht verschieden
aussieht, so daß sie in Südeuropa von den Römern nicht quercus
sondern ilex, von den Griechen nicht Spöc sondern icpivoc genannt
wurde. Ihre Frucht ist nicht ßdXavoc sondern SxoXoc. Eine so un-
fragliche Uebereinstimmung wie bei den Birken liegt also bei den
Eichennamen nicht vor. Das ist auch ganz natürlich, denn die Birke
ist die einzige Baumgattung, welche von Nordwesteuropa bis Indien
und Nordasien durch einander sehr ähnliche Arten vertreten ist^).
Und wegen der großen Verschiedenheit der Baumfloren Indiens und
Europas darf man aus dem Fehlen verwandter und gleichbedeutender
Namen in diesen beiden Ländern nicht den Schluß ziehen, daß die
gemeinsame Ursprache ihrer Bewohner nur wenig Baumnamen be-
sessen hätte. Ob aber Hoops nicht zu weit geht, wenn er es für
sicher ansieht, daß diese Ursprache schon Birken, Espen, Buchen,
Eichen, Weiden, Eschen und Nadelhölzer unterschieden habe, das
mag dahinstehen. Was die Hypothese von dem Ursprungslande
dieser Sprache (Seite 128) betrifft, so will ich bemerken, daß alle
die genannten Bäume nicht nur in Mitteleuropa sondern auch im
Kaukasusgebiet vertreten sind.
1) Vgl. meinen Aufsatz im Globus 32 Seite 152.
Hoops, Waldbäame und Kalturpflanzen im gormanischen Altertum 933
leb möchte an dieser Stelle anregen, doch die Theorie vom
Exodus der Indogermanen aus einem Stammlande nicht fur unbe-
streitbar zu halten, vielmehr nachzuprüfen. Kann nicht Urindoger-
manien ein großes prähistorisches Reich gewesen sein^), in welchem
verschiedene Dialekte gesprochen wurden, aus denen später Sprachen
wurden, in ähnlicher Weise wie sich die romanischen Sprachen aus
den Provinzialdialekten des ehemaligen Römerreichs entwickelt haben?
Die verschiedenen Dialektgebiete können dann ja floristisch ver-
schieden gewesen sein, es können auch in der Industrie und Technik
verschiedener Provinzen verschiedene Bäume dem gleichen Zwecke
gedient haben und deshalb trotz erheblicher botanischer Verschieden-
heit gleich benannt sein.
5. Kap. Auf Seite 139 (wie auch später auf S. 167 u. a.) hat
Hoops das linksrheinische Deutschland nicht berücksichtigt. Sonst
wäre den vier süddeutschen Nadelwaldgebieten ein fünftes hinzuzu-
fügen, welches die Nordvogesen nebst den pfälzer Gebirgen und
Teilen des Hagenauer und des Bienwaldes umfaßt, und in dem die
Kiefer der herrschende Baum ist. Was den Namen des Schwarz-
waldes betrifft , so deutet er sicher auf Nadelholz. Aber daß er für
einen Edeltannenbestand beweisend sei, will mir nicht einleuchten.
Zwar wird niemand daran zweifeln, daß hier schon seit der Römerzeit
Edeltannen wuchsen, aber einen direkten Beweis, wie er für Alpen,
Jura und Vogesen bei Plinius XVI 197 vorliegt, haben wir nicht.
Die Seite 143 herangezogene Stelle aus Seb. Münster, wonach ein
Teil der Schwarz waldbe wohner von der Harzgewinnung lebt, ist
nicht nur kein > Beweis für die Massenhaftigkeit des Vorkommens
der Tanne <, sondern spricht im Gegenteil für das Vorhandensein
von Fichtenwäldern. Solche überwiegen heute in der Tat auf dem
hohen Schwarzwalde auf der Strecke zwischen Rench- und Murgtal
ganz bedeutend und sind nach Ausweis der Floren auch im südlichen
Teile des Gebirges häufiger als die Edeltannen. Wenn Hoops schon
Schriften des 16. Jahrhunderts heranzog, um den Baumbestand der
deutschen Wälder zur Römerzeit und im frühen Mittelalter zu er-
mitteln, dann durfte er die um jene Zeit erschienene botanische
Literatur nicht so ganz ignorieren. Viel findet sich in den Kräuter-
büchem ja nicht über Standorte und Verbreitung der Arten, aber
einiges doch.
Was im 5. und 6. Kapitel und an einigen anderen Stellen unsres
Buches über Ortsnamen und deren Ableitung geschrieben ist, wäre
besser ungedruckt geblieben. Daß Hoops bei diesen Versuchen selbst
1) Vgl. Globus 83 Seite 109.
934 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
auf englischem Sprachgebiete, auf dem er doch am sichersten ist,
arge Fehler gemacht hat, wurde bereits durch Max Förster im Bei-
blatt zur Anglia XVII Bd. No. VII (Juli 1906) nachgewiesen. Sollten
in Eichheim, Tanheim und manchen anderen angezogenen Ortsnamen
nicht eher Personen- als Baumnamen stecken? Eiko ist als Eigen-
name bekannt, ebenso Buko ; und Thannenkirch in den Vogesen (das
Hoops freilich nicht erwähnt, da er über den Rhein nicht hinausgeht)
gilt als Abschleifung von St. Annenkirch. Besondere Nachprüfung
verdienen die Seite 153 und vorher von der Lenne hergeleiteten
Namen, denn dieser Baum ist im Schwarzwald erheblich seltener als
der wertvollere, in den Namen nie vorkommende Bergahom. Wenn
ip Iburg Seite 149 wirklich ein Baumname steckt, so braucht es nicht
die Eibe zu sein, es kommt auch die life (Ulmus) in betracht, deren
Vorkommen unter diesem Namen Hoops S. 168 für die Rheinebene
nachweist. Auffällig ist, daß die nach der Hasel benannten Orte
fast alle Haslach heißen, während andere Baumnamen kaum je mit
ach zusammengesetzt sind. Die Hasel ist doch gerade kein Ufer-
oder Sumpfholz. Das bekannteste Haslach aber, Ober- und Unter-
haslach unterhalb Burg Nidek im Elsaß, liegt an einem Bache namens
Haselbach! Da liegt doch die Vermutung sehr nahe, daß Hasel ein
alter Gewässername sei.
In Oberbayern, das Hoops Seite 158 etwas stiefmütterlich be-
handelt, stehen die großen Kiefernwälder zum teil auf Moorboden,
der zur Römerzeit anscheinend noch vielerorts sumpfig war. Ihre
Hauptmasse aber überzieht ehemalige Aecker, die bekannten Hoch-
äcker. Für diese hat inzwischen F. Weber im Anthropol. Korre-
spondenzblatt 1906 nachgewiesen, daß sie zur Römerzeit urbar ge-
wesen und durch die Völkerwanderung wüst geworden sind. Vor
der Latenezeit waren dieselben Flächen nicht kultiviert, aber über
ihre damalige Vegatation wissen wir nichts.
Auf Seite 171 meint Hoops aus Ortsnamen nachgewiesen za
haben, daß die Kiefer im frühen Mittelalter im ganzen rechtsrheinischen
Rheintale waldbildend aufgetreten sei. Von Rastatt landaufwärts
wird dabei als einziger Name Forchheim bei Riegel beigebracht
Dieses Forchheim nun gehört zu einer großen Gruppe, meist links-
rheinisch gelegener Orte auf -heim, die soweit ihre Herkunft klar
ersichtlich ist, auf Personennamen zurückgehen, z. B. Markolsheim,
Artolsheim, Algolsheim, Baldenheim, Balzenheim, Hessenheim, Jebs-
heim, Herbolzheim. Da muß man doch vermuten, daß es zur Zeit
der Gründung Forchheims einen Personennamen gegeben habe, der
zu Forch verdreht oder abgeschliffen werden konnte. Landabwärts
stoßen wir wenigstens auf einen Namen, der mehr Vertrauen erweckt,
Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 935
den des Waldes Forehahi zwischen Mannheim und Darmstadt. Man-
cherlei floristische Gründe sprechen dafür, daß dort in der Tat alte
Kiefernwälder waren, und die Holzrechnungen der weiter landauf
gelegenen bischöflich speyerschen Forsten^) weisen wenigstens im
Anfange des 18. Jahrhunderts zwischen mancherlei Laubholz nicht
wenige Kiefern (Fohren, Forlen) auf.
Zu Seite 181—183. Die schönen, von Touristen viel besuchten
Buchenwälder Ostholsteins sind keine Reste des großen Waldes der
Helmoldschen Zeit. Sie bilden meist schmale Streifen an den Ufer-
abhängen der Seen und Flüsse, die ihrer Steilheit wegen schlecht
zu pflügen sind, und deshalb im 18. und 19. Jahrhundert aufgeforstet
wurden. Auf den Dankwertschen Karten von 1652^) sind alle diese
Ufer noch unbewaldet, und am Ugleisee waren vor 15 Jahren die
Reste alter Alleen längs der eingezogenen Feldwege noch im Walde
deutlich erkennbar.
Die Polargrenze der Tilia grandifolia liegt nicht in Mitteldeutsch-
land. Diese Art kommt noch in Dänemark vor. Ob Linden in unseren
Wäldern von kultivierten Bäumen abstammen oder lauter wilde Ahnen
gehabt haben, das ist eine Frage, die sich im Einzelfalle manchmal
zii gunsten der ersteren, eigentlich nie zu gunsten der letzteren Alter-
native einwandsfrei entscheiden läßt. Dasselbe gilt in der Ebene
vom Bergahorn (Acer pseudoplatanus). Betreffs der Lenne (Acer
platanoides), die früher kaum gepflegt wurde, stimme ich Hoops bei,
sie muß in Altsachsen vorgekommen sein. Der mapalder der Angel-
sachsen ist Acer campestre, wie auch weiter unten auf Seite 256
angenommen wird.
Wenn Hoops Seite 191 meint, daß niederdeutsch Danne in Orts-
namen die Rottanne oder Fichte bedeute, so kennt er den norddeut-
schen Sprachgebrauch nicht. Der Gebrauch von Danne bezw. Tanne
für die Kiefer ist bezeugt bei Ascherson, Flora d. Prov. Brandenburg
1. Abt. Seite 880 (1864), Marsson, Flora v. Neuvorpommern S. 611
(1869), Becker, Beschreibung der Bäume und Sträucher, welche in
Mecklenburg wild wachsen, 2. Aufl. Seite 25 (1805), Niemann, Vater-
ländische Waldberichte, 4. Stück Seite 618 (Altona 1820). Dagegen
nennt man Pinus silvestris in Hinterpommem, der Neumark und
einigen mitteldeutschen Gegenden Fichte. Als wilde ^) Fichte ist sie
auch in Lonitzers Kräuterbuch (Frankfurt 1564) abgebildet, kommt
aber zwei Seiten später nochmals vor mit den Namen Feure, Tälle
1) Hausrath, Forstgeschichte der rechtsrhein. Teile d. ehem. Bist. Speyer 1898.
2) Newe Landesbeschreibong der zwei Herzogtümer Schleswich und Holstein.
3) Die zahme ist Pinus cembra (Zirbe, Arve), welche aber von der Pinie
nicht sicher abgegrenzt erscheint.
986 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Eynbaum und Eyfer. — Während Hoops sich an der eben be-
sprochenen Stelle bemüht, viele mittelalterliche Fichtenbestände im
mittleren Norddeutschland nachzuweisen, rechnet er Seite 205 mit
ganz anderen Voraussetzungen. Hier rechnet er mit der Theorie
der Aschersonschen Schule, daß ein ozeanisches Klima das Nadelholz
von der Nordseeküste zurückgedrängt hätte, bis es neuerdings wieder
eingeführt wäre. Diese Theorie hatte zur Voraussetzung, daß die von mir
(Petermanns Mitt. 1892 Taf. 18) angenommene Nordwestgrenze der
Nadelhölzer im Mittelalter richtig und auch alt war. Inzwischen ist
aber durch Friedrich, Weber, Prejawa u. A. nachgewiesen, daß sich
Nadelholz in den abgelegenen Gegenden des nordwestlichen Deutsch-
lands durch das ganze Mittelalter erhalten hat, und daß es zur
Römerzeit noch in ziemlicher Menge im westelbischen Tieflande vor-
handen gewesen sein muß. Jene gemutmaßte Periode eines für den
Nadelwald verderblichen ozeanischen Klimas müßte also in der Haupt-
sache mit dem Mittelalter zusammenfallen und jetzt vorbei sein, denn
jetzt gedeihen Nadelwälder ja sehr schön im alten Heidegebiet. Wir
haben aber gar keine Ursache anzunehmen, daß irgendwann während
der letzten 3000 Jahre unser Klima »ozeanischer« gewesen sei als
jetzt. Und ich habe oben schon darauf hingewiesen, daß der ver-
derbliche Einfluß eines solchen Klimas auf den Nadelwald gamicht
nachgewiesen ist. Wenn es sich ferner bestätigen sollte, daß die
Angelsachsen bei ihrem Einzüge in England dort Kiefern vorfanden,
eine Frage, auf die ich später einzugehen habe, dann wäre es vol-
lends klar, daß die Periode, während welcher unsere Nadelbäume im
ganzen südlichen Bereiche des Nordseeklimas fast ausgestorben waren,
einen ganz kurzen Zeitraum umfaßt, welcher die letzten Jahrhunderte
des Mittelalters und die ersten der Neuzeit umfaßte, und es wird
für dies Abnehmen der in Rede stehenden Holzarten keine andere
Ursache gefunden werden können wie für ihr gegenwärtiges Zu-
nehmen: die menschliche Wirtschaft.
Zur Geschichte des Wortes Fuhre Seite 207 steht ein wichtiger
Beitrag in der Festschrift zur Naturforscherversammlung in Lübeck
1895, wo S. 301 P. Friedrich eine Urkunde von 1370 beibringt, in
der >vorden holt« am Travezoll bei Oldesloe erwähnt wird. Die
Gegend gehört in das Gebiet, welchem der Name Fuhre jetzt fremd
ist. Die von Hoops erwähnten Weberschen Urkunden, welche den
Namen Fuhre für abgelegene Wälder zwischen Soltau und Celle
nachweisen, stammen aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts.
Die Seite 211 angezogene Stolbergsche Urkunde von 1496 habe
auch ich früher als beweisend dafür angesehen, daß die Edeltanne
damals am Harze vorgekommen sei. Inzwischen habe ich mich über-
Hoops, Waldbäome und Koltarpflanzen im germanischen Altertam 937
zeugt, daß unter Tanne dort immer und überall die Fichte zu ver-
stehen ist. Die fiechten und keynboyme müssen dann beide Kiefern
sein. Da auch Lonicerus Kräuterbuch, wie oben zitiert, diese letztere
einmal als Fichte und einmal als Feure oder Kynbaum etc. aufführt,
so liegt die Annahme nahe, daß man zwei Formen der Kiefer (viel-
leicht Nutzstämme und Kienholz) unterschieden habe. Auch in Bocks
Kräuterbuch (ed. Sebiz 1580) steht einmal >der wild Hartzbaum ge-
nandt Kynholtz« und zwei Seiten weiter der >feist Hartzbaum dar-
auß man zu Winterszeiten an etlichen örtern fackelen machet<.
Zu Seite 233. Die Nordgrenze der Edeltanne läuft gegen-
wärtig von den Hebriden durch Schottland und Jutland (vielleicht
gar Norwegen) nach Littauen. Die abweichende Angabe, welche
Hoops von Ascherson-Graebner entnommen hat, beruht auf der Sitte ^)
der Floristen, Standorte von Pflanzen, welche ihren Ursprung der
Anpflanzung oder Aussaat verdanken, zu ignorieren. Da die Ent-
scheidung, ob eine Pflanze an gegebener Stelle urwüchsig oder ein-
geführt ist, oft sehr schwer ist, so sind manche Grenzlinien auch in
neueren Floren stark von der persönlichen Anschauung des jeweiligen
Schriftstellers beeinflußt. Die Edeltanne gedeiht jedenfalls in Ost-
friesland und Schleswig vorzüglich, wächst schnell und sät sich reich-
lich aus. Forstwirtschaftlich sind die Bestände in der Ebene freilich
wenig wert, schon in Lothringen erreichen siebzigjährige Bäume in
Brusthöhe 4 m Umfang, werden mit 100 Jahren altersschwach und
haben schwammiges Holz. Die von Hoops konstruierte mittelalter-
liche Grenzlinie der Art kann richtig sein.
Auch die S. 234 f. gegebene gegenwärtige Fichtengrenze beruht
auf willkürlicher Ausschaltung von Standorten; die Fichte ist durch
die ganze norddeutsche Ebene und Dänemark verbreitet, wenn auch
nicht überall häufig.
S. 241 ist die Angabe, daß die Eibe in Mecklenburg häufiger
auftrete, ungenau. Wir kennen außerhalb der Gärten nur ein ein-
ziges Exemplar in diesem Lande, und schon im 16. Jahrhundert war
sie selten. Auch die südwestdeutschen Botaniker jener Zeit kannten
den Baum nicht durch Augenschein; Bock nennt ihn den welschen
Ibenbaum und bildet ihn gar nicht ab, und Lonitzer zeichnet einen
Laubzweig mit länglichen gekerbten Blättern.
1) Darauf beruht auch meine frühere unrichtige Angabe über die Kiefer in
England, welche Hoops Seite 268 Anm. 3 berichtigt. Er hat aber nicht gemerkt,
dafi dieselbe Berichtigung auch für die dänischen Inseln u. s. w. angebracht war.
Erst in den Jetzten Jahren (Sturms Flora v. Deutschland 2. Aufl.) habe ich ange-
fangen, die Standorte der Pflanzen dem Tatbestande der Gegenwart entsprechend
anzugeben; die meisten Fachgenosseu tuen das noch immer nicht.
G«U. s«L Ans. 1906. Nr. 12 66
938 Qött gel. Anz. 1906. Nr. 12
6. Kap. Auf den Eichen schmarotzte die uralt heilige Mistel,
heißt es Seite 256 in der Schilderung der angelsächsischen Flora.
Die Mistel wächst so ziemlich auf allen unseren Laubhölzern (auch
auf Edeltanne und Kiefer), nur gerade auf der Eiche nicht. Wenigstens
kenne ich weder durch Augenschein noch aus der Literatur ein sol-
ches Vorkommen. Was neuerdings zuweilen Eichenmistel genannt
wird, ist der ganz verschiedene Loranthus europaeus, der nicht ein-
mal immergrün ist, seine Nordgreuze liegt im Königreich Sachsen.
Daß eine Mistel um zauberkräftig zu sein auf einer Eiche gewachsen
sein müsse, wird wohl ein seit der Urzeit fortlebendes Priester-
märchen sein.
Daß es Linden in England schon in vorrömischer Zeit gegeben
habe, ist an sich recht wahrscheinlich. Andrerseits kann die Be-
hauptung, daß sie erst durch die Römer ins Land gebracht seien,
nicht dadurch entkräftet werden, daß Uoops Seite 260 ihr häufiges
Vorkommen in angelsächsischer Zeit feststellt Wenige Jahrhunderte
würden zu ihrer völligen Einbürgerung genügt haben. Wenn jetzt
ein neues Volk nach Norddeutschland einwanderte, würde es an vielen
entlegenen Orten Lärchen, Krummholz und Akazien treffen, die kaum
200 Jahre dort sind.
Ueber den Buchsbaum (Seite 262) und die Eibe (Seite 270) in
England vergl. die Rezension vom Grafen zu Solms-Laubach in der
Botanischen Zeitung 63 Seite 309 f. (1905). Freilich schließt das
jetzige Vorhandensein jahrhundertealter Buchsbestände nicht aus, daß
die Pflanze doch zuerst von den Römern eingeführt ist. In Deutsch-
land halte ich allen Buchs für gepflanzt oder verwildert. Im Mosel-
lande schließt er sich an alte Kulturstätten an, namentlich die
Bertricher Heilquelle. Und ein mir als >wild< angepriesener Strauch
bei St. Peter im elsässer Jura steht neben Syringengebüsch !
Die Angabe auf Seite 265, daß Sambucus ebulus in Deutschland
nicht heimisch sei, ist auf die nördliche Ebene einzuschränken. Im
Berg- und Hügellande gehört die Staude zur Waldflora, für die
Schweiz ist sie bereits in neolithischer Vorzeit nachgewiesen, wie
Hoops selbst auf Seite 299 berichtet. Störend ist es, daß er die Art
hier Zwergholunder, vorher dagegen Krautholunder nennt; wenn nicht
der lateinische Name beidemal dabeistände, könnte ein Nichtbotaniker
denken, daß es sich um verschiedene Arten handelt.
Auf Seite 268 soll das Vorkommen der Wörter plntreow und
furhwudu im Altenglischen beweisen, daß in angelsächsischer Zeit
die Kiefer in England vorgekommen sei. Von dem pintreow erfahren
wir auf Seite 269, daß seine Zweige und Früchte in Arzneibüchern
erwähnt werden. Es liegt doch nahe, hier zunächst an die Pinie za
Hoops, Waldbäame und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 939
denken, denn in einem Arzneibucbe können ausländische Drogen vor-
kommen, und lat. pinus ist die Pinie; Föhren und Kiefer hießen pi-
naster und taeda. Auf Seite 273 hören wir denn auch, daß pine bei
Shakespeare in der Bedeutung Pinie vorkommt. Furhwudu^) ist
uufraglich Kiefernholz. Aber solange uns Hoops nur die nackte
VokabeP) bietet, können wir nicht wissen, ob dasselbe in England
gewachsen war. Wieviel Pflanzenarten werden nicht in altisländischer
Sprache erwähnt, die nie auf jener nordischen Insel vorgekommen
sind. Schneewittchens Haar ist schwarz wie Ebenholz. Von der
Sprache unsrer verkehrsreichen Gegenwart ganz zu schweigen.
Altenglisch cwicbeam wird Seite 256 als Vogelbeere, Seite 270
als Wacholder gedeutet. Im norddeutschen, das ja nach den Aus-
führungen des 14. Kapitels viele Namen mit dem englischen gemein
hat, ist Quitsche die Vogelbeere. Der Wacholder hat seinen alt-
germanischen Namen (weckalter-machandel) nicht nur in England,
sondern auch in Dänemark (Eneber aus Juniperus), Mecklenburg
(Knirk) und Bayern (Kranewit) verloren. Daß die neuaufgekommenen
Namen in England und Dänemark lateinischer Herkunft sind, beweist
nicht etwa die Seltenheit der Pflanze in diesen Ländern, sondern
hängt damit zusammen, daß Drogennamen aus den Apotheken ins
Volk drangen. Dafür gibt es viele Beispiele.
Zu Seite 272. Wenn engl, fir zuerst in der Form firre als
Name der aus Frankreich eingeführten Edeltanne auftritt, dann sehe
ich keine andere Erklärungsmöglichkeit, als die Vermutung, daß der
normannische Kiefernname in Frankreich auf die Edeltanne überge-
gangen war.
7. Kap. Auf Seite 228/9 sind einige paläolithische Schnitzereien
aus Südfrankreich abgebildet, die auf jeden Unbefangenen den Ein-
druck von Getreideähren machen sollen. Wenn man aber in botani-
schen Kenntnissen befangen ist und weiß, wie naturwahr jene Alten
die Tiere darstellten, dann wird man es kaum für möglich halten,
daß dieselben eine Kornähre mit drei Zeilen geschnitzt haben. Immer-
hin mag jetzt damit gerechnet werden, daß die letzten Paläolithiker in
Frankreich Gerste und Weizen gekannt haben — eine andere Frage
ist, ob sie diese Pflanzen nicht von den Neolithikem, deren erste
Vertreter damals schon eingewandert waren, übernommen hatten. Denn
in Frankreich haben wir den »Hiatus« nicht Nach Einwanderung
1) Das Seite 434 genannte einfache furh ist wohl nur aus diesem forh-
wudu erschlossen und hätte eigentlich den ühlichen Stern tragen müssen.
2) Daß seihst dichterische Schilderungen täuschen können, lehrt der Hof-
jagdbericht in der 16. Aventiure der Nibelungen, in dem im Wasgenwalde aufter
anderen Tieren, die es gibt und nicht gibt, sogar ein Löwe zur Strecke kommt
66*
940 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 12
der Neolithiker kommen die Paläolithiker herunter, und von neoli
tbischer Kultur beeinflußte Reste paläolitbiscber Stämme sind e
wabrscbeinlicb, die aus der Oekumene verdrängt längs der nörd
lieben Küsten scbon in der Kiefemzeit bis zur westlichen Ostsee ge
langen.
Der Abscbnitt von Seite 283 bis 306 stützt sich großenteils au
Buschans prähistorische Botanik, ein Buch, welches selbst ein st
milder Richter wie Ranke (Anthropol. Korrespondenzblatt 1905 S. 92
als unzuverlässig hinstellen mußte. Inzwischen ist eine neue nnc
kritische Zusammenstellung prähistorischer Pflanzenreste von £. Neu
weiler erschienen im 50. Jahrgang der Viertelijahrsschrift d. Natur-
forsch. Gesellschaft zu Zürich (I.Heft 1905). Unsicher bleiben manche
Bestimmungen dennoch. Wie weit die Ansichten botanischer Autori-
täten manchmal auseinandergehen, dafür steht ein Beispiel bei Hoops
Seite 303 (was Schröter als Emmer bestimmt, kann nach Eörnicke
ebensogut Spelz sein), weitere in größerer Zahl bei Neuweiler a. a. 0.
lieber Triticum turgidum (Seite 294) wäre Sarauws Aufsatz im
23. Bd. der Botanisk Tidsskrift zu vergleichen gewesen. Damach ist
alles Triticum turgidum der Prähistoriker und auch T. vulgare anti-
quorum Heer zu T. compactum, dem Zwerg- oder Binkelweizen
(Kubbhvede der Schweden) zu bringen.
Auf Seite 297 und 329 sind Pastinak, Möhre und Kümmel wegen
falscher oder unsicherer Bestimmung zu streichen (nach Neuweiler).
Der Flachs der Pfahlbauer (Seite 298 und 331) ist nach Neu-
weilers Untersuchung von dem Linum angustifolium der Mittelmeer-
länder bestimmt verschieden und am meisten dem L. austriacum ähn-
lich. Dies ist eine südosteuropäische formenreiche Sippe, welche von
L. perenne und auch von L. alpinum nur schwer abzugrenzen ist.
Mehrere Formen dieses Kreises wachsen in Mitteleuropa nördlich der
Alpen und in den Alpen selbst wild. Aber mit keiner fand Neu-
weiler den Pfahlbauflachs genau übereinstimmend. Er stellte schließ-
lich die These auf, dieser letztere sei die gemeinsame Stammform
von austriacum und perenne, welche nebst dem echten Flachs (L
usitatissimum) von L. angustifolium abstamme.
Zu Seite 299. Von Birnen fand Neuweiler nur die Form achras,
die echte Holzbirne. Die Süßkirsche kommt öfter vor. Die Zwetsche
ist sehr unsicher, nur der Fund vom Schweizersbild (Seite 300)
kommt in Frage.
Von den Aepfeln der P&hlbauten kann Neuweiler nicht ent-
scheiden, zu welchen Formen sie gehören, und ob es überhaupt mehr
als eine Form ist. Walnußreste sah Neuweiler aus zwei neolithiscben
Fundschichten am Bodensee, jedesmal vereinzelt. Traubenkeme (Seite
Hoops, Waldbäame und KultorpflanzeD im germanischeD Altertum 941
300) sind nur an einer Stelle nachgewiesen, wenige Stücke aus der
Uebergangszeit vom Neolithicum zur Bronce bei St. Blaise in der
welschen Schweiz. Zu streichen ist die vielbesprochene Silene cretica.
Neuweiler konnte die ihr zugeschriebenen Samen zwar nicht positiv
bestimmen, aber von jener Art doch sicher unterscheiden. Daß
Meldensamen (Chenopodium album) sich unter Verhältnissen finden,
die zu dem Schlüsse berechtigen, daß sie zur Nahrung gedient haben,
hätte auch in diesem Kapitel erwähnt werden sollen (s. Seite 468), denn
möglicher Weise sind Melden in der Urzeit angebaut gewesen.
Zu Seite 317. Daß die Spelzarten wegen ihrer zerbrechlichen
Spindel entwickelungsgeschichtlich älter sind als die zähspindeligen
eigentlichen Weizen, ist nicht nötig. Es gibt unter den wilden Arten
der Gattung Triticum solche mit zäher und solche mit brüchiger
Spindel. Zu ersteren gehört das bekannte Queckengras (T. repens),
zu letzteren T. junceum der Stranddünen. Dem Pflanzensammler sind
die brüchigen Grasarten wohlbekannt, weil ihre Konservierung im
Herbarium große Schwierigkeiten macht, sie smd im Vergleich mit
den zähen wenig zahlreich. Auch eine leichte Trennbarkeit der
Spelzen von der Frucht darf nicht ohne weiteres als Kulturmerkmal
angesprochen werden. Es gibt eine nie kultivierte Grasgattung
(Sporobolus), bei welcher nicht nur die Früchte aus den Spelzen,
sondern auch die Samen aus der Schale herausfallen, während Weizen
und Gerste trotz mehrtausendjähriger Kultur immer noch mühsam
geschält werden müssen, wenn wir Graupen haben wollen. Es muß
also mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die eigentlichen
Weizenrassen nicht von Emmer und Spelz abstammen, sondern teil-
weise mit diesen gleichen Alters sind.
Die Erbse (Seite 328) ist von Neuweiler in den Pfahlbauten der
Steinzeit häufig nachgewiesen.
Ob die Walnuß in der Steinzeit am Bodensee kultiviert wurde,
bleibt trotz der Neuweilerschen Funde zweifelhaft. Die Nüsse können
sehr wohl als Handelsware dorthin gekommen sem. Wären sie an
Ort und Stelle gewachsen, würden sich ihre dauerhaften Schalen
wohl öfter finden. Auch die aus dem Ende der Steinzeit stammen-
den Traubenkerne von St. Blaise können aus eingeführten Rosinen
stammen. G^nußmittel gehören überall zu den Gegenständen des
primitiven Handels.
Auch die Kultur des Apfels (Seite 336) ist in Frage gestellt, da
die gefundenen Reste sich als unbestimmbar erwiesen haben. Der
echte Holzapfel ist nach meinem Geschmack noch ungenießbarer als
Schlehen und Eicheln, und wenn die Pfahlbauern ihn gesammelt
haben, ist es wohl für die Schweine gewesen.
942 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
8. Kap. Dieses Kapitel hängt eigentlich in der Luft, da es auf
die unbewiesene Annahme gegründet ist, daß die Urindogennanen
europäische Neolithiker waren. Die Urverwandtschaft von aes und
Erz mit altindischen und zendischen Metallnamen weist vielmehr
darauf hin, daß es bronzezeitliche Völker waren, welche die indo-
germanische Ursprache gebrauchten. Ob es schon früher, zur Stein-
zeit, eine indogermanische Sprache gegeben hat, ist durchaus unge-
wiß. Von Ewigkeit existiert doch dies Idiom nicht, es muß nicht nur
irgendwo sondern auch irgendwann einmal entstanden sein. Entstand
aber das Indogermanische erst in der Bronzezeit, dann können die
älteren Sprachen, welche in der neugebildeten aufgingen, schon eine
Anzahl ackerbautechnischer Worte gehabt haben, die in den Dialekten
Indogermaniens fortbestanden, ähnlich wie semerzeit barbarische
Wörter in die römischen Provinzialdialekte übergingen. Die große
Verschiedenheit europäischer und arischer Sprachen wäre dann nicht
wunderbar.
Zu Seite 351 und 466. Daß die Rübe im gemäßigten Europa
einheimisch sei, ist zwar von Botanikern oft behauptet, aber die
Brassica campestris, welche die Stammpflanze sein soll, findet sich in
Deutschland überall nur an Ackerrändern und an Schuttplätzen und
selten durch eine Reihe von Jahren an gleicher Stelle. Ich halte
deshalb die Brassica campestris für verwilderte Rüben. Auch neuere
französische Floristen (Coste, Flore de France I) bezeichnen die
Brassica Rapa nur als cultiv6e et subspontan^e, und Schmalhausen ^)
kennt als Standorte der wilden Form in Rußland nur Saatfelder und
Schuttplätze. Noch heute läßt sich nicht mehr sagen, als bei v. Fischer-
Benzon (Altd. Gartenpfl. 113) zu lesen ist: >Ueber die Heimat der
Rüben ist man nicht genau unterrichtet, doch ist man geneigt, Süd-
europa dafür zu halten.« Der deutsche Name ist doch wohl aus dem
lateinischen entlehnt.
Das althochdeutsche gires und seine Verwandten (Seite 367) sind
nicht einheimische Unkrautnamen, sondern Bezeichnungen einer im-
portierten Droge, des Bubon macedonicum Linnö (bei Pritzel- Jessen
unter Seseli). Bock (1580) hat unter dem Namen Gerlin (Gerlein,
Gierlein) zwei Doldengewächse, das eine ist anscheinend von der
Pastinake nicht verschieden (fol. 157), das andere (fol. 322 als Nach-
trag) ist Sium sisarum. Dies letztere steht auch bei Lonitzer als
Gierlein. Auf Aegopodium Podagraria soll der Name Girsch über-
tragen sein, weil sie in den Apotheken als Surrogat des Bubon
macedonicum geführt wurde. Ich habe früher angenommen, das
1) ^.lopa cpe^Hefi h lOXCHoä PocciH etc. I. Bd. 1895.
Hoops, Waldbäome und Kulturpflanzen Im germanischen Altertum 943
deutsche Giersch sei aus Herba St. Gerardi, dem Äpothekernamen
der Podagraria entstanden. Könnte aber nicht umgekehrt der Klang
des deutschen Namens Anlaß gewesen sein, die Pflanze dem ge-
nannten Heiligen zu dedizieren?
Seite 368 wird ags. fyrs, welches Quecke bedeutet, in Beziehung
gebracht zu griechischem Tcopöc. Die Aehnlichkeit der Quecke mit
dem Weizen soll diese Namensübertragung veranlaßt haben. Das ist
unglaubhaft. Die Verwandtschaft zwischen Quecke und Weizen er-
kennt nur ein systematisch geschultes Auge; auch die Botaniker des
16. Jahrhunderts ahnten davon nichts. Uebrigens erscheint dasselbe
fyrs, welches S. 344 und 368 die Quecke bezeichnet, auf Seite 256
in der Bedeutung Ulex. Es wird Sache eines Philologen sein, diesen
Namen zuerst mit dem deutschen Pfriem zu vergleichen, das ja in
seinen ahd. Formen primma, brimma und phrimma (Grimms Wörter-
buch) alle möglichen Anlautstufen zeigt. Vielleicht bedeutet fyrs ge-
rade wie das möglicherweise verwandte englische broom in erwei-
tertem Sinne Unkraut überhaupt
9. Kap. Aus den beigebrachten Tatsachen ergibt sich für mich
nur, daß die Indogermanen in ihrer ältesten Bronzezeit hauptsäch-
lich Gerste, weniger Weizen und Hirse bauten und daß sie die Birke
kannten und beachteten. Alles übrige ist unsicher.
Wenn Hoops meint, Indogermanien sei ein Land gewesen, in
welchem die Gerste besser gedieh als der Weizen, so ist das wenig
einleuchtend. Denn gerade in diesem Falle wäre Weizen, auf den
besseren Boden beschränkt, die wertvollere Frucht gewesen. Warum
soll nicht jenen Alten die Gerste besser geschmeckt haben als der
Weizen? de gustibus non est disputandum. Das indogermanische Ur-
meer braucht durchaus kein Meer im Sinne des neuhochdeutschen
Sprachgebrauches zu sein. Die ältere Bedeutung des Wortes ist am
Ende Landsee. Wir haben die Mare in der Eifel, in Nordwest-
deutschland das zwischenahner und das steinhuder Meer, und das
>vom Fels zum Meer< der Hohenzollern bezieht sich auf den Boden-
see. Dagegen heißen unsre Ozeanbuchten Ost- und Nordsee, bei den
Dänen öster- und vesterhav. An der deutsch-französischen Sprach-
grenze haben wir die Vogesenseen Retournemer, Longemer, Gerard-
mer, Namen die jetzt freilich auf die anliegenden Orte übertragen
sind, so daß nun vom lac de Retournemer u. s. w. gesprochen wird.
Vielleicht ist das idg. Urmeer gar nicht mehr vorhanden. Die Land-
schaft Poljesje an der Grenze von Wolhynien und Minsk ist fraglos
ein ehemaliger großer flacher See, der dann zugeschwemmt und ver-
sumpft ist. In der älteren Bronzezeit kann dort noch eine stattliche
Wasserfläche gewesen sein.
944 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Positiv festlegen läßt sich Indogermanien heute noch nicht, aber
mir scheint nichts gegen die Annahme zu streiten, daß es mit seiner
Hauptmasse "in Kleinrußland und Wolhynien gelegen habe.
10. Kap. Dieses halte ich im allgemeinen fur einen der aller-
wertvollsten Teile des Buches.
Seite 383 stellt Hoops als allgemein anerkannt hin, daß die
bronze- und eisenzeitlichen Völker Nord- und Mitteleuropas Indo-
germanen gewesen seien. In der Eisenzeit sind doch bestimmt schon
finnisch sprechende Stämme an der nordbaltischen Küste anzusetzen,
und wer früher da gewohnt hat, ist ganz ungewiß. Die allgemeine
Annahme geht meines Wissens auch nur dahin, daß Südskandinavien
und das heutige Norddeutschland in jenen Zeiten von blonden doli-
chocephalen Menschen bewohnt waren. Und diese Rasse wird von
Einigen identifiziert mit den Indogermanen ^). Hoops hat sich sonst
in bewundernswerter Weise von der Verquickung der Rassenge-
schichte und Sprachgeschichte freigehalten. Aber die hier in Rede
stehende Stelle scheint doch von den Arbeiten der Rassentheoretiker
beeinflußt zu sein. Für die ganze ältere Eisenzeit (d. h. das letzte
halbe Jahrtausend vor Beginn unserer Zeitrechnung) können wir in
Südskandinavien und fast ganz Nord- und Mitteldeutschland an-
nehmen, daß die Einwohner germanisch sprachen; diese prähistorische
Periode knüpft sich schon sicher genug an historische Tatsachen an,
aber darüber hinaus ist alles ungewiß.
Kolbenhirse (Seite 394) ist nach Neuweilers Zusammenstellung
im prähistorischen Mitteleuropa, außer in der Schweiz, nur für Lobo-
sitz nachweisbar. Die Funde aus dem östlichen Nord- und Mittel-
deutschland gehören zur Rispenhirse, sind aber nicht sicher über die
Slavenzeit hinaufzudatieren.
Zu Seite 398 (und 455). Ein Flachsfund der germanischen Eisen-
zeit der Ostprignitz ist bei Neuweiler mitgeteilt. Es liegt Linum
usitatissimum vor mit Wegerich und Spergula sativa dazwischen.
Die Stammpflanze der Großen Bohne ist gänzlich unbekannt. Die
Seite 403 dafür angesprochene Vicia narbonensis ist dieser zwar ähn-
licher als andere Wicken, aber doch noch recht verschieden (vgl.
auch Solms a. a. 0.).
11. Kap. Was die Seite 396 erörterte Ursache des Aufhörens
des Hirsebaus betrifft, so ist wenigstens die Kolbenhirse gegen das
1) Daß idg. Idiome durch Völker dieser Rasse weit verbreitet ¥rurden, daran
kann man wohl nicht zweifeln, wenn man die Rassen und Sprachen Asiens ver-
gleicht. Aher daraus folgt nicht, daß diese blonde Rasse die Sprache auch ge-
bildet hatte. Ich erinnere daran, wie die deutsche Sprache durch die Juden im
slavischen Osteuropa verbreitet ist.
Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 945
norddeutsch -dänische Klima nicht empfindlich. Ihre wilde Form
(Panicum viride) wächst dort auf Sandfeldem nicht selten. Ob die
Rispenhirse kälteempfindlich sei, hat man schwerlich geprüft. Aus
verschlepptem Samen (Vogelfutter) aufgegangene Pflanzen verhalten
sich wie verwildertes Getreide: blühen, tragen auch wohl Früchte,
aber halten ihren Standort nicht.
Um die Gestaltveränderung von Kulturwörtern zu beweisen, sollte
doch nicht die Entstehung vonZwetsche aus Damascenum hingestellt
werden (Seite 464). Daß das alte prunum Damascenum unsere
Zwetsche war, scheint ja sicher zu sein. Aber der schriftdeutsche
Name ist doch am Ende durch Zetacismus aus dem in Südwest-
deutschland noch landläufigen Quetsche hervorgegangen, was wiederum
mit dem norddeutschen Quitsche (Vogelbeere, s. o.) zu vergleichen
ist. Siehe auch K. E. H. Krause im Niederd. Jahrbuch Jahrg. 1886
(12) Seite 97 ff. Ein viel besser gesichertes Beispiel für den hier von
Hoops verfolgten Zweck ist die Entstehung von Aprikose aus prae-
cox. Daß die Zwetsche in Mitteleuropa heimisch sei, wie Seite 543
vermutet wird, ist unrichtig. Sie kommt in Deutschland nicht einmal
eingebürgert vor, sondern ist gleich Pfirsich und Aprikose auf das
Kulturland beschränkt. Die prähistorischen Zwetschensteine bedürfen,
wie gesagt, erneuter Bestimmung.
Zu Seite 467. Daß Lehnworte als Namen wildwachsender Pflanzen
nicht weit wandern, darf man nicht behaupten. Ich erinnere an die
in Deutschland landläufigen slavischen Entlehnungen Preißelbeere,
Ziest und Oelsenich. Auch die Verdrängung der einheimischen
Wacholdernamen durch den lateinischen auf der ganzen Strecke von
England bis Skandinavien ist hier zu beachten. Zuweilen wandern
die Namen mit im Freien gesammelten Drogen wie Rhabarber, Trüffel.
Dennoch kann die Annahme richtig sein, daß die alten Germanen
Lauch gebaut haben. Nur ist zu bemerken, daß von allen seit dem
frühen Mittelalter kultivierten AUiumarten keine in Deutschland ein-
heimisch ist, ausgenommen vielleicht den Schnittlauch an einigen
Uferstrecken. Selbst Allium scorodoprasum ist Weinbergs- und Oed-
landsunkraut und findet in der autochthonen Flora keinen Platz. Der
Lauch ist also trotz seines deutschen Namens ein Fremdling — wie
der Spelz. Dasselbe gilt von der Kresse, die Hoops leider über-
gangen hat. Bei Besprechung des Lauches hätte etwas über die
BockenboUe gebracht werden können, deren Name anscheinend immer
noch von den Deutschen für französisch, von den Franzosen für
deutsch gehalten wird.
Siser, Plinius XIX, welches Hoops Seite 467 durch Mohrrübe
946 GOtt. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Übersetzt, war nach v. Fischer-Benzon Altd. Gartenflora S. 117 wahr-
scheinlicher die Pastinake.
Zur Geschichte der Melden (Seite 468) wurde schon oben —
nach Neuweiler — bemerkt, daß es doch zweifelhaft erscheint, ob
diese Pflanzen zuerst als Ackerunkräuter ins Land gekommen sind.
Mehrere Arten gehören zur alten Flora der Salzstellen, deren es,
abgesehen von der Küste, in Mitteldeutschland recht viele gibt.
Zu cedelc-keddik (Seite 469) ist dänisch kiddike, Raphanus Ra-
phanistrum (Lange, Handbog i d. danske Flora 4. Aufl. S. 625) nach-
zutragen. Sollte das hochdeutsche Hederich dieser Sippe ganz fremd
sein? — Sinapis alba ist Kulturpflanze und zeigt sich als Unkraut
nur selten und unbeständig. Dagegen sind Sinapis arvensis und Ra-
phanus ßhaphanistrum nur Unkräuter und nie kultiviert gewesen.
Das Zitat aus Fischer-Benzon (Seite 470*)) bezieht sich auf Sinapis
(Brassica) nigra, welche noch gegenwärtig angebaut wird und sich
wildwachsend wohl an Ufern, aber kaum je als erhebliches Acker-
unkraut zeigt.
Zu Seite 474. Daß die alten Germanen Gelegenheit gehabt
hätten, wilden Waid zu sammeln, ist ganz unglaublich. Diese Pflanze
kommt in Mitteleuropa nur in den wärmsten Lagen durch Kultur
eingebürgert vor. Vielleicht kannten die Germanen im Altertum die
lebende Pflanze überhaupt noch nicht, sondern bekamen die Wurzel
als Droge. Im Mittelalter ist Waid in Süd- und Mitteldeutschland
in Menge gezogen, für Norddeutschland ist der Anbau nicht nach-
gewiesen, jedenfalls wurde der Hauptbedarf dort durch Einfuhr
gedeckt.
Seite 477 wird anerkannt, daß fast alle unsre Obstbäume latei-
nische Namen haben. Aber der Apfel soll nicht nach der Stadt
^i Abella heißen, sondern sein Name soll urdeutsch sein. Die Lautver-
hältnisse beweisen wenig; wie sehr Kulturwörter verändert werden
können, hat Hoops Seite 464 selbst anerkannt. Uebrigens ist nicht
-H gesagt, daß ahd. affolter immer einen Apfelbaum bedeutet. Apel-
deren ist der niederdeutsche Name des Acer campestre. Lonicerus
fol. 133 nennt Viscum zu deutsch Mistel oder Affolter. War ein ent-
sprechender Pflanzenname im altgermanischen in irgendwelcher Be-
deutung vorhanden, dann konnte er leicht auf den ähnlich klingen-
den Abellaner übertragen werden. So ist neuerdings der Mädchen-
name Erika an Stelle des aus den botanischen Lehrbüchern ins Volk
dringenden Heidenamens Erica getreten. Erika ist germanisch (wenn
auch etwas latinisiert), die neuerdings so benannte Pflanze ist eiur
heimisch, und doch verdankt sie diesen Namen ihrer lateinischen
tl
Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 947
(genauer griechischen) Benennung. Unser Holzapfel ist nicht nur,
wie oben gesagt, ungenießbar, er ist auch in vielen Gegenden, be-
sonders in Norddeutschland, selten, und im Laube ohne Fräcbte
unterscheidet er sich von den Kulturäpfeln (die nicht von ihm, son-
dern von fremden Arten abstammen) so erheblich, daß der Laie ihn
eher als Kreuzdom denn als Apfelbaum anspricht. Bisher ist nun
nicht erwiesen, daß im Altertum andere als solche Holzäpfel in Ger-
manien wuchsen, die Kulturäpfel der Pfahlbauten haben ja der Kritik
nicht standgehalten. Slavisch jablo u. s. w. (Seite 478) kann direkt
von *abellanum abgeleitet werden, kann aber auch aus dem deut-
schen entlehnt sein. Und diese Entlehnung braucht nicht notwendig
stattgefunden zu haben, bevor ein etwaiges *abel zu appel wurde,
denn es kommt vor, daß Lehnworte rückwärts verschoben werden,
wie russisch pichta aus Fichte, dänisch Peder aus Peter.
Bilsenkraut und Wermut (Seite 481) gehören unserer einheimi-
schen Flora nicht an, sie sind verwilderte Kulturpflanzen. Vielleicht
haben im Altertume andere Arten diese Namen getragen. Wahr-
scheinlicher ist, daß wir es hier zunächst mit Drogennamen zu tun
haben, die erst später auf die nachkommende Pflanze übergingen.
So hat man während des Mittelalters den Wurzelstock des Kalmus
als Droge gekannt, ohne zu wissen, wie die lebende Pflanze aus-
sähe, die erst im 16. Jahrhundert nach Europa kam. Deutlicher
werden solche Verhältnisse, wenn man ins Tierreich hinübersieht.
Wie lange schon kennt unsere Sprache den Löwen, aber das Tier
dürfte kaum länger als 100 Jahre landkundig sein. Ja, Einhorn und
Greif sind jahrhundertelang viel besprochene Tiere gewesen, deren
Horn und Klauen in den Apotheken feil waren, deren Gestalt man
oft genug abgebildet fand, aber niemals sind diese Tiere lebend ge-
sehen, geschweige denn in deutschen Ställen gehalten. Uebrigens
sind bis heute Drogen und Hölzer im Handel, deren Stammpflanzen
selbst die Botaniker noch nicht sicher ermittelt haben.
12. Kap. Etwas >Halbnomadentum<, wie es Seite 488 besprochen
wird, haben wir immer noch in Deutschland. Württembergische
Schäfer von der Rauhen Alb treiben ihre Herden im Winter in die
Rheinebene, manchmal bis nach Frankreich hinein. Norddeutsche
Imker gehen im Sommer mit ihren Völkern auf die Wanderschaft in
Heidegegenden, und die Schweizer treiben alljährlich ihre Herden im
Sommer vom Tale auf immer höhere Weiden und im Herbste wieder
zu Tal. Dagegen fällt die sog. Sachsengängerei nicht unter dies
Rubrum, sie würde nach altertümlicher Auflassung zum Sklaven-
handel gehören. Sehr richtig werden Seite 492 die alten Völker-
948 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
wandeningen mit den Trekks der südafrikanischen Buren verglichen.
Aber diese sind anch in erster Linie Viehzüchter, der Ackerbau
spielt eine untergeordnete Bolle, und ihre Wirtschaftsart gestattet
keine dichte Besiedelung des Landes, weil jeder Hof einer großen
Weidefläche bedarf.
Bei Besprechung des Ackerwechsels auf Seite 509 ff. hätte Rad-
sicht genommen werden sollen auf die Plaggen-, Schiffel- oder Rott-
buschwirtschaft (sartage, essartage), welche in Nordwestdeutschland
stellenweise bis in die neueste Zeit üblich, im Mittelalter weit ver-
breitet und anscheinend uralt war. Sie erforderte das Vorhandensein
von allermindestens zehnmal mehr anbaufähigen Landes als alljähr-
lich bestellt wurde.
13. Kap. Wenn die Obstkemfunde in den Saalburgbrunnen (Seite
535, 543) bisher von botanischer Seite nicht ausgebeutet sind, so
liegt das vielleicht daran, daß deren Bestimmung nicht zuverlässig
ist. Die Hoopssche Ausbeutung ist jedenfalls eigenartig: Birne und
Apfel fehlen zwar, aber weil so viele andere Obstarten da sind,
müssen auch jene ursprünglich dagewesen sein; die Mäuse haben sie
gefressen! Dennoch kann das Endergebnis der Hoopsschen Dar-
stellung hier richtig sein, denn von allen in Frage stehenden Obst-
arten wissen wir, daß die Römer sie bauten; und wir wissen auch,
daß römische Obst- und Gemüsekultur im Rheingebiete eingebürgert
gewesen ist.
Prunus avium aus dem Bohusläner Moore (Seite 544) wird von
Gunnar Andersson (Svenska växtvärldens historia 2. Aufl. S. 119)
angezweifelt und für Cornus sanguinea gehalten.
Nach Seite 545 soll die Sauerkirsche »wirklich wildwachsend<
nur in Transkaukasien gefunden werden. Bei einer derartigen Be-
hauptung durfte die Quellenangabe nicht fehlen. Nach Radde (Grund-
züge der Pflanzenverbreitung in den Kaukasusländem ; Engler und
Drude, Die Vegetation der Erde HI) steigt Prunus cerasus im Kau-
kasus selbst bis 1500 m und findet sich auch in den nördlich vor-
liegenden Steppen. Durch das Steppengebiet erstrecken sich ihre
Standorte nordwärts bis Wolhynien und Podolien (Koppen, (Jeogr.
Verbreitung d. Holzgewächse d. europ. Rußlands und des Kaukasus.
I. 1888). Wer will den Pflanzen ansehen, wo sie >wirklich wilde
sind und wo sie aus alten Kulturen stammen? Noch im Elsaß und
einzelnen anderen deutschen Landschaften wachsen strauchige Sauer-
kirschen auf dürren Hügeln in Gemeinschaft einheimischer Pflanzen.
Anscheinend hat schon J. Bauhin diese Form gekannt ^). Am adriati-
1) Banhinus et Cherler., Historia plantaram universalis I. Ebrodani 1650.
p. 220 uDter Cerasus sUvestris : Amaricantia tarn rubra, quam nigra, passim circa
Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum 949
sehen Meere ist sie häufig. Wie Fischer -Benzon nachweist, hat
Vergil Sauerkirschbäume gekannt. Da nun die Nachricht über die
Einführung der Süßkirsche nach Rom aus dem Orient ganz bestimmt
vorliegt, und von einer Einführung der Sauerkirsche nie die Rede
war, so ist die Annahme nicht allzu fernliegend, daß man in Italien
zunächst die importierte Süßkirsche gezogen hat und erst durch
diese auf ihre bis dahin unbeachteten einheimischen Verwandten, zu
denen die Sauerkirsche gehörte, aufmerksam geworden ist. Die
elsassischen Sauerkirschen stammen wahrscheinlich aus alten Kulturen,
da prähistorische Nachweise für das nordalpine Vorkommen dieser
Art fehlen.
Zu der Seite 546 besprochenen Weichselsippe gehört unfraglich
der in den Eibmarschen vorkommende Name Twiessel, auf den ich
schon 1891 im Beiblatt zu Englers Botan. Jahrb. No. 29 Seite 46,
allerdings ziemlich undeutlich, hingewiesen habe. Deutlicher steht er
bei K. E. H. Krause im Archiv d. Vereins d. Freunde d. Natur-
geschichte in Mecklenburg, 43. Jahr (1889) Seite 206. Die Twiessel-
oder Wesselbeere ist eine Vogelkirsche. Auch Beckmanns Florula
Bassumensis in den Abh. Nat. Ver. Brem. X bezeugt, daß die Früchte
der kultivierten Süßkirsche Kaßbärn, die der verwilderten Wessel-
bärn genannt werden. Hier haben wir also den Weichselnamen un-
fraglich für die wilde Süßkirsche, und ich stimme Hoops vollkommen
bei, wenn er diese Bedeutung für die ältere hält. Die Wesselbeere
war im Vergleich zur importierten Kasbeere sauer, und es lag nahe,
daß die später importierte Sauerkirsche gerade ihres Geschmackes
wegen in manchen deutschen Ländern den ersten Namen bekam. Das
anlautende t der TwiesseP) paßt freilich schlecht in Hoops philo-
logische Deutung der Weichsel hinein. Wenn der Anlaut ursprüng-
lich ist, dann bezieht sich der Name wohl darauf, daß meist zwei
Kirschenstiele zusammensitzen. Nach Bauhins Historia plantarum
wurden in Oberdeutschland im 16. und 17. Jahrhundert als Weichsein,
Wiechslen und Weinstelln allgemein die dunklen Sauerkirschen be-
zeichnet, während die Vlamen diese Früchte Crieckens nannten, also
mit einem sonst der Prunus insititia gehörenden Namen. Auch in
Rom verstand man nach Bauhin unter visciole Sauerkirschen. Da-
gegen heißt es a. a. 0. I. Teil Seite 218 unter Berufung auf Ruellius
>Gallis quaedam mediocri arbore, interdum pumila, quasi frutice . . .
Basllea proveniunt in Dometis silvis et montosis. Observantor etiam hujus generis
diversae yarietates in yaUo Petrina Episcopatos Argent Rote wilde Eirsen.
Schwartze wilde Eirsen.
1) Auch Zwieselbeere kommt vor.
950 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 12
hoc maxime grato placet acore . . . Hoc Francis tantum cerasii
(cerise) nomen merent. Reliqua varias sortiuntur appellationes . . .
Alia proceris arboribus exeunt . . . praedulcis came . . . valgus nunc
Guinea, nunc Guindola vocat.< In Kirschlegers Flore d' Alsace I Seite
210 f. heißt der wilde Yogelkirschenbaum französisch m6risier, der
kultivierte guignier und bigarreautier, der Sauerkirschbaum im all-
gemeinen griottier, aber eine seiner Rassen trägt die guindoux de
Paris oder süße holländische Weichsel. In Frankreich scheint der
Weichselname also vorwiegend kultivierte Süßkirschen zu bezeichnen.
Der Name der wilden Prunus avium, m^risier, könnte mit marasca
zusammenhängen, dem bekannten nordwestitalienischen Namen einer
Sauerkirschenrasse. Demnach hätte in der hochdeutschen Sprache
die Sauerkirsche den alten Namen der wilden, systematisch zur süßen
gehörigen, aber tatsächlich bitteren Vogelkirsche bekommen, während
in Frankreich auf diese selbe Vogelkirsche, auch um ihres Ge-
schmackes willen, ein Sauerkirschenname übertragen wäre. Freilich
hönnen die Anhänger der Schraderschen Ansicht die Vermutung dem
entgegenstellen, daß die nordwestdeutsche Wesselbeere ihren Namen
des Geschmackes wegen von der ursprünglich als Weichsel bezeich-
neten Sauerkirsche bekommen hätte.
Ob in Bußland wirklich Prunus avium als Tschereschnja (Hepe
mHfl) und P. cerasus als Wischnja (Bfiumfl) unterschieden werden,
wie es nach Schmalhausens Flora den Anschein hat, ist doch nicht
sicher. Letzterer Name scheint so ziemlich alle Kulturkirschen zu
umfassen, für ersteren finde ich im Booch-Frey-Messerschen Hand-
wörterbuch die Uebersetzungen: Vogel- und Süßkirsche, Zwieselbeere,
Weichsel. Der Name Wischnja ist (in Zusammensetzungen oder als
Diminutiv) auf die in einem großen Teile Rußlands häufig wild-
wachsende Prunus fruticosa oder chamaecerasus übertragen. Im
polnischen ist nach Koppen wiänia Kirsche überhaupt, speziell die
saure, die süße heißt ptasia wiänia, d. i. Vogelkirsche.
Betreffs des angeblichen Indigenats des Weinstockes am Ober-
rhein (Seite 559) schließe ich mich den Ausführungen Kirschlegers
in der Flore d' Alsace 3. vol. Seite 117 f. an. Auch für das übrige
Europa ist die Urwüchsigkeit fraglich. Badde fand selbst im Kau-
kausus nur verwilderte Beben, und zwar neben der altweltlichen eine
notorisch aus Amerika eingeflihrte Art. Die von Engler aufs neue
versuchte Begründung des autochthonen Vorkommens von Vitis vini-
fera bis ins Bheingebiet ist nicht stichhaltig. Engler schließt ans
Tertiärfunden unmittelbar auf die Pflanzenverbreitung unsres gegen-
wärtigen Zeitalters und vergißt, daß unter dem Namen Tertiär ein
Hoops, Waldbäume und KulturpflaDzeD im germanischen Altertum 951
ganz ungeheurer Zeitraum begriffen wird, während dessen Fauna
und Flora erheblichem Wechsel unterlagen, und daß zwischen dem
Ende dieser Tertiärzeit und der Gegenwart noch das ganze Diluvium
mit seinen wiederholten erheblichen Klimawechseln liegt. Die un-
mittelbare Anknüpfung der Gegenwart an zeitlich nicht genauer be-
stimmte Tertiärfunde ist überhaupt eine schwache Seite recht vieler
der Englerschen Anmerkungen zum Victor Hehn. Am wahrschein-
lichsten ist immer noch, daß die Menschen den Weinstock nicht all-
zuweit von jener Landschaft entdeckten, in welcher nach bekannter
Tradition Noah den Rausch erfunden hat.
15. Kap. Hierher (Seite 591) gehört zunächst der oben erwähnte
Nachweis Försters, daß der Versuch, die ehemalige Ausdehnung der
Gerstenkultur in den Teilen Großbrittaniens aus Ortsnamen zu er-
schließen, mißraten ist.
Daß die als elebeam bezeichneten Grenzbäume in Südengland
(Seite 614) Oelbäume gewesen seien, ist unglaubhaft. Die Oliven-
kultur ist während des Mittelalters soweit wie irgend möglich nord-
wärts vorgeschoben, bis in Breiten, in denen sie bei den heutigen
Verkehrsverhältnissen nicht mehr lohnt, da gar zu oft ein Frost die
Ernte vernichtet. Aber von England ist selbst die gewagteste Oel-
baumpflanzung recht weit entfernt geblieben.
Ich bin im allgemeinen gegen pflanzengeographische und pflanzen-
geschichtliche Schlußfolgerungen, welche Philologen aus Vokabeln und
Namen ziehen, recht skeptisch. Hoops hält mich Seite 191 ff. für zu
skeptisch. Und dennoch habe ich seine Behauptung, daß die Angel-
sachsen Hopfen gehabt hätten, für unanfechtbar gehalten, wiewohl
sie (Seite 614) nur auf das Vorkommen des Wortes hymele begründet
ist. Max Förster ist aber nicht so gutgläubig gewesen und hat
a. a. 0. Seite 206 nachgewiesen , daß altenglisch hymele nicht Hu-
mulus lupulus bezeichnet hat. Es ist gar keine seltene Erscheinung,
daß ein Pflanzenname über das Wohngebiet seiner Art hinaus-
wandert und dann auf eine andere übertragen wird, ich erinnere an
die mittelalterlichen Benennungen des Ahorn als platauus, der gelben
Iris als acorus, des Porstes als myrtus (jetzt Myrica gale), der Heide
als myrica.
16. Kap. Seite 639 flf. kann ich die altnordischen Zitate teilweise
nicht verstehen, obwohl ich sonst dänisch und schwedisch leidlich zu
lesen vermag. Ich will Hoops hieraus keinen Vorwurf machen, im
Gegenteil anerkennen, daß dieses die einzige Stelle in seinem Buche
ist, an welcher er seinen Mitforschern aus anderen Fakultäten zuviel
zumutet. Wie oft sind Arbeiten von Philologen über naturwissen-
schaftliche Sachen für unsereinen ganz unlesbar!
952 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Es erscheint mir, trotzdem ich nicht jedes Wort verstehe
zweifellos, daß huanna und huanngarC der norwegischen Gesetze
humbla und humblagart der schwedischen entspricht. Aber ersteres
wird auf Angelika (d. i. botanisch Archangelica ') bezogen, letzteres
auf Hopfen. Hier wäre eine Nachuntersuchung, wie sie Förster für
hymele geliefert hat, sehr erwünscht.
Daß der Seite 643 f. vorkommende stolze, das Gras überragende
grüne Lauch gerade der Knoblauch sein muß, ist nicht nötig. Knob-
lauch ist bis zur Blüte krummstengelig, er gedeiht auch nicht gut
im Grasrasen. Eher ist hier an das wildwachsende eingebürgerte
Allium Scorodoprasum Linn^ zu denken, welches nach Oeder (Nomen-
clator botanicus. Hafniae 1769) auf Oeland Graeslöck genannt
wurde.
Daß die altnordische lilja (Seite 650) wirklich eine Lilie im bo-
tanischen Sinne war, müßte noch besonders nachgewiesen werden.
Denn unter demselben Namen wird auch die Schwertlilie (Iris) ver-
standen.
Was ich hier zusammengestellt habe, wird den Botanikern teils
bekannt, teils vielleicht gleichgültig sein. Von den Philologen hoffe
ich, daß meine botanischen Notizen ihnen das Hoopssche Buch noch
brauchbarer machen als es an sich ist. Und für meine philologischen
Bemerkungen werde ich hoffentlich nicht gleich als Bönhase gejagt;
eigentlich muß es einem Sprachforscher doch interessant sein, zu
sehen, ob und wie weit unsereiner sich in diesem Teil des gemein-
samen Arbeitsfeldes zurechtzufinden weiß. Denn ehe nicht Linguisten,
Archäologen, Botaniker und noch manche andere Spezialisten ein-
ander zu verstehen und sich einander verständlich zu machen gelernt
haben, kann das Indogermanenproblem nicht gelöst werden.
Straßburg Ernst H. L. Krause
1) Für diese hat Oeder 1769 aas Dalekarlien den Namen Qoanrot, aus Nor
wegen Quanne und Qaannroed.
Hackman, Die ältere Eisenzeit ^n Finnland. I 953
Alfred Huekman, Die ältere Eisenzeit in Finnland. I. Die Funde aus
den fünf ersten Jahrhunderten n. Chr. 376 Seiten. Nebst Atlas : 22 Tafeln und
Fundkarte. Helsingfors 1905. 4^.
Der auf dem Gebiete finnländischer Archäologie wohlbekannte
Verfasser liefert uns in vorliegender Arbeit eine Frucht langjähriger,
eindringender Forschung. Bereits im J. 18^9 war von ihm im 2.
Bande der Arbeiten des archäologischen Kongresses von Riga eine
ausflihrliche Studie über die Bronzezeit Finnlands erschienen. Im
Anschluß an Aspelin zeigte er, daß in dieser Zeit der Norden und
Osten Finnlands von einer östlichen über Rußland kommenden Kultur-
strömung berührt worden sei. Dagegen habe, der Südwesten unter
starkem skandinavischen Einfluß gestanden: sowohl nach den Funden
als nach den Umständen, unter welchen sie ans Licht traten, liege
für die Annahme einer germanischen Besiedelung der finnischen
Küstengebiete während der Bronzezeit eine große Wahrscheinlich-
keit vor.
An diese ältere Arbeit über die Bronzezeit schließt sich jetzt
die umfangreichere an über die ältere Eisenzeit in Finnland. Der
Vfr. behandelt in diesem ersten Teil, dem ein weiterer folgen soll,
die Funde aus den ersten fünf Jahrhunderten nach Christo. In der
Einleitung legt er dar, daß Aspelin eine ältere Eisenzeit, die bis um
das J. 700 reiche, von einer jüngeren scheide. Der Vfr. wirft die
Frage auf, ob man berechtigt sei, mit Aspelin die Funde der älteren
Eisenzeit hauptsächlich für germanische Hinterlassenschaft, die der
jüngeren ausschließlich für finnische anzusehen. Um darüber zu ent-
scheiden, wäre es vor allem wichtig, eine Gliederung der finnischen
Eisenzeit in eine größere Anzahl Unterperioden, eine chronologische
Sichtung des Fundmaterials durchzuführen. Dieser Aufgabe wendet
sich der Vfr. zunächst zu.
Der erste Teil, S. 20 — 110 liefert eine ausführliche Beschreibung
der Fundstätten und der Funde, die der Vfr. zum Teil selbst ge-
hoben hat. Es folgen Nachrichten über die wenigen, diesen Jahr-
hunderten angehörenden Münzfunde, endlich ein Verzeichniß der zahl-
reichen weberschiflförmigen Feuerschlagsteine. — Ein zweiter Teil
S. 1 1 1 ff. bespricht die Art der Bestattung, sodann die Altertümer und
ihre Herkunft und Zeitstellung. Die ersten nachchristlichen Jahr-
hunderte kennen in Finnland durchgehend nur Brandgräber, indem
Skelettgräber vor dem J. 600 nicht vorkommen. Die einzelnen
Gruppen der Altsachen werden mit großer Sorgfalt systematisch be-
sprochen, besonders ausführlich S. 135—185 die wichtigen Fibeln,
Oatt gel. Ans. 1906. Nr. 12 67
954 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
sodann die Nadeln, Schnallen, Anhängsel, Binge; eingehend wird
S. 241 ff. über die weberschifförmigen Steine gehandelt , weiter iibei
die Waffen, endlich S. 283 über die römischen Münzen.
Der trefflich unterrichtete sprachenkundige Vfr. beherrscht nichl
nur völlig das finnische Material, er greift auch weit hinüber in die
skandinavische, deutsche, russische Forschung. Fortgehend zieht ei
die ihm gut bekannten estländischen und livländischen Funde heran ^)
Die baltische, vor allem die livländisch- preußische archäologische
Forschung wird in Zukunft diesen wichtigen inhaltreichen Ausfuh-
rungen volle Beachtung schenken.
Was die Form der Gräber in Finnland betrifft, so überwiegen
durchaus Grabhügel, d. h. Steinhaufen, die um einen größeren Zentral-
oder Eernstein bis zu 2 m Höhe ansteigen. Sehr viel seltener sind
Flachgräber, die von viereckigen oder unregelmäßigen SteinsetzungCD
umgeben sind. Solche Flachgräber wurden bisher nur in der süd-
lichsten Ecke des Landes, nämlich in den Kirchspielen Bjerno und
Tenala gefunden und aufgedeckt. Sie sind besonders beachtenswert,
denn sie weisen ähnliche Formen auf, wie die großen von mir als
Steinreihengräber bezeichneten Brandfelder in Estland und Livland.
Die Frage über diese Steinreihengräber ist noch nicht abgeschlossen.
Sie gehen bis in die ersten christlichen Jahrhunderte zurück und
sind bisher vor allem im südöstlichen Estenlande nachgewiesen,
scheinen sich nach Norden nur bis in die Landschaft Jerwen zu ver-
breiten, nicht aber bis an die Finnland gegenüber liegende Meeres-
küste. Die in der nördlichsten Estenlandschaft aufgedeckten Gräber
in Türsei, Türpsal haben eine andere Konstruktion, und auch in
der Nähe von Reval scheinen nach den neuesten Foi*schungen andere
Grabformen aufzutauchen, die auch Funde der ersten christlichen
Jahrhunderte spenden, nahe Beziehungen nach Schweden ^ erkennen
lassen.
Im Ganzen ist, wie der Vfr. selbst wiederholt (225, 254) betont,
die bisher in Finnland aus den ersten fünf christlichen Jahrhunderten
gewonnene Ausbeute nicht groß : so sind Tongefäße nur selten, Acker-
geräte gar nicht gefunden worden, auch Pferdezeug ist nur spärlich
aufgetaucht. Bis jetzt liegen (s. S. 293) aus diesem halben Jahr-
tausend »nur 50 Funde mit Metallgegenständen < vor. Diese Zahl
1) Kleinere Versehen sind; S. 18 handelt von der Fibel von Strickenhof
nicht von Kirchholm. — 159 ist zu lesen Fibel 4, 1 anstatt 6, 1. — 164 die Fibei
126 stammt aus Slawehk. — 168 die Dreiecksfibel von Gertmdenhof ist versilbert
2) In diesem Sommer ist in einem Grabe bei Reval zum ersten mal im
Ostbaltikum auch eine der in Schweden so häufigen krebsförmigen Fibeln ge-
funden worden.
Hackman, Die ältere Eisenzeit in Finnland. I 955
steht weit zurück hinter der Ausbeute, welche man für denselben
Zeitraum in den benachbarten Gebieten, in Schweden und in den
Ostseeprovinzen kennt. Aber der Boden Finnlands ist auch noch
nicht erschöpft, zahlreiche Grabhügel, die man bereits kennt, sind
noch nicht untersucht (295), die Zukunft wird das Material sicher
vermehren, waren doch von den hier beschriebenen 93 Funden vor
einem Menschenalter im J. 1875 nur 7 bekannt. Der Vfr. glaubt
allerdings (293), daß für die Zeit bis 500 n. Chr die bis jetzt unter-
suchten »Fundorte im großen und ganzen die Ausdehnungsgebiete
der damaligen Ansiedelungen bezeichnen und daß außerhalb dieser
Gebiete nur wenig neue Grabfunde aus jener Zeit zum Vorschein
kommen werden«.
Die Erörterung wird fortlaufend durch einen Atlas gestützt, der
auf 22 Tafeln alle bemerkenswerten Funde darstellt. Daneben sind
noch 183 Abbildungen in den erzählenden Text eingeschoben: es
werden hier vor allem Parallelfunde aus fremden Ländern, sodann
Pläne und Skizzen der Grabfelder zur Anschauung gebracht, wieder-
holt sind aber auch finnische Funde hier dargestellt (Fig. 19, 71, 83),
ohne daß angegeben wird, warum diese Abbildungen hier im Text
stehen und nicht im Atlas. Beim Atlas selbst wären Hinweise, wo
die betreffenden Funde im erläuternden Text, S. 131—282, behandelt
werden, erwünscht. Es ist dieser Mangel um so fühlbarer, als so-
wohl ein Register fehlt wie ein genügendes Inhaltsverzeichniß , die
erst den ganzen Reichtum des Werkes voll aufgeschlossen hätten.
Wer es jetzt ausnutzen will, muß sich solche Verzeichnisse selbst
machen, eine mühselige und zeitraubende Arbeit.
Ausführlich behandelt der Vfr. S. 140 die wiederholt erörterte
Frage über die Entstehung und Verbreitung der besonders in Ost-
preußen, aber auch in Livland häufigen Fibel mit umgeschlagenem
Fuß. Wie Tischler und Almgren, meint auch Hackman, daß diese
Fibel in Süd-Rußland entstanden sei und auf die Spät-la-T&nefibel
zurückgehe. Die von Almgren aufgeworfene Frage erörterte ich im
J. 1898 in einem Aufsatz in den Denkwürdigkeiten der Gesellschaft
für Geschichte in Odessa, wies auf die zwei jüngeren la-Tfenefibeln
hin, die im Gouvernement Kiew gefunden seien und in der Samm-
lung Chwoiko in Kiew liegen. Die Verbreitung der la-Töne-Kultur
nach Osten, besonders Südosten ist noch wenig geklärt. Im Gebiet
der unteren Weichsel ist sie bis nach Ostpreußen sicher nachweis-
bar (Prussia-Sitz.-Ber. 20, 51; 21, 55); dagegen sind wir über die
archäologischen Verhältnisse im oberen, polnischen Weichselgebiet
noch wenig unterrichtet. Für die spätere Zeit weisen die weiter
nach Osten im Dneperlande liegenden Museen von Odessa, Kiew,
67*
956 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Wilna drei von einander vielfach verschiedene Kulturgebiete auf.
Ob in älterer Zeit in dem mehr westlichen Weichsellande engere Be-
ziehungen zwischen Süd und Nord herrschten, bedarf genauerer Unter-
suchung.
Auf S. 211 ff. bespricht der Vfr. die häufig gefundenen großen
offenen Ringe, darunter den prachtvollen goldenen von Nousis. Ein-
facher sind die Ringe mit Trompetenenden oder die Kolbenringe,
wie sie hier genannt werden. In Ostpreußen und Livland sind sie
zahlreich, während in Finnland nur einer dieser Form gehoben wor-
den ist , Atlas 8, 6. Tischler hält es für möglich , daß diese Ringe
im Haar getragen seien, und auch mir erscheint das wahrscheinlich.
Die Frage ist schwer zu entscheiden, da diese Ringe zumeist ans
Brandgräbem oder Depotfunden (Prussia, Katalog II n. 23) stammen.
Wo sie an Leichen gefunden wurden, ist nicht sicher beobachtet
worden, an welcher Stelle sie lagen : von den zwei in Santen in Kur-
land gehobenen (Sitz.-Ber. kurl. Ges. 1892, 78) vermochte man mir
nicht zu sagen, wo sie am Kopf gelegen hatten; der in Rominten
gefundene (Prussia, Sitz.-Ber. 20, 38) lag > unter dem Schädel <. Es
ist doch bei allen diesen Ringen zu erwägen, daß Halsringe oft ab-
genommen werden , daher mttssen sie eine Vorrichtung haben , dafi
man sie leicht öffnen kann, sonst brechen sie durch häufiges Auf-
und Zubiegen; dagegen bedarf der Ring für das Haar einer solchen
Vorrichtung nicht, die bei den meisten dieser Ringe fehlt.
Bronzefunde liegen aus den ersten fünf Jahrhunderten in Finn-
land nur in geringer Zahl vor. Und doch haben vor allem sie fur
die Untersuchung Bedeutung. Vielleicht hätten sie noch mehr ver-
wertet werden können, wenn auch die chemische Analyse über sie
Licht verbreitet hätte. S. 204, 224 wird wohl von Unterschieden in
der Metalllegierung gesprochen, aber Untersuchungen über die Zu-
sammensetzung liegen nicht vor. Der Vfr. ist wohl nicht in der
Lage gewesen, chemische Analysen herbeizuführen. Man bedauert
das bei einer so ausführlichen vortrefflichen Arbeit. Von welcher
Bedeutung solche Untersuchungen werden können, hat Bezzenberger
bewiesen in seinen im J. 1904 erschienenen Analysen vorgeschicht-
licher Bronzen Ostpreußens, ein Werk, welches unser Vfr. offenbar
noch nicht gekannt hat. Auch bei einem jüngst in der Nähe von
Dorpat gehobenen Bronze - Depotfund lehrte mir erst die chemische
Analyse, daß in ihm Sachen bei einander lagen, zwischen denen chro-
nologisch ein Abstand von über einem halben Jahrtausend besteht
(Sitz.-Ber. rigasch. Ges. 1905, 64).
Der größte Teil der Metallfunde in Finnland sind Eisensachen.
Mehrfach sind Schildbuckel aufgetaucht, die in Livland sehr selten
Hackman, Die ältere Eisenzeit in Finnland. I 957
sind, hier nur in einem Depotfunde bei Ho&umberge in Kurland ans
Licht getreten sind. Besonders häufig sind in Finnland Lanzen:
der Atlas Taf. 17—21 bildet eine größere Anzahl ab, es war mög-
lich sie in typologisch und chronologisch differenzierte Gruppen zu
zerlegen. Wie hier vermag der Vfr. wiederholt auch andere Typen
chronologisch genauer zu bestimmen, er gewinnt dadurch feste An-
haltspunkte, die zu neuen Ausgangspunkten werden können. In sehr
dankenswerter Weise fördert er dadurch die Forschung sowohl fur
Finnland als auch für die benachbarten Länder. Der zweite Teil
seiner Arbeit »über die Herkunft und Zeitstellung der Altertümer«
ist darin von hervorragender Bedeutung.
Zahlreich sind in Finnland die flachen s. g. weberschifformigen
Steine aufgetaucht von spitzovaler Form mit Furchen auf der Flach-
seite. Weit über 200 Stück können S. 100, 241 aufgezählt werden.
Ihr Verbreitungsgebiet ist vor allem Skandinavien, dann das ost-
baltische Land bis Preußen. Zahlreich lagen sie im großen Depotfund
von Dobelsberg in Kurland (cfr. Doering , Sitz.-Ber. estn. Ges. 1888,
104—118). Ihre Verwendung ist strittig : sie sind bald als Wetzsteine
angesprochen, bald als Steine zum Feuerschlagen. Der Vfr. neigt sich
durchaus der letzteren Ansicht zu, weist den Einwand von Splieth zurück,
der da meinte, bei der Benutzung zum Feuerschlagen wäre nicht eine
schmale tiefe Furche entstanden, auch sei es nicht gelungen, zündende
Funken durch den Schlag zu gewinnen. Wenn der Vfr. meint, letzteres
könnte durch Mangel an Uebung erklärt werden, so wäre es sehr
erwünscht gewesen, wenn nun der Gegenbeweis durch das Experi-
ment geführt wäre. Daß man mit dem allgemein gebrauchten kringei-
förmigen ziemlich breiten Feuerstahl vom Typus Fig. 167 schmale
tiefe Furchen schlagen kann, erscheint schwierig, sodann ist es auf-
fallend, daß selbst wenn um den Stein ein Bronze- oder Eisenstreifen
lief, nie der Rand Schlagspuren zeigt, die doch stets, auch heute,
bei einem Feuerstein gewöhnlich sind.
Im Jahre 1901 wurden in einer Steinsetzung bei Eigstfer in
Livland bearbeitete würfel- und walzenförmige Steine gefunden,
deren Zeit zunächst nicht bestimmt werden konnte (Sitz.-Ber. estn.
Ges. 1901, 234). Aehnliche Steine sind auf Oesel, und, wie sich
jetzt ergiebt, auch in Finnland aufgetaucht, und nach den mit ihnen
zusammen liegenden Altsachen kann sie der Vfr., S. 253, der älteren
Eisenzeit zuweisen. Diese seine Datierung wird bestätigt durch
neue livländische Funde: im J. 1903 sind in der Nähe der Stadt
Weißenstein in Steinsetzungen bei Walgma und Kirna auch solche
Steine gefunden worden neben dem Bügel einer Armbrustfibel mit
Knopf und einer eisernen Ringnadel mit Schnecke (ähnlich Atlas 2, 1 ;
958 Oött gel. Anz. 1906. Nr. 12
5,8.10). Fraglich bleibt noch zunächst, ob man diese bisher nv
im estnisch-finnischen Gebiet gefundenen Würfelsteine in Zusammei
hang bringen darf mit den in Posen und Brandenburg aufgetauchte
Reibesteinen, die Virchow Käsesteine nannte (Verh. Berl. Ges. i
Anthrop. 1872, 54; 1899, 199; Nachr. über Altert. 1899, 21).
Im letzten ÜI. Teil S. 289-359 legt der Vfr. ausführUch di
Ergebnisse seiner Untersuchungen dar und zieht Schlüsse auf dii
ethnographischen Verhältnisse Finnlands in den ersten fünf Jahr
hunderten n. Chr. Man bedauert hier besonders lebhaft, daß keim
Inhaltsübersicht vorliegt, daß die umfangreiche Erörterung nicht ii
Unterabteilungen zerlegt ist, wodurch die Uebersicht über die hiei
behandelten wichtigen und schwierigen Fragen wesentlich erleichtert
wäre. Die Seitenüberschriften genügen nicht ganz.
Nach der Ansicht des Verfassers ist die ältere schwedische Be-
völkerung, die in der Bronzezeit in Nyland saß, fortgezogen, erst
nach der Wikingerzeit gegen Ende des ersten christlichen Jahr-
tausend seien die Schweden wieder zurückgekehrt in die südwest-
lichen Gebiete, das s. g. eigentliche Finnland und Nyland, wo sie noch
heute vor allem siedeln. In die von den germanischen Schweden
verlassenen Sitze seien die Finnen eingerückt, aber nicht, wie ge-
wöhnlich angenommen werde, erst in der Mitte des ersten christlichen
Jahrtausend, sondern bereits mehrere Jahrhunderte früher. Ihr
Weg sei durch das Ostbaltikum gegangen, wo die estnischen Bruder-
stämme geblieben wären, die Finnen seien über das Meer gezogen,
zuerst ins südwestliche Finnland. Die Kolonisation hier sei nicht, wie
die herrschende Ansicht wäre von Ost nach West, sondern umge-
kehrt von West nach Ost erfolgt, zuerst sei das westliche Finnland
besetzt worden, dann erst, weiter nach Osten, das Innere des Landes.
Eine Mischkultur mit stark skandinavischem Einfluß verbreitete sich.
Alles das ergeben die Grabfunde, die auch zeigen, daß die Eüsten-
landschaften Satakunta und Nyland in der altern Zeit wenig bevöl-
kerte Fischerei- und Jagdgebiete waren, daher fänden sich hier auch
nur selten Gräber.
Eine der wichtigsten Fragen ist bei dieser Untersuchung die oft
erörterte, wie das östliche Baltenland besiedelt worden. Auch der
Vfr. handelt über sie S. 330 fF. Montelius war bei einer Besprechung
der slavischen Wanderung mit aller Entschiedenheit dafür eingetreten,
in Ostpreußen und Livland habe eine germanische Bevölkerung ge-
sessen, die hier nicht so früh völlig verschwunden sei wie in Ost-
Deutschland, die Funde jener baltischen Lande zeigten bis ins 8.
Jahrhundert eine große Uebereinstimmung mit der skandinavischeo
Kultur, wiesen auf germanische Völker, die aber dort im Ostbaltikum
Hackman, Die ältere Eisenzeit in Finnland. I 959
eine lokal eigentümliche Entwicklung durchgemacht hätten (Vers. d.
anthrop. Ges. in Lindau 1899, 128). Jüngst hat auch Sophus Müller
in seiner Urgeschichte Europas (pag. 194) dem zugestimmt: es habe
in Estland, Livland, Kurland >yon Christi Geburt bis zur Völker-
wanderungszeit eine gotisch-germanische Bevölkerung gegeben. Als
dann die Letten, Liven und Esten vorrückten und die Herrschaft
erlangten, blieb viel von der früheren Kultur erhalten«. Einen mehr
oder minder großen germanischen Einfluß nahmen auch Grewingk,
Worsaae, Kosinna an, aber bereits sie traten dafür ein, daß die Ur-
bevölkerung im Ostbaltikum finnisch gewesen sei. Der Vfr. führt nun
aus, daß unter den livländischen Funden zunächst eine Anzahl älterer
einen weitverbreiteten germanisch - skandinavischen , vielleicht goti-
schen Typus zeige; an diese Formen lehnten sich dann jüngere,
die sich durch übertriebene oder plumpe Ausgestaltungen charakte-
risieren und bereits dem Lande spezifisch eignen. Es finde keine
Unterbrechung der Entwicklung statt, sondern ein allmählicher Ueber-
gang zu mehr ifarbarischen Formen. Durch lange Zeiten bis gegen
Ende des ersten christlichen Jahrtausend seien fortlaufend ähnliche
Typen zu erkennen bis in die Zeiten hinab, wo unzweifelhaft die
heute dort sitzenden Stämme im Lande siedelten. Man gewinne
>den Eindruck, daß lettisch -litauische und finnische Stämme schon
in der älteren Eisenzeit . . . mindestens von der Periode B (= 1. 2.
Jahrhundert n. Chr.) an die ostbaltischen Landschaften bewohnt
haben müssen. In den Ostseeprovinzen werden die Finnen mehr
nördliche, die Letten mehr südliche Sitze innegehabt haben. Mitten
unter diesen Stämmen müssen sich aber zahlreiche germanische (go-
tische) Kolonien befunden haben, denn nur unter dieser Voraus-
setzung findet der in den Sprachen sowohl wie in der eisenzeitlichen
materiellen Kultur der Finnen und Letten -Litauer zum Vorschein
kommende starke germanische Einfluß eine annehmbare Erklärung.
Diese germanischen Elemente dürften jedoch schwerlich mit Waffen-
gewalt verdrängt, sondern allmählich von der Hauptmasse der Be-
völkerung aufgesogen worden seine (pg. 338).
Es sind das weitgehende Folgerungen, die aber alle Beachtung
verdienen. Noch ist das Material, auf welchem sie aufgebaut werden,
nicht sehr reich. Die weitere Forschung wird sich mit diesen Theo-
rien auseinander zu setzen haben. Dabei wird besonders auch auf
die Sprachwissenschaft zu hören sein, namentlich auch bei der Frage,
wann sich finnische und gotische Stämme berührt haben. Wiederholt
ist über all diese Probleme gehandelt worden, gelöst sind sie noch
nicht. Für die Frage, ob die Finnen aus Estland über das Meer
960 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 12
gezogen sind, wäre es nicht ohne Bedeutung festzustellen, ob etwa
eine besonders nahe Beziehung zwischen dem nördlichsten estnischen
Dialekt, dem revalschen und dem südlichen finnischen, im s. g. Ei-
gentlichen Finnland besteht.
Das Bild, das der Vfr. gewinnt, ist, daß in den ersten christ-
lichen Jahrhunderten in dem weiten von Finnen und Letten be-
wohnten ostbaltischen Gebiet vielfach Anzeichen einer höheren west-
lichen Kultur zu erkennen sind und daß deren Träger zahlreiche
germanische (gotische) Kolonien gewesen seien. Der Vergleich mit
heute liegt nahe. Der Vfr. weist es ab zu untersuchen >wann die
finnischen Stämme bis zur Meeresküste vorgedrungen sind, ... da
seine Aufgabe darin bestand der Anwesenheit der Finnen in Estland
und Livland . . für die fünf ersten Jahrhunderte nach Chr. nachzu-
forschen«. Aber die Frage bleibt von großer Wichtigkeit, wann und
wie sind vor der Zeit des großen gotischen Reiches, das im 4. Jahr-
hundert am Dneper bestand, die germanisch-gotischen Einwanderer
in die Landschaften östlich und wohl auch südlich des baltischen
Meeres gekommen, wo sie >zahlreiche Kolonien« gegründet hatten,
wo zahlreiche Funde auf ihre Anwesenheit hinweisen. Und weiter:
wem haben die ältesten großen Friedhöfe mit Leichenbrand in Liv-
land und Estland, die Steinreihengräber gehört? Die Entscheidung
über sie ist wie oben bemerkt noch nicht abgeschlossen. Daß sich
wenn auch nicht zahlreiche so doch einzelne ähnliche Anlagen auch
in Finnland nachweisen lassen, ist sehr zu beachten: es scheint sich
die Brücke zu finden, nur sind bisher an der Finnland nächsten
nordwestlichen estländischen Küste keine solchen Steinreihengräber
aufgetaucht, die bisher bekannten liegen weiter im Lande. Der Vfr.
ist geneigt, sie den Esten zuzuweisen. Aber gerade hier finden sich
vorzugsweise die Altsachen, die germanisch -skandinavischen Typus
tragen. Freilich liegen in mehreren dieser Anlagen auch Zeugen
jener späteren Jahrhunderte, in denen sicher schon die Esten im
Lande saßen. Aber Siedelstätten und Grabfelder sind durch natür-
liche Verhältnisse bedingt, ein späteres Volk folgt darin leicht den
Spuren des früheren. Wie weit Funde dieser Steinreihengräber
speziell den Goten zuzuweisen sind, ist schwierig zu entscheiden,
weil wir das spezifisch gotische Grabinventar nicht kennen, es z.B.
nicht sicher ist , ob wie behauptet worden , die s. g. Fingerfibel aus-
drücklich den Goten zuzusprechen ist, eine Form, die bisher den
livländischen Gräbern fast völlig fremd ist.
Die Forschung hat hier noch nach allen Seiten ein weites Feld.
Die vorliegende gelehrte und gründliche Arbeit bedeutet einen großen
Hackman, Die ältere £isenzeit in Finnland. I 961
Schritt vorwärts. Für sie wird nicht nur die eigene finnische Heimat
dem Vfr. aufrichtig danken, auch die Erforschung der frühen Ver-
gangenheit in den südlicheren ostbaltischen Ländern wird gern be-
kennen, daß der Vfr. ihr einen großen Dienst geleistet hat.
Dorpat R. Hausmann
HeinrichvonFreiberg. Mit Einleitungen über Stil, Spracbe, Metrik, Quellen
und die Persönlichkeit des Dichters herausgegeben von Dr. Alois Bemt. Ge-
druckt mit Unterstützung der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissen-
schaft, Kunst und Literatur in Böhmen. Mit einer Lichtdruck-Beüage. Halle
a. d. S., Max Niemeyer, 1906. 208 + 272 S. 8<>. M. 12.—.
Heinrich von Freiberg gehört nicht zu denjenigen Epigonen der
mittelhochdeutschen Literatur, die sich seither Über Vernachlässigung
beklagen durften: alle seine Werke lagen bereits in mehrfachen Aus-
gaben -— Textabdrücken und kritischen Bearbeitungen — vor, über
sein literarisches Eigentum und über das Quellenverhältnis seiner
wichtigsten Dichtung hat man mehrfach gehandelt, seinen Gönnern
aus dem böhmischen Herrenstande hat man nachgeforscht, kurz die
Literaturgeschichte konnte über ihn schon längst mehr und vor allem
bequemer berichten, als über manchen andern Dichter der ihn an
Bedeutung überragt. Gleichwohl begrüß ich die Gesamtausgabe, die
uns ein Schüler Seemüllers vorlegt und die durch vielseitige und
gründliche Studien über alle einschlägigen Fragen zu einem statt-
lichen Bande erweitert ist, mit aufrichtiger Freude. Denn einmal
ist es an sich ein Fortschritt, daß wir hier alles so bequem vereinigt
haben, und dann ist die Gesamtleistung recht erfreulich. Die alt-
deutsche Philologie verAigt heute nur über wenige gut ausgerüstete
Editoren, und von Bernt dürfen wir bestimmt erwarten, daß er den
Eifer und die Hingabe, die er hier bewiesen hat, noch andern Werken
der spätmittelhochdeutschen Literatur zuwenden wird.
Es soll keine Einschränkung des Lobes sein, wenn ich sofort
einschalte, daß das kritische Ergebnis für die Texte des Heinrich von
Freiberg in keinem Verhältnis steht zu der darauf verwandten Arbeit
vieler Jahre. Die drei kleinen Dichtungen sind nur in je einer Hand-
schrift auf uns gekommen, und für den Tristan, dessen Ueberlieferung
gut und durchsichtig ist, hat Reinhold Bechstein jedenfalls sein Bestes
geleistet: seine Ausgabe ist so brav, daß ihm ihretwegen andere
Sünden verziehen werden mögen. So betont denn auch Bernt selbst,
daß er in der Vorlegung eines vollständigen Apparates, der durch-
weg eigene Abschriften zu Grunde legt, den Hauptwert seiner Neu-
962 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
edition des Tristan erblicke; andere Vorzüge werden gleich zu er
wähnen sein. Dieser Apparat macht auch wirklich einen vortreff
liehen Eindruck : er läßt selten eine Frage des nachprüfenden Leser
nach Wortlaut und Wortform der Handschriften unbeantwortet, um
ist doch mit bloß orthographischen Varianten nicht unnütz belastet
Auf seinen Druck und seine Korrektur ist offenbar die größte Sorg-
falt verwendet worden, während über dem Texte das Auge des
Herausgebers nicht immer gleichmäßig gewacht hat: ich hebe als
böses Beispiel die Seiten 236. 237 hervor, wo Leg. V. 811 osterlanden,
V. 815. 817 tor (>porta<), V. 841. 856 Juden gedruckt steht.
Was das sprachliche Gewand der Dichtungen angeht, so war
B.s Bestreben vor allem darauf gerichtet, zu ermitteln, wieviel von
der äußeren Oestalt der Ueberlieferung — besonders des Tristan in
der Florentiner Handschrift F — für die gereinigte Textform beibehalten
werden könne, und welche Aenderungen des Laut- und Wortbildes
auf Orund der Reimuntersuchung geboten seien. Für die Methode
derartiger Untersuchungen ist er bei Kraus und Zwierzina in die
Schule gegangen; daß er sie bereichert und verfeinert habe, wie es
bei jedem neuen Autor, der ihr unterzogen wird, möglich sein muß,
kann ich freilich nicht ohne Einschränkung zugestehn. Einmal lehnt
er sich viel zu eng an diese — gewiß vortrefiflichen — Vorbilder
an, und dann ist seine sprachwissenschaftliche Bildung doch nicht
so fest und sicher, daß er immer die entscheidenden Reime mit
Gewißheit herausfindet. So hat er gleich im Eingang der sprach-
lichen Erörterungen auf S. 81 bei Beurteilung der Apokope merk-
würdig fehlgegriflfen, wenn er Reimen wie ich dol: wol; ich var:
lipnar; er enper, ich gewer, er ger: her; dem spor, var deni ton
vor eine Beweiskraft beimißt. Im allgemeinen kann man sich mit
den Folgerungen, die für die Textform gezogen werden, immerhin
einverstanden erklären, den stärksten Widerspruch habe ich gegen-
über der Behandlung des -lieh (S. 95 f) zu erheben. Wenn für die
Adjektiva und Adverbia auf -lieh die Kürze durch 70 Reime fest-
gestellt ist, so ist diese Schreibung selbstverständlich auch in allen
neutralen, rührenden Reimen (5) und ebenso im Versinnem durchzu-
führen: B. aber schreibt hier konstant -lieh! -lieh ist zweifellos die
dem Dichter geläufige Form: die jenen 70 (+5) Fällen gegenüber-
stehenden 8 Beispiele für -Uchigelkh und die 4 Beispiele für 4ich:
rieh und i-rich stellen deutlich literarische Reime dar: es bleibt
immer noch bemerkenswert, daß unter im ganzen 87 Reimbelegen
nur ein einziger Fall vorkommt (Trist. 1665), wo ein Adjektivum auf
'lieh mit dem Simplex rieh gebunden wird. — Mit dem Längezeichen
ist mir B. überhaupt zu freigebig: geberde(n): werde(n)^ erde(n) er-
Heinrich von Freiberg, hrsg. von Bernt 963
scheint geradezu als eine Lieblingsbindung Heinrichs, und man schiebt
ihm mit Unrecht einen unreinen Reim unter, wenn man gd)erde(n)
schreibt. Daß H. v. F. den Vocal vor der Lautgruppe cht kürzte, ist
bei dem Mitteldeutschen von vorn herein wahrscheinlich und wird
durch zahlreiche Reime (wie: nacht '.bedacht Trist. 235, :erdacM 829,
: verdacht 1419) direkt erwiesen. B. aber schreibt hier immer Länge,
und das erscheint um so aufifälliger, als er die Kürzung lieht > licht
ohne weiteres zugibt und in der Schreibung ausdrückt ; recht drastisch
tritt dieser Widerspruch Trist. 233 ff. in der Reimfolge geschieht dicM,
nacht ihedächt zu Tage.
Solches Festhalten an der mhd. Normalform entspricht eigent-
lich nicht der Tendenz des Herausgebers, der sehr energisch darauf
ausgeht, seinem landsmännischen Poeten möglichst viel sprachliches
Sondergut zu vindizieren. Ich kann den Erwägungen, aus denen
S. 114 unserem Heinrich schwache Formen von arm^ heim und site
zugesprochen werden, nicht zustimmen, noch weniger der Art wie
der Herausgeber derartiges aus der Ueberlieferung herausklaubt und
recht unnötig in den Text schafft. Und nun gar der Exkurs auf
S. 121 f., wo die eindeutige Ueberlieferung ich rase nit (nindert) ein
kunne Trist. 5399 4ch rase in keinerlei Weise, ganz und gar nichr
durch eine Konjektur beseitigt wird, die 'ein eminent dialektisches
Wort', das deutschböhmische bunne = bone ('ich rase keine Bohne'!)
schaffen soll, ist Spielerei und weiter nichts.
Daß die Reimuntersuchung im übrigen viele nützliche Daten er-
bringt, will ich gern ausdrücklich betonen, nachdem ich gegen ihre
Wertung (und Nichtwertung) für den Text einige Bedenken erhoben
habe. Mit der Darstellung der Metrik steht es ähnlich : sie ist durch
manche statistische Feststellung nützlich und liefert ausreichende An-
haltspunkte für eine chronologische Anordnung der Werke, wobei der
Tristan zwischen die Legende vom Kreuzholz und die Ritterfahrt des
Johann von Michelsberg gesetzt wird, das Schrätel ihm unmittelbar
folgt oder vorangeht ; aber freilich hat sie den Herausgeber vor Un-
sicherheit und auch vor Willkür bei der Textkonstitution nicht ganz
zu bewahren vermocht. Spielt das Streben, die Senkung auszufüllen,
schon in B.s Vorliebe für die schwache Flexion von arm und heim
eine Rolle, so führt es ihn hier und da direkt zur Einsetzung von
Formen, die nicht nur der Ueberlieferung, sondern ganz gewiß auch
der Sprache Heinrichs widerstreiten: Icostelich, wie es B. Trist. V.
1319 und 4511 gegen das gute kostlich beider Hss. einsetzt, oder
sündeliaft wie er Leg. 93 schreibt, sind Belege für diesen Tadel.
Solcher Schönheitsfehler zeigt die Ausgabe noch einen und den
andern; ich mag sie dem Herausgeber nicht alle aufmutzen, sondern
964 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 12
will lieber hinzufugen, daß derartiges an andern Editionen der letzten
Jahrzehnte oft weit stärker zu rügen wäre, ja daß keiner von uns
sich davon völlig freisprechen darf.
Das Beste aus dem reichen Inhalt der Einleitung habe ich noch
nicht hervorgehoben: die säubern Ausführungen über den Stil des
Dichters und seine literarischen Vorbilder (S. 23—80), wo ihm dann
zugleich die neuerdings angefochtene Autorschaft des Schrätels ge-
sichert wird (vgl. dazu S. 161 flF.), die verständige Ueberprüfung der
Quellenfragen (S. 165—177), und schließlich die höchst gewissen-
haften Untersuchungen über die Persönlichkeit des Dichters, die zwar
noch manches im Dunkel lassen, aber dem Leser überall die Eontrolle
ermöglichen (S. 178—208). Durch die ganze umfangreiche Einleitung
hindurch finden sich hübsche Einzelbeobachtungen und kleine Neben-
ergebnisse verstreut, wie sie eben nur einem Gelehrten zufallen, der
durch langjährige liebevolle Beschäftigung mit dem Stoff und allen
seinen Beziehungen vertraut geworden ist. So münden denn diese
ungewöhnlich reichen Prolegomena noch aus in die schöne Ent-
deckung, daß Heinrich von Freiberg stark gewirkt hat auf Peter Suchen-
wirt, und zwar nicht nur durch den Tristan, sondern auch durch die
kleinem Dichtungen.
IEh ich zum Schlüsse aufreihe, was ich zur Besserung und Er-
läuterung der einzelnen Texte beizutragen habe, will ich einen
Wunsch nicht unterdrücken, den mir auch diese Ausgabe wieder
nahelegt : möchten doch unsere jungem Fachgenossen sich, auch was
die äußere Technik der Edition angeht, zunächst durch ein gründ-
k liches Studium der Ausgaben Lachmanns und Haupts Vorschulen, um
[ sich selbst allerlei Zweifel und Unsicherheit, uns hinterher allerlei
Unbehagen zu ersparen. Ich will die Dinge, um die es sich hier
handelt, nicht alle aufzählen: erwähnen will ich für diesmal nur die
Behandlung der Elision von Senkung in Hebung (Bernt schreibt
— gegen die Ueberliefemng ! — schone üf^ äne allen, beläßt aber
!l umgekehrt jswär als all) — und dann die Interpunktion ! Mag man
' immerhin Moriz Haupts Sparsamkeit oft schwierig finden, unser
Herausgeber ist dafür von einer Verschwendung, die schon das Auge
beleidigt und dem Innern Ohr unerträglich wird: V. 2178 zwar als
^ alt, als ich bin, oder V. 3092 die künigin, sin elich wip, die scheine
Isöt sind ein paar Beispiele.
Und nun zu den einzelnen Texten!
Tr|istan. Merkwürdig mißverstanden haben beide Herausgeber
die höchst einfache Stelle V. 1175 f.: sin roc was hübeschlich gesniten
tool nach gendes boten siten. Bechstein, der umschreibt >der ge-
hende, ausgesandte Bote,« setzt obendrein ein Komma nach Y. 1175
Heinrich von Freiberg, hrsg. von Bemt 965
und betont, daß V. 1176 zum folgenden gezogen werden müsse {van
guotem sagite rdt)\ Berat meint in der Anmerkung S. 263, V. 1176
sei >gleichsam terminus«, und vergleicht aus dem Rother die Aus-
drücke der (ein) gähinder. Hinder man für >Bote«. Ob er etwa gar
gende für gcehende (Nebenform zu gähende) nehmen möchte? Der
gende hole ist allerdings ein Terminus: es ist der Bote zu Fuß, im
Gegensatz zu dem Boten zu Pferde, dem rennenden loten oder renner.
— Dem Reim gesagee : tages 2325 f. (vgl. Einl. S. 125) wird man (an-
ders als Bechstein) aus dem Wege gehn müssen: zwar es geschach
und ich end ages ist auch im Ausdruck besser als und ich gesagee.
— Auf S. 74 f. wechseln beständig die Formen jager (2377. 2392.
2415) und jeger (2381. 2431). — V. 3491 bleib ich im Gegensatz
zu Bechstein und Bernt der Hs. F zur Seite, indem ich schreibe:
nu haut die v als c hen trügener mich im gemachet gar unmer. —
V. 3559 nam des Jcüneges ros goume ist mit beiden Hss. zu belassen;
Bernt berücksichtigt nicht die Tatsache, daß von zwei Genetiven in
dieser Stellung der zweite die Flexion entbehren kann; vgl. Haupt
zu Erec 8124 und Neidhart S. 201 ; auch Hildebrand Zs. f. d. Phil.
4,360. — Es geht unmöglich an, in derselben Redensart V. 3903
alsus urburte ich minen Up und V. 4027 und nicht urb er en unsem
Up zu schreiben ; die Hss. weisen offensichtlich auf urberen hin (4027
bieten sie beide diesen Infinitiv, 3903 hat F urburte, 0 erkerte), und
wenn das auch eine Kompromißform aus urboren swv. und erberen
stv. ist, so wird man sie doch hinnehmen dürfen (Lexer verzeichnet
s. V. urborn weitere Belege) — oder man muß urborte und urboren
schreiben. — V. 4545 1. Uchten FO ! — V. 5202 und anderwärts muß
müete geschrieben werden, denn diese Präteritalform ist durch den
Reim (5273, 6368, vgl. 3264) gesichert. — V. 5419 l. glänz viuwervar
und rubinrot; das von Bechstein und Bernt verschmähte rubin- aus
0 ist rhetorisch unentbehrlich. — V. 5750 ist mir Bernts Text sin triuwe
reine und äne gewalt ist er wol vürsten genöz ganz unverständlich;
Bechstein hat das richtige an gewalt^ was offenbar auch die (hier
einzige) Hs. F bietet. — V. 6582 1. sus lägen die gelieben tot mit
0; gelägen F ist der Bedeutung nach schief, denn schon V. 6576
hieß es tot üf dem töten lac si hie, und ergibt neben dem Mißklang
einen abscheulichen Vers. — V. 6673 f. ist zu schreiben gevärä hän
ir lebenes, weizgot daz ivas vergebenes; bei Bernt steht ein stumpfes
Reimpaar mit drei Hebungen.
Legende vom heil. Kreuze. V. 7 ist statt Ursprünge einzu-
setzen urspringe, das V. 498 durch den Reim (:ki8elinc) bezeugt
wird. — V. 31 das überlieferte ein bilde nach unser gestalt ist zu
belassen. — V. 58 1. forme. — V. 62 bloedik^t ist wahrscheinlich hier
966 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
wie vielfach in jüngeren Hss. Ersatz für das veraltende broßdihei
— V. 85 1. din heilig criuze (Hs. heiligs). — V. 100 was hat sich de
Herausgeber bei dem kosten der Hs. gedacht, das er im Texte steh
läßt? es ist selbstverständlich zu lesen: und siner wcte nicht me
was wan ein kotze. — V. 170 1. wart (so) gros dae ... — v. 326 1
reichten. — V, 355 1. üf dirre vart. — V. 370 die kömel . . . di
enspriessen ...dri boume ist unmöglich, es muß geändert werden nacl
Anweisung von v. 418: dar üz enspriezen. — V. 434 der hsl. Ver
sie w%u>chsen noch wuochsen nicht wird dadurch nicht besser, daß mai
an zweiter Stelle enwuochsen einsetzt: entweder ist das noch falsd
oder aber es muß ein anderes Verbum, etwa welkten, folgen. — 471
heindiclien ruom ist nicht anzutasten, wie es die Anmerkung ver-
sucht: es ist der rechte Gegensatz zu werltltchem ruome. — V. 74C
seh ich nicht ein, warum die (wäre) schriß ergänzt wird. — V. 749
ungewonlich sie gesae üf dae hole kann nicht richtig sein, das hsl
vngewenleich muß in ungeverlich »von ungefähr < geändert werden.
— V. 868 1. Kalvarie. — Mit dem viermal gehobenen klingenden
Reimpaar 877 f. und eimet riches lop und ere von ewen sewen immer
mere klingt das Gedicht in altvertrauter, freilich auch abgebrauchtei
Weise aus. Was aber nun folgt, die Zeilen 879—882, sind erbärm-
liche Schreiberverse, die der Herausgeber unbedingt in die Les-
arten verweisen mußte:
Hie h&t diz buoch ein ende,
got uns sin heiligen geist sende,
got müeze unser immer pflegen
mit des heiligen criuzes sogen!
Ritterfahrt des Johann von Michelsberg. V. 113f. 1.
wunnenclich:gelich. — V. 292 (do wart der herre) gar wunnenclich ge-
kaffet an ist seh werlich richtig ; setzt man wunderlich ein, so kann
dies >überaus sehr«, aber auch >erstaunt, neugierig« bedeuten. —
Völlig mißverstanden hat der Herausgeber den Vers 306. Das hsl.
(das im der künic gab su der stunt) der grösen turneys hundert pfunt
ändert B. in des gr, turneis, übersetzt also »zur Stunde des großen
Turniers«, was hier nach dem völligen Abschluß der ritterlichen
Spiele mindestens sonderbar ausgedrückt wäre. Gemeint sind aber
hundert Pfund Turnosgroschenl >gros toumois<, die damals in
Frankreich geläufige Münze, die als grosse torneise, tumoscy tumeise
auch in deutschen Quellen des ausgehenden Mittelalters massenhaft
bezeugt ist; es genügt hier auf Lexer U 1585 s. v. tumos und auf
meine Ausführungen zu Hugo von Trimberg und Rumsland in der
Frankfurter Münzzeitung 1903 Nr. 34 S. 513 ff. zu verweisen. — Ich
üeinrich von Freiberg, hrsg. von Bemt 967
kann nicht glauben, daß der Dichter das Werkchen mit dem Reim
-s:-2, der in den 8450 Versen seiner Gesamtproduktion nur dies
eine Mal unvermeidbar scheint, geschlossen habe — und obendrein
mit einem so ungeschickten Ausdruck; aber ich weiß keinen andern
Ausweg, als daß der Schreiber hier von dem ersten Reimwort eines
Verspaars {pns) auf den Schlußvers mit . . . vliz übergesprungen, daß
also zwischen V. 329 und V. 330 eine Gruppe von mindestens 6 Versen
ausgefallen ist. Das er des Schlußverses dürfte sich dann wohl eher
auf den Dichter als auf seinen Helden beziehen.
Schrätel und Wasserbär. V. 6f. oh sorge mir die muose
git der ich von, sorge ie muoste pflegen; verderbt ist der zweite Vers,
aber die von B. aufgenommene Vermutung Seemüllers läßt die Ent-
stehung der Korruptel unerklärt: der Fehler liegt ganz gewiß in
einer mechanischen Wiederholung von sorge, und dies Wort muß also
ersetzt werden — am wahrscheinlichsten durch not, wie schon v. d.
Hagen vorgeschlagen hat. — V. 55 1. hart oder herte^ nicht harte!
— V. 98 1. swar oder svcere, nicht swer! — Gegen die Hs., welche
immer richtig gespiseet und spi;s, spizse bot, hat B. V. 192 gespieset,
V. 193. 212. 223 spiez, spieze in den Text gesetzt, also den Brat-
spieß mit den Wurfspieß zusammengeworfen. — Eine von allen Her-
ausgebern (Bemt ist hier der siebente) übersehene Verderbnis steckt
in V. 301 Der guote wirt der vülän. villän heißt in unserm Texte
der Bärenführer, der ein armer Schlucker, ein vüain ist : V. 20 ein
toegewiser villän, V. 50 dar leerte der villän; für seinen gastfreien
Wirt paßt diese Bezeichnung in keiner Weise, der heißt V. 319
324. 346. 348 der büman, und dies Wort ist unbedingt auch V. 301
einzusetzen: es war die Stelle des ersten Vorkommens, und da ent-
gleiste der Schreiber in das ihm als Reimwort bereits geläufige
vülän.
Der Text des Schrätels legt mir eine Frage besonders nahe, die
ich in der Einleitung B.s gar nicht angerührt finde. Die Handschrift
bietet durchweg die Formen sower, gebower; fewer, vngehewer; daß
die alten Monophthonge herzustellen sind, ist selbstverständlich, und
an Formen wie gebüre, urtgehiure würde ich natürlich keinen Anstoß
nehmen. Nun scheint aber das Metrum auch für »Feuer« und >sauer<
zweisilbige Formen zu verlangen — und unbedenklich schreibt B.
daz fiure und stire (unflektiert). So liest er denn V. 55 ff.
von arte ein rechter gämre.
wie ofte im harte und sure
wart sin lipnar mit nöt^
%8 Gott gel. Anz. 1906. Nr. 12
WO ich lieber lesen möchte:
von arte ein recht gebüwer.
swie ofle im hart und süwer usw.
Ebenso, immer im Anschluß an die Handschrift: V. 160 der im dod
süwer gnuoc wart sider, 181 er leite sich bi dcue viuwer nider und
wohl auch 195 f. dojs schretel ungehiuwer sich saizte sfu detn viuwer,
Ich will aber nicht unerwähnt lassen, daß man auch ganz normal
lesen kann V. 160 sür genuoc und V. 55 f.
von arte ein rechter gebür
swie ofte im hart unde sür usw.
In keinem Falle scheint mir für die Ansetzung von Formen wie dojs
fiure und sure ein Zwang vorzuliegen.
Oöttingen Edward Schröder
Der Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina II. von Ruß-
land and Johann Georg Zimmermann. Herausgegeben von Dr. Ednari
Bodemaiin, Königl. OberbibUothekar und Geh. Regierangsrat za Hannorer. —
Hannover a. Leipzig. Hahnsche Bachhandlang 1906. XXY und 157 SS. in 8.
Die Briefe, die das Buch uns vorlegt, umfassen die sieben Jahre
vom 28. Januar 1785 bis zum 31. Januar 1792. Es sind ihrer im
Ganzen 79 , davon 35 von der Kaiserin Katharina II. , 44 von dem
bekannten Hofrat und Leibarzt Zimmermann in Hannover (f 1795)
herrührend.
Dem brieflichen Verkehr zwischen der Kaiserin und Zimmermann
waren Beziehungen vorangegangen, die sich durch gemeinsame Be-
kanntschaften knüpften. Gleich im ersten Brief, den Katharina an
den hannoverschen Arzt richtete, war die Rede von dem Fürsten
^ J: Gregor Orlof, notre ami commun (S. 5). Ein renommierter Arzt
macht leicht vornehme Bekanntschaften. Im großen Publikum, das
aus der Geschichte Katharinas vor allem das Günstlingsunwesen kennt,
ist Potemkin der berufenste Name. Aber Gregor Orlof ist durch
Priorität in der Reihe ausgezeichnet. Mehrere Jahre nachdem er
seinen Platz verloren hatte, suchte er in Hannover mit seiner jungen
Frau Zimmermanns ärztliche Hilfe und begab sich auf seinen Rat
nach Ems, wohin ihnen Z. folgte. Von Orlof gingen damals — im
Sommer 1780 — Versuche aus, Z. für Rußland zu gewinnen. Er
verlor bald darauf seine junge Frau und starb in Geisteszerrüttung
im April 1783 zu Moskau^). Dnrch die ersten Briefe unserer Eor-
1) Marcard, Zimmermanns Verhältnisse mit d. E. Katharina S. 14.
I
Briefwechsel zwischen Katharina Tl. und J. 0. Zimmermann 9r>9
respondenz ziehen sich die das Andenken des Fürsten ehrenden An-
erkennungen der Kaiserin wie Zimmermanns (9. 12 flf.) *). — Eine
gemeinsame Bekanntschaft anderer Art war der Arzt Weikard, votre
ami W. , wie ihn die Kaiserin nennt (4). Aus dem Fuldaischen ge-
bürtig, Arzt in Diensten des Abts von Fulda und Badearzt in
Brückenau, hatte er sich durch medizinische Schriften im großen
Publikum, insbesondere durch den > philosophischen Arzt« (3 Bde,
1773 flf.), eine Sammlung populärer Aufsätze medizinischen und phy-
siologischen Inhalts, bekannt gemacht und war auch mit dem vier-
zehn Jahr altem Zimmermann in literarischen Briefwechsel gekommen.
Durch den Grafen Schuwalow, der einen Bruder Weikards von Paris
nach Petersburg als seinen Arzt mitgebracht hatte, gelangte der
> philosophische Arzt< auch nach Rußland und in die Hände der
Kaiserin, die dem Verfasser daraufhin eine Stelle als Hof- und
Kammerarzt d. h. als Arzt für ihr Hofpersonal anbieten ließ. So
kam Weikard im Frühjahr 1784 nach Petersburg. Bei seiner Vor-
stellung rühmte er der Kaiserin die Verdienste seines Freundes Z.,
wie auch von andern deutschen Größen wie Nicolai und Herder die
Rede war *). Daß die Freundschaft zwischen Weikard und Z. bald
ein Ende nahm, wird nachher vorkommen.
Die direkten Beziehungen der Kaiserin zu Z. begannen mit dem
J. 1785. Sie hatte ihm den Posten eines Leibarztes anbieten und,
als er diesen ablehnte, eine Einladung zu einem Besuche in St. Peters-
burg während des Sommers 1785 zugehen lassen. Die Einladung
galt nicht dem Arzte. Kein Wort von Medizin sollte über ihre Lippen
kommen. Sie fühlte sich wohl, behalf sich gern ohne die Fakultät,
und die Apothekerrechnung für ihre Person betrug im Jahre nicht
über 30 Sous (5). Sie hatte in ihrer Jugend Moliere gelesen und
erklärte Weikard offenherzig, dessen Ideen von Aerzten seien bei ihr
ziemlich hängen geblieben (Denkwürd. S. 245). Die Einladung galt
dem Schriftsteller, dessen Werk über die Einsamkeit sie soeben ge-
lesen hatte. >In diesem Buche ist Kraft und Macht und Reitz der
Seele« lauten die deutschen Worte, mit denen die Kaiserin ihren
französischen Brief unterbricht (4). Das ;beste Lob, das sie dem
Buche spendet, ist der Erfolg, den sie an sich erlebt. Es hat sie
von der Hypochondrie , die sie seit einiger Zeit quälte , geheilt (48).
Darauf kommt sie wiederholt zurück (68).
Das Buch von der Einsamkeit erschien damals schon zum dritten
1) Die der Verbindung der Kaiserin mit G. Orlof entstammende Elisabeth
Alexejew wurde die Frau des bekannten deutschen Dichters Maximilian Klinger,
des Landsmanns und Jugendgenossen von Goethe. Brückner, Katharina S. 602.
2) Weikard, Denkwürd. aus der Lebensgeschichte (1802) S. 233 u. 24ti.
Qött. gel. Am. 1906. Nr. 12 68
970 r.ütt. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Male. Die beiden ersten Ausgaben 1756 Zürich, 1773 Leipzig waren
bescheidene Büchlein, von wenig hundert Seiten. Die dritte Auflage,
in vier großen Oktavbänden, bedeutend erweitert, von dem Verleger
Reich besonders stattlich hergestellt und von Zimmermann mit einer
gewissen Heimlichkeit vorbereitet , wie wir aus der Studienreise des
Karlsruher Hofvikars Rinck erfahren*), erschien seit 1784 und war
der Kaiserin in den beiden ersten Bänden zugänglich geworden, als
sie jene Einladung an den Verfasser richtete. So schmeichelhaft die
Einladung war, die der russische Ministerresident in Hamburg, Herr
V. Groß, übermittelte und mit dem Geschenk eines Brillantringes
namens der Kaiserin begleitete, Zimmermann war durch sein körper-
liches Leiden , das ihm weite Reisen nicht gestattete , genötigt sie
abzulehnen. Die Kaiserin, die ihn gern persönlich kennen gelernt
hätte, mußte sich deshalb begnügen mit ihm in Korrespondenz zu
treten : je me contenterai du plaisir de vous ecrire de tems en tems.
lorsque Toccasion s'en presentera (2).
So eröffnete sich dieser Briefwechsel, durch ein Buch geknüpft,
das die Leserin von ihrer Schwermut geheilt wie der Autor sich
durch seine Abfassung aus tiefem Kummer aufgerichtet hatte*). Die
Korrespondenz wurde, solange sie bestand, lebhaft von beiden Seiten
geführt, und bildete einen wahren Gedankenaustausch zwischen beiden.
Es sind nicht lose aneinander gereihte , chronologisch sich folgende
Briefe, sondern jeder nachfolgende Brief knüpft an die Äeußerungen
des vorangehenden an, nimmt sie auf, beantwortet, rückt sie zurecht,
widerlegt oder schränkt sie ein. Der Löwenanteil des Interesses fällt
den Briefen der Kaiserin zu. Nicht blos wegen ihrer Persönlichkeit.
Der Inhalt ist viel reicher, mannigfaltiger und auch die Form an-
ziehender als bei dem geistreichen Schriftsteller, der seine Briefe
mit Schmeicheleien und byzantinischen Redewendungen anfüllen zu
müssen glaubt, die niemanden kleiden, am wenigsten einen freien
Schweizer. Sie werden dadurch entsetzlich monoton. Doch gehen
sie gottlob in diesen Ton nicht auf. Die Kaiserin selbst hat den
Briefwechsel gleich in seinen Anfängen charakterisiert. Als erst
sechs Briefe, vier von Zimmermann, zwei von Katharina geschrieben
waren, äußerte sie gegen ihren Pariser Berichterstatter Grimm
(l. Juni 1785), extempore sei sie in eine Korrespondenz mit dem
Verfasser des Buches von der Einsamkeit gekommen »pour parier
raison et folie< , und nun schreibe er ihr auch buchstäblich »des
1) (;hri8t. Friedr. Rinck, Studienreise 1788/84, nach dem Tagebuche des Vf«.
hg. V. M. Geyer, Altenbg. 1897 S. 192.
2) Ischer, .1. 0. Zimmermannus Leben und Werke (Bern ld9S) S. 171
und 824.
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmermann 971
lettres aussi raisonnables que folles<. Sie fügt hinzu: »c'est aussi
une t€te qui va et ne sait oü, mais toujours plus loin qu'on ne s'en
avise ordinairement« : ein Urteil, das sich weniger auf den Korrespon-
denten als den Autor Zimmermann beziehen wird. Eine Bemerkung,
die sie daran knüpft, und die bisher von den Bearbeitern seiner
Biographie übersehen worden ist, ist geeignet, die Unklarheiten über
Z.s Berufung nach Rußland zu beseitigen. J'ai vpulu, qu'il vienne ici;
il le voulait aussi; mais quand il Ta voulu, je Ten ai dissuad^e,
parcequMl a une maladie qui ne lui permet pas de voyager, et malgr6
cela il venait (wäre er gekommen), mais moi je ne voulais pas qu'il
mourüt^). Diese Worte liefern den besten Kommentar zum Briefe
der Kaiserin vom 22. Febr. 1785 (4) wie zu dem, was Zimmermann,
Weikard und Marcard über den Anfang seiner Beziehungen zur Kai-
serin vorgebracht haben.
Den Einfluß, den Z. bei der Kaiserin erlangte, verwandte er für
seine Freunde. Im Zeitalter der Aufklärung hatte wer am öffent-
lichen Leben teilnahm, will heißen wer schriftstellerisch sich betätigte,
überall seine Freunde, manche, die er nie gesehen, nur im Austausch
von Briefen kennen gelernt hatte. Ein Arzt von dem Renommee
Zimmermanns wurde viel aufgesucht, in seinem Wohnsitz Hannover,
oder in Pyrmont, wo sich alljährlich Aristokratie, Beamtenschaft,
Gelehrtenwelt ein Stelldichein gab. Die Schützlinge, denen er sich
hülfreich erwies, waren Aerzte, die er im Auftrage der Kaiserin für
Rußland angeworben hatte und die bald mit dem ihnen zugesicherten
Gehalt, bald mit dem ihnen angewiesenen Wohnsitz nicht zufrieden
waren. Für jeden weiß er ein gutes Wort einzulegen. Oder es
waren literarisch bekannte Persönlichkeiten, wie Georg Forster (53,
60), der dramatische Schriftsteller August von Kotzebue aus Weimar,
der jung gleich zahllosen andern sein Glück in Rußland gesucht
hatte (unten S. 988). Einmal versuchte es Z. auch mit einer poli-
tischen Empfehlung. Sie betraf den Marquis Lucchesini, den er wäh-
rend jener denkwürdigen Wochen vor dem Tode Friedrichs des Großen
in Berlin kennen gelernt hatte. Kr berichtete damals nur mit we-
nigen, aber charakteristischen Worten über seinen Aufenthalt an die
Kaiserin. >Der König von Preußen, der nicht mehr an die Medizin
als an das Evangelium glaubte, wollte mich sehen und sprechen wäh-
rend der letzten Tage seines Lebens. Ich war in Potsdam vom
24. Juni bis zum 10. Juli; ich sah den König dreiunddreißigmaP) ;
ich hatte die Ehre ihm über tausend Dinge alle Tage mehrere
1) Lettres de Catherine II. ä Grimm, hg. v. J. Grot, Petersbg. 1878 S. 343.
2) Ebenso Zimmermann, über Friedrich d. G. und meine Unterredungen mit
ihm (1788) S. 1.
68*
I
972 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Stunden lang zu sprechen und das Olück ihn zufrieden zu stellei
obschon ich ihm nichts verspräche (33). Das Gespräch kam auc
auf die Kaiserin Katharina, von der Friedrich behauptete, sie S4
krank. Eine Ansicht, die er schon seit langer Zeit hegte und wiedei
holt geäußert hatte, so daß sie auch der Kaiserin zu Ohren gekomme
war. >Das ließ mich glauben, der König müsse recht krank sein
denn wer sich wohl befindet, beschäftigt sich nicht mit der Kranli
heit anderer Leute«, meinte die Kaiserin (36). Z. wollte dem Koni
jene Ansicht ausgeredet und den Erfolg erzielt haben, daß die Untei
redung abschloß >par un hommage que le Roi de Prusse mourai
rendoit ä Votre Majestö et ä Sa gloire< (34). Die Kaiserin gin
auf diese Huldigung nicht weiter ein und meinte nur, sie wisse nichi
ob Friedrich ihr immer Gerechtigkeit habe widerfahren lassen; da
habe sie aber niemals gehindert, ihm gerecht zu werden (36). Di
Empfehlung Lucchesinis, die Zimmermann an die Erzählung diese
Tage in seinem Briefe vom 28. November 1786 knüpfte (39), lie
die Kaiserin lange Zeit unbeachtet. Erst zwei Jahre später, als 2
die Bitte Lucchesinis erwähnte >de lui apprendre ä m^riter les bont^
de Votre Majesty« (83), antwortete sie, das Bestreben ihren Angele
genheiten zu schaden sei jedenfalls nicht der rechte Weg dazu (89)
Der von Z. so gerühmte ami du feu roy, der zum Gresandten ftti
Petersburg bestimmt, bei seinem Aufenthalt in Warschau so großei
Einfluß gewann, daß man in Berlin vorzog, ihn zum Gesandten bei
der Republik Polen zu bestellen, gefalle sich offenbar darin, dag
Gebäude zu zerstören, das Friedrich d. G. errichtet hatte. DaS
Preußen seines Nachfolgers verbinde sich mit ihren Feinden , stärke
die Polen und unterstütze die Türken. Sie erumert an ihre Ver-
dienste um Preußen im siebenjährigen Kriege. Zweimal kommt sie
auf den Gedanken zurück — 29. Jan. 1789, 26. Jan. 1791 — : on
n'a pas oublie encore ches nous que .... malgr^ le genie sup^rieur
du Roy de Prusse, les tr^sors prodigues de TAngleterre, les häros
qui commandoient les armies, le feu Roy naye vu envahie jusqu'a
sa capitale, et que ce fut Catherine II, qui a eu Thonneur de rendre
ä ce Prince le royaume de Prusse et une bonne partie de la Pome-
ranie (90, 132).
Das Gebiet der hohen Politik, das in diesen Briefen betreten
ist, wird erst in den letzten Jahren das Grundthema des Briefwech-
sels. Bis dahin ist er von friedlichem Interessen beherrscht, ganz
wie Z. Friedrich d. G. auf seine Frage berichtet hatte: Literatur
Menschenliebe und Philosophie sind der Inhalt der Briefe, womit die
Kaiserin mich beehrt'). Wir sehen die Kaiserin an der Arbeit, die
1) Zimmermann, über Friedrieb d. G. und meine UnterredoDgen mit ihm
(^17»8) S. 08.
BriefwerliRel zwischen Katharina II. und J. 0. Zimmermann ^73
Kultur ihres weiten Reiches zu heben. Literarische Arbeiten und
Unternehmungen, über die ich an anderer Stelle berichtet habe (Nach-
richten d. Kgl. Ges. der Wiss. 1905 S. 316 ff.), spielen die Haupt-
rolle. Die Kaiserin läßt Zimmermanns Schrift >vom Nationalstolz <
ins Russische übersetzen (17), sicherlich in der Gestalt, die sie seit
1768 erhalten hatte (Ischer S. 269). Z. engagiert deutsche Aerzte,
besonders dazu bestimmt sich in dem durch die Siege Potemkins er-
oberten Taurien niederzulassen. Er hat Vollmacht die Bedingungen
festzustellen, Reisekosten und Gehalte zu bestimmen. Leider ist die
Liste der Aerzte nicht vollständig erhalten, dem Briefe Nr. 14 vom
3. Oktober 1786 liegt nur deren Schluß bei (34). Ueberwiegend
gehörten sie dem nördlichen Deutschland an, waren zum Teil ver-
heiratete Leute. Unter ihnen war auch ein Sohn des Göttinger Phi-
lologen Heyne (53), Carl, der glücklich vorwärts kam, aber 1794 bei
den Feldzügen in Polen von einem Nervenfieber dahin gerafft wurde,
eine Nachricht, die erst nach fast zwei Jahren an die Familie ge-
langte (Heeren, Heyne S. 348). Daß die Verhandlungen mit ihnen
Arbeit und Verdruß kosteten, ist glaublich genug. Z. in seiner Weise
meinte, die Anwerbung eines Regiments Husaren sei ein leichteres
Geschäft (33). Ein unangenehmes Nachspiel der Angelegenheit war,
daß sie ihn mit dem alten Freunde Weikard in Petersburg entzweite
(33). Weikard, offenbar ein fahriger, unzufriedener Mann, unzufrieden
auch mit seiner Stellung am Hofe, obschon er der Kaiserin offenbar
gefallen hatte , hatte sich Zimmermann gegenüber und namentlich
bei der Anstellung der deutschen Aerzte in Rußland unzuverlässig
benommen ^). Die Kaiserin, die anfangs in der Entzweiung der beiden,
die sie stets als Freunde gekannt hatte, nichts als ihr unbegreifliche
badinage erblickte (36), kam später von ihrem günstigen Urteil über
Weikard zurück und hielt ihn besonders für undankbar'). Für Z.
erwuchs aus der Sache eine lang nachwirkende literarische Feind-
schaft. In verschiedenen Erklärungen und Schriften, noch nach dem
Tode Z.'s, bemühte sich Weikard, alles was Z. über seine Beziehungen
zur Kaiserin erzählt hatte, als unberechtigte Renommage zu verun-
glimpfen^. Auf die > Denkwürdigkeiten aus der Lebensgeschichte«
Weikards v. J. 1802 antwortete im Jahre darauf Marcard durch
die erste Veröffentlichung aus dem ihm im Nachlasse Zimmermanns
zugänglichen Briefwechsel seines Freundes mit der Kaiserin ; über das
Unzureichende dieser Ausgabe habe ich mich schon früher a. a. 0.
1) S. 39. Ischer S. 209. Marcard S. 109.
2) Grimm S. 299. 300. 447.
3) Ischer S. 209 ff.
974 Gott. jrel. Anz. 11K»6. Nr. 12
S. 310 ausgesprochen. Die jetzt vorliegende neue Ausgabe läßt en>t
recht erkennen, wie mangelhaft die alte war.
Von den 35 Briefen der Kaiserin teilte Marcard nur 20, vod
den 44 Zimmermanns nur 10 mit, darunter einen in unsere Samm-
lung nicht aufgenommenen an den Grafen Besborodko. Die Briefe
der Kaiserin, welche Marcard abdruckt, leiden an vielfachen Aus-
lassungen: einzelne Namen wie Lucchesini (383), der Berliner Hof
(386), Gustav III. v. Schweden (386) und ganze Sätze z. B. scharfe
Aeußerungen gegen Friedrich Wilhelm II. v. Preußen und seine die
Polen begünstigende Politik sind unterdrückt. Als Marcard sein
Buch publizierte, war das erklärlich, mochte auch durch die Zensur-
verhältnisse erzwungen sein. Kurzsichtig dagegen war es, dem
dauernden Werte des Buches dadurch zu schaden, daß es den Streit
zwischen Z. und Weikard in den Vordergrund rückte und ihn doch
nicht so darzustellen wußte, daß was sachlich interessant daran war,
zum deutlichen und objektiven Ausdruck kam.
Von den Briefen Zimmermanns hatte Bodemann in seinem Boche :
Joh. Georg Zimmermann (Hannover 1878) vereinzelt Gebrauch ge-
macht, einige auch schon abgedruckt. Aufgefallen ist mir dabei, daß
ein Brief v. 4. Juli 1788 in dem frühem Abdruck S. 137 zwei ganze
und wichtige Sätze mehr enthält als in der vorliegenden Sammlung
(72) ^), in der es doch auf Vollständigkeit ankam. Die Ausgabe be-
schränkt sich auf die wörtliche Wiedergabe der Briefe und eine
knappe Einleitung (V — XXV), die über den innem Zusammenhang
der Briefe, ihren politischen Hintergrund und die wichtigsten Lebens-
umstände Z.\s orientiert'), lieber die Herkunft der Briefe erfahren
wir aus ihr nichts. Wir sind also auf das angewiesen , was Bode-
manns Verzeichnis der > Handschriften der kgl. öffeutl. Bibliothek
zu Hanno ver< (Hannover 1867) S. 389 mitteilt. Danach sind die
Briefe mit dem ganzen litterarischen Nachlasse Zimmermanns, den
seine Witt we, die im J. 1825 verstorbene zweite Frau, eine Tochter des
Hofmedicus v. Berger in Celle, der königlichen Bibliothek vermachte,
1826 in diese gelaugt. Die Briefe der Kaiserin sind im Original,
bald mit, bald ohne Unterschrift, erhalten; nur einmal ist blos der
Schlußsatz eines Briefes von der Hand der Kaiserin hinzugefügt
(106). Die Briefe Zimmermanns sind nach den Konzepten abgedruckt
1) On est alh'> etc. und mes reflexions contre la manie etc.
2) S. XII ist Ende Dezember 1788 in 1787 zu bessern; einen Kaiser von
Oesterreicb gab es 1789 nocb nicbt (S. XVIII). Cette trempe d'äme (88) läßt
sich nicht mit Härte des Geistes (XXI) wiedergeben; Zimmermann in seiner
Uebersetzung (Fragm. 111371) hilft sich mit einer Cmschrdbong ; am ehesten
ließe OS sich durch Gesinnung, Geistesrichtong ausdrücken.
Briefwechsel zwischen Katharina 11. und J. 0. Zimmermann J)75
Im Gegensatz zu den Ueberschwänglichkeiten , mit denen Zimmer-
mann seine Briefe schließt, enden die der Kaiserin einfach: adieu,
soyes bien assur^ de mon estime. Catherine (115), oder adieu, port^s
V0U8 bien (110, 111). Die Anrede, wenn überhaupt eine gebraucht
ist, lautet: Mr. de Zimmermann (139, 41) oder Mr. le chevalier de
Z. (73), in Erinnerung an den Wladimirorden, den ihm die Kaiserin
1786 verliehen hatte (32): ein Orden, der, wie damals G. Brandes
an Heyne schrieb, alle andern übertrifft, weil damit ein Gehalt von
300 Rubel verbunden ist. Hier hat Galenus also beides, opes und
honores, bewirkt (Briefw. IX 62).
Orthographie und Interpunktion in den Briefen der Kaiserin
sind mangelhaft. Dem Leser würden kurze Hinweise die Lektüre
erleichtert haben, da er jetzt oft in Ungewißheit bleibt, ob ein Druck-
fehler (S. 41 Klovie st. Kiovie, S. 83 recu st. v6cu ; S. 88 en eue st.
a eue; S. 100 lä st. la; S. 70 pour vor sa defense ausgelassen) oder
ein Versehen der Kaiserin vorliegt. So wird unzweifelhaft statt:
buvant du vin modernement (49^ zu lesen sein: mod^r^ment, wie
schon Marcard las (354). Das enloy^ ist zu bessern in employ^,
wie in Bodemanns früherer Publikation (126) gelesen wird. Die
Vergleichung mit der Grimmschen Korrespondenz zeigt, daß Knosing
(106) in Knorring und Tokchan in Fokchan (106) zu bessern ist.
S. 59 ist sicherlich pas avec ces mots zu ergänzen. Der Styl der
Briefe erfreut durch seine Frische und Lebendigkeit. Kurz uud klar
weiß die Schreiberin ihre Gedanken auszudrücken. Sie findet offen-
bar ohne lange zu feilen die zutreffende Form und glückliche Wen-
dungen, die Z. nicht selten in seinen Antworten wieder aufnimmt,
wie z. B. wenn sie die Staaten, auf deren Stimme es ankommt, be-
zeichnet als puissances qui ont voix en chapitre (143. 146). Umge-
kehrt scheint die Kaiserin Z.'s Ghoiseulades aufgenommen zu haben
(114. 121).
So zahlreich die Briefe, die uns erhalten sind, so ist doch die
Sammlung, wie sie uns vorliegt, nicht vollständig. Nicht nur, daß
die Beilagen, die die Briefe begleiteten, verschwunden sind, die Kai-
serin zitiert einigemale Briefe Zimmermanns: v. 25. April 1788 (66),
V. 18. Sept. 1789 (111), v. 10. Mai 1791 (140), für welche sich keine
Belege finden. Das Zitat eines Briefes vom 28. Janr. 1791 (135) ist
nur Schreib- oder Druckfehler für 8. Janr.
Prüft man den Inhalt der von der Kaiserin ausgegangenen Briefe
auch nur im Allgemeinen, so ergeben sich zwei Klassen von Schreiben.
Die eine, und sie bildet die Mehrzahl, stammt wie aus der Hand
der Kaiserin, auch aus ihrem Geist; die andere rührt blos von ihrer
Hand her. Die Reihe der letzteren beginnt mit Nr. 32 vom 10./21.
970 Tiött. gel. Anz. IIMMJ. Nr. 12
Juli 1788, der sich selbst im Eingang als Auszug aus dem Briefe
des Admirals Greigh über einen gegen die Schweden am 6. Juli ge-
wonnenen Seesieg bezeichnet (73)^). Dann folgt aber seit Ende
1788 eine Reihe, die ohne andern Eingang als das Datum kurze
Kriegsberichte oder Siegesbulletins enthalten und nichts weiter (n. 38,
43, 46, 47, 48, 50). Es ist bisher unbeachtet geblieben , daß die-
selben Briefe wörtlich oder fast wörtlich in der Korrespondenz der
Kaiserin mit Grimm wiederkehren. Den angegebenen Nummern ent-
sprechen in der Grimmschen Korrespondenz Nr. 184, 186, 187, 188.
189, 190. Wenn nicht einer der Sekretäre der Kaiserin eine ihr
sehr ähnliche Hand schrieb, muß man also annehmen, daß sie sich
die Mühe gab, um ihren Korrespondenten Z. schleunigst zu unter-
richten, eigenhändig die eingelaufenen Siegesbulletins abzuschreiten.
Z. stellt wiederholt der Kaiserin Katharina, ihrer Tätigkeit und
Tatkraft die europäischen Könige gegenüber, qui v^g^tent au foni de
leurs palais, Karten spielen (81) und sich an dem Glanz ihrer Kronen
genügen lassen, während die Kaiserin des Ruhmes genießt zu wBsen,
wie man solchen Glanz verdient (41). In der zu jener Zeit belitbten
(vgl. Brückner S. 226) Einkleidung einer Rede, die er bei einei Be-
gegnung in den elysäischen Feldern dereinst halten würde , gikt er
eine eingehende, natürlich überaus schmeichelhafte Charakteristik der
Herrscherin (80). Sie geht auf den Scherz ein, nimmt Satz für Satz
seine Schilderung durch und weist fem deren Uebertreibungen zurück
(87 ff.). >Sie haben die Philosophie und die schönen Künste gelebt
und ermuthigt< , hatte Z. gerühmt. >Ich habe die Philosophie ge-
schätzte erwidert die Kaiserin. Um das zu würdigen, muß man sich
erinnern, wie freigebig das Zeitalter, das sich gern das philosophische
nannte, mit den Worten Philosoph und Philosophie umging. Wie
Friedrich d. G. sich 1728 in einem Briefe an seine Schwester als
Fr6d^ric le philosophe unterschrieb'), so entwarf Katharina ein Bild
ihrer seihst unter dem Titel: Porträt der fünfzehnjährigen PhLo-
sophin^). Ihren Satz: j'ai fait cas de la philosophie (88) motiviert
sie : parceque mon äme a toujours 6te singuliörement repnblicaine.
Ein bei ihr sehr beliebter Ausspruch, der u. a. in ihrem Entwarf
der eigenen Grabschrift wiederkehrt (Brückner 682). Wem solche
Gesinnung mit der Unumschränktheit ihrer politischen Stellung un-
vereinbar erschien, dem antwortete sie, niemand in Rußland werde
ihr vorwerfen, ihre Macht mißbraucht zu haben (88). Die schönen
Künste habe sie aus reiner Neigung geliebt. Was sie selbst ge-
1) Vgl. Briefe an Grimm S. 459 Anm.
2) Oeuvres 27, 1 S. XIII.
3) Memoiren der K. Katharina hg. v. Herzen 1859 S. 27.
Briefwechsel zwischen Katharina IL und J. (i. Zimmermann 977
schrieben, wisse sie nach seinem geringen Werte zu beurteilen. Sie
habe vielerlei getrieben, nur zu ihrem Vergnügen. Man mache zu-
viel Aufhebens davon. An andern Stellen hat sie ihrer literarischen
Arbeiten als Erziehungsmittel für ihre Angehörigen, für ihr Volk
gedacht, als Gegenwirkungen durch das Mittel der Bühne, um ver-
derbliche Richtungen zu verspotten, wie sie sich damals von den
europäischen Höfen, insbesondere von Frankreich aus auch nach
Rußland zu verbreiten anfingen. Cagliostro hat dem Kardinal Rohan
weiß gemacht, er solle mit Julius Cäsar soupieren und mit Cleopatra
zu Bett gehen (22), scherzte Zimmermann, und anderwärts spielen
Rosenkreuzer und Geisterseher ähnliche Rollen. >Le Schaman de
Siberie<, den die Kaiserin 1787 geschrieben hat, will ähnliche Betrüger
in Rußland entlarven; sie ist neugierig, ob Nicolai in Berlin, den
Z. zur Veranstaltung deutscher Uebersetzungen ihrer Lustspiele ver-
anlaßt hatte, auch dieses verlegen werde (49). Z. konnte sie darüber
beruhigen, er hatte in Pyrmont schon die ersten Druckbogen des
Buches, das die Kaiserin für Contrebande in Berlin hielt, von Nicolai
vorgewiesen erhalten (52). Das Wichtigste in der Unterhaltung ist
was die Kaiserin über ihre >conduite politique < äußert. Z. hatte
die Aufgabe, die sie sich gesetzt, darin gefunden: ihre Völker ver-
nünftig, gerecht und glücklich zu machen (81). Wenn sie das auch
gelten lassen will , so weiß sie doch , daß jeder das Glück auf seine
Weise versteht, und die menschliche Rasse zur Unvernunft, zur Un-
gerechtigkeit geneigt ist (88). Von ihren politischen Plänen glaubt
sie, daß sie »les plus utiles pour mon pays et les plus supportables
aux autres« seien. Ihrem Volke stellt sie das günstige Zeugnis
seiner steten Bereitwilligkeit zu Opfern für das ößentliche Wohl aus
(91). Sie tritt für ihre Unterthanen ein, verteidigt ihre hervorra-
genden Männer gegen Verunglimpfungen und Verkleinerungen —
auch gegen die, welche die Heldeu Rußlands für die Fremde in An-
spruch nehmen wollen ^). Sie weiß sich und ihr Land von Eroberungs-
sucht frei. Man hat keinen Grund, um Rußland in Sorgen zu sein.
Es will nicht, wie man es beschuldigt, alle Regierungen umstürzen,
weder durch Gewalt noch durch Ränke oder durch Geld. Wenn
Rußland die Welt überrascht hat, so beruhte das nur auf der Un-
kenntnis; man wußte nicht, welche Kräfte es zu entwickeln im
Stande sei (132). Sie selbst hat niemanden gehaßt, niemanden be-
neidet; für Unbilden hat sie sich gerächt, aber auch gezeigt, daß sie
uneigennützig und versöhnlich zu handeln weiß. Alles in allem ge-
nommen, glaubt sie der Menschlichkeit gedient zu haben : Thumanit^
1) Vgl. Nr. 57 und was ich zur Erläuterung dieses Briefes in den Nach-
richten ▼. d. kgl. Ges. d. Wiss. 1906 S. 242 bemerkt habe.
yih (Jott. gel. Adz. 1906. Nr. 12
en general a eoe^) en moi on ami, qui ne s'est dementi en aacone
occasion (88).
Es währte nicht hinge, daß diesen akademischen Erortenmgei
der praktische Kommentar folgte. Während der letzten im Brief-
wechsel behandelten Jahre hatte Roßland seine Erwerbongen in der
Krim gegen die Angriffe der Türken za Terteidigen. Die Erregimg
der Zeit hat einen getreaen Ausdruck in Aea Briefen gefondeo.
Nicht blos in denen der Kaiserin, ihr Korrespondent teilt den Schwnng,
der von ihr aasgeht, übertrifft ihn zuweilen noch. Das Sammeln too
Wortverzeichnissen, das Dichten von Lustspielen ist vorbei, die Kai-
serin geht auf in Politik. Petersburg ist ein Kriegslager und Katha-
rina wie in einem Hauptquartier (74). Sie hat es jetzt mit den
Türken und ihren Helfershelfern in Europa zu tun ; sie gesteht offen,
les Turks Chretiens sont pires que les Turks Turics (74). Der Mi-
nister Choiseul und seine Politik lebt wieder auf. Friedrich d. 6. machte
sich über diese Politik lustig; sein Nachfolger ist tätig, sie mitzu-
machen (100). Der Empfänger dieser kaiserlichen Ergüsse, un pauvre
petit individu (112), un humble philanthrope (97), un ami de Thu-
manite, wie er sich nennt, versteht nichts von Politik, bescheidet
sich, daß seine Wünsche nicht immer mit denen der Kabinette stim-
men (108), ist aber doch unbescheiden genug, drei Wünsche vorzu-
bringen und sie als Forderungen der Gerechtigkeit zu bezeichnen
(108): Vertreibung der Türken aus Europa, Befreiung der Schweden
von dem Despotismus Gustavs IIL, Befestigung der von den Fran-
zosen durch den Bastillesturm errungenen Freiheit. Es ist von Wert,
das Datum dieser Aeußerung zu fixieren. Sie stammt vom 8. Sep-
1789 und ist die einzige, die einen günstigen Eindruck der franzö-
sischen Revolution auf Z. bezeugt (108). Rascher als andere ist
er, der als einer der frühesten das Heraufziehen einer großen Revo-
lution vorausgesehen hattet, von seinem anfänglichen Urteil zurück-
gekommen. Schon der nächste Brief, vom 11. November 1789, geht
aus einem ganz andern Tone (114).
Der schlichte Philosoph ist nicht blos ein passiver Empfanger
der Nachrichten, die ihm von hoher Hand zukommen. Er ist eine
Art Mittelsperson ; wohl nicht ganz ein freiwilliger Mitarbeiter an der
Politik der Kaiserin. Nicht ohne Absicht läßt ihm Katharina ihre
Siegesbulletins zugehen. Die Mitteilung der Kriegsdepeschen ond
Nachrichten in der Neuen Hamburger Zeitung, >les gazettes meilleares
et les mieux Writes de toute TAllemagne« nach Zinunermanns Urteil
(60), mißlingt zwar, da die Zeitung die Nachrichten um mindestens
1) So ist offenbar statt en eae zu lesen.
2) Bodemann, Zimmermann S. 27. Ischer S. 270.
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmermann 979
acht Tage früher hat als über Hannover (115). Aber Anknüpfungen
nach Berlin und London gelingen doch. Z. hat überall seine Freunde,
seine Korrespondenten. Den in Berlin nennt er nicht. Er bezeichnet
ihn nur als einen Edelmann, dessen Ansichten oft einen entscheiden-
den Einfluß im Berliner Kabinet geübt und denen Lucchesinis (oben
S, 972), über dessen Politik ihn erst die Kaiserin belehrt hat (95),
entgegengewirkt haben. Zimmermanns Korrespondent hat einen Aus-
zug aus dem Briefe der Kaiserin v. 29. Janr. 1789 (n. 40) an ein
Mitglied des Berliner Kabinets übersandt (95) und jetzt schon die
Wirkung erzielt, daß man den Polen anstatt zum Widerstand, zur
Nachgiebigkeit rät (104). Man darf wohl den Freiherrn v. d. Horst,
der bis zum J. 1774, wo er sich auf sein westfälisches Gut Halden
zurückzog, Staatsminister Friedrichs d. 0. mit dem Vorsitz in den
beiden Departements der Accise und der Fabriken (Koser, Friedrich
d. G. Bd. n394) war, für den Vermittler halten, denselben, dem
Z.s Bücher über Friedrich einen großen Teil ihrer Nachrichten ver-
danken.
Besonders zweifelhaft war die Rolle, die England in dem russisch-
türkischen Konflikt spielen würde. Eine englische Flotte machte sich
im Frühjahr 1791 kampfbereit, man wußte nicht, was sie im Schilde
führe (147). Sobald sie den Sund passiert, hört unsere Korrespon-
denz auf, schreibt die Kaiserin an Z. (139. 140). Ihren Brief vom
18./30. April nennt er einen Abschied voll Güte et avec la foudre
dans sa main (141). Voll Entschlossenheit sieht sie der Ankunft der
Flotte entgegen. Sie hat immer hohen Wert auf die Meinung der
englischen Nation gelegt und die Freundschaft des Hofes zu besitzen
geglaubt. Lange Zeit war ihr auch die englische Politik günstig, bis
Mr. Ainslie (unten S. 985) Einfluß gewann und die Türken unter-
stützte (142). Z. in seinem Eifer für Katharina et pour le bien du
genre humain, wie er hinzuzufügen nicht versäumt, sendet eine Ab-
schrift jenes Abschiedsbriefs an Jean Audr6 de Luc, den Vorleser
der Königin (144). Von diesem Freunde hatte Z. schon früher der
Kaiserin gesprochen und ihn als >physicien et honnfite homme du
premier ordre< vorgestellt (82). Er war der Kaiserin bekannt als
der Verfasser der an die Königin von England gerichteten Briefe
über die Schweiz (89)^). Sie hatte Teilnahme für ihn gezeigt und
gefragt, ob de Luc blos den Titel oder das Amt eines Vorlesers habe
und den Wunsch hinzugefügt, seine Tätigkeit möge dazu dienen, den
Kummer der Königin über die Erkrankung ihres Gemahls zu mildern
(89). Die Kaiserin konnte es zufrieden sein, daß ihr Brief vom
1) lieber de Luc habe ich ausführlicher gesprochen in d. Ztschr. d. histor.
Vereins für Niedersachsen 1905 S. 435.
980
Gott. «el. Anz. 1906 Nr. 12
19. April 1791 (n. 70) in England bekannt wnrde, denn der Ans2
wird den Schluß nicht verschwiegen haben, in dem sie ihrem Cor
spondenten versichert: wo man sie auch angreife, zu Wasser (h
zu Lande, en aucun cas vous n'entender^s dire que j'aye acqme
aux indignity qn'on se permetra de me pr&crire (139). Z., der ^
die meisten Hannoveraner der Zeit gut englisch gesinnt war, wi
nicht müde, die Kaiserin zu versichern, der größte Teil der ei
lischen Nation stehe auf ihrer Seite und gehöre zu ihren eifrigst
Bewunderem (148. 149). — Die politische Vermittlerrolle, die
spielt, macht ihn auch nicht wenig eitel. Er besorgt, seine Brii
nach Rußland würden erbrochen und Abschriften direkt dem Minist
zugeschickt »centre lequel je parle et j'agis« (105). Er zog es de
halb vor, sie an den russischen Residenten, Herrn v. Groß, in Ehu
bürg mit der Bitte zu senden, sie durch den Courier weiter beforde
zu lassen. Wiederholt empfing er Sendungen der Kaiserin dur
Couriere, und in Hannover wurde es zum Stadtgespräch, wenn wied
ein Courier aus Rußland vor Zimmermanns Hause angekommi
war *).
Wie im August 1790 der Friede mit Schweden (128), so ka
ein Jahr später der mit der Pforte zustande: zunächst die Prälim
narien von Galatz am 11. Aug. 1791 (147), am 19. Janr. 1792 dai
der Friede von Jassy (156). Z., der an den Siegen Rußlands d(
lebhaftesten Anteil genommen hatte, war voll Jubel über d
Friedensschlüsse. Nicht blos um ihrer selbst willen. Schon währen
des Krieges hatte er immer wiederholt, die Staaten Europas hätte
dringlichere Aufgaben, als sich unter einander zu zerfleischen.
Von den drei Wünschen, die Z. geäußert, mochten die beide
ersten dem Sinne der Kaiserin entsprechen, auf den dritten (10
oben S. 978) antwortete sie: nehmen Sie es mir nicht übel, Sie sin
ein gebomer Schweizer und stehen im Dienste des Königs von En(
land, aber erinnern Sie sich gefälligst >que par mutier je suis roya
liste <, aber ein Royalist von der Art, daß ich Sicherheit und Eigei
tum unangetastet wünsche und die Freiheit mit der Anarchie fi
unvereinbar halte (115). Es bedurfte dieser Mahnung nicht, des
schon während die Kaiserin so schrieb (16./27. Nov.), waren Brie
Zimmermanns unterwegs (v. 27. Oktober, v. 11. November), weld
seiner Enttäuschung über die Entwicklung der Dinge in Frankreic
Wort gaben und zum Einschreiten gegen den esprit de r^volte au
forderten, der sich über Europa auszubreiten drohe (114). Der Ka
serin war dieser Gedanke nicht fremd. Schon während des Krieg
mit der Türkei und mit Schweden hatte sie den alten Gesichtspunl
1) Marcard S. 13.
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmermann 981
geltend gemiicht, den ihre Erklärung y. Dezember 1778 den Ver-
größerungsabsichten Oesterreichs entgegengesetzt hatte: die Auf-
rechterhaltung der Verfassung Deutschlands ist ein Interesse aller
Staaten Europas. So äußerte sie jetzt, die europäischen Staaten
hätten, anstatt die Türken zu unterstützen, die viel näher liegende
Pflicht, die deutschen Fürsten bei den ihnen durch den westfälischen
Frieden zugesicherten Rechten zu schützen und gegen die Beschlüsse
der Franzosen zu verteidigen (143).
Der Kampf gegen die Revolution wurde das Zentrum aller Ge-
danken Zimmermanns in seinen letzten Lebensjahren. Die Briefe seit
dem Herbst 1789 sind davon erfüllt. Der Krieg und sein Abschluß
haben die Präeminenz Rußlands über alle Reiche besiegelt. Er
wünscht seiner Herrscherin Glück im Namen des Menschengeschlechts
(148). Unsterbliche Lorbeeren wird sie aber erringen, wenn sie jetzt
ihre Waffen gegen die Feinde des Menschengeschlechts kehrt. Ganz
Europa würde ihre Kokarde tragen, wenn sie die falsche Freiheit in
Frankreich niederwürfe. Er ist mit ihr stets ein Verehrer der liberte
raisonnable gewesen (147). Er nennt sich un homme qui aime le
genre humain plus que tous les systemes de politique (105). Katha-
rina ist ihm die Repräsentantin des Menschengeschlechts; immer er-
scheint sie ihm verbunden mit dem genre humain (139. 144. 148).
Ihr ist es deshalb auch vorbehalten, dem Zeitgeist in seinem angeb-
lich philosophischen Laufe Halt zu gebieten. Dann wird sie >impera-
trice de toutes les Russies et lögislatrice de runivers< sein (146).
So entschieden auch ihre Feindschaft gegen die französische Revo-
lution war, auf deren Bekämpfung durch die russischen Waffen läßt
sie sich nicht ein. Diesen Ruhm weist sie dem König von Preußen
zu. Wenn er will, kann er ihn erringen und dem ganzen Menschen-
geschlecht einen Dienst erweisen. Die Aufgabe ist nicht einmal sehr
schwer: mit 12 — 15000 Mann wird er die Anarchie zum Schweigen
bringen; und geht er vor, so reißt er den Kaiser und die anderen
Fürsten mit sich fort (149). Jetzt ist an Z. die Reihe des Tempe-
rierens. Die Aufgabe ist nicht so leicht. Der Kaiser ist durch den
letzten Krieg erschöpft und in seinen eigenen Ländern nicht sicher.
Zudem ist die rechte Zeit zur Intervention verpaßt: Ludwig XVI.
hat die Konstitution angenommen, und die ausweichende Erklärung
von Pillnitz (27. Aug. 1791) hat ihm keine Wahl als die Annahme
jener Konstitution - der anarchie fran^aise, welche man die franzö-
sische Konstitution nennt (151) — gelassen. Die Hauptsache aber
ist: die Revolution beschränkt sich nicht mehr auf Frankreich; sie
hat sich über alle Völker verbreitet (144). Die Schuldigen sind
wieder die t Philosophen <. La Philosophie porte la r^volte chez tous
9S2 Gott. gel. Anz. 19r«L Xr. 13
le8 peuples (144j. Unter dem X&men der Aniklinuig werden Reli-
gionen, Throne und Regierungen umgesloGen. die licberliche DoktriB
der unveräuGerlichen Menschenrechte hat nbermll ihre Anhänger ge-
funden (144ffJ. Und nicht genug der ansteckenden Kraft die in
diesen Ideen liegt und wie ein Schwindel die Menschen ergreift in
allen Nachbarländern haben sich geheime Gesellschaften eigens zu
ihrer Ausbreitung gebildet. Diese Aufklärer oder ninminatai siod
überall zu finden. In den Kabinetten, unter den Vornehmen so got
wie unter den Lehrern, den Schriftsteilem. Die Universitäten sind
davon erfüllt Alle großen Städte, selbst Regensbnrg, der Sitz des
Reichstags, sind Stätten des Unheils 153). Auch der Kaiser Leopold
hat in seiner nächsten Umgebung Dluminaten. Während aber andere
Fürsten die Gefahr nicht merken, ist der Kaiser auf Ma®eln der
Abhülfe bedacht die Zimmermanns lebhafte Teilnahme erwecken ond
ihn zur Mitarbeit anstacheln. Der Schriftstdler findet das Mittel der
Abhülfe in der Schriftsteller^. Er hat sich mit dem Professor Leo-
pold AloTsius Hofmann') in Wien und mit einem herrorragenden
Mitgliede des großen Rat^ Ton Bern in Verbindung gesetzt, und dorch
die vom Kaiser protegierte Wiener Zeit'^rift soll den revolutionären
Ideen entgegengewirkt werden. Z. bitt^ die Kaiserin um Zulassang
der Zeitschrift in ihren Staaten und um Pnitektion fur die Bestre-
bungen Hofmanns 1 1 54 . Er selbst arbeitet an einer Denkschrift aber
den Gegenstand 154', vermutlich dem bei Bodemann, Zimmennann
S. 145 angeführten Ms.: über den Wahnwitz unseres Zeitalters'),
und übersendet der Kaiserin die Xachrichten, welche eine GroGmtcht
über die Propaganda gesammelt und ihrem Gesandten zugestellt hat
n52L So lebhaft die literarische Tätigkeit auch war. die Z. weiter
in dieser Richtung entwickelte'», in unserm Briefwechsel ist nichts
mehr davon wahrzunehmen. Er schließt mit dem Glückwunsch Z.S
zum Frieden von Jassy (15*>l
Neben den Beiträgen zur Zeitgeschichte liefert der Briefwechsel
natüiüch auch Beitrage zur Geschichte der beiden Korrespondenten.
Um mit Zimmermann anzufiingen. so nndet seine von den Biographen
bisher nicht beachtete Reise nach dem Haag im Winter 1788 hier
nähere Beleuchtung. Im November trat der erste Anfall ein^ Geistes-
krankheit bei König Georg HL ein. Boshaft genug schrieb K. Katht-
rina an Grimm: Qui aurait jamais era. que Tami G. ent qaelque
1^ Uel»er Hoämun. deswn Xiae igffallnidweue in dar ADB fcUt f|L
GOdeke IT m^ nad T ä2S
2 Iscber S. 1»! o. 41S.
S« Ixber S. IM und 41Sff:
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. 6. Zimmermann 983
chose ä perdre du cot^ perdu ^)! Z. als Königlicher Leibarzt erhielt
von seiner vorgesetzten Behörde in Hannover den Befehl, sich nach
London zu begeben. Die Zweifel Lichtenbergs (Briefe II 362) sind
ganz grundlos. In Hannover waren die Freunde bei Z.s altem Bruch-
leiden sehr besorgt, wenn er über die See müßte (Brandes Bw. X 60).
Im Dezember machte sich Z. mit seiner Frau auf die Reise, wartete
aber vorsichtiger Weise im Haag weitere Nachrichten aus England
ab. Sie würden der siebente Aeskulap in der Umgebung des Königs
gewesen sein — scherzte die Kaisyin — der Kranke hat von Glück
zu sagen, der gesund und heil aus ihren Händen hervorgeht (85).
Z. muß das große Unglück kranker Fürsten zugeben, daß man sie
immer mit einer Menge von Aerzten umgibt; ein sichreres Mittel sie
nicht zu heilen, existiere nicht (93). Uebrigens hätte er, auch wenn
er nach dem Willen der hannoverschen Regierung nach Windsor ge-
gangen wäre, den König nicht zu sehen bekommen; gestatteten doch
die englischen Aerzte nicht einmal, ihm die nötigen Details mitzu-
teilen, um über die Krankheit des Königs sich ein Urteil bilden zu
können (93). Der russische Gesandte im Haag, dessen Aufnahme Z.
der Kaiserin besonders rühmt, meinte deshalb, die englischen Aerzte
hätten das Recht über Leben und Tod ihrer Könige (93). Der Plan,
den König nach seiner Genesung Hannover besuchen und dort den
Sommer 1789 verbringen zu lassen, erhält durch den Briefwechsel
eine neue Bestätigung: im April spricht Z. davon mit aller Be-
stimmtheit (98), aber schon zu Anfang Juni wußten die Kaiserin und
Z., daß die Absicht aufgegeben sei (100. 105).
Zu der persönlichen Geschichte Katharinas tragen einige der
frühesten Briefe etwas bei, die über Jugendjahre, die sie in Braun-
schweig verbrachte, sprechen. Z. erzählte ihr von einer alten in'
Hannover lebenden Dame, der Witwe Gerlach Adolfs von Müuch-
hausen, einer geborenen v. d. Schulenburg-Betzendorf, die die junge,
damals 12—14 J. alte Prinzessin in Braunschweig gekannt hatte,
und mancherlei Züge von ihr zu berichten wußte (14). Katharina
erinnerte sich des Aufenthalts sehr wohl, sprach von ihrer Ausge-
lassenheit und Lustigkeit zu jener Zeit (16), während Z. in den
Jugendstreichen den Keim der künftigen Größe erblickte. Die Be-
ziehungen, die Katharina an den Braunschweiger Hof führten, wer-
den sich dadurch geknüpft haben, daß ihre Mutter Johanna Elisabeth,
eine geborne Prinzessin von Holstein-Gottorp, nach dem Tode ihres
Vaters, Christian August (f 1726), unter der Vormundschaft des
Herzogs August Wilhelm von Braunschweig -Wolfenbüttel (f 1731)
gestanden hatte, wie denn auch ihre Ehe mit dem Fürsten Christian
1) S. 468.
wurde
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^£^ ^e lack ihren
1*^ za Stettii
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im ja iem Hofe,
iLSiiHtigTTv: JOL -sniiuten. Di-
T^rziüiL ji Bnaoädiweig,
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TsLny des 18.
3& -s ji i«r Revo-
1^ -am % :r*. AJJIiHLg- «BBC ::JZ. TTBP^ Jl«IB VST & GnllD
ixbi Job. Kon-
:-i'.i— 42 Hof.
!«£. -«a üw lasifiiL ZQ fiihleD
:f .3L ± -s^Biss- * —-»— x-^ jTTtffflr^ :^ fJOiCaead ist die
^ ^1 i»-mir 7 .r? ^.^ssncar -AP^tka ü Jir?a Ekiefeo den
V liLJM ich schon
.-^ r. Is- £}fTespoDdeiizblatt
.^ - ^ z JA Snsra la Grimm gibt
r^rfZTTfQBZE. xseio. isfir SU Eioslöffer tot
-TfiEcaKssaerucaK *> mögen ge-
licäc zur Hand war.
kivr- ^-saiTZKSs. anir jae aüd. Boche Zimmer-
r ^-j ff. - '«^ B« &er 4ljn«!siasbrach über
IL ~ JL ^.rrwPHSrs ^.^«29 imi }e*ir.e^m kosten ihm
^'fi x«rr r rta imssü ja J. jn caazen doch nur
Ä'moBS. *( :i iV9ea la Vrnim n Fiilie Torhanden.
£= ^r- i>,tf»ni ^aor xshkil jitmii Homor frei die
/jr.Tiefaamn .scsniuiHr j^c 9i* nei ehrbarer, viel
^t^cT ^T=i=L k^cQiar :icr ?ec stapiT LoL 3sii p«»söiilich : ihr Brief-
PFjräafi^ -rsr<^3fea; ^i.n üwr malir i^ rwsaauc JaIu«: Grimm war
Smcs. ^^gnanra ös- r^mst 3' an i m iskck RufUnd (Dessaa
i
« iri..2Eis: UzsttZTzu ?-. iv. TftMii.iii «<:« Gam ArrhiTimt ZimmermanD
:• V. ifcKinasa.
.. ^«aimii a iul-3 s öbil anere is Gtimb S. 455.
"r ~-smT OB £j]!T<!SD«iiii&aKi der Kaiserin mh Grimm hat K. Hiüebraiid eise
«LsaKcnai^aiww Jlxut« in iisr r*e«ztscfceD Rmidschjui Dez. ISSO S. 377 rerdffentlirbt.
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmennann 985
ein von ihr abhängiger Mann. Die Korrespondenz mit Z. begann in
einer sorgenvollem Zeit, hatte nichts wie jene mit persönlichen Ge-
schäften zu tun und ihren Ausgangspunkt von der Literatur, der
Literatur der Aufklärungszeit, genommen. Ihr gehörte ihre ganze
Teilnahme. Mit dem Sinken der französischen Literatur seit Voltaires
Tode (1778) wandte sie sich mit Vorliebe der deutschen Literatur,
und ihrer Natur entsprechend überwiegend der humoristischen, zu.
Nicolai, namentlich sein Sebaldus Nothanker, Thümmel, die allge-
meine deutsche Bibliothek, Wielands Abderiten bildeten ihre Lieb-
lingslektüre ^) und sie ließ sich in ihrem Glauben an das Aufsteigen
der deutschen Literatur durch die »denigration« Friedrichs des
Großen nicht irre machen ^), der übrigens auch an Sebaldus Nothanker
Gefallen fand. Shakespeare las sie in der Uebersetzung Eschen-
burgs'). Als es Rußland in den achtziger Jahren gelang, hervor-
ragende Deutsche für seinen Staatsdienst zu gewinnen — Cancrenus,
den sie u. a. nennt, ist der hessische Bergwerksbeamte Gancrin
(Krebs), der der Leiter russischer Salinen wurde - machte sie die
allgemeine Bemerkung: ah, que PAllemagne a des gens de m^rite en
ce moment! ah, qu'il fait bon d'y pßcher*).
Ein Herausgeber hat nicht die Aufgabe, seine Quelle nach allen
Seiten hin, die sie darbietet, zu interpretieren, noch weniger zu
kommentieren. Wenn ihm aber selbst bei der Edition Erklärungs-
bedürftiges aufstößt, soll er m. E. dem Leser nicht vorenthalten, was
er zur Erklärung gefunden hat und der Leser erst mühsam ermitteln
muß. Manches davon läßt sich passend in einem Index personarum
unterbringen. Ein solcher fehlt leider unserer Ausgabe. Es wäre
deshalb am Platze gewesen, z. B. S. 44 zu bemerken, daß comte de
Falkenstein das Inkognito war, unter dem Joseph II. im Sommer
1787 mit Katharina zusammentraf (51). Bei Erwähnung des Briefes
von Z. an den Grafen von Besborodko (38) hätte es nahe gelegen,
den Abdruck dieses Briefes bei Marcard S. 342 zu zitieren. — Für
den Leser wäre es ein nützlicher Wink gewesen, wenn ihm S. 142
bemerkt wäre, daß Robert Ainslie englischer Gesandter bei der
Pforte seit 1776 war (ob. S. 979). - Der propagandeur fran^ais
Palloi (152) war vermutlich der französische Architekt Palloy, der, zu
den Erstürmern der Bastille gehörig, bei den verschiedenen Revo-
lutionsakten beteiligt war, aber auch seinen Vorteil daraus zu ziehen
suchte. — S. 12, wo Z. eine Stelle aus seinem Buche über die Ein-
1) Grimm S. 208. 212. 228. 247.
2) Das. S. 202 und 212.
3) Das. S. 383.
4) Das. S. 300.
06it. geL Aas. 1906. Nr. IS 69
9rtfi Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
sainkeit anführt, ist der gemeinte Beurteiler Gregor Orlofs d»*r schon
von Marcard S. 313 zitierte Freiherr v. Schrautenbach, ein hervor-
ragendes Mitglied der Brüdergemeinde, der in Begleitung der Lanl-
gräfin Caroline von Hessen-Darmstndt 1773, zugleich mit Grimm unJ
Merck, dein Freunde Goethes, Petersburg besuchte (ADB. 32.462).
Im übrigen darf der Herausgeber dem Leser, insbesondere auch
dem Rezensenten oder Referenten etwas zu tun übrig lassen. So sei
es gestattet, nach der literarischen Seite hin, die in den Briefen. >o
lange das Zeitalter noch literarisch ist und ehe es kriegerisch wird,
überwiegt, hier einige Ergänzungen anzuschließen.
Die Zahl der Schriften und Schriftsteller, ül)er die in den Briefen
verhandelt wird, ist ziemlich groß. Die Debatte wandte sich, dem
Zeitgeschmack entsprechend, mit Vorliebe den Reisebeschreibnngen
zu, zumal denen, die es mit Rußland zu tun hatten oder mit solchen
Ländern, auf die sich seine auswärtige Politik bezog. Z. lobte der
Kaiserin das Buch eines englischen Geistlichen, William Coxe, travel^:
into Poland Russia etc. (3 Bde., Lond. 1784 (f.), eines Verfassers, der
auch über die Schweiz geschrieben hatte ^). Die Kaiserin hatte Mr.
Coxe kennen gelernt, auch sein Buch durchblättert, meinte aber, er
habe sich zuweilen getäuscht, wenn auch in gutem Glauben (13. 15 .
Aehnlich äußerte sie sich über das Buch gegen Grimm (S. 399). —
Als der Krieg gegen die Türkei begann, sandte Z. der Kaiserin die
Schrift Volneys, der, von Haus aus Orientalist, in den Jahren 1783
u. ff. die Levante und Aegypten bereist und außer einer Beschrei-
bung .seiner Reise (voyage en Egypte et en Syrie, 1789 ff.) conside-
rations sur la guerre des Turcs et de la Russie (Londres 1788) ver-
öffentlicht hatte, die den Plänen Katharinens nicht ungünstig gesinnt,
dem Vf. eine goldene Medaille eintrug, die er 1791, als Frankreich
und Rußland einander feindlich wurden, zurücksandte (71) — Die
Schrift der Lady Craven, Voyage par la Crimee ä Constantinople
(London 1789) führt Z. nur an, urn daraus eine alte türkische Pro-
phezeiung von dem Einzug einer russischen Monarchin in Constan-
tinopel und ihrer Ausrufung zur Kaiserin von Griechenland zu
zitieren (104) und eine piquante Bemerkung über die Verfasserin,
die allmächtige Maitresse des Markgrafen Alexander von Ansbach
und Baireuth, qui a le malheur d'etre impuissant, zu machen.
Alexander war bekanntlich der letzte Markgraf und trat zu Knde
1791 seine Lande an Preußen gegen eine bedeutende Leibrente ah.
nachdem im Jahre zuvor Hardenberg sein Minister geworden war
1) Ks können aber nicht die erst 17b9 erscheinenden Travels in SwitterUnd
gemeint sein, sondern nur die Sketches of the natural political and civil state of
Switzerland, die Coxe 1779 if. veröffentlichte.
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmermann 987
(Ranke S. W. 46, 89 ff.). Anspielungen wie die gedachte glaubte Z.
einige Male wagen zu dürfen (52. 60. 103), überzeugt, daß sie von
der Kaiserin nicht ungnädig aufgenommen würden.
Die Gabe der Kaiserin, Menschen und Moderichtungen des Geistes
scharf zu charakterisieren, findet in den Briefen mannigfachen Aus-
druck. Sie erinnert sich, wie um 1740 alles affektierte, Philosoph zu
sein, auch die schwächsten Köpfe das mitmachten (44). Alle Philo-
sophie hat aber nicht gehindert, daß vierzig Jahre später — um
1786 — die größten Absurditäten, Wahnvorstellungen, Gaukeleien
und Zaubereien in Schwang kamen. Die deutschen Fürsten hielten
es für guten Ton, sich an dem Unwesen zu beteiligen (44). Die
Kaiserin bekämpfte es, als es nach Rußland eindrang, dramatisch
(ob. S. 977). Es war ein Sport vornehmer Damen der Zeit, aktuelle
Vorgänge auf der Bühne zur Darstellung zu bringen, wie die ge-
nannte Lady Craven die Verwaltungszustände in Ansbach dramatisch
geißelte (Ranke S. 89, 93). Auch Zimmermann hatte eine Zeit, da er
die Philosophen, in denen er später die schlimmsten Feinde des
Menschengeschlechts erblickte, für dessen Elite ansah. Er setzt die
corps diplomatiques und die corps philosophiques einander gegen-
über (65). Die Siege der Kaiserin, die Fortschritte ihrer Waffen
kommen der Menschheit zu gute; les ames honn^tes, la plus saine
partie de chaque nation ist auf ihrer Seite, wenn auch die corps
diplomatiques de TEurope ihre Gegner sind. Die Kaiserin hat alles
für sich, was in einem Lande raisonne sans pr6jug^ et sans jalousie.
Er beklagt gleich ihr die modische Geisterseherei, und sieht schon
die Zeit kommen, wo der Hofstaat der deutschen Fürsten um einen
Hofzauberer oder Hoftheosophen vermehrt wird (31). In Straßburg,
wo der in Frankreich sich ausbreitende Mesmerismus zur Stiftung
einer »harmonischen Gesellschaft« geführt hatte, war man so ver-
wegen, eine Notiz in die Zeitungen zu bringen, wonach Z. einen vor-
teilhaften Brief wegen des tierischen Magnetismus an die Gesellschaft
geschrieben habe und seinem Wunsche gemäß von ihr als Mitglied
aufgenommen sei. Z. erklärte sofort das alles für Lüge, er kenne
weder die Gesellschaft noch ein Mitglied. >Mir ekelt vor dem ganzen
magnetischen Wesen.« Er sei ebenso wenig geneigt, sich in die
magnetische oder harmonische Gesellschaft in Straßburg einreihen zu
lassen als in die Gesellschaft der Schamanen von Sibirien: eine
Wendung, die der Kaiserin besondere Freude machte (49. 52)^).
Neben dem Lächerlichen weist er aber auch auf das Gefährliche hin ;
1) Z.8 Erklärung v. 10. Juni 1787 in der Berlinischen Monatsschrift (hg. v.
Qedike und Biester) v. Juli 1787 S. 77. lieber die Straßburger Gesellschaft das.
S. 466, 472 ff. noch weitere Nachrichten.
69*
988 Gott. gel. Anz. 190G. Nr. 12
denn die Anhänger des Schwindels, der maladie g^n^rale (52), tun
sich in Gesellschaften zusammen und verpflichten sich mit Eiden
unter einander (43. 46fif. 66). In der Cagliostro - Literatur spielt
Elisabeth v. d. Recke eine besondere Rolle. Z. hatte sie selbst
kennen gelernt und machte die Kaiserin auf das 1787 von ihr ver-
öffentlichte Buch aufmerksam, worin sie selbst das Auftreten des
BetrUgers 1779 in Mitau am Hofe ihrer Halbschwester, der letzten
Herzogin von Kurland, und ihre eigene Verblendung durch seine
Kunststücke schilderte (46). Katharina ließ das Buch gleich nach
seinem Erscheinen ins Russische übersetzen (66).
Man kennt die warmherzige Gesinnung Z.s für seine Freunde,
aber auch seine zum Sprichwort gewordene Neigung zum Ueber-
treiben. Beides erfährt in unsem Briefen Kotzebue (ob. S. 971), der
Schützling Z.s in doppelter Beziehung: als Schriftsteller und als
Patient. Als Schriftsteller war er damals noch in seinen Anfangen;
sein Schauspiel: Menschenhaß und Reue (1789) hatte ihn aber rasch
berühmt gemacht und so ließ es sich Z. nicht nehmen, von seinen
Werken als universellement applaudis et admires en AUemagne zq
sprechen (131) und ihn unter die ersten Größen der literarischen
Welt in Rußland und Deutschland zu stellen (127). Als er im J.
1790 erkrankte, verwandte sich Z. bei der Kaiserin und verschafile
ihm Urlaub für ein Jahr (122, 126). Während der Zeit verstarb
seine Frau im Wochenbett, ihn mit fünf Kindern zurücklassend (131).
In seiner Verzweiflung reiste er nach Paris, für einen Kranken wohl
zu keiner Zeit ein unbedenklicher, für einen russischen Beamten zur
Zeit gewiß ein bedenklicher Aufenthalt. Z. gab sich alle Mühe, den
Schritt als unverfänglich darzustellen. Der Aufenthalt hat nur knn
gewährt, Baron Grimm hat ihn sehr freundlich aufgenommen and
ihm seine Verwendung zugesagt (137) und, was die Hauptsache,
Kotzebue ist keiner Hinneigung zur französischen Revolntion ver-
dächtig. Seine literarischen Interessen liegen nach ganz anderer Seite
hin. Im Jahr vorher hat er das Not- und Hülfsbüchlein für Bauen,
ein eben erschienenes populäres Lesebuch von Zacharias Becker in
Gotha, das allerhand Mittel gegen die Menschen oder Vieh begeg-
nenden Unfälle behandelt, ins Esthnische übersetzen nnd gratis anter
das Volk verteilen lassen (119); jetzt schreibt er an einem phikso-
phischen Werk über Ehre und Schande, Ruhm und Nachruhm, das
zeigen soll, welche Ideen zu verschiedenen Zeiten and bei verschie-
denen Völkern darüber geherrscht haben (119). Ehe noch dieses
Buch, das erst 1792 unter dem Titel: vom Adel erschien, fertig
wurde, war Z. so glücklich, die Kaiserin auf ein politisches Lustspiel
Kotzebues: der weibliche Jacobiner-Glubb aufmerksam machen n
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. (r. Zimmermann 089
können (138). Sie nahm die Ankündigung mit Dank auf, bedauerte
nur keine Zeit zum Lachen zu haben (140); und so wohlwollend sie
auch die Fürbitten Z.s aufnahm, die Briefe an Grimm zeigen, daß
sie Kotzebue nicht recht traute und vor allem auszusetzen hatte, daß
ein Beamter auf seinen Posten gehöre und nicht andere, während er
seinen Gehalt fortbeziehe, für sich arbeiten lassen dürfe').
Aus der antirevolutionären Literatur kommt sonst nur noch
Girtanners Schrift: Nachrichten und politische Betrachtungen über
die französische Revolution zur Sprache, die Z. als die beste Dar-
stellung des Gegenstandes in irgend einer Sprache rühmt. Girtanner
ist ein gründlicher Kenner Frankreichs, Landsmann, medizinischer
Kollege und natürlich ein Freund Z.s (155). Zu einem Teile gehören
auch die verschiedenen Bücher Z.s über Friedrich den Großen in
diesen Kreis, denn außer der Person ihres Helden und ihres Autors
haben sie die Bekämpfung der Aufklärung und ihrer Tochter, der
Revolution, zum Gegenstand.
Z. war von früh auf ein Bewunderer Friedrichs des Großen^).
1771 in der Zeit seines ersten Aufenthalts in Berlin, wo er sich
einer Operation seines Bruches durch Meckel unterzog, war er dem
Könige vorgestellt worden und hatte ihn mit dem Bewußtsein ver-
lassen, den größten und zugleich den liebenswürdigsten Mann des
Jahrhunderts gesprochen zu haben. Der Brief, den er seinem Freunde,
dem Ratsherrn Schmid in Brugg, über die Audienz vom 16. Oktober
am 27. schrieb, gelangte 1773 durch einen Abdruck in die Oeffent-
lichkeif). Nachdem er im Juni 1786 an das Krankenbett des Königs
nach Berlin berufen war — Katharina meinte: Zimmermann est
allÄ ä Berlin pour gu6rir le roi de Prusse de ses 74 ans*) — be-
nutzte er die damaligen Erlebnisse zu einem im Winter 1787 auf
88 ausgearbeiteten Buche: >über Friedrich den Großen und meine
Unterredungen mit ihm<, das er der Kaiserin in mehreren Briefen
ankündigte. Er bezeichnet es selbst, als mit dem größten Freimut,
mit einer gradezu republikanischen Unbefangenheit geschrieben. Um
einen großen Monarchen zu loben, braucht man nicht zu verschweigen,
daß er ein Mensch war. Er hofft auf den Beifall der Kaiserin für
die Kühnheit wie für das Amüsante seiner Schrift (58. 65. 72).
Katharina verhielt sich den Ueberschwänglichkeiten ihres Korre-
spondenten gegenüber wie immer nüchtern, sprach ihre Zufrieden-
1) GWmm S. 504, 516, 638, 546.
2) Ischer 8.125 ff. 244 ff.
3) Rengger, Zimmermanns Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz
(1830) S. 143 ff. Ischer S. 313.
4) Grimm S. 379.
9i)ü üött. gel. Anz. 1906. Nr. 12
heit aus, daß er dem Andenken eines großen Mannes Gerechtigkeit
habe widerfahren lassen (74). Das Buch, zu Ostern 1788 ausgegeben,
wurde das Ziel der lebhaftesten Angriffe. Hofleute und Philosophen
fielen darüber her. Ueber das Urteil der Höflinge (65) tröstete ihn
ein kräftiges Wort der Kaiserin (67); übrigens habe jeder seine
Feinde (75). In Leipzig, wo das Buch erschien, waren zwei Auflagen
sofort vergriffen (72), obschon gleichzeitig Nachdrucke in Wien und
Karlsruhe veranstaltet wurden ^). Für Z. hatten die Angriffe nur den
Erfolg, daß er sich sofort zu einem neuen Buche über dasselbe
Thema rüstete (73). War das erste, was er über Friedrich d. G.
schrieb, ein Brief gewesen, das zweite ein Buch von 300 Seiten, so
waren die jetzt hinzukommenden >Fragmente über Friedrich d. 6.<
ein Werk in drei Bänden (Leip. 1790). Jede nachfolgende Schrift
nahm die Vorgängerin wieder in sich auf, nicht blos den Ergeb-
nissen, sondern auch zum guten Teil dem Wortlaute nach. Die
>Fragmente« hatte er der Kaiserin angekündigt, sie würden Dinge
bringen, die noch niemand öffentlich gesagt habe (73, 117); als er
sie im Februar 1790 der Kaiserin übersandte, begleitete er das Buch
mit einer Entschuldigung wegen seiner etwaigen Betisen und In-
discretionen (125). Im Schlußkapitel stellte er Friedrich und Katha-
rina neben einander und teilte zur Charakterisierung der Kaiserin
zwei größere Stellen aus Briefen, die sie an ihn gerichtet hatte, in
Uebersetzung mit. Es sind Briefe vom Januar und Mai 1789, in
denen sie sich über die Grundsätze ihrer Politik ausgesprochen
hatte *). Er hatte im Voraus um Entschuldigung gebeten, weil keiner
die Gedanken der Kaiserin besser wiedergeben könnne und üure
Worte noch mehr verdienten in Erz gegraben zu werden als den
schönsten Schmuck eines Werkes über Friedrich zu bilden (125).
Das Urteil Katharinas über das Buch erfahren wir nicht. Der
Sturm, den es im Publikum erregte, war noch stärker als der vom
Jahre 1788. Ein Satz, den er selbst aus dem noch unveröffentlichten
Buche der Kaiserin zitiert (123): wenn Friedrich d. G. über das J.
1789 urteilen könnte, würde er sagen: die Franzosen hatten im
Julius 1789 die Hundswut (Fragm. 1276), ist bezeichnend für das
Ganze.
Z. verzehrte sich leiblich und geistig in dem Kampfe gegen die
1) Die Literatur bei Gödeke IV S. 159 Nr. 13.
2) Fragm. III 367 und S. 369 aus den Briefen Nr. 40 und 4i unserer Samm-
lung. Die Wiedergabe zeigt Z. als gewandten Uebenetzer; hin and wieder auch
als Retoucheur. La race humaine en gän^al penche aa dendsonnemont, i rio-
justice (88): es ist doch überhaupt in den meisten Menschen etwas dommes and
ungerechtes (Fragm. S. 371).
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. 0. Zimmermann 991
Revolution und ihre Ausbreitung. Ueberall sieht er ihre Folgen,
nimmt er Aufklärer und lUuminaten wahr. Er belehrt die Kaiserin,
wenn sie Geisterseher und Rosenkreuzer als illumines bezeichne (20.
153), so sei das ganz etwas anders als lUuminaten, muß dann aber
selbst von Nicolai die Belehrung in Empfang nehmen, daß man in
Berlin wohl Aufklärer, aber keine lUuminaten habe*). Zu mehrerer
Deutlichkeit bedient er sich des Ausdrucks ^claireurs (153 flF.). Seit-
dem man sich in Braunschweig freimütig zur Aufklärung bekannte,
ohne einer geheimen Gesellschaft zu ihrer Unterstützung zu bedürfen,
und Mauvillon in Braunschweig sich die Verteidigung Mirabeaus an-
gelegen sein ließ, galt ihm Braunschweig neben Berlin als Hauptsitz
der Revolution in Deutschland (152). Mirabeau heißt in einem Brief
an die Kaiserin ein rou6 qui s'appelle comte de Mirabeau, Evangelist
und Apostel der falschen Freiheit (122). Katharina läßt sich ihm
gegenüber nicht weiter in diese Kämpfe ein, so wenig sie auch einen
Zweifel über ihr Urteil läßt. Sie zitiert Beaumarchais' Ausspruch, die
französische Nationalversammlung habe die Konstitution aus seiner
Oper Tarare geschöpft (111). Ihr politisches Interesse in jenen
Jahren lag nach einer andern Seite hin.
Als der Briefwechsel begann, lebte Friedrich d. G. noch. Von
seiner letzten Tat, der Stiftung des Fürstenbundes, die Z. wohl zu
würdigen verstand (Fragm. I 308 flf.), ist keine Rede. Die Angelpunkte
des politischen Interesses bilden Polen, Türkei, Frankreich. Nur
episodisch Schweden. Die erste Teilung Polens lag, als der Brief-
wechsel begann, dreizehn Jahre zurück (1772); als er endete, spitzte
sich alles zur zweiten Teilung zu. Die polnische Konstitution vom
3. Mai 1791, von allen Seiten, namentlich auch Preußens, als die
Wiedergeburt des Landes begrüßt, wurde von Katharina nur ironisch
behandelt (140). Nach Jahresfrist hatten sich alle Gönner zurück-
gezogen, und Rußland hatte gewonnen Spiel. Den breitesten Raum
nehmen die Verwicklungen mit der Türkei ein. Gleich nach Beendi-
gung der Reise der Kaiserin nach Taurien erging die Kriegserklärung
der Pforte (55). Der Krieg brachte Rußland Erfolg auf Erfolg, zu
Wasser wie zu Lande. Z. feierte sie alle mit und nahm die Glück-
wünsche seiner Freunde für die russischen Siege entgegen (86). Die
Tedeums in Petersburg comme de raison au bruit des canons hören
nicht auf, einmal finden in einer Woche zwei statt (85. 107). Er
singt das Tedeum vor dem Porträt der Kaiserin (102), das sie ihm
verehrt hatte (29), geschmückt mit der Pelzmütze von Kamt-
schatka, die er sich nebst einem Pfund Thee aus Peking und Kafifee
aus Mocca einst von ihr erbeten hatte (62). Auch ohne daß ihr
1) Ischer S. 351.
992 Gott. pel. Anz. 19(>6. Nr. 12
Reich die mit diesen Erzeugnissen bezeichneten Grenzen erreicht
hatte, war ihm sein Wunsch erfüllt worden (68). Es ist nur gut,
daß die Knigge, Bahrdt und Konsorten nichts von dieser russischen
Pelzmütze erfuhren! Die Siegesberichte, die Z. empfing, berauschten
ihn förmlich. Er sieht die Kaiserin schon in Konstantinopel einziehen,
er begrüßt sie als Königin der von dem Türkenjoch befreiten Griechen
und nannte sie einmal >Ia sou veraine de cent nations et de tous les
hommes qui pensentc (19). Mochten die Wünsche aller, die ohne Vor-
urteil und leidenschaftslos nachdenken, wie Z. rühmt, auf ihrer Seite
sein (65); leider war, wie die Kaiserin fand, ihre Zahl nicht sehr
groß (67), und ihre Kollegen vermißte sie unter ihnen (143). Die
Grundsätze der Politik, die sie predigt, klingen sehr tugendhaft. Die
Wahrheit, die Offenheit ist ihr Leitstern. Ihre Gegner verlassen
sich auf die duplicity. Die krummen Wege halten sie für die sicher-
sten, Oel ins Feuer gießen und im Trüben fischen für das wichtigste
Mittel der Politik. Sie weiß sich zu verteidigen, und kommt es em-
mal zum Schlagen, so zieht sie es vor, Schläge auszuteilen anstatt
zu empfangen (55). Sie kann sich dabei auf ihr Volk und ihren
Staat verlassen. Furchtlos geht sie in den Krieg and zitiert den
Racineschen Vers : >je crains Dien, eher Abner, et n'ai point d'autre
crainte< (143). Ihr Volk ist opferwillig, kriegerisch (91); sie verfügt
über Feldherren voll Tüchtigkeit und Erfahrung (133), über die er-
forderlichen Geldmittel und ein Heer, das seit nahezu hundert Jahren
alle Feinde geschlagen hat (143).
Was bewog eine Frau von solchem Selbstbewußtsein und solch
geistiger Kraft zu einer Korrespondenz, bei der sie allein die Geberin
war? Der Empfang von Komplimenten und Exzentrizitäten, wie sie
Z.s Briefe boten, konnte ihr schwerlich Befriedigung gewähren, so
gern sie auch ihr Lob vernahm, zumal von einem Manne literarischen
Ansehens. Daß politische Zwecke dem brieflichen Verkehr nicht
fremd waren, ist oben (S. 978) gezeigt. Die Aufklärungszeit legte
aber auch, abgesehen von solch praktischem Nutzen, hohen Wert
auf literarische Verbindungen. Namentlich gefallen sich hochgestellte
Frauen in ästhetischen Genüssen der Art. Katharina unterhielt einen
ausgedehnten Briefwechsel mit Voltaire, mit d'Alembert, dem Baron
von Grimm. Sie sieht sich fleißig nach dem Wiederhall ihrer Taten
in den Zeitungen um, macht sich lustig über ihre beabsichtigten und
unbeabsichtigten Unwahrheiten (50). Ein obskurer Göttingischer
Zeitungsschreiber ruft ihre lebhafte Reklamation hervor (120). An
ihrem Korrespondenten Zimmermann übt sie eine Art poUtiscfaer Er-
ziehung. Sie gießt Wasser in seinen Wein und belehrt ihn fiber den
Grad des Erreichbaren in der Politik. Das Culbuter des türkischen
Briefwechsel zwischen Katharina II. und J. G. Zimmermann 998
Reichs und die Eroberung von Konstantinopel sind nicht so leichte
Dinge, wie sie sich der Schwärmer vorstellt (59. 63); sie weiß sich
zu beschränken (102). Ihre Tätigkeit bleibt nicht ohne Erfolg. Seine
Bächer über Friedrich d. 6. zeigen an verschiedenen Stellen die Ein-
wirkung der Briefe, die er von der Kaiserin empfangen hatte ^).
Ohne solche Absichten ließe es sich der Ernst gar nicht verstehen,
mit dem sie die Korrespondenz betreibt. Auf ihren fernen Reisen
(45), inmitten der aufregendsten und dringlichsten Geschäfte findet
sie die Zeit ihm zu schreiben, zu antworten, nimmt sie sich die
Mühe, die Siegesbulletins für ihn zu kopieren. Der berühmte deut-
sche Schriftsteller, dessen Bücher ihr Gefallen erregt hatten und zu
erregen fortfuhren — inmitten der Kriegsvorbereitungen liest sie
sein erstes Buch über Friedrich d. G. (74. 78) — war für sie ein
wertvoller Gesellschafter; er ist ihr ein Vertreter der deutschen
Literatur, wie er sich als deren Repräsentant rühmt, daß die deut-
schen Zeitungen nicht in den Chor der Angreifer und Verläumder
Rußlands und seiner Herrscherin einstimmen (60). Z. konnte das mit
voller Wahrheit tun. Grade in Deutschland fand Katharina die leb-
hafteste Bewunderung. Sie ist die Heldin des Zeitalters der Auf-
klärung. Eine so angesehene Zeitschrift wie das Deutsche Museum
veröffentlichte schon im Mai 1776 eine Charakteristik der Kaiserin
mit dem Beisatz: ein Gemäld ohne Schatten.
Die Korrespondenz endet mit dem Herbst 1791. Mais troves de
belle chose ^, il faut que j'aille m'habiller sind die letzten Worte,
die die Kaiserin an Z. schrieb (150). Er fuhr noch bis Ende Januar
des nächsten Jahres fort, Briefe an sie zu richten. Ob die zuneh-
menden Verwicklungen mit Polen oder andere Angelegenheiten die
Kaiserin hinderten, ob sie die Korrespondenz absichtlich einstellte?
In dem Nachlasse Z.s scheint sich keine Aeußerung über das Auf-
hören dieser ihn unendlich beglückenden Beziehung erhalten zu
haben.
Z. lebte noch bis zum 7. Oktober 1795; bis zur Mitte des J.
1794 noch bei leidlichen Kräften. 1792 und 1793 war er noch lite-
rarisch tätig.
Wir haben an der vorliegenden Ausgabe manche Mängel zu
rügen gehabt, sind aber doch dem Verfasser dankbar, daß er diesen
vielfach lehrreichen Briefwechsel, dessen vollständige Veröffentlichung
unsere zitierte Abhandlung gewünscht hatte, so bald der wissen-
schaftlichen Benutzung zugänglich gemacht hat. Der Dank trifit ihn
1) Fragm. I 231 ff., 271 ff.
2) Eine beliebte SchluBwendung der Kaiserin (184. 150) für: genug der
schönen Dinge (nicht Träume, wie S. XXIII übersetzt ist).
9IM Gott. gel. Anz. VSJß. N'r. 12
nicht mehr am Leben, aber die Anerkennung darf seinem Andenkea
nicht versagt werden, daß er mit anermädlicbem Fleiß bestrebt ge-
wesen, die großen handschriftlichen Schätze der seiner Ldtnag
unterstellten Sammlung der Wissenschaft zu erschließen, und dafi es
ihm gelungen ist, der deutschen Geschichte und der deutschen Lite-
ratur wichtige neue Quellen zuzuführen.
Göttingen, September 1906 F. Frensdorff
F Ka«ke, Begriff der Tragödie nach Aristoteles. 8*. 63 S. tieriia
1906.
Vf. Stellt die Ergebnisse seiner Untersuchung über die berühmte
Tragödiendefinition S. 56 in einer Übersetzung zusammen. cEs ist
also Tragödie die Nachahmung einer ernsten und abgeschlosseneo
Handlung von bestimmter Ausdehnung in wohllautender Sprache, deren
yerschiedene Eunstformen in den einzelnen Abschnitten jedesmal be-
sonders zur Anwendung kommen. Sie vollzieht sich in Form der
persönlichen Handlung und nicht vermittelst der Erzählung, unter
Erregung von Mitleid und Furcht, doch so, daß sie wieder eine Rei-
nigung von solchen Gemütserregungen bewirkt >
Die Ausführungen über den ersten Teil der Definition, bis sv
Toic fioptoic, sind im ganzen sehr zutreffend . Besonders gelungen ist
der Nachweis, daß die enge Verbindung von Mitleid und Furcht, wie
sie Lessing durchgeführt wissen wollte, nicht aufrecht zu erhalten ist.
Auch die Erklärung von 1453 a 4 fößoc xepl töv Zpjotov ist ganz richtig:
>fur den, der ebensowenig wie der ideale Zuschauer ein Verbrecher
ist und darum auch unsere Teilnahme verdiente ; es hätte hinzugefügt
werden können, daß der 8{totoc auch kein Tugendideal sein dürfe.
Zu eng ist die Auffassung, nach der der Held des Dramas ausschließ-
lich das Objekt der Furcht sein soll. Wenn der ^ßog einmal als
besonderer Affekt vom Mitleid abgetrennt ist, so kann er auch durch
Dinge hervorgerufen werden, die sich nicht unmittelbar auf den Hel-
den beziehen. Es ist eben die von Lessing verpönte Übersetzung
>Sclirecken< nicht so falsch, wie er hat glauben machen wollen.
Sehr nützlich ist S. 26 ff. die kurze Übersicht über die verschie-
denen Interpretationen der Katharsis. Von dem neuen Versuch des
Vf., das viel umstrittene Wort zu erklären, müssen wir einläßlicher
sprechen.
Knoke, Begrifl" der Tragödie nach Aristoteles 995
Vf. betont S. 27 von vornherein, daß die Tragödie wie alle
Kunst ihrem Wesen nach keinen moralischen Zweck verfolgen könne,
und daß es namentlich Aristoteles fem gelegen habe, wenigstens in
der von ihm gegebenen Definition, eine solche Aufgabe dem tragischen
Dichter zuzuweisen. Ebenso S. 56: >die Kunst kann immer nur
Selbstzweck sein<. Daß das die heute herrschende Meinung ist, soll
nicht bestritten werden. Aber es müßte zuerst nachgewiesen werden,
daß es auch die des Aristoteles sei, der sich dann zuerst von der
übereinstimmenden Auffassung des Altertums getrennt hätte. Denn
daß der Dichter der Lehrer seines Volkes sei, stand wenigstens dem
fünften Jahrhundert fest; und das Verdammungsurteil, das Piaton
über die Poesie fällt, ist doch nur damit begründet, daß sie ihrem
hohen Amt nicht gerecht zu werden vermöge.
Vf. sieht ein, daß von der > Wirkung nach außen < nur abgesehen
werden kann, wenn der Schlußsatz der Definition nicht zu ihren
integrierenden Bestandteilen gehört. Er stellt deshalb fest, daß >die
eigentliche Definition des Begriffes Tragödie mit dem Worte iv |iopiotc
bereits zu Ende ist, und daß die folgenden Sätze nur noch als eine
Erläuterung des vorher Erwähnten angesehen werden dürfen. < Die
Definition enthielte also eigentlich nur die Bezeichnung des StofiGs,
die Forderung der Abgeschlossenheit in sich und einer gewissen Aus-
dehnung, und die Angabe der sprachlichen und musikalischen Mittel.
Die »ernste Handlung < soll durch 8i' IXdoo xal ^rißoo, der bestimmte
Abschluß, teXeiac, durch den Schlußsatz der Definition erläutert werden.
Daß diese Erklärung mislich ist, lehrt schon die Wichtigkeit, die in
der ganzen Poetik den Begriffen IXsoc und ^ößoc beigelegt wird.
Noch viel mehr die Erwägung, daß eine solche Definition nach den
logischen Grundsätzen des Aristoteles gar keine wäre. Sie enthielte
wohl 8ovd|iei die Form der Tragödie, nicht aber ivspifetof, und so fehlte
durchaus das SvExa rcovSi, die Angabe des Zweckes, aus der erst das
Wesen einer Sache hervorgeht. Es darf also, im Gegensatz zum
Vf., nicht bestritten werden, daß zum allermindesten die Worte
Tcepaivoooa rijv xm toiootcDv Tcadr^jidrcov xddapaiv der Hauptsatz der
Definition sind.
Wenn dies so ist, so kann SC iXdoo xal ^ ößoo von Tcspaivooaa tX.
nicht getrennt werden. Der Vf. bestreitet allerdings, daß dadurch
das Mittel angegeben werden könne, die gleichen Affekte > auszu-
treiben«. Aber er sagt doch S. 55 selbst: >Nur die Mittel, durch
welche die Tragödie wirkt, wollte Aristoteles bezeichnen, und die
sind, abgesehen von denen, die aus dem Stoff und der Form der
Darstellung sich ergeben, Mitleid und Furcht, die indessen bei einem
996 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
richtig angelegten Kunstwerk wieder zur Auflösung gelangen.« Also
>MitteI« sind es doch, trotzdem das vorher bestritten wurde; nur
nicht Kittel der Katharsis. Aber wie in aller Welt können >MitteI<
zur Auflösung gelangen? Damit gibt doch der Vf. unumwunden
zu, dafi es nicht bloße Mittel der Darstellung sind, sondern sich in
ihnen eben der Zweck der Tragödie ausspricht. Ob wir nun über-
setzen > unter Erregung von Mitleid und Furcht« oder »durch Mitleid
und Furcht<, ist irrelevant; genug, daß auch nach dem Vf. diese
iradi^|iata zum Schluß der Katharsis unterworfen werden müssen. Die
Sonderung ist also von ihm selbst begrifflich wieder aufgehoben.
Der Vf. hat zu der Stelle der Politik, wo die Katharsis zum
erstenmal auftritt, Polit. VUI 5, die Bemerkung gemacht, Mitleid und
Furcht sowie der Enthusiasmus seien Erzeugnisse der künstlerischen
Darstellung. Das hat imgrunde niemand bezweifelt, und ebensowenig,
daß diese Tcadi^itata innerhalb des Kunstwerkes wieder der Katharsis
unterliegen. Aber es bleibt dabei unverständlich, und danach hat
der Vf. auch nicht gefragt, warum denn überhaupt in diesen Erregungen
wieder eine » Reinigung < oder wie man die Katharsis fassen will, ein-
treten müsse. Man sollte denken, wenn sie die Mittel zur Darstellung
der ernsten Handlung sind, so würde es doch genügen, sie hervor-
gerufen zu haben. Es wird nun mehrfach betont, daß durch den
Schluß des Dramas der Mensch wieder in den normalen Zustand des
Gemütes versetzt werden soll. Der Vf. findet diesen Vorgang in dem
»Triumph der guten Sache, der die durch Mitleid und Furcht erregte
unlustvolle Seelenstimmung, diese Mißklänge der Tragödie, in har-
monische Töne auflöst.« S. 76. Damit tritt aber die Erörterung ans
dem Kreise des rein Künstlerischen heraus, und der Vf. gibt auch
selbst zu, daß es für den künstlerischen Wert nach Aristoteles auch
»auf die Befriedigung des sittlichen Gefühls < ankomme S. 73; nur
daß Aristoteles dies nicht »als Zweck der Tragödie, aber doch als
eine notwendige Bedingung hinstelle <.
Wenn man es nicht schon längst wüßte, könnte die vorliegende
Schrift beweisen, daß es unmöglich ist, in dieser Sache den Aristoteles
aus sich selbst zu erklären. Man kommt nicht weiter als zu Wahr-
scheinlichkeiten und Mutmaßungen, die auch durch gewagte Heran-
ziehung dichterischer Werke keine größere Überzeugungskraft ge-
winnen. Denn in erster Linie handelt es sich darum zu wissen, was
Aristoteles hat sagen wollen, und das ist aus seinen Worten nun
einmal nicht auszumachen. Das hat schon Bernays gesehen und sich
deshalb an die Neuplatoniker gewendet. Ref. hat im Anschluß an
Beiger und Wilamowitz einen andern Weg eingeschlagen und ist zn
Knoke, Begriff der Tragödie nach Aristoteles 997
folgenden Resultaten gekommen (Piaton und die aristotelische Poetik,
Leipzig 1900), die hier nur ganz kurz skizziert werden können.
Piaton hatte die Poesie, Homer wie die Tragödie, angegri£fen,
weil sie ihrer hohen Aufgabe, Wegweiserin der Menschen zum Schönen
und Guten zu sein, nicht gerecht werde noch werden könne. Sie
wende sich vielmehr an den vernunftlosen Seelenteil, der immer zur
Wiedererinnerung und zum Klagen geneigt sei. Sie bewirke durch
Erregung von Mitleid, Sinnenlust, Zorn, Furcht und allen Begierden
eine mit Lust verbundene Befriedigung dieser krankhaften Seelen-
zustände. Dem Verdammungsurteil Piatons über die Poesie tritt
Aristoteles in seiner Definition entgegen. Von den Affekten, die
Piaton nennt, wählt er nur Mitleid und Furcht, gibt zu, daß es die
wesentlichsten Mittel der Tragödie seien, behauptet aber, daß die
Tragödie durch sie selbst die Katharsis dieser Seelenleiden her-
vorrufe.
Was an unserer Stelle Katharsis sei, lernen wir wieder nur aus
Piaton. Dieser hat im Timaios mit dem Worte die Heilung der
körperlichen Krankheitszustände bezeichnet, die auf unrichtiger Ver-
teilung der Elemente beruhen, also jede Art heilsamer Einwirkung
auf den Körper. Sie bezweckt die Wiederherstellung der inneren
Ordnung. Unter ihren Arten interessiert uns wesentlich die durch
eine von außen kommende Bewegung und Erschütterung. Diese Heil-
methode sehen wir in den Gesetzen auf seelische Zustände übertragen,
und zwar zur Heilung von Furchtempfindungen. Auf solche wird die
Schlaflosigkeit der kleinen Kinder, sowie die orgiastische Verzückung
zurückgeführt. Bei dieser, der Tanzwut, hat die von außen zuge-
führte Erschütterung homöopathischen Charakter, indem die krank-
haften Zustände durch Tanz und Flötenspiel besänftigt werden. Diese
Ausführungen nahm Aristoteles um so lieber auf, als sie seiner An-
schauung vom richtigen Seelenzustand entsprachen. Alle wesentlichen
Teile seiner Definition fand er bei Piaton vor. Er dehnte die homöo-
pathische Wirkung auf das Mitleid aus, übertrug die Heilung be-
stimmter Furchtempfindungen auf die Furcht überhaupt und schloß
alle anderen Affekte von der Tragödie aus. So rettete er mit Piatons
Waffen die Poesie vor Piatons Verdammungsurteil. Er gab zu, daß
die Erregung von Mitleid und Furcht die krankhaft angeregten Seiten
der Seele besonders afSzieren, fand aber gerade darin deren Heilung ^).
1) Bei der Uebersetzung von xdi^apoic hätte ich es bei dem Ausdruck »Hei-
lunge bewenden lassen soUen. Ebenso ist Polit. yiII5 an dem Ausdruck woncp
2aTpc{ac Tu^övrac xal xaOtipocuic nichts zu ändern, da die Tautologie lediglich aus
dem nicht selten etwas leichtfertigen Stil des Aristoteles zu erklären ist.
998 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Hatte Piaton die durch die Poesie erweckte i^Sovm) als etwas Verwerf-
liches bezeichnet, so erblickte nun Aristoteles in dem durch die Heilung
hervorgerufenen Gefühl eine erstrebenswerte Lustempfindung.
Zum Schluß untersucht der Vf. die Frage, ob Aristoteles von
der tragischen Schuld spreche, und bejaht sie durch den Hinweis auf
das Bild, das er vom tragischen Helden entwirft. Darin hat er jeden-
falls Recht. Aber der Versuch, diese tragische Schuld in den Dramen
des Aischylos und besonders des Sophokles nachzuweisen, ist ihm
nicht gelungen, damit auch nicht der Nachweis, daß in dem Sieg der
gerechten Sache diese Dichter die Katharsis durchgeführt hätten.
Für die lebendige Dichtung ist die aristotelische Theorie viel zu eng,
und der Philosoph hat auch gar nicht von jeder Tragödie den Sturz
des fehlenden Helden gefordert. Er sagt nur, daß die Stücke den
Namen des Tragischen am meisten verdienen, die seinen Anforderungen
am meisten entsprächen. Das ist weder bei Antigone noch bei Oidipos
der Fall, und der Vf. sucht ihnen vergeblich eine Schuld nachzuweisen.
In der Elektra sucht man umsonst nach einer Sühne für die voraus-
zusetzende Schuld, von Philoktetes zu schweigen. Hier wäre überall
im Gegenteil der Nachweis geboten, daß die falschen modernen Schul-
begriffe durch die aristotelische Poetik wo nicht verursacht, so doch
veranlaßt worden sind. Erst durch Aristoteles ist der Begriff des
Trauerspiels in die Welt gekommen, von dem die attischen Dichter
gar keine Ahnung hatten. Auf ihn geht die Forderung der poetischen
Gerechtigkeit wie die Erfindung der tragischen Schuld zurück, die
man womöglich von der sittlichen unterscheidet. Zum Verständnis
der alten oder modernen Tragödie tragen die Versuche, sie mit der
aristotelischen Poetik in Einklang zu bringen, nicht das geringste
bei. Man wird sich gewöhnen müssen, die letztere als das anzusehen,
was sie ist: ein wichtiges Monument aus der ästhetischen Ent-
wicklung des Altertums, aber nie und nimmer als ein Gesetzbuch
der Poesie.
Bern Georg Finsler
H« Breymann, Calderon-Studien. I. Teü: Die Galderon-Literator,
eine bibliographisch-kritische Uebersicht. München u. Beriin. R. Oldenboorj^
1906. Xn + 314 S. gr. 8.
Nicht ohne Scheu wage ich mich an die Besprechung dieses
Buchs, nachdem A. L. Stiefel, der sich durch zahlreiche kleinere
Arbeiten als einen gut ausgerüsteten Kenner der spanischen Theater-
geschichte und ihrer bibliographischen Geheimnisse ausgewiesen hat,
H. Breymann, Calderonstudien. I 999
sein verdammendes Urteil darüber gesprochen: >Man kann das Buch
nur mit Vorsicht gebrauchen ... Es fehlen dem Werk die richtige
Methode, die unerläßliche peinliche Sorgfalt, der kritische Blick, die
erschöpfende Sachkenntnis, mit einem Worte die Haupteigenschaften
einer zuverlässigen Bibliographie. < Solch ein wuchtiges Verdikt ist
wohl geeignet, auch den kouragiertesten Rezensenten stutzig zu
machen; man wird es daher gestatten, daß ich mir zunächst die
> Urteilsbegründung« näher ansehe, welche in der Zs. f. roman.
Philol. (XXX, 325— 54) über 19 Seiten, im Literaturblatt f. germ. u.
roman. Philol. (XVII, 150—56) volle 6 Spalten füllt.
Schon gegen Form und Inhalt des Buchs (sie) findet St.
einiges zu erinnern (Zs. 235 f. Lb. 151). Die Abschnitte und ihre
Unterabteilungen sind nänilich so bezeichnet, daß >wer z. B. die da-
tierten Sammlungen der Gomedias Calderons braucht, sie unter 2, 2,
I, B, 2, a zu suchen hat.< Das ist ein Scherz; denn auch ein Laie
wird das Gesuchte ohne jede Schwierigkeit — nach Ausweis der
Inhaltsübersicht p. VII — auf S. 27—35 finden, und niemand wird
es einfallen, sich des obigen Sigels zu bedienen; für solche Lappalie
wird aber eine ganze Druckseite der Zeitschr. in Anspruch ge-
nommen !
Alsdann beanstandet St. zahlreiche Nummern und ganze Ab-
schnitte der Bibliographie als überflüssig (Zs. 236 f. Lb. L51f.). Das
ist Geschmacksache. M. E. wird gewiß mancher Leser dem Verf.
für die bio-bibliographischen Angaben über die Calderon-Uebersetzer
Dank wissen, während eiligere Sucher bei der geschickten typogra-
phischen Anordnung über diese Einschiebsel glatt hinweggleiten
werden. Was aber die besonders schlimm weggekommenen letzten
Abteilungen des 7. Abschnitts betrifll, so sind die hier zusammen-
gestellten >Ergänzungsschriften< so sichtlich ein Parergon zur eigent-
lichen Galderon-Bibliograpbie, daß sie niemanden auf falsche Fährte
führen können. Und sollte auch einmal ein >junger Studierender«
irrtümlich zu Amador de los Rios greifen, nicht wissend, daß dessen
spanische Literaturgeschichte mit Beginn der Neuzeit abbricht, und
ungeachtet, daß nur der Titel des Werks ohne speziellen Hinweis
auf Band- und Seitenzahl angegeben ist, — so kann ihm der Miß-
griff nur frommen und zu seiner allgemeinen Bildung beitragen. Ein
billig denkender Beurteiler wird indessen erwägen, daß der in Rede
stehende erste Teil der Galderon-Studien nicht ausschließlich eine
Calderon-Biblographie ist, sondern daß er zugleich über die für den
zweiten Band, Calderons Leben und Werke, der ein einleitendes
Kapitel über Land und Leute, Literatur und Kunst enthalten soll, zu
1000 Gott. geL Adz. 19<l6. Nr. 12
Rate gezogenen Quellen als Ausweis zu dienen hat Jedenfalls können
diese Parerga dort, wo sie stehen, keinen Menschen stören noch irre-
leiten.
Der nächste Vorwurf, daß viele Werke nicht richtig eingereiht
sind (Zs. 238 f.), ist sachlich ungenügend begründet. Im ersten Ab-
schnitt, Bibliographie, hätte man allerdings Resten {La eollez.
PaUU.'Farmensii) anfuhren dürfen, da der 2. Abschnitt gar oft darauf
Bezug nimmt. Jedoch gehört weder Gödecke, Grundr. z. Gesch. d.
deutsch. Dichtung, noch Schneider, Spame%ts Anteil an der deutsch.
Lit., hierher, weil hier nicht »Bibliographien überhaupt«, sondern die
Vorläufer und Ansätze zu einer Calderon-Bibliographie Terzeichnet
werden sollen. Wie die Ausgaben von Schütz, Comte, Krefiner müßte
folgerichtig auch die von Hartzenbusch als ein Teil der Bibl. de aut
esp. von denen ausgeschlossen werden, die nur Galderons Werke, und
zu denen gestellt werden, die auch Stücke anderer enthalten: was
absurd wäre. Das Verlangen, daß die fremdsprachlichen Ueber-
setzungen nicht nach der alphabetischen Ordnung der Länder, son-
dern nach dem Intensitätsgrade der Calderon-Nachahmung anzuordnen
seien, ist arbiträr und widerspricht dem Zweck der Bibliographie,
die nicht verborgene Zusammenhänge darlegen, sondern vor allem
ein bequemes und übersichtliches Repertorium sein soll. Bei größerer
Achtsamkeit hätte St. ferner gemerkt, daß Abschn. 7, 1 (Schriften
über Galderons Leben und Werke im allgemeinen) nicht die Schriften
meint, die eigeus und allein Galderon gewidmet sind, »sondern die
Schriften (resp. Kapitel oder Seiten von Schriften), die über >Cal-
deron im allgemeinen < reden, im Gegensatz zu denen, »die nur ein-
zelne Werke desselben behandeln« (Abschn. 7,11). Gewiß läßt sich
über die Einreibung einzelner Werke streiten; das von St. vorge-
brachte ist aber belanglos oder unhaltbar, weil er sich nicht die
Mühe genommen, die Intentionen des Verf. zu begreifen.
Schwerlich wird jemand erwartet haben, daß eine umfängliche
bibliographische Zusammenstellung wie diese gleich auf den ersten
Wurf fehlerlos ausfalle. Es versteht sich daher, daß St. eine Reihe
von Lücken nachweisen konnte (Zs. 239—45. Lb. 152 f.), umsomehr,
als er eine seit 1891 druckfertige Arbeit über die Gesamtausgaben
Galderons und die Sammlungen spanischer Gomedias, in welchen
Stücke Galderons vorkomn^n, im Ms. liegen hat. Von seinen
ergänzenden Beiträgen (s. auch Zs. 251 Z. 14) nehmen wir gerne
Notiz.
Gerügt wird ferner als ein Mangel, daß gewisse Werke nidit
in ihrer ersten, sondern in späteren Ausgaben angeführt werden (Zs.
H. Breymann, Calderonstudien. I 1001
245 f. Lb. 153 f.). Soweit es sich um jene von St. selbst als über-
flüssig beanstandete Parerga handelt wie Moratins Origenes, Ricardo
de Turias ApologeticOy Sebastian y Lastres Ensayo, die keine direkte
Beziehung zu Calderon haben, so sehe ich wirklich nicht ein, in
wiefern ein Hinweis auf irgend einen bequem erreichbaren Druck
nicht genügen sollte; ebenso wenig ist mir erfindlich, welchen Wert
hier die Anführung der für Calderon absolut gleichgiltigen Erstaus-
gabe der zwei ersten Bände der HisL du theatre frang. der Brüder
Parfaict haben soll. Es geht aber nicht an, eine absichtliche und
zweckmäßige Beschränkung zur Unwissenheit zu stempeln. Wichtiger
und zur Sache gehörig sind natürlich genaue Angaben über die erste
Aufifuhrung und Drucklegung der ausländischen Calderon - Nach-
ahmungen von Th. Corneille, Scarron, usw.; können wir aber dem
Calderon-Bibliographen zur Pflicht machen, daß er in diesem Punkte
den Spezialuntersuchungen vorgreife? So bleibt denn von St.s Sünden-
register (mehr als eine Seite der Zschft.) am Ende nur H. Lucas,
Eist. phü. ä litt du theatre frang,, dessen erste Ausgabe wegen
ihres Datums (1843, das Erscheinungsjahr von Puibusque) genannt
zu werden verdiente; praktisch hatte ihre Anfuhrung sonst keinen
Wert.
Eine weitere Seite widmet St. den Werken, die der Verf. als
unerreichbar bezeichnete (Zs. 246. Lb. 153), und triumphierend weist
er auf das Vorhandensein von mehreren in der Münchener Hof- und
Staatsbibliothek hin; wichtig ist von diesen insgesamt nur Whitneys
Katalog der Ticknorschen Bibliothek. Des Rätsels Lösung liegt viel-
leicht nicht weit ab. Augenscheinlich ist das eine von den erwähnten
Werken, Lord Hollands Life of L. de Vega, das der Verf. auf deut-
schen Bibliotheken vergeblich gesucht hatte, erst nachträglich aus
Schacks Nachlaß (f 1894) in den Besitz der Münchener Bibliothek
übergegangen (und wann? und auf welchem Umweg vielleicht?);
wird man nicht fragen müssen, ob nicht etwa die anderen auch erst
jüngst erworben sind, nachdem der Verf. die Hoffnung, sie je zu
sehen, schon längst aufgegeben hatte?
Auch die Beschreibung der älteren Calderon- Ausgaben gibt St.
manchen Anlaß zu Aussetzungen (Zs. 247—9. 251 Z. 14 ff. 252 unten.
Lb. 154 f.); und es läßt sich nicht leugnen, daß dies der besserungs-
bedürftigste Teil der vorliegenden Bibliographie ist. Wozu mußten
aber die berechtigten Bemerkungen durch die ungerechte Unter-
stellung wieder wett gemacht werden, als habe der Verf. die Iden-
tität der S. 40 erwähnten Neuauflage des 2. Bandes und der Ausgabe
von Vera Tassis nicht geahnt, wo er sich doch sowohl S. 40 in der
von St. (Zs. 248 oben) abgedruckten Schlußbemerkung als S. 42 (ad
G«tt g«I. Aas. 1906. Nr. 18 70
1002 Gott. gel. Anz. 1906. Nr. 12
1682) auf das gleiche Madrider Exemplar (B. N.T. 11544) beruft?
allerdings hat St. den Hinweis auf dieses in der von ihm abge-
druckten Schlußbemerkung unterdrückt. Wozu diese persönliche
Animosität in der Polemik, die nur den Sachverhalt verwirrt?
Zum Schluß führt endlich St. unter verschiedenen Titeln noch
25 bis 30 Fehler und Ungenauigkeiten, z. T. recht geringfügiger
Natur an, z. B. Friederichs für Friderichs, Velasquez-Dieze hat zu
den 14 u. 155 S. noch drei ungezählte am Ende, bei mehrbändigen
Werken ist öfters nur die Jahreszahl des allein in Betracht kommen-
den Bandes angegeben, u. dgl. Mißlich sind Schnitzer wie die Bois-
robert beigelegte Bezeichnung d'Ouville. Wenn aber der Verf. in
übertriebener Peinlichkeit eine Angabe aus spanischer Quelle, die er
nicht kontrollieren konnte, wortgetreu übernimmt: Duvert y Lauzanne,
Renaudin de Caen, so ist es doch kindisch, ihm unterzuschieben,
er habe die beiden französ. Vandevillisten für einen doppelnamigen
Spanler gehalten.
Nach all dem kann ich die Kritik, wie sie Stiefel an Breymanns
Calderon-Bibliographie geübt hat, weder als sachlich noch als ernst
anerkennen. Daß das Werk manche Nachträge und Verbesserungen
erheischt, ist gewiß und fühlte der Verf. selber, als er in der Vor-
rede sagte: »Je mehr ich mich in meine Aufgabe vertiefte, desto
klarer trat mir die Schwierigkeit vor Augen, auf allen Gebieten und
in allen Teilen gleichmäßig orientiert zu sein ... So kann ich mich
denn auch der wehmütigen Befürchtung nicht erwehren, daß trotz
ernsten und heißen Strebens nach abschließender VoIlstfLndigkeit doch
manches übersehen oder irrtümlich beurteilt worden ist; auch blieb
ja manches Werk unzugänglich. Aber freundliche Nachsicht, so hoffe
ich, wird mir wohl von jedem zugebilligt werden, der aus eigener
Erfahrung den oft dornenvollen Pfad bibliographischer Untersuchungen
kennt.« — Diese freundliche Nachsicht hat der Verf. für sein reich-
haltiges, sorgsames und handliches Sammelwerk verdient, das be-
sonders in dem persönlichsten, dem kritisch referierenden Teil recht
wertvoll ist und bleiben wird. Ich will versuchen unter Wahrung
derselben mit den mir zu Gebote stehenden Hülfsmitteln auch mein
Scherflein zur Ergänzung beizutragen.
Der bessernden Hand bedarf vor allem das Kapitel von den
Calderon-Ausgaben. I<ch gehe nur auf die Comedias ein, deren Drucke
ich folgendermaßen anordnen würde : a) Gesamtausgaben su Calderons
Lebzeiten, b) vermischte Ausgaben mit Stücken auch von anderen
Dichtem, c) Vera Tassis mit den ScheinansgaiMii, d) Nachdruck von
6. de la Plaza, e) Apontes, f) Sammelbän(te von Sueltas, g) Sueltas
überhaupt, h) neuere Ausgaben von Oarcia de la BiMrte bis heute.
H. Breymann, Calderonstudien. I 1003
— Zu Calderons Lebzeiten erschienen die Prim er a und Segunda
parte von seinem Bruder Joseph besorgt, 1636 u. 1637, dazu ein
Nachdruck von 1640 u. 1641; femer die Tercera p. von Ventura
de Vergara Salcedo 1664, die Quarta p. 1672/3 mit einem Nach-
druck von 1674, und die von Galderon selber verleugnete Quinta
p. 1677. Hier ergibt sich chronolog. Anordnung von selbst. Hieran
schließt sich die Publikation einzelner Stücke in den Comedias de
varios autores XXV— XLUI (1632-50), in El mejor de los
mejores libros (1651 u. 53) und in den Comedias escogidas
I — XLVI (1652—79), mit zwei Lissabonner Sammlungen (1652 u.
53), einem Wiener Druck (1668) und von späteren zwei Valencianer
(1688 u. 89), eine Kölner (1697) und eine Amsterdamer Sammlung
(1726) als Beiwerk.
Von der Ausgabe, die nach dem Tode des Dichters sein Freund
Juan de Vera Tassis y Villaroel veranstaltete, gilt das, was
s.Z. F. Wolf im Suppl. zu Ticknor-Julius p. 115 f. gesagt, noch
immer mit einer wichtigen Modifikation. Er begann nämlich die
Publikation mit der Verdadera quinta parte 1682, ließ dann
die Sexta 1683, die Septima (?) und Octava 1684 folgen, um
erst jetzt die Primera 1685, Segunda 1686, Tercera 1687 und
Quarta 1688 neu aufzulegen und 1691 noch eine No vena parte
zu geben; von der Verd. quinta p. erschien dann 1694 noch ein
Neudruck. Zur Herstellung vollständiger Sammlungen der neun Teile
veranstalteten aber gewinnsüchtige Buchhändler Scheinausgaben
einzelner Bände, indem sie die betreffenden Stücke in den gerade
vorhandenen Einzeldrucken (sueltas) mit einem speziell für den Zweck
gedruckten Titelblatt (nebst Auswahl aus den Preliminares) ver-
einigten. So findet sich selten ein vollständiges echtes Exemplar zu-
sammen. Die Wiener Hofbibliothek besitzt zwei Exemplare dieser
Ausgabe; das eine (*38R19) enthält 11685, II1686, III 1687, IV
1688, VM694, VIi7i5, \IL1715, VIH 1684, 1X1691; das zweite
(BE. 7. M. 3) hat Bd. I 1685 und V^ 1694 echt, die übrigen in Schein-
ausgaben; außerdem ist ein Exemplar des Nachdrucks von 1726
(I-m.u. VIH), resp. 1698 (IX) vorhanden mit Bd. IV— VU in
Scheinausgaben. Diese Scheinausgaben sind datiert *II 1683, *III 1687,
♦IV 1688, *V 1694, *VI 1683, *VII 1683, *Vm 1684, *IX 1691. Die
Titel bleiben die gleichen, die verwendeten Einzeldrucke sind in den
einzelnen Exemplaren verschieden; die unpag. Approbation von fr.
M. de Guerra ist in dem einen Exemplar richtig dem 6., im ajQderen
irrtümlich dem 5. vorgebunden. Ein echtes Exemplar der Septima
parte von Vera Tassis scheint nicht nachgewiesen (?). Genauere Be-
70*
1004 Oött. gel. Anz. 1906. Nr. 12
Schreibung der Londoner und Pariser Exemplare dieser Ausgaben
fehlen und wären erwünscht.
Sammelbände von Sueltas verzeichnet Br. S. 35 — 39 und
47 (ad 1763—83 u. 1763—85). Auf der Wiener Hofbibliothek sind
drei solcher Sammlungen vorhanden: 1) Comedias de varies
autores 9 Bde (*38V4), darin von Calderon: Bd. I. Ensetiarse ä
ser buen rey, Ponte de Mantible unter L. de Vegas Namen; Bd. VII.
El page de Don Alvaro, El pintor de su dishonra^ Gada uno can su
igual; Bd. VIII. Zehs no of enden al sol, El conde Lucanor, Los iriuff^
fos de Joseph] Bd. IX. El mejor amigo el muerto de 3 ing., Para
vencer ä amor querer vencerle, alle s. 1. e. a. — 2) Comedias
sueltas antiguas 12 Bde (i'38V26): Bd. I. El mejor amigo d
muerto de 3 ing. Salam. N. 47. Bd. II [El principe de los mantes,
Salam. N. 39]; Bd. IV. La mejor luna africana de 3 ing., Valenc.
1764. N. 76, El monstruo de la fartuna de 3 ing. s. 1. e. a. N. 14;
Bd. XI. Enfermar con el repnedio, Vallad. s. a. — 3) Coleccion de
comedias antiguas 18Bde (i'38Tl2): Bd. I. La mejor luna afri-
cana de 3 ing., Valenc. 1764. N. 76, Quien calla otarga s. 1. e. a.;
Bd. V. El pastor fido de 3 ing., Madr. 1751. N. 100, El escandalo
de Orecia, Bare. 1758; Bd. VII. El mejor amigo el muerto de 3 ing.,
Valenc. 1777. N. 222, El mmistruo de la fartuna de 3 ing., Valenc.
1765. N. 14, Las armas de la hermasura^ Salam. s. a. N. 38; Bd.
VIII. Numa lo peor es cierto, s. 1. e. a. N. 117, Luis Perez d Gallego,
s. 1. e. a., Bd. XL Amor Iwnor y pader (hered. de Gabr. de Leon,
k la puerta del sol.). N. 288. -- Die hiesige Universitätsbibliothek
besitzt gleichfalls eine Sammlung von Sueltas: Comedias de va-
ries autores 3 Bde (1195789), darin von Calderon: Bd. I. Ä se-
crelo agravio secreta venganga^ El Purgatario de S. PcUriciOj El pintor
de SU deshonra, La barbara de los monies, s. 1. e. a.; Bd. IL Las
manos blancas no ofcnden, 55 S., Mejor estä que estava, N. 125, La
hija del ayre, N. 262; Bd. III. La dama duende, Madr. 1729, N. 48,
La vida es sueüo, Madr. 1730, N. 78, Las manos blancas no ofenden
Madr. 1731. N. 82. Las tres justicias en una, s. 1. e. a. N. 99.
Die meiste Not dürfte die Ergänzung des Abschnitts von den
Sueltas bereiten. Hier wären m. E. alle Titel von Sueltas, datierten
und undatierten, in alphabetischer Anordnung zu vereinigen, aach
die der Sammelbände und der Scheinausgaben. Eine ergiebige Quelle
fur Nachträge erschließt der gedruckte Katalog der Printed Works
des British Museum und der 1905 erschienene Bd. 22 des Katalogs
der Drucke, die im Besitze der Pariser Nationalbibliothek sich be-
finden; im ersteren ist auch der Versuch gemacht, die ondatierten
Sueltas zeitlich zu bestimmen. FreiUch wird man hier die Frage auf-
U. BreymanD, Calderonstudien. I 10U5
werfen, ob der Bibliograph auch gedruckte Quellen benutzen darf,
oder nur de visu beschreiben soll. — Unter den fremdländischen
Uebersetzungen bleiben ebenfalls noch Lücken auszufüllen; dafür
mögen aber die einzelnen Nationen und Nationalitäten sorgen.
Ich schließe mit dem Wunsch, Br.s mühevolle Arbeit möge recht
bald in erweiterter und verbesserter Ausgabe mit neuem Glanz er-
scheinen und uns noch lange gute Dienste erweisen.
Wien Ph. Aug. Becker
HenoanB Abert, Die Musikanschauang des Mittelalters und ihre
Grundlagen. Halle (Niemeyer) 1905. 273 S. 8. 8 M.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen altgriechischer und
frühchristlicher Musik ist von jeher ein Problem gewesen. Einerseits
pflanzen die Theoretiker das alte System unverändert fort, als ob die
alte Musik, der es entstammt, und die ihrer Zeitgenossen ein und
dieselbe sei, und es wird kein Einschnitt merkbar, der den lieber-
gang vom Altertum zum Mittelalter bezeichnen könnte; andrerseits
erscheint die christliche Musik von dem Zeitpunkt an, wo sie uns
lebendig erklingt, als ein völlig Neues gegenüber der antiken. Seit
sich die Forschung mit erhöhtem Interesse der Periode, in der sich
das Christentum mit dem Griechentum auseinandersetzte, zugewendet
hat, verlangte auch der Kampf um das Musikideal, der nicht der ge-
ringste ist, der in der Zeit die Geister bewegte, eine erneute Be-
leuchtung. In Fluß gebracht war die Frage durch die Funde grie-
chischer Melodien in den 90 er Jahren, und besonders Gevaert und
Möhler sind ihr auf wesentlich musikalischem Wege, durch Ver-
gleichung des spärlichen Materials an antiken und altchristlichen
Singweisen, nahe getreten. Gevaert war durch diese Untersuchungen
dahin geführt worden, einen sehr engen, direkten Zusammenhang der
römisch-christlichen und der altgriecbischen Musik anzunehmen. Von
einem weiteren Gesichtspunkt aus behandelt Abert, bekannt durch
eingehende Untersuchung der antiken Lehre vom musikalischen Ethos,
das in Rede stehende Problem. Er läßt die spärlichen Denkmäler
der Musik beiseite und faßt dafür das reiche Material ethischen und
ästhetischen Charakters ins Auge, das in der Schriftstellerei des aus-
gehenden Altertums und der beginnenden christlichen Kirche zerstreut
liegt. Er gelangt dadurch zu einem wesentlich anderen Resultat als
Gevaert.
Das erste Kapitel, das sich mit der musikalischen Aesthetik des
1006 G54t. gel. Adz. 1906. Nr. 12
auBgebond^D Altertums beschäftigt, zeigt uns in überraschender Weise,
w4e so vieles, was uns als Eigenart christlicher Musikanschamuig er-
scheint, bei Neupythagoreern und Neuplatonikem schon ^enso aus-
geprägt vorliegt. Den drei Systemen des ausgehenden Altertums,
dem neupythagoreischen, jttddsch-alezAndrinischen und iieupiatonischen,
ist das gemeinsam, daß sie die Musik wesentlich von einem theolo-
gisierenden Standpunkt aus betrachten. Die religiöse Ealiharsis, der
die Musik dient, ist ahnen die Hauptsache. Die Etboslehre derNeu-
pythagoreer trägt im Gegensatz zur antiken einen negativen, aske-
tischen Charakter. Die Kunst hängt ja zusammen mit der Sinnen-
welt, von der man sich loslösen wUl. Aber die Theorie der Musik
bei deren engem Zusammenhang mit der als göttUch angeschauten
Zahlen weit macht nach Nioomachus göttlicher Ofienbarung teilhaftig.
Ja Photin stellt die Musik dem Gebete gleich und« ordnet sie dem
Begriff der Magie unter. Porphyrins rechnet sie zu den theurgischen
Efinsten; die Gottheiten haben Beziehungen zu bestimmten Hängen
und werden durch sie herbeigerufen, und so beruht jdie Wirkung der
Musik auf dem Eingreifen, ttbernaiürl^rher Wesen. Immer ausschliefi-
licher erscheint bei diesen Philosophen die Musik als Dienerin des
religiösen Lebens. Damit hängt zusammen die Bekämpfung der zeit-
genössischen weltlichen sog. theatralischen Musik, die auf sinnliche
Effekte ausgeht. Ihr gegenüber wird betont, daß der Inhalt der Ge-
sänge das Wesentliche ist. Schon Philo, der sich viel mit Musik
beschäftigt, macht sie zur Magd der Philosophie, so wie sie im frühen
Mittelalter nur die Magd der Kirche sein sollte. In der Forderung
des 'non voce sed corde canere' ist Philo direkter Vorgänger der
Kirchenväter.
Den Kirchenvätern ist das zweite Capitel der Schrift gewidmet
Sie sind eine viel wichtigere Quelle für die praktische Moaik ihrer
Zeit als die Theoretiker. Wie stark die weltliche. Musik in der Phan-
tasie der Zeitgenossen wurzelte, das beweist die Häufigkeit, mit der
die Kanzelredner Theater, Circus und musikalische Instfumente zu
Gleichnissen benutzen. Daher die energische Polemik der Kirchen-
väter gegen diese Musik, wozu ihnen der schon asketisch gerichtete
Neuplatonismus das Werkzeug lieferte. Der Gegensatz zwischen
weltlicher und kirchlicher Musik bildet sich immer «chroffer aus ; die
weltliche Musik ist Tummelplatz der Dämonen, die kirchliche Boll-
werk und Waffe dagegen. Nun ist aber diese kirchliche Musik in
den ersten Jahrhunderten, entsprechend dem geringen Bildungsstand
der ersten Gemeinden, eine sehr kunstlose, die sog. Psalmodie, die
sich unisono fast nur in einem Tetrachord bewegt, rhythmisch sieh
dem 'Text anschließend und dessen Auswendiglernen erleichternd.
H. Abertf Die Musikanschauung des Mittelalters und ihre Grundlagen 1007
Dementsprechend treten die eigentlich musikalischen Kunstausdrücke,
die Tonarten, Tongeschlechter u. s. w. bei den Kirchenvätern ganz
zurück, da ja die Psahnodie für das alles keinen Raum bietet. Erst
später, als die abendländische Musik sich reicher entfaltet hat, tragen
die Theoretiker das antike System künstlich an sie heran. Aus
diesem Tatbestand folgert der Verfasser im Gegensatz zu Gevaert,
daß eine historische Continuität zwichen der antiken und der christ-
lichen Musik für das Abendland zu leugnen ist. Im griechischen
Osten blieb der lebendige Zusammenhang gewahrt, und von da aus
ergingen dann befruchtende Einwirkungen auf das lange Zeit von der
Psalmodie allein beherrschte Abendland.
Im dritten Kapitel, das sich mit den Theoretikern beschäftigt,
werden sorgfältig und ausführlich alle die spitzfindigen Distinctionen,
mystischen Spekulationen, zahlensymbolischen Spielereien dargelegt,
mit denen diese Schriften erfüllt sind; ein undankbares Gebiet, aus
dem für die Erkenntnis der Zeit wenig abfällt. Das vierte Kapitel
zeigt, wie mit der Hymnodie, die, von den Orthodoxen anfangs be-
kämpft, neben der Psalmodie in die abendländische Kirche einzog,
rein melodische Tonformen aus dem Orient übertragen wurden und
so ein indirekter Zusammenhang mit der antiken Musik zu stände
kam. Diese Gesänge enthielten auch volkstümliche Elemente, und
besonders in den Jubilationen — nach Fleischer Nachzügler instru-
mentaler Zwischenspiele — zeigt sich, wie der asketische Charakter
der kirchlichen Musik mehr und mehr verloren geht, seit aus der
ecclesia militans die ecclesia triumphans geworden ist. Kapitel V
(die empirische Aesthetik, Tonarten- und Melodiebildungslehre) läßt
uns noch einmal eindringlich die Selbständigkeit der mittelalterlichen
Musik empfinden, z. ß. in der Lehre von den differentiae d. s. be-
stimmte, für die Tonarten charakteristische Melodieformen, wovon
die antike Theorie nichts weiß, und vor allem in der bedeutsamen
Stellung der Durtonarten, denen schon das Tetrachord der Psalmodie
zugewiesen wird.
Das Hauptinteresse der sehr ausführlichen, bisweilen etwas breiten
und sich wiederholenden Darstellung liegt darin, daß wir deutlich
erkennen, wie die allgemeinen kultur- und religionsgeschichtlichen
Bewegungen jener interessanten üebergangszeit in dem Kampfe um
die Musik ihr getreues Spiegelbild finden.
Quedlinburg E. Graf
(Schluß des Jahrgangs 1906.)
n» 1^ 1907
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften
lea Jahrgang 1906
Nr. XII Dezember
Inhalt
Johannes JIoops, Waldbäumo und Kulturptianzcn im gerniaui-
sehen Altertum. Von lernst //. L. Krauae 1)21 — 1)52
All'red Ilackman, Die ältere Kisenzeit in Finnland. I. Von 7^
Hausmann 95^— JHJI
Heinridi von Kreiher^. llerausgejreben von Dr. Alois IJernt. Von
Eihrard Svhrödcr U61— 1»>8
I)er Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina II. von Uuüland
und Johann Georg Zimmermann. Herausgegeben von Dr. Kduard
li ode mann. Von F. Frenadarff %< -•.);)4
1'. Knoke, Begriti' der Tragödie nach Aristoteles. Von Oevrtj
Finder «)04— DOS
II. Breymann, Caldoron-Studien. I. Teil: Die ( alderon-Literatur.
Von Ph. Aug. Becker «JOS— UM)5
Hermann Abcrt, Die Musikanschauung des Mittelalters und ihre
Grundlagen. Von E. Graf 104)5— U)07
Berlin 1906
Weidmannsche Buchhandlung
SW. Zimmerstrafie 94
Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. ist verboten
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. E. Schwartz
Rezensionsexemplare, die für die Gott. gel. Anz. bestimmt sind,
wolle man entweder an Prof. Dr. E. Schwartz, Göttingen, Schild-
weg 38 oder an die Weidmannsche Buchhandlung, Berlin SW. 68,
Zimmerstr. 94 senden.
Der Jahrgang erscheint in 12 Heften von je 5 — 5^8 Bogen und
kostet 24 Mark. Einzelne Hefte werden zum Preise von 2.40 Mark
abgegeben.
Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin.
RÖMISCHE GESCHICHTE
VON'
THEODOR MOMMSEN.
I. Kami. I>is zur Scilla cht von Pvdna. Mit einer Militärkarte von Italien.
U). Aiill. liH)7. Geh. lU M.
II. Band. Von der Schlacht von Pydna his auf Sulla's Tod. 9. Aufl.
l'.io:*». Geh. 5. M.
111. Hand. Von Sulla's T o d c l» i s zur S c li 1 a c h t von T h a p s u s. Mit Inhalts-
verzeichnis zu Band 1 -111. *X Autl. 1004. (ieh. 8 M.
V. Band. Die Provinzen von Caesar bis Diocletian. 5. Auli. 19<U.
Mit U) Karten von 11. Kiepert. Geh. 9 M.
Kin vierter Band ist nicht ers<hii;nen.
GESAMMELTE SCHRIFTEN
VON
THEODOR MOMMSEN.
ERSTER HAND:
JURISTISCHE SCHRIFTEN
EBSTE?» B.\ND.
MIT MOMMSENS BILDNIS UND ZWEI TAFELN.
Lex. s". iVIIl u. IK) S.) 11)01. Geh. 12 M. Geb. in Halbfrzbd. ll,4<) M.
ZWEITER BAND:
JUKISTISCHE SCHRIFTEN
ZWEITKII BAND.
MIT ZWEI TAFELN.
Lex. 8". (Vni u. in«» S.) IfKhO. Geb. 12 M. Geb. in Halbfrzbd. 14,40 M.
DRITTER BAND:
JURISTISCHE SCHRIFTEN
DUITTEU BAND.
IM DRUCK.
VIERTER BAND:
HISTORISCHE SCHRIFTEN i
EUSTER BAND.
Lex. 8". (VIII u. 560 S.) 10«»G. Geh. 12 M. Geb. in Halbfrzbd. 14,40 M.
REDEN UND AUFSÄTZE
VON
THEODOR MOMMSEN.
Mit zwei IMIdnissen.
Z>\eitor, unveränderter Abdruck.
Gr. 8». (Vlir u. 470 S.) 1905. Geb. 8 M.
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Göttini^cn, I>ru(k der Iniv.-Buchdnn^kerci von W. Fr. Kaestner.
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Mit 10 Karte
GES
UNIVERSITY OF UICHIQAN
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3 9015 02760 8895
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