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Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

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Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


Unter  der  Aufsicht 


der 


Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 


168.  Jahrgang 


Erster  Band 


Berlin 

Weidmaniische  Buchhandlung 
1906 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Göttingen 


168.  Jahrgang  (1906) 


Yerzeichnis 

der 
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Die  Zahlen  Yerweisen  auf  die  Seiten 


H.  d'Arbois  de  Jubainviiie  in  Paris    524 

Paul  Barth  in  Leipzig    88 

A.  Baur  in  Weinsberg    706 

Ph.  Aug.  Becker  in  Wien    998 

U.  Ph.  Boissevain  in  Groningen    371 

Ludwig  Borchardt  in  Cairo    552 

Karl  Borinski  in  München    334 

C.  Brockelmann  in  Königsberg    589    828    830 

Alexander  Cartellieri  in  Jena    250 
P.  Gorssen  in  Wilmersdorf  bei  Berlin    787 
Wilhelm  Crönert  in  Göttingen    382 

Paul  Drews  in  Gießen    257    771 
Ernst  Dürr  in  Würzburg    14 

H.  Erman  in  Münster  i.  W.    396 

Franz  Nikolaus  Finck  in  Groß-Lichterfelde    239    509 

F.  Finsler  in  Bern    994 

F.  Frensdorff  in  Göttingen    968 

Walter  Friedensburg  in  Stettin    69 

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9. 


Yerzeiehnis 

der   besprochenen   Schriften 


Die  Zahlen  verweisen  auf  die  Seiten 


E.  A.  Abbott,  A  Johannine  vocabulary    [Holtzmann]  662 

B.  R.  Abe  ken,  Goethe  in  meinem  Leben    [0.  Hamack]  677 

H.  Abert,  Die  Musikanschauung  des  Mittelalters    [Oraf]  1005 

Abu  n-Fatb  Mohammad,  Sibt  ibn  at-Ta'ftwidhi  [de  Goeje]  560 

W.    Alt  mann.    Die    römischen    Orabaltäre    der    Kaiserzeit 

[Strzygowski]  907 

H.  V.  Arnim,  s.  Berliner  Klassikertexte  IV  914 

J.  Bacher,  Die  deutsche  Sprachinsel  Lusern    [E.  H.  Meyer]  491 

Hans  Barth,  s.  Repertorium  710 

A.  Baumstark,  Liturgia  Romana  e  Liturgia  delP  Esarcato 

[Drews]  771 

P.  Bedjan,  s.  Mar  Jacobus  Sarugensis  164 

Berntj  s.  Heinrich  v.  Freiberg  96 

A.  A.  Bevan,  s.  Jatir  574 

C.  Bejtold,  s.  Orientalische  Studien  563 
Frhr.  v.  Bissing,  s.  Denkmäler  552 
Bodemannj  s.  Briefwechsel  968 


VIII  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften 

C.  de  Boor,  b.  Oeorgii  Monachi  Gbronicon  371 

H.  Breymann,  Calderon-Studien  I    [Becker]  998 

K.  Breysig,   Die  Entstehung  des  Oottesgedankens  und  der 

Heilbringer    [Troeltsch]  688 

Briefwechsel   zwischen  der  Kaiserin  Katharina  und  J.  G. 

Zimmermann,  hrsg.  von  Bodemann    [Frensdorff]  968 

Iyo  Bruns,  Vorträge  und  Aufsätze    [Schwartz]  322 

S.  BuggCy  s.  Norges  Indskrifter  89 


0.  Criste,  Kriege  unter  Kaiser  Josef  U    [Gerber]  486 

W.  £.  ürum,   Catalogue  of  the  Coptic  Manuscripts   in  the 
British  Museum    [Rahlfs]  579 

Die   Römische   Curie   und   das   Conzil  von   Trient   unter 
Pius  IV.,  hrsg.  von  J.  Susta    [Friedensburg]  69 


F.  Bahn,  s.  Festgabe  729 

Denkmäler  ägypt.  Skulptur    [Borchardt]  552 

Denkwürdigkeiten    des  Ministers    Otto    Frhr.   v.  Man- 

teuffel,  hrsg.  von  H.  v.  Poschinger    [Goldschmidt]  75 

Bidymos,  s.  Berliner  Klassikertexte  I  356 

Volumina  Aegyptiaca  I  356 

Bielsj  s.  Berliner  Klassikertexte  I  356 

s.  Volumina  Aegyptiaca  356 

R.  Dussaud,  Notes  de  Mythologie  Syrienne  II— IX    [Greß- 

mann]  799 

J.  Dutoit,  Das  Leben  des  Buddha    [Speyer]  803 


M.  L.  Ettinghausen,  Har^a  Vardhana    [Kielhom]  572 

al  Farazddk^  s.  Jarlr  574 

Festgabe  für  Felix  D a h n  11,  III    [Walsmann]  729 


Yeneichnis  der  besprochenen  Schriften  IX 

Festschrift  zur  Feier  des  50jährigen  Bestehens  des  eid- 
genössischen Polytechnikums    [Meyer  y.  Enonau]  713 

Kuno  Fischer^  s.  die  Philosophie  des  20.  Jahrh.  1 

A.  Foucher,  L'art  gr^-bouddhique  du  Gandhära    [Vogel]  533 

E.  Fuchs,  Vom  Werden  dreier  Denker    [Troeltsch]  682 


St.  Gauen,  s.  Mitteilungen  719 

öarlr,  s.  Jarfr  574 

G  e  0  r  g  i  i  Monachi  Chronicon  ed.  C.  d  e  B  o  o  r  I.  II   [Boissevain]  37 1 

Fr.  Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottes- 
namens   [Rothstein]  169 

E.  Göller,  Der  Liber  Taxarum  der  päpstl.  Kammer  [Rieder]  493 

J.  Go  Idstein,   Die  empiristische  Geschichtsauffassung  David 

Humes    [Barth]  88 

G.  Graf,  Die  christlich-arabische  Litteratur  bis  zur  fränkischen 

Zeit    [Brockelmann]  828 

—  Der  Sprachgebrauch  der  ältesten  christlich-arabischen  Litte- 
ratur   [Brockelmann]  589 


A.  Hack  man,  Die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland    [Hausmann]  953 

L.  M.  Hartmann,    Geschichte  Italiens   im  Mittelalter  H,   2 

[Mayer]  425 

A.  Haseloff,  Die  Kaiserinnengräber  in  Andria  [Strzygowski]  444 

A.  Hauck,  Kirchengeschichte  Deutschlands  IV    [Uhlirz]  447 

J.  Haury,  s.  Procopii  opera  382 

J,  HausheeTy  s.  Zuhair  830 

J.  Haußleiter,  Zwei  apostolische  Zeugen  für  das  Johannes- 
Evangelium    [Corssen]  787 

M.  Hayduck,  s.  Michaelis  Ephesii  commentaria  861 

0.  Heinemann,  s.  Pommersches  Urkundenbuch  501 


X  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften 

Heinrich  von  Freiberg,  hrsg.  von  A.  Bernt    [Schröder]    961 

Wilh.  Heinse,  Sämtliche  Werke  U.  IX,  hrsg.  v.  Karl  Seh  üdde- 
kopf    [Minor]  675 

Heldensage^  die  aÜiriscJie,  s.  Täin  bö  Güalnge  524 

HierökleSy  s.  Berliner  Elassikertexte  IV  914 

Th.  H  0  d  g  k  i  n,  The  History  of  England  from  the  earliest  times 
to  the  Norman  conquest    [Liebermann]  458 

P.  H.  Holzapfel,  Die  Anfänge  der  Montes  Pietatis  [Ph. 
Meyer]  703 

I.  Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen 
Altertum    [Krause]  922 

K.  Horn,  Abfassungszeit,  Oeschichtlichkeit  und  Zweck  von 
Evang.  Joh.  Kap.  21     [Corssen]  787 

W.  Hunt,  The  History  of  England  from  the  accession  of 
George  HI.  to  the  close  of  Pitt's  first  administration  [v.  Ru- 
ville]  463 


Ibn  Khaldün,  a  Selection  from  the  Prolegomena  by  D.  B. 
Macdonald  [Rhodokanakis]  831 

Norges  Indskrifter  med  de   aeldre   Runer   udgivne   ved 
Sophus  Bugge  [v.  Orienberger]  89.    256 

Italia  Pantificia,  s.  Regesta  pontificum  Romanorum  593 


G.  Jakob,  Erwähnungen  des  Schattentheaters  in  der  Welt- 

litteratur  [Stumme]  817 

Mar  Jacobi   Sarugensis  homiliae  selectae   ed.  P.  Bedjan 

[Wellhausen]  164 

The  Nakftid  of  Jarir  and  al  Farazda^  [Wellhausen]  574 

Jesus  Sirachf  s.  Smend  755 


6r.  Kaibel,  s.  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  611 

K.  A.  Kehr,  Die  Urkunden  der  Normannisch- sizilischen  Könige 
[Uhlirz]  436 


Yeneichnis  der  besprochenen  Schriften  XI 

P.  Kehr^  8.  Regesta  Pontificum  593 

Berliner  Klassikertexte  I.     Didymos  Kommentar  zu 

Demosthenes  von  H.  Di  eis  u.  W.  Seh  üb  art   [Wendland]  356 

IV.  Hierokles    ethische    Elementarlehre    unter    Mit- 

wirknng  von  W.  Schubart  bearb.  v.  H.  v.  Arnim  914 

F.  Enoke,  Begriff  der  Tragödie  nach  Aristoteles    [Finsler]  994 

H.  Lietzmann,  ApoUinaris  von  Laodicea  und  seine  Schule  I 

[Jülicher]  792 

G.  Lucilii  carminum  reliquiae  rec.  F.  Marx    [Leo]  837 

D.  B.  Macdonald,  s.  Ihn  Ehaldfln  831 

V.  Man  heim  er,  Die  Lyrik  des  Andreas  Gryphius    [Borinski]  334 

2>.  S.  Margoliauth,  s.  Abu  U-Fath  560 

F.  MarXy  s.  Lucilii  carminum  reliquiae  837 

A.  Meinong,  Ueber  Annahmen    [Höfler]  209 

Meinong,  s.  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  14 

P.  M.  Meyer,  s.  Theodosianus  641 

Michaelis  Ephesii  in  libros  de  partibus  animalium com- 

mentaria,  ed.  Michael  Hay  duck    [Praechter]  861 

N.  Ter-Mikaelian,  Das  armenische  Hymnarium    [Finck]  239 

Milet,  Ergebnisse  der  Ausgrabungen  und  Untersuchungen  für 

das  Jahr  1899.    I    [v.  Wilamowitz]  635 

Mitteilungen  zur  vaterländ.  Geschichte  XXIX,  hrsg. 

vom  Historischen  Verein  in  St.  Gallen    [Meyer  v.  Knonau]  719 

Th.  Mommsen,  Gesammelte  Schriften    [Wenger]  408 

Th.  Mommsen^  s.  Theodosianus  641 

F.  Niedner,  Carl  Michael  Bellmann,  der  schwedische  Ana- 

kreon    [Steffen]  327 

Th.  Nöldehe,  s.  Orientalische  Studien  563 


XII  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften 

J.  Perier,  Vie  d'  al  Hadjdjftdj  ibn  Yousof    [Wellhausen]  254 

Die  Philosophie  im  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.    Fest- 
schrift für  K.  Fischer,  hrs.  v.  Windelband    [Höffding]  1 

N.  r.  IIoXitTjg,   MeXitoct  «spl   too   ßCoo   xal   ti)g  ^XtbooTjc   too 

iXXTjvixoö  Xaoö    [Hiller  v.  Oärtringen]  367 

PrettQensauswärtigePolitikl850 — 1858,  hrs.  vonH.v.Poschinger 

[Goldschmidt]  75 

Polytechnikum  (Zürich),  s.  Festschrift  713 

J?.  t;.  Poschinger,  s.  Denkwürdigkeiten  75 

—  s.  Preußens  auswärtige  Politik  75 

Fr.  Poulsen,  Die  Dipyiongräber  und  die  Dipylonvasen  [Pfuhl]  339 

Procopii  Gaesariensis  opera  omnia,  ed.  J.  Haury    [Grönert]  382 

C.  Prüfer,  Ein  ägyptisches  Schattenspiel    [Stumme]  817 


M.  Raich,  Fichte,  seine  Ethik  und  seine  Stellung  zu  dem 
Problem  des  Individualismus    [Troeltsch]  680 

Recueil  des  Historiens  des  Gaules  et  de  la  France  XXIV 
[Gartellieri]  250 

Regestapontificum  Romanorum.   Italia  Pontificia   [Kehr]    593 

Th.  Rein  ach,  L'histoire  par  les  monnaies    [Strack]  666 

Max  Reischle,  Aufsätze  und  Vorträge    [Kattenbusch]  832 

Repertorium  über  die  in  Zeit-  und  Sammelschriften  der 
Jahre  1891—1900  enthaltenen  Aufsätze  ...  schweizer- 
geschichtlichen Inhalts    [Gabr.  Meier]  710 


W.  Scheel,  Johann  Frhr.  zu  Schwarzenberg    [Knapp]  478 

W.  Schmidt,   Grundzüge   einer   Lautlehre   der  Mon-Khmer- 
Sprachen.  —  Grundzüge  einer  Lautlehre  der  Ehasi-Sprache. 

[Eonow]  228 

W.  Scfwbertj  s.  Berliner  Elassikertexte    I.  IV                     356.  914 

—  s.  Volumina  Aegyptiaca  914 


Veneichiiis  der  besprochenen  Schriften  Xm 

f.  Schüddekopf,  8.  Wilh.  Heinse  675 

M.  Schulze,  CalviDS  Jenseits-Christentum    [Baur]  706 

J.  Susta,  s.  d.  Römische  Curie  69 

Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sir  ach    [Smend]  755 

Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  erklärt    [Smend]  755 

W.  B.  Smith,  Der  vorchristliche  Jesus    [Pfleiderer]  699 

Paul  Sokolowski,  Die  Philosophie  im  Privatrecht    [Erman]  396 

Friedr.  Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Oott    [Drews]  257 

Orientalische  Studien,  Th.  Nöldeke  gewidmet,  hrs.  v.  C. 

Bezold    [Wellhausen]  563 


T&in  bö  Cüalnge,  hrsg.  von  E.  Windisch    [d'Arbois  de 
Jubainville]  524 

Theodosiani   libri   XVI,   ed.   Th.  Mommsen  u.   Paulus 
Meyer    I.  II    [Maas]  641 

Ä.  Thumb,  Handbuch  des  Sanskrit    [Schmidt]  419 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie, 
hrs.  von  Meinen g    [Dürr]  14 

Urkunden  dramatischer  Aufifuhrungen  in  Athen  mit  einem 
Beitrag  von  0.  Eaibel,  hrs.  v.  A.  Wilhelm  [v.  Wila- 
mowitz]  611 

Pommersches  Urkundenbuch    [Perlbach]  501 


J.  Volkelt,  System  der  Aesthetik    [Th.  A.  Meyer]  298 

Volumina  Aegyptiaca  IV  1.   Didymi  De  Demosthene  com- 
menta  rec.  H.  Diels  et  W.  Schubart    [Wendland]  356 


J.  6.  Wetzstein,  Die  Liebenden  von  Amasia    [Stumme]  817 

A,  Wülielm,  s.  Urkunden  dramat.  Aufführungen  611 

WindeJband,  s.  d.  Philosophie  d.  20.  Jahrh.  1 


XIV  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften 

E.  Windischy  s.  altirische  Heldensage  524 

R.  Wolff,  Grammatik  der  Kinga-Sprache  m    [Finck]  509 


Job.  Ziekursch,  Sachsen  u.  Preußen  um  die  Mitte  des  18. 
Jahrhunderts]    [Mollwo]  481 

Die  Mu'allaka  des  Zu  hair,  hrs.  v.  J.  Hausheer    [Brockel- 
mannj  830 


Göttingisehe 


gelehrte  Anzeigen 


Unter  der  Aufsicht 


Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 


168.  Jahrgang 

Zweiter  Band 


Serlin 

Weidmannsche  Buchhandlang 
1906 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Göttingen 


Januar  1906.  No.  I. 


Die  Philosophie  im  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts.  Fest- 
schrift für  Kuno  Fischer,  unter  Mitwirkung  von  B.  Baaeh,  K.  Groos, 
£.  Lttsk,  0.  Liebmann,  H.  Riekert,  £.  Troeltsch,  W.  IVandt  herausgegeben 
von  W.  Windelband.  Heidelberg,  Winters  Universitätsbuchhandlung,  1904—1905. 
VIII,  186,  200  S. 

Zu  Ehren  Euno  Fischers,  bei  Gelegenheit  seines  80jährigen  Ge- 
burtstages ist  eine  Festschrift  erschienen,  die  ein  Bild  der  Philosophie 
am  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  geben  soll.  Ein  schöner 
und  berechtigter  Gedanke  liegt  dem  Werke  zu  Grunde,  und  hat  in 
einem  Einleitungsgedichte  Otto  Liebmanns  einen  begeisterten  Aus- 
druck gefunden.  Es  ist  in  der  Ordnung,  daß  deutsche  Philosophen 
dem  Manne  huldigen,  dessen  langes,  wirksames  Leben  der  Geschichte 
der  klassischen  deutschen  Philosophie  gewidmet  war.  Mit  großer 
Beredsamkeit  und  Formschönheit  hat  Euno  Fischer  ein  Bild  der 
deutschen  Philosophie  am  Schluß  des  achtzehnten  und  am  Beginn 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  gegeben.  In  seinem  großen  Werke 
über  die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  haben  von  zehn  Bänden 
sechs  die  deutsche  Philosophie  zum  Gegenstand,  während  drei  Des- 
cartes, Spinoza  und  Leibniz  behandeln,  und  nur  einer  (Baco  und 
seine  Nachfolger)  der  englischen  Philosophie  gewidmet  ist,  und  ein- 
stimmig wird  man  gewiß  die  Darstellung  der  deutschen  Philosophie 
(in  meinen  Äugen  ganz  besonders  den  Band  über  Fichte)  als  den  am 
meisten  gelungenen  Teil  des  großen  Werkes  betrachten.  Mit  Recht 
ist  man  in  Deutschland  stolz  auf  die  energische  und  tiefsinnige  Ge- 
dankenarbeit, die  im  Zeitalter  des  deutschen  Idealismus  von  einer 
Reihe  großer  Denker  gethan  ist,  und  die  in  Euno  Fischer  einen  so 
congenialen  Geschichtsschreiber  gefunden  hat. 

Aber  wenn  dies  zugegeben  wird,  darf  man  gewiß  die  Frage  auf- 
werfen, ob  es  berechtigt  ist,  in  einer  Schilderung  >der  Philosophie 
im  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts«  beinahe  ausschließlich  die 
Philosophie  in  Deutschland,  und  sogar  nur  eine  besondere  Richtung 
dieser  Philosophie  zu  berücksichtigen.  Das  Gedankenleben  anderer 
Länder  und  anderer  Richtungen  werden  nur  im  Vorübergehen  und 

0«U.  gel.  Aax.  1906.  Nr.  1.  1 


2  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

ohne  eingehende  Kritik,  oft  sogar  in  karrikierender  Weise  erwähnt. 
Wo  die  größten  Möglichkeiten  liegen  für  die  Entwickelung  der  Philo- 
sophie in  dem  Jahrhundert,  an  dessen  Anfang  wir  stehen,  wird  die 
Zukunft  erst  zeigen  können.  Aber  so  viel  kann  gesagt  werden,  daß 
ein  wirkliches  Bild  des  philosophischen  Denkens  unserer  Zeit  in  dem 
vorliegenden  Werke  nicht  gegeben  wird.  Die  Gedankenentwickelung 
in  den  anderen  großen  Kulturländern  (Frankreich,  England,  Nord- 
amerika) wird  nicht  berücksichtigt,  und  so  bedeutungsvolle  philoso- 
phische Erscheinungen  wie  die  Arbeiten  von  Richard  Avenarius  und 
Ernst  Mach  werden  kaum  erwähnt. 

Es  ist  eine  Eigenart  Kuno  Fischers,  daß  er,  so  lange  er  sich 
mit  einem  Philosophen  beschäftigt,  ganz  in  den  Gedankengang  seines 
Helden  aufgeht.  Dadurch  erhält  seine  Darstellung  ihre  Energie  und 
ihren  Glanz.  Aber  es  ist  doch  auch  die  Pflicht  des  Historikers, 
Lücken  und  Mängel,  Fehlschlüsse  und  Mißverständnisse  aufzuzeigen. 
Wenn  man  einen  Band  von  Fischers  großem  Werke  durchgelesen 
hat,  sieht  man  eigentlich  nicht  ein,  warum  eine  Fortsetzung,  ein 
neuer  Aufschwung  der  Gedankenarbeit  notwendig  sein  sollte.  Die 
Darstellung  verläuft  eben  und  glatt,  und  Schwierigkeiten,  an  denen 
man  beim  Selbststudium  der  betreffenden  Philosophen  Halt  gemacht 
hat,  kommen  in  der  sonst  so  breit  angelegten  Darstellung  nicht  zum 
Vorschein.  Was  so  von  Einzelproblemen  gilt,  das  gilt  ganz  besonders 
von  dem  Probleme,  welche  bleibende  Bedeutung  die  ganze  Richtung, 
die  man  den  deutschen  Idealismus  zu  nennen  pflegt,  für  die  Zukunft 
haben  kann.  Auch  hier  läßt  uns  der  alte  Meister  im  Stich,  von 
einigen  sehr  unbestimmten  Andeutungen  abgesehen.  Und  doch  ist 
es  klar,  daß  die  Begründung  und  die  systematische  Ableitung,  welche 
die  klassischen  deutschen  Philosophen  als  notwendig  und  ausreichend 
betrachteten,  jetzt  nicht  mehr  haltbar  sind.  Weder  die  kantische 
Deduktion  der  Kategorien,  noch  Fichtes  Konstruktion  der  Wissen- 
schaftslehre, weder  Schellings  Potenzlehre,  noch  Hegels  dialektische 
Methode  können  uns  befriedigen.  Gewiß,  die  großen  Ideen  stehen 
und  fallen  nicht  mit  der  Begründung,  die  man  zu  geben  versuchte. 
Der  Kern  kann  bestehen,  obgleich  die  Schalen  aufgelöst  sind.  Und 
es  wäre  die  natürliche  Aufgabe  der  Festschrift  gewesen,  den  Beweis, 
daß  es  sich  so  verhält,  zu  geben ;  dies  wäre  die  beste  Art,  in  welcher 
die  Verfasser  ihren  Meister  hätten  ehren  können.  Ich  kann  nicht 
finden,  daß  die  kritische  und  analytische  Arbeit,  durch  welche  jener 
Beweis  geführt  werden  muß,  in  der  vorliegenden  Schrift  zum  Vor- 
schein kommt.  In  sehr  dogmatischer  Weise  wird  an  den  entscheiden- 
den Punkten  auf  den  deutschen  Idealismus  hingewiesen,  als  ob  diese 
Hinweisung  für  die  kritische  Arbeit  unserer  Zeit  ausreichend  wäre. 


Die  Philosophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  S 

Und  man  vergißt,  daß  >der  deutsche  Idealismus <  dem  englisch- 
französischen Denken  die  wichtigsten  Impulse  verdankt.  Kants  große 
Gedankenarbeit  wäre  ohne  den  Einfluß  von  Hume,  Newton  und 
Rousseau  nicht  zu  verstehen.  Gibt  man  die  systematische  Begrün- 
dung auf,  mittelst  welcher  die  deutschen  Klassiker  die  von  Locke 
und  Hume  gestellten  Probleme  lösen  zu  können  glaubten,  dann  kann 
nur  eine  neue  Begründung  dazu  berechtigen,  die  vermeintlich  ge- 
wonnenen Resultate  festzuhalten.  —  Aloys  Riehl  hat  ausdrücklich 
gezeigt,  daß  die  kritische  Philosophie  nicht  erst  in  Deutschland, 
sondern  schon  mit  dem  Denken  John  Lockes  anfängt.  Freilich,  Riehl 
wird  in  der  Festschrift  damit  abgefertigt,  daß  er  zu  viel  >  Positivist  < 
ist  und  nicht  >dem  echten  Kritizismus  <  angehört.  — 

Eine  geschlossene  Phalanx  bilden  die  Verfasser  der  Festschrift 
doch  nicht.  Sie  repräsentieren  nicht  alle  >den  echten  Kritizismus <. 
Männer  wie  Wilhelm  Wundt  und  Karl  Groos  stehen  hier  anders  als 
die  übrigen  Verfasser,  und  ich  will  darum  die  Beiträge  dieser  zwei 
Denker  besonders  erwähnen,  bevor  ich  die  in  der  Festschrift  sonst 
herrschenden  Gesichtspunkte  diskutiere. 

1.  Es  ist  ein  großes  Zeugnis  von  der  bleibenden  Bedeutung 
der  Grundgedanken  des  deutschen  Idealismus,  daß  ein  Forscher  wie 
Wilhelm  Wundt,  einer  der  bedeutendsten  von  den  Männern,  die 
die  Philosophie  in  unseren  Tagen  von  der  Naturwissenschaft  erobert 
hat,  zu  dieser  Festschrift  fur  den  Geschichtsschreiber  jenes  Idealis- 
mus einen  Beitrag  geliefert  hat.  Durch  sinnesphysiologische  und 
erkenntnistheoretische  Fragen  wurde  Wundt  zuerst  zur  Philosophie 
geführt.  Und  wenn  er  (z.B.  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ethik)  sagt, 
daß  die  Grundgedanken  des  deutschen  Idealismus  mit  der  vergäng- 
lichen Form,  in  die  sie  zuerst  gekleidet  wurden,  ihre  Bedeutung  nicht 
verloren  haben,  dann  hat  er  in  der  prachtvollen  Reihe  seiner  Werke 
gute  Gründe  für  diese  Erklärung  gegeben.  An  einer  anderen  Stelle 
habe  ich  zu  zeigen  versucht,  daß  Wundts  Bedeutung  besonders  in 
der  vorbereitenden  Arbeit  besteht,  durch  die  er  sich  den  Grenzfragen 
des  Denkens  nähert.  Die  Abhandlung,  die  seinen  Beitrag  zur  Fest- 
schrift ausmacht,  behandelt  eben  ein  Teil  dieser  vorbereitenden  Ar- 
beit, indem  sie  die  Psychologie  und  ihre  Stellung  in  unseren  Tagen 
bespricht. 

Wundt  betrachtet  die  Psychologie  als  ein  Zwischenglied  zwischen 
der  Philosophie  und  den  Einzel  Wissenschaften.  Es  gab  Zeiten,  wo 
man  sie  als  einen  Teil  der  speculativen  Philosophie  betrachtete ;  dies 
war  der  Fall  in  der  Zeit  des  deutschen  Idealismus.  Erst  als  die 
Zeit  der  speculativen  Systeme  vorüber  war,  konnte  die  Selbständig- 
keit der  Psychologie  der  Philosophie  gegenüber  behauptet  werden. 

I* 


4  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Später  hat  man  sie  ganz  unter  die  Naturwissenschaften  rechnen 
wollen.  Sie  hat  aber  ihre  Selbständigkeit  darin,  daß  die  Beobach- 
tung der  psychischen  Erscheinungen,  die  für  die  Physiologie  nur 
Mittel  oder  Symptom  ist,  für  die  Psychologie  Zweck  ist  Dies  zeigt 
sich  besonders  durch  die  Bedeutung,  welche  die  subjektiven  Maß- 
bestimmungen und  ihre  Schwankungen  für  die  Psychologie  haben, 
und  ganz  besonders  in  den  Untersuchungen  über  den  zeitlichen  Ver- 
lauf der  psychischen  Prozesse. 

Obgleich  sich  so  die  Psychologie  für  Wundt  nach  beiden  Seiten 
abgrenzt,  findet  er  doch,  daß  sie  von  diesen  beiden  Seiten  große 
Impulse  empfangen  hat.  In  diesem  Zusammenhang  hat  besonders 
die  Einwirkung  der  Philosophie  Interesse.  An  zwei  Punkten  findet 
Wundt  eine  solche  Einwirkung.  In  dem  auf  dem  Gebiete  der  Sinnes- 
physiologie geführten  Streite  zwischen  Nativismus  und  Empirismus 
übten  die  Gesichtspunkte  Kants,  Schopenhauers  und  Stuart  Mills 
großen  Einfluß,  und  die  Völkerpsychologie  hat  einen  Vorgänger  in 
der  Lehre  Hegels  vom  > objektiven  Geiste <,  strebt  mit  neuen  Mitteln 
nach  dem  Ziele,  das  schon  Hegel  aufgestellt  hat. 

Wundt  polemisiert  gegen  die  englische  >  Assoziationspsychologie <, 
die  doch  jetzt  kaum  einen  eigentlichen  Kepräsentanten  hat.  Diese 
Richtung  huldigte  einer  Art  psychischer  Atomistik  und  löste  das 
Bewußtseinsleben  in  selbständige  Elemente  auf,  die  nur  in  rein  äußer- 
licher Weise  mittelst  Assoziation  in  Verbindung  gebracht  wurden.  — 
Ich  erlaube  mir  hier  die  Bemerkung,  daß  Wundt  mit  Unrecht  hier 
und  anderwärts  mich  zu  dieser  Richtung  rechnet.  Ich  habe  niemals 
der  Assoziationspsychologie  angehört.  Ich  habe  immer  die  soge- 
nannten Assoziationsgesetze  als  spezielle  Formen  der  Synthese  be- 
trachtet, die  für  mich  (nach  dem  Vorgange  Leibniz'  und  Kants)  die 
Grundform  der  psychischen  Energie  ist.  Es  ist  auch  ein  Mißver- 
ständnis, daß  ich  alle  Assoziation  auf  Aehnlichkeitsassoziation  zurück- 
führe ;  ich  betrachte  die  Berührungs-  und  die  Aehnlichkeitsassoziation 
als  spezielle  Fälle  des  Totalitätsgesetzes,  in  welchem  sich  die  Ein- 
heitlichkeit des  Bewußtseins  ausdrückt.  (Vgl.  meine  Psychologie. 
Dritte  deutsche  Ausgabe  p.  218  f.).  — 

Karl  Groos,  der  durch  eine  Reihe  verdienstlicher  Arbeiten 
über  Kinderpsychologie  und  über  die  Psychologie  der  Spiele  bekannt 
ist,  hat  den  Abschnitt  über  Aesthetik  geschrieben.  Er  unterscheidet 
zwischen  psychologischer  und  kritischer  Aesthetik :  jene  konstatiert 
die  faktischen  ästhetischen  Zustände  und  Urteile  und  sucht  >da8 
ästhetisch  Wirksame<  in  ihnen  aufzuzeigen;  diese  hat  die  Aufgabe, 
ästhetische  Werturteile  zu  begründen.  Groos  weicht  nun  von  dem 
deutschen  Neokritizismus,  wie  dieser  sonst  in  der  Festschrift  hervor* 


Die  Philosopliie  am  Beginn  des  20.  Jabrbunclerts.  5 

tritt,  dadurch  ab,  daß  er  die  Möglichkeit  absoluter  Wertent« 
Scheidungen  entschieden  bezeifelt.  Jede  Beurteilung  ruht  auf  ge- 
wissen Voraussetzungen.  So  großes  Gewicht  man  auch  auf  den  Unter- 
schied zwischen  psychologischer  und  kritischer  Aesthetik  legen  will, 
80  darf  doch,  meint  Groos,  dieser  Unterschied  nicht  so  aufgefaßt 
werden,  als  könnte  die  kritische  Aesthetik  wirklich  zu  absoluten  Wert- 
entscheidungen gelangen.  Und  diesen  Zweifel  schränkt  er  nicht  auf 
die  Aesthetik  ein,  sondern  gibt  ihm  eine  allgemeine  erkenntnis- 
theoretische Anwendung.  Jede  letzte  Voraussetzung  ist  eine  Hypo- 
these und  ruht  auf  einem  >Wenn<.  Dies  hindert  nicht,  daß  wir  sie 
getrost  in  unserer  Arbeit  anwenden  können,  so  lange  sie  sich  als 
fruchtbar  erweist  und  ihr  von  der  Erfahrung  nicht  widersprochen 
wird.  —  Dieser  Standpunkt  steht  in  entschiedenem  Widerstreit  zu 
den  Anschauungen  der  meisten  anderen  Verfasser  der  Festschrift. 
Ich  leugne  nicht,  daß  er  in  meinen  Augen  den  besser  begründeten 
Anspruch  auf  den  Namen  >Kritizi8mus<  hat. 

Von  dem  speziellen  Inhalt  der  Groosschen  Abhandlung  erwähne 
ich  >die  Theorie  der  inneren  Nachahmung <.  Wenn  wir  uns,  wie  es 
heißt,  in  eine  Naturerscheinung  oder  in  ein  Kunstwerk  einfühlen, 
dann  geschieht  dies  nach  Groos  nicht  durch  bloß  passives  Schauen, 
sondern  es  wird  ein  Streben  nach  Mitmachen,  Mit-  oder  Nachleben 
ausgelöst.  Das  Einfühlen  erscheint  so  als  eine  Betätigung  des  Beob- 
achters, als  eine  Aktivität.  Es  ist  nicht  die  Meinung  des  Verfassers, 
daß  dieses  aktive  Mitleben  die  einzige  Quelle  ästhetischen  Genusses 
ist,  aber  er  sieht  in  ihm  eine  der  wichtigsten  Erscheinungen  der 
Psychologie  des  Aesthetischen  überhaupt. 

2.  Die  übrigen  Verfasser  der  Festschrift  haben  eine  gemein- 
same Grundanschauung  und  sprechen  sie  oft  mit  ganz  gleichen  Worten 
aus.  Windelband  ist  der  Begründer  der  Art  von  Neokritizismus, 
welcher  diesen  Standpunkt  vertritt.  Aber  in  Rickerts  Abhandlung 
über  Geschichtsphilosophie  hat  diese  Richtung  vielleicht  ihren  be- 
deutungsvollsten Ausdruck  gefunden,  und  ich  will  daher  etwas  länger 
bei  diesem  Teile  der  Festschrift  verweilen.  Es  ist  ein  großer  Genuß, 
diese  wohl  durchdachte  Abhandlung  zu  studieren  und  sie  mit  der 
größeren  und  sehr  interessanten  Arbeit  (»Ueber  die  Grenzen  der 
naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung«),  in  welcher  Rickert  eine  aus- 
führliche Darstellung  seiner  Ideen  gegeben  hat,  zu  vergleichen. 

Um  die  Logik  der  Geschichtswissenschaft  hat  Rickert  hohe  Ver- 
dienste. Mit  großer  Energie  behauptet  er  das  Historische  als  das 
Einmalige,  als  dasjenige,  das  eine  bestimmte  Zeit  in  bestimmter 
Weise  ausfüllt  und  niemals  in  derselben  Weise  wiederkehrt.  Histo- 
rische Begriffe  sind  daher  Individualbegriffe  —  im  Gegensatz  zu  den 


6  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Begriffen,  die  Rickert  die  naturwissenschaftlichen  nennt,  deren  Inhalt 
das  Allgemeine,  das  mehreren  größeren  oder  kleineren  Gruppen  von 
Erscheinungen  Gemeinsame  ist.  Der  Gegensstz  zwischen  Individual- 
und  Allgemeinbegriffen  ist  fUr  Rickert  —  wie  schon  für  Windelband 

—  der  größte  Gegensatz  in  der  Welt  des  Gedankens.  Er  begründet 
eine  neue  Einteilung  der  Wissenschaften,  indem  der  Gegensatz  zwischen 
Naturwissenschaft  und  Geschichtswissenschaft  an  die  Stelle  des  Gegen- 
satzes von  Naturwissenschaft  und  Geisteswissenschaft  gesetzt  wird. 
Das  Geschichtliche,  was  durch  keinen  Allgemeinbegriff  erschöpft 
werden  kann,  macht  uns  das  Dasein  irrationell,  —  bewirkt,  daß  es 
sich  auf  keine  Formel  zurückführen  läßt,  sondern  sich  stets  in  neuen 
Gestalten  offenbart. 

Doch  würde  man  Rickert  mißverstehen,  wenn  man  die  Sache  so 
auffaßte,  als  ob  einige  Gegenstände  nur  unter  die  Naturwissenschaft, 
andere  nur  unter  die  Geschichtswissenschaft  gehören  sollten.  Jeder 
Gegenstand  kann  Elemente  zu  einem  Allgemeinbegriffe  abgeben,  ob- 
gleich er  als  etwas  Individuelles  und  Einmaliges  in  seiner  Form,  zu 
seiner  Zeit  und  an  seiner  Stelle  dasteht.  Es  gibt  historische  Ele- 
mente in  der  Naturwissenschaft  und  allgemeine  Elemente  in  der  Ge- 
schichtswissenschaft. Aber  die  Richtung  ist  dort  generalisierend,  hier 
individualisierend.  Die  Naturwissenschaft  sucht  die  einzelnen  Erschei- 
nungen unter  allgemeine  Gesetze  zu  bringen;  sie  operiert  mit  dem 
Verhältnis  des  Einzelnen  und  des  Allgemeinen.  Die  Geschichtswissen- 
schaft will  zeigen,  wie  die  einzelnen  Erscheinungen  zu  einem  totalen 
Entwickelungsgange  zusammengehören ;  sie  operiert  mit  dem  Verhältnis 
des  Einzelnen  und  des  Ganzen.    Diese  zwei  Verhältnisse  dürfen  nicht 

—  wie  so  oft  geschieht  —  verwechselt  werden.  Ein  historisches  Ge- 
setz ist  eine  contradictio  in  adjecto.  Es  gibt  historische  Prozesse  und 
Totalitäten,  aber  keine  historische  Gesetze. 

Dies  ist  doch  nur  der  eine  Teil  der  Logik  der  Geschichte,  wie 
Rickert  sie  entworfen  hat.  Der  andere  besteht  in  dem  Satze,  daß 
die  Geschichte  eine  wertende  Wissenschaft  ist.  Ob  sich  der  einzelne 
Historiker  dessen  bewußt  ist  oder  nicht,  —  es  liegt  in  dem  Heraus- 
heben des  Gegenstandes  seiner  Forschung  und  Darstellung  eine  Wahl, 
die  durch  einen  vorausgesetzten  Wert  bestimmt  wird.  Nicht  alle 
Personen,  Begebenheiten  oder  Völker  sind  >historisch<,  sondern  nur 
die,  die  in  Relation  zu  einem  Werte,  dessen  Gültigkeit  vorausgesetzt 
wird,  gestellt  werden  können.  Wenn  der  Historiker  das  Wesent- 
liche und  das  Unwesentliche,  das  Bedeutungsvolle  und  das  Bedeutungs- 
lose unterscheidet,  dann  setzt  er  einen  Wertmesser  voraus.  Es  sind 
immer  Kulturwerte,  die  ihn  bei  seiner  Wahl  und  bei  seiner  Scheidung 
leiten.     Die  Bedeutung  der  Personen,   der  Begebenheiten  und  der 


Die  Philoflophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  7 

Völker  beruht  auf  ihrem  Verhältnis  zu  den  in  Staat,  Religion,  Kunst, 
Wissenschaft  oder  ökonomischem  Wohlstand  sich  offenbarenden  Werten. 

—  Auch  von  dieser  Seite  gesehen  tritt  die  Irrationalität  des  Daseins 
hervor.  Denn  ebenso  wenig  wie  die  ganze  Natur  der  Erscheinungen 
in  Allgemeinbegriffen  erschöpft  werden  kann,  ebenso  wenig  wird  sie 
vollständig  in  den  von  der  Geschichtswissenschaft  gebildeten  Begriffen 
ausgedrückt:  wir  haben  nämlich  kein  Recht,  das  von  unseren  Wert- 
gesichtspunkten aus  Wesentliche  als  das  Ganze  der  Wirklichkeit  an- 
zusehen. 

Es  ist  die  Aufgabe  der  Geschichtsphilosophie,  die  absoluten 
Werte,  die  der  geschichtlichen  Auswahl  zugrunde  liegen,  aufzuzeigen. 
Der  deutsche  Idealismus  hat  uns  einen  absoluten  Maßstab  gegeben, 
indem  er  als  den  Zweck  des  Menschenlebens  die  Einrichtung  aller 
Verhältnisse  mit  Freiheit  nach  der  Vernunft  festgestellt  hat.  Dieser 
Maßstab  ist  zwar  ganz  formal ;  aber  das  muß  ein  absoluter,  zeitloser, 
ungeschichtlicher  Maßstab  notwendig  sein.  Die  Prinzipien  aller 
Wertung,  die  Grundwerte  müssen  zeitlos,  transcendent  sein.  Ohne 
solche  Prinzipien  können  wir  in  der  Geschichte  keine  Meinung  finden. 

—  Daraus  folgt  doch,  nach  Rickert,  nicht,  daß  wir  das  Recht  hätten, 
ein  transcendentes  Sein  anzunehmen  (wie  Hegel,  und  in  unseren 
Tagen  Eucken  es  thun).  Jede  Bestimmung  eines  solchen  Seins 
müßte  seinen  realen  Inhalt  aus  der  Erfahrung  holen.  Wir  können 
in  der  Philosophie  nicht  weiter  kommen,  als  zu  einer  höchsten  Idee 
(in  Kants  Bedeutung  dieses  Wortes) ,  zu  einem  Prinzip ,  das  wir  bei 
aller  Wertung  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  Wirklichkeit 
zugrunde  legen  können.  — 

Nach  dieser  Darlegung  des  Rickertschen  Gedankenganges  erlaube 
ich  mir  einige  kritische  Bemerkungen. 

Der  Gegensatz  zwischen  Generalisierung  und  Individualisierung 
ist  nicht  zureichend  als  Grundlage  einer  Einteilung  der  Wissenschaften. 
Denn  dieser  Gegensatz  tritt  innerhalb  jeder  einzelnen  Wissenschaft 
hervor.  Das  Interesse,  das  zur  Kant-Laplaceschen  Theorie  oder  zu 
Darwins  Theorie  der  Entstehung  der  Arten  geführt  hat,  ist  nicht 
weniger  naturwissenschaftlich  als  das  Interesse,  das  zum  Newtonschen 
Gravitationsgesetz  oder  zur  chemischen  Atomtheorie  geführt  hat.  In 
der  Natur  wie  in  der  Geschichte  findet  jede  Begebenheit  nur  einmal 
statt,  und  Maxwell  hat  daher  mit  Recht  behauptet,  daß  der  Satz, 
daß  jede  Ursache  immer  die  gleiche  Wirkung  hat,  eigentlich  so 
lauten  sollte:  wenn  Ursachen  nur  in  Rücksicht  auf  Zeit  und  Ort 
verschieden  sind,  sind  ihre  Wirkungen  gleich.  Das  höchste  Ziel  der 
Naturwissenschaft  ist,  den  großen  einmaligen  Prozeß,  der  in  unserem 
Teile  des  Weltalls  vor  sich  geht,  zu  verstehen.     Alle  allgemeinen 


8  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Gesetze  der  Naturwissenschaft  werden  zuletzt  als  Mittel  und  Wege 
zu  diesem  großen  Ziele  betrachtet.  Daß  die  Naturwissenschaft  vor- 
läufig am  meisten  an  der  Ausfindung  der  allgemeinen  Gesetze  arbeitet, 
und  noch  mitten  in  dieser  Arbeit  steckt,  ändert  an  dem  prinzipiellen 
Verhältnis  nichts.  Es  gibt  keinen  prinzipiellen,  nur  einen  graduellen 
Unterschied  in  dieser  Rücksicht  zwischen  Naturwissenschaft  und 
Geschichte.  Rickert  räumt  das  ja  eigentlich  selbst  ein,  indem  er 
geschichtliche  Elemente  in  der  Naturwissenschaft  und  generalisierende 
Bestrebungen  in  der  Geschichte  annimmt;  nur  will  er  nicht  zu- 
gestehen, daß  auch  für  die  Naturwissenschaft  das  Verständnis  der 
einmaligen  Entwickelung  das  letzte  Ziel  ist. 

Die  alte  aristotelische  Schwierigkeit,  daß  das  wirklich  Existierende 
immer  individuell  ist,  während  unsere  Erkenntnis  mit  Allgemein- 
begriffen  arbeitet,  findet  ihre  Lösung  dadurch,  daß  das  Einzelne,  das 
Einmalige,  die  konkrete  Realität  in  der  >Natur<  und  in  der  >Geschichte< 
das  Ziel  ist,  dem  sich  unsere  Erkenntnis  durch  Analyse,  Kritik  und 
Abstraktion  zu  nähern  sucht.  Wir  müssen  die  Elemente  und  Kräfte 
des  Daseins  einzeln  betrachten,  wenn  wir  ihr  Zusammenspielen 
im  großen  Weltdrama  recht  verstehen  wollen;  darum  ist  eine  vor- 
bereitende Arbeit  notwendig,  und  weil  die  Entwickelung,  welche  die 
Naturwissenschaft  zu  entdecken  hat,  weit  mehr  umfassend  ist,  und 
auf  unendlich  zahlreicheren  Bedingungen  ruht,  als  die  menschliche 
Entwickelung,  welche  die  Geschichte  schildern  soll,  wird  der  große, 
graduelle  Unterschied  zwischen  Naturwissenschaft  und  Geschichte 
verständlich.  Im  Ideal  der  Wissenschaft  werden  beide  ihre  Ströme 
vereinigen.  Doch  wird  wohl  immer  unser  Denken  in  einem  irratio- 
nalen Verhältnis  zur  Wirklichkeit  stehen,  weil  wir  niemals  den  un- 
endlich konkreten  Inhalt  des  Daseins  werden  hinreichend  bestimmen 
und  in  einem  fortlaufenden  Prozess  einfassen  können.  Das  Symbol 
des  Daseins  wird  für  uns  tc  sein. 

Schon  Comte  hat  gesehen,  daß  das  Verhältnis  zwischen  Gene- 
ralisation und  Individualisation  sich  durch  die  ganze  Reihe  der 
Wissenschaften  hindurchzieht.  Er  ordnete  die  Wissenschaften  so, 
daß  ihre  Reihe  mit  denjenigen  begann,  in  denen  allgemeine  Begriffe 
die  grösste  Rolle  spielen,  und  sich  dann  allmählig  unter  fortschreitender 
Spezialisierung  fortsetzte.  Das  erste  Glied  war  die  Mathematik,  das 
letzte  die  Soziologie  (zu  welcher  er,  vielleicht  mit  Unrecht,  die  Ge- 
schichte rechnete).  — 

Uebrigens  darf  man  nicht  übersehen,  daß  es  zwischen  den  All- 
gemeinbegriffen und  den  konkreten  Individualbegriffen 
bedeutungsvolle  Zwischenglieder  gibt.  In  einem  Allgemeinbegriff 
werden  unsere  Wahrnehmungen   einer  Menge  verschiedener  In- 


Die  Philosophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  9 

dividualitäten  (Personen,  Begebenheiten,  Dinge)  zusammengefaßt;  in 
einem  konkreten  Individualbegriile  wird  eine  einzelne  Wahrnehmung 
nach  ihrem  Inhalte  zusammengefaßt.  Zwischen  beiden  liegt  aber, 
was  ich  den  typischen  Individualbegriff  nenne,  in  dem  eine 
ganze  Reihe  von  verschiedenen  Wahnehmungen  derselben  Indivi- 
dualität (Person,  Begebenheit,  Ding)  zusammengefaßt  werden.  Solche 
typische  Individualbegriife  sind  die  eigentlichen  historischen  Begriffe, 
mögen  sie  nun  Erscheinungen  und  Prozesse  in  der  > Natur <  oder  in 
der  >Geschichte<  angehen.  Sie  stehen  nicht  im  absoluten  Gegensatz 
zu  den  Allgemeinbegriffen,  sondern  ihr  Verhältnis  zu  den  einzelnen 
Wahrnehmungen  ist  dem  Verhältnisse  der  Allgemeinbegriffe  zu  den 
einzelnen  Individualitäten  analog.  Eine  Individualität  kann  durch 
keine  einzelne  Wahrnehmung  oder  durch  keinen  einzelnen  Zustand 
ganz  charakterisiert  werden.  Darum  sagt  schon  Leibniz,  daß  jede 
Individualität  in  dem  Gesetze  besteht,  nach  dem  ihre  Aenderungen 
vor  sich  gehen  (La  loi  de  Tordre,  la  loi  du  changement  fait  Tindi- 
vidualit^  de  chaque  substance.  Opera  philos,  ed.  Erdmann  p.  151). 
Der  typische  Individualbegriff  drückt  eben  ein  solches  Gesetz 
aus,  nach  dem  wir  allen  Einzelheiten,  Elementen  oder  Zügen  einen 
bestimmten  Platz  in  dem  ganzen  individuellen  Zusammenhang  geben 
können.  —  Mit  Unrecht  sagt  daher  Rickert  in  seinem  Buche 
>Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung <  p.  295: 
>Von  den  Individuen  gibt  es  keine  Naturwissenschaft,  weil  sich 
nichts  Besonderes  mehr  ihnen  unterordnen  läßt,  im  Ver- 
gleich zu  dem  sie  noch  als  ein  allgemeiner  Begriff  oder  als  eine 
, Natur*  aufzufassen  wärenc  — 

Wie  Rickert  einen  zu  scharfen  Gegensatz  zwischen  dem  All- 
gemeinen und  dem  Einzelnen  statuiert,  so  setzt  er  auch  einen  zu 
scharfen  Gegensatz  zwischen  den  Prinzipien  der  Wertung  (>den  ab- 
soluten, transcendenten,  zeitlosen  Werten  <)  und  der  Wirklichkeit,  die 
gewertet  werden  soll.  Kann  überhaupt  die  zeitliche  Entwickelung 
nach  einem  zeitlosen  Prinzip  beurteilt  werden?  Der  Wert,  der  zu- 
grunde gelegt  wird,  muß  selbst  in  der  Zeit  erfahren  oder  erlebt 
worden  sein,  und  die  Art,  wie  er  aufgefaßt  wird,  muß  das  Gepräge 
einer  bestimmten  Zeit  haben.  Die  Wertungsprinzipien  oder  die 
ewigen  Werte  sollen  freilich  nach  Rickert  rein  formal  sein  —  aber 
dann  regt  sich  eine  neue  Frage:  kann  eine  Form  absoluten 
Wert  haben,  wenn  sie  nicht  der  Rahmen  eines  wertvollen  Inhalts 
ist?  >Vernunft<  und  >Freiheit<  stehen  gewiß  in  erster  Reihe  — 
aber  eben  als  Bedingungen  der  vollen  Entwickelung  des  Lebensinhalts. 
Die  höchsten  Werte   müssen  reale  Werte  sein.    Und  daraus  folgt. 


10  Gott.  gol.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

daß  sie  in  ein  näheres  Verhältnis  zu  Erfahrung  und  zeitlicher  Ent- 
wickelung  treten  müssen. 

Ich  sehe  keine  Gefahr  darin,  die  Grundwerte,  nach  denen  wir 
Handlungen,  Personen,  Begebenheiten  und  Institutionen  beurteilen, 
selbst  als  iu  Entwickelung  begriffen  aufzufassen.  Unsere  letzte  Hypo- 
these könnte  hier  die  sein,  daß  die  Entwickelung  dieser  Grundwerte 
kontinuierlich  ist,  so  daß  der  eine  Grundwert  dem  anderen  nach 
einem  höheren  Gesetze  den  Platz  räumt.  Dadurch  überwindet  man 
den  Dualismus  von  Zeit  und  Zeitlosigkeit ,  der  nicht  nur  gegen  den 
klassischen  deutschen  Idealismus,  sondern  auch  gegen  die  Art  von 
Neokritizismus ,  die  wir  hier  diskutieren,  eine  der  wichtigsten  Ein- 
wendungen ist.  Eine  wirklich  und  konsequent  geschichtliche  Auf- 
fassung muß  die  Realität  des  Zeitbegriffes  ernst  nehmen.  Nur 
dann  können  die  Wertungsprinzipien  einen  realen  Inhalt  bekommen, 
so  daß  wir  nicht  nur  sollen  —  >ura  des  SoUens  willen«.  Freilich, 
eine  abschließende  Wertung  können  wir  dann  niemals  erreichen. 
Aber  Rickert  räumt  in  seinem  größeren  Werke  selbst  ein,  daß  wir 
die  Geschichte  nur  mit  der  Geschichte  kritisieren  können  (p.  742), 
und  daß  uns  die  letzte  Bedeutnng  der  menschlichen  Kulturentwicke- 
lung  »eventuelh  ganz  unbekannt  ist  (p.  641). 

Nur  wenn  er  den  Dogmatismus,  dieses  Erbe  aus  der  Zeit  des 
klassischen  deutschen  Idealismus,  abgestreift  haben  wird,  kann  der 
Neokritizismus  eine  fruchtbare  Fortsetzung  jener  großen  Richtung 
sein.  Jetzt  scheint  es  oft,  als  ob  der  Neokritizismus,  wie  die  fran- 
zösischen Emigranten,  nichts  gelernt  und  nichts  vergessen  hätte. 
Die  Forscherarbeit  des  letzten  Teils  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
wird  eigentlich  als  eine  große  Irrung  betrachtet.  Rickert  erklärt, 
daß  die  Philosophie  unserer  Tage  in  dem  Zeichen  der  Restauration 
steht:  es  gilt,  den  Naturalismus,  den  Kant  und  seine  Nachfolger 
nicht  überwunden  hatten,  zurückzudrängen!  —  Und  doch  haben  wir 
von  diesem  > Naturalismus <  so  viel,  auch  was  »die  Werte <  betrifft, 
gelernt!  Die  darwinistische  Entwicklungslehre  hat  uns  —  welches 
auch  ihr  Schicksal  innerhalb  der  Naturwissenschaft  sein  wird  —  ge- 
lehrt, das  auch  das  Wertvolle  kämpfen  muß,  um  zu  bestehen,  und 
daß  die  Wertbegriffe  in  Fleisch  und  Blut  auftreten  müssen,  wenn 
sie  wirklichen  Einfluß  üben  sollen.  Eine  ähnliche  Bedeutung  hat 
Karl  Marx'  >  materialistische  <  Geschichtsphilosophie.  Sie  ist  —  darin 
hat  Rickert  Recht  —  keine  rein  theoretische  Betrachtung,  indem  sie, 
ohne  es  selbst  zu  wissen,  mit  ethischen  Wertbegriffen*)  operiert; 

1)  Rickert  hätte  sogar  zeigen  können,  daB  Marx  eigentlich  das  kantische 
Moralprinzip  voraussetzt.  Vergl.  Das  Kapital*,  I,  p.  646:  »In  der  kapitalisti- 
achen  Produktionsweise  ist  der  Arbeiter  für  die  Verwertungsbedürfnisse  vorhandener 


Die  Philosophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  11 

aber  sie  lehrt  uns,  daß  eine  gesunde  soziale  Entwickelung  nicht  ohne 
eine  ökonomische  Basis  und  eine  gerechte  Verteilung  der  elementaren 
Lebensgüter  möglich  ist.  —  Oft  lernt  man  eine  bessere  Ethik  von 
dem  verachteten  Naturalismus  als  von  dem  transcendenten  Idealismus. 
Es  ist  nicht  gut,  wenn  die  Ideen  zu  hoch  über  dem  Leben  schweben. 

3.  Die  Gesichtspunkte,  die  wir  in  Rickerts  Abhandlung  ausführ- 
lich entwickelt  finden,  charakterisieren  auch  die  anderen,  noch  nicht 
erwähnten  Beiträge,  die  durchgehend  kürzer  sind. 

Windelband,  der  Grundleger  der  Gedankenrichtung,  die  den 
meisten  Beiträgen  zur  Festschrift  ihr  Gepräge  gibt,  hat  die  Ab- 
schnitte über  Geschichte  der  Philosophie  und  Logik  geschrieben. 

Es  ist  sehr  interessant,  einen  Forscher,  der  selbst  so  viel  auf 
dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie  geleistet  hat,  über  dieses 
Thema  zu  hören.  Er  findet'  die  Bedeutung  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie darin,  daß  sie  uns'über  den  engen  Horizont  der  psychologischen 
Erfahrung  hinausführt  und  unseren  Blick  den  allgemeingültigen  Wahr- 
heiten und  Werten  "eröffnet:  > der  Mensch  als  Vemunftwesen  ist  nicht 
naturnotwendi|f^gegeben,  sondern  historisch  aufgegeben«.  Ich  möchte 
hier  doch^|pf{^zufügen,  daß  historische  Elemente  nicht  nur  von  außen 
komm^  sondern  daß  jeder  Mensch  solche  Elemente  in  seiner  psycho- 
*^Wien  Erfahrung  findet;  sie  haben  sich  von  Anfang  an  in  sein 
"^'ußtsein  hineingewebt,  und  auch  ohne  eigentliches  Studium  der 
eschichte  können  die  großen  Probleme  sich  erheben.  Dann  wird 
i'reilich  ein  Drang  entstehen,  sich  an  der  Geschichte  der  Probleme 
zu  orientieren.  Und  diese  historische  Orientierung  braucht  nicht  nur 
Mittel  zu  sein;  sie  hat  ihren  selbständigen  Wert,  wie  jede  geschicht- 
liche Betrachtung  einen  solchen  hat.  Es  ist  Hegels  Verdienst,  die 
große  Bedeutung  der  Geschichte  der  Philosophie  sowohl  als  Mittel 
wie  als  Zweck  dargetan  zu  haben.  Ich  glaube  aber,  daß  Windelband 
ungerecht  gegen  Fries  ist,  wenn  er  ihn  in  dieser  Beziehung  in 
scharfen  Gegensatz  zu  Hegel  stellt.  Es  war  nicht  Fries'  Meinung, 
den  Menschen  nur  als  >  Natur wesen«  aufzufassen.  Auch  er  hebt  die 
Bedeutung  der  objektiven  Mächte  hervor,  und  in  seiner  verdienst- 
vollen > Geschichte  der  Philosophie«  hat  er  besonders  den  Einfluß 
der  modernen  Naturwissenschaft  hervorgehoben;  er  hat  z.  B.  das 
Verdienst,  auf  Galileis  Bedeutung  für  die  Wissenschaft  und  das 
Denken  der  Neuzeit  energisch  hingewiesen  zu  haben.  — 

In  dem  Abschnitte  über  Logik  macht  Windelband  mit  Recht  auf 
die  hervorragende  Stellung  aufmerksam,  die  die  Lehre  von  den  Ur- 

Werte,   statt  umgekehrt   der   gegenständliche  Reirlitiim   für   die  Rntwickelangs- 
l>edürfnis8e  des  Arbeiters  da.c 


10  Öött.  gel.  Am.  1906.  Nr.  1. 

daß  sie  in  ein  näheres  Verhältnis  zu  Erfahrung  und  zeitlicher  Ent- 
Wickelung  treten  müssen. 

Ich  sehe  keine  Gefahr  darin,  die  Grundwerte,  nach  denen  wir 
Handlungen,  Personen,  Begebenheiten  und  Institutionen  beurteilen, 
selbst  als  iu  Entwickelung  begriffen  aufzufassen.  Unsere  letzte  Hypo- 
these könnte  hier  die  sein,  daß  die  Entwickelung  dieser  Grundwerte 
kontinuierlich  ist,  so  daß  der  eine  Grundwert  dem  anderen  nach 
einem  höheren  Gesetze  den  Platz  räumt.  Dadurch  überwindet  man 
den  Dualismus  von  Zeit  und  Zeitlosigkeit ,  der  nicht  nur  gegen  den 
klassischen  deutschen  Idealismus,  sondern  auch  gegen  die  Art  von 
Neokritizismus ,  die  wir  hier  diskutieren,  eine  der  wichtigsten  Ein- 
wendungen ist.  Eine  wirklich  und  konsequent  geschichtliche  Auf- 
fassung muß  die  Realität  des  Zeitbegriffes  ernst  nehmen.  Nur 
dann  können  die  Wertungsprinzipien  einen  realen  Inhalt  bekommen, 
so  daß  wir  nicht  nur  sollen  —  »um  des  SoUens  willen«.  Freilich, 
eine  abschließende  Wertung  können  wir  dann  niemals  erreichen. 
Aber  Rickert  räumt  in  seinem  größeren  Werke  selbst  ein ,  daß  wir 
die  Geschichte  nur  mit  der  Geschichte  kritisieren  können  (p.  742), 
und  daß  uns  die  letzte  Bedeutnng  der  menschlichen  Eulturentwicke- 
lung  >eventuell<  ganz  unbekannt  ist  (p.  641). 

Nur  wenn  er  den  Dogmatismus,  dieses  Erbe  aus  der  Zeit  des 
klassischen  deutschen  Idealismus,  abgestreift  haben  wird,  kann  der 
Neokritizismus  eine  fruchtbare  Fortsetzung  jener  großen  Richtung 
sein.  Jetzt  scheint  es  oft,  als  ob  der  Neokritizismus,  wie  die  fran- 
zösischen Emigranten,  nichts  gelernt  und  nichts  vergessen  hätte. 
Die  Forscherarbeit  des  letzten  Teils  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
wird  eigentlich  als  eine  große  Irrung  betrachtet.  Rickert  erklärt, 
daß  die  Philosophie  unserer  Tage  in  dem  Zeichen  der  Restauration 
steht:  es  gilt,  den  Naturalismus,  den  Kant  und  seine  Nachfolger 
nicht  überwunden  hatten,  zurückzudrängen!  —  Und  doch  haben  wir 
von  diesem  >Naturalismus<  so  viel,  auch  was  »die  Werte<  betrifft, 
gelernt!  Die  darwinistische  Entwickelungslehre  hat  uns  —  welches 
auch  ihr  Schicksal  innerhalb  der  Naturwissenschaft  sein  wird  —  ge- 
lehrt, das  auch  das  Wertvolle  kämpfen  muß,  um  zu  bestehen,  und 
daß  die  Wertbegriffe  in  Fleisch  und  Blut  auftreten  müssen,  wenn 
sie  wirklichen  Einfluß  üben  sollen.  Eine  ähnliche  Bedeutung  hat 
Karl  Marx'  > materialistische«  Geschichtsphilosophie.  Sie  ist  —  darin 
hat  Rickert  Recht  —  keine  rein  theoretische  Betrachtung,  indem  sie, 
ohne  es  selbst  zu  wissen,  mit   ethischen  Wertbegriffen*)  operiert; 

1)  Rickert  hätte  sogar  zeigen  können,  daB  Marx  eigentlich  das  kantische 
Moralprinzip  voraussetzt.  Yergl.  Das  Kapital^  I,  p.  646:  »In  der  kapitalisti- 
schen Produktionsweise  ist  der  Arbeiter  für  die  Verwertungsbedürfnisse  vorhandener 


Die  Phflosophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  11 

aber  sie  lehrt  uns,  daß  eine  gesunde  soziale  Entwickelung  nicht  ohne 
eine  ökonomische  Basis  und  eine  gerechte  Verteilung  der  elementaren 
Lebensgüter  möglich  ist.  —  Oft  lernt  man  eine  bessere  Ethik  von 
dem  verachteten  Naturalismus  als  von  dem  transcendenten  Idealismus. 
Es  ist  nicht  gut,  wenn  die  Ideen  zu  hoch  über  dem  Leben  schweben. 

3.  Die  Gesichtspunkte,  die  wir  in  Rickerts  Abhandlung  ausführ- 
lich entwickelt  finden,  charakterisieren  auch  die  anderen,  noch  nicht 
erwähnten  Beiträge,  die  durchgehend  kürzer  sind. 

Windelband,  der  Grundleger  der  Gedankenrichtung,  die  den 
meisten  Beiträgen  zur  Festschrift  ihr  Gepräge  gibt,  hat  die  Ab- 
schnitte über  Geschichte  der  Philosophie  und  Logik  geschrieben. 

Es  ist  sehr  interessant,  einen  Forscher,  der  selbst  so  viel  auf 
dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie  geleistet  hat,  über  dieses 
Thema  zu  hören.  Er  findet  die  Bedeutung  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie darin,  daß  sie  uns  über  den  engen  Horizont  der  psychologischen 
Erfahrung  hinausführt  und  unseren  Blick  den  allgemeingültigen  Wahr- 
heiten und  Werten  eröffnet:  > der  Mensch  als  Vemunftwesen  ist  nicht 
naturnotwendig  gegeben,  sondern  historisch  aufgegeben«.  Ich  möchte 
hier  doch  hinzufügen,  daß  historische  Elemente  nicht  nur  von  außen 
kommen,  sondern  daß  jeder  Mensch  solche  Elemente  in  seiner  psycho- 
logischen Erfahrung  findet;  sie  haben  sich  von  Anfang  an  in  sein 
Bewußtsein  hineingewebt,  und  auch  ohne  eigentliches  Studium  der 
Geschichte  können  die  großen  Probleme  sich  erheben.  Dann  wird 
freilich  ein  Drang  entstehen,  sich  an  der  Geschichte  der  Probleme 
zu  orientieren.  Und  diese  historische  Orientierung  braucht  nicht  nur 
Mittel  zu  sein;  sie  hat  ihren  selbständigen  Wert,  wie  jede  geschicht- 
liche Betrachtung  einen  solchen  hat.  Es  ist  Hegels  Verdienst ,  die 
große  Bedeutung  der  Geschichte  der  Philosophie  sowohl  als  Mittel 
wie  als  Zweck  dargetan  zu  haben.  Ich  glaube  aber,  daß  Windelband 
ungerecht  gegen  Fries  ist,  wenn  er  ihn  in  dieser  Beziehung  in 
scharfen  Gegensatz  zu  Hegel  stellt.  Es  war  nicht  Fries'  Meinung, 
den  Menschen  nur  als  >Naturwesen«  aufzufassen.  Auch  er  hebt  die 
Bedeutung  der  objektiven  Mächte  hervor,  und  in  seiner  verdienst- 
vollen > Geschichte  der  Philosophie«  hat  er  besonders  den  Einfluß 
der  modernen  Naturwissenschaft  hervorgehoben;  er  hat  z.  B.  das 
Verdienst,  auf  Galileis  Bedeutung  für  die  Wissenschaft  und  das 
Denken  der  Neuzeit  energisch  hingewiesen  zu  haben.  — 

In  dem  Abschnitte  über  Logik  macht  Windelband  mit  Recht  auf 
die  hervorragende  Stellung  aufmerksam,  die  die  Lehre  von  den  Ur- 

Werte,  statt  umgekehrt  der  gegenständliche  Reiclitiim  für  die  Rntwickelangs- 
bedürfnisse  des  Arbeiters  da.c 


12  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  1. 

teilen  in  der  neueren  Logik  einnimmt.  Begriflfe  werden  nur  als 
Elemente  oder  Resultate  von  Urteilen,  Schlüsse  als  Kombinationen 
von  Urteilen  aufgefaßt.  Ferner  weist  er  auf  die  durch  Sigwart  und 
Lotze  durchgeführte  Simplifizierung  und  Reduktion  der  alten  Urteils- 
lehre. Hier  hätten  Maimon  und  Herbart  als  bahnbrechende  Vorgänger 
erwähnt  werden  sollen. 

Dem  logischen  Algorithmus  gegenüber  scheint  mir  Windelband 
nicht  gerecht  zu  sein.  Das  große  Werk  Booles,  das  ein  so  interessantes 
Licht  auf  das  Verhältnis  von  Logik  und  Mathematik  wirft,  wird  gar 
nicht  erwähnt,  und  doch  ist  hier  eine  weit  bedeutungsvollere  Arbeit 
getan  als  in  William  Hamiltons  >Quantifikation  des  Prädikats«.  Es 
ist  auch  nicht  so,  wie  es  nach  Windelbands  Darstellung  scheinen 
könnte,  daß  der  logische  Algorithmus  immer  den  Umfang  der  Begrifife 
zugrunde  gelegt  hat.  In  seinen  logischeD  Arbeiten  hat  Jevons  einen 
bedeutungsvollen  Versuch  gemacht,  den  InJiaJt  der  Begrifife  zugrunde 
zu  legen,  während  die  Logik  mit  Aristoteles  den  Umfang  bevorzugt 
hat  (Leibniz  macht  nur  eine  Ausnahme).  — 

Ein  in  vielen  Rücksichten  feiner  und  interessan*^  Beitrag  ist 
die  Abhandlung  von  Tröltsch  über  Religionsphilosophiö.    Sie  gibt 
gute  Charakteristiken   der  verschiedenen  Richtungen  des  riÄligiösen 
Denkens  der  Gegenwart.    Selbst  sucht  sie  auf  dem  Grundgedanken 
des  Neokritizismus,  wie  wir  diesen  schon  kennen,  zu  bauen ;  nur  ^ß^ 
Tröltsch  nicht,  wie  Windelband  und  Rickert,  das  transcendente  Sei^ 
aufgeben,  um  sich   an  den  transcendenten  Werten  zu  halten.    Er 
steht  in    dieser   Beziehung  Eucken    nahe.     Auch   betont    er    noch 
stärker  als  jene  Forscher  den  Unterschied  zwischen  Erkenntnistheorie 
und  Psychologie.    Er  Schließt  aus  diesem  Unterschied,  der  bei  ihm  zu 
einem  wahren  Dualismus  wird,   daß  das  Denken  in  seinen  Normen 
dem  Naturlaufe  frei  gegenübersteht.    Aber  wir  sind  doch  alle,  selbst 
wenn  wir  unsern  höchsten,   den  Naturlauf  prüfenden  und  wertenden 
Gedanken  denken,  selbst  in  einem  bestimmten  psychischen  Zustande, 
stehen   also   mitten  im    Naturlaufe!     Und   geschichtlich   finden   wir 
immer  auch  eine  Wechselwirkung  zwischen  den  Normen  der  Wertung 
und  den  faktischen  Zuständen.    Unser  Denken  kann  sich  über  das 
Gegebene  erheben,   aber  wie  Antaios  holt  es   immer   wieder  seine 
Energie  von  der  Berührung  mit  dem  festen  Boden  der  Natur. 

An  mehreren  Stellen  der  Abhandlung  merkt  man,  daß  man  einen 
Theologen,  keinen  reinen  Philosophen  vor  sich  hat.  Der  Kritizismus 
bietet  immer,  selbst  wenn  er  noch  so  dualistisch  aufgefaßt  wird, 
große  Schwierigkeiten  für  den  Theologen  dar.  Denn  der  Kritizismus 
verwirft  allen  Anthropomorphismus,  jeden  Versuch,  das  >Intelligible< 
in  menschlichen  Formen  zu  denken.    Tröltsch  glaubt,  daß  man  hier 


Die  Philosophie  am  Beginn  des  20.  Jahrhunderts.  13 

zwischen  Anthropomorphismus  und  > Personalismus«  unterscheiden 
muß.  Aber  wir  kennen  ja  doch  nur  persönliches  Leben  vom  Menschen 
her,  und  müssen  darum  jede  Persönlichkeit  in  Formen  menschlicher 
Psychologie  verstehen !  —  Femer  sucht  Tröltsch  für  die  Begriffe  der 
Offenbarung  und  des  Wunders  einen  Platz  offen  zu  halten.  Und  er 
findet  dies  möglich,  wenn  man  nur  nicht  diese  Begriffe  in  > äußer- 
licher« Weise  auffaßt.  Es  ist  aber  nicht  leicht  zu  verstehen,  welcher 
Modifikation  diese  Begriffe  unterworfen  werden  können,  wenn  etwas 
mehr  als  die  bloßen  Worte  zurückbleiben  sollen.  —  Das  eigentliche 
Motiv  für  die  konservative  Haltung  Tröltschs  auf  diesem  Punkte  ist 
sein  Interesse  für  die  soziale  Seite  der  Religion.  Nur  in  einer  Ge- 
meinschaft mit  absoluten,  positiven,  über  das  Schwanken  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  und  über  das  Chaos  der  individuellen  Meinungen 
erhobenen  Normen  kann  nach  ihm  die  Religion  Existenz  und  Be- 
deutung haben.  In  dem  Individualismus  sieht  er  ein  Zeichen  der 
Auflösung.  Er  hofft  auf  ein  neues,  freieres  religiöses  Leben,  eine  neue 
religiöse  Entwickelung,  und  er  hofft  ferner,  daß  das  Neue  innerhalb 
der  Kirche  entspringen  wird;  nur  dann,  meint  er,  wird  die  not- 
wendige > elementare  Kraft«  in  den  Dienst  des  Neuen  treten  können. 
Es  wäre  interessant  gewesen,  wenn  Tröltsch  diesen  letzten  Gedanken 
näher  entwickelt  hätte.  Ich  finde  ein  Hauptmoment  des  religiösen 
Problems  der  Jetztzeit  darin,  ob  die  ernste  und  innerliche  geistige 
Konzentration  für  das  persönliche  Leben  erhalten  werden  kann,  wenn 
der  kirchliche  Glaube  in  seiner  überlieferten  Form  aufgegeben  ist. 
Ich  finde  leider  keine  Anzeichen,  daß  die  Kirche  sich  so  fortbilden 
wird,  daß  neue,  freie  Richtungen  sich  aus  ihr  entwickeln  könnten.  — 

Auch  in  Lasks  Abhandlung  über  Rechtsphilosophie  liegen  die 
uns  jetzt  hinlänglich  bekannten  Prinzipien  zugrunde.  In  der  ersten 
Abteilung  seiner  Arbeit  behauptet  Lask  den  Dualismus  von  Wert 
und  Wirklichkeit,  besonders  im  Gegensatz  zur  rationalen,  platoni- 
sierenden  Metaphysik,  die  die  überempirischen  Werte  zu  realen 
Mächten  hypostasieren  will,  aber  auch  im  Gegensatz  zum  Historismus, 
der  Wert  und  empirisches  Bestehen  vermischt.  —  In  der  zweiten 
Abteilung  wird  dann  das  Verhältnis  zwischen  der  faktischen  Kultur 
und  dem  faktischen  Recht  auf  der  einen  Seite,  den  idealen  Kultur- 
werten auf  der  anderen  Seite  untersucht.  Es  wird  ein  scharfer 
Unterschied  behauptet  zwischen  der  sozialwissenschaftlichen  und  der 
streng  rechtlichen  Betrachtungsweise,  und  gegen  die  Vermischung 
beider  in  der  sogenannten  >  allgemeinen  Rechtslehre  <  polemisiert.  — 

Was  endlich  Bruno  Bauchs  Abhandlung  über  Ethik  betrifft, 
kann  ich  nicht  umhin  zu  sagen,  daß  sie  für  mich  ein  Beispiel  ist, 
wie  man  über  Ethik  nicht  schreiben  soll.    Der  größte  Teil  der  Ab* 


14  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

handluDg  besteht  aus  einer  Polemik  gegen  Naturalismus,  Utilitaria- 
nismus  und  Nitzscheanismus,  einer  Polemik,  die  teils  den  Charakter 
einer  Predigt,  teils  den  einer  Earrikierung  hat.  Doch  meint  der 
Verfasser  einen  Bundesgenossen  gegen  den  Utilitarianismus  in  Nietzsche 
zu  finden,  obgleich  dieser  die  kantische  Moral  eben  so  stark  als  die 
utilitarische  angegriffen  und  verhöhnt  hat  —  und  selbst  eigentlich  ein 
Utilitarianer  im  großen  Stil  ist.  —  Der  Verfasser  behauptet  den 
rein  formalen  Maßstab  des  Ethischen,  den  wir  schon  im  vorher- 
gehenden getroffen  haben:  wir  sollen  wollen  >um  des  Solleos  willen  € ! 
Daraus  folgt  als  einfache  Konsequenz,  daß  »der  Inhalt  der  Handlung 
selbst  ganz  gleichgültig  gegen  ihren  Wert  ist«.  Weiter  kann  man 
den  Dualismus  von  Wert  und  Wirklichkeit,  Form  und  Inhalt  nicht 
treiben.  Charakteristisch  für  diese  Art  von  Ethik  ist  es  besonders, 
daß  jede  Rücksicht  auf  die  Wirkungen  der  Handlungen  abgewiesen 
wird.  Man  schwebt  in  den  Wolken,  und  ob  die  >empirische<  Welt 
durch  die  Handlungen,  die  wir  unternehmen  (wenn  wir  der  Erde  so 
nahe  kommen,  daß  wir  überhaupt  einen  Einfluß  auf  sie  üben  können), 
stehe  oder  falle,  das  soll  ganz  gleichgültig  sein!  —  Dieser  ganzen 
Auffassung  liegt  nicht  nur  der  jetzt  hinlänglieh  besprochene  Dualis- 
mus von  Wert  und  Wirklichkeit  zugrunde,  sondern  bereits  eine 
künstliche  Umkehrung  des  natürlichen  Verhältnisses  zwischen  den 
drei  Begriffen  Wert,  Zweck  und  Norm.  Nur  was  ich  in  der  Wirk- 
lichkeit als  Wert  erfahre,  kann  ich  (wenn  es  nicht  mein  unmittel- 
bares Los  ist)  als  meinen  Zweck  aufstellen,  und  die  Norm  gibt 
dann  die  Mittel  und  Wege  an,  mittelst  welcher  ich  den  Zweck  werde 
erreichen  können.  Dies  ist  der  natürliche  und  rationelle  Platz  der 
Norm  auf  den  höchsten  Gebieten,  wie  auf  den  niedrigsten.  Kant 
tat  einen  schicksalsschweren  Schritt,  als  er  mit  der  Norm  anfangen 
wollte,  und  Zwecke  und  Werte  aus  ihr  abzuleiten  versuchte.  Diese 
Ableitung  ist  einfach  unmöglich,  und  was  der  große  Meister  nicht 
vermocht  hat,  ist  auch  den  Neokritizisten  nicht  gelungen;  sie  haben 
es  nicht  einmal  versucht. 

Kopenhagen.  Harald  Höffding. 


üntennolisiiten  sar  Gegenstandstheorie  und  Psychologie.    Herausgegeben  von 
A.  Mein  on g.    Leipzig,  J.A.  Barth,  1904.    X,  634  S.    M.  18. 

Zum  zehnjährigen  Bestände  des  psychologischen  Laboratoriums 
der  Universität  Graz  hat  Meinong  mit  seinen  Schülern  ein  stattliches 
Buch  herausgegeben,  das  elf  philosophische  und  psychologische  Ab- 
bandlungen umfaßt  und  einen  erfreulichen  Einblick   gewährt  in  das 


üntersuchimgeii  zur  GegcDStandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      16 

rege  wissenschaftliche  Leben  in  den  Grazer  »philosophischen  Instituten«. 
Wenn  wir  im  folgenden  den  Versuch  machen,  die  einzelnen  Arbeiten 
kritisch  zu  betrachten  und  den  Ertrag  zusammenzufassen,  der  aus 
ihnen  unserm  pl^losophischen  Denken  und  Erkennen  zu  erwachsen 
scheint,  so  muß  im  Voraus  betont  werden,  daß  alle  Kritik  im  einzelnen 
der  Schätzung  des  ganzen  keinen  Abbruch  thun  soll.  Unsere  Schätzung 
der  philosophischen  Arbeit  Meinongs  und  seiner  Schule  ist  unabhängig 
von  der  Stellungnahme,  zu  der  wir  gegenüber  dem  oder  jenem  Er- 
gebnis derselben  glauben  gelangen  zu  müssen,  und  die  wissenschaft- 
liche Liberalität,  die  gerade  im  Meinongschen  Kreise  herrscht,  ver- 
dient es  wohl,  durch  offene  sachliche  Kritik  respektiert  zu  werden. 
In  diesem  Sinne  wollen  die  folgenden  Betrachtungen,  die  jeweils 
mit  den  Titeln  der  behandelten  Arbeiten  bezeichnet  werden  sollen, 
aufgenommen  sein. 


Ueber  Gegenstandstheorie.    Von  A.  Meinong.    S.  1—50. 

Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie.  Von 
Dr.  Rudolf  Ameseder.    S.  51—120. 

Untersuchungen  zur  Gegenstandtstheorie  des  Messens.  Von 
Dr.  Ernst  Mally.    S.  121—262. 

Die  ersten  drei  Beiträge  der  Meinongschen  Untersuchungen,  be- 
schäftigen sich  mit  der  Begründung  einer  neuen  Wissenschaft,  der 
Gegenstandstheorie,  und  sollen  daher  im  Zusammenhang  besprochen 
werden.  Dabei  liegt  es  jedoch  in  der  Natur  der  drei  von  Meinong, 
Ameseder  und  Mally  verfaßten  Abhandlungen,  von  denen  die  erste 
eine  allgemeine  Grundlegung,  die  letzteren  etwas  speziellere  Aus- 
führungen zur  Gegenstandstheorie  enthalten,  daß  wir  zunächst  die 
prinzipiellen  Darlegungen  Meinongs  ins  Auge  fassen  müssen,  wobei 
freilich  schon  gelegentlich  abweichende  Definitionen  der  beiden  anderen 
Autoren  zu  erwähnen  sind.  Auf  der  so  gewonnenen  Basis  können 
dann  die  Detailausführungen  Ameseders  und  Mallys  ihre  Würdigung 
finden. 

Wenn  es  sich  um  die  Begründung  einer  neuen  Wissenschaft 
handelt,  dann  erhebt  sich  zunächst  die  Frage,  ob  durch  die  betreffende 
Wissenschaft  unsere  Erkenntnis  bereichert  wird  oder  ob  nur  das 
schon  vorhandene  Wissen  einen  besonderen  Zusammenschluß  findet. 
Betrachten  wir  im  Hinblick  darauf  die  Gegenstandtstheorie,  so 
können  wir  ohne  weiteres  konstatieren,  daß  eine  Bereicherung  unseres 
Wissens  durch  dieselbe  nicht  herbeigeführt  wird.  Mit  der  entgegen- 
gesetzten Auffassung  Meinongs  haben  wir  uns  zunächst  auseinander- 
zusetzen. 


16  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Meinong  bezeichnet  die  Gegenstandstheorie  als  diejenige  Wissen- 
schaft, die  es  mit  der  theoretischen  Behandlung  des  Gegenstandes 
als  solchen  zn  thun  hat.  Was  man  unter  dem  Begriff  > Gegenstand« 
zu  denken  hat,  wird  durch  den  Hinweis  auf  das  eigentämliche  >auf 
etwas  Gerichtetsein«  aller  oder  jedenfalls  der  meisten  psychischen 
Vorgänge  dargethan.  Das  > Etwas«  nämlich,  welches  beim  Vorstellen, 
Urteilen,  Annehmen  u.  s.  w.  erfaßt  wird,  ist  nach  Meinong  der 
Gegenstand.  Entsprechend  definiert  auch  Ameseder  > Gegenstand« 
als  das  >Erfaßte,  was  mit  dem  erfassenden  Psychischen  nicht,  auch 
nicht  teilweise  identisch  ist«.  Und  Mally  sagt  ganz  kurz:  > Alles, 
was  etwas  ist,  ist  ein  Gegenstand.«  Bei  dieser  Bestimmung  des  Be- 
griffs >Gegen8taDd«  werden  wir  es  begreiflich  finden,  wenn  uns  er- 
klärt wird,  daß  die  Summe  der  Gegenstände  nicht  mit  dem  Inbegriff 
der  Wirklichkeit  zusammenfällt,  daß  also  die  Gegenstandstheorie 
weder  mit  der  Summe  der  einzelnen  Wissenschaften  vom  Wirklichen 
noch  mit  der  allgemeinen  Wirklichkeitswissenschaft,  der  Metaphysik 
zusammenfallt.  Wir  werden  infolgedessen  auch  die  Idee  einer  neuen 
Wissenschaft  berechtigt  finden,  welche  die  Gegenstände  ohne  Rück- 
sicht auf  ihre  wirklichen  Eigenschaften,  Funktionen  und  Beziehungen, 
ohne  Rücksicht  auf  Existenz  und  Nichtexistenz  nur  hinsichtlich  der- 
jenigen Eigentümlichkeiten  untersucht,  die  sie  als  Gegenstände  des 
Erkennens  besitzen.  Die  Beschaffenheit  möglicher  Denkgegenstände 
und  die  Gesetzmäßigkeiten,  die  sich  zwischen  solchen  konstatieren 
lassen,  würden  vor  allem  von  einer  derartigen  Wissenschaft  zu  er- 
forschen sein.  Ebendies  ist  aber  bereits  das  Arbeitsgebiet  ganz  be- 
stimmter Wissenschaften,  nämlich  der  Logik  und  der  Mathematik. 
Wenn  daher  Meinong  nur  beabsichtigen  würde,  diese  Wissenschaften 
unter  dem  neuen  Namen  »Gegenstandstheorie«  zusammenzufassen,  so 
ließe  sich  dagegen  nicht  viel  einwenden. 

Aber  die  Absicht  Meinongs  und  seiner  Schüler  geht  viel  weiter. 
Weder  soll  die  Mathematik  die  mathematischen  Gegenständen  gegen- 
über mögliche  Gegenstandstheorie  überhaupt  darstellen,  noch  soll 
sich  die  Gegenstandstheorie  auf  Mathematik  und  Logik  beschränken. 
Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  erfahren  wir,  daß  der  Mathematik 
als  spezieller  Gegenstandtstheorie  eine  allgemeine  Gegenstandstheorie 
gegenübertrete,  und  hinsichtlich  des  zweiten  Punktes  wird  uns  mit- 
geteilt, daß  die  Gegenstandstheorie  auch  Gegenstände  wie  das  >runde 
Vierecke  in  den  Kreis  ihrer  Untersuchungen  zieht,  Gegenstände,  die 
von  der  Mathematik  und  von  der  Logik  verschmäht  werden.  Da- 
gegen sei  nun  vor  allem  bemerkt,  daß  die  Beschäftigung  mit  der- 
artigen Gegenständen  kaum  eine  ersprießliche  Erweiterung  unserer 
Kenntnisse  ergeben  wird,   daß  sie  vielmehr  geeignet  scheint,  die 


Untersachuogen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      17 

Philosophie  auf  einen  Standpunkt  zurückzubringen,  den  man  heut- 
zutage zum  Glück  größtenteils  überwunden  hat.  Ein  Satz,  wie  der 
YonAmeseder  (p.  63)  produzierte:  >£in  rundes  Viereck,  welches  ist, 
wäre  nioht  nur  nicht,  sondern  es  wäre  sit  venia  verbo  als  etwas,  was 
kein  Gegenstand  ist,  zu  bezeichnen«  —  ein  solcher  Satz  sollte  von 
einem  Philosophen  der  Gegenwart  besser  vermieden  werden,  und 
Spekulationen  gegenüber,  die  zu  derartigen  Resultaten  führen,  kann 
man  sich  eines  gewissen  Mißtrauens  nicht  erwehren. 

Doch  dies  nur  nebenbei.  Es  ist  sicherlich  nicht  Meinongs  Ab- 
sicht, im  Reich  unmöglicher  Denkgegenstände  neue  Erkenntnisse  zu 
suchen.  Wichtiger  ist  ihm  wohl  der  Nachweis,  den  er  führen  zu 
können  glaubt,  daß  Logik  und  Mathematik  die  Behandlung  der  mög- 
lichen Denkgegenstände  nicht  erschöpfen.  Es  fragt  sich  daher  haupt- 
sächlich, ob  wir  dies  zugeben  dürfen.  Berücksichtigen  wir  die  Tat- 
sache, daß  der  einzelwissenschaftlichen  Mathematik  eine  Philosophie 
der  Mathematik  gegenübergestellt  worden  ist,  so  scheint  dies  anfäng- 
lich vidleicht  zu  gunsten  der  Meinongschen  Behauptung  zu  sprechen. 
Aber  wenn  wir  die  Philosophie  der  Mathematik  näher  betrachten,  so 
löst  sie  sich  auf  in  Logik  und  Erkenntnistheorie.  Bringen  wir  davon 
in  Abzug,  was  ins  Gebiet  der  Psychologie  gehört,  so  behalten  wir 
gegenstandstheoretische  Gedankengänge  übrig,  wie  sie  uns  aus  logi- 
schen Untersuchungen  bekannt  sind,  sofern  nicht  allgemeinste  mathe- 
matische Formulierungen  zurückbleiben,  die  trotz  aller  Allgemeinheit 
eben  doch  immer  noch  zur  Mathematik  gehören. 

Nun  bestreitet  Meinong  freilich,  daß  gegenstandstheoretische 
Untersuchungen  überhaupt  in  die  Logik  gehören  und  zwar  scheint 
er  diese  Behauptung  in  dem  Sinn  für  umkehrbar  zu  halten,  daß  die 
gewöhnlichen  logischen  Ueberlegungen  nichts  mit  Gegenstandstheorie 
zu  tun  haben  sollen.  Wenigstens  erklärt  er  in  einer  Auseinander- 
setzung mit  Husserl,  daß  die  »reine  Logik <,  die  mit  > Begriffen«, 
> Sätzen«  und  »Schlüssen«  sich  beschäftige,  schließlich  doch  nichts 
anderes  als  intellektuelle  Vorgänge  zum  Gegenstand  habe. 

Wäre  dies  nun  richtig,  so  würden  wir  nichtsdestoweniger  daran 
festhalten,  daß  die  Philosophie  der  Mathematik  nur  so  viel  Gegen- 
standstheorie enthalte,  als  Gegenstandstheoretisches  in  Mathematik 
und  Logik  gefunden  werden  kann.  In  dieser  Ansicht  können  uns 
auch  die  Beispiele  nicht  irre  machen,  die  Meinong  anführt,  um  zu 
zeigen,  wie  auf  außermathematischem  (und  außerlogischem)  Gebiet 
Gtogenstandstheorie  betrieben  werden  könne.  Als  derartiges  Beispiel 
findet  sich  zunächst  der  Hinweis  auf  die  Behandlungsweise  »more 
mathematico«  nichtmathematischer  Wissenschaften,  ein  Hinweis,  der 
freilieb  zu  allgemein  und  unbestimmt  ist,  um  besonders  aufklärend 

0Mi  fri.  Am.  im.  Xr.  L  2 


18  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

ZU  wirken.  Doch  dem  läßt  sich  ja  abhelfen.  Denken  wir  an  dus 
klassische  Beispiel  mathematischer  Darstellungsweise  auf  nichtmathe- 
matischem Gebiet,  an  Spinozas  Ethik,  so  können  wir  konstatieren, 
daß  das,  was  der  Mathematik  eigentümlich  ist,  die  Beschäftigung 
mit  Zahlen  und  Größen,  hier  wegfällt.  Was  erhalten  bleibt,  ist 
lediglich  das  Logische,  das  freilich  in  der  Mathematik  besonders 
scharfe  Ausprägung  gefunden  hat,  das  aber  jedenfalls  der  Mathematik 
nicht  spezifisch  zukommt.  Definitionen,  Lehrsätze  und  deduktive 
Beweise  —  das  ist  doch  nichts  anderes  als  angewandte  Logik,  und 
wenn  Meinong  die  Beschäftigung  mit  Begriffen,  Urteilen  und  Schlüssen 
für  etwas  anderes  als  Gegenstandstheorie  hält,  dann  darf  er  doch 
nicht  in  einem  Werk  wie  Spinozas  Ethik  einen  Beitrag  zur  Gegen- 
standstheorie sehen. 

Als  zweites  Beispiel  für  den  Betrieb  gegenstandstheoretischer 
Forschung  auf  außermathematischem  Gebiet  erwähnt  Meinong  die 
Uebertragung  geometrischer  Betrachtungsweisen  vom  Raum  auf  die 
Zeit  oder  die  >  Bemühungen  der  modernen  Psychologie,  die  den  ver- 
schiedenen Sinnen  zugehörigen  ,  Enipfindungsgegenstände '  zu  ordnen 
und  ihre  Mannigfaltigkeiten  wo  möglich  durch  räumliche  Abbildung 
zu  erfassen«.  Hier  liegt  die  Sache  für  uns  womöglich  noch  einfacher. 
Die  Darstellung  irgend  welcher  Verhältnisse  in  räumlichen  Figuren 
und  die  Schlußfolgerungen,  welche  aus  den  geometrischen  Eigen- 
schaften dieser  Figuren  gezogen  werden,  um  wieder  andere  Verhält- 
nisse zu  symbolisieren  —  das  ist  teils  richtige  Geometrie,  teils  kann 
es  zum  Gegenstand  werden  für  eine  Theorie  der  Zeichen,  die  wir 
ihrerseits  unbedenklich  der  Logik  zurechnen. 

Nun  haben  wir  es  bisher  dahingestellt  sein  lassen,  ob  Meinong 
recht  hat  oder  nicht,  Logik  und  Gegenstandstheorie  so  schroff  aus- 
einanderzuhalten. Man  kann  aber  wohl  den  Nachweis  führen,  daß 
eine  solche  Scheidung  unberechtigt  ist.  Denn  daß  Begriffe,  Urteile, 
Schlüsse  nicht  psychische  Vorgänge  sind,  das  ergibt  sich  ohne  weiteres 
daraus,  daß  die  Begriffe  ihrem  ^esen  nach  unveränderliche,  die  Vor- 
stellungen dagegen  wechselnde  und  vergängliche  Gegenstände  sind, 
sowie  daraus,  daß  die  Gesetze  der  Urteile  und  Schlüsse  keine  Not- 
wendigkeiten des  Urteilens  und  Schließens  sind,  in  welch  letzterem 
Fall  ja  jeder  Irrtum  ausgeschlossen  wäre.  Es  fragt  sich  also  nur, 
ob  von  Begriffen,  Urteilen  und  Schlüssen  dadurch,  daß  sie  als  etwas 
Nichtpsychisches  und  selbstverständlich  auch  Nichtphysisches  erwiesen 
sind,  die  Zugehörigkeit  zur  Gegenstandstheorie  auch  schon  feststeht. 
Um  dies  zu  entscheiden,  müssen  wir  uns  die  Motive  klar  machen, 
die  zur  Proklamierung  der  Gegenstandstheorie  als  eigener  Wissen- 
schaft Veranlassung  geben.     Es    handelt  sich  dabei  fUr  Meinong 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      19 

eigentlich  nur  um  die  Koiustatienmg  eines  Arbeitsgebietes,  welches 
zwischen  dem  Arbeitsgebiet  der  Naturwissenschaft  und  der  Psycho- 
logie als  neutrale  Zone  liege  und  bisher  nicht  die  richtige  Würdigung 
gefunden  habe,  besonders  auch  von  der  allgemeinen  Wirklichkeits- 
wissenschaft, der  Metaphysik,  nur  ohne  rechte  Befugnis  in  Angriff 
genommen  worden  sei.  Daraus  ergibt  sich  wohl  deutlich  genug,  daß 
vor  allem  Gegenstände ,  wie  die  Begriffe ,  Urteile  und  Schlüsse ,  die 
weder  ins  Reich  der  physischen  noch  in  das  der  psychischen  Wirk- 
lichkeit gehören,  von  der  Gegenstandstheorie  aufgenommen  werden 


Nun  erhebt  sich  allerdings  die  Frage,  ob  auf  diese  Weise  die 
Gegenstandstheorie  nicht  einfach  ein  mixtum  compositum  aller  der- 
jenigen Untersuchungen  wird,  die  anderwärts  sich  nicht  unterbringen 
lassen.  Das  wäre  sicherlich  nicht  im  Sinne  Meinongs,  der,  wenn  wir 
ihn  recht  verstehen,  die  Gegenstandstheorie  als  eine  ganz  bestimmte 
Wissenschaft  mit  einheitlichem  Charakter  auffaßt.  Suchen  wir  uns 
daher  im  folgenden  darüber  klar  zu  werden,  ob  und  wie  ein  einheit- 
licher Charakter  der  Gegenstandstheorie  mit  dem,  was  wir  bis  jetzt 
darüber  erfahren  und  festgestellt  haben,  vereinbar  erscheint. 

Wir  haben  konstatiert,  daß  vor  allem  die  Begriffe  im  Sinn  der 
Wortbedeutungen  zum  Arbeitsgebiet  der  Gegenstandstheorie  gehören. 
Wenn  wir  nun  ebenso  berechtigt  wären,  zu  sagen,  das  Arbeitsgebiet 
der  Gegenstandstheorie  gehe  in  den  Begriffen  auf,  dann  würden  wir 
über  das  Wesen  dieser  Wissenschaft  schnell  ins  Reine  kommen. 
Sehen  wir  also  zu,  was  einer  solchen  Behauptung  im  Wege  steht! 

Da  könnte  man  vor  allem  darauf  hinweisen,  daß  als  Denkgegen- 
stände auch  die  Elemente  der  Wirklichkeit  in  Betracht  kommen.  Sie 
werden  dadurch,  daß  ein  Gedanke  sich  auf  sie  richtet,  nicht  zu  Be- 
griffen. Sie  bleiben  Realitäten  mit  realen  Eigenschaften.  Aber 
diese  Eigenschaften  kommen  doch  auch  für  die  Gegenstandstheorie 
gar  nicht  in  Betracht.  Die  Gegenstandstheorie  hat  es,  wie  wir  oben 
sahen,  mit  dem  zu  tun,  was  den  Gegenständen  als  Denkgegenständen 
zukommt  und  in  dieser  Hinsicht  kommt  den  Bestandteilen  der  Wirk- 
lichkeit eben  nichts  zu. 

Hier  muß  nun  freilich  erwähnt  werden,  daß  Meinong  die  Auf- 
gabe der  Gegenstandstheorie  nicht  ganz  so  bestimmt,  wie  wir  dies 
getan  haben.  Er  betont  vielmehr,  daß  zur  Unterscheidung  der 
Gegenstandstheorie  und  der  Wirklichkeitswissenschaften  nicht  die  Rück- 
sicht auf  Wirklichkeit  oder  NichtWirklichkeit  der  Gegenstände,  sondern 
nur  ein  methodologischer  Gesichtspunkt  in  Betracht  komme,  in  dem 
die  Gegenstandstheorie  eine  apriorische,  die  Wirklichkeitswissenschaft 
eine  aposteriorische  Disziplin  sei.     Gegen  diese  Bestimmung  ließe 

2* 


20  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

sich  so  manches  einwenden.  Wir  können  dies  hier  jedoch  um  so 
eher  unterlassen,  als  eine  Schwierigkeit  fUr  unsern  OedankengaDg 
durch  die  in  Rede  stehende  Auffassung  Meinongs  nicht  herbeigefiihrt 
wird.  A  priori  können  wir  ja  nicht  einmal  wissen,  daß  überhaupt 
eine  Wirklichkeit  existiert.  Infolgedessen  hat  die  Oegenstandstheorie 
als  apriorische  Wissenschaft  mit  wirklichen  Objekten  jedenfalls  nichts 
zu  schaffen. 

Nachdem  wir  so  die  Wirklichkeit  ausgeschaltet  haben  als  etwas, 
was  nicht  zum  Arbeitsgebiet  der  Gegenstandstheorie  gehört,  fragt  es 
sich  nur,  ob  nicht  außer  den  Begriffen  noch  anderes  Nichtwirkliches 
für  die  Gegenstandstheorie  in  Betracht  kommt.  Wenn  Meinong  hier 
etwa  die  Gegenstände  der  Grammatik  namhaft  machen  wollte,  von 
der  er  behauptet,  daß  >die  allgemeine  Oegenstandstheorie  von  ihr 
in  ähnlicher  Weise  zu  lernen  habe,  wie  die  spezielle  Gegenstands- 
theorie von  der  Mathematik  lernen  kann  und  soll<,  so  wäre  dem 
entgegenzuhalten  einerseits,  daß  die  Wörter  und  Wortverbindungen, 
mit  denen  sich  die  Grammatik  beschäftigt,  Wirklichkeiten  sind, 
andererseits,  daß  a  priori  nichts  darüber  zu  erkennen  ist. 

Schwieriger  wird  die  Sachlage,  wenn  man  uns  darauf  hinweist, 
daß  Zahlen,  Größen  u.  s.  w.  keine  Begriffe  sind  oder  allgemeiner,  daß 
bei  Begriffen  von  idealen  Objekten  nicht  nur  die  Begriffe,  sondern 
auch  die  Objekte  von  der  Gegenstandstheorie  zu  behandeln  sind. 
Man  könnte  diesem  Einwand  gegenüber  auf  den  Gedanken  kommen, 
zu  behaupten,  daß  bei  idealen  Gegenständen  Begriff  im  Sinn  von 
Bedeutung  und  > gemeintes«  Objekt  zusammenfallen.  Aber  eine  ein- 
fache Prüfung  ergibt,  daß  diese  Behauptung  nicht  haltbar  ist.  Wäre 
sie  nämlich  richtig,  dann  müßten  dieselben  Prädikate  auf  ideale 
Gegenstände  und  auf  Begriffe  sich  anwenden  lassen.  Nun  sprechen 
wir  wohl  von  einer  geraden  Linie,  aber  nicht  von  einem  geraden 
Begriff,  wohl  von  einem  allgemeinen  Begriff,  aber  nicht  von  einer 
allgemeinen  Linie  u.  s.  w.  Unser  Versuch ,  das  Arbeitsgebiet  der 
Gegenstandstheorie  auf  die  Begriffe  einzuschränken,  ist  daher  als 
fehlgeschlagen  zu  betrachten. 

Aber  wenn  es  nicht  möglich  ist,  die  idealen  Gegenstände  den 
Begriffen  zu  subsumieren,  so  wäre  es  vielleicht  nicht  ausgeschlossen, 
die  Begriffe  als  eine  Unterart  der  idealen  Gegenstände  zu  betrachten 
und  die  Gegenstandstheorie  als  diejenige  Wissenschaft  zu  bestimmen, 
die  es  mit  der  Bearbeitung  der  idealen  Gegenstände  schlechthin  zu 
tun  hat.  Um  dies  zu  entscheiden,  muß  vor  allem  über  das  Wesen 
des  Begriffs  Klarheit  geschaffen  werden.  Wir  haben  bereits  darauf 
hingewiesen,  daß  der  Begriff  nicht  verwechselt  werden  darf  mit  der 
den  Gegenstand  erfassenden  Vorstellung  und  daß  er  in  keinem  Fall 


üntennchangen  zor  Gegenstandstheorie  and  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      21 

mit  dem  erfaßten  Gegenstand  identisch  ist.  Unter  einem  Begriff 
kann  somit  kaum  noch  etwas  anderes  verstanden  werden  als  die  Be- 
ziehung zwischen  dem  Wort  oder  allgemeiner  zwischen  dem  Zeichen 
und  dem  damit  gemeinten  Gegenstand.  Diese  Beziehung  ist  aber 
sicherlich  keine  Realität  und  wir  sind  daher  offenbar  berechtigt,  die 
Begriffe  als  ideale  Gegenstände  zu  betrachten. 

Daß  außer  den  Begriffen  noch  andere  ideale  Gegenstände  wie 
Größen  und  Zahlen  in  die  Gegenstandstheorie  gehören,  ist  durch 
den  Hinweis  auf  den  gegenstandstheoretischen  Charakter  der  Mathe- 
matik bereits  dargetan.  Es  fragt  sich  also  nur  noch,  ob  auch  wirk- 
lich alle  idealen  Gegenstände  von  Seiten  der  Gegenstandstheorie  an- 
gemessene Behandlung  finden  können,  und  um  hierüber  ins  Reine  zu 
kommen,  können  wir  eine  nähere  Bestimmung  der  idealen  Gegen- 
stände nicht  unterlassen.  Wir  knüpfen  dabei  an  an  die  kurze  Er- 
örterung Ameseders  über  reale  und  ideale  Gegenstände  in  der 
zweiten  der  hier  in  Rede  stehenden  gegenstandstheoretischen  Abhand- 
lungen, seinen  >Beiträgen  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie«. 
Hier  zitiert  der  genannte  Autor  die  Bestimmung  Meinongs,  wonach 
ein  Gegenstand  real  ist,  wenn  er  seiner  Natur  nach  existieren  kann, 
während  er  andernfalls  als  ideal  zu  bezeichnen  ist.  Indem  Ameseder 
weiterhin  den  Begriff  >  Existenz  <  als  das  Sein  des  Wirklichen  definiert, 
kommt  er  zu  dem  Resultat,  daß  die  Gruppe  der  realen  Gegenstände 
derartig  klein  und  unserer  Erkenntnis  so  wenig  zugänglich  ist,  daß 
mit  der  Unterscheidung  realer  und  idealer  Gegenstände  für  das 
eigentliche  Gebiet  der  Gegenstände  keine  zweckmäßige  Einteilung 
gewonnen  wäre. 

Nun  haben  wir  bereits  dargetan,  warum  die*  realen  Gegenstände 
von  der  Gegenstandstheorie  nicht  behandelt  werden  können.  Aber 
auch  das,  was  Ameseder  unter  dem  Begriff  der  idealen  Gegenstände 
zusammenfaßt,  enthält  offenbar  noch  vieles,  was  nach  unserer  Auf- 
fassung und  nach  der  Meinongschen  Bestimmung  nicht  in  die  Gegen- 
standstheorie gehört.  Da  nämlich  nach  Ameseders  Meinung  wirklich 
nur  dasjenige  ist,  was  kausieren  kann,  so  fallen  beispielsweise  die 
Farben ,  die  > Erfaßten  der  Farbenempfindungen« ,  unter  den  Begriff 
der  idealen  Gegenstände.  Was  aber  eine  apriorische  Wissenschaft 
hinsichtlich  des  Farbensystems  erkennen  soll,  ist  nicht  recht  einzu- 
sehen. Wenn  wir  daher  im  Gegensatz  zu  Ameseder,  aber  im  Hin- 
blick auf  die  Meinongsche  Definition  die  Farben  und  ähnliche  Gegen- 
stände nicht  zu  den  Objekten  der  Gegenstandstheorie  rechnen,  so 
scheint  damit  die  Frage,  ob  alle  idealen  Gegenstände  zum  Arbeits- 
gebiet der  Gegenstandstheorie  gehören,  bereits  im  negativen  Sinn 


22  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  1.    . 

entschieden,  sofern  mr  nämlich  die  Meinong-Amesedersche  Definition 
der  idealen  Gegenstände  acceptieren. 

Nun  kann  man  aber  kaum  sagen,  daß  diese  Definition  dem  Sprach- 
gebrauch auch  nur  einigermaßen  gerecht  werde.  Denn  es  würde 
danach  nicht  weniger  als  alles,  was  uns  in  der  Außenwelt  unmittelbar 
gegeben  ist,  unter  den  Begriff  des  Idealen  fallen,  während  als  > nicht- 
ideal« nur  das  Psychische  und  eventuell  das  >Ding  an  sich«  in  Be- 
tracht käme.  Wir  ziehen  es  also  vor,  uns  nach  einer  andern  Be- 
stimmung des  Begriffs  »ideaU  umzusehen.  Eine  solche  scheint  sich 
zwanglos  aus  der  Amesederschen  Unterscheidung  notwendiger  und 
zufälliger  Gegenstände  zu  ergeben.  Als  notwendig  bezeichnet  der 
genannte  Autor  nämlich  diejenigen  Gegenstände,  deren  > Zugehörigkeit 
zu  einer  Seinstatsache  <  eine  notwendige  ist  wie  z.  B.  die  Verschieden- 
heit von  Rot  und  Grün.  Diese  Bestimmung  ist  nun  freilich  nicht 
eindeutig.  Man  kann  die  >notwendige  Zugehörigkeit  zu  einer  Seins- 
tatsache« ebensogut  im  Sinn  der  >  Undenkbarkeit  des  Gegenteils« 
wie  im  Sinne  der  > Unmöglichkeit  des  Alleinbestehens<  deuten.  So- 
fern aus  den  weiteren  Ausführungen  Ameseders  hervorgeht,  daß  er 
der  ersteren  Deutung  zuneigt,  können  wir  in  seiner  Unterscheidung 
notwendiger  und  zufälliger  Gegenstände  keine  zweckmäßige  Einteilung 
sehen;  denn  in  diesem  Sinn  zufällig  sind  ganz  heterogene  Gegen- 
stände; ist  es  doch  offenbar  nicht  notwendiger,  daß  Verschiedenheit 
überhaupt  wie  daß  ein  Körper  überhaupt  besteht. 

Deuten  wir  dagegen  den  Begriff  der  notwendigen  Zugehörigkeit 
zu  einer  Seinstatsache  in  dem  zweiten  oben  angegebenen  Sinn,  dann 
ergibt  die  Gegenüberstellung  > zufälliger«  und  > notwendiger«  Gegen- 
stände eine  klare  Scheidung.  Freilich  werden  wir  dann  diejenigen 
Gegenstände,  die  selbständig  nicht  bestehen  können,  besser  unselb- 
ständige als  notwendige  Gegenstände  nennen,  und  auch  die  Bezeich- 
nung der  selbständigen  als  zufälliger  Gegenstände  hat  eigentlich 
keinen  Sinn.  Sofern  die  unselbständigen  mit  den  > fundierten«  Gegen- 
ständen zusammenfallen^),  läßt  sich  die  Anwendung  des  Prädikats 
notwendig  auf  sie  nur  in  dem  Sinn  rechtfertigen,  daß  mit  dem  Sein 
der  Inferiora  das  Sein  des  fundierten  Gegenstandes  notwendig  ge- 
geben ist. 

Identificieren  wir  nun  die  unselbständigen  mit  den  idealen  Gegen- 
ständen, so  kommen  wir  offenbar  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch 
ziemlich  nahe.  Verschiedenheit,  Aehnlichkeit ,  abstrakte  Größenbe- 
ziehungen, Wortbedeutungen  —  das  sind  lauter  unselbständige  und 
zugleich  lauter  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  >ideale«  Gegen- 

1)  Vgl.  Ameseders  Aasführongen  in  der  Abhandlung  über  Vorstellongspro- 
duktion  in  Meinongs  Untersuchungen  p.  483. 


tJntdrsQchongen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      23 

stände.  Aber  eine  Schwierigkeit  mttssen  wir  doch  noch  erwähnen. 
Unselbständig  ist  nämlich  auch  die  Farbe  gegenüber  der  Aus- 
dehnung, die  Tonhöhe  gegenüber  der  Intensität  u.  s.  w.  Wir  wagen 
es  nicht,  mit  Ameseder  diese  Unselbständigkeit  als  eine  toto  genere 
verschiedene^)  einfach  auszuschließen.  Andererseits  sind  wir  aber 
auch  nicht  gewillt,  Farbe  als  solche,  Tonhöhe  als  solche  u.  s.  w.  den 
idealen  Gegenständen  zuzurechnen.  Ueber  diese  Schwierigkeit 
kommen  wir  auch  nicht  hinweg,  wenn  wir  die  Bestimmung  realer 
und  idealer  Gegenstände  mit  heranziehen,  die  Mally  in  der  dritten 
der  in  Rede  stehenden  gegenstandstheoretischen  Abhandlungen,  in 
seinen  Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  des  Messens  versucht. 
Mally  definiert  nämlich  die  idealen  Gegenstände  als  diejenigen,  deren 
Sosein  ihre  Existenz,  nicht  aber  ihren  Bestand  ausschließt.  Als  Bei- 
spiel führt  er  an,  daß  Verschiedenheit,  Aehnlichkeit,  die  Tatsache» 
daß  3  +  2  =  5  ist,  ihrer  Natur  nach  nicht  existieren  können, 
während  Verschiedenheit  und  Aehnlichkeit  bestehen  kann  und 
die  Thatsache,  daß  3  +  2  ==  5  ist,  sogar  notwendig  besteht. 
Wenden  wir  diese  von  Mally  gegebene  Bestimmung  zur  Entscheidung 
der  uns  hier  beschäftigenden  Fragen  an,  so  kommen  wir  keinen 
Schritt  vorwärts.  Mally  erwähnt  keinerlei  Kriterien  für  das  >Exi- 
stieren-können«,  versucht  überhaupt  Existenz  und  Bestand  nur  da- 
durch indirekt  zu  kennzeichnen,  daß  er  betont,  wie  Existenz  nur 
aposteriorischer,  Bestand  dagegen  apriorischer  Erkenntnis  zugänglich 
sei.  Fragen  wir  nun,  ob  nach  Mallys  Meinung  Farben  wohl  existieren 
können,  so  liegt  die  Antwort  Nein  auf  diese  Frage  jedenfalls  näher 
als  die  Antwort  Ja.  Dann  befinden  wir  uns  also  wiederum  in  der 
Lage,  Farben  und  ähnliche  Gegenstände  als  ideale  Objekte  ansprechen 
zu  müssen. 

Wir  wollen  diese  peinliche  Untersuchung  nicht  weiterfuhren. 
Wir  konstatieren  vielmehr:  Ob  die  Farbenqualitäten,  Tonhöhen 
u.  s.  w.  reale  oder  ideale  Gegenstände  sind,  ist  fur  die  Ent- 
scheidung der  Frage  ihrer  Zugehörigkeit  zur  Gegenstaudstheorie  ganz 
gleichgültig.  Sie  gehören  unter  allen  Umständen  nicht  in  die  Gegen- 
standstheorie, wenn  diese,  wie  Meinong  behauptet,  eine  apriorische 
Wissenschaft  ist.  Aber  auch  die  Frage,  von  der  wir  bei  der  Unter- 
suchung über  das  Wesen  der  idealen  Gegenstände  ausgegangen  sind, 
die  Frage,  ob  alle  idealen  Ggenstände  von  der  Gegenstandstheorie 
zu  behandeln  sind,  läßt  sich  beantworten,  ohne  daß  wir  die  Frage 
nach  der  Idealität  oder  Realität  der  Farbenqualitäten  u.  s.  w.  ent* 
scheiden.    Es  gibt  nämlich  sicherlich  ideale  Gegenstände,  wie  Schön- 

1)  a.  a.  0.  p.  483. 


24  Gott.  gel.  Anz.  1905.  Nr.  1. 

heit,  Tugend  und  andere,  die  nicht  von  der  Gegenstandstheorie 
sondern  von  empirischen  Wissenschaften  erforscht  werden. 

Ueberhaupt  schrumpft,  wie  man  sieht,  das  Arbeitsgebiet  der 
Gegenstandstheorie  immer  mehr  zusammen,  je  schärfer  man  das  Wesen 
derselben  zu  fassen  sucht.  Außer  Logik  und  Mathematik,  die  sich, 
wie  wir  bereits  zugegeben  haben,  dem  Oberbegriff  der  Gegenstands- 
theorie mögen  unterordnen  lassen,  scheint  nur  eine  Klasse  von 
Forschungsobjekten  am  Ausbau  der  Gegenstandstheorie  interessiert 
zu  sein,  nämlich  die  >fundierten<  Gegenstände,  sofern  sich  nicht  auch 
von  diesen  herausstellen  sollte,  daß  sie  besser  empirischen  Wissen- 
schaften überlassen  werden.  Bis  zu  einem  gewissen  Grad  sind  zweifellos 
empirische  Wissenschaften  an  der  Erforschung  der  fundierten  Gegen- 
stände beteiligt.  Was  beispielsweise  eine  Melodie  ist,  wie  Melodien 
erzeugt  werden  und  welche  ästhetischen  Wirkungen  an  Melodien  ge- 
knüpft sind,  das  zu  untersuchen  ist  jedenfalls  Sache  einer  empirisch 
betriebenen  Akustik  und  Musikwissenschaft.  Oder  die  Größe  und 
Gestalt  eines  wirklichen  Gegenstandes  festzustellen  kann  nun  und 
nimmer  Sache  der  Gegenstandstheorie  sein.  Es  fragt  sich  nur,  ob 
nicht  neben  solchen  empirisch  zu  gewinnenden  Erkenntnissen  fundierter 
Gegenstände  auch  noch  a  priori  derartige  Erkenntnisse  gewonnen 
werden  können. 

Um  dies  zu  entscheiden,  wollen  wir  kurz  betrachten,  was  Ame- 
seder  im  speziellen  Teil  seiner  gegenstandstheoretischen  Abhandlung 
über  Fundierungsgegenstände  beizubringen  weiß.  Er  behandelt  nach 
einander  die  >Aehnlichkeits-  und  Verschiedenheitsgegenstände <,  die 
>GestaltgegeDstände<  und  die  >  Verbindungsgegenstände c.  Zu  den 
erstgenannten  rechnet  er  Gleichheit,  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit. 
Gleichheit  bestimmt  er  als  Maximum  der  Aehnlichkeit.  Hinsichtlich 
der  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit  wird  im  wesentlichen  nur  kon- 
statiert, daß  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit  nicht  auf  einander 
zurückführbar  sind,  daß  dagegen  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit 
allerdings  koincidieren,  daß  ferner  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit 
Größe  besitzen,  also  Quanta  und  zwar  unteilbare  Quanta  sind,  daß 
Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit  ebenso  wie  ihre  Inferiora  Continuen 
angehören,  daß  sie  stets  zwei  und  nur  zwei  Inferiora  haben,  daß  als 
zugehörige  Inferiora  nur  Dinge  fungieren  können,  zwischen  denen  eine 
kontinuierliche  Verbindung  möglich  ist  und  daß  die  betreffenden 
Inferiora  als  solche  zufällige  Gegenstände  sind. 

Was  die  Gestaltgegenstände  anlangt,  so  erfahren  wir  zunächst, 
daß  Lage  keine  Gestalt  ist,  daß  aber  »die  immerhin  vorherrschende 
Verwandtschaft  mit  den  Gestalten  es  gestattet,  die  kleine  Gruppe 
der  Lagen  und  Richtungen  in  einer  erweiterten  Gruppe,  zu  der  auch 


üntenuchangen  zur  GegensUndstheorie  and  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      25 

die  Gestalten  gehören,  unterzubringen <.  Die  Gestalten  werden  ein- 
geteilt in  diskrete  und  kontinuierliche,  in  solche  mit  zeitlosen  und 
zeitbestimmten  und  endlich  in  solche  mit  einfachen  und  komplexen 
Inferioren.  Schließlich  erfahren  wir  noch,  daß  die  Gestaltgegenstände 
Kontinuen  angehören,  die  in  Gestalt  und  Größe  durch  die  Kontinuen 
der  Inferiora  bestimmt  werden,  daß  die  Gestaltgegenstände  keine 
Quanta  sind  und  daß  sie  sich  mit  Notwendigkeit  auf  ihren  Inferioren 
aufbauen. 

Hinsichtlich  der  Verbindungsgegenstände  werden  wir  belehrt, 
daß  sie  an  beliebig  vielen  Inferioren  vergegenständlicht  sein  können, 
daß  ihre  Inferiora  nicht  nur  diskret  sondern  auch  kontinuierlich  sein 
können,  daß  alle  Verbindungsgegenstände  Größe  haben,  da  a  und  b 
immer  mehr  ist  als  a,  mag  b  was  immer  fttr  ein  Gegenstand  sein, 
daß  ferner  die  Verbindungsquanta  durch  ihre  sogenannte  Teilbarkeit 
ausgezeichnet  sind,  wobei  man  unter  dieser  Bezeichnung  die  Mög- 
lichkeit verstehen  soll,  demselben  Superius  nach  Erfordernis  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Inferioren  zuzuschreiben.  Außerdem  finden 
sich  noch  einige  etwas  komplizierte  Bemerkungen  über  das  Sein  der 
Verbindungsgegenstände,  auf  die  wir  hier  nicht  weiter  eingehen  wollen. 

Im  Anschluß  an  die  skizzierten  Gedanken  Ameseders  haben  wir 
nunmehr  folgendes  zu  konstatieren :  Die  Gegenstände,  von  denen  die 
Rede  war,  nämlich  Gleichheit,  Aehnlichkeit,  Verschiedenheit,  Formen 
oder  Gestalten,  Größen,  Mengen  oder  Complexe,  spielen  in  einer 
Reihe  von  Wissenschaften  eine  bedeutsame  Rolle.  Vergleichung  und 
Unterscheidung,  Beschreibung  von  Formeigentümlichkeiten,  Messen, 
Zählen  und  Rechnen  gehören  zu  den  fundamentalsten  Operationen 
wissenschaftlicher  Forschung  überhaupt  und  wenn  wir  von  einem 
Objekt  wissen,  daß  es  einem  anderen  bekannten  Objekt  gleich  oder 
von  einem  dritten  verschieden  ist,  daß  es  die  oder  jene  Form  besitzt, 
daß  es  eine  bestimmte  Größe  besitzt  oder  durch  ein  bestimmtes  Maß 
gemessen  werden  kann,  dann  ist  das  betreffende  Objekt  von  uns  er- 
kannt. Was  soll  es  nun  heißen,  wenn  das,  wodurch  wir  erkennen, 
wiederum  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Erkenntnis  gemacht  wird  ? 
Offennbar  kann  damit  verschiedenes  gemeint  sein.  Zunächst  dies, 
daß  die  Begriffe  von  Gleichheit,  Aehnlichkeit  u.  s.  w.  bestimmt  wer- 
den sollen.  Eine  solche  Bestimmung  muß  jedoch  bereits  von  jeder 
Wissenschaft  gegeben  werden,  die  mit  Gleichheiten,  Aehnlichkeiten 
u.  s.  w.  operiert.  Eine  nochmalige  Bestimmung  derselben  Begriffe 
in  einer  besonderen  Wissenschaft  erweist  sich  nur  dann  als  nötig, 
wenn  die  in  den  einzelnen  Wissenschaften  gegebenen  Definitionen 
einseitig  sind.  Diejenige  Wissenschaft  aber,  die  allgemeingültige 
Bestimmungen    der   in    den   einzelnen   Wissenschaften    verwendeten 


26  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  1. 

Ornndbegriffe  anstrebt,  existiert  bereits  unter  dem  Namen  Erkenntnis- 
theorie. Diese  Disziplin  beschäftigt  sich  freilich  weit  mehr  mit  der 
Bestimmung  von  Begriffen,  die  im  Hinblick  auf  wirkliche  Gegenstände 
gewonnen  werden  —  aus  dem  einfachen  Grund,  weil  diese  Begriffe 
ihr  von  den  Einzelwissenschaften  unvollkommener  überliefert  werden 
als  die  Begriffe  von  idealen  Gegenständen  wie  Gleichheit,  Aehnlich- 
keit  u.  s.  w.,  die  in  den  Einzelwissenschaften  schon  hinreichend  all- 
gemeingültige Bestimmung  finden.  In  der  Tat  sind  Sätze  wie  Ame- 
seders  Eonstatierung,  daß  Gleichheit  das  Maximum  der  Aehnlichkeit 
sei,  kaum  als  bedeutsame  erkenntnistheoretische  Entdeckungen  an- 
zusprechen. 

Aber  der  Versuch,  Gleichheit,  Aehnlichkeit  u.  s.  w.  zum  Gegen- 
stand einer  besonderen  Wissenschaft  zu  machen,  kann  noch  auf  etwas 
anderes  abzwecken  als  darauf,  die  Begriffe  dieser  Gegenstände  allge- 
meingültig zu  bestimmen.  Wenn  nämlich  festgestellt  wird,  daß 
Gleichheit  ein  fundierter  Gegenstand  sei,  dessen  Inferiora  bestimmte 
Beschaffenheit  aufweisen,  so  bedeutet  das  keineswegs  einen  Definitions- 
fortschritt. Vielmehr  sind  damit  gewisse  Tatsachen  erfaßt.  Es  fragt 
sich  nun,  in  welches  Tatsachengebiet  dieselben  gehören.  Wir  haben 
zweifellos  ein  gewisses  Recht,  sie  dem  Arbeitsgebiet  der  Psychologie 
zuzurechnen;  denn  es  bedeutet  offenbar  einen  Fortschritt  der  psycho- 
logischen Erkenntnis,  wenn  wir  einsehen,  daß  durch  psychische  Akte 
Gegenstände  erfaßt  werden,  die  nicht  sichtbar,  hörbar,  tastbar  u.  s.  w. 
doch  als  bestehend  angenommen  werden  müssen.  Es  ist  femer  auch 
eine  im  Grunde  genommen  psychologische  Erkenntnis,  wenn  die  be- 
treffenden Gegenstände  als  nicht  identisch  mit  psychischen  Akten 
und  Inhalten  erwiesen  werden;  denn  diese  negative,  die  Psychologie 
interessierende  Erkenntnis  bedeutet  ja  keinerlei  positive  Bestimmung 
des  eigenen  Wesens  der  betreffenden  Gegenstände.  Wir  behaupten 
sogar,  daß  dieses  eigene  Wesen  für  uns  keinerlei  Interesse  besitzt- 
Aber  wer  dem  nicht  beistimmt,  der  mag  immerhin  Untersuchungen 
über  das  Sein  der  Gleichheit,  Aehnlichkeit  u.  s.  w.  anstellen.  Diese 
Untersuchungen  fügen  sich  dann  zwanglos  dem  Rahmen  derjenigen 
Wissenschaft  ein,  die  von  altersher  über  das  Wesen  der  Substanzen, 
Modi  und  Relationen  Betrachtungen  angestellt  hat,  nämlich  der  Meta- 
physik. 

So  bleibt  schließlich  nur  noch  eines  übrig,  was  beabsichtigt  sein 
kann,  wenn  die  in  Rede  stehenden  Gegenstände  zum  Objekt  besonderer 
Untersuchung  gemacht  werden  sollen,  und  was  von  Ameseder  tat- 
sächlich auch  in  gewissem  Sinn  geleistet  wird  —  nämlich  die  Fest- 
stellung von  Beziehungen  zwischen  Gleichheit,  Aehnlichkeit,  Ver- 
schiedenheit,  Gestalt,   Größe  u.  s.  w.     Die  Feststellung   dieser  Be- 


üntersachnngen  zur  Gegenstundstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      27 

Ziehungen  ist  aber  teils  der  Logik  teils  der  Mathematik  vorbehalten. 
Dieselbe  Wissenschaft,  die  feststellt,  das  ^  =  ^  und  Ä  ^  non  A, 
kann  offenbar  auch  konstatieren,  daß  Aehnlichkeit  und  Gleichheit 
sich  ausschließen,  während  Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit  koinci- 
dieren.  Und  die  Wissenschaft,  weiche  feststellt,  daß  Dreiecke  mit 
gleicher  Grundlinie  und  Höhe  flächengleich  sind,  darf  wohl  auch  die 
Erkenntnis  in  Anspruch  nehmen,  daß  » Gestaltgegenstände <  mit 
Quanten  koinzidieren,  die  in  keiner  Weise  von  dem  Fall  der  Gestalt 
abhängig  sind. 

So  werden  wir  zu  dem  Schluß  gedrängt,  daß  die  Gegenstands- 
theorie restlos  aufgeht  in  Logik  und  Mathematik  und  es  soll  im 
Folgenden  im  Anschluß  an  Mallys  Untersuchungen  zur  Gegenstands- 
theorie des  Messens  gezeigt  werden,  daß  auch  diese  speziellen  Bei- 
träge zur  Gegenstandstheorie  sich  in  logische  und  mathematische 
Feststellungen  auseinanderlegen. 

Zuvor  aber  müssen  wir  noch  auf  eine  Frage  eingehen,  die  als 
grundsätzlicher  Einwand  gegen  das  Resultat  der  bisherigen  Ueber- 
legungen  zu  guter  Letzt  erhoben  werden  kann.  Wir  haben  ja  bis 
jetzt  nur  von  Objekten  gehandelt,  auf  welche  die  Gegenstands- 
theorie Anspruch  macht  und  die  wir  in  mathematische  und  logische 
Gegenstände  glaubten  erschöpfend  einteilen  zu  dürfen.  Nun  betont 
aber  Meinong  ebenso  wie  Ameseder  und  Mally,  daß  die  Gegenstands- 
theorie außer  den  Objekten  auch  noch  die  sogenannten  Objektive 
zu  untersuchen  habe.  Wird  damit  nicht  eine  Klasse  von  ganz  neuen 
Gegenständen  eingeführt,  auf  die  unsere  bisherigen  Betrachtungen 
keine  Anwendung  finden  können?  Um  diese  Frage  einer  Entscheidung 
zuzuführen,  wollen  wir  zunächst  feststellen,  was  man  unter  einem 
Objektiv  zu  verstehen  hat  und  zwar  soll  das  geschehen  unter  Zu- 
grundelegung der  Formulierungen  von  Ameseder  und  Mally.  Der 
erstere  äußert  sich  in  dem  der  Unterscheidung  von  Objekten  und 
Objektiven  gewidmeten  Paragraphen  folgendermaßen:  >Auch  das 
Sein  hat  Sein,  so  ist  z.  B.  eine  Existenz  oder  ein  Bestehen.  Jene 
Gegenstände,  welche  Sein  sind  und  Sein  haben,  sind  wesentlich  anders 
als  jene,  welche  bloß  Sein  haben,  aber  nicht  selbst  Sein  sind.  Jene 
Gegenstände,  welche  Sein  sind  und  sich  im  sprachlichen  Ausdruck 
durch  die  ,daß- Konstruktion'  kennzeichnen,  hat  Meinong  als  ,0b- 
jektive'  benannt.  Gegenstände,  die  nicht  Objektive  sind,  sind  Ob- 
jekte. Die  Objekte  sind,  wenn  dies  auch  sprachlich  nicht  angedeutet 
ist,  eine  Unterart  der  Gegenstände.  Objekte  sind  z.  B.  Farben, 
Zahlen,  Strecken ;  Objektive  sind  die  Existenz  einer  chemischen  , Ver- 
bindung', das  Nichtsein  des  runden  Vierecks,  das  Farbigsein  eines 
bestimmten  Gegenstandes  und  dergl.  mehr,   oder  in  der  typischen 


28  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Form:  ,daß  eine  chemische  Verbindung  existiert',  ,daß  ein  rnndes 
Viereck  nicht  ist',  ,daß  ein  Objekt  farbig  ist'  u.  s.  w.<.  Die  Objek- 
tive selbst  teilt  Ameseder  in  die  zwei  Klassen  der  Seins-  und  So- 
seinsobjektive  mit  folgender  Begründung:  >Neben  jenen  Objektiven, 
welche  die  Form  haben  ,daQ  etwas  ist'  gibt  es  noch  solche,  die 
sprachlich  durch  ,daß  ein  ^  JB  ist'  oder  schlechtweg  ,daß  etwas  so 
ist'  ausgedrückt  werden.  Objektive  letzterer  Art  lassen  sich  in  keiner 
Weise  auf  Objektive  der  ersteren  zurückfähren,  ebensowenig,  wie 
jene  auf  diese«.  Ganz  ähnlich  konstatiert  Mally:  >Sein  und  Sosein 
werden  von  Meinong  als  Objektive  bezeichnet  und  allen  anderen 
Gegenständen  als  Objekten  im  engeren  Sinne  gegenübergestellt«. 

Was  haben  wir  nun  von  dieser  Unterscheidung  zwischen  Objekt 
und  Objektiv  und  von  der  Gegenüberstellung  der  Seins-  und  Soseins- 
objektive zu  halten.  Der  Satz  ^  ist  und  der  Satz  A  ist  B  unter- 
scheiden sich  natürlich  von  dem  Begriff  A^  von  dem  Begriff  Sein 
und  von  dem  Begriff  B  so  wie  sich  Urteile  von  Begriffen  unterscheiden. 
Urteile  und  Begriffe  sind  verschiedene  Gegenstände,  die  wissenschaft- 
licher Bearbeitung  zugänglich  sind,  aber  beide  finden  ihre  Bearbeitung 
in  derselben  Wissenschaft,  der  Logik.  Wenn  also  durch  die  Gegen- 
überstellung von  Objekten  und  Objektiven  nur  Begriffe  und  Urteile 
als  verschiedene  Gegenstände  der  Gegenstandstheorie  bezeichnet 
werden  sollen,  so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden.  Es  wird  dadurch 
aber  auch  an  den  Resultaten  unserer  bisherigen  Ueberlegungen  nichts 
geändert 

Nun  ist  jedoch  die  Absicht  Meinongs  und  seiner  Schüler  kaum 
auf  eine  solche  bloß  logische  Unterscheidung  gerichtet.  Wie  den 
Begriffen  die  Gegenstände  und  zwar  die  Objekte  im  engeren  Sinn 
so  sollen  offenbar  den  Urteilen  die  Objektive  gegenübergestellt  wer- 
den. In  der  Tat  läßt  sich  nicht  viel  dagegen  einwenden,  wenn  man 
das  Wesen  der  Urteile  in  einer  Beziehung  zwischen  Begriffen  sehen 
will  (Meinong  faßt  freilich  das  Wesen  des  Urteils  mehr  in  psycholo- 
gischem Sinn)  und  nun  nach  etwas  sucht,  was  durch  diese  Begriffis- 
kombination  auf  der  Gegenstandsseite  gemeint  ist.  Ganz  klar  ist 
diese  Gegenüberstellung  allerdings  nicht.  Denn  nachdem  wir  gesehen 
haben,  daß  ein  Begriff  nichts  anderes  ist  als  die  Beziehung  zwischen 
Wort  und  Gegenstand,  bleibt  zur  Bestimmung  des  Wesens  der  Be- 
griffsbeziehung, die  sich  auf  etwas  Gegenständliches  bezieht,  nichts 
übrig  als  die  nicht  gut  zu  kontrollierende  Behauptung,  dieses  Wesen 
bestehe  in  einer  Beziehung  zwischen  Beziehungen,  die  sich  ihrerseits 
wieder  auf  etwas  bezieht.  Doch  wie  dem  auch  sei,  ob  nun  bloß  Be- 
ziehungen zwischen  Worten  bezw.  Wortkombinationen  und  Gegen- 
ständen oder  auch  die  eben  angedeuteten  Beziehungen  zwischen  Be- 


Untenachongen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      29 

Ziehungen  fur  logische  Untersuchungen  in  Betracht  kommen,  jedenfalls 
gilt  es  festzustellen,  welche  Gegenständlichkeit  durch  Urteile  erfaßt 
wird.  Halten  wir  uns  an  einzelne  Beispiele :  In  dem  Satz  a  =  oder 
^  b  sind  es  offenbar  Größenbeziehungen,  in  dem  Satz  >der  Baum 
ist  grün«  ist  es  die  Beziehung  von  Ding  und  Eigenschaft,  in  dem 
Satz  endlich  >der  Ichthyosaurus  hat  existiert«  ist  es  eine  Existenz, 
die  erfaßt  wird.  Von  diesen  verschiedenen  > Erfaßten«  fallen  nun, 
wie  man  sieht,  einige,  nämlich  die  Größenbeziehungen  ohne  weiteres 
zusammen  mit  Objekten,  die  wir  vor  Einführung  des  Objektivbegriffs 
ins  Auge  gefaßt  haben,  d.  h.  mit  Objekten  im  engeren  Sinn.  Was 
die  Existenz  anlangt  oder  die  Beziehung  zwischen  Ding  und  Eigen- 
schaft, so  ist  nicht  einzusehen,  warum  sie  nicht  ebenso  zu  den  Ob- 
jekten im  engeren  Sinn  gehören  soll  wie  etwa  Kausalität,  Notwendig- 
keit, Wertbeziehung  u.  s.  w.  Hinsichtlich  der  wissenschaftlichen 
Bearbeitung  von  Gegenständen  wie  Existenz  und  Inhärenz  ist  zu 
bemerken,  daß  die  allgemeingültige  Definition  der  zugehörigen  Be- 
griffe in  die  Erkenntnistheorie,  die  Feststellung  bestimmter  Existenzen 
und  Inhärenzen  größtenteils  in  die  einzelnen  empirischen  Wissen- 
schaften und  die  Erforschung  des  Wesens  der  Existenz  und  Inhärenz 
eventuell  in  die  Metaphysik  gehört.  Abschließend  können  wir  also 
sagen:  Die  Objektive  sind  entweder  Urteile  und  bilden  dann  eine 
kleine  Gruppe  neben  vielen  anderen  Gruppen  von  Gegenständen,  die 
zum  Arbeitsgebiet  der  Logik  und  Mathematik  oder  wenn  man  so 
will,  der  Gegenstandstheorie  gehören  —  oder  die  Objektive  sind  keine 
Urteile  sondern  etwas  durch  Urteile  Erfaßtes  und  gehören  dann  nur 
zum  kleinsten  Teil  und  keineswegs  als  besondere  Klasse  von  Gegen- 
ständen in  die  Gegenstandstheorie. 

Damit  dürfen  wir  zurückkommen  auf  unsere  These,  Gegenstands- 
theorie sei  identisch  mit  Logik  und  Mathematik,  und  wenn  es  nun 
noch  gelingt,  diese  These  in  einer  Auseinandersetzung  mit  den  gegen- 
standstheoretischen Spezialuntersuchungen  Mallys  als  richtig  zu  er- 
weisen, dann  dürfen  wir  sie  wohl  als  gesichert  ansehen. 

Mally  konstatiert  zu  Beginn  seiner  in  Rede  stehenden  Betrach- 
tungen, daß  die  Gegenstände,  die  gemessen  werden  und  die  Tatsachen, 
die  durch  das  Messen  erkannt  werden,  als  Objekte  der  Gegenstands- 
theorie des  Messens  in  Betracht  kommen.  Die  Aufgabe  dieser  Disziplin 
bestimmt  er  dahin,  daß  sie  die  Gegenstände  des  Messens  zu  be- 
schreiben und  die  durch  das  Messen  zu  erkennenden  Tatsachen  syste- 
matisch anzufühlen  und  nach  Möglichkeit  zu  erklären  habe. 

Was  zunächst  die  Beschreibung  der  Gegenstände  des  Messens, 
also  der  Größen  nnd  Maße  anlangt,  so  verkennt  unser  Autor  keines- 
wegs, daß  eben  dies  eine  Aufgabe  der  Mathematik  ist    Aber  er 


30  Gott.  gel.  Anz.  VMMi.  Nr.  1. 

meint,  daß  im  Gegensatz  zur  Mathematik,  die  nur  Quanta  schlecht- 
weg und  daneben  nur  noch  Raumquanta  zu  Objekten  hat,  die  Gegen- 
standstheorie des  Messens  nicht  nur  von  Quantis  handelt,  sofern  sie 
Quanta  sind  d.  h.  nur  ihrer  Größe  nach,  —  sondern  von  allen  jenen 
Objekten,  die  zugleich  Quanta  sind,  auch  ihren  andern  Eigenschaften 
nach.  Was  das  nun  heißen  soll,  ist  nicht  so  leicht  einzusehen;  denn 
es  kann  doch  nicht  die  Absicht  Mallys  sein,  der  Gegenstandstheorie 
eine  Erforschung  aller  Eigenschaften  zuzumuten,  die  an  meßbaren 
Gegenständen  überhaupt  vorkommen. 

Aber  auch  der  zweite  Teil  der  oben  formulierten  Aufgabe  er- 
möglicht keine  klare  Abgrenzung  der  Gegenstandstheorie  von  Mathe- 
matik und  anderen  Wissenschaften.  Was  soll  es  zunächst  heißen 
>die  Gegenstandstheorie  des  Messens  habe  die  durch  das  Messen 
zu  erkennenden  Tatsachen  systematisch  anzuführen  <?  Es  kann  doch 
unmöglich  damit  gemeint  sein,  was  in  erster  Linie  freilich  darunter 
verstanden  werden  muß,  daß  die  Gegenstandstheorie  eine  Uebersicht 
der  Maßzahlen  aller  Gegenstände  zu  geben  habe.  Offenbar  will  Mally 
nicht  die  durch  das  Messen  zu  erkennenden  Tatsachen  sondern  die 
Tatsachen  des  Messens  selbst  der  Gegenstandstheorie  zuweisen.  Diese 
Tatsachen  sind  etwa  >daß  gemessen  wird<,  >wie  gemessen  wird<, 
>auf  welchen  Voraussetzungen  sich  die  Lehre  vom  Messen  aufbaut<, 
»welche  logische  Bedeutung  den  Sätzen  zukommt,  die  Messungs- 
ergebnisse ausdrücken«  und  endlich  vielleicht  > woher  es  kommt,  daß 
überhaupt  gemessen  wird  und  gemessen  werden  kann«.  Es  wäre 
nun  Sache  einer  freilich  etwas  weitschweifigen  Untersuchung,  darzu- 
tun, daß  diese  Tatsachen  größtenteils  von  der  Mathematik  und  Logik, 
teilweise  vielleicht  auch  von  empirischen  Wirklichkeitswissenschaften 
festgestellt  werden. 

Wir  denken  natürlich  nicht  daran,  hier  nochmals  eine  derartige 
allgemeine  Untersuchung  durchzuführen  sondern  wir  wollen  nunmehr 
bloß  die  weiteren  Betrachtungen  Mallys  daraufhin  prüfen,  ob  sie  eine 
Widerlegung  unserer  Auffassung  enthalten.  Dabei  überschlagen  wir 
das  erste  Kapitel,  welches  »allgemeine  Feststellungen <  zur  Gegen- 
standstheorie liefert,  die  wir  im  bisherigen  schon  größtenteils  kennen 
gelernt  haben.  Das  zweite  Kapitel  bringt  eine  »allgemeine  Charak- 
teristik der  Messungsobjekte  €.  Wir  erfahren,  daß  > seiner  Natur  nach 
meßbar  alles  ist,  dessen  Beschaffenheit  mit  dem  Vollzug  einer  Messung 
an  ihm  keinen  Widerspruch  bildet«.  Mit  anderen  Worten:  Eine 
Messung  ist  denkbar,  wo  sie  nicht  undenkbar  ist.  Dann  folgen  eine 
Reihe  Definitionen,  die  wir  aus  der  Mathematik  kennen  und  die  in 
dem  Satz  gipfeln,  daß  »alle  meßbaren  Gegenstände  Quantac  sind. 
Weiter  erfahren  wir,  »daß  es  zu  jedem  Gegenstand,  der  groß  ist, 


Untersuchnngen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      31 

noch  Gegenstände  gibt,  die  größer  sind  als  er,  und  Gegenstände,  die 
kleiner  sind  als  er<.  >E8  ist  also  kein  Gegenstand  der  kleinstec 
und  >ein  kleinster  Gegenstand  ist  also  überhaupt  kein  Gegenstand, 
er  ist  nichts«.  Dieser  letztere  Schluß  ist  nun  freilich  nichts  weniger 
als  einleuchtend,  solang  nicht  vorausgesetzt  wird,  daß  alle  Gegen- 
stände Quanta  sind.  Im  übrigen  ist  die  Auffassung  der  Null  als 
eines  >Grenzfall8<  uns  wiederum  aus  der  Mathematik  bekannt,  wenn 
auch  nicht  als  eines  >  Grenzfalls  von  Gegenstand  überhaupt <  so  doch 
als  eines  Grenzfalls  von  Größe  oder  Ausdehnung.  Eine  Reihe  weiterer 
Bestimmungen,  die  den  Schluß  des  in  Rede  stehenden  Kapitels  aus- 
machen, knüpfen  an  frühere  Definitionen  an  und  sind  ohne  die 
letzteren  unverständlich.  Wir  können  sie  übergehen,  da  sie  als  bloße 
Nominaldefinitionen  nichts  zur  Erweiterung  unserer  Erkenntnis  bei- 
tragen. 

Das  dritte  Kapitel  behandelt  die  teilbaren  Quanta.  Hier  finden 
sich  wieder  ganz  ähnliche  Sätze  wie  wir  sie  schon  kennen  gelernt 
haben  z.  B.  > seiner  Natur  nach  teilbar  ist  jeder  Gegenstand,  dessen 
Beschafifenheit  mit  dem  Vollzuge  einer  Teilung  an  ihm  in  keinem 
Widerspruch  steht <.  Durch  gründliche  Ueberlegung  wird  ferner  die 
Bestimmung  gewonnen,  daß  >jedes  teilbare  Quantum  ein  impliziter 
Komplex  ist,  der  mit  einem  durchaus  homoiomeren  Mengenkomplex 
vollständig  koincidiert<.  Diese  so  ungewohnt  klingende  Formel  scheint 
nichts  anderes  zu  besagen  als  daß  jedes  teilbare  Quantum  als  Summe 
gleicher,  beliebig  zu  wählender  Einheiten  dargestellt  werden  kann.  Ueber- 
haupt  können  wir  den  Eindruck  nicht  los  werden  als  ob  die  ganze, 
eine  recht  ansehnliche  Denkarbeit  repräsentierende  Untersuchung 
Mallys  darauf  hinauskomme,  unter  neuen  Bezeichnungen  und  deshalb 
oft  auch  durch  Gedankengänge  besonderer  Art  Tatsachen  neu  zu 
entdecken,  die,  anders  ausgedrückt,  sich  als  längst  bekannte  Wahr- 
heiten entpuppen.  Jedenfalls  stellen  sich  überall  da,  wo  unser  Autor 
sich  der  gewöhnlichen  Terminologie  bedient,  seine  Festsetzungen  als 
einfache  mathematische  Definitionen  und  Schlußfolgerungen  heraus. 
So  z.  B.  in  den  Betrachtungen  über  die  >  Grenzen  der  Gontinua«,  in 
denen  die  Begriffe  des  Punktes,  der  Linie,  der  Geraden,  der  Ebene 
und  des  Raumes  wie  in  der  Geometrie  bestimmt  werden.  Dagegen 
werden  in  dem  folgenden  Abschnitt  über  die  «Dimensionen  wieder 
neue  Ausdrücke  eingeführt.  Wir  erfahren,  daß  zwei  Komplexionen 
fti  und  St2  vertauschbar  sind,  wenn  Komplexe  Ki  in  der  Komplexion 
fti  stehend,  einen  Komplex  bilden,  der  mit  einem  Komplex  aus  Kom- 
plexen Kl  in  Komplexion  ^2  koinzidiert.  Diese  komplizierte  Formel 
dient  zur  Bezeichnung  des  einfachen  mathematischen  Tatbestandes, 
der  in  einem  Fall  wie  5x7  =  7x5  vorliegt.    Nun  wird  weiterhin 


32  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

der  Begriff  der  vertauschbaren  Eomplexionen  zur  Bestimmung  der 
Dimensionen  verwendet.  Es  wird  konstatiert,  daß  >ein  Gegenstand, 
woran  zwei  untereinander  unabhängig  vertauschbare  Komplexionen 
bestehen,  zweidimensional  ist<.  Ein  lineares  Quantum  hat  demnach 
eine  Dimension,  ein  Rechteck  und  jedes  damit  koinzidierende  Flächen- 
quantum ist  zweidimensional,  es  besitzt  Länge  und  Breite,  jedes 
Raumkontinuum  endlich  ist  dreidimensional  und  wird  als  Quantum 
erst  durch  die  drei  Dimensionen  > Länge«,  > Breite«  und  > Tiefe«  voll- 
ständig bestimmt.  Auch  in  diesen  Feststellungen  können  wir  nichts 
entdecken,  was  uns  aus  der  Geometrie  nicht  schon  bekannt  wäre. 

Vielleicht  finden  wir  nun  besondere  originelle  Erkenntnisse  in 
dem  folgenden  Kapitel  der  Mallyschen  Abhandlung,  das  die  unteil- 
baren Quanta  behandelt.  Hier  wird  zunächst  konstatiert,  daß  seiner 
Natur  nach  unteilbar  ist,  was  keine  Teile  hat,  kein  Komplex  ist,  also 
einfach  ist,  und  daß  es  zu  jedem  unteilbaren  Quantum  noch  kleinere 
unteilbare  Quanta  derselben  Art  gibt,  die  nicht  seine  Teile  sind. 
>Da  ein  Komplex  von  Gegenständen,  die  einem  eindimensionalen 
Kontinuum  angehören,  eine  Reihe  ist«,  so  ist  > jedes  einfache 
Quantum  E  Bestandstück  einer  Reihe  R(E)j  worin  von  je  zwei  Daten 
E  eines  immer  zwischen  Null  und  dem  anderen  liegt.«  >Die  Reihe 
der  einfachen  Quanta  ist  kein  Kontinuum«,  obwohl  >die  einfachen 
Quanta  als  Grenzen  einem  Kontinuum  angehören,  nämlich  der  Ver- 
änderungsgeraden, die  zur  Null  führt«.  In  all  dem  steckt 
offenbar  keinerlei  neue  Erkenntnis.  Nicht  nur  die  Psychologie  mit 
ihrer  Anwendung  von  Mathematik  auf  die  psychischen  Vorgänge 
sondern  schon  die  Physik,  sofern  sie  sich  etwa  mit  Photometrie  be- 
schäftigt, lehrt,  wie  unteilbare  Quanta  mathematischer  Behandlung 
zugänglich  gemacht  werden  können.  Sofern  die  betreffenden  Ein- 
sichten aber  nicht  der  Psychologie  und  Physik  und  auch  nicht  der 
Mathematik  zugezählt  werden  sollen,  gehören  sie  ins  Gebiet  der 
Methodenlehre,  also  der  Logik.  Wenn  unser  Autor  ferner  Definitionen 
der  Begriffe  der  Häufungsstelle  einer  Reihe,  der  dichten  Reihe  und 
der  stetigen  Reihe  gibt,  so  erwähnt  er  selbst,  daß  diese  Termini  dem 
mathematischen  Sprachgebrauche  ohne  Bedeutungsänderung  entnommen 
sind.  Weniger  mit  der  Mathematik  haben  die  folgenden  Ausfuhrungen 
zu  tun,  die  von  dtr  Natur  der  unteilbaren  Quanta,  von  den  ein- 
fachen Quantis,  die  Qualitäten  an  Gegenständen  sind,  von  den  ein- 
fachen Quantis,  die  Qualitäten  zwischen  Gegenständen  sind  und  von 
den  einfachen  Quantis,  die  keine  echten  Qualitäten  sind,  handeln. 
Da  indessen  in  diesen  Ausführungen  Begriffe  wie  Ausdehnung,  Ge- 
schwindigkeit,  Arbeit,  Dichte,  Fähigkeit,  Leistung,  Kraft,  Wert, 
Wahrscheinlichkeit  neben  Begriffen  wie  Gleichheit,  Aehnlichkeit  u.  s.  w. 


ÜntersuchoDgcn  zur  Gegenstandstheorie  and  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      33 

besprochen  werden,  so  sieht  man  ohne  weiteres,  daß  hier  Gegenstands- 
theorie im  Sinn  einer  apriorischen  Wissenschaft  nicht  vorliegen  kann. 

Das  fünfte  Kapitel  der  Mallyschen  Abhandlung,  welches  sich 
mit  der  > Messung  der  teilbaren  Quanta c  beschäftigt,  enthält  aus- 
schließlich mathematische  Betrachtungen.  Die  direkten  Rechnungs- 
operationen werden  behandelt  in  Formeln  wie  >jeder  explizite  Mengen- 
komplex von  Zahlen  koinzidiert  mit  einem  impliziten  Zahlkomplex 
d.  h.  mit  einer  Zahle  Die  symbolische  Darstellung  in  Formeln  wie 
>a  +  b  +  c  ='d€  zeigt,  daß  wir  es  mit  nichts  anderem  als  mit  der 
Beschreibung  von  Addieren,  Multiplizieren,  Potenzieren,  Subtrahieren, 
Dividieren,  Radizieren,  Logarithmieren  zu  tun  haben.  Auch  in  der 
weiteren  Verfolgung  dieser  Betrachtungen  finden  wir  nichts  Neues. 
Es  wird  beschrieben,  was  in  der  Mathematik  in  knappen  Formeln 
ausgedrückt  ist  z.  B.  daß  Komplexe,  die  mit  demselben  Gegenstand 
koinzidieren,  auch  unter  einander  koinzidieren,  daß  jedes  Quantum 
dieselbe  relative  Größe  hat  wie  seine  Maßzahl,  daß  Flächen,  die  mit  dem- 
selben zweidimensionalen  Quantum  koinzidieren,  größengleich  sind  u.s.w. 

Ganz  Analoges  gilt  endlich  auch  vom  sechsten  Kapitel,  das  die 
Messung  der  unteilbaren  Quanta  behandelt,  bloß  daß  dieses  Kapitel 
mehr  den  Charakter  einer  Methodologie  bestimmter  empirischer 
Wissenschaften,  einer  Anwendung  der  Mathematik,  als  den  Charakter 
reiner  Mathematik  besitzt.  Wir  erfahren,  daß  die  unteilbaren  Quanta 
meßbar  sind,  wenn  zwischen  ihnen  und  meßbaren  teilbaren  Quantis 
direkte  Zuordnung  besteht.  Dann  wird  näher  eingegangen  auf  die 
Messung  der  einfachen  Quanta,  die  Qualitäten  an  Gegenständen  sind. 
Hinsichtlich  der  Ausdehnung  wird  konstatiert,  daß  die  Ausdehnung 
(als  ihrerseits  unteilbare  Qualität)  eines  teilbaren  Quantums  Produkt- 
quantum seiner  einzelnen  Dimensionen  ist.  Ebenso  finden  sich  die 
bekannten  Formeln  für  die  Berechnung  der  Geschwindigkeit  aus  Weg 
und  Zeit,  der  Beschleunigung  aus  Geschwindigkeit  und  Zeit,  der 
Spannung  aus  Masse  und  Beschleunigung  sowie  der  Dichte  aus  Masse 
und  Ausdehnung.  Die  folgende  Betrachtung  über  die  Messung  der 
Quanta,  die  Qualitäten  zwischen  Gegenständen  sind,  führt  ins  Gebiet 
der  Differentialrechnung.  Es  wird  schließlich  festgestellt,  daß  mit 
konstanter  Geschwindigkeit  der  Zunahme  eines  Quantums  eine 
abnehmende  Geschwindigkeit  seiner  Veränderung  gegeben  ist.  Ferner 
werden  aus  der  Tatsache  des  logarithmischen  Verschiedenheitsmaßes 
zwei  Gesetze  über  Verschiedenheiten  abgeleitet,  nämlich  erstens  dies, 
daß  die  Verschiedenheit  zweier  Produkte  gleich  dem  Summenquantum 
der  Verschiedenheit  ihrer  Faktoren  ist,  und  zweitens,  daß  die  Ver- 
schiedenheit zweier  Quotienten  gleich  dem  Differenzquantum  der  Ver- 
schiedenheit der  Zähler  und  der  Verschiedenheit  der  Nenner  ist.   Was 

WiU  gtL  Abs.  1906.  Nr.  1.  3 


34  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

endlich  die  Messung  der  einfachen  Quanta,  die  keine  echten  Quali- 
täten sind,  anbetrifft,  so  wird  gleichfalls  schon  Bekanntes  bezüglich 
der  Messung  von  Energie,  Kraft  und  Wahrscheinlichkeit  beigebracht. 
Besondere  Erwähnung  findet,  daß  die  psychische  Energie  günstigen- 
falls an  außerpsychischen  Gegenständen,  als  Surrogaten,  meßbar  ist, 
und  hinsichtlich  des  Wertes  wird  betont,  daß  er  an  der  Größe  der 
ihm  korrelaten  Werthaltung  gemessen  werden  kann.  Wir  finden  in 
alledem  Beiträge  zur  Methodik  besonderer  Wissenschaften,  die  man 
ihrem  wissenschaftlichen  Charakter  nach  ebensogut  zu  den  betreffenden 
Wissenschaften  wie  zur  logischen  Methodenlehre  rechnen  kann. 

Damit  glauben  wir  den  Nachweis  erbracht  zu  haben,  daß  auch 
in  den  speziellen  Untersuchungen  Mallys  nichts  Gegenstandstheo- 
retisches zu  finden  ist,  was  nicht  in  der  Mathematik  oder  der  Logik 
heimatberechtigt  wäre.  Trotzdem  sei  noch  kurz  erwähnt,  wie  Mally 
am  Schluß  der  besprochenen  Ausführungen  >die  in  der  Einleitung 
versuchte  vergleichende  Charakteristik  von  Gegenstandstheorie  des 
Messens  und  Mathematik <  glaubt  > ergänzen <  zu  können.  Er  meint: 
»Gegenstandstheorie  des  Messens  befaßt  sich  mit  den  Messungs- 
objektiven überhaupt,  reinen  und  determinierten ;  mit  deren  Objekten, 
den  reinen  und  den  determinierten  Quantis,  und  mit  deren  bestim- 
menden Gegenständen,  den  Zahlen.  Mathematik  betrachtet  außer 
den  determinierten  Messungsobjektiven,  deren  Objekte  geometrische 
Baumquanta  sind,  nur  reine  Messungsobjektive,  —  die  Quanta, 
außer  den  geometrischen,  nur  als  Objekte  reiner  Messungobjektive, 
d.  h.  nur  sofern  sie  reine  Quanta  sind,  ihrer  relativen  Größe 
nach;  endlich  betrachtet  sie  auch  die  bestimmenden  Gegenstände, 
die  Zahlen.  Sie  hat  aber  außer  den  Messungsobjektiven  noch  ein 
weites  Gebiet  ihrer  Untersuchungen c. 

Wenn  wir  diese  Unterscheidung  recht  verstehen,  so  kommt  sie 
auf  eine  Gegenüberstellung  reiner  und  angewandter  Mathematik  hin- 
aus. Die  reine  Mathematik  hat  freilich  nichts  mit  > determinierten  < 
Gegenständen  wie  Geschwindigkeit,  Energie,  Wert  u.  s.  w.  zu  tun. 
Aber  in  die  Gegenstandstheorie  gehören  diese,  wie  wir  gezeigt  zu 
haben  glauben,  ebensowenig. 

Wichtiger  jedoch,  als  der  eben  erwähnte  Unterschied,  soll  der 
Gegensatz  sein,  der  zwischen  Gegenstandstheorie  des  Messens  und 
Mathematik  hinsichtlich  der  Art  und  Weise  bestehe,  wie  sie  ihre 
Gegenstände  betrachten.  Diesen  Gegensatz  glaubt  Mally  > psycho- 
logische so  kennzeichnen  zu  können:  > Gegenstandstheorie  untersucht 
die  Gegenstände  gegebener  Vorstellungen  und  insbesondere  ge- 
gebener ^Begriffe,  Mathematik  bildet  Begriffe  und  untersucht  die 
in  ihren  Definitionen  angenommeneu  Gegenstände«. 


ÜDtersQchangen  zur  GegeDstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      35 

Demgegenüber  müssen  wir  betonen,  daß  ein  >  gegebener  Begriffe 
uns  in  gewissem  Sinn  ein  Unding  zu  sein  scheint.  Jeder  Begriff  ist 
ja  seiner  Natur  nach  eine  Schöpfung  des  Menschen.  Höchstens  in 
dem  Sinn  kann  von  einem  gegebenen  Begriff  die  Rede  sein,  daß  der- 
selbe von  einer  Wissenschaft  bearbeitet  und  einer  anderen  Disziplin 
>gegeben<  d.h.  zur  weiteren  Behandlung  dargeboten  wird.  Id  diesem 
Fall  kommt  aber  die  in  Rede  stehende  Unterscheidung  darauf  hinaus, 
daß  der  Beschäftigung  mit  angenommenen  Gegenständen,  d.  h. 
mit  Gegenständen,  die  nur  die  ihnen  ausdrücklich  zugeschriebenen 
Eigenschaften  besitzen,  eine  Beschäftigung  mit  empirisch  ge- 
gebenen Gegenständen  entgegengesetzt  wird,  d.h.  mit  Gegenständen, 
die  nicht  als  Träger  bestimmter  Eigenschaften  fingiert  sondern  als 
tatsächliche  Vereinigung  von  Eigenschaften  aus  der  Erfahrung  be- 
kannt sind.  Aber  die  Beschäftigung  mit  letzteren  ist  eben  des- 
halb nicht  Sache  einer  apriorischen  sondern  einer  aposterio- 
rischen Wissenschaft.  Sie  gehört  nicht  in  die  Gegenstandstheorie 
sondern  in  die  empirischen  Wissenschaften.  Daß  gelegentlich  auch 
in  den  letzteren,  nachdem  eine  Reihe  von  Begriffen  empirisch  ge- 
wonnen worden  sind,  rein  begrifflich  gewisse  Beziehungen  sich  fest- 
stellen lassen,  soll  natürlich  nicht  geleugnet  werden.  Die  Deduktion 
braucht  auch  in  induktiven  Wissenschaften  nicht  vollständig  zu  fehlen. 
Es  besteht  jedenfalls  kein  Grund,  das,  was  aus  Erfahrungsergebnissen 
deduktiv  erschlossen  ist,  für  vollkommen  a  priori  erkennbar  zu  halten 
und  den  empirischen  Wissenschaften  zu  entziehen.  Kurz,  wir  müssen 
nach  wie  vor  daran  festhalten,  daß  die  Gegenstandstheorie,  sofern 
sie  den  aposteriorischen  Wissenschaften  gegenüber  gestellt  wird,  in 
Logik  und  Mathematik  aufgeht.  Ob  es  zweckmäßig  ist,  diese  beiden 
unter  dem  Begriff  der  formalen  Disziplinen  bereits  zusammengefaßten 
Wissenschaften  dem  Oberbegriff  der  Gegenstandstheorie  unterzuordnen, 
darauf  wollen  wir  nicht  weiter  eingehen.  Nachdem  wir  gesehen 
haben,  daß  der  Gegenstandstheorie  weder  die  Gesamtheit  aller  Gegen- 
stände noch  auch  nur  die  Gesamtheit  der  idealen  Gegenstände  zur 
Behandlung  zugewiesen  werden  kann,^)  halten  wir  die  Wahrscheinlich- 
keit, bei  näherer  Betrachtung  zu  einer  positiven  Entscheidung  der 
Zweckmäßigkeitsfrage  zu  gelangen,  für  nicht  sehr  groß. 

1)  Die  Frage,  ob  nicht  die  allgemeinsten,  den  realen  und  idealen  Gegen- 
ständen zukommenden  Eigentümlichkeiten  einer  besonderen  Untersuchung  unter- 
zogen werden  könnten,  ist  natürlich  mit  der  Ablehnung  der  Meinongschen  »Oegen- 
standstheorie«  nicht  verneint.  Ein  einzelnes,  teUweise  nur  a  posteriori  zu  lösendes 
Problem  der  Erkenntnistheorie  und  die  Aufgabe  einer  selbständigen  apriorischen 
Wissenschaft  sind  eben  zweierlei  Dinge. 

3* 


3Ö  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

IL 

üeberOekonomie  des  Denkens.  Von  Dr.  Wilhelm  Frankl.  S.263-302. 

Was  versteht  man  unter  »Oekonomie  des  Denkens?«  Auf  diese 
Frage  wUrden  wir  antworten:  Der  Ausdruck  > Oekonomie  des  Denkens« 
bezeichnet  die  Eigenart  der  Denkprozesse,  durch  die  es  uns  möglich 
wird,  bei  aller  Beschränktheit  unserer  geistigen  Kraft  doch  das 
Riesenwerk  der  Welterkenntnis  zu  fördern.  Die  Beschränktheit 
unserer  geistigen  Kraft  zeigt  sich  in  den  Tatsachen  der  Enge  des 
Bewußtseins-  und  Aufmerksamkeitsumfangs,  vor  allem  darin,  daß  von 
der  Stärke  der  Konzentration,  die  sich  in  Klarheit  und  Deutlichkeit, 
in  der  Menge  und  Beschaffenheit  der  Einzelheiten  eines  erfaßten 
Gegenstandes  zu  erkennen  gibt,  nicht  nur  der  Umfang  der  zu  er- 
fassenden Gegenstände  sondern  auch  die  Geschwindigkeit,  mit  der 
die  Aufmerksamkeit  von  einem  Gegenstand  zum  andern  überzugehen 
vermag,  abhängig  ist.  Wer  mit  der  Fähigkeit  zu  einer  höheren 
Konzentration  die  Fähigkeit  raschen  Konzentrationswechsels  verbindet, 
wer  also  beispielsweise  neben  einander  einen  Brief  diktieren  und  ein 
Buch  lesen  kann,  dem  werden  wir  höhere  geistige  Kraft  zuerkennen 
als  demjenigen,  der  nur  Konzentrationsfestigkeit  ohne  die  Fähigkeit 
raschen  Wechsels  besitzt,  der  also  nur  entweder  lesen  oder  diktieren 
kann,  und  natürlich  noch  weit  höhere  als  demjenigen,  der  weder  das 
eine  noch  das  andere  fertig  bringt,  weil  es  ihm  überhaupt  an  Kon- 
zentrationsfestigkeit gebricht. 

Zeigt  demnach  die  geistige  Kraft  bei  verschiedenen  Individuen 
Größenunterschiede,  so  reicht  sie  über  ein  gewisses  Maximum  er- 
fahrungsgemäß bei  keinem  Menschen  hinaus.  Mit  einem  endlichen 
Maß  geistiger  Energie  treten  wir  also  an  die  Aufgaben  des  Erkennens 
heran.  Es  ist  klar,  daß  wir  den  Zweck  des  Erkennens,  die  gewünschte 
Orientierung  in  der  Wirklichkeit,  die  Klarheit  und  Widerspruchs- 
losigkeit  in  unserer  Gedankenwelt  und  was  man  sonst  noch  anführen 
mag,  nicht  erreichen  könnten,  wenn  wir  nicht  haushälterisch  mit  den 
uns  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  umgingen.  Wenn  wir  beispielsweise 
in  lauter  Individualbegriffen  denken  wollten,  so  würde  durch  die  auf 
unbedeutende  Einzelheiten  verwendete  und  verschwendete  Konzen- 
tration der  Ueberblick  über  große  Zusammenhänge  erschwert  und 
unmöglich  gemacht.  Wenn  wir  zu  jedem  neuen  Eindruck,  den  wir 
von  >demselben  Ding<  erhalten,  einen  neuen  Begriff  konstruieren 
würden,  statt  neben  der  Einheit  des  Dinges  die  Verschiedenheit 
seiner  Aspekte  fast  unbeachtet  zu  lassen,  wenn  wir  statt  allgemeiner 
Gesetze  jeden  einzelnen  Zusammenhang  nach  seiner  örtlichen,  zeit- 
lichen und  sonstigen  Besonderheit  ins  Auge  fassen  wollten,  dann 
stünde  es  schlecht  um  unsere  Welterkenntnis. 


üntenachongen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  Ton  Meinong.      97 

Sofern  wir  nun  in  der  Tat  anders  verfahren,  sofern  wir  die 
Rücksicht  auf  das  Individuelle  dem  Erfassen  des  Allgemeinen,  die 
Detailerkenntnis  dem  Ueberblick  in  vielen  Fällen  '»opfem<,  sofern 
können  wir  von  Oekonomie  des  Denkens  reden.  Und  da  die  Bildung 
allgemeiner  Begriffe,  die  Anwendung  der  Substanz-  und  Eausalitäts- 
Kategorie  unser  ganzes  Denken  und  Erkennen  bestimmt,  so  dürfen 
wir  wohl  auch  von  einem  >Prinzip<  der  Denkökonomie  sprechen. 

Wenn  dann  die  Frage  aufgeworfen  wird,  ob  etwas,  was  den 
Gattungsbegriffen  entspricht,  ob  femer  Substanzen  und  Kausalzu- 
sammenhänge in  der  Wirklichkeit  vorkommen,  so  kann  man  dieser 
Frage  gegenüber  eine  verschiedene  Stellung  einnehmen.  Man  kann 
sie  entweder  für  unberechtigt  erklären,  indem  man  sagt,  die  durch 
das  Prinzip  der  Oekonomie  des  Denkens  bedingten  Denkformen  seien 
in  sich  selbst  gerechtfertigt,  weil  sie  den  Zwecken  des  Erkennens 
entsprächen,  das  gar  nicht  auf  ein  Erfassen  von  Transscendentem,  viel- 
mehr nur  auf  Herstellung  einer  geordneten,  klaren  Uebersicht  über 
das  Gegebene  und  seine  Zusammenhänge  angelegt  sei.  Oder  aber 
man  kann  die  in  Rede  stehende  Frage  für  berechtigt  halten.  In 
diesem  Fall  ist  wieder  ein  Doppeltes  möglich.  Man  kann  nämlich 
versuchen  nachzuweisen,  daß  die  durch  das  Oekonomieprinzip  be- 
dingten Denkformen  zugleich  Anspruch  auf  Wahrheit  oder  Wahr- 
scheinlichkeit (im  Sinn  einer  festgestellten  oder  doch  sehr  annehm- 
baren Uebereinstimmung  mit  dem  Gegenstand)  besitzen  —  oder  man 
kann  die  Wahrheitsfrage  als  eine  zwar  vernünftige,  aber  vorläufig 
nicht  zu  beantwortende  Frage  unentschieden  lassen. 

Damit  glauben  wir  die  wichtigsten  erkenntnistheoretischen  und 
psychologischen  Probleme,  die  sich  an  den  Begriff  der  Denkökonomie 
knüpfen,  gestreift  zu  haben.  Wenn  wir  nun  demgegenüber  die  Aus- 
führungen Frankls  über  Oekonomie  des  Denkens  betrachten,  so  finden 
wir  teilweise  andere  Fragestellungen,  teilweise  auch  andere  Lösungen 
als  die  oben  angedeuteten.  Sehen  wir  also  zu,  inwiefern  dies  eine 
Ergänzung,  inwiefern  es  einen  Widerspruch  bedeutet  und  wie  ein 
etwa  bestehender  Widerspruch  sich  auflösen  läßt. 

Frankl  bemüht  sich  zunächst  um  eine  Definition  des  Begriffes 
Oekonomie.    Er  konstatiert,  daß  wir  von  Oekonomie  sprechen 

1.  dort,  wo  eine  Leistung  L  durch  eine  Handlung  H  erzielt 
wird,  welche  auch  durch  eine  Handlung  H'  erzielt  werden  könnte, 
wobei  H^zir, 

2.  dort,  wo  eine  Leistung  L  durch  eine  Handlung  H  erzielt  wird, 
wenn  durch  IT  auch  eine  Leistung  V  erzielt  werden  könnte,  wobei  L'<c:L. 

In  beiden  Fällen,  die  als  Spar-  und  Wirtschaftsökonomie  aus- 
einandergehalten werden,  handelt  es  sich,  wie  unser  Autor  betont, 


38  Gdtt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

a)  um  quantitative  Momente  von  H  bezw.  Z, 

b)  um  ein  Verhältnis  des  Tatbestandes,  der  durch  JT*  und  L 
ausgemacht  wird  (dieser  Tatbestand  wird  mit  T  bezeichnet),  zu  einem 
anderen  Tatbestand  ähnlicher  Art  (ökonomische  Vergleichsgröße  ge- 
nannt und  mit  T  bezeichnet),  der  durch  IT  und  L  oder  durch  H 
und  L'  dargestellt  wird,  also  mit  dem  erstgenannten  Tatbestand  ent- 
weder das  H  oder  das  L  gemeinsam  hat. 

Uebrigens  führt  Frankl  auch  noch  einen  dritten  Fall,  den  Fall 
»gemischter   Oekonomiec  an,   wo  dem    T  =  H,L  ein   T  =  H\  L' 

gegenübersteht,  wo  also  T  und  T  weder  H  noch  L  gemeinsam 
haben.  Unter  allen  Umständen  aber  kommt  der  Oekonomie  »Bino- 
mialitätc  und  >Relativität<  zu.  Wo  entweder  die  Binomialität  oder 
die  Relativität  fehlt,  da  kann  vielleicht  von  Einfachheit  bezw.  Zweck- 
mäßigkeit, nicht  aber  von  Oekonomie  die  Rede  sein.  Von  einem 
Oekonomie prinzip  endlich  darf  nach  Frankl  nur  gesprochen  werden, 
wo  die  Formel  anwendbar  ist:  > Alle  ^Tatbestände  sind  ökonomische, 
wenn  wir  »mit  t  die  rein  qualitative  Bestimmtheit  des  Oekonomie- 
binoms  T  bezeichnen  <. 

Prüfen  wir  im  Lichte  dieser  Definitionen  unsere  Betrachtungen 
über  das  Wesen  der  Denkökonomie,  so  finden  wir  zu  einer  Korrektur 
derselben  kaum  Veranlassung.  Wir  haben  eine  Leistung  L  namhaft 
gemacht,  die  den  Zweck  des  Erkennens  darstellt,  und  haben  darauf 
hingewiesen,  daß  dieser  Zweck  durch  ein  i/,  d.  h.  durch  das  Denken 
in  AllgemeinbegrifTen,  in  Substanz-  und  Kausalkategorien  erreicht 
wird,  während  er  auch  durch  ein  H\  d.  h.  durch  ein  Denken  in 
lauter  Individualbegriffen  erreicht  werden  könnte,  wenn  wir  überhaupt 
imstande  wären,  H'  durchzuführen.  Oder,  wenn  wir  mit  IT  die 
Denkarbeit  bezeichnen,  die  ein  Mensch  beim  Denken  in  lauter  Indi- 
vidualbegriffen vollbringen  könnte,  dann  ließe  sich  der  früher  erwähnte 
Tatbestand  auch  so  ausdrücken:  Durch  H'  wird  nur  ein  kleiner  Teil 
von  Z,  dem  durch  H  zu  erreichenden  Zweck  der  Erkenntnis  erreicht. 
Haben  wir  demnach  auf  Grund  der  Definitionen  unseres  Autors  das 
Recht,  von  Denkökonomie  zu  sprechen,  so  dürfen  wir  auch  ein 
Prinzip  der  Denkökonomie  statuieren,  indem  wir  behaupten  können: 
Jegliches  Denken  in  AllgemeinbegrifTen  ist  gegenüber  dem  Denken 
in  Individualbegriffen,  jegliches  Denken  mittels  der  Substanz-  und 
Kausalkategorie  ist  gegenüber  dem  diese  Kategorien  umschreibenden 
Denken  ökonomisch. 

Zu  diesen  einfachen  Schlußfolgerungen  treten  jedoch  die  Be- 
trachtungen über  Denkökonomie,  die  Frankl  seinen  allgemeinen 
Definitionen   folgen  läßt,   in  einen  seltsamen  Widerspruch.     Frankl 


üntenachangen  zur  GegenatancUtbeorie  nod  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.     39 

bezeichnet  nämlich  die  >  Behauptung  von  allgemeiner  Denkökonomie 
als  psychologisches  Oekonomieprinzipc  und  kommt  zu  dem  Resultat, 
daß  ein  allgemeines  psychologisches  Oekonomieprinzip  abzulehnen  ist. 
Dagegen  statuiert  er: 

1.  Ein  biologisches  Oekonomieprinzip,  »dahin  zu  formulieren, 
daß  die  dauernd  existierenden  Lebewesen  in  ihrem  Verhalten 
nicht  unter  einen  gewissen  Grad  von  Oekonomie  herabgehen, 
welcher  Grad  jedoch  vom  Kraftbesitz  der  Individuen  abhängig 
und  mit  diesem  variabel  ist<. 

2.  Ein  psychologisches  Oekonomieprinzip  der  Gewohnheit, 
dahin  lautend:  >Alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  sind 
ökonomisch«. 

3.  Ein  erkenntnistheoretisches  Oekonomieprinzip  der  In- 
duktion, »besagend,  daß  die  auf  Induktion  beruhenden  Urteile 
ökonomischer  sind  als  andere,  die  sich  auf  denselben  Gegenstand 
beziehen«. 

4.  Ein  erkenntnistheoretisches  Prinzip  der  Hypothesen- 
ökonomie, >dahin  lautend,  daß  die  mehr  Tatsächliches  er- 
klärende Hypothese  ceteris  paribus  wahrscheinlicher  ist,  als  die 
weniger  erklärende«. 

5.  Ein  wissenschaftstheoretisches  Oekonomieprinzip  folgenden 
Wortlauts:  >Die  Wissenschaft  zieht  ceteris  paribus  einfache 
Formulierungen  den  weniger  einfachen  vor«. 

6.  Wundts  methodologisches  Prinzip,  bestehend  in  der  > Forde- 
rung, die  Probleme  in  Her  möglichst  einfachen  Weise  zu  formu- 
lieren und  sich  des  möglichst  einfachen  Verfahrens  zu  ihrer 
Lösung  zu  bedienen«. 

7.  Ein  emotionales  Oekonomieprinzip  der  Lust,  nämlich  Höflers 
Lustgesetz:  > Insoweit  Lust  an  das  Verrichten  psychischer  Arbeit 
geknüpft  ist,  und  insoweit  sich  letztere  auf  den  Typus  p  s  (Span- 
nungsfaktor X  Wegfaktor)  zurückführen  läßt,  wächst  die  Lust  mit 
dem  wachsenden  ^  und  nimmt  ab  mit  dem  wachsenden  p<. 

8.  Ein  emotionales  Oekonomieprinzip  des  Wertes,  welches 
besagt:  >Sofern  Oekonomie  einen  realisierbaren  Werttatbestand 
bedeutet,  kann  man  eine  Tendenz  zu  demselben  vermuten,  bezw. 
kann  man  die  Endglieder  einer  Entwicklungsreihe  als  ökonomische 
vermuten  <. 

9.  Wundts  didaktisches  Oekonomieprinzip,  die  »Forderung, 
einen  gegebenen  wissenschaftlichen  Inhalt  in  der  möglichst  ein- 
fachen Form  zum  Ausdruck  zu  bringen<. 

Ueberblickt  man  die  Gesamtheit  dieser  Prinzipien,  so  ist  zunächst 
der  Einteilungsgrund   nicht  recht  zu  erkennen.     Die   meisten  sind 


I 


40  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

offenbar  lediglich  nach  den  Wissenschaften  benannt,  von  denen  sie 
konstatiert  werden.  So  kann  z.  B.  von  einem  biologischen  oder  von 
einem  wissenschaftstheoretischen  Oekonomieprinzip  nur  in  dem  Sinn 
gesprochen  werden ,  daß  biologische  oder  wissenschaftstheoretische 
Gedankengänge  zu  seiner  Entdeckung  führen.  Andererseits  ist  aber 
auch  klar,  daß  ein  emotionales  Oekonomieprinzip  nicht  ebenfalls  nur 
deshalb  das  Attribut  emotional  verdient,  weil  etwa  Gefühle  zur  Er- 
kenntnis ökonomischen  Verhaltens  irgend  welcher  Art  Veranlassung 
geben. 

Doch  nehmen  wir  einmal  an,  Frankl  habe  mit  der  Bezeichnung 
> emotionales  Oekonomieprinzip«  sich  nur  vergriffen  und  habe  eigentlich 
>  gefühlspsychologisches  Oekonomieprinzip  <  sagen  wollen,  dann  können 
wir  trotzdem  seiner  Einteilung  den  Vorwurf  der  Unzweckmäßigkeit 
nicht  ersparen.  Eine  Vollständigkeit  der  Einteilung  wenigstens  wird 
nicht  gewährleistet,  wenn  man  einfach  die  verschiedenen  Wissen- 
schaften durchgeht,  in  denen  Oekonomieprinzipien  konstatiert  werden. 
Und  es  ist  auch  nicht  einzusehen,  warum  ein  und  dasselbe  Prinzip 
zweimal  aufgeführt  werden  soll,  wenn  es  zufällig  von  zwei  ver- 
schiedenen Wissenschaften  sich  feststellen  läßt.  Sehr  viel  näher  liegt 
es  doch,  die  Oekonomieprinzipien,  wenn  es  deren  im  Gebiet  des 
Denkens  überhaupt  mehrere  gibt,  nach  der  Eigenart  der  Tatbestände 
zu  unterscheiden,  die  ökonomisch  sind. 

Sucht  man  nun  innerhalb  der  Klassifikation  Frankls  nach  Gruppen, 
die  sich  dieser  letzteren  Anordnung  fügen,  so  stößt  man  auf  große 
Schwierigkeiten.  In  erster  Linie  könnte  man  vielleicht  auf  den  Ge- 
danken kommen,  die  > emotionalen  Prinzipien«,  die  sich  mit  der  Ein- 
teilung nach  den  einzelnen,  ein  ökonomisches  Verhalten  konstatierenden 
Wissenschaften  nicht  vertragen,  stünden  > intellektuellen  Prinzipien < 
in  dem  Sinn  gegenüber,  daß  diese  Oekonomie  des  Denkens,  jene 
Oekonomie  des  Gefühlslebens  aussagen.  Aber  abgesehen  davon,  daß 
Frankls  Abhandlung  auf  eine  Betrachtung  der  Oekonomie  des  Denkens 
sich  beschränken  sollte,  die  angedeutete  Gegenüberstellung  erweist 
sich  überhaupt  bei  näherer  Betrachtung  der  >  emotionalen  Prinzipien  < 
als  unrichtig;  denn  es  handelt  sich  bei  letzteren  nicht  um  den  Aus- 
druck der  Tatsache,  daß  alle  emotionalen  oder  auch  nur»  daß  gewisse 
emotionale  Erlebnisse  ökonomisch  sind,  d.  h.  daß  an  Gefühlen  gespart 
wird.  Ferner  soll  keineswegs  behauptet  werden,  daß  Gefühle  stets 
oder  unter  gewissen  Umständen  immer  durch  verhältnismäßig  ge- 
ringen Arbeitsaufwand  hervorgerufen  werden.  Das  Gesetz,  daß 
geringere  psychische  Arbeit  manchmal  lustvoller  empfunden  wird  als 
größerer  geistiger  Energieverbrauch,  ist  überhaupt  kein  Oekonomie- 
prinzip, ebenso  wenig  wie  die  >  Vermutung,  daß  am  Ende  einer  Ent- 


ünterrachungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      41 

wickinngsreihe  ökonomisches  Verhalten  als  realisierter  Werttatbestand 
hervortretet. 

Es  ist  geradezu  unverständlich,  sowohl,  daß  Frankl  hier  von  einem 
Oekonomieprinzip,  als  auch,  daß  er  von  einem  emotionalen  Tatbestand 
spricht.  Aber  nicht  minder  unbegreiflich  ist  auch  die  Subsumption 
von  Forderungen  der  Einfachheit  unter  den  Begriff  von  Oekonomie- 
prinzipien.  Unser  Autor  scheint  ganz  zu  übersehen,  daß  Imperative 
niemals  auf  die  Formel  zurückgeführt  werden  können:  >Alle  ^Tat- 
bestände  sind  ökonomisch <.  Wenn  wirklich  überall  da,  wo  Einfach- 
heit verlangt  wird  (NB.  ohne  daß  angegeben  zu  werden  braucht, 
worin  die  Einfachheit  besteht),  von  einem  Oekonomieprinzip  gesprochen 
werden  dürfte,  dann  könnten  wir  übrigens  die  stattliche  Zahl  der 
Fränkischen  Oekonomieprinzipien  noch  um  ein  beträchtliches  ver- 
mehren. 

Sehr  naheliegende  Einwände  ließen  sich  femer  erheben  gegen 
die  Formulierung  des  biologischen  Oekonomieprinzips  und  gegen  die 
kritiklose  Vermengung  von  Hypothesenökonomie  und  Wahrscheinlich- 
keit. Inwiefern  Oekonomie  darin  liegen  soll,  daß  die  mehr  Tatsäch- 
liches erklärende  Hypothese  ceteris  paribus  wahrscheinlicher  ist  als 
die  weniger  erklärende,  ist  überhaupt  kaum  einzusehen,  wenn  man 
nicht  den  Mut  hat,  die  Hypothese  und  ihre  Wahrscheinlichkeit  als 
Mittel  und  Zweck  einander  gegenüberzustellen. 

Somit  kommen  als  wirkliche  Oekonomieprinzipien  unter  all  den 
von  Frankl  angeführten  höchstens  noch  in  Betracht  die  Sätze,  daß 
alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  ökonomisch  seien,  daß  die 
auf  Induktion  beruhenden  Urteile  einen  Fall  von  Oekonomie  dar- 
stellen und  daß  in  der  Vorliebe  der  Wissenschaft  für  die  Annahme 
einfacher  Verhältnisse,  wo  diese  zur  Erklärung  ausreichen,  ein  ökono- 
misches Verfahren  sich  erkennen  lasse.  Von  diesen  Sätzen  kann  aber 
der  letzte  als  Oekonomieprinzip  deshalb  nicht  gelten,  weil  die  An- 
nahme einfacher  Verhältnisse,  die  einfachere  Hypothese  —  wenn  wir 
uns  der  Frankischen  Symbole  bedienen  —  kein  H  sondern  ein  L 
darstellt  und  weil  keineswegs  einzusehen  ist,  wie  dasselbe  L  durch 
ein  anderes  H  erreicht  werden  soll.  Mit  anderen  Worten:  Jede 
Hypothese  ist  nicht  nur  Mittel  zur  Erklärung,  sondern  stellt  als  Ur- 
teil über  ein  unserer  Erfahrung  entzogenes  Stück  Wirklichkeit  einen 
Selbstzweck  dar,  und  wenn  die  einfachere  Hypothese  als  wahrschein- 
licheres Urteil  vorgezogen  wird,  so  kann  man  nicht  sagen,  daß  die 
kompliziertere  Annahme  denselben  nur  auf  größerem  Umweg  erreichten 
Zweck  repräsentiere. 

Es  bleiben  also  nur  die  von  Frankl  sogenannten  Oekonomie- 
prinzipien der  Gewohnheit  und  der  Induktion  übrig.    Von  diesen  ist 


I 


42  Qöti  gel  Anz.  1906.  Nr.  1. 

das  letztere  ein  spezieller  Fall  desjenigen  Oekonomieprinzips,  das  wir 
als  Prinzip  der  Denkökonomie  formuliert  haben,  und  welches  besagt, 
daß  alles  Denken  in  Allgemeinbegrififen,  wozu  natürlich  auch  die  Fest- 
stellung allgemeiner  Zusammenhänge  durch  Induktion  gehört,  öko- 
nomisch ist.  Das  Oekonomieprinzip  der  Gewohnheit  dagegen  kann 
nur  mit  gewissen  Einschränkungen  aufrecht  erhalten  werden.  Denn 
daß  nicht  alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  ökonomisch  sind, 
sondern  nur  diejenigen,  die  einen  bestimmten  Zweck  erfüllen,  gegen- 
über den  ungewohnten,  welche  denselben  Zweck  erfüllen  sollten,  das 
braucht  wohl  nicht  ausführlich  nachgewiesen  zu  werden.  Fragen 
wir  nun ,  welche  psychischen  Vorgänge  als  H  einem  L  zugeordnet 
werden  können,  so  kommen  die  Gefühle  als  solche  jedenfalls  nicht 
in  Betracht.  Wir  sind  also  höchstens  in  der  Lage,  einer  Oekonomie 
des  gewohnheitsmäßigen  Denkens  eine  solche  des  gewohnheitsmäßigen 
Wo  1  lens  gegenüberzustellen.  Dagegen  ließe  sich  in  der  Tat  nichts 
einwenden,  und  wenn  es  sich  um  die  Bestimmung  der  Oekonomie 
psychischer  Vorgänge  überhaupt  handelte,  dann  würde  unsere  Kon- 
statierung einer  Oekonomie  des  Denkens  durch  den  Hinweis  auf 
eine  mögliche  Oekonomie  des  Wollens  eine  wertvolle  Ergänzung  finden. 

Da  wir  aber  den  Begriff  der  Denkökonomie  nicht  in  dem  weiten 
Sinn  einer  Oekonomie  psychischer  Vorgänge  überhaupt  fassen,  so 
bedeutet  Frankls  Prinzip  der  Gewohnheitsökonomie  keine  Erweiterung 
unseres  Prinzips  der  Denkökonomie,  da  das  gewohnheitsmäßige 
Denken  kein  Denken  neben  dem  mit  identischen  Gegenständen  und 
allgemeinen  Begriffen  operierenden  Denken  ist.  Nur  eine  Teil- 
bedingung, durch  welche  die  Oekonomie  des  Denkens  beeinflußt 
werden  kann,  vermögen  wir  in  der  Gewöhnung  zu  sehen,  so  daß  ^ir 
abschließend  sagen  können:  Es  gibt  eine  Oekonomie  des  Denkens, 
die  durch  Gewohnheit,  durch  die  Annahme  identischer  Gegenstände 
und  durch  die  Konstruktion  allgemeiner  Begriffe  und  Gesetze  be- 
dingt wird. 

Den  Versuch  Frankls,  die  Oekonomie  des  Denkens  in  Allgemein- 
begriffen auf  Gewohnheitsökonomie  zurückzuführen,  und  seine  Polemik 
gegen  die  Formulierung  des  Oekonomieprinzips  bei  Cornelius  müssen 
wir  als  verunglückt  bezeichnen.  Dagegen  darf  die  Ablehnung  der 
Oekonomieformel  von  Avenarius  wohl  als  berechtigt  angesehen  werden 
und  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  Frankl  eben  durch  seine  Ausein- 
andersetzung mit  Avenarius  dazu  veranlaßt  worden  ist,  das  Prinzip 
der  Denkökonomie  als  allgemeines  psychologisches  Minimumprinzip 
aufzufassen  und  so  bei  der  begründeten  Verwerfung  des  letzteren 
den  Blick  für  die  Berechtigung  eines  allgemeinen  Denk  Ökonomie- 
prinzips zu  verlieren. 


Untenuchtuigeii  zur  Gegenstandstheorie  nod  Psychologie,  hn.  von  Meinong.      43 

m. 

Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  Von  Dr.  Vittorio  Benussi. 
S.  303—448. 

Die  verschobene  Schachbrettfigur.  Von  Dr.  Vittorio  Benussi  und 
Wilhelmine  Liel.    S.  449—472. 

Den  Arbeiten  von  Benussi  »Zur  Psychologie  des  Gestalter fassensc 
und  von  Benussi  und  Wilhehnine  Liel  >Die  verschobene  Schachbrett- 
figur<  ist  der  Grundgedanke  gemeinsam,  wonach  ein  Teil  der  geo- 
metrisch-optischen Täuschungen,  speziell  die  Erscheinungen  der 
Mliller-Lyerschen  Figur  und  das  Schachbrettphänomen  aus  den  Ge- 
setzen der  Vorstellungsproduktion  sollen  erklärt  werden  können. 
Einer  derartigen  Behauptung  stehen  hauptsächlich  zwei  Einwände 
entgegen,  nämlich  erstens  der  Hinweis  auf  die  Regelmäßigkeit,  die 
in  den  betrefifenden  optischen  Täuschungen  hervortritt  und  die  in 
scharfem  Gegensatz  zu  stehen  scheint  zu  der  Willkürlichkeit,  mit 
welcher  bei  typischen  Fällen  von  Vorstellungsproduktion  bald  dieser, 
bald  jener  Eindruck  hervorgerufen  werden  kann.  Daneben  kommt 
zweitens  in  Betracht,  daß  die  Tatsachen  der  Vorstellungsproduktion 
ihrerseits  keine  allgemeinen  Gesetze  sind,  die  das,  was  ihnen  sub- 
sumiert werden  kann,  ohne  weiteres  erklären. 

Was  nun  den  ersten  Einwand  anlangt,  so  sind  die  experimen- 
tellen Untersuchungen,  welche  den  in  Rede  stehenden  Arbeiten  zu- 
grunde liegen,  dazu  bestimmt,  ihn  zu  entkräften.  Ob  sie  dazu  auch 
geeignet  sind,  das  soll  uns  eine  kurze  Betrachtung  derselben  zeigen. 
Es  handelt  sich  sowohl  bei  den  Versuchen  Benussis  wie  bei  den- 
jenigen von  Benussi  und  Liel  vor  allem  um  die  Feststellung  eines 
verschiedenen  Verhaltens  der  Versuchsperson  demselben  Reiztat- 
bestand gegenüber  bei  verschiedener  Richtung  der  Aufmerksamkeit, 
femer  um  die  Konstatierung  einer  Variation  dieses  verschiedenen 
Verhaltens  bei  fortschreitender  Uebung  in  willkürlicher  Aufmerksam- 
keitseinstellung und  endlich  um  den  Nachweis  analoger  Variation, 
wenn  Aufmerksamkeitsreize  die  Aufmerksamkeitsrichtung  beeinflussen. 

Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  unterscheiden  die  Verfasser 
eine  G-Reaktion,  eine  -4-Reaktion  und  eine  Ä-Real^tion  ihrer  Versuchs- 
personen, von  denen  die  erste  den  Fall  bezeichnet,  wo  die  Versuchs- 
person aufgefordert  wird,  die  Gesamtgestalt  der  Täuschungsfigur 
aufzufassen.  Bei  der  an  zweiter  Stelle  genannten  Reaktionsweise 
Muß  die  Versuchsperson  von  den  die  Täuschung  bedingenden  Bestand- 
teilen der  Figur,  so  gut  es  geht,  abstrahieren  und  von  einer 
£f-Reaktion  wird  da  gesprochen,  wo  eine  bestimmte  Richtung  der 
Aufmerksamkeit  nicht  intendiert   ist.     Es    wird  nun  nachgewiesen. 


I 


44  Gott.  fei.  Aai.  l^iB.  Xr.  1. 

daß  G-,  A'  nnd  S-Reaktion  in  verschiedenen  Ergebnissen  der  mit 
demselben  Reiztatbestand  angestellten  Versache  sich  zu  erkennen 
geben.  Diese  Versuche  bestehen  im  Fall  der  an  der  Müller-Lyerschen 
P'igur  angestellten  Beobachtungen  darin,  daß  zu  dem  Mittelstfick  der 
Figur  eine  schenkellose  Strecke  von  scheinbar  gleicher  Länge  kon- 
struiert wird,  die  von  der  wirklichen  Gleichheit  umso  weiter  entfernt 
ist,  je  ausgeprägter  die  G-Reaktion  auftritt.  Bei  den  Versuchen  mit 
der  Schachbrettfigur  wird  zu  der  Trennungslinie  der  beiden  Reihen 
von  schwarzen  und  weißen  Quadraten  eine  scheinbare  Parallele  ge- 
zogen. Dabei  entspricht  diese  scheinbare  umso  mehr  der  wirklichen 
Parallelen,  je  besser  die  .4-Reaktion  gelingt.  Die  Ergebnisse  der 
5-Reaktion  liegen  stets  in  der  Mitte  zwischen  den  Resultaten  der 
A'  und  der  G-Reaktion. 

Ganz  analog  wie  die  Bedeutung  der  A-  und  6-Reaktion  wird 
femer  der  Einfluß  der  A-  und  G-Uebung  nachgewiesen,  indem  ge- 
zeigt wird,  daß  die  Verschiedenheit  der  Ergebnisse  bei  den  entgegen- 
gesetzten Reaktionsarten  umso  größer  ist,  je  später  dieselben  ge- 
wonnen sind,  d.  h.  je  größere  Uebung  die  Versuchsperson  im  Reagieren 
nach  Typus  A  oder  G  sich  erworben  hat. 

Was  endlich  den  Nachweis  der  Wirksamkeit  von  Aufmerksam- 
keitsreizen anlangt,  so  wird  derselbe  in  der  Weise  erbracht,  daß  bei 
der  Müller-Lyerschen  Figur  Mittelstück  und  Schenkel  in  allen  mög- 
lichen Richtungen  variiert  werden,  während  bei  dem  Schachbrett- 
muster die  Helligkeit  und  Farbe  der  Quadrate  sowie  die  Beschaffen- 
heit der  Trennungslinie  für  verschiedene  Versuche  verschieden  gewählt 
wird.  Dabei  zeigt  sich  eine  Verschiedenheit  in  den  Ergebnissen  je 
nach  der  Größe  des  Winkels,  den  die  Schenkel  der  Müller-Lyerschen 
Figur  mit  dem  Mittelstück  bilden,  je  nachdem  Schenkel  und  Mittel- 
stUck  farblos  oder  farbig,  färben-  und  helligkeitsgleich  oder  farben- 
und  helligkeitsverschieden,  durch  ausgezogene  Linien  oder  bloß  durch 
die  Endpunkte  dargestellt  sind,  je  nachdem  femer  entweder  bloß  die 
Schenkel  oder  bloß  das  Mittelstück  ausgezogen  bezw.  nur  angedeutet, 
je  nachdem  endlich  beim  Schachbrettmuster  chromatische  oder  achro- 
matische, helligkeitsähnliche  oder  sehr  verschiedene  Quadrate  und 
eine  stark  schwarz  oder  weiß  ausgezogene  oder  eine  nur  fingierte 
Trennungslinie  in  Betracht  kommen.  Den  Einfluß  dieser  MomenUe 
glauben  die  Verfasser  zusammenfassend  dahin  bestimmen  zu  könnem, 
daß  alle  Bedingungen,  welche  die  ^-Reaktion  begünstigen,  eine  Ve9^ 
ringerung  der  Täuschungsgröße,  alle  diejenigen,  welche  der6r-Reaktiofi 
Vorschub  leisten,  eine  Erhöhung  des  Täuschungsbetrages  zur  Feiges 
haben.  Tatsächlich  müssen  wir  zugeben,  daß  durch  die  Versuchs*-- 
resultate  eine  Auffassung  gerechtfertigt  erscheint,  wonach  jeder  Um-  • 


üntersnchuDgen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      45 

stand   die  Täuschung  vergrößert,  der  das  Hervortreten  der  bei  der 
^-Reaktion  zu  übersehenden  Bestandteile  begünstigt. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  dadurch  die  Erklärung  der  in  Rede 
stehenden  Erscheinungen  als  >Produktionstäuschungen<  zureichend 
begründet  erscheint.  Diese  Frage  kann  man  unbedenklich  bejahen, 
wenn  man  jede  Täuschung,  die  nicht  peripher  bedingt  ist,  d.  h.  nicht 
in  der  Beschaffenheit  der  Sinnesorgane  oder  in  der  Beschaffenheit 
der  inadäquat  vorgestellten  Reize  ihren  Grund  hat,  und  die  auch 
nicht  als  Urteilstäuschung  sich  betrachten  läßt  —  eine  Täuschung 
der  Vorstellungsbildung ,  eine  Produktionstäuschung  nennt.  Daß 
nämlich  die  Phänomene  der  MüUer-Lyerschen  Figur  und  des  Schach- 
brettmusters keine  peripher  bedingten  und  keine  Urteilstäuschungen 
sind,  das  scheint  durch  die  Untersuchungen  unserer  Autoren  unwider- 
leglich dargetan  zu  sein. 

Aber  Täuschungen,  die  bei  der  Vorstellungsbildung  durch  die 
gegenseitige  Beeinflussung  der  verschiedenen  Bestandteile  zustande 
kommen,  Produktionstäuschungen  in  dem  erwähnten  weiten  Sinn, 
können  immer  noch  den  verschiedensten  Charakter  besitzen.  Wenn 
beispielsweise  die  sich  bildende  Vorstellung  von  einer  uns  geläufigen 
ähnlichen  Vorstellung  assimiliert  wird,  wie  es  im  Fall  der  Illusion 
geschieht,  wo  die  den  Reizbestandteilen  entsprechenden  Vorstellungs- 
bestandteile durch  assoziativ  erregte  Vorstellungen  teils  ergänzt,  teils 
ersetzt  oder  doch  umgestaltet  werden  —  oder  wenn  die  den  Augen- 
bewegungen entsprechenden  Empfindungen  einen  optischen  Total- 
eindruck anders  gestalten  als  er  ohne  sie  beschaffen  wäre,  so  haben 
wir  es  offenbar  auch  mit  Produktionstäuschungen  im  angegebenen 
Sinn  zu  tun.  Wenn  nun  Benussi  in  seiner  Kritik  der  bisher  zur 
Erklärung  der  Müller -Ly ersehen  Täuschung  aufgestellten  Theorien 
die  > perspektivische  Deutungc  Thierys,  die  > Erklärungsversuche 
durch  assoziierte  Vorstellungen  <,  wie  sie  sich  bei  Heymans,  Lipps 
und  Stilling  finden,  und  die  > Erklärungsversuche  durch  die  Augen- 
bewegungen<  von  Binet,  van  Biervliet,  Delboeuf  und  Wundt  verwirft, 
80  darf  er  eigentlich  nicht  seine  Erklärung  der  Müller-Lyerschen 
Täuschung  als  einer  Produktionserscheinung  schlechthin  den  genannten 
Theorien  gegenüberstellen. 

Er  versucht  zwar  das  Wesen  der  Produktionstäuschung  näher 
dahin  zu  bestimmen,  daß  >als  Ursache  der  inadäquaten  Vorstellungs- 
produktion eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  in  Realrelation 
stehenden  Inferioreninhalte  zu  vermuten«  sei.  Wenn  damit  gesagt 
sein  soll,  daß  nur  die  Inferioreninhalte  und  keine  Nebenempfindungen, 
die  in  die  Gesamtvorstellung  eingehen  (wie  z.  B.  die  Empfindungen 
Ton  Augenbewegungen),  sowie  keine  Bestandteile  einer  eventuell  für 


46  Gott  gel.  Anz.  19()6.  Nr.  1. 

die  Produktion  richtunggebenden  >ZielvorsteIIung<  sich  an  der  Hervor- 
bringung der  Täuschung  beteiligen,  dann  ist  allerdings  ein  bestimmter 
Fall  von  Produktionstäuschung  ins  Auge  gefaßt.  Aber  warum  die 
Inferioreninhalte  sich  beeinflussen  und  wie  sie  sich  beeinflussen,  das 
bleibt  vollkommen  im  Dunkeln.  Wir  können  es  uns  einigermaßen 
erklären,  wie  und  warum  die  >Aufgabe<  einer  Vorstellungsproduktion, 
sei  es  durch  das  Verstehen  des  die  Lösung  bezeichnenden  Wortes 
oder  in  Form  der  Ziel  Vorstellung  im  Sinn  eines  >  indirekten  Vor- 
stellens«,  bestimmend  einwirkt  auf  das  Produktionsergebnis.  Man 
hat  auch  versucht,  den  hypothetischen  Einfluß  der  Augenbewegungen 
in  Form  eines  allgemeinen  Gesetzes  darzustellen.  Aber  ein  allgemeines 
Gesetz,  wonach  Inferioreninhalte  überhaupt  sich  gegenseitig  beein- 
flussen, kennen  wir  nicht.  Daher  ist  die  Erklärung  der  Müller- 
Lyerschen  Täuschung  als  einer  Produktionstäuschung  nichts  anderes 
als  eine  Konstatierung  des  Tatbestandes,  daß  die  Schenkel  der  Figur 
den  bekannten  Einfluß  auf  die  Vorstellung  der  Länge  des  Mittelstücks 
ausüben  und  daß  dieser  Einfluß  von  der  Vorstellung  der  Schenkel, 
nicht  von  irgend  welchen  anderen  Vorstellungen  und  Vorstellungs- 
bestandteilen ausgeht. 

Das  gleiche  gilt  auch  für  die  Erklärung  des  Schachbrettphänomens 
als  einer  Produktionstäuschung.  Doch  kommt  hier  noch  ein  weiteres 
Moment  hinzu.  Das  Schachbrettphänomen  wird  nämlich  als  ein  be- 
sonderer Fall  der  Zöllnerschen  Täuschung  von  den  Verfassern  dar- 
gestellt und  zwar  wird  >die  Gleichartigkeit  der  in  Rede  stehenden 
Täuschungsgestalt  mit  der  Zöllnerschen  dadurch  nachgewiesen,  daß 
sich  das  Maß  der  Täuschung  um  so  mehr  erhöht,  je  mehr  die  Vor- 
stellung der  durch  'die  Zöllnersche  Figur  dargebotenen  Gestalt  — 
bedingt  durch  die  bekannte  Lageverschiedenheit  zweier  sich  kreuzender 
Geraden  —  beim  Anblick  der  verschobenen  Schachbrettfigur  in  den 
Vordergrund  tritt«.  Nehmen  wir  an,  dieser  Nachweis,  auf  dessen 
Beurteilung  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  soll,  sei  gelungen, 
dann  ist  damit  natürlich  weder  das  Zöllnersche  noch  das  Schachbrett- 
phänomen erklärt.  Es  ist  nur  die  Aufgabe  der  Erklärung  insofern 
vereinfacht,  als  durch  eine  Hypothese  zwei  Erscheinungen  verständ- 
lich gemacht  werden  können.  Damit  ist  aber  nicht,  wie  man  viel- 
leicht vermuten  könnte,  die  oben  vermißte  Allgemeinheit  für  die 
>Produktionstäuschungs-Hypothese<  gewonnen;  denn  es  handelt  sich 
ja  beim  Schachbrettphänomen  nicht  um  eine  Variation ,  sondern  nur 
um  eine  Verschleierung  des  gleichen  Tatbestands,  der  bei  der 
Zöllnerschen  Täuschung  vorliegt.  Der  Müller-Lyerschen  Figur  gegen- 
über bedeutet  die  Zöllnersche  und  die  verschobene  Schachbrettfigur 
wohl  eine  Variation  des  zu  erklärenden  Tatbestandes.   Dagegen  fehlt 


ÜDtersachuDgen  zur  Gegen8tandstbeorie  uud  Psychologie ,  hrs.  von  Mcinong.      47 

hier  die  Einheitlichkeit  der  Hypothese.  Es  soll  sich  zwar  beide  Male 
um  ProduktioDstäuschungen  handeln,  aber  die  Art,  wie  die  Inferioren- 
inhalte  einander  beeinflussen,  ist  eine  ganz  verschiedene,  indem  einer- 
seits eine  Größen-  andererseits  eine  Richtungsveränderung  in  Betracht 
kommt. 

Kurz,  wir  können  das  Ergebnis  dieser  kritischen  Betrachtungen 
dahin  zusammenfassen,  daß,  wenn  es  auch  den  Verfassern  gelungen 
ist,  den  ersten  der  eingangs  berührten  Einwände  zu  widerlegen, 
trotzdem  oder  vielleicht  eben  deswegen  der  zweite  Einwand  bestehen 
bleibt,  wonach  die  Bezeichnung  einer  Täuschung  als  Produktions- 
täuschung noch  keine  Erklärung  bedeutet. 

Im  übrigen  ist  aber  nicht  nur  die  sorgfältige  Verarbeitung  und 
die  Reichhaltigkeit  der  Versuchsergebnisse,  sondern  auch  die  ein- 
gehende Kritik  der  über  die  Müller-Lyersche  und  über  die  Schach- 
bretttäuschung bisher  aufgestellten  Theorien  hervorzuheben,  wodurch 
die  in  Rede  stehenden  Arbeiten  dankenswerte  Beiträge  zur  Psycho- 
logie der  geometrisch-optischen  Täuschungen  liefern. 


IV. 

Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben.  Von 
Dr.  Vittorio  Benussi.     S.  473—480. 

Eine  scharfsinnige  psychologische  Untersuchung  sehen  wir  auch 
in  der  Abhandlung  Benussis,  die  sich  mit  einem  neuen  Beweis  für 
die  spezifische  Helligkeit  der  Farben  beschäftigt.  Benussi  weist 
Dämlich  durch  geschickte  Kombination  einer  farbigen  Scheibe  mit 
farblosem  Kreisring  und  einer  farblosen  Scheibe  mit  farbigem  Ring 
in  eleganter  Weise  nach : 

1.  >Daß  die  Helligkeit  eines  gegebenen  Grau  erhöht  erscheint, 
wenn  man  es  der  Induktionswirkung  einer  gleich  hellen 
blauen  oder  grünen  Farbe  exponiert,  herabgesetzt  dagegen, 
wenn  die  induzierende  Farbe  rot  oder  gelb  ist.< 

2.  »Daß  die  Helligkeit  einer  gelben  oder  roten  Fläche  bei 
Sättigungserhöhung  durch  eine  gleich  helle  Um- 
gebung erhöht,  diejenige  einer  blauen  oder  grünen  Fläche 
dagegen  unter  den  analogen  Umständen  herabgesetzt 
wird.« 

Ebenso  wird  gezeigt,  daß  die  Werte  der  Helligkeitserhöhung 
bezw.  -Herabsetzung  bei  Farbeninduktion  dem  Betrage  der  Helligkeits- 
herabsetzung bezw.  Erhöhung  beim  Verschwinden  der  Farbe  in  der 
Dämmerung  ungefähr  entsprechen  oder,  wie  Benussi  sagt,  >daß  die 
durch  Farbeninduktion  und  Dämmerungsbeleuchtung  erzielte  Heilig- 


48  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Xr.  1. 

keitsverschiebung  objektiv  gleichheller   Farben  angenäherte   Aequi- 
valenzc  erkennen  lassen. 

Sind  diese  Tatsachen,  was  bei  der  geringen  Anzahl  der  mit- 
geteilten Versuchsergebnisse  freilich  nicht  kontrolliert  werden  kann, 
über  allen  Zweifel  erhaben,  dann  scheint  auch  der  Schlußfolgerung 
Benussis  nichts  im  Wege  zu  stehen,  daß  >die  mit  dem  Hervortreten 
der  Farbe  Hand  in  Hand  gehende  Helligkeitszu-  oder  -abnähme, 
die  bei  helladaptiertem  Auge  nachgewiesen  werden  kann,  nicht  auf 
einen  Funktionswechsel  verschiedener  terminaler  Netzhautapparate, 
sondern  auf  die  den  Farben  eigene  Helligkeit  zurückzuführen  ist<, 
und  daß  »auch  das  Purkinjesche  Phänomen  durch  den  Hinweis  auf 
die  spezifische  Helligkeitc  erklärt  werden  muß. 


lieber  Vorstellungsproduktion.  Von  Dr.  Rudolf  Ameseder. 
S.  481—508. 

Die  Empfindungen  sind  ihrer  Natur  nach  selbständig,  d.  h.  trotz- 
dem es  unwahrscheinlich  ist,  daß  es  eine  Empfindung  allein  ohne 
Zusammenhang  mit  anderen  geben  könne,  so  bedeutet  doch  eine 
alleinstehende  Empfindung  keineswegs  einen  inneren  Widerspruch. 
Ebenso  wie  die  Empfindungen  ist  auch  das  durch  sie  >Erfaßtec,  ihr 
Gegenstand  (der  nicht  verwechselt  werden  darf  mit  ihrer  Ur- 
sache) innerlich  selbständig.  Es  gibt  aber  auch  Gegenstände,  die 
fundierten,  welche  ihrer  Natur  nach  unselbständig  sind,  und  die  Vor- 
stellungen, durch  welche  fundierte  Gegenstände  erfaßt  werden,  sind 
gleichfalls  innerlich  unselbständig.  Folglich  können  diese  Vorstellungen 
(von  fundierten  Gegenständen)  keine  Empfindungen  sein. 

So  grenzt  Ameseder  in  der  vorliegenden  Arbeit  sein  Unter- 
sucbungsgebiet  ab.  Er  will  die  Stellung  der  Vorstellungen  von  fun- 
dierten Gegenständen  in  der  Gesamtheit  des  Psychischen  bestimmen 
und  weist  deshalb  zunächst  nach,  daß  diese  Vorstellungen  überhaupt 
eine  besondere  Stellung  einnehmen,  daß  sie  nicht  schlechtweg  mit 
Empfindungen  zusammenfallen.  Nun  wird  freilich  von  vornherein 
nicht  leicht  jemand  auf  den  Gedanken  kommen,  die  Vorstellungen 
von  fundierten  Gegenständen,  z.  B.  die  Vorstellung  einer  Verschieden- 
heit zweier  Empfindungen  mit  einer  einfachen  Empfindung  zu  iden- 
tifizieren. Dagegen  könnte  man  vielleicht  versuchen,  die  Vorstellung 
der  Verschiedenheit  mit  dem  Zugleichsein  der  beiden  Empfindungen 
zusammenfallen  zu  lassen  und  diese  Möglichkeit  ist  durch  den  Hin- 
weis auf  die  innerliche  Unselbständigkeit  der  betreffenden  Vorstellung 
keineswegs  ausgeschlossen.    Wohl  aber  wird  diese  Annahme  hinfällig 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      49 

durch  die  UeberleguDg,  daß  zwei  Empfindungen  gleichzeitig  gegeben 
sein  können,  ohne  daß  die  Vorstellung  ihrer  Verschiedenheit  aufzu* 
treten  braucht.  Wir  müssen  also  zugeben,  daß  es  Vorstellungen 
gibt,  die  weder  mit  einfachen  Empfindungen  noch  mit  einem  Komplex 
von  Empfindungen  zusammenfallen.  Was  vermag  uns  Ameseder 
weiter  über  solche  Vorstellungen  zu  sagen? 

Er  konstatiert  vor  allem  etwas  Terminologisches,  nämlich  dies, 
daß  die  Bezeichnungen  Wahrnehmungsvorstellung  und  Einbildungs- 
vorstellung nicht  geeignet  sind,  die  Empfindungen  und  die  in  Rede 
stehenden  Vorstellungen  auseinander  zu  halten.  Sowohl  der  Begriff 
der  Wahmehmungs-  wie  der  Begriff  der  Einbildungsvorstellung  kann 
auf  Vorstellungen  von  fundierten  Gegenständen  anwendbar  sein. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  betreffenden  Vorstellungen  fundierter 
Gegenstände  zu  ihren  Elementarvorstellungen  in  demselben  Verhältnis 
stehen  wie  die  fundierten  Gegenstände  selbst  zu  ihren  Elementen 
(die  »Superiora«  zu  ihren  »Inferioren«),  d.  h.  ob  man  von  einer 
Fundierung  der  innerlich  unselbständigen  Gegenstände  sprechen 
kann.  Die  Entscheidung  hierüber  fällt  leicht,  wenn  man  die  Merk- 
male des  Fundierten  in  Betracht  zieht.  Zwei  solche  Merkmale  hält 
unser  Autor  für  charakteristisch,  nämlich  die  Idealität,  also  Nicht- 
wirklichkeit  des  Fundierten  und  den  Umstand,  daß  fundierte  Superiora 
den  gegebenen  Inferioren  mit  Notwendigkeit  zukommen.  Beide  Kenn- 
zeichen aber  treffen  für  die  in  Rede  stehenden  Vorstellungen  nicht 
zu.  Dieselben  sind  stets  etwas  Wirkliches  und  es  liegt  nicht  in  der 
Natur  der  Superiusvorstellung ,  daß  sie  auf  die  gegebenen  Inferiora 
notwendig  aufgebaut  sein  müßte;  sie  kann  vielmehr  auch  ganz 
fehlen.  >  Fundiert  sind  also  die  Vorstellungen  fundierter  Gegenstände 
nicht.  Daß  sie  sich  gleichwohl  auf  die  Inferioravorstellungen  auf- 
bauen, ist  zweifellos.«  Es  fragt  sich  nur,  welche  Art  des  Aufbaus 
in  Betracht  kommt. 

Bis  hieher  sind  die  vorsichtigen  definitorischen  und  terminologi- 
schen Ausführungen  Ameseders  vor  jedem  Zweifel  geschützt.  Aber 
nun  beginnt  die  Hypothesenbildung.  Wir  sehen  zwei  Möglichkeiten 
vor  uns.  Zunächst  könnte  nämlich  dem  idealen  Verhältnis  der 
Fundierung  das  reale  Verhältnis  der  Eausation  gegenübergestellt 
werden.  In  diesem  Fall  wäre  anzunehmen,  daß  die  Inferioravor- 
stellungen unter  gewissen  noch  näher  zu  bestimmenden  Umständen 
die  Superiusvorstellung  erzeugen.  Andererseits  könnte  man  davon 
aasgehen,  daß  etwas  anderes  als  die  Inferioravorstellungen  die  Haupt- 
bedingnng  für  das  Zustandekommen  der  Superiusvorstellung  darstellt, 
weil  die  ersteren  häufig  ohne  die  letztere  Vorstellung  auftreten. 
Aber  in   diesem  Fall  wäre  sorgfältig  zu  untersuchen,  worin  jenes 

OOtt  fftL  All.  1906.  Kr.  1.  4 


50  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Etwas  neben  den  Inferioravorstellungen  besteht  und  wodurch  es  in 
Funktion  versetzt  wird;  denn  es  betätigt  sich  ja  nicht  immer,  wenn 
die  Inferioravorstellungen  gegeben  sind.  In  diesem  letzteren  Fall 
bleibt  also  trotz  der  hypothetischen  Annahme  eines  >Etwas<,  welches 
das  Auftreten  der  Superiusvorstellung  bedingt,  und  trotz  einer  hypo- 
thetischen Bestimmung  dieses  >Etwas<  immer  noch  eine  Hypothese 
zu  bilden  darüber,  unter  welchen  Umständen  die  Superius- 
vorstellung erzeugt  wird. 

Macht  man  sich  dies  klar,  dann  kann  man  es  nicht  gerade  eine 
glückliche  Wahl  nennen,  daß  Ameseder  zur  Lösung  der  in  Rede 
stehenden  Frage  den  letzteren  Weg  eingeschlagen  hat,  indem  er 
jenes  >Etwas«,  das  neben  den  Inferioravorstellungen  gegeben  sein 
muß,  als  etwas  Psychisches  betrachtet  und  das  Erzeugen  der  Superius- 
vorstellung > Produktion«  nennt.  Dabei  ist  freilich  nicht  ganz  sicher, 
ob  die  Bezeichnung  > Produktion«  mehr  als  ein  bloßes  Wort  für  die 
auf  bisher  unbekannte  Weise  sich  vollziehende  Erzeugung  der  Superius- 
vorstellung sein  soll,  d.  h.  ob  unser  Autor  die  Nebenbedeutung  einer 
Tätigkeit  des  Subjekts  mit  jener  Bezeichnung  verbindet.  Wenn  dies 
nicht  der  Fall  ist,  so  ist  natürlich  auch  gegen  den  Gebrauch  des 
Wortes  »Produktion«  nichts  anderes  einzuwenden,  als  daß  dadurch 
leicht  störende  Nebenvorstellungen  erregt  werden.  Dagegen  muß 
unter  allen  Umständen  daran  festgehalten  werden,  daß  von  einer 
psychologischen  Erklärung  der  Bildung  von  Superi  us  Vorstellungen 
in  keinem  Fall  die  Rede  sein  kann. 

Wir  finden  es  daher  begreiflich,  daß  unser  Autor  im  zweiten 
»theoretischen«  Teil  seiner  Arbeit,  welchen  er  dem  ersten  »deskrip- 
tiven« Teil  gegenüberstellt,  nochmals  auf  »das  Wesen  der  Vorstellungs- 
produktion«  zurückkommt.  Aber  das,  was  er  hier  vorbringt,  ist 
kaum  viel  befriedigender  als  das  bisherige.  Wir  erfahren,  daß  die 
Superiusvorstellung  zu  den  Inferioravorstellungen  in  >Realrelation< 
steht,  wobei  »Realrelation«  so  ziemlich  der  neutralste  Ausdruck  zu 
sein  scheint  für  eine  Beziehung,  die  nicht  Idealrelation  sein  soll. 
Will  man  trotzdem  mit  dem  Begriflf  > Realrelation«  eine  bestimmtere 
Bedeutung  verbinden,  wozu  die  Gegenüberstellung  > bloßen  Kausal- 
verhältnisses« Veranlassung  geben  könnte,  so  gerät  man  in  die 
größten  Schwierigkeiten.  Man  sieht  sich  nämlich  genötigt,  den  Be- 
griff des  Realkomplexes,  den  Ameseder  in  dem  fraglichen  Sinn  ein- 
führt, entweder  so  zu  deuten,  daß  er  von  dem  Begriff  des  > Komplexes 
von  Elementarvorstellungen«  nicht  mehr  zu  unterscheiden  ist.  Dann 
würden  wir  jedoch  zu  einer  Auffassung  der  Superiusvorstellungen 
zurückgeführt,  die  früher  ausdrücklich  abgelehnt  wurde.  Oder  man 
muß,  wie  doch  tatsächlich  Ameseders  Absicht  zu  sein  scheint,  an« 


36  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

n. 

UeberOekonomie  des  Denkens.  Von  Dr.  Wilhelm  Frankl.  S.263— 302. 

Was  versteht  man  unter  »Oekonomie  des  Denkens?«  Auf  diese 
Frage  würden  wir  antworten:  Der  Ausdruck  > Oekonomie  des  Denkens < 
bezeichnet  die  Eigenart  der  Denkprozesse,  durch  die  es  uns  möglich 
wird,  bei  aller  Beschränktheit  unserer  geistigen  Kraft  doch  das 
Riesenwerk  der  Welterkenntnis  zu  fördern.  Die  Beschränktheit 
unserer  geistigen  Kraft  zeigt  sich  in  den  Tatsachen  der  Enge  des 
Bewußtseins-  und  Aufmerksamkeitsumfangs,  vor  allem  darin,  daß  von 
der  Stärke  der  Konzentration,  die  sich  in  Klarheit  und  Deutlichkeit, 
in  der  Menge  und  Beschaffenheit  der  Einzelheiten  eines  erfaßten 
Gegenstandes  zu  erkennen  gibt,  nicht  nur  der  Umfang  der  zu  er- 
fassenden Gegenstände  sondern  auch  die  Geschwindigkeit,  mit  der 
die  Aufmerksamkeit  von  einem  Gegenstand  zum  andern  überzugehen 
vermag,  abhängig  ist.  Wer  mit  der  Fähigkeit  zu  einer  höheren 
Konzentration  die  Fähigkeit  raschen  Konzentrationswechsels  verbindet, 
wer  also  beispielsweise  neben  einander  einen  Brief  diktieren  und  ein 
Buch  lesen  kann,  dem  werden  wir  höhere  geistige  Kraft  zuerkennen 
als  demjenigen,  der  nur  Konzentrationsfestigkeit  ohne  die  Fähigkeit 
raschen  Wechsels  besitzt,  der  also  nur  entweder  lesen  oder  diktieren 
kann,  und  natürlich  noch  weit  höhere  als  demjenigen,  der  weder  das 
eine  noch  das  andere  fertig  bringt,  weil  es  ihm  überhaupt  an  Kon- 
zentrationsfestigkeit gebricht. 

Zeigt  demnach  die  geistige  Kraft  bei  verschiedenen  Individuen 
Größenunterschiede,  so  reicht  sie  über  ein  gewisses  Maximum  er- 
fahrungsgemäß bei  keinem  Menschen  hinaus.  Mit  einem  endlichen 
Maß  geistiger  Energie  treten  wir  also  an  die  Aufgaben  des  Erkennens 
heran.  Es  ist  klar,  daß  wir  den  Zweck  des  Erkennens,  die  gewünschte 
Orientierung  in  der  Wirklichkeit,  die  Klarheit  und  Widerspruchs- 
losigkeit  in  unserer  Gedankenwelt  und  was  man  sonst  noch  anführen 
mag,  nicht  erreichen  könnten,  wenn  wir  nicht  haushälterisch  mit  den 
uns  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  umgingen.  Wenn  wir  beispielsweise 
in  lauter  Individualbegriffen  denken  wollten,  so  würde  durch  die  auf 
unbedeutende  Einzelheiten  verwendete  und  verschwendete  Konzen- 
tration der  Ueberblick  über  große  Zusammenhänge  erschwert  und 
unmöglich  gemacht.  Wenn  wir  zu  jedem  neuen  Eindruck,  den  wir 
von  > demselben  Ding<  erhalten,  einen  neuen  Begriff  konstruieren 
würden,  statt  neben  der  Einheit  des  Dinges  die  Verschiedenheit 
seiner  Aspekte  fast  unbeachtet  zu  lassen,  wenn  wir  statt  allgemeiner 
Gesetze  jeden  einzelnen  Zusammenhang  nach  seiner  örtlichen,  zeit- 
lichen und  sonstigen  Besonderheit  ins  Auge  fassen  wollten,  dann 
stünde  es  schlecht  um  unsere  Welterkenntnis. 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  Ton  Meinong.      37 

Sofern  wir  nun  in  der  Tat  anders  verfahren,  sofern  wir  die 
Rücksicht  auf  das  Individuelle  dem  Erfassen  des  Allgemeinen,  die 
Detailerkenntnis  dem  Ueberblick  in  vielen  Fällen  '>opfem<,  sofern 
können  wir  von  Oekonomie  des  Denkens  reden.  Und  da  die  Bildung 
allgemeiner  Begrifife,  die  Anwendung  der  Substanz-  und  Kausalitäts- 
Kategorie  unser  ganzes  Denken  und  Erkennen  bestimmt,  so  dürfen 
wir  wohl  auch  von  einem  >  Prinzip  <  der  Denkökonomie  sprechen. 

Wenn  dann  die  Frage  aufgeworfen  wird,  ob  etwas,  was  den 
Gattungsbegriffen  entspricht,  ob  femer  Substanzen  und  Kausalzu- 
sammenhänge in  der  Wirklichkeit  vorkommen,  so  kann  man  dieser 
Frage  gegenüber  eine  verschiedene  Stellung  einnehmen.  Man  kann 
sie  entweder  für  unberechtigt  erklären,  indem  man  sagt,  die  durch 
das  Prinzip  der  Oekonomie  des  Denkens  bedingten  Denkformen  seien 
in  sich  selbst  gerechtfertigt,  weil  sie  den  Zwecken  des  Erkennens 
entsprächen,  das  gar  nicht  auf  ein  Erfassen  von  Transscendentem,  viel- 
mehr nur  auf  Herstellung  einer  geordneten,  klaren  Uebersicht  über 
das  Gegebene  und  seine  Zusammenhänge  angelegt  sei.  Oder  aber 
man  kann  die  in  Rede  stehende  Frage  für  berechtigt  halten.  In 
diesem  Fall  ist  wieder  ein  Doppeltes  möglich.  Man  kann  nämlich 
versuchen  nachzuweisen,  daß  die  durch  das  Oekonomieprinzip  be- 
dingten Denkformen  zugleich  Anspruch  auf  Wahrheit  oder  Wahr- 
scheinlichkeit (im  Sinn  einer  festgestellten  oder  doch  sehr  annehm- 
baren Uebereinstimmung  mit  dem  Gegenstand)  besitzen  —  oder  man 
kann  die  Wahrheitsfrage  als  eine  zwar  vernünftige,  aber  vorläufig 
nicht  zu  beantwortende  Frage  unentschieden  lassen. 

Damit  glauben  wir  die  wichtigsten  erkenntnistheoretischen  und 
psychologischen  Probleme,  die  sich  an  den  Begriff  der  Denkökonomie 
knüpfen,  gestreift  zu  haben.  Wenn  wir  nun  demgegenüber  die  Aus- 
fuhrungen Frankls  über  Oekonomie  des  Denkens  betrachten,  so  finden 
wir  teilweise  andere  Fragestellungen,  teilweise  auch  andere  Lösungen 
als  die  oben  angedeuteten.  Sehen  wir  also  zu,  inwiefern  dies  eine 
Ergänzung,  inwiefern  es  einen  Widerspruch  bedeutet  und  wie  ein 
etwa  bestehender  Widerspruch  sich  auflösen  läßt. 

Frankl  bemüht  sich  zunächst  um  eine  Definition  des  Begriffes 
Oekonomie.    Er  konstatiert,  daß  wir  von  Oekonomie  sprechen 

1.  dort,  wo  eine  Leistung  L  durch  eine  Handlung  H  erzielt 
wird,  welche  auch  durch  eine  Handlung  H'  erzielt  werden  könnte, 
wobei  /f  <  W, 

2.  dort,  wo  eine  Leistung  L  durch  eine  Handlung  H  erzielt  wird, 
wenn  durch  jET  auch  eine  Leistung  V  erzielt  werden  könnte,  wobei  L'^^L. 

In  beiden  Fällen,  die  als  Spar-  und  Wirtschaftsökonomie  aus- 
einandergehalten werden,  handelt  es  sich,  wie  unser  Autor  betont, 


38  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

a)  um  quantitative  Momente  von  H  bezw.  £, 

b)  um  ein  Verhältnis  des  Tatbestandes,  der  durch  iT  und  L 
ausgemacht  wird  (dieser  Tatbestand  wird  mit  T  bezeichnet),  zu  einem 
anderen  Tatbestand  ähnlicher  Art  (ökonomische  VergleichsgröOe  ge- 
nannt und  mit  T  bezeichnet),  der  durch  IT  und  L  oder  durch  H 
und  U  dargestellt  wird,  also  mit  dem  erstgenannten  Tatbestand  ent- 
weder das  H  oder  das  L  gemeinsam  hat. 

Uebrigens  führt  Frankl  auch  noch  einen  dritten  Fall,  den  Fall 
»gemischter   Oekonomie«  an,   wo  dem    T  =  H,L  ein   T  =  H',  L' 

gegenübersteht,  wo  also  T  und  T  weder  H  noch  L  gemeinsam 
haben.  Unter  allen  Umständen  aber  kommt  der  Oekonomie  »Bino- 
mialität<  und  >Relativitäti  zu.  Wo  entweder  die  Binomialität  oder 
die  Relativität  fehlt,  da  kann  vielleicht  von  Einfachheit  bezw.  Zweck- 
mäßigkeit, nicht  aber  von  Oekonomie  die  Rede  sein.  Von  einem 
Oekonomie prinzip  endlich  darf  nach  Fraukl  nur  gesprochen  werden, 
wo  die  Formel  anwendbar  ist:  >AlIe  ^Tatbestände  sind  ökonomisch«, 
wenn  wir  »mit  t  die  rein  qualitative  Bestimmtheit  des  Oekonomie- 
binoms  T  bezeichnen«. 

Prüfen  wir  im  Lichte  dieser  Definitionen  unsere  Betrachtungen 
über  das  Wesen  der  Denkökonomie,  so  finden  wir  zu  einer  Korrektur 
derselben  kaum  Veranlassung.  Wir  haben  eine  Leistung  L  namhaft 
gemacht,  die  den  Zweck  des  Erkennens  darstellt,  und  haben  darauf 
hingewiesen,  daß  dieser  Zweck  durch  ein  if,  d.  h.  durch  das  Denken 
in  Allgemeinbegrififen,  in  Substanz-  und  Kausalkategorien  erreicht 
wird,  während  er  auch  durch  ein  i/',  d.  h.  durch  ein  Denken  in 
lauter  IndividualbegriflFen  erreicht  werden  könnte,  wenn  wir  überhaupt 
imstande  wären,  H'  durchzuführen.  Oder,  wenn  wir  mit  IT  die 
Denkarbeit  bezeichnen,  die  ein  Mensch  beim  Denken  in  lauter  Indi- 
vid ualbegrifiFen  vollbringen  könnte,  dann  ließe  sich  der  früher  erwähnte 
Tatbestand  auch  so  ausdrücken :  Durch  II'  wird  nur  ein  kleiner  Teil 
von  Z,  dem  durch  H  zu  erreichenden  Zweck  der  Erkenntnis  erreicht. 
Haben  wir  demnach  auf  Grund  der  Definitionen  unseres  Autors  das 
Recht,  von  Denkökonomie  zu  sprechen,  so  dürfen  wir  auch  ein 
Prinzip  der  Denkökonomie  statuieren,  indem  wir  behaupten  können: 
Jegliches  Denken  in  Allgemeinbegriifen  ist  gegenüber  dem  Denken 
in  Individualbegriffen,  jegliches  Denken  mittels  der  Substanz-  und 
Kausalkategorie  ist  gegenüber  dem  diese  Kategorien  umschreibenden 
Denken  ökonomisch. 

Zu  diesen  einfachen  Schlußfolgerungen  treten  jedoch  die  Be- 
trachtungen über  Denkökonomie,  die  Frankl  seinen  allgemeinen 
Definitionen  folgen  läßt,   in  einen  seltsamen  Widerspruch.     Frankl 


/ 


Untersnchnngen  zur  Gegenatandstbeorie  und  Psychologie,  hn.  von  Melnong.     89 

bezeichnet  nämlich  die  >  Behauptung  von  allgemeiner  Denkökonomie 
als  psychologisches  Oekonomieprinzipc  und  kommt  zu  dem  Resultat, 
daß  ein  allgemeines  psychologisches  Oekonomieprinzip  abzulehnen  ist. 
Dagegen  statuiert  er: 

1.  Ein  biologisches  Oekonomieprinzip,  »dahin  zu  formulieren, 
daß  die  dauernd  existierenden  Lebewesen  in  ihrem  Verhalten 
nicht  unter  einen  gewissen  Grad  von  Oekonomie  herabgehen, 
welcher  Grad  jedoch  vom  Kraftbesitz  der  Individuen  abhängig 
und  mit  diesem  variabel  ist<. 

2.  Ein  psychologisches  Oekonomieprinzip  der  Gewohnheit, 
dahin  lautend:  >Alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  sind 
ökonomische. 

3.  Ein  erkenntnistheoretisches  Oekonomieprinzip  der  In- 
duktion, »besagend,  daß  die  auf  Induktion  beruhenden  Urteile 
ökonomischer  sind  als  andere,  die  sich  auf  denselben  Gegenstand 
beziehen«. 

4.  Ein  erkenntnistheoretisches  Prinzip  der  Hypothesen^ 
Ökonomie,  > dahin  lautend,  daß  die  mehr  Tatsächliches  er- 
klärende Hypothese  ceteris  paribus  wahrscheinlicher  ist,  als  die 
weniger  erklärende«. 

5.  Ein  wissenschaftstheoretisches  Oekonomieprinzip  folgenden 
Wortlauts:  >Die  Wissenschaft  zieht  ceteris  paribus  einfache 
Formulierungen  den  weniger  einfachen  vor«. 

6.  Wundts  methodologisches  Prinzip,  bestehend  in  der  > Forde- 
rung, die  Probleme  in  der  möglichst  einfachen  Weise  zu  formu- 
lieren und  sich  des  möglichst  einfachen  Verfahrens  zu  ihrer 
Lösung  zu  bedienen«. 

7.  Ein  emotionales  Oekonomieprinzip  der  Lust,  nämlich  Höflers 
Lustgesetz:  > Insoweit  Lust  an  das  Verrichten  psychischer  Arbeit 
geknüpft  ist,  und  insoweit  sich  letztere  auf  den  Typus  ps  (Span- 
nungsfaktor X  Wegfaktor)  zurückführen  läßt,  wächst  die  Lust  mit 
dem  wachsenden  s  und  nimmt  ab  mit  dem  wachsenden  p<. 

8.  Ein  emotionales  Oekonomieprinzip  des  Wertes,  welches 
besagt:  > Sofern  Oekonomie  einen  realisierbaren  Werttatbestand 
bedeutet,  kann  man  eine  Tendenz  zu  demselben  vermuten,  bezw. 
kann  man  die  Endglieder  einer  Entwicklungsreihe  als  ökonomische 
vermuten  <. 

9.  Wundts  didaktisches  Oekonomieprinzip,  die  »Forderung, 
einen  gegebenen  wissenschaftlichen  Inhalt  in  der  möglichst  ein- 
fachen Form  zum  Ausdruck  zu  bringen«. 

Ueberblickt  man  die  Gesamtheit  dieser  Prinzipien,  so  ist  zunächst 
der  Einteiiungsgrund   nicht  recht   zu   erkennen.     Die   meisten  sind 


40  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

offenbar  lediglich  nach  den  Wissenschaften  benannt,  von  denen  sie 
konstatiert  werden.  So  kann  z.  B.  von  einem  biologischen  oder  von 
einem  wissenschaftstheoretischen  Oekonomieprinzip  nur  in  dem  Sinn 
gesprochen  werden,  daß  biologische  oder  wissenschaftstheoretische 
Gedankengänge  zu  seiner  Entdeckung  führen.  Andererseits  ist  aber 
auch  klar,  daß  ein  emotionales  Oekonomieprinzip  nicht  ebenfalls  nur 
deshalb  das  Attribut  emotional  verdient,  weil  etwa  Gefühle  zur  Er- 
kenntnis ökonomischen  Verhaltens  irgend  welcher  Art  Veranlassung 
geben. 

Doch  nehmen  wir  einmal  an,  Frankl  habe  mit  der  Bezeichnung 
> emotionales  Oekonomieprinzip«  sich  nur  vergriffen  und  habe  eigentlich 
> gefühlspsychologisches  Oekonomieprinzip«  sagen  wollen,  dann  können 
wir  trotzdem  seiner  Einteilung  den  Vorwurf  der  Unzweckmäßigkeit 
nicht  ersparen.  Eine  Vollständigkeit  der  Einteilung  wenigstens  wird 
nicht  gewährleistet,  wenn  man  einfach  die  verschiedenen  Wissen- 
schaften durchgeht,  in  denen  Oekonomieprinzipien  konstatiert  werden. 
Und  es  ist  auch  nicht  einzusehen,  warum  ein  und  dasselbe  Prinzip 
zweimal  aufgeführt  werden  soll,  wenn  es  zufällig  von  zwei  ver- 
schiedenen Wissenschaften  sich  feststellen  läßt.  Sehr  viel  näher  liegt 
es  doch,  die  Oekonomieprinzipien,  wenn  es  deren  im  Gebiet  des 
Denkens  überhaupt  mehrere  gibt,  nach  der  Eigenart  der  Tatbestände 
zu  unterscheiden,  die  ökonomisch  sind. 

Sucht  man  nun  innerhalb  der  Klassifikation  Frankls  nach  Gruppen, 
die  sich  dieser  letzteren  Anordnung  fügen,  so  stößt  man  auf  große 
Schwierigkeiten.  In  erster  Linie  könnte  man  vielleicht  auf  den  Ge- 
danken kommen,  die  > emotionalen  Prinzipien«,  die  sich  mit  der  Ein- 
teilung nach  den  einzelnen,  ein  ökonomisches  Verhalten  konstatierenden 
Wissenschaften  nicht  vertragen,  stünden  > intellektuellen  Prinzipien« 
in  dem  Sinn  gegenüber,  daß  diese  Oekonomie  des  Denkens,  jene 
Oekonomie  des  Gefühlslebens  aussagen.  Aber  abgesehen  davon,  daß 
Frankls  Abhandlung  auf  eine  Betrachtung  der  Oekonomie  des  Denkens 
sich  beschränken  sollte,  die  angedeutete  Gegenüberstellung  erweist 
sich  überhaupt  bei  näherer  Betrachtung  der  > emotionalen  Prinzipien« 
als  unrichtig;  denn  es  handelt  sich  bei  letzteren  nicht  um  den  Aus- 
druck der  Tatsache,  daß  alle  emotionalen  oder  auch  nur,  daß  gewisse 
emotionale  Erlebnisse  ökonomisch  sind,  d.  h.  daß  an  Gefühlen  gespart 
wird.  Ferner  soll  keineswegs  behauptet  werden,  daß  Gefühle  stets 
oder  unter  gewissen  Umständen  immer  durch  verhältnismäßig  ge- 
ringen Arbeitsaufwand  hervorgerufen  werden.  Das  Gesetz,  daß 
geringere  psychische  Arbeit  manchmal  lustvoller  empfunden  wird  als 
größerer  geistiger  Energieverbrauch,  ist  überhaupt  kein  Oekonomie- 
prinzip, ebenso  wenig  wie  die  >  Vermutung,  daß  am  Ende  einer  Ent- 


Untersuchongen  zur  Ge  genstandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      41 

Wicklungsreihe  ökonomisches  Verhalten  als  realisierter  Werttatbestand 
hervortretet. 

Es  ist  geradezu  unverständlich,  sowohl,  daß  Frankl  hier  von  einem 
Oekonomieprinzip,  als  auch,  daß  er  von  einem  emotionalen  Tatbestand 
spricht.  Aber  nicht  minder  unbegreiflich  ist  auch  die  Subsumption 
von  Forderungen  der  Einfachheit  unter  den  Begriff  von  Oekonomie- 
prinzipien.  Unser  Autor  scheint  ganz  zu  übersehen,  daß  Imperative 
niemals  auf  die  Formel  zurückgeführt  werden  können:  >Alle  Mat- 
bestände  sind  ökonomisch <.  Wenn  wirklich  überall  da,  wo  Einfach- 
heit verlangt  wird  (NB.  ohne  daß  angegeben  zu  werden  braucht, 
worin  die  Einfachheit  besteht),  von  einem  Oekonomieprinzip  gesprochen 
werden  dürfte,  dann  könnten  wir  übrigens  die  stattliche  Zahl  der 
Frankischen  Oekonomieprinzipien  noch  um  ein  beträchtliches  ver- 
mehren. 

Sehr  naheliegende  Einwände  ließen  sich  femer  erheben  gegen 
die  Formulierung  des  biologischen  Oekonomieprinzips  und  gegen  die 
kritiklose  Vermengung  von  Hypothesenökonomie  und  Wahrscheinlich- 
keit. Inwiefern  Oekonomie  darin  liegen  soll,  daß  die  mehr  Tatsäch- 
liches erklärende  Hypothese  ceteris  paribus  wahrscheinlicher  ist  als 
die  weniger  erklärende,  ist  überhaupt  kaum  einzusehen,  wenn  man 
nicht  den  Mut  hat,  die  Hypothese  und  ihre  Wahrscheinlichkeit  als 
Mittel  und  Zweck  einander  gegenüberzustellen. 

Somit  kommen  als  wirkliche  Oekonomieprinzipien  unter  all  den 
von  Frankl  angeführten  höchstens  noch  in  Betracht  die  Sätze,  daß 
alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  ökonomisch  seien,  daß  die 
auf  Induktion  beruhenden  Urteile  einen  Fall  von  Oekonomie  dar- 
stellen und  daß  in  der  Vorliebe  der  Wissenschaft  für  die  Annahme 
einfacher  Verhältnisse,  wo  diese  zur  Erklärung  ausreichen,  ein  ökono- 
misches Verfahren  sich  erkennen  lasse.  Von  diesen  Sätzen  kann  aber 
der  letzte  als  Oekonomieprinzip  deshalb  nicht  gelten,  weil  die  An- 
nahme einfacher  Verhältnisse,  die  einfachere  Hypothese  —  wenn  wir 
uns  der  Frankischen  Symbole  bedienen  —  kein  H  sondern  ein  L 
darstellt  und  weil  keineswegs  einzusehen  ist,  wie  dasselbe  L  durch 
ein  anderes  H  erreicht  werden  soll.  Mit  anderen  Worten:  Jede 
Hypothese  ist  nicht  nur  Mittel  zur  Erklärung,  sondern  stellt  als  Ur- 
teil über  ein  unserer  Erfahrung  entzogenes  Stück  Wirklichkeit  einen 
Selbstzweck  dar,  und  wenn  die  einfachere  Hypothese  als  wahrschein- 
licheres Urteil  vorgezogen  wird,  so  kann  man  nicht  sagen,  daß  die 
kompliziertere  Annahme  denselben  nur  auf  größerem  Umweg  erreichten 
Zweck  repräsentiere. 

Es  bleiben  also  nur  die  von  Frankl  sogenannten  Oekonomie- 
prinzipien der  Gewohnheit  und  der  Induktion  übrig.    Von  diesen  ist 


42  Gott  gel  Anz.  1906.  Xr.  1. 

das  letztere  ein  spezieller  Fall  desjenigen  Oekonomieprinzips,  das  wir 
als  Prinzip  der  Denkökonomie  formuliert  haben,  und  welches  besagt, 
daß  alles  Denken  in  Allgemeinbegriffen,  wozu  natürlich  auch  die  Fest- 
stellung allgemeiner  Zusammenhänge  durch  Induktion  gehört,  öko- 
nomisch ist.  Das  Oekonomieprinzip  der  Gewohnheit  dagegen  kann 
nur  mit  gewissen  Einschränkungen  aufrecht  erhalten  werden.  Denn 
daß  nicht  alle  gewohnten  psychischen  Tätigkeiten  ökonomisch  sind, 
sondern  nur  diejenigen,  die  einen  bestimmten  Zweck  erfüllen,  gegen- 
über den  ungewohnten,  welche  denselben  Zweck  erfüllen  sollten,  das 
braucht  wohl  nicht  ausführlich  nachgewiesen  zu  werden.  Fragen 
wir  nun,  welche  psychischen  Vorgänge  als  H  einem  L  zugeordnet 
werden  können,  so  kommen  die  Gefühle  als  solche  jedenfalls  nicht 
in  Betracht.  Wir  sind  also  höchstens  in  der  Lage,  einer  Oekonomie 
des  gewohnheitsmäßigen  Denkens  eine  solche  des  gewohnheitsmäßigen 
Wo  Ileus  gegenüberzustellen.  Dagegen  ließe  sich  in  der  Tat  nichts 
einwenden,  und  wenn  es  sich  um  die  Bestimmung  der  Oekonomie 
psychischer  Vorgänge  überhaupt  handelte,  dann  würde  unsere  Kon- 
statierung einer  Oekonomie  des  Denkens  durch  den  Hinweis  auf 
eine  mögliche  Oekonomie  des  Wollens  eine  wertvolle  Ergänzung  finden. 

Da  wir  aber  den  Begriff  der  Denkökonomie  nicht  in  dem  weiten 
Sinn  einer  Oekonomie  psychischer  Vorgänge  überhaupt  fassen,  so 
bedeutet  Frankls  Prinzip  der  Gewohnheitsökonomie  keine  Erweiterung 
unseres  Prinzips  der  Denkökonomie,  da  das  gewohnheitsmäßige 
Denken  kein  Denken  neben  dem  mit  identischen  Gegenständen  und 
allgemeinen  Begriffen  operierenden  Denken  ist.  Nur  eine  Teil- 
bedingung, durch  welche  die  Oekonomie  des  Denkens  beeinflußt 
werden  kann,  vermögen  wir  in  der  Gewöhnung  zu  sehen,  so  daß  ^ir 
abschließend  sagen  können:  Es  gibt  eine  Oekonomie  des  Denkens, 
die  durch  Gewohnheit,  durch  die  Annahme  identischer  Gegenstände 
und  durch  die  Konstruktion  allgemeiner  Begriffe  und  Gesetze  be- 
dingt wird. 

Den  Versuch  Frankls,  die  Oekonomie  des  Denkens  in  Allgemein- 
begriffen auf  Gewohnheitsökonomie  zurückzuführen,  und  seine  Polemik 
gegen  die  Formulierung  des  Oekonomieprinzips  bei  Cornelius  müssen 
wir  als  verunglückt  bezeichnen.  Dagegen  darf  die  Ablehnung  der 
Oekonomieformel  von  Avenarius  wohl  als  berechtigt  angesehen  werden 
und  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  Frankl  eben  durch  seine  Ausein- 
andersetzung mit  Avenarius  dazu  veranlaßt  worden  ist,  das  Prinzip 
der  Denkökonomie  als  allgemeines  psychologisches  Minimumprinzip 
aufzufassen  und  so  bei  der  begründeten  Verwerfung  des  letzteren 
den  Blick  für  die  Berechtigung  eines  allgemeinen  D e n k Ökonomie- 
prinzips zu  verlieren. 


Untersachongen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      43 

UL 

Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens.  Von  Dr.  Vittorio  Benussi. 
S.  303—448. 

Die  verschobene  Schachbrettfigur.  Von  Dr.  Vittorio  Benussi  und 
Wilhelmine  Liel.    S.  449—472. 

Den  Arbeiten  von  Benussi  »Zur  Psychologie  des  Gestalterfassens« 
und  von  Benussi  und  Wilhelmine  Liel  >Die  verschobene  Schachbrett- 
figurc  ist  der  Grundgedanke  gemeinsam,  wonach  ein  Teil  der  geo- 
metrisch-optischen Täuschungen,  speziell  die  Erscheinungen  der 
Müller-Lyerschen  Figur  und  das  Schachbrettphänomen  aus  den  Ge- 
setzen der  Vorstellungsproduktion  sollen  erklärt  werden  können. 
Einer  derartigen  Behauptung  stehen  hauptsächlich  zwei  Einwände 
entgegen,  nämlich  erstens  der  Hinweis  auf  die  Regelmäßigkeit,  die 
in  den  betreflfenden  optischen  Täuschungen  hervortritt  und  die  in 
scharfem  Gegensatz  zu  stehen  scheint  zu  der  Willkürlichkeit,  mit 
welcher  bei  typischen  Fällen  von  Vorstellungsproduktion  bald  dieser, 
bald  jener  Eindruck  hervorgerufen  werden  kann.  Daneben  kommt 
zweitens  in  Betracht,  daß  die  Tatsachen  der  Vorstellungsproduktion 
ihrerseits  keine  allgemeinen  Gesetze  sind,  die  das,  was  ihnen  sub- 
sumiert werden  kann,  ohne  weiteres  erklären. 

Was  nun  den  ersten  Einwand  anlangt,  so  sind  die  experimen- 
tellen Untersuchungen,  welche  den  in  Rede  stehenden  Arbeiten  zu- 
grunde liegen,  dazu  bestimmt,  ihn  zu  entkräften.  Ob  sie  dazu  auch 
geeignet  sind,  das  soll  uns  eine  kurze  Betrachtung  derselben  zeigen. 
Es  handelt  sich  sowohl  bei  den  Versuchen  Benussis  wie  bei  den- 
jenigen von  Benussi  und  Liel  vor  allem  um  die  Feststellung  eines 
verschiedenen  Verhaltens  der  Versuchsperson  demselben  Reiztat- 
bestand gegenüber  bei  verschiedener  Richtung  der  Aufmerksamkeit, 
femer  um  die  Konstatierung  einer  Variation  dieses  verschiedenen 
Verhaltens  bei  fortschreitender  üebung  in  willkürlicher  Aufmerksam- 
keitseinstellung und  endlich  um  den  Nachweis  analoger  Variation, 
wenn  Aufmerksamkeitsreize  die  Aufmerksamkeitsrichtung  beeinflussen. 

Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  unterscheiden  die  Verfasser 
eine  G-Reaktion,  eine  ^-Reaktion  und  eine  Ä-Reaktion  ihrer  Versuchs- 
personen, von  denen  die  erste  den  Fall  bezeichnet,  wo  die  Versuchs- 
person aufgefordert  wird,  die  Gesamtgestalt  der  Täuschungsfigur 
aufzufassen.  Bei  der  an  zweiter  Stelle  genannten  Reaktionsweise 
muß  die  Versuchsperson  von  den  die  Täuschung  bedingenden  Bestand- 
teilen der  Figur,  so  gut  es  geht,  abstrahieren  und  von  einer 
/S-Reaktion  wird  da  gesprochen,  wo  eine  bestimmte  Richtung  der 
Aufmerksamkeit  nicht  intendiert  ist.     Es    wird  nun  nachgewiesen, 


44  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

daß  G-,  Ä'  und  jS-Reaktion  in  verschiedenen  Ergebnissen  der  mit 
demselben  Reiztatbestand  angestellten  Versuche  sich  zu  erkennen 
geben.  Diese  Versuche  bestehen  im  Fall  der  an  der  Müller-Lyerschen 
Figur  angestellten  Beobachtungen  darin,  daß  zu  dem  Mittelstück  der 
Figur  eine  schenkellose  Strecke  von  scheinbar  gleicher  Länge  kon- 
struiert wird,  die  von  der  wirklichen  Gleichheit  umso  weiter  entfernt 
ist,  je  ausgeprägter  die  6r-Reaktion  auftritt.  Bei  den  Versuchen  mit 
der  Schachbrettfigur  wird  zu  der  Trennungslinie  der  beiden  Reihen 
von  schwarzen  und  weißen  Quadraten  eine  scheinbare  Parallele  ge- 
zogen. Dabei  entspricht  diese  scheinbare  umso  mehr  der  wirklichen 
Parallelen,  je  besser  die  ^-Reaktion  gelingt.  Die  Ergebnisse  der 
5-Reaktion  liegen  stets  in  der  Mitte  zwischen  den  Resultaten  der 
A'  und  der  ö-Reaktion. 

Ganz  analog  wie  die  Bedeutung  der  A-  und  6r-Reaktion  wird 
femer  der  Einfluß  der  A-  und  6r-Uebung  nachgewiesen,  indem  ge- 
zeigt wird,  daß  die  Verschiedenheit  der  Ergebnisse  bei  den  entgegen- 
gesetzten Reaktionsarten  umso  größer  ist,  je  später  dieselben  ge- 
wonnen sind,  d.  h.  je  größere  Uebung  die  Versuchsperson  im  Reagieren 
nach  Typus  A  oder  O  sich  erworben  hat. 

Was  endlich  den  Nachweis  der  Wirksamkeit  von  Aufmerksam- 
keitsreizen anlangt,  so  wird  derselbe  in  der  Weise  erbracht,  daß  bei 
der  Müller-Lyerschen  Figur  Mittelstück  und  Schenkel  in  allen  mög- 
lichen Richtungen  variiert  werden,  während  bei  dem  Schachbrett- 
muster die  Helligkeit  und  Farbe  der  Quadrate  sowie  die  Beschaffen- 
heit der  Trennungslinie  für  verschiedene  Versuche  verschieden  gewählt 
wird.  Dabei  zeigt  sich  eine  Verschiedenheit  in  den  Ergebnissen  je 
nach  der  Größe,  des  Winkels,  den  die  Schenkel  der  Müller-Lyerschen 
Figur  mit  dem  Mittelstück  bilden,  je  nachdem  Schenkel  und  Mittel- 
stück farblos  oder  farbig,  färben-  und  helligkeitsgleich  oder  farben- 
und  helligkeitsverschieden,  durch  ausgezogene  Linien  oder  bloß  durch 
die  Endpunkte  dargestellt  sind,  je  nachdem  ferner  entweder  bloß  die 
Schenkel  oder  bloß  das  Mittelstück  ausgezogen  bezw.  nur  angedeutet, 
je  nachdem  endlich  beim  Schachbrettmuster  chromatische  oder  achro- 
matische, helligkeitsähnliche  oder  sehr  verschiedene  Quadrate  und 
eine  stark  schwarz  oder  weiß  ausgezogene  oder  eine  nur  fingierte 
Trennungslinie  in  Betracht  kommen.  Den  Einfluß  dieser  Momente 
glauben  die  Verfasser  zusammenfassend  dahin  bestimmen  zu  könnem, 
daß  alle  Bedingungen,  welche  die  ^-Reaktion  begünstigen,  eine  Velr- 
ringerung  der  Täuschungsgröße,  alle  diejenigen,  welche  der  6r-Reaktion 
Vorschub  leisten,  eine  Erhöhung  des  Täuschungsbetrages  zur  Folg4 
haben.  Tatsächlich  müssen  wir  zugeben,  daß  durch  die  Versuchs' - 
resultate  eine  Auffassung  gerechtfertigt  erscheint,  wonach  jeder  Um-.. 


\ 


Untersnchnngen  znr  GegeDStandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      45 

stand  die  Täuschung  vergrößert,  der  das  Hervortreten  der  bei  der 
^-Reaktion  zu  übersehenden  Bestandteile  begünstigt. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  dadurch  die  Erklärung  der  in  Rede 
stehenden  Erscheinungen  als  > Produktionstäuschungen«  zureichend 
begründet  erscheint.  Diese  Frage  kann  man  unbedenklich  bejahen, 
wenn  man  jede  Täuschung,  die  nicht  peripher  bedingt  ist,  d.  h.  nicht 
in  der  Beschafifenheit  der  Sinnesorgane  oder  in  der  Beschafifenheit 
der  inadäquat  vorgestellten  Reize  ihren  Grund  hat,  und  die  auch 
nicht  als  Urteilstäuschung  sich  betrachten  läßt  —  eine  Täuschung 
der  Vorstellungsbildung,  eine  Produktionstäuschung  nennt.  Daß 
nämlich  die  Phänomene  der  Müller-Lyerschen  Figur  und  des  Schach- 
brettmusters keine  peripher  bedingten  und  keine  Urteilstäuschungen 
sind,  das  scheint  durch  die  Untersuchungen  unserer  Autoren  unwider- 
leglich dargetan  zu  sein. 

Aber  Täuschungen,  die  bei  der  Vorstellungsbildung  durch  die 
gegenseitige  Beeinflussung  der  verschiedenen  Bestandteile  zustande 
kommen,  Produktionstäuschungen  in  dem  erwähnten  weiten  Sinn, 
können  immer  noch  den  verschiedensten  Charakter  besitzen.  Wenn 
beispielsweise  die  sich  bildende  Vorstellung  von  einer  uns  geläufigen 
ähnlichen  Vorstellung  assimiliert  wird,  wie  es  im  Fall  der  Illusion 
geschieht,  wo  die  den  Reizbestandteilen  entsprechenden  Vorstellungs- 
bestandteile durch  assoziativ  erregte  Vorstellungen  teils  ergänzt,  teils 
ersetzt  oder  doch  umgestaltet  werden  —  oder  wenn  die  den  Augen- 
bewegungen entsprechenden  Empfindungen  einen  optischen  Total- 
eindruck anders  gestalten  als  er  ohne  sie  beschafifen  wäre,  so  haben 
wir  es  ofifenbar  auch  mit  Produktionstäuschungen  im  angegebenen 
Sinn  zu  tun.  Wenn  nun  Benussi  in  seiner  Kritik  der  bisher  zur 
Erklärung  der  Müller-Lyerschen  Täuschung  aufgestellten  Theorien 
die  > perspektivische  Deutungc  Thi^rys,  die  > Erklärungsversuche 
durch  assoziierte  Vorstellungen«,  wie  sie  sich  bei  Heymans,  Lipps 
und  Stilling  finden,  und  die  > Erklärungsversuche  durch  die  Augen- 
bewegungen« von  Binet,  van  Biervliet,  Delboeuf  und  Wundt  verwirft, 
so  darf  er  eigentlich  nicht  seine  Erklärung  der  Müller-Lyerschen 
Täuschung  als  einer  Produktionserscheinung  schlechthin  den  genannten 
Theorien  gegenüberstellen. 

Er  versucht  zwar  das  Wesen  der  Produktionstäuschung  näher 
dahin  zu  bestimmen,  daß  >als  Ursache  der  inadäquaten  Vorstellungs- 
produktion eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  in  Realrelation 
stehenden  Inferioreninhalte  zu  vermuten«  sei.  Wenn  damit  gesagt 
sein  soll,  daß  nur  die  Liferioreninhalte  und  keine  Nebenempfindungen, 
die  in  die  Gesamtvorstellung  eingehen  (wie  z.  B.  die  Empfindungen 
von  Augenbewegungen),  sowie  keine  Bestandteile  einer  eventuell  für 


46  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

die  Produktion  richtunggebenden  >Zielvorstellung«  sich  an  der  Hervor- 
bringuDg  der  Täuschung  beteiligen,  dann  ist  allerdings  ein  bestimmter 
Fall  von  Produktionstäuschung  ins  Auge  gefaßt.  Aber  warum  die 
Inferioreninhalte  sich  beeinflussen  und  wie  sie  sich  beeinflussen,  das 
bleibt  vollkommen  im  Dunkeln.  Wir  können  es  uns  einigermaßen 
erklären,  wie  und  warum  die  >Aufgabe<  einer  Vorstellungsproduktion, 
sei  es  durch  das  Verstehen  des  die  Lösung  bezeichnenden  Wortes 
oder  in  Form  der  Zielvorstellung  im  Sinn  eines  > indirekten  Vor- 
stellensc,  bestimmend  einwirkt  auf  das  Produktionsergebnis.  Man 
hat  auch  versucht,  den  hypothetischen  Einfluß  der  Augenbewegungen 
in  Form  eines  allgemeinen  Gesetzes  darzustellen.  Aber  ein  allgemeines 
Gesetz,  wonach  Inferioreninhalte  überhaupt  sich  gegenseitig  beein- 
flussen, kennen  wir  nicht.  Daher  ist  die  Erklärung  der  Müller- 
Lyerschen  Täuschung  als  einer  Produktionstäuschung  nichts  anderes 
als  eine  Konstatierung  des  Tatbestandes,  daß  die  Schenkel  der  Figur 
den  bekannten  Einfluß  auf  die  Vorstellung  der  Länge  des  Mittelstücks 
ausüben  und  daß  dieser  Einfluß  von  der  Vorstellung  der  Schenkel, 
nicht  von  irgend  welchen  anderen  Vorstellungen  und  Vorstellungs- 
bestandteilen ausgeht. 

Das  gleiche  gilt  auch  für  die  Erklärung  des  Schachbrettphänomens 
als  einer  Produktionstäuschung.  Doch  kommt  hier  noch  ein  weiteres 
Moment  hinzu.  Das  Schachbrettphänomen  wird  nämlich  als  ein  be- 
sonderer Fall  der  Zöllnerschen  Täuschung  von  den  Verfassern  dar- 
gestellt und  zwar  wird  >die  Gleichartigkeit  der  in  Rede  stehenden 
Täuschungsgestalt  mit  der  Zöllnerschen  dadurch  nachgewiesen,  daß 
sich  das  Maß  der  Täuschung  um  so  mehr  erhöht,  je  mehr  die  Vor- 
stellung der  durch  'die  Zöllnersche  Figur  dargebotenen  Gestalt  — 
bedingt  durch  die  bekannte  Lageverschiedenheit  zweier  sich  kreuzender 
Geraden  —  beim  Anblick  der  verschobenen  Schachbrettfigur  in  den 
Vordergrund  trittc.  Nehmen  wir  an,  dieser  Nachweis,  auf  dessen 
Beurteilung  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  soll,  sei  gelungen, 
dann  ist  damit  natürlich  weder  das  Zöllnersche  noch  das  Schachbrett- 
phänomen erklärt.  Es  ist  nur  die  Aufgabe  der  Erklärung  insofern 
vereinfacht,  als  durch  eine  Hypothese  zwei  Erscheinungen  verständ- 
lich gemacht  werden  können.  Damit  ist  aber  nicht,  wie  man  viel- 
leicht vermuten  könnte,  die  oben  vermißte  Allgemeinheit  für  die 
>Produktionstäuschungs-Hypothese<  gewonnen;  denn  es  handelt  sich 
ja  beim  Schachbrettphänomen  nicht  um  eine  Variation,  sondern  nur 
um  eine  Verschleierung  des  gleichen  Tatbestands,  der  bei  der 
Zöllnerschen  Täuschung  vorliegt.  Der  Müller-Ly ersehen  Figur  gegen- 
über bedeutet  die  Zöllnersche  und  die  verschobene  Schachbrettfigur 
wohl  eine  Variation  des  zu  erklärenden  Tatbestandes.    Dagegen  fehlt 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      47 

hier  die  Einheitlichkeit  der  Hypothese.  Es  soll  sich  zwar  beide  Male 
um  Produktionstäuschungen  handeln,  aber  die  Art,  wie  die  Inferioren- 
inhalte  einander  beeinflussen,  ist  eine  ganz  verschiedene,  indem  einer- 
seits eine  Größen-  andererseits  eine  Richtungsveränderung  in  Betracht 
kommt. 

Kurz,  wir  können  das  Ergebnis  dieser  kritischen  Betrachtungen 
dahin  zusammenfassen,  daß,  wenn  es  auch  den  Verfassern  gelungen 
ist,  den  ersten  der  eingangs  berührten  Einwände  zu  widerlegen, 
trotzdem  oder  vielleicht  eben  deswegen  der  zweite  Einwand  bestehen 
bleibt,  wonach  die  Bezeichnung  einer  Täuschung  als  Produktions- 
täuschung noch  keine  Erklärung  bedeutet. 

Im  übrigen  ist  aber  nicht  nur  die  sorgfältige  Verarbeitung  und 
die  Reichhaltigkeit  der  Versuchsergebnisse,  sondern  auch  die  ein- 
gehende Kritik  der  über  die  Müller-Lyersche  und  über  die  Schach- 
bretttäuschung bisher  aufgestellten  Theorien  hervorzuheben,  wodurch 
die  in  Rede  stehenden  Arbeiten  dankenswerte  Beiträge  zur  Psycho- 
logie der  geometrisch-optischen  Täuschungen  liefern. 


IV. 

Ein  neuer  Beweis  für  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben.  Von 
Dr.  Vittorio  Benussi.     S.  473—480. 

Eine  scharfsinnige  psychologische  Untersuchung  sehen  wir  auch 
in  der  Abhandlung  Benussis,  die  sich  mit  einem  neuen  Beweis  für 
die  spezifische  Helligkeit  der  Farben  beschäftigt.  Benussi  weist 
nämlich  durch  geschickte  Kombination  einer  farbigen  Scheibe  mit 
farblosem  Kreisring  und  einer  farblosen  Scheibe  mit  farbigem  Ring 
in  eleganter  Weise  nach : 

1.  >Daß  die  Helligkeit  eines  gegebenen  Grau  erhöht  erscheint, 
wenn  man  es  der  Induktionswirkung  einer  gleich  hellen 
blauen  oder  grünen  Farbe  exponiert,  herabgesetzt  dagegen, 
wenn  die  induzierende  Farbe  rot  oder  gelb  ist.< 

2.  »Daß  die  Helligkeit  einer  gelben  oder  roten  Fläche  bei 
Sättigungserhöhung  durch  eine  gleich  helle  Um- 
gebung erhöht,  diejenige  einer  blauen  oder  grünen  Fläche 
dagegen  unter  den  analogen  Umständen  herabgesetzt 
wird.« 

Ebenso  wird  gezeigt,  daß  die  Werte  der  Helligkeitserhöhung 
bezw.  -Herabsetzung  bei  Farbeninduktion  dem  Betrage  der  Helligkeits- 
herabsetzung bezw.  Erhöhung  beim  Verschwinden  der  Farbe  in  der 
Dämmerung  ungefähr  entsprechen  oder,  wie  Benussi  sagt,  >daß  die 
durch  Farbeuinduktion  und  Dämmerungsbeleuchtung  erzielte  Hellig- 


48  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

keitsverschiebuog  objektiv  gleichheller   Farben  angenäherte   Aequi- 
valenz<  erkennen  lassen. 

Sind  diese  Tatsachen,  was  bei  der  geringen  Anzahl  der  mit- 
geteilten Versachsergebnisse  freilich  nicht  kontrolliert  werden  kann, 
über  allen  Zweifel  erhaben,  dann  scheint  auch  der  Schlußfolgerung 
Benussis  nichts  im  Wege  zu  stehen,  daß  >die  mit  dem  Hervortreten 
der  Farbe  Hand  in  Hand  gehende  Helligkeitszu-  oder  -abnähme, 
die  bei  helladaptiertem  Auge  nachgewiesen  werden  kann,  nicht  auf 
einen  Funktionswechsel  verschiedener  terminaler  Netzhautapparate, 
sondern  auf  die  den  Farben  eigene  Helligkeit  zurückzuführen  ist<, 
und  daß  »auch  das  Purkinjesche  Phänomen  durch  den  Hinweis  auf 
die  spezifische  Helligkeit«  erklärt  werden  muß. 


Ueber  Vorstellungsproduktion.  Von  Dr.  Rudolf  Ameseder. 
S.  481—508. 

Die  Empfindungen  sind  ihrer  Natur  nach  selbständig,  d.  h.  trotz- 
dem es  unwahrscheinlich  ist,  daß  es  eine  Empfindung  allein  ohne 
Zusammenhang  mit  anderen  geben  könne,  so  bedeutet  doch  eine 
alleinstehende  Empfindung  keineswegs  einen  inneren  Widerspruch. 
Ebenso  wie  die  Empfindungen  ist  auch  das  durch  sie  >Erfaßte«,  ihr 
Gegenstand  (der  nicht  verwechselt  werden  darf  mit  ihrer  Ur- 
sache) innerlich  selbständig.  Es  gibt  aber  auch  Gegenstände,  die 
fundierten,  welche  ihrer  Natur  nach  unselbständig  sind,  und  die  Vor- 
stellungen, durch  welche  fundierte  Gegenstände  erfaßt  werden,  sind 
gleichfalls  innerlich  unselbständig.  Folglich  können  diese  Vorstellungen 
(von  fundierten  Gegenständen)  keine  Empfindungen  sein. 

So  grenzt  Ameseder  in  der  vorliegenden  Arbeit  sein  Unter- 
suchungsgebiet ab.  Er  will  die  Stellung  der  Vorstellungen  von  fun- 
dierten Gegenständen  in  der  Gesamtheit  des  Psychischen  bestimmen 
und  weist  deshalb  zunächst  nach,  daß  diese  Vorstellungen  überhaupt 
eine  besondere  Stellung  einnehmen,  daß  sie  nicht  schlechtweg  mit 
Empfindungen  zusammenfallen.  Nun  wird  freilich  von  vornherein 
nicht  leicht  jemand  auf  den  Gedanken  kommen,  die  Vorstellungen 
von  fundierten  Gegenständen,  z.  B.  die  Vorstellung  einer  Verschieden- 
heit zweier  Empfindungen  mit  einer  einfachen  Empfindung  zu  iden- 
tifizieren. Dagegen  könnte  man  vielleicht  versuchen,  die  Vorstellung 
der  Verschiedenheit  mit  dem  Zugleichsein  der  beiden  Empfindungen 
zusammenfallen  zu  lassen  und  diese  Möglichkeit  ist  durch  den  Hin- 
weis auf  die  innerliche  Unselbständigkeit  der  betreffenden  Vorstellung 
keineswegs  ausgeschlossen.    Wohl  aber  wird  diese  Annahme  hinfällig 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      49 

durch  die  Ueberlegung,  daß  zwei  Empfindungen  gleichzeitig  gegeben 
sein  können,  ohne  daß  die  Vorstellung  ihrer  Verschiedenheit  aufzu- 
treten braucht.  Wir  müssen  also  zugeben,  daß  es  Vorstellungen 
gibt,  die  weder  mit  einfachen  Empfindungen  noch  mit  einem  Komplex 
von  Empfindungen  zusammenfallen.  Was  vermag  uns  Ameseder 
weiter  über  solche  Vorstellungen  zu  sagen? 

Er  konstatiert  vor  allem  etwas  Terminologisches,  nämlich  dies, 
daß  die  Bezeichnungen  Wahrnehmungsvorstellung  und  Einbildungs- 
vorstellung nicht  geeignet  sind,  die  Empfindungen  und  die  in  Rede 
stehenden  Vorstellungen  auseinander  zu  halten.  Sowohl  der  Begriff 
der  Wahmehmungs-  wie  der  Begriff  der  Einbildungsvorstellung  kann 
auf  Vorstellungen  von  fundierten  Gegenständen  anwendbar  sein. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  betreffenden  Vorstellungen  fundierter 
Gegenstände  zu  ihren  Elementarvorstellungen  in  demselben  Verhältnis 
stehen  wie  die  fundierten  Gegenstände  selbst  zu  ihren  Elementen 
(die  »Superiora«  zu  ihren  »Inferioren«),  d.  h.  ob  man  von  einer 
Fundierung  der  innerlich  unselbständigen  Gegenstände  sprechen 
kann.  Die  Entscheidung  hierüber  fällt  leicht,  wenn  man  die  Merk- 
male des  Fundierten  in  Betracht  zieht.  Zwei  solche  Merkmale  hält 
unser  Autor  für  charakteristisch,  nämlich  die  Idealität,  also  Nicht- 
wirklichkeit  des  Fundierten  und  den  Umstand,  daß  fundierte  Superiora 
den  gegebenen  Inferioren  mit  Notwendigkeit  zukommen.  Beide  Kenn- 
zeichen aber  treffen  für  die  in  Rede  stehenden  Vorstellungen  nicht 
zu.  Dieselben  sind  stets  etwas  Wirkliches  und  es  liegt  nicht  in  der 
Natur  der  Superiusvorstellung ,  daß  sie  auf  die  gegebenen  Inferiora 
notwendig  aufgebaut  sein  müßte;  sie  kann  vielmehr  auch  ganz 
fehlen.  >  Fundiert  sind  also  die  Vorstellungen  fundierter  Gegenstände 
nicht.  Daß  sie  sich  gleichwohl  auf  die  Inferioravorstellungen  auf- 
bauen, ist  zweifellos.«  Es  fragt  sich  nur,  welche  Art  des  Anfbaus 
in  Betracht  kommt. 

Bis  hieher  sind  die  vorsichtigen  definitorischen  und  terminologi- 
schen Ausführungen  Ameseders  vor  jedem  Zweifel  geschützt.  Aber 
nun  beginnt  die  Hypothesenbildung.  Wir  sehen  zwei  Möglichkeiten 
vor  uns.  Zunächst  könnte  nämlich  dem  idealen  Verhältnis  der 
Fundierung  das  reale  Verhältnis  der  Kausation  gegenübergestellt 
werden.  In  diesem  Fall  wäre  anzunehmen,  daß  die  Inferioravor- 
stellungen unter  gewissen  noch  näher  zu  bestimmenden  Umständen 
die  Superiusvorstellung  erzeugen.  Andererseits  könnte  man  davon 
ausgehen,  daß  etwas  anderes  als  die  Inferioravorstellungen  die  Haupt- 
bedingung für  das  Zustandekommen  der  Superiusvorstellung  darstellt, 
weil  die  ersteren  häufig  ohne  die  letztere  Vorstellung  auftreten. 
Aber  in  diiesem  Fall  wäre  sorgfältig  zu  untersuchen,  worin  jenes 

QOU.  gel.  ABZ.  1906.  Kr.  1.  4 


50  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Etwas  neben  den  Inferioravorstellungen  besteht  und  wodurch  es  in 
Funktion  versetzt  wird;  denn  es  betätigt  sich  ja  nicht  immer,  wenn 
die  Inferioravorstellungen  gegeben  sind.  In  diesem  letzteren  Fall 
bleibt  also  trotz  der  hypothetischen  Annahme  eines  >Etwas<,  welches 
das  Auftreten  der  Superiusvorstellung  bedingt,  und  trotz  einer  hypo- 
thetischen Bestimmung  dieses  >Etwas<  immer  noch  eine  Hypothese 
zu  bilden  darüber,  unter  welchen  Umständen  die  Superius- 
vorstellung erzeugt  wird. 

Macht  man  sich  dies  klar,  dann  kann  man  es  nicht  gerade  eine 
glückliche  Wahl  nennen,  daß  Ameseder  zur  Lösung  der  in  Rede 
stehenden  Frage  den  letzteren  Weg  eingeschlagen  hat,  indem  er 
jenes  >Etwas«,  das  neben  den  Inferioravorstellungen  gegeben  sein 
muß,  als  etwas  Psychisches  betrachtet  und  das  Erzeugen  der  Superius- 
vorstellung >  Produktion  €  nennt.  Dabei  ist  freilich  nicht  ganz  sicher, 
ob  die  Bezeichnung  >Produktion<  mehr  als  ein  bloßes  Wort  für  die 
auf  bisher  unbekannte  Weise  sich  vollziehende  Erzeugung  der  Superius- 
vorstellung sein  soll,  d.  h.  ob  unser  Autor  die  Nebenbedeutung  einer 
Tätigkeit  des  Subjekts  mit  jener  Bezeichnung  verbindet.  Wenn  dies 
nicht  der  Fall  ist,  so  ist  natürlich  auch  gegen  den  Gebrauch  des 
Wortes  »Produktion<  nichts  anderes  einzuwenden,  als  daß  dadurch 
leicht  störende  Neben  Vorstellungen  erregt  werden.  Dagegen  muß 
unter  allen  Umständen  daran  festgehalten  werden,  daß  von  einer 
psychologischen  Erklärung  der  Bildung  von  Superiusvorstellungen 
in  keinem  Fall  die  Rede  sein  kann. 

Wir  finden  es  daher  begreiflich,  daß  unser  Autor  im  zweiten 
»theoretischen<  Teil  seiner  Arbeit,  welchen  er  dem  ersten  ^ deskrip- 
tiven <  Teil  gegenüberstellt,  nochmals  auf  »das  Wesen  der  Vorstellungs- 
produktion<  zurückkommt.  Aber  das,  was  er  hier  vorbringt,  ist 
kaum  viel  befriedigender  als  das  bisherige.  Wir  erfahren,  daß  die 
Superiusvorstellung  zu  den  Inferioravorstellungen  in  >Realrelation< 
steht,  wobei  > Realrelation <  so  ziemlich  der  neutralste  Ausdruck  zu 
sein  scheint  für  eine  Beziehung,  die  nicht  Idealrelation  sein  soll. 
Will  man  trotzdem  mit  dem  Begriff  > Realrelation <  eine  bestimmtere 
Bedeutung  verbinden,  wozu  die  Gegenüberstellung  >bloßen  Kausal- 
verhältnisses <  Veranlassung  geben  könnte,  so  gerät  man  in  die 
größten  Schwierigkeiten.  Man  sieht  sich  nämlich  genötigt,  den  Be- 
griff des  Realkomplexes,  den  Ameseder  in  dem  fraglichen  Sinn  ein- 
führt, entweder  so  zu  deuten,  daß  er  von  dem  Begriff  des  >  Komplexes 
von  Elementarvorstellungen <  nicht  mehr  zu  unterscheiden  ist.  Dann 
würden  wir  jedoch  zu  einer  Auffassung  der  Superiusvorstellungen 
zurückgeführt,  die  früher  ausdrücklich  abgelehnt  wurde.  Oder  man 
muß,  wie  doch  tatsächlich  Ameseders  Absicht  zu  sein  scheint,  an- 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      61 

nehmen,  daß  durch  den  Komplex  realer  Empfindungen  eine  neue 
Vorstellung  erzeugt  wird.  Dann  bleibt  es  unbegreiflich,  warum  die 
Begriffe  > Realrelation«  und  > bloßes  Kausalverhältnis«  auseinander 
gehalten  werden.  Unter  allen  Umständen  wird  gerade  auf  das 
wichtigste,  nämlich  auf  die  Untersuchung  \der  Bedingungen,  unter 
denen  die  >Produktion<  der  Superiusvorstellung  stattfindet,  von 
Ameseder  nicht  näher  eingegangen.  Was  er  über  das  Verhältnis  der 
Vorstellungsproduktion  zur  Aktivität  sagt,  vermag  diese  Lücke  kaum 
auszufüllen;  denn  wenn  wir  erfahren,  daß  der  reale  Vorgang,  der 
aus  den  Elementarvorstellungen  den  Realkomplex  erzeugt,  eine 
Willensleistung  sei,  so  bedeutet  dies  ja  doch  nur  wieder  einen  neuen 
Namen  für  jenes  Etwas,  das  neben  den  Inferioravorstellungen  in 
Tätigkeit  treten  soll  und  dessen  gesetzmäßige  Wirksamkeit  wir 
kennen  lernen  möchten. 

Einiges  über  diese  Frage  wird  nun  freilich  beigebracht  in  den 
Ausführungen  unseres  Autors  über  Auffälligkeit  und  Aufmerksamkeit 
Aber  auch  diese  Darlegungen  sind  hauptsächlich  terminologischer 
Natur.  Es  wird  zunächst  konstatiert,  daß  von  Auffälligkeit  fundierter 
Gegenstände  da  die  Rede  sein  kann,  wo  von  mehreren  Superioren 
eines  auch  dann  zum  Erfaßtwerden  gelangt,  wenn  die  subjektiven 
Bedingungen  zum  Erfassen  aller  Superiora  gleich  günstig  sind.  Diese 
Auffälligkeit  kommt  entweder  dem  Superius  selbst  oder  den  Inferioren 
zu  und  zwar  hat  man  sich  unter  der  Auffälligkeit  der  Inferiora  (auch 
Absolutive  genannt)  natürlich  nicht  ihre  Eignung  vorzustellen,  durch 
produzierte  Vorstellungen  erfaßt  werden  zu  können,  sondern  die  Eig- 
nung als  Inferiora  erfaßter  fundierter  Gegenstände  zu  funktionieren. 
Die  Schwierigkeit  der  Produktion  ist  nach  dem  bisher  Erwähnten 
somit  abhängig:  1.  Von  der  Beschaffenheit  der  Inferiusinhalte  und 
2.  von  der  Art  der  postulierten  Produktion.  Dazu  kommt  aber  noch 
als  dritte  Bedingung  die  Beschaffenheit  der  für  eine  bestimmte 
Produktionsart  vorliegenden  Disposition,  d.  h.  die  Produktion  ist 
nicht  nur  von  unwillkürlicher,  sondern  auch  von  willkürlicher  Auf- 
merksamkeit abhängig. 

In  den  Fällen  nun,  wo  eine  Produktionsvorstellung  y^illkürlich 
hervorgerufen  wird,  sieht  unser  Autor  eine  Schwierigkeit  ^arin,  daß 
man  das  Ziel  der  Produktion  vor  dem  Produzieren  erfassen  muß, 
obwohl  die  zu  solchem  Erfassen  geeignete  Vorstellung  scheinbar  doch 
erst  durch  die  Produktion  geliefert  wird.  Diese  Schwierigkeit  glaubt 
Ameseder  lösen  zu  können  durch  Zuhilfenahme  einer  sogenannten 
>indirekten  Vorstellung <,  genauer  eines  Komplexes  aus  Vorstellungen 
und  Annahmen.  Wir  würden,  von  der  Voraussetzung  ausgehend, 
daß  das  Verständnis  von  Wörtern  und  sprachlich  formulierten  Auf- 

4* 


52  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

gaben  auch  ohne  Vorstellungen  vorhanden  sein  kann,  in  der  ganzen 
eben  berührten  Frage  kein  Problem  sehen,  zu  dessen  Lösung  besondere 
Ueberlegungen  nötig  wären.  Im  übrigen  schadet  es  natürlich  nichts, 
wenn  für  den  psychischen  Vorgang  des  vorstellungslosen  Verstehens 
ein  besonderer  Terminus,  wie  der  des  indirekten  Vorstellens  ein- 
geführt wird. 

Weniger  rein  terminologische  und  mehr  sachliche  Ueberlegungen 
stellt  Ameseder  in  demjenigen  Abschnitt  seiner  Arbeit  an,  der  von 
inadäquaten  Vorstellungen  handelt.  Er  konstatiert  zunächst,  daß 
mehrere  Möglichkeiten  vorliegen,  diese  Inadäquatheit  von  Produktions- 
vorstellungen,  wie  sie  z.  B.  im  Fall  der  geometrisch -optischen 
Täuschungen  gegeben  ist,  zu  erklären.  Es  könnte  nämlich  erstens 
sein,  daß  die  Elementarvorstellungen  adäquat  sind  und  es  auch 
bleiben,  wenn  Produktion  eintritt.  Bestände  nun  die  Produktion  im 
Hinzutreten  einer  neuen  Vorstellung,  dann  könnte  die  Inadäquatheit 
darin  liegen,  daß  diese  neue  Vorstellung  nicht  die  den  Elementar- 
vorstellungen entsprechende  ist.  Zweitens  besteht  die  Möglichkeit, 
daß  die  Produktion,  die  zu  einer  Täuschung  führt,  bereits  ein  ver- 
ändertes Material  an  Elementarvorstellungen  vorfindet.  Drittens 
endlich  könnten  die  Elementarvorstellungen  den  Inferioren  an  sich 
adäquat  sein,  könnten  aber  durch  die  Produktion  derart  verändert 
werden,  daß  schlieGlich  an  ihnen  und  an  der  Superiusvorstellung  In- 
adäquatheit zu  konstatieren  ist.  Dies  letztere  trifft,  wie  Ameseder 
durch  Exklusion  der  beiden  anderen  Möglichkeiten  nachweist,  tat- 
sächlich zu.  Damit  ist  zur  Erklärung  der  geometrisch -optischen 
Täuschungen  freilich  noch  wenig  geleistet,  wenn  es  nicht  gelingt, 
die  Beeinflussung  der  Inferioravorstellungen  durch  >  Produktion  c  als 
einen  Spezialfall  allgemeinerer  psychologischer  Gesetzmäßigkeit  dar- 
zustellen. ^) 

Zum  Schluß  seiner  Ausführungen  gibt  Ameseder  endlich  noch 
eine  üebersicht  der  Produktionsarten,  wobei  er  die  >  psychische  Ana- 
lyse« als  besonderen  Fall  der  Vorstellungsproduktion  behandelt. 
Außerdem  unterscheidet  ei  die  Produktionen  nach  den  erfaßten 
Gegenständen  als  Aehnlichkeits-,  Verschiedenheits-,  Gestalt-,  Lage- 
und  Verschiedenheitsproduktionen.  Da  diese  Einteilung  vom  Ver- 
fasser selbst  nur  ganz  kurz  gestreift  wird,  so  soll  auch  hier  nicht 
näher  darauf  eingegangen  werden. 

1)  Vgl.  S.  47  dieser  Betrachtungen. 


ünienuchangen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie ,  hrs.  von  Meinong.      53 

VI. 

lieber  absolute  Auffälligkeit  der  Farben.  Von  Dr.  Rudolf  Ameseder. 
S.  509—526. 

>Aus  dem  Umstände,  daß  die  Größe  der  Auffälligkeit  eines 
Gegenstandes  nach  Maßgabe  seiner  Umgebung  variabel  ist,  könnte 
sich  ergeben,  daß  die  Auffälligkeit  den  Gegenständen  überhaupt  nur 
im  Hinblick  auf  ihre  Umgebung  zukommen  kann,  mithin  lediglich 
relativ  sei Sind  nun  aber  zwei  anschaulich  erfaßbare  Quali- 
täten a  und  b  gegeben,  wobei  zunächst  b  die  Umgebung  von  a,  dann 
a  die  Umgebung  von  b  bildet,  so  daß  sämtliche  umkehrbaren  Ver- 
hältnisse im  zweiten  Fall  umgekehrt  sind,  so  kann  zwischen  beiden 
Fällen  eine  Verschiedenheit  hinsichtlich  der  relativen  Auffälligkeit 
nicht  vorliegen.  Ist  trotzdem  a  im  ersten  Fall  auffälliger  als  b  im 
zweiten,  so  hat  die  Qualität  a  ihrer  Natur  nach  und  nicht  bloß  ver- 
möge der  Begleitumstände,  größere  Auffälligkeit  als  &,  —  eine  Auf- 
fälligkeit, die  sowohl  als  Steigerung  wie  als  Herabsetzung  der  rela- 
tiven Auffälligkeit  zur  Geltung  kommen  kann,  die  nur  an  der 
bestimmten  Qualität  haftet  und  darum  als  absolute  Auffällig- 
keit bezeichnet  werden  muß.< 

So  bestimmt  Ameseder  den  Begriff  der  absoluten  Aulffälligkeit, 
deren  Existenz  in  der  vorliegenden  Arbeit  nachgewiesen  werden  soU. 
Wir  würden  vielleicht  eine  etwas  andere  Bedeutung  mit  der  Be- 
zeichnung absoluter  Auffälligkeit  verbinden.  Wenn  nämlich  als  relativ 
die  nach  Maßgabe  der  Umgebung  variable  Auffälligkeit  betrachtet 
wird,  dann  sollte  man  eigentlich  absolut  diejenige  Auffälligkeit  nennen, 
die  bei  verschiedener  Umgebung  als  konstanter  Faktor  erhalten 
bleibt.  Gemessen  werden  könnte  eine  solche  Größe  freilich  nur  in 
der  Weise,  daß  man  jeden  Gegenstand  in  einer  Umgebung  von  mini- 
malster Kontrastwirkung  hinsichtlich  seiner  Auffälligkeit  prüft,  was 
kaum  ganz  leicht  durchzuführen  sein  wird.  Einfacher  möchte  es 
vielleicht  scheinen,  wollte  man  versuchen,  verschiedene  Gegenstände 
in  absolut  gleicher  Umgebung  zu  betrachten  und  aus  der  verschiedenen 
Auffälligkeit,  die  sich  dabei  ergibt,  die  absolute  Auffälligkeit  jedes 
Gegenstandes  zu  bestimmen.  Eine  Versuchsreihe,  bei  welcher  jeder 
Gegenstand  nur  in  einer  Umgebung  betrachtet  würde,  könnte  natür- 
lich nicht  zum  Ziel  führen.  Aber  wenn  viele  Versuchsreihen  mit  je 
einer  von  Reihe  zu  Reihe  wechselnden  Umgebung  durchgeführt 
würden,  dann  ließe  sich  der  Auffälligkeitsgrad,  der  sich  aus  der  Ge- 
samtheit dieser  Reihen  für  jeden  Gegenstand  ergibt,  vielleicht  zur 
Bestimmung  der  absoluten  Auffälligkeit  verwenden.  Freilich  wäre 
auch  in  diesem  Fall  der  Einwand  nicht  von  der  Hand  zu  weisen, 


54  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  1. 

daß  der  betreffende  Auffälligkeitsgrad  die  Folge  mehr  oder  weniger 
günstiger  Contrastverhältnisse  sei. 

Ist  nun  dieser  Einwand  vollständig  abgeschnitten,  wenn  man  die 
absolute  Auffälligkeit  auf  dem  von  Ameseder  eingeschlagenen  Weg 
zu  bestimmen  sucht?  Nehmen  wir  an,  die  Gegenstände  a  und  b 
stehen  in  einem,  für  die  Auffälligkeit  günstigen  Kontrastverhältnis ! 
Wird  dann  a  durch  die  Umgebung  b  um  ebenso  viel  gehoben  als 
b  durch  die  Umgebung  a?  Diese  Frage  ist  keineswegs  selbst- 
verständlich zu  bejahen,  wie  ein  einfaches  Beispiel  zeigen  mag: 
Es  sei  nämlich  a  ein  schwarzes,  b  ein  weißes  Feld.  Exponiert  man 
nun  ein  kleines  a  in  der  Umgebung  b,  so  wird  durch  die  Irradiation 
der  Kontrastwirkung  Abbruch  getan  und  a  wird  durch  die  Umgebung 
b  keineswegs  in  derselben  Weise  gehoben  werden  wie  b,  d.  h.  ein 
kleines  weißes  Feld,  in  der  Umgebung  a,  wo  die  Irradiation  in  dem- 
selben Sinn  wie  die  Kontrastwirkung  sich  geltend  macht.  Daß  es 
sich  dabei  nicht  bloß  um  eine  künstliche  Konstruktion  handelt,  sieht 
man  ohne  weiteres,  wenn  man  sich  die  Frage  vorlegt,  ob  das  Phä- 
nomen des  nächtlichen  Sternenhimmels  eine  Umkehrung  in  der  von 
Ameseder  vorgeschlagenen  Weise  vertrüge.  Daß  die  vermutliche 
Unsichtbarkeit  dunkler  Weltkörper  auf  einem  sternhellen  Hintergrund 
bloß  auf  die  geringe  absolute  Auffälligkeit  der  in  Betracht  kommenden 
Farbe  zurückzuführen  sei,  das  wird  Ameseder  wohl  kaum  behaupten 
wollen. 

Mit  Rücksicht  auf  die  bisher  durchgeführte  Ueberlegung  muß 
man  der  Amesederschen  Untersuchung  im  Prinzip  skeptisch  gegen- 
überstehen. Trotzdem  sei  im  folgenden  in  aller  Kürze  noch  auf  die 
Yersuchsanordnung  Ameseders  und  auf  seine  Resultate  eingegangen, 
wobei  freilich  noch  einige  weitere  Bedenken  sich  uns  aufdrängen. 

Unser  Autor  will  die  absolute  Auffälligkeit  der  Farben  be- 
stimmen. Zu  diesem  Zweck  sucht  er  alle  Umstände,  welche  irgend 
einer  Farbe  einen  relativen  Auffälligkeitsvorzug  garantieren  könnten, 
auszuschalten.  Dies  glaubt  er  dadurch  erreichen  zu  können,  daß  er 
das  Gesichtsfeld  bezw.  einen  Teil  desselben  von  seiner  Mitte  aus  in 
eine  größere  Anzahl  gleicher  Sektoren  teilt.  Da  aus  äußeren  Gründen 
von  der  Ausfüllung  des  ganzen  Gesichtsfeldes  durch  die  »konkurrie- 
renden« Farben  abgesehen  werden  muß,  so  wird  »der  übrige  Hinter- 
grund für  das  Erfassen  der  Farbenscheiben  so  belanglos  als  möglich 
gemacht,  was  teils  dadurch  geschehen  kann,  daß  er  ein  annähernd 
mittleres  Grau  aufweist,  teils  dadurch,  daß  er  von  den  Yersuchs- 
scheiben  räumlich  absteht.«  >Die  Vorrichtung,  von  welcher  bei  den 
Versuchen  ausgegangen  wurde,  bestand  im  Hinblick  darauf  aus  einer 
kreisförmigen  Scheibe  von  196  mm  Durchmesser,  welche  aus  8  gleichen 


ünt^rsnchnngen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  ron  Meinong.      55 

Sektoren  von  45^  bestand,  von  denen  stets  einer  von  der  einen 
Eonkurrenzfarbe  zwischen  zweien  der  andern  Farbe  zu  stehen  kam. 
Als  Unterlage  diente  ein  reguläres  Achteck  aus  grauem  Karton, 
dessen  größte  Diagonalen  280  mm  maßen.  Der  übrige  Hintergrund 
wurde  durch  die  gleichfalls  graue  Wand  des  Laboratoriums  gegeben. 
Die  vier  Sektoren  der  einen  Farbe  bildeten  somit  ein  aufrecht- 
stehendes Kreuz,  die  der  andern  ein  liegendes.  Stellte  man  den 
Karton  auf  die  benachbarte  Achteckseite,  so  wurde  dadurch  das 
liegende  Farbenkreuz  zum  aufrechten  und  umgekehrt «  Nun  zeigte 
sich  aber,  daß  >das  Urteil  gerade  bei  gleichen  Sektoren  von  45®  un- 
sicher wirdc.  [NB.!  Also  gerade  bei  einer  Anordnung, 
welche  den  oben  gegen  das  Prinzip  der  ganzen  Unter- 
suchung erhobenen  Einwand  am  meisten  zu  entkräften 
geeignet  wäre,  ergaben  sich  keine  Resultate.]  Daher 
wurden  die  Versuche  größtenteils  >mit  Scheiben  vorgenommen,  deren 
Sektoren  in  Abständen  von  je  fünf  Graden  von  20^  bis  70^  größer 
wurden.  Natürlich  wiesen  die  Sektoren  der  einen  Farbe  den  Kom- 
plementärwinkel der  andersfarbigen  Sektoren  auf«.  >Vier  Farben 
kamen  zur  Verwendung:  rot,  gelb,  grün,  blau.  Dabei  war  die 
Helligkeitsverschiedenheit  zwischen  rot,  grün  und  blau  , untermerk- 
lich'; hingegen  war  gelb  merklich  heller  als  die  andern  Farben.« 
>Die  Versuchsscheiben  wurden  der  Versuchperson  bei  gutem  Tages- 
licht in  konstanter  Entfernung  (je  V^  Sekunden  lang)  vorgezeigt. 
Ihre  Aufgabe  bestand   nur  darin,   anzugeben,   welche  von    beiden 

Farben   sich  zuerst  ihrer   Beachtung  aufdrängte Im  ganzen 

nahmen  40  Personen  an  den  Versuchen  teil.«  Von  diesen  40  Versuchs- 
personen beurteilten  aber  39  jede  Kombination  nur  einmal,  sodaß 
ein  Urteil  über  die  Konstanz  der  Auffalligkeitsschätzung  nicht  mög- 
lich ist. 

Die  Versuche  ergaben  nun  zunächst  das  Resultat,  daß  jede 
Farbe  in  jeder  Kombination  verschiedene  Auffälligkeitswerte  besitzt 
je  nach  der  Winkelgröße  der  Sektoren,  in  denen  sie  dargeboten  wird. 
Aber  auch  für  dieselbe  Winkelgröße  fand  Ameseder  nicht  bei  allen 
Farbenkombinationen  die  gleichen  Auffälligkeitswerte.  Die  hier  vor- 
handenen Verschiedenheiten  betrachtet  er  als  Funktion  der  Farben- 
auffälligkeit und  ist  bemüht,  zunächst  den  Einfluß  der  Winkelgröße 

rein  darzustellen.    Die  Formel  soll  das  Maß  der  bloß  von  der 

n  'p 

Winkelgröße  abhängigen  Auffälligkeit  enthalten,   wenn  x  die  Zahl 

der  für  eine  Sektorengröße  Auffälligkeit  aussagenden  Urteile,  n  die 

Zahl  aller  für  die  betreffende  Sektorengröße  möglichen  Kombinationen 

je  zweier  Farben  und  p  die  Zahl   der  Versuchspersonen  ausdrückt. 


66  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Aus  der  von  der  Winkelgröße  abhängigen  Auffälligkeit  berechnet 
unser  Autor  sodann  die  Farbenauffälligkeit  unter  der  Voraussetzung, 
daß  die  Zahl  der  für  eine  bestimmte  Farbe  von  bestimmter  Winkel- 
größe Auffälligkeit  aussagenden  Urteile  {Baß  das  Produkt  sei 
der  Farbenauffälligkeitsreaktionszahl  und  der  Winkelauffälligkeits- 
reaktionszahl  {Ra.Rf).  Auf  Grund  dieser  Annahme  ergibt  sich  für 
Ä/;  d.  h.  für  die  Zahl  der  lediglich  unter  dem  Einfluß  der  Farbe 
Auffälligkeit  aussagenden  Urteile  (die  >Farbenauffälligkeitsreaktions- 
zahl«)  die  Formel: 

■RgQo/'  ,  B^^f ?:]^ 

p/. -RgQo  -R250  Ä70« 


11 

Nun  sollte  man  erwarten,  daß  Ameseder  die  verschiedenen  Werte, 

welche  Rf  für  die  verschiedenen  Farben  annimmt,  mitteile.     Dies 

geschieht  jedoch  nicht,  sondern  es  wird  nur  das  Verhältnis  angegeben, 

in  welchem  Rf  für  eine  bestimmte  Farbe  zn  Rf  für  eine\  andere 

Farbe  (bezeichnet  mit  Rf)  steht.    Bezeichnen  wir  mit  f  f',\f\  f" 

die  Farben  rot,  gelb,  grün,  blau,  so  führt  Ameseder  beispieläiweise 

Rf  Rf"  Hf*"       V 

folgende  Verhältnisse  an:  -^,-  =  1,72;  ~r  =  1>58;  -^  =  1^76. 


1,58;  ^  =  y6 


Daraus,  sollte  man  erwarten,  müßte  sich  nun  das  Verhältnis  -^7.>>\, 

lif 

Rf  \ 

-^,T  u.  s.  w.  berechnen  lassen.  Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall. 
Rf  . 

Rf 
Die  von  Ameseder  angegebenen  Verhältniszahlen  für  -=-^  u.  s.  w. , 

lif 

stimmen  mit  den  berechneten  nicht  überein.     Die  Interpretation,  ^ 

welche  Ameseder  den  in  Rede  stehenden  Verhältniszahlen  angedeihen 

läßt,  als  ob  es  sich  dabei  lediglich  um   den  Ausdruck  des  Erfolges 

der  Konkurrenz  zweier  Farben  handle,  diese  Interpretation,  welche 

es  verständlich  erscheinen  ließe,  warum  aus  -^r/r  und  -=^  der 

lif  lit 

Rf 
Wert  für  ^^  nicht  berechnet  werden  kann,  ist  oflfenbar  nicht  richtig. 
lif 

Rf  bezeichnet  nicht  die  Anzahl  der  Urteile,  welche  für  f  in  Kombi- 
nation mit  f,  sondern  vielmehr  die  Anzahl  der  Urteile,  welche  für 
f  in  Kombination  mit  allen  Farben  (unbeeinflußt  von  der  Winkel- 
größe) Auffälligkeit  behaupten.  Deshalb  scheint  hier  der  Gedanken- 
gang Ameseders  in  absoluter  Dunkelheit  zu  enden. 

Es  bleibt  daher  nur  noch  übrig,   die  Ergebnisse  Ameseders  in 
der  von  ihm  selbst  gegebenen  Formulierung  mitzuteilen: 


üntersachungen  zur  Gegenstandstlieorie  and  Psjcliologie ,  hn.  ron  Meinong.      67 

1.  Es  gibt  absolute  AufTälligkeit  der  Farben;  und  zwar  ist  die 
Auffälligkeit  bei  unmittelbarer  Konkurrenz  in  der  Reihe  r, 
&>  9*',  0  fallend,  jedoch  wird  sie  stets  durch  die  Konkurrenz- 
farben modifiziert. 

2.  Es  fanden  sich  zwei  Typen  von  Versuchspersonen,  von  welchen 
der  eine  Typus  {A)  mit  größerer,  der  andere  (B)  mit  erheb- 

.  lieh  geringerer  Sicherheit  reagierte.  Für  beide  Typen 
variierten  auch  die  absoluten  Auffälligkeiten,  und  zwar  be- 
günstigte A  blau  und  B  rot. 

3.  Die  Unsicherheit  nimmt  im  Laufe  der  Versuche  zu,  für  ^ 
aber  relativ  mehr  als  für  B.  Sie  ist  am  größten,  wo  die 
Konkurrenzgegenstände  am  ähnlichsten  sind,  wie  z.  B.  bei 
Sektoren  von  45^.  Von  Farbenzusammenstellungen  ergibt 
grün  mit  blau  eine  erhebliche  Unsicherheit  für  Typus  jB; 
wohl  weil  das  Grün  etwas  bläulich  gewesen  sein  dürfte ,  ob- 
wohl dies  nicht  merklich  war,  und  weil  für  diesen  Typus  die 
Auffälligkeit  des  Blau  geringer  ist. 

4.  Die  Winkelgröße  der  Sektoren  ist  für  die  Auffälligkeit  mit- 
bestimmend. Und  zwar  ist  die  Auffälligkeit  im  untersuchten 
Bereiche  für  Typus  A  um  so  größer,  je  größer  der  Winkel, 
für  J8,  je  kleiner  der  Winkel  ist. 

5.  Auch  die  Lagen  der  Sektoren  haben  eine  eigene  —  absolute 
—  Auffälligkeit;  die  +-Lage  ist  für  beide  Typen  auffälliger 
als  die  x-Lage;  im  Laufe  der  Versuche  steigt  für  A  die 
Auffälligkeit  des  +,  für  B  die  des  x. 

VIL 

Gegen  eine  voluntaristische  Begründung  der  Werttheorie.  Von 
Wilhelmine  Liel.    S.  527—578. 

Die  Werttheorie  darf  trotz  alles  Streites,  den  im  einzelnen  noch 
die  Frage  der  Existenz  besonderer  Wertgefühle  veranlassen  mag, 
doch  wohl  in  dem  Sinn  als  begründet  gelten,  daß  die  Bestimmung 
des  Wertes  im  letzten  Grund  auf  Tatsachen  des  Gefühlslebens  re- 
kurrieren muß.  Nichtsdestoweniger  spielt  der  Begriff  einer  volunta* 
ristischen  Begründung  der  Werttheorie  nach  wie  vor  in  der  ein- 
schlägigen  Literatur  eine  gewisse  Rolle,  obwohl  es  sich  immer  wieder 
zeigt,  daß  die  »Voluntaristen<  kaum  etwas  anderes  als  neue  Namen 
für  altbekannte  Sachen  aufzubringen  wissen.  Eine  solche  >  Zurück- 
fährung«  des  Wertbewußtseins  auf  Willenstatsachen  hat  in  letzter 
Zeit  H.  Schwarz  in  seinen  verschiedenen  willenspsychologischen  und 
ethischen  Darlegungen  versucht,  und  Wilhelmine  Liel  hat  demgegen- 


58  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Über  die  Aufgabe  überaommen ,  zu  zeigen,  daß  die  Tatsachen  des 
>  Gefallens <,  auf  welche  Schwarz  seine  Werttheorie  gründet,  identisch 
sind  mit  Tatsachen  des  Gefühlslebens. 

Die  Ausführungen  W.  Liels  können  wir  zum  Zweck  einer  kri- 
tischen Betrachtung  in  zwei  Hauptabschnitte  auseinanderlegen,  von 
denen  der  eine  die  Beziehungen  zwischen  >Gefallen<  und  Gefühl 
überhaupt  untersucht,  während  der  andere  die  Werttheorie  im 
Meinongschen  Sinn  auf  die  Existenz  der  Urteilsgefühle  zu  gründen 
bestimmt  ist. 

Was  den  ersten  Teil  anlangt,  so  können  wir  den  Darlegungen 
der  Verfasserin  öur  beistimmen,  wenn  sie  zeigt,  wie  alle  Gründe, 
welche  Schwarz  zur  Trennung  des  > Gefallens«  vom  Gefühl  irgend 
welcher  Art  veranlaßt  haben,  hinfällig  sind.  Diese  Gründe  formuliert 
sie  folgendermaßen: 

a)  Durch  Identifizierung  des  Gefallens  mit  Gefühl  verwechsle 
man  das  Werthalten  mit  dem  Wertgehaltenen,  dem  Wert- 
objekt. 

b)  Unter  dieser  Voraussetzung  müßte  man  Sättigungs Verschieden- 
heiten für  Stärkeunt'erschiede  nehmen,  indes  > Sättigung <  nur 
dem  > Gefallen«,  Stärke  nur  dem  Gefühl  eigne. 

c)  Im  Gegensatze  zum  Gefühle,  das  verschiedener  Qualität  sein 
könne,  wäre  alles  »Gefallene  qualitativ  von  gleicher  Art. 

d)  Gefallen  sei  ein  aktives,  Lust  hingegen  ein  passives  seelisches 
Erlebnis. 

Dagegen  zeigt  sie,  daß  das  Werthalten  keineswegs  mit  dem 
Wertgehaltenen  verwechselt  zu  werden  braucht,  wenn  man  annimmt, 
daß  auf  die  Lust  als  Wertobjekt  ein  Lustgefühl  im  Sinne  des  Wert- 
haltens sich  richte.  Ferner  weist  sie  nach,  daß  die  Unterschiede  des 
Gefallens  nicht  bloß  »Sättigungsunterschiede«  und  die  Unterschiede 
des  Gefühls  nicht  bloß  Intensitätsunterschiede  bedeuten.  Dabei  ist 
insbesondere  der  letztgenannte  Punkt  bedeutsam,  hinsichtlich  dessen 
sich  die  Verfasserin  auf  Meinongs  Darlegungen  über  »Annahmen« 
bezieht.  Das  >unsatte<  Gefühl  ist  nämlich  nach  Meinong  das  Gefühl, 
welches  sich  bei  der  bloßen  Annahme  der  Existenz  eines  Wert- 
objekts einstellt  und  welches  in  ein  » sattes c  Gefühl  übergeht,  sobald 
dieUeberzeugung  von  der  Existenz  des  betreffenden  Wertobjekts 
begründet  wird.  Man  kann  vielleicht  sogar  noch  weitergehen  und 
kann  die  »Annahmegefühle«  oder,  wie  sie  Meinong  nennt,  die  »Phan- 
tasiegefUhle«  für  einen  bloßen  Ausschnitt  aus  dem  Gebiet  »unsatter« 
Gefühle  halten,  die  möglicherweise  überall  da  sich  konstatieren  lassen, 
wo  mit  der  Existenz  eines  Gefühls  von  geringer  Intensität  das  Be- 
wußtsein der   Steigerungsfähigkeit  sich   verbindet.    Jedenfalls  aber 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  ron  Meinong.      69 

muG  man  der  Verfasserin  recht  geben,  wenn  sie  mit  Rücksicht  auf 
die  erwähnten  Ausführungen  Meinongs  behauptet,  daß  man,  >  da  für 
das  Gefühl  beides,  sowohl  Intensität,  wie  das,  was  Schwarz  ,Sättigung' 
nennt,  nachweisbar  ist,  —  durch  nichts  gezwungen  wird,  die  eine 
Erscheinung  für  die  andere  zu  nehmen,  wenn  man  Werthalten  als 
ein  Gefühl  auffaßt«. 

Was  den  dritten  der  von  Schwarz  angeführten  Gründe  für  die 
Auseinanderhaltung  von  Gefallen  und  Gefühl  anlangt,  daß  nämlich 
die  Gefühle  von  verschiedener  Qualität,  alle  Gefallensakte  dagegen 
von  gleicher  Qualität  seien,  so  betont  W.  Liel  mit  Recht,  daß  die 
These  von  der  qualitativen  Verschiedenheit  der  einzelnen  Lust-  bezw. 
Unlustgefühle  eine  keineswegs  allgemein  zugestandene  Behauptung 
sei,  daß  aber  selbst,  wenn  eine  Vielheit  von  Lust-  bezw.  Unlust- 
gefühlen  zugegeben  werde,  die  Frage  sich  nicht  von  der  Hand  weisen 
lasse,  ob  nicht  das  Gefallen  bezw.  Mißfallen  mit  einer  bestimmten 
Nuance  von  Lust  bezw.  Unlust  zusammenfalle. 

Eine  besonders  ausführliche  Untersuchung  endlich  widmet  die 
Verfasserin  dem  vierten  der  in  Rede  stehenden  Punkte,  daß  nämlich 
Gefühl  und  Gefallen  als  passives  und  aktives  Geschehen  auseinander 
gehalten  werden  müßten.  Auf  diese  Untersuchungen  näher  einzugehen 
halten  wir  deshalb  für  unnötig,  weil  die  Einführung  der  Begriffe 
Aktivität  und  Passivität  zur  Charakterisierung  und  Unterscheidung 
psychischer  Phänomene  überhaupt  nicht  geeignet  scheint.  Wer  bei- 
spielsweise das  ästhetische  Gefallen  beim  Versunkensein  in  die  Be- 
trachtung eines  Kunstwerks  ein  aktives  Erlebnis  nennen  und  den 
sinnlichen  Genuß  als  etwas  Passives  bezeichnen  will,  der  mag  das 
immerhin  tun.  Aber  er  glaube  nicht,  damit  eine  tiefe  Kluft  zwischen 
zusammengehörigen  psychischen  Phänomenen  geschaffen  zu  haben* 
Er  könnte  höchstens  Veranlassung  geben,  zwischen  aktiven  und 
passiven  Gefühlen  zu  unterscheiden,  aber  seelische  Erlebnisse  mit 
ausgesprochenem  Gefühlscharakter  wegen  eines  angeblichen  Charakters 
der  Aktivität  aus  der  Klasse  der  Gefühle  zu  verbannen,  dazu  besteht 
nicht  der  geringste  Grund. 

Dürfen  wir  uns  somit  der  Auffassung  W.  Liels  vollkommen  an- 
schließen, wonach  eine  Unterscheidung  zwischen  Gefallen  und  Gefühl 
gänzlich  unbegründet  ist,  so  brauchen  wir  auch  auf  ihre  Darlegung 
der  Gründe  kaum  näher  einzugehen,  warum  das  > Gefallen«  nicht  als 
Tatsache  des  Willenslebens  zu  betrachten  sei.  Ebenso  ist  wohl  ohne 
weitere  Erörterung  klar,  was  die  Verfasserin  noch  im  einzelnen  be- 
gründet, daß  die  Zurückführungen  verschiedener  psychischer  Phä- 
nomene auf  das  »Gefallen«  nichts  anderes  bedeuten  als  den  Nachweis, 


60  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

daß  OefUhle  der  Lust  bezw.  Unlust  in  die  betreffenden  seelischen 
Erscheinungen  eingehen. 

Dagegen  müssen  wir  etwas  länger  verweilen  bei  der  Betrachtung 
des  zweiten  oben  unterschiedenen  Hauptteils  der  Lielschen  Dar- 
legungen, der  die  Beziehungen  zwischen  »Gefallen«  und  Urteilsgefiihl 
behandelt  und  die  Ansicht  Meinongs  von  der  Subsumption  des  Wert- 
bewußtseins unter  die  Urteilsgefühle  vertritt.  Gegen  diese  Auffassung 
Meinongs  hat  Schwarz  eine  Beihe  von  Einwänden  erhoben,  die  teil- 
weise nicht  unberechtigt  zu  sein  scheinen,  während  W.  Liel  sie  samt 
und  sonders  verwirft.  Wir  werden  nun  wohl  gern  zugeben,  daß  die  Zu- 
rückweisung der  von  Schwarz  aufgestellten  Behauptungen  vom  Meinong- 
schen  Standpunkt  aus  logisch  korrekt  durchgeführt  ist.  Aber  derjenige, 
der  diesen  Standpunkt  nicht  einnimmt,  gibt  sich  damit  kaum  zufrieden. 

Vollkommen  berechtigt  ist  zwar  der  Nachweis,  daß  Schwarz  Un- 
recht hat,  wenn  er  Meinong  den  Satz,  die  Wertgefühle  seien  Urteils- 
gefühle als  eine  zu  weit  ausgefallene  Definition  ankreidet.  Meinong 
hat  diesen  Satz  in  der  Tat  niemals  als  Definition  betrachtet,  sondern 
hat  stets  die  Ansicht  vertreten,  daß  es  außer  den  Wertgefühlen  noch 
andere  Urteilsgefühle,  die  von  ihm  sogenannten  > Wissensgefühle« 
gibt.  Dagegen  stimmen  wir  Schwarz  bei,  wenn  er  die  Definition  der 
Wertgefühle  als  (Unterart  der)  Urteilsgefühle  zu  eng  findet.  Fünf 
Gruppen  von  > Werthaltungen«  erwähnt  W.  Liel,  die  Schwarz  als 
außerhalb  der  Urteilsgefühle  stehend  betrachtet,  nämlich  1)  das  ästhe- 
tische Gefallen,  2)  das  Gefallen  an  der  Wahrheit,  3)  das  Gefallen  an 
Neuheit,  4)  das  Wertgefühl,  das  nur  an  einer  Vorstellung  hängt  und 
5)  das  Wertgefühl,  das  auftritt,  ehe  zum  Urteilen  nur  Zeit  gewesen 
sein  kann.  All  diesen  Fällen  gegenüber  wird  bestritten,  daß  es 
sich  dabei  um  >  Werthaltungen <  handelt.  Nun  ist  freilich  klar,  daß 
da,  wo  das  Wertgefühl  als  eine  Form  des  Urteilsgefühles  bestimmt 
wird,  der  Nachweis  nicht  schwer  fällt,  ein  Gefühl,  das  kein  Urteils- 
gefühl ist,  sei  kein  Wertgefühl.  Aber  wenn  dieser  Nachweis  irgend- 
welche wissenschaftliche  Bedeutung  beansprucht,  dann  muß  er  sich 
zum  mindesten  mit  dem  Sprachgebrauch  auseinandersetzen,  der  die 
Gegenstände  der  Gefühle,  die  nicht  Werthaltungen  sein  sollen,  doch 
als  Werte  bezeichnet.  Es  muß,  kurz  gesagt,  dargetan  werden,  daß 
die  betreffenden  Gegenstände,  die  als  Werte  bezeichnet  werden,  Wert- 
charakter besitzen  können,  auch  wenn  die  in  Bede  stehenden  Gefühle 
keine  Wertgefühle  sind. 

Diese  Aufgabe  wird  von  unserer  Verfasserin  keineswegs  verkannt 
wenn  sie  auch  nicht  ganz  scharfe  Formulierung  findet.  Es  wird 
nämlich  betont,  daß  durch  die  Unterscheidung  der  Wissensgefuhle 
und   der  Wertgefühle  >der  Wert   der  Wahrheit  so   wenig  in  Frage 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      61 

gestellt  wird,  wie  die  Erkenntnis,  daß  zum  Entstehen  ästhetischer 
Gefühle  Urteilsakte  nicht  wesentlich  sind,  das  Werthalten  ästhetischen 
Genießens  oder  den  Wert  von  Eunstgegenständen,  ja  den  des  Schönen 
überhaupt,  bedrohte.  Suchen  wir  aus  dieser  ziemlich  knappen  An- 
deutung zu  ergründen,  auf  welchem  W^eg  W.  Liel  die  angedeutete 
Schwierigkeit  glaubt  überwinden  zu  können,  so  ergibt  sich  etwa 
folgender  Gedankengang:  Die  erwähnten  Gefühle,  die  keine  Urteils- 
gefühle sind  und  deshalb  auch  keine  Wertgefühle  sein  sollen,  beziehen 
sich,  wie  alle  Gefühle,  auf  bestimmte  Grundlagen.  Aber  diese  Grund- 
lagen sind  nicht  identisch  mit  den  Gegenständen,  die  vom  allgemeinen 
Sprachgebrauch  als  Werte  bezeichnet  werden,  oder  wenn  sie  mit  den 
betreffenden  Gegenständen  zusammenfallen,  so  handelt  es  sich  um 
eine  zufällige  Verknüpfung.  Der  Wertcharakter  der  Gegenstände 
wird  jedenfalls  nicht  dadurch  bestimmt,  daß  sie  gelegentlich  auch 
die  Grundlage  von  Gefühlen,  die  nicht  Urteilsgefühle  sind,  darstellen. 
Gegen  diesen  Gedankengang  läßt  sich  nichts  einwenden,  so  lange 
man  es  aus  sonstigen  Gründen  wahrscheinlich  findet,  daß  jede  Wert- 
konstatierung  durch  ein  Wertgefühl  besorgt  wird,  das  sich  auf  ein 
Existenzialurteil  oder  mindestens  auf  die  Annahme  einer  Existenz 
gründet.  Wenn  man  aber  auf  Grund  gewisser  Ueberlegungen  dazu 
gelangt,  die  Wertkonstatierung  für  einen  mehr  intellektuellen  Prozeß 
zu  halten,  dessen  Vorbedingung  lediglich  zu  suchen  ist  in  dem  »Sich- 
beziehen« eines  Lustgefühls  auf  irgendwelche  Tatsachen,  die  infolge- 
dessen für  wertvoll  gehalten  werden,  dann  wird  man  beispielsweise 
den  Begriff  des  ästhetischen  Wertes  kaum  so  fassen,  daß  damit  die 
Eigenschaft  eines  Gegenstandes  bezeichnet  wird,  derzufolge  ein  dar- 
auf sich  beziehendes  Existenzialurteil  lustbetont  ist.  Viel  ungezwungener 
erscheint  dann  vielmehr  jene  Deutung,  derzufolge  ästhetischer  Wert 
allen  ästhetisch  wirksamen  Objekten  zugesprochen  wird. 

Trotz  der  prinzipiellen  Ablehnung  des  im  zweiten  Teil  der  Liel- 
schen  Ausführungen  verteidigten  Standpunktes  ist  indessen  zuzugeben, 
daß  die  klar  und  scharfsinnig  geschriebene  Abhandlung  nur  fördernd 
auf  die  Diskussion  des  Wertproblems  einwirken  kann. 

vm. 

Ueber  die  Natur  der  Phantasiegefühle  und  Phantasiebegehnmgen. 
Von  Dr.  Robert  Saxinger.    S.  579—606. 

Saxinger  stellt  sich  die  Aufgabe,  eine  Behauptung  Meinongs  der 
widersprechenden  Ansicht  Witaseks  gegenüber  zu  verteidigen.  Die 
Position  Meinongs  besteht  darin,  daß  er  gewisse  emotionale  Erlebnisse» 
auf  deren  Vorhandensein  er  bei  der  Untersuchung  der  »Annahmen« 
gestoßen  ist,  und  die  er  als  Phantasiegefuhle  und  Phantasiebegehr« 


62  Gdtt  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

ungen  bezeichnet  hat  —  daß  er  diese  emotionalen  Erlebnisse 
nicht  als  wirkliche  Gefühle  und  wirkliche  Begehrungen  betrachtet 
wissen  will.  Dagegen  behauptet  Witasek,  daß  man  es  bei  solchen 
Phantasiegefühlen  und  Phantasiebegehrungen  mit  wirklichen  Gefühlen 
und  Begehrungen  zu  tun  habe,  die  nur  durch  die  Besonderheit  ihrer 
intellektuellen  Grundlage  von  anderen  Gefühlen  und  Begehrungen 
sich  unterschieden,  indem  sie  eben  im  wesentlichen  »Annahmen«  zur 
psychologischen  Voraussetzung  hätten.  Wenn  wir  also  beispielsweise 
im  Theater  in  die  Situation  eines  tragischen  Helden  uns  versetzen, 
so  erleben  wir  in  Furcht  und  Mitleid  nach  Meinong  psychische  Tat- 
sachen eigener  Art,  nach  Witasek  Gefühle  und  Begehrungen. 

Die  Methode  nun,  nach  welcher  Saxinger  die  Ansicht  Meinongs 
als  richtig  zu  erweisen  sich  bemüht,  ist  folgende :  Er  nimmt  bestimmte 
Eigentümlichkeiten  als  allgemein  zugestandene  Charakteristika  der 
wirklichen  Gefühle  und  Begehrungen  in  Anspruch  und  sucht  zu 
zeigen,  daß  die  betreffenden  Merkmale  den  > Phantasiegefühlen«  und 
den  >Phantasiebegehrungen€  nicht  zukommen. 

Solche  Eigentümlichkeiten  sollen  für  die  Gefühle  die  Unvermeid- 
lichkeit der  Abstumpfung  und  die  Fähigkeit  gegenseitiger  Beein- 
flussung bei  gegebener  Koexistenz  (der  Gefühlsursachen)  darstellen. 
Als  Beispiel  für  die  Abstumpfung  eines  Gefühls  erwähnt  Saxinger 
die  im  Lauf  der  Zeit  eintretende  Abschwächung  der  Trauer  um  den 
Verlust  eines  lieben  Lebensgefährten.  Die  gegenseitige  Beeinflussung 
der  Gefühle  bei  Koexistenz  der  GefühlsvoraussetzuDgen  sucht  er  zu 
illustrieren  durch  den  Hinweis  auf  die  Tatsache,  daß  man  im  Zustand 
tiefer  Trauer  sich  über  nichts  zu  freuen  vermöge.  Sowohl  Ab- 
stumpfung als  auch  gegenseitige  Beeinflussung  sollen  dagegen  bei 
Phantasiegefühlen  nicht  zu  konstatieren  sein.  Zum  Beweis  des 
ersteren  beruft  sich  Saxinger  auf  die  Erfahrung,  daß  im  Fall  des 
Verlustes  eines  lieben  Lebensgefährten  die  Annahme  des  Nochvor- 
handenseins des  betreffenden  Menschen  ihren  freundlichen  Charakter 
auch  dann  beibehält,  wenn  die  Trauer  um  den  Verstorbenen  bereits 
gebrochen  ist.  Und  um  die  zweite  der  oben  angegebenen  Behaup- 
tungen zu  stützen,  wird  darauf  hingewiesen,  daß  derjenige,  der  sich 
über  die  Erreichung  eines  gesteckten  Zieles  freut  und  in  froher 
Stimmung  »annimmt«,  er  habe  das  Ziel  nicht  erreicht,  einen  unlust- 
artigen  Charakter  dieses  letzteren  Gedankens  bemerken  könne,  der 
sich  auch  den  herrschenden  Lustgefühlen  gegenüber  behauptet. 

Gegen  dies»  Art  der  Beweisführung  ließe  sich  nun  zunächst  der 
Einwand  erheben,  daß  die  Erfahrungen,  auf  die  sich  der  Autor  be- 
ruft, kaum  allgemein  zugegeben  werden.  Aber  ein  solcher  Einwand 
wUrde  die  Diskussion  nicht  wesentlich  fördern.     Deshalb  sei  hier 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      63 

einmal  angenommen,  die  mitgeteilten  Beispiele  seien  evident.  MQssen 
wir  dann  der  Ansicht  Saxingers  beistimmen  oder  nicht,  und  lassen 
sich  vielleicht  andere  Instanzen  finden,  die  für  oder  gegen  die  in 
Rede  stehende  Auffassung  sprechen? 

Was  zunächst  die  >Nichtabstumpfbarkeit<  der  >  Phantasiegefühle < 
anlangt,  so  ergibt  sich  die  Erkenntnis  derselben  sicherlich  nicht  aus 
der  Erfahrung,  daß  beispielsweise  die  Annahme,  ein  Freund  lebe 
noch,  zu  den  angenehmen  Gedanken  gehört,  auch  wenn  die  Trauer 
über  den  Tod  des  Freundes  schon  lange  ihren  Stachel  verloren  hat. 
Erst  dann,  wenn  feststünde,  daß  die  betreffende  Annahme  nach  dem 
Tod  des  Freundes  sehr  häufig  gemacht  worden  sei  und  daß  trotzdem 
der  emotionale  Charakter  derselben  keine  Einbuße  erlitten  habe  — 
erst  dann  könnte  vielleicht  eine  >Nichtabstumpfbarkeit<  der  >Phan- 
tasiegefühlec  gefolgert  werden.  Diese  Bedingung  wird  aber  von 
Saxinger  nicht  als  erfüllt  vorausgesetzt  und  ist  auch  keineswegs  als 
selbstverständlich  gegeben  anzunehmen;  vielmehr  ist  es  äußerst  wahr- 
scheinlich, daß  gegenüber  der  feststehenden  Tatsache  des  Todes  die 
Annahme,  der  Tod  sei  nicht  eingetreten,  verhältnismäßig  selten  auf- 
tritt. Außerdem  ist  zu  bedenken,  daß  die  Abstumpfung  an  weniger 
intensiven  Gefühlen  überhaupt  nicht  so  merklich  ist  als  an  besonders 
starken  und  lebhaften.  Wenn  nun  Saxinger  nachweist  —  was  bei 
dem  Mangel  exakter  Maßmethoden  allein  im  günstigsten  Falle 
nachgewiesen  werden  kann  — ,  daß  die  Gefühle,  welche  die  Annahme 
des  Nichteintretens  eines  bestimmten  Ereignisses  begleiten,  und  die 
Gefühle,  welche  dem  Urteil  über  das  Eintreten  des  Ereignisses  an- 
haften, im  Lauf  der  Zeit  eine  immer  kleinere  Intensitätsdifferenz 
aufzuweisen  haben ;  wenn  dies  ganz  unwiderleglich  sicher  gestellt  ist, 
dann  folgt  daraus  zunächst  nur  eine  Bestätigung  der  Auffassung,  daß 
stärkere  Gefühle  im  Lauf  der  Zeit  einen  größeren  Intensitätsverlust 
erleiden  als  schwächere  —  keineswegs  aber  ergibt  sich  die  Folgerung 
einer  >Nichtabstumpfbarkeit<  der  >Phantasiegefühle<. 

Der  Begriff  der  > Gefühlsabstumpfung«  gehört  überhaupt  zu  den 
Begriffen,  die  erst  nach  sorgfältiger  Analyse  ihrer  Bedeutung  für  die 
Zwecke  der  Wissenschaft  brauchbar  werden,  und  eine  solche  Analyse 
läßt  die  Arbeit  Saxingers  vermissen.  Der  Autor  erklärt  einfach, 
> Gefühlsabstumpfung  sei  Gefühlsdispositionsherabsetzungc  und  zwar 
>jene  Gefühlsdispositionsherabsetzung,  die  in  der  Natur  der  Dispo- 
sition selbst  ihren  Grund  hat«.  Bei  unserer  prinzipiellen  Unkenntnis 
von  der  Natur  der  Dispositionen  werden  wir  dies  kaum  für  eine  be- 
friedigende Erklärung  halten  können.  Was  uns  empirisch  gegeben 
ist,  ist  zunächst  nur  die  Tatsache,  daß  Gefühle,  die  sich  auf  dieselben 
Gegenstände  beziehen  bezw.  (sinnliche)  Gefühle,   die   durch  gleich« 


64  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

artige  Reize  ausgelöst  werden,  bei  längerem  Bestehen  bezw.  bei 
häufigerem  Auftreten  allmählich  abnehmende  Intensität  aufweisen. 
Da  es  nun  bekannt  ist,  daß  beispielsweise  sinnliche  Gefühle,  deren 
Ursache  ein  vergänglicher  Prozeß  ist,  ohne  merklichen  Intensitäts- 
yerlust  immer  wieder  aufs  neue  auftreten  können,  so  muß  die  Wahr- 
scheinlichkeit zugegeben  werden,  daß  ein  allmähliches  Abnehmen  der 
Gefühlsintensität  nur  bei  längerem  kontinuierlichen  Vorhandensein 
der  Gefühle  oder  wenigstens  der  Gefühlsursachen  eintritt.  Beispiele, 
die  eine  dem  widersprechende  Behauptung  zu  rechtfertigen  scheinen, 
lassen  sich  leicht  dadurch  erklären,  daß  häufig  Gefühle,  die  ohne 
kontinuierlich  wirkende  Grundlage  mehrmals  in  allmählich  sich  ab- 
schwächender Intensität  auftreten,  obwohl  sie  sich  auf  den  gleichen 
Gegenstand  beziehen,  doch  nicht  stets  gleichartige  Voraussetzungen 
haben.  Wenn  beispielsweise  eine  Erinnerung,  die  nicht  sozusagen 
in  den  eisernen  Bestand  des  Persönlichkeitsbewußtseins  eingegangen 
ist,  wiederholt  geweckt  und  stets  von  immer  schwächer  werdenden 
Gefühlen  begleitet  wird,  so  kann  die  Veränderung  der  Gefühle  be- 
dingt sein  durch  den  Komplex  assoziierter  Gedanken  und  Vorstellungen, 
der  den  Gefühlscharakter  mitbestimmt  und  der  veränderlich  ist,  auch 
wenn  die  Erinnerung  stets  auf  den  gleichen  Gegenstand  sich  bezieht. 

Ist  nun  dieser  Gedankengang  richtig,  findet  sich  eine  Abstumpfung 
der  Gefühle  nur  bei  kontinuierlicher  Wirksamkeit  der  Gefühlsgrund- 
lage, dann  könnte  sogar  die  Nichtabstumpfbarkeit  der  Phantasie- 
gefühle, wenn  sie  nachgewiesen  wäre,  keinen  Gegensatz  zwischen 
Phantasiegefühlen  und  anderen  Gefühlen  begründen. 

Ebenso  ablehnend  aber  wie  gegen  den  Beweis  für  die  These 
der  Nichtabstumpfbarkeit  der  Phantasiegefühle  müssen  wir  uns  gegen 
den  Gedankengang  verhalten,  durch  welchen  Saxinger  darzutun  sucht» 
daß  >Phantasiegefühle<  und  >  wirkliche  Gefühle <  sich  nicht  gegen- 
seitig beeinflussen.  Wiederum  nehmen  wir  an,  daß  das  oben  mit- 
geteilte Beispiel  Saxingers  evident  sei,  daß  also  jemand,  der  sich 
über  die  Erreichung  eines  Zieles  freut,  trotzdem  einen  gewissen  Un- 
lustcharakter empfindet  an  der  Annahme,  daß  er  das  betreffende  Ziel 
nicht  erreicht  habe,  falls  diese  Annahme  gelingt.  Folgt  nun  aus 
dieser  Voraussetzung,  daß  in  dem  erwähnten  Fall  das  unlustvolle 
Annahmegefühl  (Phantasiegefühl)  und  das  lustvolle  Gefühl,  welches 
sich  an  das  Bewußtsein  des  erreichten  Zieles  knüpft,  unabhängig  von 
einander  gleichzeitig  vorhanden  sind?  Das  ist  unmöglich  aus 
dem  einfachen  Grund,  weil  das  Urteil  über  eine  bestimmte  Tatsache 
und  die  entgegengesetzte  Annahme  im  Bewußtsein  nicht  koexistieren 
können.  Es  konunt  also  nur  ein  rascher  Uebergang  vom  Urteils- 
gefühl zum  Annabmegefühl  in  Betracht,  bei  welchem  die  durch  das. 


Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      65 

Urteilsgefühl  bestimmte  allgemeine  Gemütslage  nicht  nachhaltig  ge- 
ändert wird.  Ein  solcher  Uebergang  ist  nun  offenbar  auch  bei 
> wirklichen«  Gefühlen  möglich.  Man  denke  nur  an  einen  Mücken- 
stich, der  uns  in  glücklicher  Stimmung  ein  momentanes  Unbehagen, 
aber  —  in  der  Regel  wenigstens  —  keine  dauernde  Störung  verur- 
sacht. Daß  »Phantasiegefühle«  besonders  geringe  Veränderungen  in 
der  allgemeinen  Gemütslage  hervorrufen,  ist  bei  ihrer  geringen 
Intensität  und  bei  dem  besonderen  Charakter  ihrer  intellektuellen 
Grundlage  selbstverständlich.  Daß  andererseits  die  allgemeine  Ge- 
mütslage Phantasiegefühle  nicht  zu  unterdrücken  vermag,  wenn  solche 
überhaupt  auftreten  können  d.  h.  wenn  angesichts  eines  bestimmten 
Tatbestandes  mit  starker  Gefühlsfärbung  entgegengesetzte  Annahmen 
nicht  unmöglich  werden,  das  ist  sicherlich  kein  Beweis  für  die  be- 
sondere Natur  der  Phantasiegefühle,  solange  nicht  feststeht,  wie  die 
gegenseitige  Beeinflussung  von  Gefühlen  sich  überhaupt  vollzieht, 
deren  Grundlagen  sukzessiv  in  Wirksamkeit  treten.  Der  als  Beispiel 
für  eine  derartige  Beeinflussung  angeführte  Fall,  daß  man  im  Zu- 
stand  tiefer  Trauer  >sich  über  nichts  recht  freuen  könnte«  läßt  sich 
wohl  am  besten  dahin  interpretieren,  daß  die  psychologischen  Grund* 
lagen  eines  Freudegefühls  im  Zustand  der  Trauer  nicht  zur  Geltung 
kommen  können,  daß  wir  etwa  den  Gedanken  an  erfreuliche  Gegen- 
stände nicht  die  nötige  Aufmerksamkeit  schenken.  Ist  diese  Inter- 
pretation richtig,  dann  stehen  Phantasiegefühle  und  andere  Gefühle 
hinsichtlich  der  Beeinflussung,  die  sie  durch  eine  bestehende  Ge« 
mütslage  erfahren,  einander  völlig  gleich.  Wenn  die  Annahme,  die 
intellektuelle  Grundlage  der  Phantasiegefühle,  und  wenn  die  auf- 
merksame Betrachtung  bestimmter  Tatsachen,  die  intellektuelle  Grund- 
lage > wirklicher«  Gefühle  trotz  einer  ihrem  Auftreten  ungünstigen 
Qemütslage  zustande  kommen,  dann  machen  sich  auch  die  ent- 
sprechenden Gefühle  ungeschmälert  geltend.  Unrichtig  dagegen  ist 
es,  einen  Fall,  in  dem  ein  >  wirkliches  c  Gefühl  geschmälert  wird, 
weil  möglicherweise  seine  intellektuelle  Grundlage  nicht  zur  Geltung 
kommen  kann,  einem  andern  Fall  gegenüberzustellen,  in  dem  ein 
Phantasiegefühl  auftritt,  dessen  intellektuelle  Grundlage  durch  eine 
Voraussetzung  postuliert  wird  —  und  aus  der  Gegenüberstellung 
beider  Fälle  eine  Verschiedenheit  der  Phantasiegefühle  und  der  wirk- 
lichen Gefühle  abzuleiten. 

Der  Hauptbeweis  Saxingers  für  die  Eigenart  der  Phantasiegefühle 
scheint  also  mißlungen.  Aber  es  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß 
unser  Autor  noch  einen  weiteren  Grund  für  die  Behauptung  einer 
»Sonderstellung  der  Phantasiegefühlsdispositionen«  beibringen  zu 
können  glaubt.    £r  meint,  >die  Frage,  ob  Phantasiegefühle  und  Ur* 

e«tl.  f tl.  Am.  1906.  Nr.  1.  5 


66  66tt.  gel.  Adz.  1906.  Nr.  1. 

teilsgefühle   auf  gemeinsame  Dispositionen  zurückgehen,   könne  nur 
so  zur  Entscheidung  gebracht  werden,  daß  Fälle  aufgezählt  werden, 
in  welchen  sich  Urteil  und  Annahme  auf  das  gleiche  Objektiv  0  be- 
ziehen, die  zugehörigen  Geftihlsreaktionen  sich  aber  nicht  so  gestalten, 
wie   sie   sich   unter   der  Voraussetzung   einer  gemeinsamen  Gefühls- 
disposition gestalten  müßten«.    Saxinger   scheint  anzunehmen,   daß 
Gleichheit  der  betreffenden  Gefühlsreaktionen  notwendig  zu  erwarten 
sei,   wenn  eine   gemeinsame  Gefühlsdisposition   angenommen   werde. 
Von  dieser  Annahme  ausgehend  glaubt  er  eine  Sonderstellung   der 
Phantasiegefühlsdispositionen  dartun   zu  können,    indem  er    darauf 
hinweist,  daß  Urteil  und  Annahme,  die  sich  auf  das  gleiche  Objektiv 
beziehen,   häufig  verschiedene,  ja  entgegengesetzte  emotionale  Cha- 
raktere besitzen  und  zwar  nicht  etwa  nur  in  dem  Sinn,  daß  die  An- 
nahme von  einem  weniger  intensiven  Gefühl  begleitet  wird,   sondern 
in   der  Weise,   daß   die  Annahme  zuweilen  Lustcharakter   besitzt, 
während   ein  entsprechendes  Urteil   ohne  Lustgefühl,  ja   sogar   mit 
Unlustgefühl  verbunden  auftreten  kann.    Als  Beispiel  führt  Saxinger 
an,  daß  derjenige,   der  sich  etwa  in  die  Vergnügungen  der  Jugend- 
zeit im  Geist  zurückversetzt,  etwas  Lustähnliches  erlebe,  auch  wenn 
das,  was  ihm  seinerzeit  Lust  verschaffte,   längst  seinen  Reiz  für  ihn 
verloren  hat.   Diesem  Beispiel  gegenüber  müssen  wir  zunächst  fragen, 
ob  das  Urteil,   welches  hier  der  Annahme  entsprechen  soll,    wirklich 
auf  dasselbe  Objektiv  sich  bezieht.    Das  Objektiv   der  Annahme  ist 
doch  offenbar  dies:   >Als  Knabe  sich  an  kindlichen  Spielen  erfreuen«. 
Das  Objektiv  des  entsprechenden  Urteils  läßt  sich  aber  wohl  nur  so 
wiedergeben:   >Als  Mann  in  einer  kindlichen  Beschäftigung  aufgehenc. 
Das   was   den   beiden  Objektiven   gemeinsam   ist,   das    >  Vollbringen 
kindlicher  Handlungen«  genügt  offenbar  nicht,   um  völlige  Gleichheit 
derselben  zu    begründen.    Infolgedessen   ist  gar  nicht  zu  erwarten, 
daß  Urteil  und  Annahme,   die   sich  auf  verschiedene  Objektive  be- 
ziehen, gleichen  emotionalen  Charakter  aufweisen.    Die  Verschieden- 
heit  des  Phantasiegefühls   und   des   Urteilsgefühls   spricht   also    in 
diesem  Fall  gar  nicht  für  die  Sonderstellung  der  Phantasiegefühls- 
dispositionen.   Aber  auch  wenn  bei  gleichem  Objektiv  Annahme  und 
Urteil   verschiedenen   emotionalen  Charakter  besitzen,   so  erscheint 
die  in  Bede  stehende  Schlußfolgerung  Saxingers  kaum  gerechtfertigt. 
Denn  das  Objektiv  ist  doch  nicht  die  Ursache  der  Gefühlserregung. 
Die  psychischen  Vorgänge,  mit  denen  bei  Annahme  und  Urteil  das- 
selbe Objektiv   erfaßt  wird  und  die  allein   als  Ursachen  des  emotio- 
nalen Charakters  in  Betracht  kommen,   können   so  verschieden  sein, 
daß   sie  auch  eine  und  dieselbe  Disposition  zu  verschiedener,  ja  zu 
1)  lieber  die  Bedeutung  dieses  Wortes  vgl  Seite  27  dieser  Besprechungen. 


Untersuchungen  zur  GegensUndstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Meinong.      67 

entgegengesetzter  Reaktion  zu  zwingen  vermögen.  Im  ttbrigen  er- 
scheint eine  Spezifikation  der  Dispositionen  überhaupt  nicht  als  der 
richtige  Weg,  die  psychologische  Erklärung  zu  fördern;  das  dürfte 
bei  der  Erinnerung  an  die  Wolfische  Vermögenspsychologie  wohl 
allgemein  zugegeben  werden. 

Mit  dem  bisherigen  sind  die  Gründe,  die  Saxinger  für  die 
Eigenart  der  Phantasiegefühle  anfährt,  so  ziemlich  erschöpft.  Damit 
ist  freilich  noch  nicht  nachgewiesen,  daß  die  Phantasiegefühle  ganz 
normale  Gefühle  sind.  Wenn  z.  B.  das  Zugeständnis  Witaseks  un- 
vermeidlich wäre,  das  unser  Autor  nicht  für  hinreichend  hält,  das 
>Phantasiegefühl8problem<  zu  lösen,  wenn  man  der  Behauptung  zu- 
stimmen müßte,  daß  die  PhantasiegefUhle  weder  freuen  noch 
schmerzen,  dann  wäre  damit  die  Ansicht  Saxingers  besser  ge- 
recftfertigt  als  durch  all  seine  Ausführungen.  Aber  die  Erfahrung 
gibt  uns  keine  Veranlassung,  das  Witaseksche  Zugeständnis  zu 
dem  unsrigen  zu  machen,  sofern  dasselbe  der  Behauptung  gleich- 
kommt, die  Phantasiegefühle  seien  nicht  merklich  lust-  oder  unlust- 
voll. Die  Freude  des  phantasievollen  Knaben  an  erträumten  Taten, 
die  Trauer  manches  religiösen  Gemüts  bei  dem  Gedanken  an  eine 
Sünde,  die  begangen  werden  könnte  —  das  sind  Beispiele  für  sehr 
merklich  lust-  und  unlustvolle  Phantasiegefühle.  Soll  freilich  mit 
der  These,  daß  die  Phantasiegefühle  weder  freuen  noch  schmerzen, 
nur  dies  gemeint  sein,  daß  sie  nicht  zum  Ausgangspunkt  einer  Ge- 
fühlsreaktion zweiten  Grades  geeignet  seien,  so  ist  dies  wohl  zuzu- 
geben. Aber  dasselbe  gilt  für  eine  Reihe  anderer  sehr  erster 
Gefühle,  ja  es  ist  geradezu  für  alle  Gefühle  von  geringerer  Intensität, 
deren  intellektuelle  Grundlage  von  unserer  Willkür  abhängt,  die 
Regel.  Ueberhaupt  mögen  wir  uns  umschauen,  wo  wir  wollen,  wir 
finden  keinen  Grund,  der  uns  veranlassen  könnte,  die  Phantasie- 
gefühle aus  der  Klasse  der  Gefühle  zu  verbannen  und  einem  psycho- 
logischen Gattungsbegriff  unterzuordnen,  der  nur  ad  hoc  konstruiert 
würde. 

Unser  Autor  bemüht  sich  freilich,  die  neugeschaffiene  Gattung 
psychischer  Phänomene  mit  einem  gewissen  Reichtum  an  Arten  zu 
versorgen.  So  will  er  die  Gefüblstöne  der  Allgemeinvorstellungen 
und  Wortvorstellungen  in  derselben  Klasse  unterbringen.  Auch  diese 
Gefühlstöne  sollen  emotionale,  nach  der  Lust-Unlustseite  zu  charakte- 
risierende Erlebnisse  aber  keine  Gefühle  sein.  Zum  Beweis  dessen 
wird  angeführt,  daß  der  Ortsname  >Ebensee<  für  unsem  Autor, 
welcher  Augenzeuge  der  durch  Hochwasser  in  Ebensee  angerichteten 
Verheerungen  war,  einen  unlustvollen  Gefühlston  besitzt,  welcher 
nicht  zusammenfällt  jnit  den  Gefühlen,  die  sich  an  die  Erinnerung 

6* 


68  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

der  Verheerungen  knüpfen.  Daß  ein  derartiges  Auseinanderfallen 
möglich  ist  zwischen  dem  Gefühlston  einer  Wortvorstellung  und  den 
Gefühlen,  die  sich  an  bestimmte  Bestandteile  des  durch  das  Wort 
erregten  Vorstellungskomplexes  knüpfen,  das  sei  ohne  weiteres  zu- 
gegeben. Das  beweist  aber  gar  nichts  für  die  Eigenart  jenes  Ge- 
fühlstons, sondern  es  beweist  nur,  daß  die  psychologische  Voraus- 
setzung desselben  eine  andere  ist  als  die  psychologische  Voraussetzung 
der  an  bestimmte  Vorstellungen  und  Erinnerungen  gebundenen  Ge- 
fühle. Verschieden  von  der  letzteren  kann  erstere  Voraussetzung 
aber  auch  dann  sein,  wenn  sie  jene  als  Bestandteil  in  sich  enthält, 
und  es  ist  daher  unrichtig,  wenn  Saxinger  aus  seiner  Behandlung  des 
Beispiels  >Ebensee<  den  Schluß  zieht,  die  Ansicht,  daß  die  fraglichen 
Gefühlstöne  Gefühle  sind,  die  durch  das  anschauliche  Substrat  der 
Allgemeinvorstellungen  und  Wortvorstellungen  hervorgerufen  werden, 
erweise  sich  als  unzulänglich.  Wenn  ferner  unser  Autor  hinsichtlich 
der  >  Gefühlstöne  der  Allgemeinvorstellungen  und  Wort  Vorstellungen  < 
ebenso  wie  hinsichtlich  der  auf  Annahmen  gegründeten  Phantasie- 
gefühle nachzuweisen  sucht,  daß  eine  Abstumpfung  derselben  sowie 
eine  Beeinflussung  seitens  anderer  und  gegenüber  anderen  Gefühlen 
nicht  stattfindet,  so  ist  dagegen  auf  die  obigen  Darlegungen  zu  ver- 
weisen. Nur  dies  sei  noch  besonders  betont,  daß  es  aller  Erfahrung 
widerspricht,  wenn  behauptet  wird,  die  Gefühlstöne  von  Wörtern  und 
Begriffen  könnten  sich  nicht  abstumpfen.  Die  Unbrauchbarkeit  > ab- 
gedroschener Redensarten <  für  den  höheren  Stil  könnte  Saxinger 
eines  besseren  belehren. 

Nicht  näher  eingegangen  werden  kann  hier  auf  die  Beurteilung 
der  Suggestionsexperimente,  deren  unser  Autor  ganz  kurz  Erwähnung 
tut,  und  welche  beweisen  sollen,  daß  den  >  Allgemein  Vorstellungen 
und  Wortvorstellungen  ein  Gefühlston  durch  Suggestion  so  wenig 
oktroyiert  werden  kann,  als  solche  Vorstellungen,  wenn  sie  mit  einem 
Gefühlston  behaftet  sind,  von  demselben  durch  suggestive  Einwirkung 
zu  befreien  sind«.  Ein  Urteil  über  die  Beweiskraft  dieser  Versuche 
wäre  nur  dann  möglich,  wenn  die  Versuchsbedingungen  näher  be- 
schrieben wären. 

Ganz  kurz  können  wir  uns  auch  hinsichtlich  dessen  fassen,  was 
Saxinger  über  »Phantasiebegehrungen«  ausführt.  Er  behauptet,  daß 
allen  > wirklichen«  Begehrungen,  auch  dem  Wünschen,  Realisierungs- 
tendenz zukomme  und  vermißt  diese  Realisierungstendenz  an  den 
Phantasiebegehrungen,  z.  B.  an  dem,  was  wir  erleben,  wenn  wir  mit 
den  Personen  eines  Dramas  und  für  sie  wünschen  und  wollen.  Ich 
kann  demgegenüber  nur  sagen,  daß  ich  bei  dem  Wunsch,  fliegen  zu 
können,  weit  weniger  Spannungsempfindungen  vorfinde  als  bei  der 


Untersuchungen  zur  Qegenstandstheorie  und  Psychologie,  hrs.  von  Memong.      69 

bloßen  Lektüre  eines  Romans,  dessen  Held  Interesse  an  seinem 
Schicksal  erweckt  und  bedeutsame  Entscheidungen  zu  treffen  hat. 
Uebrigens  ist  auch  mit  dem  Begriff  >Realisierungstendenz«  sehr  leicht 
in  verschiedenstem  Sinn  zu  operieren,  solange  keine  gründliche  Be- 
deutungsanalyse an  demselben  vorgenommen  ist. 

Würzburg.  Ernst  Dürr. 


Die  RVmlselie  Curie  und  du  Oonetl  von  Trient  unter  Plus  IT.  Actenstücke 
zur  Geschichte  des  Concils  von  Trient  Im  Auftrage  der  Historischen  Com- 
mission der  E.  Akademie  der  Wissenschaften  bearbeitet  von  Josef  Susta. 
Erster  Band.    Wien,  A.  Holder,  1904.    XCH,  370  S.    12  M. 

Das  Österreichische  historische  Institut  in  Rom  beschäftigt  sich 
bekanntlich  schon  seit  etwa  fünfzehn  Jahren  mit  der  Bearbeitung 
und  Herausgabe  der  Nuntiaturberichte  aus  Deutschland  unter  den 
Päpsten  Pius  IV.  und  Pius  V.  (1560—1572).  Von  diesem  Unter- 
nehmen sind  bisher  zwei  Bände  erschienen,  welche  die  Akten  der 
päpstlichen  Nuntiatur  am  Kaiserhofe  Ferdinands  I.  von  1560—1563 
veröffentlichen.  Hierzu  tritt  nunmehr  eine  zweite  Publikation,  die 
einerseits  eine  Ergänzung  der  ersteren  darstellt,  andererseits  aber 
darum  nicht  minder  von  selbständiger  hoher  Bedeutung  zu  werden 
verspricht.  Sie  gilt  der  Geschichte  des  Tridentiner  Konzils  in  seiner 
dritten  Periode,  also  in  den  nämlichen  Jahren,  denen  jene  Nuntiatur- 
akten  angehören.  Es  handelt  sich  um  die  Korrespondenz  der  Curie 
mit  den  von  ihr  zu  Leitern  des  Konzils  bestellten  Kardinallegaten, 
augenscheinlich  eine  Hauptquelle  für  die  Geschichte  des  Konzils 
und  von  ausschlaggebender  Wichtigkeit  besonders  fur  die  Beant- 
wortung der  inhaltreichen  Frage,  ob  und  wie  weit  die  römische 
Curie  dem  Konzil  seinen  Gang  vorgeschrieben  habe.  Den  Plan  der 
Publikation,  deren  erster  Band  vorliegt,  entwikelt  des  näheren  das 
ihm  vorangestellte  weitläufige  Vorwort  Th.  von  Sickels,  der  hier 
auch  die  Zugänglichmachung  des  Vatikanischen  Geheimarchivs  durch 
Papst  Leo  XIH.  unter  besonderer  Rücksichtnahme  auf  die  Abteilung 
Concilium  Tridentinum  erörtert.  Daß  der  verstorbene  Papst  auch 
diese  intimen  Akten  (nach  den  Erfahrungen  des  Referenten  sogar 
noch  mit  weniger  Kautelen  als  es  nach  den  Sickelschen  Ausführungen 
scheinen  könnte)  der  Forschung  zur  Verfügung  gestellt  hat,  zeigt 
aufs  neue  das  schon  so  häufig  erhärtete  vorurteilslose  Verständnis, 
das  Papst  Leo  den  Aufgaben  urkundlicher  Oeschichtsforschung  ent- 
gegengebracht hat. 


70  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Eine  beträchtliche  Anzahl  der  schnell  wechselnden  Mitglieder 
des  österreichischen  Instituts  (ihre  Namen  s.  S.  EC  Anmerkung)  ist 
an  den  Vorarbeiten  für  die  gegenwärtige  Publikation  beteiligt  ge- 
wesen ;  die  Herausgabe  aber  hat  Josef  Susta,  ebenfalls  einst  Mitglied 
des  Instituts,  zur  Zeit  Privatdozent  an  der  czechischen  Universität 
zu  Prag,  übernommen.  Wie  man  aus  seiner  Einleitung  zum  vor- 
liegenden Bande  erfährt,  hat  Susta  kürzlich  in  einer  besonderen 
darstellenden  Abhandlung  die  Anfänge  des  Pontifikats  Papst  Pius'  IV. 
behandelt,  leider  in  czechischer  Sprache  und  somit  für  die  Wissen- 
schaft unzugänglich.  Femer  beabsichtigt  Susta  auch  das  neue 
archivalische  Material,  das  er  zur  Geschichte  der  Vorverhandlungen 
über  die  Erneuerung  des  Konzils  im  Jahre  1560  gesammelt  hat, 
monographisch  zu  behandeln.  So  beginnt  er  hier  erst  mit  der  Ver- 
wirklichung des  Konzilsentschlusses  durch  den  Papst,  nämlich  mit 
der  Ernennung  der  ersten  Konzilslegaten  und  dem  Auftrag  an  diese, 
sich  nach  Trient  zu  verfugen  (22.  März  1561).  Von  hier  an  erstreckt 
sich  das  im  ersten  Bande  vorgelegte  Material  zeitlich  bis  zur  Er- 
ö£fhungssession  am  18.  Januar  1562;  der  am  folgenden  Tage  darüber 
erstattete  Bericht  der  Legaten  an  die  Curie  macht  den  Schluß  der  in 
diesem  ersten  Teil  veröffentlichten,  sechzig  Nummern  starken  Legaten- 
korrespondenz. Zu  ihr  aber  treten  als  zweiter  Teil  des  Bandes  (der 
an  Raum  den  ersten  noch  um  ein  geringes  übertrifft)  47  Beilagen; 
sie  enthalten  im  wesentlichen  die  gleichzeitigen  das  Konzilswerk  be- 
treffenden Berichte  der  ordentlichen  und  außerordentlichen  Vertreter 
der  Curie  bei  den  katholischen  Mächten,  d.  h.  der  Hauptsache  nach 
in  Frankreich  und  Spanien,  da  die  Depeschen  aus  Deutschland  ja 
bereits  in  den  erwähnten  »Nuntiaturberichten<  des  österreichischen 
Instituts  vorliegen. 

Ueber  die  handschriftliche  Ueberlieferung  des  Materials  belehrt  die 
instruktive  Einleitung  des  Herausgebers.  Es  zeigt  sich,  daß  von  einer  sehr 
reichen  Fülle  von  amtlichen,  halbamtlichen  und  privaten  Korrespon- 
denzen zwischen  der  Curie  und  den  Legaten  (sowohl  insgesamt  wie 
den  einzelnen,  namentlich  dem  » ersten <  Legaten  Ercole  Gonzaga, 
besonders),  nur  ein  Teil,  der  nicht  immer  das  Wichtigste  umfaßt,  in 
originaler  Form  erhalten  geblieben  ist.  Manches  hat  sich  aus  Re- 
gistern, späteren  Abschriften,  Extrakten  u.  s.  w.  gewinnen  lassen ; 
immerhin  muß  ein  beträchtlicher  Teil  dieser  unschätzbaren  Korre- 
spondenzen als  gänzlich  verloren  betrachtet  werden.  Vielleicht  wird 
sich  das  für  die  späteren  Bände  der  Publikation  noch  empfindlicher 
geltend  machen  als  für  den  vorliegenden,  dem  ein  Band  des  Vati- 
kanischen Archivs  (Abteilung  De  Concilio,  tomus  60)  die  Hauptreihe 
der  originalen  Legatenbriefe,   sowie  mehrere  Bände  der  Ambrosiana 


Die  römuche  Curie  und  das  Konzil  von  Trient  unter  Pius  IV.    I.  71 

ZU  Mailand  die  Gegenschreiben  des  Papstes  und  des  geschäfts« 
fahrenden  Nepoten  Kardinal  Carlo  Borromeo,  ebenfalls  im  Original, 
darboten.  Durchweg  verloren  ist  andererseits  die  originale  Korre- 
spondenz der  Curie  mit  ihren  Nuntien  in  Spanien  und  Frankreich; 
sie  hat  nur  mühsam  aus  abgeleiteten  Formen  ihrem  wesentlichen 
Teile  nach  hergestellt  werden  können. 

Die  Einleitung  des  Herausgebers  begnügt  sich  übrigens  nicht 
mit  der  Konstatierung  der  Sachlage  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen, 
sondern  sie  geht  auch  den  Schicksalen  der  verschiedenen  Gruppen 
des  Materials,  selbst  der  einzelnen  Korrespondenzen,  soweit  möglich 
nach,  und  schildert  im  Zusammenhang  damit  auch  die  Kanzlei-  und 
Archivverhältnisse  der  Curie,  wobei  vielleicht  auf  die  im  zweiten 
Bande  der  >Nuntiaturberichte<  des  preußischen  Instituts  nachge- 
wiesene, epochemachende  Neuordnung  der  Kanzlei  nach  dem  Sturze 
Ricalcatis  im  Jahre  1537,  hätte  hingewiesen  werden  können.  Endlich 
erhalten  wir  nicht  übel  gelungene  Porträtskizzen  der  Hauptpersonen, 
des  Papstes  Pius  IV,  des  Nepoten  Borromeo  (>San  Carlo<),  der  Kar- 
dinallegaten Ercole  Gonzaga  (»Mantua<)  und  Seripando,  des  Kardinals 
von  Ferrara  Ippolito  d'Este,  der  Nuntien  oi.  s.  w. 

Wenn  man  den  Ertrag  der  in  unserem  Bande  veröffentlichten 
Materialien  abschätzen  will,  so  ist  bei  der  Legatenkorrespondenz  im 
Auge  zu  behalten,  daß  wir  uns  noch  in  den  Vorstadien  des  Konzils 
befinden,  dessen  Zustandekommen  erst  durch  diplomatische  Verhand- 
lungen mit  den  Höfen  gesichert  werden  mußte.  An  diesen  Ver- 
handlungen aber  waren  die  Konzilslegaten  weder  beteiligt  noch  übten 
sie  einen  maßgebenden  Einfluß  auf  deren  Verlauf  aus;  ja,  die  Curie 
hielt  es  meist  nicht  für  der  Mühe  wert,  ihre  Legaten  in  Trient,  was 
diese  oft  sehr  mißfällig  vermerken,  auch  nur  über  den  Stand  der 
Dinge  auf  dem  Laufenden  zu  erhalten.  Unter  diesen  Umständen 
behandelt  die  Korrespondenz  der  Legaten  vorwiegend  Dinge  von 
verhältnismäßig  geringer  Tragweite,  wie  insbesondere  die  mannig- 
fachen einzelnen  Vorbereitungen,  die  für  den  Zusammentritt  des 
Konzils  noch  zu  erörtern  und  zu  erledigen  waren,  so  die  Berufung 
fremder  Gelehrten  (aus  Deutschland  besonders  Stapylus),  die  Er- 
bietungen des  Vergerio,  die  Gewinnung  einzelner  protestantischer 
Größen  (wie  Johann  Sturm  und  Zanchi)  für  den  Konzilsbesuch, 
andererseits  die  Veranstaltung  eines  literarischen  Vorstoßes  gegen 
den  Protestantismus,  nämlich  die  Widerlegung  der  Schrift  Bullingers 
gegen  die  Konzilien  durch  die  Herausgabe  einer  Schrift  Reginald 
Poles ;  femer  die  Aussichten  des  Konzilsbesuches  im  einzelnen,  die  An- 
kunft der  ersten  Besucher,  die  Unterstützung  bedürftiger  Konzilsväter 
durch  die  Curie,  Vorsorge  fur  die  Verpflegung  des  Konzils  und  Be- 


72  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

kämpfung  der  drohenden  Wohnungsnot  in  Trient;  dann  bereits  erste 
kleine  Differenzen  am  Konzil,  Präzedenzstreitigkeiten,  Bekämpfung 
von  Unabhängigkeits-  und  Sondergeliisten  der  Spanier ;  endlich  Fest- 
setzung des  Zeremoniells  der  Eröffnung  und  Bestimmung  des  Er- 
öffnungstages, Erlaß  einer  Geschäftsordnung  sowie  von  Vorschriften 
über  das  Verhalten  der  Konzilsbesucher  und  dergl.  m.  Von  Zeit* 
fragen,  die  nicht  unmittelbar  das  Konzil  berühren,  spielen  hinein 
der  Plan  der  Universitätsgründung  in  Duisburg  durch  Herzog  Wilhelm 
von  Cleve  und  die  theologischen  Wirren  in  Löwen,  die  sich  an  den 
Augustinianismus  c!er  dortigen  Professoren  Johann  Hesseis  und  Michel 
Bajus,  die  Vorläufer  des  Jansenismus,  anknüpften.  Ein  Aktenstück 
anderer  Art,  das  hier  ebenfalls  seinen  Platz  gefunden  hat,  ist  die 
Instruktion  für  den  Kardinal  Simonetta  als  Legaten  in  Trient  vom 
19./20.  November  1561  (Nr.  42^);  sie  läßt  deutlich  die  Schranken 
erkennen,  die  det  Papst  dem  Konzil  von  vornherein  setzte,  das  seinen 
Intentionen  gemäß  von  kurzer  Dauer  sein,  sich  so  gut  wie  aus- 
schließlich mit  den  Dogmen  beschäftigen  und  vor  allem  die  Frage 
der  päpstlichen  Superiorität,  sowie  möglichst  die  Reformsache  über- 
haupt, aus  dem  Spiel  lassen  sollte. 

So  wichtig  dies  Dokument  ist,  so  ruht  der  Schwerpunkt  der 
Publikation  im  vorliegenden  Bande  doch  auf  den  >  Beilagen  <,  insbe- 
sondere auf  den  Korrespondenzen  der  Vertreter  der  Curie  an  den 
Höfen  von  Paris  und  Madrid  mit  ihrer  Auftraggeberin  über  ihre 
Bemühungen,  jene  beiden  Mächte  für  die  Konzilspolitik  des  Papstes 
zu  gewinnen.  Es  treten  uns  in  diesen  Dokumenten  die  einzelnen 
Phasen,  welche  die  Verhandlungen  durchlaufen  haben,  und  die  mannig- 
fachen großen  Schwierigkeiten,  die  es  zu  besiegen  galt,  bis  das  Ziel 
erreicht  war,  deutlicher  als  irgendwo  sonst  vor  Augen.  Hier  hat 
sich  aber  auch  der  Herausgeber  ein  besonderes  Verdienst  erworben 
durch  seine  eingehenden  erläuternden  Anmerkungen,  welche  die  ein- 
zelnen Nachrichten  mit  einander  in  Verbindung  setzen,  den  jeweiligen 
Stand  der  Frage  präzisieren  und  ergänzend  anderweitiges  urkund- 
liche Material,  so  namentlich  die  Depeschen  der  diplomatischen  Ver- 
treter des  Kaisers  in  Rom  und  Paris  aus  den  Wiener  Archiven, 
heranziehen.  Daß  somit  der  Ton  durchaus  auf  den  >Beilagen<  ruht, 
begründet  freilich  ein  gewisses  Mißverhältnis  und  besonders  auch 
einige  Unbequemlichkeit  wie  für  den  Herausgeber,  so  noch  in  höherem 
Grade  für  den  Benutzer.  Denn  begreiflicher  Weise  fallen  die  beiden 
Hälften  des  Bandes  stofflich  nicht  völlig  auseinander;  sie  berühren 
und  ergänzen  sich  vielmehr  in  mannigfaltiger  Weise  und  es  muß 
deshalb  ein  beständiges  Verweisen  aus  einem  Teil  auf  den  andern 
statthaben,    dessen  man  gern  überhoben  wäre.    Vielleicht  hätte  es 


Die  römische  Curie  and  das  Koiuil  von  Trient  unter  Pius  IV.   I.  78 

sich  wenigstens  für  den  vorliegenden  Band  empfohlen,  von  der  Zwei- 
teilung des  Materials  überhaupt  abzusehen;  bei  den  künftigen  Bänden 
wird  freilich  wohl  die  Legatenkorrespondenz  an  Wichtigkeit  gewinnen 
und  die  >Beilagen<  von  selbst  an  die  zweite  Stelle  zurücktreten. 

Nicht  einverstanden  kann  sich  Referent  mit  der  chronologischen 
Anordnung  erklären,  der  die  Legatenkorrespondenz  unterworfen 
worden  ist.  Die  Stücke  schließen  sich  nämlich  nicht,  wie  in  Urkunden- 
publikationen üblich  ist,  nach  der  Zeitfolge  ihres  Ausgehens  aus  den 
verschiedenen  Kanzleien  an  einander,  sondern  maßgebend  ist  ihr 
Ausgehen  in  Trient  oder  ihr  Eintreffen  dort;  das  besagt,  daß  die 
Gegenschreiben  des  Kardinalnepoten  zu  dem  Zeitdatum  eingeordnet 
werden,  an  welchem  sie  den  Konzilslegaten  zugegangen,  präsentiert 
worden  sind.  So  geht  beispielsweise  der  Bericht  der  Legaten  vom 
21.  April  1561  (No.  4)  dem  Schreiben  Borromeos  vom  16.  des 
gleichen  Monats  vorauf,  weil  letzteres  am  21.  noch  nicht  in  die  Hände 
der  Legaten  gelangt  war.  Die  Publikation  soll,  wie  Susta  sich  aus- 
drückt, >die  Eigenart  einer  geordneten  Registratur<  erhalten,  »wie 
sie  in  der  Präsidialkanzlei  in  Trient  durch  das  Zusammenlegen  der 
Minuten  des  Auslaufs  mit  den  Originalen  des  Einlaufe  entstehen 
konntet.  Dem  Referenten  erscheint  dies  Verfahren  als  das  eines 
Archivars,  nicht  eines  Herausgebers;  im  besonderen  aber  hält  er  es 
deshalb  für  verfehlt,  weil,  wenn  auf  der  einen  Seite  durch  die  ge- 
schilderte Anordnung  allenfalls  das  Verständnis  für  die  Ereignisse  in 
Trient  und  die  dort  gepflogenen  Erwägungen,  die  dort  getroffenen 
Entscheidungen  erleichtert  wird,  augenscheinlich  in  noch  höherem 
Grade  es  dem  Benutzer  erschwert  wird,  den  Vorgängen  zu  folgen, 
die  sich  an  der  Curie  zu  Rom  abgespielt  haben.  Da  nun  aber,  wie 
oben  angedeutet  wurde,  und  wie  es  übrigens  auch  das  Vorwort  selbst 
betont,  von  der  vorliegenden  Publikation  wesentlich  und  in  erster 
Linie  gerade  über  die  Einwirkungen  der  Curie  auf  den  Gang  des 
Konzils  Aufschluß  zu  erhoffen  ist,  so  liegt  auf  der  flachen  Hand, 
daß  die  Bevorzugung  Trients  zum  Nachteil  Roms,  wie  sie  in  der 
geschilderten  Anordnung  zu  Tage  tritt,  die  denkbar  verkehrteste 
Maßnahme  ist,  die  nach  dieser  Richtung  hin  getroffen  werden  konnte. 
Dazu  kommt  noch  eine  allgemeine  Erwägung,  daß  nämlich  der  Her- 
ausgeber nicht  immer  mit  Sicherheit  den  Zeitpunkt  des  Eintreffens 
der  kurialen  Gegenschreiben  wird  feststellen  können.  Auch  wenn 
Susta  im  vorliegenden  Fall  versichert,  daß  ihm  dies  ausnahmslos 
möglich  gewesen  sei,  so  bedeutet  das  Verfahren  doch  allgemein  be- 
trachtet die  Einführung  einer  Fehlerquelle  in  die  Edition  und  das 
sollte  man  lieber  vermeiden. 


74  Göii.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

Dieser  Einwand,  der  die  äußere  Einrichtung  der  Publikation 
angeht,  ist  nicht  angetan,  die  Anerkennung  zu  schmälern,  welche  die 
Wissenschaft  der  Umsicht  und  Akribie  des  Herausgebers  schuldet. 
Der  vorliegende  Band  stellt  eine  eben  so  beträchtliche  wie  gediegene 
Arbeitsleistung  dar;  Susta  nimmt  es  mit  den  Pflichten  des  Heraus- 
gebers sehr  ernst;  er  gibt  sich  an  keinem  Punkte  eher  zufrieden, 
bis  er  den  Gegenstand,  so  geringfügig  dieser  erscheinen  mag,  allseitig 
und  unter  Heranziehung  aller  ihm  erreichbaren  Hilfsmittel  erläutert 
und  aufgeklärt  hat.  So  gestaltet  sich  sein  Kommentar  nicht  selten 
zu  förmlichen  Exkursen,  selbst  über  Dinge,  die  man  hier  kaum  er- 
warten würde  zu  finden,  wie  über  die  kirchlichen  Verhältnisse  in 
Savoyen  und  Piemont  (S.  100),  in  der  Schweiz  (S.  242  ff.)  und  sogar 
in  Rußland  (S.  285).  Femer  sehe  man  etwa  die  mühevolle  Zusammen- 
stellung über  die  Ausgaben  der  Kurie  am  Konzil  (S.  53 ff.),  wobei 
noch  darauf  hingewiesen  werden  mag,  daß  ein  Verzeichnis  derer,  die 
regelmäßige  Unterstützungen  von  der  Kurie  zur  Erleichterung  des 
Konzilsbesuchs  empfingen,  für  den  Schlußband  verheißen  wird. 

Auch  das  Register  ist  den  angestellten  Stichproben  nach  mit 
großer  Sorgfalt  gearbeitet.  Was  das  Sprachliche  angeht,  für  das 
nach  der  Erklärung  des  czechischen  Herausgebers  S.  Steinherz  die 
Verantwortung  trägt,  so  muß  man  sich  nachgerade  wohl  an  gewisse 
Austriazismen  gewöhnen,  die  von  österreichischen  Veröffentlichungen 
nun  einmal  unzertrennlich  zu  sein  scheinen ;  gleichwohl  möchte  Referent 
Ausdrücke  wie:  der  Papst  glaubte  mit  zwanzig  Scudi  auslangen  zu 
können;  der  > Erhalte  (statt  Empfang)  der  Briefe;  ein  Aktenstück 
>er]iegt<  (statt  befindet  sich)  in  einem  Archiv  —  nicht  ohne  Wider- 
spruch durchgehen  lassen.  Falsch  ist  auch  S.  16  (und  ähnlich 
mehrfach):  Er  wollte  keinen  Entschluß  fassen,  bevor  der  Gesandte 
nicht  angekommen  war,  und  dergleichen  mehr.  Verhältnismäßig 
zahlreiche  Druckfehler  sind  dem  Referenten  aufgestoßen ;  so  ist  z.  B. 
S.  90  Z.  7  der  Monatsname  (September)  ausgefallen,  und  S.  16  Z.  12 
tritt  dem  überraschten  Leser  statt  eines  Kardinals  ein  »Generale  von 
Mantua  entgegen.  Doch  das  sind  Kleinigkeiten,  die  den  Wert  der 
Publikation  natürlich  nicht  beeinträchtigen. 

Stettin.  Walter  Friedensburg. 


Denkwürdigkeiten  des  Frh.  Otto  ron  Manteuffel,  hn.  von  H.  Ton  Poschinger.      75 


Unter   Friedrich  Wilhelm  IV.    Denkwürdigkeiten  des  Ministers 

Otto  Freiherm  Ton  Manteaffel ,  hrs.  von  Heinrich  von  Poschinger. 

3  Bde.    Berlin  1901.    £.  S.  Mittler  &  Sohn. 
Preußens  auswärtige  Politik   1850—1858.     Unveröffentlichte  Documente 

aus  dem  Nachlaß  des  Ministerpräsidenten  Otto  Freiherm  von  Mantenffel,  hrs. 

von  Heinrich  vonPoschinger.   3  Bde.  Berlin  1902.   £.  S.  Mittler  ft  Sohn. 

Da  diese  Anzeige  verspätet  erscheint,  hat  sie  den  Vorteil,  daß 
sie  auf  die  bereits  von  verschiedenen  Seiten  hervorgehobenen  Flüchtig- 
keiten der  beiden  oben  genannten  Werke  nicht  einzugehen  braucht, 
und  sich  gleich  zu  ihrem  Inhalte  wenden  kann.  Den  Hauptinhalt 
beider  Werke  bilden  die  in  Manteuffels  Nachlaß  enthaltenen  Schrift- 
stücke, also  Aufzeichnungen  der  verschiedensten  Art,  namentlich  die 
umfangreiche  Privatkorrespondenz  mit  den  Vertretern  Preußens  im 
Auslande,  mit  fremden  und  einheimischen  Staatsmännern  und  vielen 
anderen  Personen,  zahlreiche  Schreiben  des  Königs,  des  Prinzen  von 
Preußen  und  seiner  Gemahlin,  hier  und  da  auch  einzelne  amtliche 
Akten.  Für  den  bei  weitem  größten  Teil  der  amtlichen  Akten  — 
einige  sind  schon  öfters  in  Zeitungen  und  Zeitschriften  zu  Tage  ge- 
treten —  beruht  unsere  Kenntnis  auch  jetzt  noch  auf  dem,  was 
Sybel,  der  sie  einsehen  durfte,  daraus  in  seinem  Werke  über  die 
Begründung  des  deutschen  Reiches  mitteilt. 

Wenn  im  folgenden  der  Versuch  gemacht  wird  festzustellen,  wie 
weit  durch  diese  beiden  Werke  unser  Wissen  bereichert  wird,  durch 
genauere  Kenntnis  der  Tatsachen  und  besonders  der  Wirksamkeit 
Manteuffels,  so  ist,  wie  von  vornherein  bemerkt  sei,  das  Ergebnis  für 
die  auswärtige  Politik  viel  reicher  als  für  die  inneren  Verhältnisse. 
Auch  über  diese  erfährt  man  zwar  für  die  späteren  Jahre  etwas 
mehr,  für  die  beiden  ersten  Jahre  nur  sehr  wenig. 

Ueber  Manteuffels  Jugend  und  frühere  amtliche  Tätigkeit,  über 
seine  Ernennung  zum  Minister  des  Innern  im  November  1848,  über 
die  schnelle  Herstellung  der  Ordnung,  die  Verlegung  der  National- 
versammlung nach  Brandenburg  und  ihre  Auflösung  scheint  sich  in 
Manteuffels  Nachlaß  nichts  wesentliches  gefunden  zu  haben.  Neu 
sind  ein  Polizeibericht  Hinckeldeys  aus  dem  Dezember  1848  und  die 
sehr  interessanten  Schriftstücke  über  den  Widerstand  des  Königs 
gegen  die  Oktroyierung  der  Verfassung ,  an  der  er  zum  mindesten 
sehr  zahlreiche  Aenderungen  forderte.  Die  Minister  haben  auf  diese 
Wünsche  wenig  Rücksicht  genommen  und  nur  in  einigen  Punkten 
nachgegeben.  Ueber  die  Gründe,  die  sie  hierzu  bestimmten  und 
über  Manteuffels  Anteil  an  diesen  Dingen  wird  nichts  mitgeteilt. 
Auch  für  die  Zwistigkeiten  mit  der  neu  gewählten  und  bald  wieder 


76  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

aufgelösten  zweiten  Kammer  wird  man  lediglich  auf  die  Schriften 
der  Zeitgenossen  und  auf  die  stenographischen  Berichte  über  die 
Kammerverhandlungen  verwiesen,  aus  denen  einige  Auszüge  gegeben 
werden.  Ebenso  in  betreff  der  nun  folgenden  bedeutenden  Oktro- 
yierungen —  Wahlgesetz,  Preßgesetz,  Vereinsgesetz,  Disziplinargesetze 
—  und  für  die  energische  Beeinflussung  der  Neuwahlen.  Nur  über 
die  unruhigen  Bewegungen,  die  im  Frühjahr  1849  an  verschiedenen 
Stellen  zum  offenen  Aufstande  führten,  enthalten  die  Berichte  einzelner 
Oberpräsidenten  einige  Angaben.  Im  weiteren  Verlaufe  des  Jahres 
1849  wird  die  Verfassung  durchberaten.  Mit  ihrem  Abschluß  ist  der 
König  nicht  zufrieden ;  über  die  jetzt  noch  von  ihm  geforderten  Ab- 
änderungen werden  einige  Schriftstücke  gegeben.  Einen  Teil  dieser 
Forderungen  hat  Manteuffel  bei  erneuter  Beratung  in  beiden  Kammern 
durchgesetzt,  er  und  Brandenburg  haben  nicht  ohne  Mühe  erreicht, 
daß  der  König  den  Eid  auf  die  neue  Verfassung  leistete. 

Von  seiner  bei  dieser  Gelegenheit  gehaltenen  Rede  behauptet 
der  Herausgeber,  der  König  habe  > einen  eigenhändigen  Entwurf 
Manteuffels  wörtlich  zugrunde <  gelegt.  Das  wird  ihm  niemand 
glauben,  weil  die  Rede  in  der  charakteristischen  Denkweise  und  Aus- 
drucksweise  des  Königs  gehalten  ist  und  durchaus  den  Eindruck 
eines  persönlichen  Aktes  macht,  wenn  auch  natürlich  seine  Berater 
gehört  worden  sind  und  ihre  Hülfe  geliehen  haben.  Manteuffel  hatte 
gar  keine  Rede  zulassen  wollen  *) ;  wie  groß  seine  Mitarbeit  gewesen 
ist,  würde  nur  beurteilt  werden  können,  wenn  sein  Entwurf  bekannt 
wäre.  Der  Herausgeber  hat  ihn  in  der  Hand  gehabt  aber  für  sich 
behalten  und  statt  dieses  interessanten  Aktenstücks  die  längst  be- 
kannte, oft  gedruckte  Rede  des  Königs  noch  einmal  abgedruckt. 

Die  vielen  wichtigen  Gesetze  des  Jahres  1850  werden  kurz  be- 
rührt, bei  dem  Gesetze  über  die  Ablösung  der  Reallasten  erfährt 
man,  daß  der  König  sehr  schwere  Bedenken  hatte.  Die  Gemeinde- 
ordnung^,  die  Manteuffel  in  hartem  Kampfe  und  mit  einer  bei  ihm 
seltenen  Lebhaftigkeit  und  Wärme  der  Rede  den  Konservativen  ab- 
gerungen hat,  wird  nur  ganz  nebenbei  erwähnt.  Eingehendere  Mit- 
teilungen werden  über  die  Verordnung  vom  5.  Juni  1850  gemacht, 
durch  welche  das  Preßgesetz  erheblich  verschärft  wurde.  Den  äußeren 
Anlaß  dazu  hatte  ein  am  22.  Mai  gegen  den  König  verübtes  Attentat 
gegeben.  Manteuffel  war  anfänglich  der  Ansicht:  >daß  es  nicht  mög- 
lich und  zweckmäßig  wäre,  solche  Maßregeln  zu  ergreifen,  indem 
dieselben   leicht   den   Schein   einer   persönlichen   Rache   annehmen 

1)  Leopold  von  Gerlachs  Denkwürdigkeiten,  I,  428.  Dies  Werk  wird  im 
folgenden  kurzweg:  »GerUch«  sitiert. 


Denkwflrdigkeiten  des  Frh.  Otto  yon  Manteuffel ,  hrs.  von  H.  von  Poschinger.      77 

könnten  c.  Auch  hielt  er  eine  neue  Oktroyierung  nicht  für  wünschens- 
wert. General  von  Gerlach  war  der  entgegengesetzten  Meinung,  er 
schrieb  dem  Minister^):  >Es  ist  wichtig,  das  Land  und  unser  Staats- 
recht daran  zu  gewöhnen,  daß  die  Regierung  Verordnungen  gibt  und 
sie  ausführt  und  daß  die  Kammern  sie  nachher  sanktionieren.  < 

Unter  den  auf  die  inneren  Verhältnisse  bezüglichen  Zuschriften, 
welche  Manteuffel  in  dieser  Zeit  erhielt,  ist  eine  Beschwerde  der 
Prinzessin  Yon  Preußen  bemerkenswert  über  >eine  geheime  Kontrolle, 
welche  die  Mitglieder  der  königlichen  Familie  belauscht  <.  Manteuffel 
erwidert  ihr,  daß  eine  solche  geheime  Polizei  >  offiziell  gar  nicht  be- 
steht, und  daß,  wenn  man  doch  zuweilen  in  der  für  mich  immer  sehr 
peinlichen  Lage  sich  befindet,  geheime  Forschungen  anstellen  zu  müssen» 
diese  sich  inuner  nur  auf  die  im  Dunkeln  wühlende  Umsturzpartei 
beziehen.  Von  Sanssouci  und  von  Babelsberg  sind  diese  Forschungen 
immer  in  schuldiger  Entfernung  geblieben.  <  Die  Prinzessin  will  in 
ihrer  Antwort  die  Richtigkeit  dieser  Erklärung  nicht  bezweifeln,  hat 
aber  doch  >  traurige  Merkmale <  solcher  Forschungen  wahrgenommen 
und  sagt:  »daß  keine  amtliche  aber  doch  eine  organisierte  Kontrolle 
stattfindet,  kann  ich  leider  nicht  bezweifeln  <. 

Für  Manteuffels  Stellung  zur  deutschen  Frage  ist  von  Bedeutung, 
daß  er  das  Rundschreiben  Yom  3.  April  1849  verfaßt  hat^,  welches 
den  Gedanken  des  engeren  Bundes  wieder  aufnahm  und  die  Unions- 
politik einleitete.  Eigentlich  hätte  dies  der  Minister  des  Auswärtigen 
Graf  Arnim')  tun  müssen,  dieser  aber  stimmte  mit  den  anderen 
Ministem  so  wenig  überein,  daß  sie  den  König  baten,  ihn  zu  ent- 
lassen. Auch  Manteuffel  unterschrieb  diese  Bitte  und  zog  sich  dadurch 
einen  scharfen  Tadel  des  Königs  zu. 

An  den  weiteren  Verhandlungen,  deren  Leitung  Radowitz  über- 
nahm,  ohne  gleich  in  das  Ministerium  einzutreten,  war  Manteuffel 

1)  Manteuffelfi  DenkwOrdigkeiten ,  I,  221  f.  Im  folgenden  »Denkwflrdig- 
keiten« zitiert 

2)  Denkwürdigkeiten,  I,  91. 

3)  Dem  Herausgeber  ist  das  Mißgeschick  begegnet,  diesen  Grafen  Heinrieb 
Friedrieb  von  Arnim  -  Heinricbsdorf  mit  dem  Freiherm  Heinrieb  yon  Arnim  zu 
▼erwechseln,  der  im  Jabre  1848  vom  März  bis  zum  Juni  die  auswärtigen  An- 
gelegenbeiten  verwaltet  and  am  21.  März  den  bekannten  EOnigsritt  mit  der 
ichwarz-rot-goldnen  Fabne  veranlaßt  batte.  Um  solcbe  Yerwecbslnngen  lu  ver- 
meiden, bezeicbnete  man  damals  am  Hofe  den  letzteren  als  »labmen  Arnim«,  den 
ersteren,  einen  bekannten  Feinscbmecker,  als  »Eücbenamim«.  In  ähnlicher  Weise 
unterschied  man  die  drei  Manteuffel:  den  Ministerpräsidenten,  seinen  Bruder  den 
Mhdsterialdirektor,  der  später  das  landwirtschaftliche  Ministerium  leitete,  und 
ihren  Vetter  den  Flügeladjutanten  als:  Oberteufel,  Unterteufel  (später  Ackerteufel) 
uid  FlflgehtofeL 


78  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

zunächst  nicht  beteiligt.  Er  hatte  damals  als  Minister  des  Innern 
vollauf  zu  tun,  fand  aber  doch  noch  Zeit,  sich  sehr  eingehend  mit 
den  auswärtigen  Angelegenheiten  zu  beschäftigen  und  unterhielt  weit 
ausgedehnte  Verbindungen  mit  Männern  der  verschiedensten  Lebens- 
Stellung  und  Parteirichtung,  z.  B.  mit  dem  früheren  sächsischen 
Minister  von  Zeschau,  mit  Hansemann,  Georg  Beseler,  Ludwig  Hahn, 
mit  dem  berüchtigten  Witt  von  Dörring  und  vielen  anderen.  Auch 
die  Prinzessin  von  Preußen  hat  im  Juli  1850  in  einem  längeren 
Schreiben  ihre  Ansichten  und  ihre  Besorgnisse  über  die  politische 
Lage  Preußens  ausgesprochen.  Am  fleißigsten  unter  den  Brief- 
schreibern ist  der  Geheime  Legationsrat  Kupfer,  ein  früherer  Beamter 
des  auswärtigen  Ministeriums,  der  in  ländlicher  Zurückgezogenheit 
lebte,  dann  wieder  sich  längere  Zeit  in  Berlin,  in  Paris  aufhielt, 
überall  mit  scharfem  Blick  die  politischen  Ereignisse  verfolgte  und 
immer  bemüht  war,  sie  in  ihrem  geschichtlichen  Zusammenhange 
zu  erfassen.  Er  war  ein  Mann  der  strengsten  konservativen  Ge- 
sinnung, etwas  einseitig  in  seiner  unbedingten  Abneigung  gegen  die 
Ideen  der  »Professoren  und  politischen  Empiriker«,  im  übrigen  von 
gesundem  Urteil  und  gründlicher  Kenntnis  der  europäischen  Verhält- 
nisse. Die  zahlreichen  Denkschriften,  mit  denen  er  im  Laufe  der 
Jahre  alle  Fragen  der  auswärtigen  Politik  begleitete,  boten  ManteufPel 
ein  vorzügliches  Mittel  sich  zu  unterrichten.  In  der  Zeit  vom  Juli 
1849  bis  zum  Oktober  1850  sandte  er  acht  Denkschriften  über  die 
deutsche  Frage. 

Einen  anderen  und  zwar  etwas  seltsamen  Charakter  tragen  die 
Berichte  des  > politischen  Agenten«  Spiegelthal  und  des  nassauischen 
Hofrates  Forsboom  Brentano.  Ueber  Spiegelthal  schreibt  Manteuffel 
im  Juni  1849,  er  könne  keine  Garantie  dafür  übernehmen,  ob  der- 
selbe ein  Ehrenmann  sei,  aber  er  erhalte  von  ihm  bisweilen  gute 
Nachrichten,  ohne  ihm  jemals  zu  antworten.  Im  Oktober  und 
November  1849  war  Spiegelthal  in  Wien  und  wurde  diesmal  von 
Manteuffel  »mit  Instruktion  versehen«.  Er  besuchte  verschiedene 
Minister.  Schmerling  sprach  ihm,  wie  er  berichtet,  die  Hoffnung 
aus,  daß  Manteuffel  Ministerpräsident  würde,  er  sei  gern  bereit,  mit 
ihm  in  »brieflichen  freundschaftlichen  Verkehr  zu  treten«.  Brück 
freut  sich  zu  hören,  daß  Manteuffel  seiner  mit  Teihiahme  gedächte, 
er  wies  auf  die  Vorteile  hin,  welche  der  Eintritt  Gesamtösterreichs 
in  den  Zollverein  für  Preußen  haben  werde:  >Oesterreich  biete  den 
Ueberfluß  seiner  gesamten  Erblande«,  > Preußen  werde  stets  billiges 
Brot,  mithin  keine  Revolution  mehr  haben  <.  Als  Spiegelthal  gegen 
Schwarzenberg  die  Ansicht  äußerte:  >von  der  Ernennung  Manteuffels 
zum   Ministerpräsidenten  würde    ein   rasches   Eingehen   in   die  so 


Denkwürdigkeiten  des  Frh.  Otto  von  Manteuffel,  hn.  von  H.  von  Poschinger.      79 

kräftige  und  konsequente  österreichische  Politik  zu  erwarten«  sein, 
sah  ihn  Schwarzenberg  fragend  an  und  sagte  alsdann  rasch  und 
scharf:  >Der  Minister  Yon  Manteuffel  geht  aber  noch  recht  flott  mit.c 

Brentano  >arbeitete  in  Wien  an  der  Herstellung  eines  Einver- 
nehmens zwischen  Oesterreich  und  Preußen.«  Er  schrieb  hierüber 
gleichzeitig  an  Manteuflfel  und  an  General  yon  Gerlach,  ließ  aber 
diesen,  wie  er  ausdrücklich  bemerkt,  von  seiner  Verbindung  mit 
Manteuffel  nichts  wissen.  Am  10.  Juli  1850  berichtet  er  Manteuffel 
über  eine  Unterredung  mit  Schwarzenberg.  Er  schreibt  unter  anderem: 
>Der  Fürst  erkennt  vollkommen  Ihre  Gesinnungen  an  und  zählt  auf 
dieselben.  Er  würde  Sie  am  liebsten  allein  an  der  Leitung  des 
Staatsschiffes  sehen.  . .  Ich  habe  bei  dem  Fürsten  ein  großes  Ver- 
trauen in  Ew.  Exe.  hervorzurufen  vermocht  und  er  zählt  darauf, 
bald  Ihre  spezielleren  Ansichten  durch  mich  mitgeteilt  zu  bekommen.  < 
Man  wird  Manteuffel  nicht  für  jedes  Wort  solcher  Unterhändler  ver- 
antwortlich machen  können,  aber  auffallend  ist  es  doch,  daß  er  in 
einer  Zeit  ernstlicher  Spannung  zwischen  Preußen  und  Oesterreich 
derartige  Verbindungen  mit  den  österreichischen  Ministern  anknüpfte 
und  sie  geheim  zu  halten  suchte.  Gerlachs  Briefe  von  demselben 
Berichterstatter  scheinen  anderer,  rein  sachlicher  Art  gewesen  zu 
sein;  er  übersendet  gelegentlich  einen  Brief  Brentanos  an  Manteuffel; 
daß  dieser  ihm  auch  seine  Briefe  mitgeteilt  habe,  wird  nirgends  er- 
wähnt Noch  weniger  wird  er  sie  Brandenburg  und  Radowitz  gezeigt 
haben. 

Wenn  Manteuffel  der  Begründung  eines  Bundesstaats  im  all- 
gemeinen zustimmte,  so  gefiel  ihm  doch,  wie  wir  aus  Leopold  v.  Gerlachs 
Denkwürdigkeiten^)  wissen,  die  Art  nicht,  in  der  Radowitz  diese 
Politik  betrieb,  namentlich  war  er  unzufrieden  mit  dem  Bundes- 
vertrage  vom  26.  Mai  1849  und  hat  sich  darüber  wiederholt  gegen 
Gerlach  ausgesprochen.  An  dem  Erfurter  Reichstage  nahm  Manteuffel 
als  Vertreter  eines  Berliner  Wahlkreises  teil,  er  hat  sich  anfangs 
sehr  zurückgehalten  und  wurde  vom  Könige  in  einem  energischen 
Briefe  an  seine  Pflicht  erinnert.  Ueber  die  wachsende  Spannung  mit 
Oesterreich  im  Frühjahr  1850  belehren  uns  die  Berichte  Edwin 
Manteuffels,  der  vom  Könige  nach  Wien  geschickt  war.  Die  Gefähr- 
lichkeit der  Lage  bestimmte  den  Minister  Manteuffel  jetzt  stärker 
mit  seinen  Ansichten  hervorzutreten.  Im  Juli  und  im  September 
hat  er  mehrmals  lebhaften  Widerspruch  gegen  die  Fortsetzung  der 
Unionspolitik  erhoben;  am  9.  August  legte  er  in  einem  ausführlichen 
Schreiben  an  den  König  seine  Ansichten  dar  und  stellte  seine  Ent- 

l)  Q«rUch,  I,  890.  416.  448.  449.  461. 


80  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

lassung  anheim.  Während  der  fünf  Wochen,  in  denen  Radowitz  an 
der  Spitze  des  auswärtigen  Ministeriums  stand,  wollte  Manteufifel 
dreimal  den  Abschied  erbitten,  ließ  sich  aber  durch  Gerlach  und 
Brandenburg^)  bewegen,  damit  noch  zu  warten.  Als  Brandenburg 
am  31.  Oktober  aus  Warschau  zurückkehrte,  kam  es  rasch  zur  Ent- 
scheidung. Radowitz  mußte  zurücktreten,  Manteuffel  wurde  sein 
Nachfolger  und  bald  auch  Präsident  des  Ministeriums. 

Ueber  die  Vorgänge  im  November  bis  zu  Manteuffels  Reise  nach 
Olmütz  und  zum  Abschluß  der  Olmützer  Punktation  am  29.  November 
liegen  einige  Schriftstücke  vor,  welche  zwar  Sybels  Darstellung  nicht 
verändern,  aber  den  Zwiespalt  im  Ministerium  und  einige  andere 
Punkte  etwas  heller  beleuchten:  Briefe  des  Königs  an  Ladenberg, 
Manteuffel  und  Stockhausen,  des  letzteren  an  Manteuffel,  ein  Polizei- 
bericht über  die  Aufregung  in  Berlin,  ein  Bericht  des  Regierungs- 
präsidenten von  Westphalen  über  die  Mobilmachung  und  die  an  1813 
erinnernde  allgemeine  Begeisterung,  ferner  ein  Brief  Niebuhrs,  der 
für  seine  und  seiner  Freunde  Anschauung  kennzeichnend  ist.  Es 
heißt  darin:  »Ich  würde  den  Krieg  wünschen,  wenn  nicht  Radowitz 
und  der  Prinz  von  Preußen  wären.  Aber  durch  diese  beiden  Personen, 
fürchte  ich,  werden  wir  der  Revolution  überliefert.  < 

Mit  dem  November  1850  beginnt  die  zweite  >  Preußens  aus- 
wärtige Politikc  betitelte  Veröffentlichung  Poschingers.  Sie  bringt 
zuerst  einige  Stücke,  die  sich  auf  die  gespannte  Lage  zur  Zeit  der 
Olmützer  Verhandlungen  beziehen.  Gleich  am  30.  November,  un- 
mittelbar nach  dem  Eintreffen  von  Manteuffels  Bericht  über  den  Ab- 
schluß des  Vertrages  zeichnete  der  König  seine  Erwägungen  über 
denselben  auf)  und  entschloß  sich,  ihn  zu  genehmigen,  obgleich 
Manteuffel  seine  Instruktion  weit  überschritten  hatte.  Manteuffels 
gefahrvolles  Zugeständnis  der  sofortigen  vollständigen  Abrüstung 
Preußens,  während  die  Gegner  erst  nachher  und  nur  teilweise  ihre 
Rüstungen  einzuschränken  brauchten,  wird  in  der  Aufzeichnung  des 
Königs  nur  kurz  als  >  Beginn  des  gegenseitigen  Desarmierens<  ge- 
streift. Das  größte  Gewicht  legt  der  König  auf  den  sofortigen  Zu- 
sammentritt der  freien  Konferenzen,  >des  Hauptpunktes  unserer 
Negotiationen  seit  mehr  denn  Jahresfrist  .  .  .  und  zwar  nicht  in 
Wien,  sondern  in  Dresden«.  In  diesen  Konferenzen  hoffte  er  jetzt, 
nachdem  die  populären  Versuche  gescheitert  waren,  seine  Wünsche 
für  die  Reform  des  deutschen  Bundes  durchzusetzen.  Er  hatte  in 
Warschan  den  Eintritt  der  österreichischen  Gesamtmonarchie  in  den 

1)  Brandenburg  an  Manteuffel.  Warschau,  27.  Oktober  1850.  Denkwürdig- 
keiten, I,  287. 

2)  Aosw.  Pol.  I,  82/38. 


Denkwürdigkeiten  des  Frh.  Otto  von  M&ntenffel,  hrs.  von  H.  von  Poschinger.      81 

Band  zugesagt  unter  der  Bedingung  völliger  Parität  zwischen 
Preußen  und  Oesterreich,  einer  gemeinsamen  Exekutive  dieser  beiden 
Staaten  und  der  Anerkennung  des  Unionsrechtes.  Von  dem  letzteren 
war  in  Dresden  nicht  weiter  die  Rede.  Auch  die  Frage  der  Parität 
suchte  Oesterreich  vorläufig  hinzuziehen,  um  sie  erst  später  zu  er- 
ledigen. Zunächst  wollte  es  den  Gesamteintritt  durchsetzen  und  die 
Form  der  Exekutive  regeln,  die  letztere  aber  nicht  allein  mit  PreuOen 
übernehmen,  sondern  noch  andere  deutsche  Staaten,  namentlich  die 
Mittelstaaten,  daran  beteiligen.  Dadurch  entstand  die  Gefahr,  daß 
Preußen  überstimmt  und  gezwungen  werden  könnte,  seine  ganze 
Kraft  in  den  Dienst  Oesterreichs  zu  stellen.  Sehr  geschickt  trat  der 
preußische  Bevollmächtigte  Graf  Alvensleben  diesen  Bestrebungen 
entgegen  und  wurde  hierbei  von  Manteufifel  kräftig  unterstützt. 
Schließlich  erkannte  es  Preußen  als  das  beste,  mit  seinen  Bundes- 
genossen ohne  weiteres  wieder  in  den  Bundestag  einzutreten.^) 
Fürst  Schwarzenberg  war  hierüber  sehr  unwillig,  er  bezeichnete  jetzt 
die  früher  von  Oesterreich  geforderte  >  Rückkehr  zum  alten  Bundes- 
tage c  als  tein  schmähliches  testimonium  paupertatis  für  die  deutschen 
Regierungen<  ^,  doch  blieb  ihm  nichts  übrig  als  sich  zu  fügen. 
Oesterreich  mußte  dankbar  sein,  daß  Preußen  ihm  einen  Ersatz 
für  die  gescheiterte  Hoffnung  bot,  mit  seinem  gesamten  Besitz  in 
den  Schutz  des  deutschen  Bundes  zu  treten,  indem  Preußen  diesen 
Schutz  auf  drei  Jahre  übernahm  durch  ein  Bündnis,  das  am  16.  Mai 
in  Dresden  unmittelbar  nach  dem  Schluß  der  Konferenzen  unter- 
zeichnet wurde. 

Ueber  diese  Verhandlungen  erhalten  wir  wichtige  Aufschlüsse 
durch  Manteufiels  Briefwechsel  mit  Alvensleben  und  mit  dem  Prinzen 
von  Preußen.    Der  letztere  war  sehr  besorgt  über  den  Gesamteintritt 
Oesterreichs.    Manteuffel  erwiderte   ihm,   daß  er  bei  voller  Gleich- 
berechtigung und   bei   gemeinsamer   Führung  der  Angelegenheiten 
keine  Gefahr  darin  erkenne,  während  andrerseits  >das  Auseinander- 
iallen  der  österreichischen  Gesamtmonarchie  oder  der  Austritt  des 
ganzen  Oesterreichs  aus  dem  deutschen  Bunde  <  Gefahren  und  Nach- 
teile bringen  würde.    Der  Prinz  aber  glaubte,  daß  der  Gesamteiotritt 
nur  möglich  gewesen   wäre   neben   der   von    Preußen  begründeten 
Union  und  in  Verbindung   mit  dieser.     Er  schrieb   am   25.  März: 
»Der  Warschauer  Proposition  lag  immer  der  Gedanke  zugrunde,  daß 
Oesterreich  und  ein  moralisch  einiges  Deutschland  unter  Preußens 
Führung  (Union)  sich  neben  einander  in  Union  stellen  würden.    So 

1)  Enndschreiben  vom  27.  März  1851.    Denkwürdigkeiten  I,  868. 

2)  Schwarzenberg  an  Manteuffel.    17,  M&rz  1851.    Ausw.  Pol.  I,  131. 

0««^  1*1.  Ans.  1906.  Hr.  1.  6 


82  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

wie  jetzt  Oesterreich  seinen  Gesamteintritt  versteht,  heiOt  es  etwas 
ganz  anderes:  es  will  mit  37  Millionen  an  die  Spitze  Deutschlands 
treten  .  . .  und  dann  Preußen  und  alle  deutschen  Staaten  nach  seiner 
Pfeife  tanzen  lassen  und  deren  Militärkräfte  bundesmäßig  dahin  auf- 
bieten, wo  seine  Administration  Aufstände ,  Revolutionen  u.  s.  w.  er- 
zeugt, c  Dem  Einverständnisse  des  Königs  liege  die  Idee  des  Im- 
periums zugrunde,  er  denke  durch  diesen  Antrag  >zu  seiner  Lieblings- 
idee du  moyen  äge<  zu  gelangen.  Den  Gedanken  der  Riickkehr 
zum  Bundestage  begrüßte  der  Prinz  mit  Freuden.  >Preußen<,  schrieb 
er  am  20.  April,  >muß  sich  glücklich  schätzen,  von  seiner  Warschauer 
Versprechung  durch  die  Rückkehr  zum  Bundestag  losgekommen  zu 
sein,  denn  ohne  Union  in  Deutschland  ist  der  Gesamteintritt  Oester- 
reichs  in  den  Bund  Preußens  Tod,  d.  h.  Mediatisierung<.^) 

Auch  für  die  bald  darauf  beginnenden  Verhandlungen  über  den 
Eintritt  Oesterreichs  in  den  Zollverein  und  die  Erneuerung  der  1854 
ablaufenden  Zollvereinsverträge  erhalten  wir  wertvolle  Mitteilungen. 
Hervorzuheben  sind  die  Berichte  des  Gesandten  in  Hannover  über 
die  politischen  Strömungen  daselbst  und  über  die  Frage,  ob  das 
glücklich  erreichte  Zollbündnis  mit  Hannover  nach  dem  Tode  des 
Königs  Ernst  August  aufrecht  erhalten  werde.  Der  Handelsminister 
ist  mit  dem  hannoverschen  Vertrage  nicht  einverstanden,  er  fürchtet 
davon  Nachteile  für  die  Entwickelung  der  preußischen  Industrie,  läßt 
sich  aber  durch  Manteuffel  beschwichtigen.')  Der  König  ist  besorgt 
über  Manteuifels  sehr  bestimmtes  Auftreten^)  gegen  die  Zollvereins- 
staaten und  läßt  ihn  mehrmals  durch  Niebuhr  zur  Nachgiebigkeit 
auffordern.^)  Dagegen  mahnt  der^Prinz  von  Preußen  zur  Festigkeit. 
So  schreibt  er  am  23.  September  1852:^)  >Um  alles  in  der  Welt 
seien  Sie  standhaft  gegen  den  König.«  Manteuffel  blieb  auch  in  der 
Sache  fest,  in  der  Form  zeigte  er  sich  versöhnlicher  und  erlangte 
jetzt  einen  vollständigen  Erfolg.  Oesterreich  verzichtete  einstweilen 
auf  den  Eintritt  in  den  Zollverein,  während  Preußen  versprach,  nach 
sechs  Jahren  aufs  neue  darüber  in  Verhandlung  zu  treten;  vorläufig 
sollte  ein  Handelsvertrag  abgeschlossen  werden.  Zu  diesem  Zwecke 
kam  der  Minister  Brück  nach  Berlin,^  man  verständigte  sich,  und 

1)  Aasw.  Pol.  I,  186.  138.  149. 

2)  Denkwürdigkeiten  II,  8  f. 

3)  Depeschen    Manteaffels    über    den   Abbrach    der  Yerhandhuigen    vom 
27.  September  und  8.  Oktober  1852.    Denkw.  U,  208  f. 

4)  Denkw.  II,  107  f. 
6)  Ausw.  Pol.  I,  437. 

6)  Berichte  des  Generalstenerdirektors  von  Pommer-Escbe  über  die  Yerhand« 
langen  mit  Brack.    Denkw.  ü,  290f. 


Denkwürdigkeiten  des  Frh.  Otto  von  Manteoffel,  hn.  von  H.  von  Poschinger.      83 

nun  konnte  der  Zollverein  auf  weitere  zwölf  Jahre  erneuert 
werden. 

Auf  Oesterreichs  Nachgiebigkeit  haben  mitbestimmend  gewirkt 
die  durch  Napoleons  Staatsstreich  erweckten  Bersorgnisse.  Manteuffel 
hatte  zunächst  den  Staatsstreich  mit  großer  Ruhe  angesehen,  er  be- 
trachtete Napoleon  als  einen  Bundesgenossen  im  Kampfe  gegen  Parla- 
mentarismus und  Revolution.  So  hat  er  sich  wiederholt  gegen  Graf 
Hatzfeldt,  den  preußischen  Gesandten  in  Paris,  ausgesprochen,  be- 
sonders warm  am  21.  Dezember  1851  in  einem  französisch  geschriebenen 
Briefe '),  den  der  Gesandte  vertraulich  in  Paris  zeigen  sollte.  Seine 
Ansicht  änderte  sich  etwas,  als  offenkundig  wurde,  daß  Napoleon  die 
Wiederherstellung  des  Kaisertums  betrieb.  Noch  mißtrauischer  als 
Manteuffel  waren  der  König  und  die  Kamarilla.  So  ging  man  auf 
die. von  Oesterreich  und  Rußland  gewünschte  Verständigung  ein;  im 
Mai  1852  wurde  ein  geheimes  Protokoll  unterzeichnet^),  durch  welches 
die  drei  Mächte  sich  verpflichteten,  in  dieser  Frage  nur  gemein- 
schaftlich zu  handeln.  Als  nachher  das  gefürchtete  Ereignis  eintrat, 
war  diese  Vereinbarung  eine  recht  lästige  Fessel.  Die  Verhandlungen 
zogen  sich  in  die  Länge  und  die  preußische  Regierung  geriet  in  Ver- 
legenheit. Man  stand,  wie  Graf  Hatzfeldt  meinte:  »nahe  am  mora- 
lischen Bruche  mit  Frankreich«.^  Manteuffel  suchte  die  Antipathie 
des  Königs  zu  überwinden,  er  hat  durchgesetzt,  daß  die  Anerkennung 
in  verbindlicher,  würdiger  Form  erfolgte.^) 

In  betreff  der  orientalischen  Frage  lernen  wir  jetzt  Manteuffels 
Ansicht  genauer  kennen,  vornehmlich  aus  seiner  Privatkorrespondenz 
mit  dem  Gesandten  in  Wien.  Schon  im  Dezember  1853  hat  sich 
Manteuffel  ganz  deutlich  dahin  ausgesprochen,  daß  er  die  Neutralität 
Preußens  für  undurchführbar  halte,  daß  Preußen  sich,  wenn  es  wirk- 
lich zum  Kriege  komme,  den  Westmächten  anschließen  müsse.  Außer- 
dem ist  von  großem  Wert,  daß  wir  etwas  näheres  über  einen  von 
Oesterreich  in  den  letzten  Tagen  des  Februar  1854  vorgeschlagenen 
Vertrag  erfahren,  durch  den  Preußen  sich  nicht  nur  gegen  Oesterreich, 
sondern  auch  gegen  die  Westmächte  an  die  Vertretung  der  in  den 
Wiener  Konferenzen  beschlossenen  Punkte  binden  sollte.^)  Dieser 
Vertrag  wird  von  Sybel  nicht  erwähnt,  man  wußte  von  ihm  nur  durch 
Andeutungen  in  Gerlachs  Aufzeichnungen  und  an  anderen  Stellen. 
Jetzt  kann  man  diese  besser  verstehen,  man  erkennt  auch,   daß 

1)  Ausw.  Pol.  I,  296. 

2)  Ausw.  Pol.  IT,  6. 

3)  Ausw.  Pol.  II,  30. 

4)  Die  Depeschen  hierüber :  Denkw.  II,  276  f. 

5)  Denkw.  II,  401. 

6* 


84  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

die  Verhandlung  über  diesen  Vertrag  zur  Entscheidung  in  einer  oft 
besprochenen,  bisher  nicht  ganz  aufgeklärten  Erisis  der  inneren 
Politik  wesentlich  beigetragen  hat.  Seit  dem  Juli  1853  suchte  der 
König  den  gemäßigtsten  Teil  der  Liberalen,  die  Partei  des  Preußischen 
Wochenblattes,  für  die  Unterstützung  seiner  inneren  Politik  zu  ge- 
winnen. Mit  besonderem  Eifer  arbeitete  er  daran  im  Februar  1854. 
Die  Führer  dieser  Partei  Bethmann- Hollweg,  Usedom,  Pourtales 
wurden  von  ihm  ausgezeichnet,  dem  letzteren  versprach  er  die  Stelle 
des  Unterstaatssekretärs  im  auswärtigen  Ministerium  —  sehr  gegen 
den  Wunsch  Manteuffels,  der  sich  nach  einem  möglichst  farblosen, 
gefügigen  Unterstaatssekretär  umsah. ^)  Noch  am  3.  März  sprach  der 
König  davon,  Manteuffel  zu  entlassen,  am  Morgen  des  4.  > während 
dem  Ka£fee<  wurde  Pourtales,  der  sitsh  beim  Könige  melden  ließ, 
abgewiesen;  der  König  ließ  ihm  sagen,  er  könne  ihn  nicht  sprechen. 
Dann  schalt  der  König  auf  die  Leute,  die  bei  Usedom  zusammen- 
kämen und  sagte  zu  Gerlach:  >er  habe  Manteuffel  sehr  stark  seine 
Meinung  gesagt  und  ihm  befohlen,  Pourtales  fortzuschicken,  weil  er 
eine  andere  Ansicht  als  die  des  Königs  habe<.  Am  folgenden  Tage 
wurde  Bethmann-Hollweg  zwar  empfangen,  aber  > furchtbar  angefahren«. 
Gerlachs  Partei  konnte  triumphieren,  die  >Bethmänner<  waren  ge- 
stürzt, der  König  war  für  die  Rechte  zurückgewonnen.  Gerlach  war 
sich  nicht  klar  darüber ,  welche  Ursachen  diesen  Umschwung  herbei- 
geführt hatten,  noch  im  August  bemerkt  er  bei  einem  Rückblick  auf 
jene  bewegten  Tage,  die  Gründe  seien  ihm  unbekannt.') 

Offenbar  dachte  der  General,  als  er  diesen  Satz  niederschrieb, 
nur  an  die  inneren  Verhältnisse,  an  den  Kampf  gegen  die  Revolution, 
der  sein  Denken  beherrschte,  und  vergaß  darüber  einen  Augenblick 
die  durch  jenen  von  Oesterreich  vorgeschlagenen  Vertrag  hervor- 
gerufene Aufregung.  Wie  aus  seinen  eigenen  Aufzeichnungen  her- 
vorgeht, wollte  die  Bethmann-Hollwegsche  Partei  den  König  zur  An- 
nahme dieses  Vertrages  bestimmen ;  Usedom  arbeitete  ein  Promemoria 
aus,  »das  von  der  Ansicht  ausging,  Preußen  dürfe  sich  nicht  isolieren 
und  müsse  daher  der  Konvention  beitreten  c ;  am  3.  März  hat  Manteuffel 
dies  Promemoria  sowohl  Bismarck  wie  Gerlach  vorgelesen,  er  hat 
sich  damit  einverstanden  erklärt  und  war  bereit,  den  Vertrag  zu 
unterzeichnen.  Der  König  wollte  davon  nichts  wissen,  er  sagte  dem 
Minister  »sehr  stark  seine  Meinung c.  Dies  muß  am  3.  März  ge- 
schehen sein  und  war  durch  Manteuffels  Hinneigung  zu  den  West- 
mächten, durch  seine  Zustimmung  zu  Usedoms  Promemoria  veranlaßt 

1)  Au8W.  Pol.  U,  239  und  273. 

2)  Gerlach  II,  89.  107.  114-117.  139.  195.  Vergl.  auch  Gerlachs  Brief  an 
Bismarck  vom  25.  Febr.  1854. 


Denkwürdigkeiten  des  FrL  Otto  von  Manteoffel,  hn.  von  H.  von  Poschinger.      85 

In  der  inneren  Politik  hätte  der  König  vielleicht  der  Bethmann- 
Hollwegschen  Partei,  mit  der  er  seit  acht  Monaten  unterhandelte, 
einige  Zugeständnisse  gemacht,  aber  in  eine  ganz  andere  Richtung 
wollte  er  sich  nicht  drängen  lassen.  Manteuffel  fügte  sich  dem 
Willen  des  Königs,  am  4.  beklagte  er  zwar  noch,  daß  Preußen  durch 
ein  iNeinc  aus  dem  Konzert  der  Mächte  heraustrete,  aber  am 
5.  März  meldete  er  nach  Wien,  daß  Preußen  den  Vertrag  ablehne. 

Der  König  hatte  jetzt  die  Leitung  der  auswärtigen  Politik  selbst 
in  die  Hand  genommen.  Er  schloß  mit  Oesterreich  das  Schutzbündnis 
vom  20.  April,  durch  das  er  Oesterreich  vom  Angriffskriege  gegen 
Rußland  zurückhalten  wollte,  um  so  die  Neutralität  Deutschlands  zu 
sichern.  An  dieser  Neutralität  hat  er  festgehalten,  freilich  nicht 
ohne  viele  Schwankungen.  Denn  Oesterreich  hat  immer  neue  Ver- 
suche gemacht,  von  Preußen  und  vom  deutschen  Bunde  oder  doch 
wenigstens  von  einem  Teile  der  deutschen  Staaten  weitergehende 
Versprechungen  zu  erhalten,  die  Westmächte  haben  diese  Bemühungen 
lebhaft  unterstützt  und  dadurch  mancherlei  Sorgen  und  Aufregungen 
am  preußischen  Hofe  hervorgerufen. 

In  diesen  späteren  Stadien  der  Verhandlungen  hat  Manteuffel 
mit  seiner  abweichenden  Meinung  möglichst  zurückgehalten,  nur  ab 
und  zu,  wenn  die  Besorgnisse  des  Königs  vor  Isolierung,  vor  Gewalt- 
maßregeln der  Westmächte  besonders  lebhaft  waren,  hat  er  zum 
näheren  Anschluß  an  diese  geraten,  so  im  Dezember  1854  und  im 
März  1855.  Sonst  hat  er  sich  begnügt,  die  nicht  immer  klaren 
und  bisweilen  einander  widersprechenden  Gedanken  des  Königs  zu 
vertreten  und  auszuführen.  >Er  schwankt  selbst  mit  den  Schwan- 
kungen des  ganzen  Schiffes  <,  sagt  Gerlach  von  ihm^),  während  er 
sonst  in  dieser  Zeit  sehr  mit  ihm  zufrieden  ist.  >  Manteuffel  ist  auf 
dem  besten  Wegec;  > Warum  ist  Manteuffel,  der  bei  dem  Vertrage 
vom  20.  April  so  schwach  war,  jetzt  so  vernünftig  und  kräftig? < 
>Manteuffel  ist  sehr  gut<,  heißt  es  in  verschiedenen  Notizen  Gerlachs 
aus  dem  Juli,  aus  dem  August  1854  und  aus  dem  März  1855.  Fast 
ohne  Widerspruch  sah  der  Minister  zu,  wie  der  König,  manchmal 
geradezu  hinter  seinem  Rücken,  durch  eigenhändige  Briefe  und 
Sondergesandtschaften  mit  den  fremden  Souveränen  verhandelte.  Sein 
Aerger  darüber  tritt  in  den  vertraulichen,  oft  ironisch  gefärbten 
Privatschreiben  an  die  ständigen  Gesandten  bei  eben  diesen  Höfen 
deutlich  hervor.  Ihm  und  den  Gesandten  war  dies  häufige  unmittel- 
bare Eingreifen  des  Königs,  waren  > diese  doppelten  und  parallelen 
Verhandlungen  <  sehr  unbequem.    Sie  sind  deshalb  äußerst  zurück- 

1)  Gerlach,  II,  363. 


86  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  1. 

haltend  gegen  die  Nebengesandten  gewesen  und  haben  sich  nicht 
gerade  bemtiht,  sie  zu  fördern.  Zwei  dieser  Sondergesandten,  General 
von  Wedell  und  Geheimrat  von  Usedom,  die  ein  halbes  Jahr  lang 
der  eine  in  Paris,  der  andere  in  London  gewesen  waren,  ohne  irgend 
etwas  ausrichten  zu  können,  wollten  Manteuffel  für  ihre  Mißerfolge 
verantwortlich  machen  und  beschwerten  sich  im  Juli  1855  beim 
Könige,  daß  der  Minister  ihre  Bemühungen  durchkreuzt  habe.  Einen 
vollen  Beweis  dafür  vermochten  sie  nicht  zu  erbringen.  Der  König 
begnügte  sich  schließlich,  nachdem  sich  die  Sache  fast  zwei  Jahre 
lang  hingezogen  hatte,  mit  Manteu£fels  Antwort  und  suchte  die 
Beschwerdeführer  durch  die  Verleihung  hoher  Orden  zu  beruhigen.^) 

Fast  unmittelbar  auf  die  Beendigung  des  Krimkrieges  folgte  der 
Streit  über  Neuenburg,  in  welchem  der  König  anfangs  sehr  leiden- 
schaftlich auftrat.  Manteu£fel  suchte  mäßigend  auf  ihn  zu  wirken 
und  ihn  zu  bewegen,  daß  er  sich  mit  dem  Erreichbaren  begnügte. 
Zu  diesem  Zwecke  hat  er  auch  Bismarcks  Hülfe  erbeten'),  während 
ihm  sonst  dessen  häufige  Berufung  nach  Berlin  meist  recht  pein- 
lich war. 

In  den  inneren  Verhältnissen  war  durch  den  Gang  nach  Olmütz 
und  das  Aufgeben  des  nationalen  Gedankens  eine  Veränderung  ein- 
getreten, die  reaktionäre  Partei  hatte  den  Sieg  gewonnen.  Von  den 
Ministem  war  Brandenburg  gestorben,  Radowitz  gestürzt,  Ladenberg 
zurückgetreten.  Der  Ersatz  entsprach  den  Wünschen  der  äußersten 
Rechten.  Vergebens  suchte  dann  Manteu£fel  den  Uebereifer 
Westphalens,  den  Pietismus  Raumers  in  Schranken  zu  halten,  da 
der  König  aut  ihrer  Seite  stand  und  ihren  Bestrebunben  seine  volle 
Sympathie  zuwandte.  In  sehr  vielen  Punkten  hat  Manteuffel  nach- 
gegeben, er  hat  zuletzt  die  Dinge  gehen  lassen,  da  er  ihren  Lauf 
nicht  'ändern  konnte.  Bisweilen  ist  er  fest  geblieben,  er  hat  nicht 
zugegeben,  daß  die  Verfassung  aufgehoben  und  durch  einen  könig- 
lichen Freibrief  ersetzt  wurde.  Es  hieße  die  Geduld  der  Leser  über 
Gebühr  in  Anspruch  nehmen,  wenn  diese  bereits  zu  lang  gewordene 
Anzeige  auch  noch  die  vielen  Streiflichter  erläutern  wollte,  die  auf 
einzelne  Punkte  in  Manteuffels  Kampf  gegen  die  Kamarilla  und  die 
von  ihr  unterstützte  Kreuzzeitung,  die  auf  das  in  hoher  Blüte 
stehende  Spioniersystem  fallen,  oder  wenn  sie  auf  die  große  Zahl 
von  Personen  einginge,  über  die  interessante  Einzelheiten  mitgeteilt 
werden.  Es  sind  bedeutende  Männer  darunter  wie  der  Seehandlungs- 
Präsident  Bloch,  Konstantin  Frantz,   Markus  Niebuhr,  aber  auch 

1)  Ausw.  Pol.  m,  148.  215  f  308.  337  f. 

2)  Manteofifel  an  Bismarck,  19.  Jan.  1857.    Denkw.  III,  149  f. 


Denkwürdigkeiten  des  Frh.  Otto  Ton  Mantenffel ,  hrs.  von  H.  von  Potchinger.      87 

manche  Leute  recht  zweifelhafter  Art.  Im  Publikum  war  viel  die 
Rede  von  einem  Agenten  Levinstein,  der  mit  verschiedenen  Staats- 
männern in  Verbindung  stand,  z.  B.  an  Manteuffel  über  Unterredungen 
mit  Kaiser  Napoleon,  mit  österreichischen  Ministern  berichtete*), 
der  sich  später  an  Bismarck  heranzudrängen  suchte.  Man  erzählte, 
daO  Manteu£fel  durch  seine  Vermittlung  an  der  Börse  spekuliere 
und  so  seine  Kenntnis  der  politischen  Verhältnisse  ausnutze,  man 
sprach  von  sehr  bedeutenden  Summen,  die  der  Minister  hierdurch 
gewonnen  habe.  Auf  diese  Gerüchte  bezieht  sich  Manteuffel  in  dem 
Schreiben  an  den  Prinz-Regenten  vom  5.  November  1858,^,  mit  dem 
er  die  ihm  bei  seiner  Entlassung  angebotenen  Ehren  abl^nt:  Er- 
hebung in  den  Grafenstand,  erblicher  Sitz  im  Herrenhause  für  ein 
von  ihm  zu  begründendes  Majorat  und  Rang  einer  obersten  Hof- 
charge. Das  Schreiben  ist  in  gereiztem  Tone  gehalten,  da  der 
Minister  gehofft  hatte,  auch  unter  dem  neuen  Herrscher  sein  Amt 
weiter  zu  verwalten,  obgleich  er  oft  hart  mit  ihm  zusammengeraten 
war  und  wußte,  daß  der  Prinz  andere  Ziele  verfolgte.  In  diesem 
Schreiben  heißt  es:  >Was  auch  für  böswillige  Gerächte  über  mich 
verbreitet  worden  sind ,  mein  Vermögen  ist  ein  sehr  mäßiges.  Ich 
habe  während  meiner  Anstellung  als  Minister  für  etwa  160000  Thaler 
Güter  gekauft.  . . .  Darauf  habe  ich  aus  dem  Vermögen  meiner  Frau 
etwa  50000  Thaler  und  aus  dem  meinigen  und  Erspamngen  30000 
Thaler  bezahlt;  den  Rest  verschulde  ich.  Das  ist  kein  Besitztum, 
welches  dem  Grafentitel  und  einem  erblichen  Sitze  im  Herrenhause 
entspräche. €  Die  Gerüchte,  denen  Manteuffel  mit  solcher  Offenheit 
entgegentritt,  wurden  damals  allgemein  für  wahr  gehalten,  Gerlach 
und  Bismarck  sprechen  von  ihnen  wie  von  einer  bekannten  Tatsache, 
auch  der  Prinz -Regent  hat  Manteuffel  offenbar  für  sehr  viel  reicher 
gehalten,  als  er  nach  seinen  eigenen  Angaben  war. 

Berlin.  Paul  Goldschmidt. 


1)  Denkw.  m,  234.  285. 

2)  Denkw.  H,  336. 


88  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  1. 


Julias  Goldstein,  Die  empiristische  Geschichtsaaffassang  David 
Harnes,  mit  Berücksichtigung  moderner  methodischer  und 
erkenntnistheoretischer  Probleme.  Eine  philosophische  Studie. 
Leipzig,  Dürrsche  Verlagsbuchhandlung,  1903.    57  S.    1,60  M. 

Hume  ist  in  seiner  Geschichtsauffassung  Aufklärer  ohne  die 
Vorzüge  der  übrigen  Aufklärer.  Diese,  besonders  Voltaire,  stehen 
zwar  der  Vergangenheit  ebenfalls  kritisch  gegenüber,  aber  sie  haben 
ein  Kulturideal,  während  Hume  an  ein  solches  ebenso  wenig  glaubt, 
wie  an  (jiie  Dogmen  der  Konfessionen.  Er  kennt  auch  keine  Ent- 
wicklung des  Menschen,  sondern  hält  eine  beschränkte  Anzahl  von 
Motiven  —  hierin,  wie  Referent  zu  bemerken  sich  erlaubt,  Schopen- 
hauer sehr  ähnlich  —  für  die  unabänderlichen  Quellen  seines  Handelns. 
So  hat  ihm  die  Geschichte  nur  den  Wert,  > einmal  den  gebildeten 
Leser  in  seiner  Phantasie,  Tugend  und  seinem  Wissen  auf  angenehme 
Weise  zu  bereichern  und  dann  psychologisches  Material  zu  geben 
zu  einer  Erkenntnis  der  Menschen c  (S.  53). 

Dies  alles  hat  Goldstein  mit  guter  Kenntnis  der  Literatur  sorg- 
fältig nachgewiesen.  Nur  die  Schrift  von  Göbel,  das  Philosophische 
in  Humes  Geschichte  von  England,  Marburg  1897,  hat  Goldstein 
nicht  berücksichtigt,  obgleich  sie  sein  Thema  sehr  nahe  berührt. 

Goldstein  hält  den  Empirismus  überhaupt  für  unfähig  die  Ge- 
schichte über  >die  öde  Zusammenhangslosigkeit  und  Getrenntheit 
aller  Dinge«  zu  erheben.  Dies  zu  entscheiden  ist  hier  nicht  der 
Ort.  Was  aber  Hume  betrifft,  so  glaubt  Referent,  daß  sein  Empi- 
rismus und  seine  Kausalitätslehre  weniger  schuld  sind  an  seiner 
Stellung  zur  Geschichte,  als  seine  mangelhafte  Psychologie  und  seine 
geringe  Einsicht  in  die  in  der  Gesellschaft  tätigen  Kräfte,  von  denen 
er  nur  Gewalt  und  Aberglauben  sieht. 

Leipzig.  Paul  Barth. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Rudolf  Meißner  in  Göttingen. 


Februar  1906.  No.  2. 


Korfes  iBAskriltler  Indtil  SeformatloneB  adgiTne  for  Det  Nonke  Historiske 
Kfldeskriftfond.  Forste  Afdeling:  Korges  Lidtkriller  med  de  »14re 
Raner  udgivne  ...  Ted  Sophus  Bngge.  Bd.  1.  Christiaiua  1891—1903. 
VIII,  458  S.  —  Bd.  2,  Heft  1,  S.  461—596,  ebenda  1904.  -  Indledning,  Heft  1, 
128  S.,  ebenda  1905.    4<>. 

Der  Plan  dieses  weit  ausgreifenden  Werkes,  auf  dem  Umschlage 
des  ersten  Heftes  entworfen,  verspricht  drei  Abteilungen,  von  denen 
die  erste,  die  norwegischen  Inschriften  mit  den  älteren  Runen  um- 
fassend, von  Sophus  Bugge,  die  dritte  mit  den  Inschriften  Norwegens 
in  lateinischen  Buchstaben  von  Ingvald  Undset  bearbeitet  werden 
sollte,  während  die  zweite,  die  norwegischen  Inschriften  mit  den 
jüngeren  Runen  enthaltend,  als  gemeinsames  Unternehmen  Undsets, 
Andres  und  Bugges  gedacht  war. 

Ausführlichere  sprachliche  Erläuterungen  waren  nur  für  die  erste 
Abteilung  in  Aussicht  genommen,  die  beiden  anderen  sollten  in 
wesentlich  kürzerer  Form  behandelt  werden. 

Als  vorbereitendes  Heft,  nicht  eigentlich  als  Beginn  der  zweiten 
Abteilung,  ist  bisher  nur  die  Inschrift  des  Steines  von  H0nen, 
Ringerike,  herausgegeben  von  S.  Bugge,  Ghristiania  1902,  veröffent- 
licht worden. 

Der  Abschluß  der  ersten  Abteilung  war  1898  mit  dem  fünften 
Hefte  geplant,  1900  mit  dem  sechsten,  doch  wurde  1903  bei  Aus- 
gabe dieses  der  Plan  dahin  abgeändert,  daß  mit  dem  sechsten  Hefte 
der  erste  Band  der  Abteilung  geschlossen  würde,  sowie  daß  die 
Nachträge,  Anhänge,  die  allgemeinen  Bemerkungen,  die  Register  und 
Berichtigungen  zu  einem  zweiten  unter  Mitwirkung  Magnus  Olsens 
herausgegebenen  Bande  gestaltet  würden,  der  die  Seitenzählung  des 
ersten  fortsetzend,  nur  äin  Heft  ausmachen  sollte.  Da  sich  aber 
1904  herausstellte,  daß  die  Nachträge  und  Berichtigungen  allein  ein 
Heft  füllen,  wurde  der  Rest  des  zu  bietenden  auf  ein  zweites  Heft 
verspart. 

1905  erschien  dazu,  mit  neuer  Paginierung  anhebend,  das  erste 
Heft  einer  Einleitung,  die  sich  mit  der  Herkunft  und  ältesten  6e- 

Oftti.  f*l.  Abi.  1906.  Nr.  S.  7 


90  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

schichte  der  Runenschrift  befaßt  und  die  Probleme  des  Buches  von 
Ludv.  F.  A.  Wimmer,  Die  Runenschrift,  Berlin  1887,  von  neuem  auf- 
rollt. Die  Mitarbeiterschaft  M.  Olsens,  deren  Umfang  eine  Anmerkung 
S.  412  bestimmt,  setzt  bei  Nununer  34  im  sechsten  Hefte  ein.  Als 
fertiggestellt  ist  demnach  gegenwärtig  nur  der  erste  Band  zu  be- 
trachten, zu  dem  Titelblatt  und  Inhalt  erschienen  sind,  und  auf  diesen 
Band  will  sich  der  nachstehende  Bericht  vorläufig  beschränken,  wobei 
aber  allerdings  die  1904  hierzu  nachgetragenen  neuen  Auffassungen 
Bugges  nicht  außer  Acht  gelassen  werden  dürfen. 

Eine  besondere  Würdigung  der  noch  nicht  vollendeten  Einleitung 
und  der  überhaupt  noch  ausständigen  allgemeinen  Bemerkungen  muß 
einer  späteren  Zeit  vorbehalten  bleiben. 

Man  würde  dem  Verdienste  dieses  großen,  mit  andauernder 
Forschertreue  gepflegten  Werkes  nicht  im  gebührenden  Maße  gerecht 
werden,  wenn  man  es  nur  nach  den  Hauptergebnissen,  das  ist  der 
Feststellung  des  Textes  und  der  Zeit,  der  grammatischen  und  inhalt- 
lichen Erklärung  der  behandelten  Denkmäler  Norwegens,  42  Nummern 
im  ersten  Bande,  schätzte  und  nicht  vielmehr  auch  die  eingefügten 
Erörterungen  und  Ausläufe  in  sein  Urteil  einschlösse,  die  reichen 
Funde  auf  grammatischem  und  antiquarischem  Gebiete,  die  dem  Ver- 
fasser im  Flusse  der  Arbeit  gelangen,  die  Deutungen  zahlreicher 
älterer  und  jüngerer  nordischer,  angelsächsischer  und  deutscher 
Runendenkmäler,  die  als  kostbarer  Nebengewinn  der  vergleichenden 
Tätigkeit  dieses  umsichtigen  und  immer  mit  dem  Aufwände  des  ge- 
samten Rüstzeuges  der  Forschung  schaffenden  Gelehrten  sich  ein- 
stellten. Man  würde  aber  auch  geradezu  unrecht  tun,  wenn  man 
darauf  ausginge,  die  Verschiedenheiten  der  Auffassung  in  der  Lesung 
und  Deutung  der  Inschriften  herauszuheben,  zu  denen  Bugge  im 
Laufe  der  Jahre  gelangt  ist,  die  er  uns  nicht  vei^schweigt,  sondern 
stets  nachbessernd  mitteilt,  unrecht,  wenn  man  in  kritischer  Nach- 
weisheit aus  ihnen  den  Mangel  fester  Ergebnisse  ableiten  wollte. 

Ein  Werk,  das,  wie  das  vorliegende,  sich  über  drei  Lustra  er- 
streckt, das  sich  unter  Aufopferung  von  Zeit  und  Bemühungen  so 
vielfach  erst  die  Grundlagen  seiner  Darstellung  selbst  bereitet,  hat 
vollen  Anspruch  darauf  als  ein  geschichtlich  gewordenes  betrachtet 
zu  werden,  das  volle  Hingabe  des  Lesenden  an  den  führenden  Inter- 
preten heischt  und  kritische  Erwägungen  'zwar  gewiß  zuläßt,  doch 
niemals  ohne  die  klare  Einsicht  der  weitgehenden  Abhängigkeit  des 
eigenen  Urteils  von  dem  des  vorausschaffenden  Meisters. 

Die  Verdienste  des  Werkes  völlig  auszuschöpfen,  seine  Ergeb- 
nisse als  nett  gerundete  Schauware  herauszustellen,  zu  allen  an- 
geschlagenen Themen  kritische  Stellung  zu  nehmen  und  allesfalls 


Norges  Indskrifter  med  de  sldre  Roner.  91 

abweichende  Anschauungen  zu  begründen,  ist  dem  Berichterstatter 
nicht  möglich,  namentlich  dann  nicht,  wenn,  was  ja  erforderlich  wäre, 
zu  den  einzelnen  Punkten  auch  die  einschlägige  Literatur  heran- 
gezogen und  abgewogen  würde. 

Es  ist  innerhalb  eines  Referates,  das  sich  in  zulässigen  Baum- 
grenzen bewegt,  nur  möglich  die  Hauptergebnisse  zu  skizzieren,  sie 
kritisch  zu  beleuchten  und  über  die  behandelten  Denkmäler  als  solche 
das  notwendigste  zu  sagen.  Volle  Freiheit  der  Benutzung,  die  immer 
ein  Studium  sein  wird,  nicht  eine  glatte  Entgegennahme  von  Resul- 
taten, wird  dem  Werke  erst  erwachsen,  wenn  die  Indices  erschienen 
sein  werden,  die  das  Aufschlagen  der  zu  irgend  einer  Frage  mit- 
geteilten Bemerkungen  Bugges  in  handlicherer  Weise  ermöglichen 
werden,  als  dies  gegenwärtig  nach  den  auf  den  Umschlägen  der 
Hefte  gedruckten  Verweisen  geschehen  kann.  Die  Behandlung  der 
einzelnen  Artikel  zeichnet  sich  durch  nichts  übersehende  Ausführ- 
lichkeit und  peinlichste  Sorgfalt  aus.  An  der  Spitze  derselben  findet 
sich  regelmäßig  ein  Verzeichnis  der  gedruckten  und  handschriftlichen 
Literatur  nebst  der  Angabe,  ob  Bugge  das  Stück  selbst  gesehen  und 
untersucht  habe,  dann  folgen  Fundgeschichte  und  antiquarische  Be- 
schreibung der  Fundumstände,  Transliterierung  der  Inschrift,  in  der 
Regel  Zeichen  für  Zeichen  gegeben,  Deutung,  endlich  Textgestaltung 
und  Uebersetzung.  Von  außerordentlichem  Werte  sind  die  nicht 
kärglich  gespendeten  Abbildungen,  Wiederholungen  älterer  Dar- 
stellungen sowohl,  als  neue :  Gesamtansichten  der  Gegenstände,  Papier- 
abdrücke, Aufnahmen  des  Inschriftenfeldes  in  photograpischen  Repro- 
duktionen mit  aller  erreichbaren  Deutlichkeit  und  Genauigkeit 
wiedergegeben.  Die  Zeitbestimmung  der  einzelnen  Inschriften  ist 
immer  ein  Ergebnis  umfassender  Erwägungen  des  sprachlichen  und 
palaeographischen  Charakters,  der  Verwandtschaft  mit  anderen  bereits 
bestimmten  Inschriften,  der  begleitenden  archäologischen  Merkmale. 
Gegenständlich  scheiden  sich  die  Träger  der  Inschriften  in  Denksteine, 
die  entweder  unter  freiem  Himmel  errichtet  waren,  oder  einen 
Bestandteil  der  Ummauerung  des  Grabgewölbes  ausmachten  —  dazu 
kommen  ein  paar  Wandinschriften  in  gewachsenem  Fels  — ,  in  Gold- 
brakteaten  und  in  Schmuckstücke,  Waffenteile,  Geräte  zum  täglichen 
Gebrauche,  wie  das  Kammfragment  von  Nedre  Hov  oder  der  Senk- 
stein von  F0rde. 

Ich  bespreche  im  folgenden  die  einzelnen  Inschriften  nicht  in 
der  Reihenfolge  des  Werkes,  sondern  in  Gruppierungen,  die  ich 
nach  Gegenständen  und  innerhalb  derselben  wieder  nach  dem  Alter 
der  Inschriften  und  nach  ihrem  textlichen  Charakter  zusammen- 
stelle. 

7* 


92  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  2. 

Die  Sammlung  wird  mit  der  verhältnismäßig  umfangreichen 
und  belangreichen  Inschrift  des  Steines  von  Tune  als  Nr.  1  er- 
öffiiet. 

Dieser,  in  der  Literatur  seit  1627  bekannt,  ist  ein  auf  den  zwei 
Breitseiten  beschriebener  Obelisk  aus  rotem  Granit  von  1.92  m  Höhe 
über  der  Erde  und  0.64  m  (a)  beziehungsweise  0.71m  (b)  Breite  an 
der  Basis.  Seine  Spitze  ist  abgebrochen  und  die  als  b  bezeichnete 
Seite  weist  unterhalb  der  Inschrift  eine  große  Abschälung  auf,  ohne 
daß  doch  —  das  ergibt  sich  aus  den  restierenden  Distanzen  der 
Zeilenanfänge  bis  zum  Bruche  —  die  erste  und  zweite  Zeile  dieser 
Seite  dadurch  textliche  Einbuße  erlitten  haben  dürften. 

Die  Inschrift  der  Seite  a,  transliteriert  und  in  Worte  geteilt: 
ek  wiwan  after  wodari  (r.)  |  de  witadahalalban:  worahto:  r[anoB]  (1.) 
endet  mit  der  abgeschnittenen  oberen  Ecke  einer  Rune,  besonders 
dargestellt  S.  522 ,  die  ja  allerdings  nach  ihrer  Konfiguration  nicht 
nur  einem  r,  sondern  auch  einem  w  oder  b  angehören  könnte,  die  aber 
mit  Rücksicht  auf  den  zu  erwartenden  Sinn,  sowie  auf  die  Verbindung 
wurte  runoB  Tjurkö,  runoR  waritu  Järsberg  (Varnum)  schon  von 
Munch  als  Rest  eines  r  bestimmt  wurde.  Die  beiden  Zeilen,  deren 
Grundlinien  zur  Längenachse  des  Steines  parallel  laufen ,  stehen  zu- 
einander im  ßoootpofTjSöv-Verhältnisse  und  sind  so  geordnet,  daß  die 
Inschrift  am  rechten  Rande  vom  Beschauer  ungefähr  auf  der  Höhe 
des  oberen  Viertels  des  unversehrt  gedachten  Steines  beginnt,  auf 
der  Höhe  des  unteren  Viertels  umwendet  und  in  der  zweiten  Zeile 
bis  zur  verlorenen  Spitze  des  Steines  läuft.  Im  Ausschnitte  über- 
setzt ergibt  sie  den  Text  >ich  Wiwas  nach  Wodurid,  dem  .  .., 
machte  die  Runen«. 

Die  Inschrift  der  Seite  b  besteht  aus  drei  gleichfalls  den  Stein 
entlang  laufenden  Zeilen,  deren  untere  Enden  auf  der  Höhe  etwa  des 
zweiten  Fünftels  von  unten  liegen;  sie  lauten  transliterjert  und  ein- 
geteilt: arbQa  siJosteB  arb^ano  (r.)  |  pr^oa  dohtria  daiidan  (}.)  \ 
[afte]B  wodaride:  stalna:  ///  (1.). 

Von  ihnen  stehen  1  und  2  im  ßooGtpo^tjSöv- Verhältnisse,  2  und  3 
in  dem  der  Umschrift,  1  und  3  in  dem  der  Umwendung  um  die  als 
Axe  gedachte  Grundlinie  und  sind  so  geordnet,  daß  1  im  linken  Felde 
vom  Beschauer  unten  beginnt,  sich  der  Kante  mehr  und  mehr  nähernd 
hinanläuft,  2  von  oben  nach  unten  zurückkehrt,  doch  so,  daß  die 
Umwendestelle  nicht  auf  gleicher  Höhe  mit  dem  Ende  von  1  sich 
befindet,  sondern  diesem  gegenüber  um  drei  Runen  ausgerückt 
erscheint,  daß  endlich  3  auf  der  Höhe  des  unteren  Endes  von  2 
beginnend  sich  bis  zum  oberen  Bruche  des  Steines  erstreckt,  wo  sie 
möglicherweise  einen  Verlust  erfahren  hat. 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  98^ 

Der  durch  die  Abschälung  bedingte  Verlust  dieser  dritten  Zeile 
am  unteren  Ende  läßt  die  Fußabschnitte  von  fünf  geradlinigen  Hasten 
unberührt,  siehe  die  Abbildung  S.  522,  die  sowohl  auf  Grund  ihrer 
Distanzen,  als  auch  mit  Bezug  auf  das  alter  wodaride  der  Seite  a 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit  zu  '*'afteR  ergänzt  werden  können.*) 
Ob  vor  diesem  Worte  noch  weiterer  Verlust  anzunehmen  sei,  läßt 
sich  aus  dem  Steine  selbst  nicht  ausmachen.  Was  die  textliche 
Folge  dieser  drei  Zeilen  betrifft,  deren  Sinn  im  Groben  skizziert: 
>da8  Erbe  die  ...  sten  der  Erben  |  drei  Töchter  teilten  |  nach 
Wodurid  den  Stein  . .  .<  ist,  muß  bemerkt  werden,  daß  einer  Folge 
1,  2,  3  der  Umstand  ungttnstig  ist,  daß  sowohl  der  in  1  hinter  dem 
0  noch  verfügbare  Raum  nicht  genutzt  erscheint,  daß  femer  die  Um- 
wendestelle einer  ßoooTpo^iQSöv-Zeile  auf  gleicher  Höhe  mit  der  vor- 
hergehenden erwartet  wird,  daß  endlich  die  Kurve  von  1  falls  sie 
durch  das  Vorherbestehen  der  Kurve  von  2  bestimmt  ist ,  sehr  wohl 
als  angestrebter  Zeilenanschluß  erklärt  werden  kann,  während  man, 
wenn  1  die  erstgeschriebene  Zeile  wäre,  erwarten  müßte,  daß  sie 
vielmehr  eine  geradlinige  Parallele  zur  Kante  eingehalten  hätte. 
Eine  Folge  mit  2  als  dritter  Textzeile,  also  1,  3,  2  oder  3,  1,  2  ist 
ebenso  graphisch  wie  textlich  unmöglich  und  eine  Folge  2,  3,  1,  die, 
dann  allerdings  komplet  und  keiner  Ergänzung  bedürftig,  stalna  als 
Objekt  zu  dalldan  erforderte,  nicht  eben  textlich  undenkbar,  wohl 
aber  graphisch  wieder  deshalb  unwahrscheinlich,  weil  sie  die  Kurvatur 
der  Grundlinie  von  2,  die  ja  durch  1  nicht  bestimmt  sein  könnte, 
unerklärt  ließe.  Wäre  überhaupt  2  die  erstgeschriebene  Zeile,  so 
müßte  man  verlangen,  daß  sie  eine  zur  Längsachse  des  Steines 
parallele  Gerade  eingehalten,  mindestens  angestrebt  hätte.  Aus  dem- 
selben Grunde  ist  auch  eine  Folge  2,1,3,  der  unter  Umständen 
textlich  nichts  entgegenstünde,  abzulehnen  und  es  erübrigt  nur  die 
Folge  3,  2,  1,  die  die  Kurven  von  2  und  1  erklärt,  eine  Umwende- 
stelle von  3  zu  2  auf  gleicher  Höhe  zuläßt,  wenn  das  hinter  stalna 
folgende  Wort  geteilt  war,  und  die  bei  dem  o  der  Zeile  1  ein  natür- 
liches Ende  des  Textes  vor  dem  Ende  des  noch  verfügbaren  Raumes 
findet. 

Für  diese  Zeilenfolge,  deren  einzige  Härte  darin  besteht,  daß 
der  Text  mit  einer  linksgewendeten  Zeile  beginnt,  entscheidet  sich 

1)  Noreen ,  An.  gramnL  I',  S.  345 ,  vermutet  einen  Personennamen  im  Nom. 
und  nimmt  den  folgenden  Dativ  als  absoluten,  von  keiner  Präposition  regierten. 
Es  ergibt  sich  aus  der  Abbildung  bei  Bugge,  S.  519,  daß  dieser  hypothetische 
Name  auf  -iJt  ausgelautet  haben  müßte,  da  wegen  der  geringen  Distanz  zum 
letzten  Buchstaben  Y  zwar  eine  Endung  -in,  nicht  aber  eine  Endung  -aR  paläo- 
graphisch  zulässig  ist 


94  Gott.  gel.  Anz.  190<>.  Nr.  2. 

auch  Bugge  S.  36  und  ebenso  S.  520—521,  nur  daß  er  hier  Zeile  b3 
als  unmittelbare  textliche  Fortsetzung  von  a  2  betrachtet,  den  Verlust 
eines  Verbums  des  >Errichtens<  auf  die  Seite  a  verlegt  und  den 
Abschnitt  {»r^OB  bis  arbQano  als  selbständigen  Satz  auffaßt. 

Nun  kann  man  ja  allerdings  nicht  beweisen,  daß  die  abgebrochene 
Spitze  des  Steines  nicht  so  hoch  gewesen  sei,  um  außer  den  vier 
mangelnden  Buchstaben  von  r[unoÄ\  auch  noch  für  die  Ergänzung 
Bugges  *Jah  sato  >und  setzte<  auf  WitvaR  bezogen  Raum  zu  ge- 
währen, aber  ich  muß  gestehen,  daß  mir  die  ganze  auf  diese  Art 
gewonnene  Textierung  *ek  Wiwan  after  Woduride  .  . .  worahto  runoB 
jah  sato  aftes  Woduride  staina  nicht  den  Eindruck  des  Stilrichtigen 
macht,  daß  mir  die  Wiederholung  des  >post  Voduridum<  im  zweiten 
Satze  ebenso  anstößig  erscheint,  als  das  Verlassen  der  Konstruktion : 
persönliche  Bestimmung,  Verbum,  Objekt  im  ersten,  aber  Verbum, 
persönliche  Bestimmung,  Objekt  im  zweiten,  koordinierten  Satze. 
Außerdem  bindet  die  Konjunktion  iah,  Järsberg  (Vamum),  und  an- 
genommen emch  jah y  Kragehul,  Subjekte  und  Objekte,  nicht  Sätze. 
Wenn  man  also  schon  mit  Bugge  annähme,  daß  der  Name  zweimal 
gesetzt  sei,  weil  er  auch  auf  der  Kehrseite  erscheinen  sollte,  und 
seinem  zweiten  Vorschlage  der  asyndetischen  Anreihnng  des  zweiten 
Satzes  an  den  ersten  sich  anschlösse,  so  würde  man  doch  vielmehr 
*afteR  Woduride  staina  sato  auszufüllen  geneigt  sein  und  diesen  Satz, 
der  ja  gleichfalls  die  syntaktische  Stellung  des  vorhergehenden  nicht 
wiederholte,  als  prosaischen  Anhang  der  Verse  der  Seite  a  betrachten. 
Der  Voraussetzung  aber,  die  Bugges  Erklärung  letzterhand  notwendig 
erheischt,  daß  die  Inschriften  der  beiden  Seiten  nicht  von  verschiedenen 
Männern  und  zu  verschiedenen  Zeiten,  sondern  von  £inem  und  gleich- 
zeitig angefertigt  seien,  wird  man  nicht  ungerne  beitreten,  da  sie 
einem  schwierige  und  unfruchtbare  paläographische  Erwägungen  über 
den  angeblich  verschiedenen  Schriftcharakter  der  beiden  Inschrift- 
seiten wohltätig  erspart.  Doch  muß  man  sich  dann  freilich  ent- 
schließen dem,  was  Bugge  S.  24  hierüber  gesagt  hat,  den  Wert  zu- 
treffender Beobachtung  nicht  mehr  beizumessen. 

Im  Texte  der  Seite  a  bedarf  zunächst  die  Apposition  wüadaha" 
laiban,  Bugge  S.  15  ff.,  zum  Namen  des  Bestatteten  einiger  Worte. 

Bugge  hat  sich  schon  vor  seiner  gegenwärtigen  Veröffentlichung 
für  ein  Kompositum  ^witada-hlaiha  entschieden,  dessen  erster  Teil, 
germ.  *tviteäa-,  von  ihm  als  eine,  nur  hinsichtlich  des  Suffixvokales 
verschiedene  Doublette  zu  got.  witöp  n.,  in  Komposition  toüoda-  be- 
ansprucht, dessen  zweiter  Teil  mit  got.  gahlaiba  >oo(i.|ta^T)D{c,  aootpa- 
Titt>n]c<,  ahd.  galeipo  >sodalis<  gleichgesetzt  wird,  nur  daß  im  urnord. 
Sekundärkompositum  das  Präfix  ga-  ebenso  unterdrückt  sei,  wie  in 


Norges  Indskrifter  med  de  asldre  Runer.  95 

ahd.  orrüno  oder  noistallo.  Die  ursprüngliche  Auffassung  Bugges 
war  die  der  reinen  Gleichung  des  urnord.  mtaäa-  mit  got.  witoda^ 
und  darauf  kommt  er  auch  S.  199  wieder  zurück  mit  der  Erklärung, 
daß  der  zweite  Vokal  des  Wortes  im  Kompositum  schwächer  betont 
gewesen  sein  könne,  als  die  übrigen  erhaltenen  nebentonigen  o  in 
sijosteR,  worahto,  prijoa,  arbijano.  S.  511  ist  aber  Bugge  die  Hand- 
habe dieser  Begründung  wieder  entglitten,  da  ihm  die  S.  199  vor* 
getragene  Erklärung  des  Komplexes  tiade,  Bracteat  von  Aagedal,  als 
aisl.  tjddi,  das  wäre  ahd.  *gizehöta,  nicht  mehr  aufrecht  steht.  Ich 
muß  zunächst  betonen,  daß  germ.  Abstrakta  auf  -^  durch  das  S.  17 
verglichene  got.  faheps  nicht  bewiesen  werden  können,  da  die  Neben- 
form faJieids,  mit  I  im  Suffixe,  wohl  auf  ein  Kontraktionsprodukt  aus 
ja  hinweist,  dieses  Abstraktum  also  zu  einem  Verbum  *fdhjan  gehören 
wird,  wie  fulleip  Akk.  Marc.  4,  28  zu  fulljan.  Ferner  möchte  ich  be- 
achtet wissen ,  daß  ahd.  Entsprechungen  des  bezeugten  got.  Wortes 
then  uuieeut  »eam  legem  <  und  theru  sdveru  uuijgjsidi  >eadem  lege<, 
beide  in  Trierer  Capitulare,  einen  Kurzvokal  zeigen,  dessen  Abkunft 
aus  älterem  S  doch  durch  uuizssod  Is.,  dcu^  uuiha  uuiessod  Lorscher 
Beichte,  uuieodhroth  Monseer  Matthaeus  gesichert  wird. 

Man  wird  demnach  anzunehmen  haben,  daß  die  Quantität  des 
Suffixvokales,  die  in  der  got.  Orthographie  allerdings  als  einheit- 
liche Länge  ö  erscheint,  in  der  gesprochenen  Sprache  unter  gewissen 
Bedingungeü  der  Tonschwächung,  wie  gerade  in  der  dreisilbigen 
Themaform  zu  Kürze  ö,  also  witöda-  reduziert  werden  konnte. 

Darauf  beruht  dann,  zugleich  mit  Abfärbung  des  Vokales  urnord. 
*witäda-  wie  an.  mdnapr  zu  got.  menopSj  wogegen  die  erhaltenen  o 
in  den  übrigen  Fällen  der  Inschrift,  also  auch  in  sijbsthn,  sicher 
Nebenton  besitzen  und  Länge  bewahren. 

Auch  sachlich  scheint  mir  der  urnord.  *witadaMaiba  aus  den 
Stellen  des  Trierer  Capitulares  Licht  zu  empfangen  und  als  >is  qui 
eadem  lege  uiuit«  definiert  werden  zu  sollen.  Das  Wort  enthält 
gleich  den  thie  theru  selveru  uutjgzidi  leven  theru  er  selvo  levü  dieser 
Quelle  einen  politisch-rechtlichen  Begriff,  während  Bugge  von  got. 
drauhtiwitop  >otpat8[a<  und  der  zweiten  Bedeutung  von  gahlaiba 
beeinflußt  S.  17  und  21  die  Bedeutung  als  »Kriegskamerad«  formu- 
liert, was  voraussetzte,  daß  entweder  das  einfache  urnord.  witada- 
den  Begriff  des  got.  (/a-Kompositums  übernommen  hätte,  oder  daß 
das  vollere  urnord.  Kompositum  sich  in  seiner  begrifflichen  Ent- 
wicklung gleich  dem  einfacheren  got.  gahlaiba  verhielte.  >Kamerad< 
schlechthin  verteidigt  Bugge  noch  S.  512,  wogegen  nur  einzuwenden 
ist,  daß  dieses  Wort,  wenigstens  im  Nhd.,  zu  familiär  und  abgegriffen 
klingt,  als  daß  es  den   >qui  eadem  lege  uiuit<   bezeichnen  könnte. 


96  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Eine  Uebersetzung  wie  »Standesgenossec,  lat.  >coIlega<  möchte  wohl 
vorzuziehen  sein. 

Bugges  Gleichung  des  -Maiba  im  urnord.  Kompositum  mit  dem 
volleren  bahuvrihischen  got.  gahlaiba  kann  nicht  angetastet  werden, 
denn  nicht  nur  finden  sich  im  ahd.  innerhalb  der  Sekundärkomposition 
wie  orkiruno  >  auricular  ins  <  zu  girüno  Graff  2,  525  und  notgistallo 
ebenda  6 ,  674  die  entsprechenden  vereinfachten  Bildungen  ohne  gi-, 
sondern  die  Unterdrückung  des  Präfixes  kann  sogar  am  einfachen 
Kompositum  wie  ahd.  stallo  >der  Genosse«  ebenda  6,  679  oder  mhd. 
sdle  Rother  für  gesdle  eintreten. 

Daß  Bugge  S.  511  v.  Friesens  Erklärungsversuch  *witand(Maiba 
nicht  zu  teilen  vermag,  ist  vollkommen  begreiflich.  Die  graphische 
Möglichkeit  nd  zu  lesen  hat  er  ja  allerdings  selbst  schon  1894, 
S.  199  Note  2,  angedeutet,  aber  das  spätere  nordische  Vergleichs- 
material partizipialer  Zusammensetzungen  stimmt  als  ganze  Kategorie 
nicht  zu  dem  urnord.  Kompositum. 

Den  Vokal  des  Personennamens  Wiwan ,  zu  dem  Veblungsnses  in 
Wiwüa  eine  Deminutivform  bietet,  erklärt  Bugge  S.  12  als  lang,  da 
kurz  T  durch  das  folgende  a  zu  e  umgelautet  worden  wäre.  Daß 
dieser  Name  auch  im  zweiten  Teile  des  got.  Älauiuus  vertreten  sei, 
ist  glaublich,  ebenso  aber  auch  in  den  northumbr.  Namen  auf  -uio 
(auch  -wiu),  Bugge  S.  322  nach  PBB  18,  412—13,  und  dazu  füge 
ich  noch  ags.  *Merewio  im  Beowulf.  Gehört  dieses  vermutliche 
Nomen  agentis  zu  got.  weihan  >{jLdx6o^at< ,  Verbalstamm  *u^9i  so 
entsprechen  die  germ.  Komposita  hinsichtlich  der  Bedeutung  wohl 
den  griechischen  auf  -txaxoc.  Formell  aber  müßte  man  das  Element 
^tottoa-  als  sekundäre  Maskulinbildung  zu  einem  Femininum  *ueiqäy 
nicht  als  Fortsetzung  eines  vorgerm.  Maskulinum  ^ueiqö-  betrachten, 
da  vorgerm.  q  im  germ,  vor  dunklem  Vokal  die  Labialisierung  ver- 
liert, dagegen  vor  hellem  Vokal  und  a  beibehält.  Dieses  Femininum 
könnte  wohl  als  erster  Teil  in  den  deutschen  Personennamen  Wtomad, 
Viorad^Wiufrid  Fm.  Nbch.  II*  1621,  26  gelegen  sein  und  der  isolierte 
urnord.  Wtwas  wäre  dann  wohl  eher  für  eine  aus  einem  Kompositum 
abgezogene  Kurzform,  als  für  ein  ursprüngliches  Appellativum  an- 
zusprechen. 

Den  zweiten  Teil  des  Namens  *  Wöäur^aR  erklärt  Bugge  S.  14—15 
als  Nomen  agentis  zum  Verbum  > reiten«,  auch  in  späteren  nordischen 
Namen  wie  Ätridr  bezeugt.  Den  ersten  Teil  faßt  er  als  Adjektiv. 
Ich  wäre  eher  geneigt  wöäu-  als  germ.  ^u-Abstraktum  zu  betrachen. 

Die  Auffassung  von  after  als  Präposition  >post<,  die  der  Ueber- 
setznng  S.  21  zugrunde  liegt,  hält  Bugge  S.  23,  wo  er  den  Text  der 
Seite  a  in  zwei  Langverse  gliedert,  aus  metrischen  Gründen  für  ver- 


Norges  Indskiifter  med  de  eldre  Rnner.  97 

werf  lieh,  so  daß  er  daselbst  lieber  an  das  Adverbinm  >postea<  denkt. 
Es  ist  zu  beachten,  daß  sich  das  Adverbium  »nachher«  mit  Bugges 
zuletzt  gegebener  Erklärung  der  ganzen  Inschrift  nicht  verträgt, 
weil  es  den  Parallelismus  der  beiden  after  Woduride  aufhebt  und 
außerdem  textlich  auf  ein  vorhergehendes  Bezug  nimmt,  während 
doch  nach  Bugges  letzter  Beurteilung  der  Satz  eJcWiwas  . . .  toorahto  . . . 
der  erste  der  ganzen  Inschrift  wäre.  Sehr  wohl  aber  verträgt  sich  das 
Adverbinm  an  dieser  Stelle  mit  meiner  im  folgenden  darzulegenden 
Anordnung  des  Textes.  Interessant  ist  die  Beobachtung  Bugges  S.  19, 
daß  das  Verbum  > wirken«,  zu  dem  toorahto  die  umord.  1.  sing,  praet. 
ist,  in  der  isl.  Literatursprache  nur  von  Metallarbeit  und  von  poeti- 
scher Leistung  (vgl.  nhd.  Verse  schmiden!)  gilt.  Ich  finde  darin 
eine  Stätze  für  meine  Ansicht,  daß  das  umord.  plurale  tantum  rünöR 
gleich  dem  lat.  plurale  tantum  Utterac  als  »inschriftlicher  Texte  oder 
lat.  >titulus<,  die  Bindung  *ranöR  wuricjan  also  gleich  »titulum 
facere«  zu  verstehen  sei. 

Die  Wörter  der  Seite  b  bestimmt  Bugge  S.  24  ff.  auf  Grund  aus- 
führlicher Erwägungen  in  folgender  Weise :  arUjano  ist  Gen.  pl.  des 
swm.  got.  arhja^  ahd.  erpeo,  afries.  erva,  an.  ar/f;  sijosteR  ist  Nom. 
pl.  eines  Superlativs,  dessen  Endung  dem  got.  -östai^  an.  -astir  ent- 
spricht;  arbija  ist  entweder  thematische  Form  in  einem  Kompos. 
arbijasijosteB*  oder  Akk.  sing,  des  Neutrums  got.  arbi,  ahd.  erbij  afries. 
erve,  an.  erfi,  das  letztere  nur  in  Compositis  mit  seiner  ursprünglichen 
Bedeutung  erhalten.  prijoR  ist  Nom.  fem.  des  Zahlwortes  »drei<, 
an.  ßriar,  ahd.  drio,  ags.  preo,  dohtrxR  ist  echter  konsonantischer  Nom. 
pl.  des  umord.  Wortes  für  > Tochter«  entsprechend  der  späteren 
nord.  Pluralform  detr,  dalidun  ist  die  3.  pl.  praet.,  an.  deiläu,  die 
got  ^dailidedun  lauten  würde.  [aftejR  Woduride  ist  Präposition  mit 
dem  von  ihr  abhängigen  Personennamen  und  staina  endlich  der  Akk. 
sing,  des  urnord.  Wortes  für  »Stein«. 

Grammatisch  bezieht  Bugge  S.  29 ,  wo  er  die  Inschrift  noch  als 
lückenlos  erhalten  ansieht,  staina  als  Objekt  zu  dalidun,  was  zur 
Folge  hat,  daß  arhija-sijosteR  als  Kompositum  verstanden  werden 
müßte,  sowie  daß  die  Inschrift  in  der  Zeilenfolge  1,  2,  3  gelesen 
würde;  S.  33  aber,  da  ihm  diese  Beziehung  des  Objektes  unbe- 
friedigenden Sinn  gibt,  das  vermeintliche  Kompositum  überhaupt 
verdächtig  geworden  ist  und  die  Inschrift  nicht  mehr  als  vollständig 
erhalten  gilt,  verbindet  Bugge  arbija  als  Objekt  zu  dalidun. 

Die  Monophthongierung  dalidun  für  *dailidun  bespricht  Bugge 
S.  28.  In  sijosteR  erblickt  Bugge  S.  34  ein  Versehen  des  Steinmetzen 
für  richtigeres  *sHjosteR  zu  einem  dem  ahd.  sippe,  mnd.  sibbe,  afries. 
und  ags.  sib  entsprechenden  Adyektiv  mit  der  Bedeutung  >  verwandt«. 


98  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  1 

S.  515  weist  Bugge  den  Vorschlag  Läfflers  zurück,  für  den  nrnord. 
Superlativ  ein  aus  dem  Pronominalstamme  se-  erwachsenes  Adjektiv 
*8e)0'  zugrunde  zu  legen,  das  in  schwacher  Form  durch  das  afries. 
Wort  sia  > Nachkomme,  Genosse«  repräsentiert  würde. 

Es  ist  mir  auf  Grund  von  Bugges  Darlegungen  nicht  im  geringsten 
zweifelhaft,  daß  afries.  sia,  Gen.  pl.  siana  nichts  anderes  als  swm. 
Nebenform  zu  süh,  sid,  PI.  sithar  »Genosse«  mit  zwischen  vokalischem 
^-Schwund  sei  und  den  Ansatz  eines  Adj.  ^sejo-  nicht  stützen  könne. 
Aber  der  Ansatz  als  solcher  ist  durch  den  Fortfall  des  vermeintlichen 
Beleges  nicht  eigentlich  unmöglich  gemacht  und  Bugges  Entwicklung 
der  Form  mit  der  bedenklichen  Ergänzung  eines  b  dadurch  keines- 
falls zu  irgend  einem  höheren  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  erhoben. 

Ueberblicken  wir  nun  den  Inhalt  der  drei  Textzeilen  nach  seinem 
möglichen  Zusammenhange,  so  ergäbe  sich  bei  Festhaltung  der  aus 
paläographischen  Gründen  verworfenen  Folge  1,  2,  3  die  Alternative: 
>haereditatem  ...imi  haeredum,  tres  filiae  partitae  sunt  post  Vodu- 
ridum  lapidem«,  oder  >in  haereditate  ...  imi  haeredum,  tres  filiae  par- 
titae sunt  post  Yoduridum  lapidem  < ,  d.  h.  der  zweite  Abschnitt  der 
Inschrift  spräche  in  keinem  Falle  von  einer  Erbteilung  durch  die 
drei  Töchter,  sondern  vom  Erhalten  eines  Anteiles  am  Denksteine, 
vermutlich  also  auch  an  der  Grabstätte;  es  wäre  demnach  auf  eine 
in  späterer  Zeit  geschehene  Nachbestattung  der  drei  Töchter  zu 
raten.  Aber  implicite  würden  allerdings  nach  der  zweiten  Formel, 
in  der  >...imi  haeredum«  Apposition  zu  »tres  filiaec  ist,  die  drei 
Töchter  auch  als  Erben  bezeichnet,  während  nach  der  ersten  Formel 
dalidun  als  gemeinsames  Prädikat  stünde  und  die  Erben  von  den 
Töchtern  verschiedene  Personen  wären.  Bei  der  Wahl  der  paläo- 
graphisch  empfohlenen  Folge  3,  2,  1,  die  eine  auf  die  Errichtung 
des  Steines  bezügliche  Ergänzung:  *sato  Bugge,  *satiäa  Noreen, 
*satiäun  Laif  1er  notwendig  macht,  ergibt  sich  entweder  im  Sinne 
Bugges,  doch  in  anderer  Stellung,  »post  Yoduridum  lapidem  posui< 
auf  WiimR  zurückgehend  mit  folgendem  selbständigen  Satze  >tres 
filiae  partitae  sunt  haereditatem,  ...  imi  haeredum«,  wobei  die  Appo- 
sition am  Ende  wie  ein  Relativsatz  >quae  fuerunt  ...imi  haeredes« 
wirkte,  oder  im  Sinne  Noreens  >. .  .s  post  Yoduridum  lapidem  posuit« 
wieder  mit  folgender  selbständiger  Nachricht  von  der  Erbteilung, 
oder  endlich  nach  den  Möglichkeiten  der  Ergänzung  Läfflers  wiederum 
die  Alternative  >post  Yoduridum  lapidem  posuerunt  tres  filiae;  par- 
titae sunt  haereditatem  ...imi  haeredum«  mit  identischem,  oder 
stärker  interpungiert  mit  zwei  verschiedenen  Subjekten. 

Von  ausschlaggebender  Bedeutung  für  die  Beurteilung  nicht  nur 
dieser  Möglichkeiten,  sondern  des  gesamten  Textes,  sind  die  treff- 


'Sarges  Indskrifter  med  de  seldre  Raner.  99 

liehen  Bemerkungen  Söderbergs,  Bugge  S.  516,  über  das  Verhältnis 
der  beiderseitigen  Inschriften ,  dem  wesentlichen  Inhalte  nach :  die 
Runenformen  sind  die  gleichen,  nur  dafi  sie  auf  Seite  b,  wo  mehr 
Text  unterzubringen  war,  kleiner  und  weniger  sorgfältig  sind ;  es  ist 
alle  Wahrscheinlichkeit  gegeben ,  dafi  beide  Inschriften  ^inen  Text 
ausmachen.  Für  die  Anordnung  desselben  gibt  es  aber  eine  feste 
Formel,  die  in  den  jüngeren  nordischen  Inschriften  wiederkehrt  >  A  ließ 
den  Stein  nach  B  errichten;  C  schrieb  die  Runen<.  Es  ist  also  die 
Seite  b  diejenige,  von  der  aus  der  Text  zu  beginnen  ist. 

Diese  Argumentierung  ist  so  zwingend,  daß  ich  mich  für  einen 
einheitlichen  Text  mit  der  Folge  b  3,  2,  1.  a  1,  2  entscheide:  [nftejn 
Woduriäe  staina  [sälunj^)  prijoR  dohtrin;  daliäun  arbija  sijosten 
arhijano  —  ek  Wiwan  after  Woduriäe  mtaäahalaiban  wcrahto  rfunou/y 
wobei  der  Vorteil  in  die  Augen  springt,  dafi  auch  am  Text  der  Seite  b 
die  Merkmale  metrischer  Abfassung  hervortreten  und  daß  man  das 
after  der  Seite  a  in  der  Tat  ganz  sinngemäß  als  Adverbium  >postea< 
verstehen  kann.  Die  genaue  Bedeutung  des  superlativischen  Adjek- 
tivs, mutmaßlich  *sijaR  im  Positiv,  wird  uns  vielleicht  einmal  die 
Zukunft  enthüllen.  Daß  es  im  gegebenen  Falle  den  Orad  der  Erb- 
folge definiere,  scheint  ja  wohl  durchzuschimmern  und  man  könnte 
nach  Bugge  und  den  andern,  die  darüber  gehandelt  haben,  wohl 
denken,  daß  der  Superlativ  >proximi<  ausdrücke.  Aus  der  ig.  Sippe, 
ai.  syatif  sipäti,  lett.  sinu,  seju,  sit  >binden< ,  griech.  f|tAC)  &s.  simOj 
ags.  sima  >a  corde,  rope<,  ags.  sinn,  ahd.  senua  >corda,  habena«, 
aus  der  man  eine  Wurzel  $i  >binden<  abzieht,  könnte  man  auf  den 
Begriff  »coniunctus«  gelangen,  der  wiederum  leicht  in  >nahe<  über- 
gehen kann.  Aber  das  Adjektiv  muß  durchaus  nicht  >proximus< 
ausdrücken  und  uns  nicht  die  Selbstverständlichkeit  vermitteln,  daß 
die  nächsten  Erben  das  Erbe  teilen,  sondern  eher  die  Tatsache,  daß 
in  dem  gegebenen  Falle  die  Töchter  die  nächsten  Erben  sind;  es 
kann  also  hinter  dem  Ausdrucke  auch  die  Definition  der  gesetz- 
mäßigen Stellung  der  Tochter  im  Erbrechte  stecken.  Wenn  wir  uns 
mit  Bugge  S.  36  die  Erbfolge  des  Gulatings-  und  Frostatingsgesetzes : 
Sohn,  Vater,  Tochter,  Sohnessohn,  oder  des  isländischen  Gesetzes: 
Sohn ,  Tochter,  Vater,  vergegenwärtigen ,  so  ist  es  denkbar ,  daß  in 
dem  von  unserer  Inschrift  bezogenen  Falle  der  Mangel  näherer 
Erbberechtigter  nicht  bloß  vorausgesetzt,  wie   das   bei   »proximi< 

1)  So  schon  Bugge  S.  35  Note.  Ob  übrigens  *satun  oder  *8(Uidun  dem 
Dialekte  und  der  Zeit  des  Denkmals  entsprechender  sei,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. Gedacht  werden  könnte  auch  an  eine  Ergänzung  *fßorahtun,  die  zu 
Woduride  aUiterierte.  Stilistisch  will  es  mir  freilich  nicht  gefallen,  dasselbe 
Yerbum,  das  auf  Seite  a  wiederkehrt,  auch  hier  einzusetzen. 


100  Gott,  gel  Ans.  1906.  Nr.  2. 

wäre,  sondern  anmittelbar  ausgesprochen  sei,  daß  mit  einem  Worte 
sfjosteR  nicht  die  >nächsten<,  sondern  die  >letzten<  oder  auch  die 
>letztUberlebenden<  bedeute.  Ein  Adjektiv  *sijar  >posteru8<,  *8ijo8tax 
>postremas,  ultimusc  läßt  sich  von  dem  Adverbium  ahd.  sid  »po6tea<, 
an.  siä  »late«  und  Verwandten  aus  konstruieren  —  ib-Ableitung  statt 
der  dentalen !  —  und  mit  einer  Konstruktion  muß  es  überhaupt  vor- 
läufig sein  Bewenden  haben.  Zusammenfassend  glaube  ich  die  In- 
scbrÜt  des  Steines,  den  Bugge  zwischen  500  uud  550  datiert Oi 
Übersetzen  zu  dürfen:  »post  Voduridum  lapidem  posuerunt  tres  filiae; 
partitae  sunt  haereditatem ,  postremi  haeredum.  —  ego  Vivus  post 
Yoduridum  coUegam  (oder  postea  Vodurido  collegae)  feci  titulumc. 

Der  Artikel  bei  Bugge  enthält  zahlreiche  interessante  Aus- 
ffihrnngen  aber  die  umordischen  Endungen  anknüpfend  an  die  der 
besprochenen  Wörter,  über  Form  und  Gebrauch  des  proklitischen 
und  enklitischen  eJc  >ich<,  enklitisch  auch  erweitert  -eka,  über  Rektion 
und  spätere  Formen  der  Präposition  trfter,  über  älteren  und  jüngeren 
Sprachgebrauch  der  nordischen  Runeninschriften  und  schließt  S.  40 
bis  44  mit  zwei  Exkursen,  in  denen  über  neuere  differierende  Er- 
klärungen, sowie  über  die  Geschichte  der  Deutung  der  Inschrift  von 
Tune,  die  1821  mit  Wilhelm  Grimm  beginnt,  Bericht  erstattet  wird. 

Von  geringerem  sprachlichem  Umfange  ist  die  Inschrift  des  Steines 
von  Kjelevig  oder  Strand,  Bugge  Nr.  19. 

Der  Stein,  ein  Obelisk  aus  grobkörnigem  grauem  Granit,  2.20  m 
hoch  über  der  Erde  —  die  gesamte  Länge  beträgt  2.70  m  —  und 
an  der  breitesten  Stelle,  das  ist  in  der  Mitte  0.53m  breit,  wurde 
im  Herbst  1882  aufgefunden.  Er  zeigt  eine  dreizeilige,  linksläufige, 
otoixiqSöv  geordnete  Inschrift,  transliteriert  und  abgeteilt :  haduIalkaB 
I  ek  hagustadaa  |  hiuriwido  maga  minino. 

Die  Zeilen  laufen  an  dem  in  situ  befindlichen  Steine  von  unten 
nach  oben  und  sind  im  Verhältnis  zueinander  eingerückt  und  zwar 
so,  daß  2  unter  dem  ik  von  1,  3  unter  dem  ha  von  2  beginnt.  Die 
Grundlinien  der  Zeilen  schreiten  vom  rechten  Rande  im  Sinne  des 
Beschauers  gegen  die  Mitte  des  Schriftfeldes  vor,  dergestalt,  daß 
der  Anfang  des  Textes  am  rechten  Rande  nahe  der  Basis,  das  Ende 
ungefähr  in  der  Mittellinie  des  Steines  nahe  der  Spitze  zu  suchen  ist. 

Zur  Lesung  ist  zu  bemerken,  daß  sich  oben  an  der  zweiten 
Hasta  des  h  von  haaitcido  eine  Art  absteigenden  Schrägstriches  findet, 
der  aber,  wesentlich  kürzer  und  seichter  als  die  übrigen  seitlichen 
Abstriche  und  Aufstriche  der  Runen,  keineswegs  Sicherheit  gewährt, 

1)  Ebenso  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  30B;  5.  Jahrh.  Noreen,  An.  Gramm. 
1»,  S.  345. 


Korges  Indskrifter  med  ä%  seldre  Buner.  101 

dafi  er  literale  Oeltung  habe  und  das  h  zu  einer  Binderune  Id  er- 
gänzen solle.  Rygh  hält  es,  wie  Bugge  S.  272  mitteilt,  nicht  für 
unmöglich,  daß  dieser  Abstrich  nur  zufällig  sei  und  Bugge  selbst 
S.  272  findet  sich  im  wesentlichen  nur  durch  die  bisher  anerkannte 
sprachliche  Verbindung  der  Verbalform  haaiwido  mit  dem  Sachworte 
Maiwa  der  Inschrift  von  Be,  got  Maitc,  bestimmt,  ihn  fär  beabsichtigt 
zu  halten. 

Ein  anderer  sehr  deutlicher  seitlicher  Aufstrich,  den  Bugge 
S.  271  als  Fehlhieb  erklärt,  findet  sich  am  h  der  zweiten  Zeile;  vom 
Einsatzpunkte  des  mittleren  A -Balkens  ausgehend  erweckt  er  den 
Eindruck,  als  ob  entweder  statt  eines  h:  H  die  Runen  iR  IY  eng 
aneinander  gerückt  daständen,  siehe  die  Abbildungen  Bei  Bugge 
S.  270,  271,  oder  als  ob  eine  Ligatur  von  H  und  Y  beabsichtigt  sei. 

Die  Gleichung  Bugges  des  umord.  Personennamens  Haä^ikan 
S.  273  mit  dem  im  ahd.  Ortsnamen  Hadaleihinchova,  Hadlikon  bei 
Zürich  gelegenen,  sowie  mit  dem  Schwertnamen  HcUMoke  eines 
mittelenglischen  Gedichtes  ist  so  sehr  unmittelbar  überzeugend,  daß 
die  sonstige  umord.  Schreibung  des  Elementes  hapu-  mit  p,  nicht 
^Rune,  dagegen  nichts  ausmacht  und  keineswegs  zu  dem  Versuche 
berechtigt,  das  hadu-  unserer  Inschrift  als  *hafnjdu'  zu  deuten. 

Um  die  Schreibung  HadülaikaR  neben  der  mindestens  um  ein 
Jahrhundert  jüngeren  HApatool^R  der  Blekingeschen  Inschriften 
(Stentofta,  Istaby,  Gommor)  zu  erklären,  scheint  es  mir  auch  nicht 
der  richtige  Weg,  mit  Bugge  den  Hauptton  des  Kompositums  ur- 
sprünglich auf  einer  andern  Silbe  als  der  Stammsilbe  ruhen  zu  lassen 
und  fur  die  Schreibung  mit  p  lautliche  Beeinflussung  vom  einfachen 
Appellativum  *hapuR  her  anzunehmen,  da  es.  keineswegs  wahrschein- 
lich ist,  daß  das  p  der  Blekingeschen  Inschriften  in  diesem  Namen- 
elemente etwas  anderes  sei,  als  bloß  orthographische  Darstellung 
eines  gesprochenen  ä  mit  der  Rune  p.  Ich  bin  also  der  Meinung, 
daß  nicht  p  sondern  ä  der  german.  Form  des  Abstraktums  *kadus 
gerecht  sei,  was  sich  bei  vorgerm.  Endbetonung  *hatü'  leicht  begreift. 

Daß  hagustaäaR  sich  hinsichtlich  der  I-Auslassung  vor  tf ,  also 
'StaläaR,  nicht  allein  mit  Oodahid  Bezenye,  sondern  mit  zahlreichen 
einschlägigen  Fällen  innerhalb  des  agerm.  Namenschatzes  decke,  ist 
sicher,  ebenso  daß  haaiwido  magu  minino  dem  Sinne  nach  >sepeliui 
filium  meum<  bedeuten  müsse. 

Minder  sicher  aber  dünkt  es  mich,  daß  HagustaäaR  selb- 
ständiger Personenname  sei  und  für  sich  allein  die  zweite  Person 
des  Textes,  den  überlebenden  Vater  benenne,  während  Ha/MaikoM^ 
wonach  starke  Interpunktion  gedacht  werden  müßte,  den  Namen  des 
bestatteten  Sohnes  darstellte. 


102  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Nach  meiner  Meinung  ist  der  Name  des  Sohnes  überhaupt  gar 
nicht  genannt,  HaäulaikaR  Subjekt  und  Hauptname  des  überlebenden 
Vaters,  hagustaäuR  aber  eine  Apposition  hierzu. 

Da  anorweg.  haukstcddr  > vornehmer  Mann«  bezeichnet  —  Bugge 
S.  347  erklärt  das  Wort  als  Nebenform  mit  au  für  p  wie  in  audlingr 
neben  pdlingr  und  bloß  orthographischem  k  für  g  — ,  kann  diese 
Apposition  eine  Standesbezeichnung  sein,  die  hier  nur  nachgesetzt 
ist,  während  die  sehr  viel  bekanntere  Standesbezeichnung  erilaR  der 
Inschriften  von  By,  Kragehul,  Veblungsnses  dem  Personennamen  vor- 
ausgeht. Das  Verhältnis  der  Stellung  ist  also  etwa  das  von  *  Wodu' 
riäaR  ivUaäahlaiba  des  Steines  von  Tune. 

Diese  anorweg.  Bedeutung  möchte  wohl  eine  besondere  Ent- 
wicklung aus  dem  dritten  der  zu  ags.  hcegsteald  >mansionarius,  caelebs, 
iuuenis«  bei  Bosworth-Toller  verzeichneten  Werte  sein  und  sich  ihrem 
Ursprünge  nach  etwa  wie  nhd.  »Junker«  verhalten.  Immerhin  kann 
aber  auch  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  werden,  daß  das  Wort 
nicht  eigentlich  Standestitel,  sondern  Beiname  sei,  denn  die  ahd. 
Beispiele  von  HagastoU  als  Personenname,  z.  B.  Libri  confrat.,  müssen 
von  der  Setzung  des  Appellativums  als  Beiname  den  Ausgang  haben. 

Der  Auslaut  des  umord.  Possessivpronomens  im  mask.  Akk.  minino^ 
got.  meinana,  und  sein  Verhältnis  zu  den  gedeckten  got.  Akkusativen 
hwarjanoh  und  ainnohun  neben  ungedecktem  hwarjana,  ainana  ist 
nach  Bugges  Ausführungen  S.  275—276  nicht  völlig  geklärt;  doch 
wird  es  sich  bei  umord.  -ino  zu  got.  -^tnOj  -ana  hinsichtlich  des 
Zwischenvokales  wohl  um  Ablaut  ^:  ö^  nicht  um  Schwächung  a  >>  ^ 
handehu 

Die  Bewertung  des  zweifelhaften  Hakens  an  der  zweiten  Hasta 
des  h  von  hiaiwido  als  ligiertes  2,  die  für  Bugge  1898  noch  feststand, 
läßt  sich  heute  kaum  mehr  aufrecht  erhalten,  da  in  der  1903  ge- 
fundenen Steininschrift  von  Amle  Bugge  S.  573-585  auf  einmal 
das  Partizipium  perfecti  des  Verbums  von  Ejolevig  in  der  Gestalt 
haiwidüR  emporgetaucht  ist. 

Mit  Becht  sagt  Bugge  S.  579 :  Diese  Uebereinstimmung  in  der 
Schreibung  ohne  l  könne  nicht  zufällig  sein,  diese  Schreibung  könne 
nicht  mehr  als  bloßer  Fehler  der  graphischen  Darstellung  verstanden 
werden.  Da  Bugge  aber  trotzdem  an  der  Ableitung  von  hlaiwa  fest- 
hält, sucht  er  an  der  zweiten  Stelle  die  Schreibung  aus  einer  be- 
sonderen Aussprache  des  l  abzuleiten.  Es  ist  mir  schwer  an  eine 
derartige  Aussprache  zu  glauben,  zu  der  man  vielleicht  das  spiran- 
tische cymr.  U  vergleichen  könnte  —  Bugge  selbst  vergleicht  hierzu 
S.  579  Note  1  poln. -armen,  oder  etruskisch  A  aus  2  — ,  denn  die 
ehemalige  Spirans  x  scheint  doch  wohl  auch  in  der  anlautenden 


Norges  TDclskrifter  med  de  seldre  Raner.  103 

Bindnng  mit  Liquida  Ij  r  oder  Nasalis  schon  im  Urnordischen  zum 
bloßen  Hanchlante  h  geworden  zu  sein,  der  keinen  Anlaß  zu  einer 
spirantischen  Umformung  des  l  mehr  geben  konnte.  Das  wäre  freilich 
noch  kein  zwingender  Grund  gegen  Bugges  Ausweg,  wenn,  es  un- 
möglich wäre,  das  Yerbum  *haiwjan  unabhängig  von  Maiwa  zu  er- 
klären. Das  aber  ist  nicht  der  Fall,  sondern  es  eröffnet  sich  aus 
der  Sippe  got.  heitoafrauja  >oi)coSeGicötT)c<,  kroat.  poSivam^  padivati 
>ausruhen,  sterben«,  sloven.  pod/;em,  podUi  >rasten<,  aksl.  j>oifeo/, 
litt,  pakdjus  »Ruhe«,  got.  havns,  griech.  xo[{taa>  > bette,  schläfere 
ein<,  xoi{tY)ti{ptov,  franz.  citnetihe,  griech.  xsliiai  >liege<,  lat.  quies^ 
quieseOj  ai.  fi  >cubare<  die  Möglichkeit  ein  Yerbum  *haiwjan  mit  der 
Bedeutung  >zur  Ruhe  bringen,  bestatten«  abzuleiten,  das  mit  hlaitca 
»tumulus«  etymologisch  gar  nichts  zu  schaffen  hat.  Das  zwischen- 
liegende Nomen  entgeht  uns  allerdings;  es  kann  in  thematischer 
Form  als  *haiwa-^  *haiwi-  oder  ^haiu-  angesetzt,  seine  Bedeutung 
als  >Ruhe,  Ruheort«  oder  >Lager«  ermittelt  werden. 

Die  äußere  Seitenhasta  an  dem  h  von  hagustadaR  kann  ja  wohl 
fehlgehauen  sein.  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  149  Note,  gibt 
hierfür  eine  recht  plausible  Erklärung.  Wäre  dem  aber  nicht  so, 
sondern  hätten  wir  es  mit  einer  beabsichtigten  Ligatur  ah  zu  tun, 
so  müßte  man  das  s  zum  vorhergehenden  eh  ziehen  und  in  *€}cr  eine 
mit  dem  Nominativzeichen  singularis  der  Substantiva  erweiterte  Form 
des  persönlichen  Pronomens  erblicken,  die  ja,  wie  ich  gerne  zugestehe, 
ebenso  überraschend  wie  vereinzelt  wäre. 

Nicht  eigentlich  Verse  enthielte  die  Inschrift,  meint  Bugge  S.  277, 
der  ihre  Zeit  auf  die  Mitte  des  6.  Jahrhunderts  bestimmt^),  aber 
doch  wiese  sie  die  Anzeichen  gehobener  Sprache  auf.  Diese  Anzeichen 
werden  noch  greifbarer,  wenn  man  meinem  Vorschlage  gemäß  die 
beiden  Namen  auf  Sine  Person  bezieht,  wonach  HadulaikaR  \  ek  ha- 
gustaäoR  wohl  geradezu  einen  alliterierenden  Langvers  bildet  und 
auch  haaitoido  magu  \  mJnino  als  solcher  gelten  kann. 

Der  Stein  von  Amle  Nr.  46 ,  dessen  Inschrift  wir  das  genannte 
Partizipium  verdanken,  eine  schwere  Platte  aus  weißem  Granit  oder 
Glimmeradamellit  von  2.30m  Länge,  0.83m  Höhe  und  0.21m  bis 
0.33  m  Dicke  ist  nach  Bugges  Ansicht  in  seiner  gegenwärtigen  Form 
vollständig  bewahrt  mit  Ausnahme  eines  kleinen  Stückes,  das  an  der 
linken  oberen  Ecke  abgeschlagen  eine  Verletzung  der  ersten  Rune 
der  Zeile  nach  sich  gezogen  hat.  Bugge  transliteriert  und  teilt  die 
am  oberen  Rande  von  links  nach  rechts  sich  hinziehende  Inschrift, 

1)  Allgemeiner:  erste  EUdfte  des  6.  Jahrhunderts,  Wimmer,  Die  Bonenscbrift 
S.  308,  und  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  838. 


104  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

abgebildet  S.  575  und  576 :  /1b  haiwidaB  par  und  macht  verschiedene 
Versuche,  den  vor  dem  >sepultus  hic<  zu  vermutenden  Personennamen 
auf  Grund  der  Annahme,  daß  die  vor  dem  -In  stehende  teilweise 
beschädigte  Rune  —  man  kann  sie  für  i,  {  oder  t^)  ansprechen  — 
die  erste  des  ursprünglichen  Textes  sei,  zu  ergänzen. 

Aber  diese  Versuche  scheinen  mir  nicht  voll  überzeugend  und 
ich  denke,  daß  man  doch  wohl  einen  etwas  größeren  Abgang  an 
Buchstaben  anzunehmen  habe. 

Der  Gegengrund  Bugges  S.  580,  daß  man  die  Fußspur  einer  vor 
der  erhaltenen  ersten  Hasta  stehenden  Rune  noch  sehen  müsse,  ist 
doch,  wenn  man  die  Distanzen  z.  B.  zwischen  w  und  i  oder  a  und  r 
oder  a  und  r  abmißt,  nicht  zutreffend,  und  das  Aussehen  des  Steines 
kann  die  Möglichkeit  nicht  ausschließen,  daß  etwa  schon  in  alter 
Zeit  ein  größeres  Stück  der  Platte  mit  entsprechenden  Textteilen 
abgebrochen  sei.  Der  Stein,  dessen  Inschrift  Bugge  um  600  ansetzt, 
kann  vermöge  seiner  Form  nicht  als  Denkmal  aufgerichtet  gewesen 
sein,  lieber  seine  ursprüngliche  Lagerung  in  oder  auf  einem 
Grabhügel  ist  Bugge  S.  584  zu  einem  völlig  gesicherten  Urteil  nicht 
gelangt 

Sicher  aus  einem  Grabhügel  stammt  der  Stein  von  Opedal, 
gefunden  1890,  Bugge  Nr.  22,  chlorithaltiger  Glimmerschiefer,  der 
unmittelbar  vor  Entdeckung  der  Runen  in  zwei  Stücke  gesprengt 
wurde,  ohne  daß  doch  die  Inschrift  Schaden  gelitten  hätte.  Der 
Hauptteil,  1.32m  lang  und  an  der  beschriebenen  Seite  0.39m  breit, 
zeigt  eine  zweizeilige,  S.  300  nach  einem  Abklatsch  treiflich  wieder- 
gegebene Inschrift,  die  an  der  oberen  Kante  des  Feldes  von  rechts 
nach  links  läuft  und  zwar  so,  daß  die  zweite  Zeile  um  neun  Runen 
ausgerückt  erscheint;  ihre  zehnte  Rune  steht  ungefähr  unter  der 
Anfangsrune  der  ersten  Zeile. 

Nach  Bendixens  Meinung  war  der  Stein  ursprünglich  auf  die 
vom  Beschauer  linke  Schmalseite  gestellt,  so  daß  die  Inschrift  von 
oben  nach  unten  orientiert  gewesen  wäre.  Dagegen  halt  Bugge 
dafür,  daß  der  Stein,  der  übrigens  auch  nach  Bendixens  Ansicht 
seinen  Platz  im  Innenraum  eines  Grabhügels  gehabt  habe,  auf  die 
untere  Langseite  gelegt  war,  so  daß  die  Zeilen  horizontal  verliefen. 

Die  Inschrift  transliteriert  und  abgeteilt  birgnggu  b//r//  sirestar 
mlna  |  liubu  mea  wage  zeigt  zweimal,  das  ist  hinter  dem  b  und  r 
der  ersten  Zeile  ein  Zeichen,  das  nur  die  halbe  Höhe  der  übrigen 
erreicht  und  im  wesentlichen  als  ein  rechts  vom  Beschauer  mit  einer 


1)  Nach  der  Abbüdong  bei  Bugge  S.  576  würde  ich  überhaupt  uur  liR  oder 
tiB  für  möglich  halten. 


Norges  Indskrifter  med  de  aeldre  Runer.  105 

aufrechten  Hasta  geschlossenes,  sonst  offenes  Schrägkreuz  m  bezeichnet 
werden  kann,  dessen  absteigender  Strich  übrigens  an  zweiter  Stelle 
wellenförmig  geschwungen,  an  erster  mehr  geradlinig  erscheint.  Die 
geringere  Höhe  teilt  dieses  Zeichen  mit  der  y^-Rune  der  Inschrift, 
einer  regulären  geschlossenen  Raute,  aber  seine  Stellung  hält  sich 
nicht  wie  bei  dieser  auf  dem  Niveau  des  mittleren  Zeilenraumes, 
sondern  fußt  im  ersten  Falle  auf  der  Grundlinie,  im  zweiten  auf  der 
Mittellinie,  so  daß  es  also  hier  im  oberen,  dort  im  unteren  Zeilen- 
raume  steht. 

Dieses  Zeichen  hatte  Bugge  im  8.  Bande  des  Arkivs  f.  nord. 
fil.  1892  für  ein  Abkürzungszeichen  gehalten,  während  es  Noreen 
in  der  zweiten  Ausgabe  der  An.  Granmi.  als  o  las.  Im  vorliegenden 
Werke  ist  Bugge  zunächst  S.  307  geneigt,  dasselbe  entweder  als 
umgelegtes  o  St,  oder  als  graphische  Vereinfachung  einer  Ligatur 
von  St  mit  H  zu  fassen,  also  entweder  o  oder  diphthongisch  öu  zu 
lesen,  während  er  S.  559  sich  dahin  entscheiden  zu  sollen  glaubt, 
daß  das  Zeichen  graphisch  als  Ligatur  zweier  ti-Runen,  einer  auf- 
rechten und  einer  gestürzten  anzusehen,  alphabetisch  aber  als  Aus- 
druck für  langes  ü  zu  bewerten  sei. 

Was  die  Deutung  anlangt  wird  durch  diese  veränderte  Auffassung 
freilich  eine  weitere  Verschiebung  nicht  begründet.  *ba  oder  *6ö 
oder  *böu  wäre  nach  Bugge  in  jedem  Falle  Imperativ  des  Verbums 
büa,  ostnord.  boa  >habitare<  und  *ru  oder  *rö  oder  *röu  irgend  eine 
Form  entweder  des  Substantivs  an.  ro  >quies<,  etwa  mit  adverbialer 
Bedeutung,  oder  eine  solche  des  Adj.  ror  >quietus<,  die  ganze  Phrase 
also  ein  umord.  >requiescas  in  pace«. 

Diese  Erklärung  scheint  ja  wohl  überzeugend,  aber  wir  sind  ihr 
gegenüber  in  der  merkwürdigen  Lage,  zwar  den  Sinn,  ja  auch  im 
allgemeinen  die  Wörter  zu  kennen,  über  Laut,  Zeichen  und  genauere 
Formulierung  aber  einer  sicheren  Entscheidung  zu  entbehren. 

Ich  vermag  die  Zuversichtlichkeit  nicht  zu  teilen,  mit  der  Bugge 
an  der  letzten  Stelle  sich  für  Ligatur  zweier  u  ausspricht,  denn  die 
zusammengesetzten  Zeichen,  die  er  aus  anderen,  späteren  Inschriften 
hierzu  vergleicht  sind  dem  Ansehen  nach  mit  dem  von  Opedal  keines- 
wegs gleich  und  die  Erklärung  der  erschlossenen  Sprachform  *ruu 
aus  älterem  *röwu  als  eine  Art  Umlaut  durch  folgendes  w  +  ü,  wie 
in  dem  wohl  vom  Dat.  plur.  ausgehenden  an.  Nom.  plur.  sM<w  aus 
*sköwö&  neben  Nom.  sing,  skor  aus  *8köhaR  Bugge  S.  559,  halte  ich 
nicht  für  schlagend  genug,  daß  sie  mir  über  die  enttäuschte  Er- 
wartung einer  Form  mit  umord.  ö  in  der  Stammsilbe,  also  *rö  oder 
*röu  hinweghülfe. 

Da  eine  Lesung  *bü  röu  >mane  quiete<  oder  >quieta€,  also  mit 

GOU.  gel.  Ans.  190«.  Mr.  8.  8 


106  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Kr.  2. 

verschiedenem  Lautwerte  des  Zeichens  nicht  gewagt  werden  kann, 
trotzdem  es  an  den  zwei  Stellen  weder  formell  ganz  gleich,  noch  in 
identischer  Weise  angebracht  ist,  da  femer  eine  einheitliche  Lesung 
uu  nicht  empfohlen,  ja  nicht  einmal  für  das  erste  Wort  begründet 
ist,  denn  es  war  für  den  Verfertiger  der  Inschrift  wohl  kein  Hindernis 
auch  in  diesem  Worte  die  noch  viermal  vorkommende  gewöhnliche 
ti-Rune  anzubringen,  kann  ich  nicht  anders,  als  die  frühere  S.  307  fL 
vorgetragene  Ansicht  Bugges  als  die  auf  richtigeren  Bahnen  wandelnde 
zu  betrachten  und  einheitlich  *böu  röu  zu  lesen.  Ich  möchte  dabei 
die  Alternative  offen  halten ,  daß  das  erste  Wort  als  fem.  Substantiv 
und  Entsprechung  zu  aksl.  m-bava  > Aufenthalte,  aschwed.  bö  > Wohn- 
sitze, griech.  in  (pcD-Xsög  > Wildlager«,  Noreen,  Abriß  S.  35,  zu  er- 
klären sei. 

In  diesem  Falle  hätten  beide  Wörter  die  identische  Flexion  des 
Nominativs  oder  wohl  besser  des  Akk.  sing,  und  bildeten ,  von  einem 
weggelassenen  Imperativ  oder  Optativ  »habeas«  abhängig,  einen 
Wunsch  oder  Zuruf  an  den  Verstorbenen,  der  gleich  dem  krimgot 
knauen  tag  konstruiert  und  als  >sedem  quietam«  oder  freier  >bonam 
pacem«  zu  verstehen  wäre.  Dies  jedoch  nur  als  zweite  Möglichkeit| 
denn  ernstliche  Schwierigkeiten,  *höu  als  Imperativ  zu  fassen,  sehe 
ich  doch  eigentlich  nicht  und  die  got.  Redensart  aid  bauan  >ein 
Leben  führenc  zu  1.  Tim.  2,  2  ist  zu  verlockend,  als  daß  man  nicht 
das  erste  Wort  der  Phrase  *böu  röu  in  verbalem  Sinne  verstünde. 
Geht  westnord.  büa,  ostnord.  böa,  got.  bauan  auf  langdiphthongisches 
*böuan  zurück,  was  wegen  des  westnord.,  westgerm.  Wandels  von  ö 
zu  ü  doch  recht  wahrscheinlich  ist,  so  ergibt  sich  ein  Imperativ  mit 
auslautendem  u  ja  ganz  von  selbst. 

Daß  dieser  Wunsch  möglicherweise  christlichen  Ursprunges  und 
Nachahmung  aus  lateinischen  Inschriften  sei,  will  ich  nicht  bestreiten; 
was  er  aber  in  dieser  angenommenen  Eigenschaft  beitrage,  das  Alter 
der  Inschrift  von  der  Mitte  des  6.  Jahrhunderts,  S.  310,  in  die  Zeit 
von  600  bis  650,  Bugge  S.  560,  heraufzurücken  ^),  entzieht  sich  meiner 
Einsicht. 

Bei  einem  effektiven  Werte  öu  für  das  Zeichen  x  ist  nun  die 
graphische  Ableitung  aus  einem  um  einen  rechten  Winkel  nieder- 
gelegten einfachen  St  ausgeschlossen  und  es  muß  angenommen  werden, 
daß  es  vielmehr  ein  Ergebnis  alphabetischer  Ligatur  sei. 

Abweichend  von  Bugge,  der  S.  307  den  Versuch  machte,  dasselbe 
aus  0  mehr  u  herzuleiten,  wobei  ich  kein  Gewicht  darauf  lege,  daß 
der  lautphysiologischen  Folge  der  Buchstaben  keine  analoge  graphische 

1)  Noreen,  An.  Gramm.  1»,  8.  840:  6.  Jahrhundert. 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Roner.      *  107 

Folge  in  der  Kombination  entspräche  —  Bugges  Ligatur  mit  dem  u 
voran  ergäbe  ja  graphisch  die  Folge  uo  — ,  bin  ich  der  Meinung, 
daß  das  Zeichen  auf  einer  älteren  Ligatur  von  a-jru  beruhe ,  ur- 
sprünglich für  den  Ausdruck  des  Diphthongen  au  gebildet  sei  und 
später,  da  umord.  au  zu  ou  gewandelt  wurde,  ein  Vorgang  der  für  den 
Text  von  Opedal  als  eingetreten  vorauszusetzen  wäre,  eben  für  diesen 
Diphthong  gegolten  habe.  Für  etymologisch  zweisilbiges  -d-u,  mindestens 
in  *röu^  vielleicht  aber  auch  in  *böu  konnte  das  ligierte  Zeichen 
ou  gesetzt  werden,  weil  sich  die  beiden  Wörter  in  der  gesprochenen 
Sprache  der  diphthongischen  Einsilbigkeit  genähert  haben  werden. 

Es  ist  ja  allerdings  ein  Hindernis  für  die  unmittelbare  Anschau- 
lichkeit dieser  Behauptung,  daß  im  älteren  Runenalphabet  von  einer 
derartigen  Ligatur  ou  nichts  weiter  zu  spüren  ist.  Daß  aber  die 
Tendenz,  eine  solche  Ligatur  zu  bilden,  gewiß  da  war,  beweist  die 
ags.  ^a-Bune  f,  die  auf  irgend  einer  Kombination  von  Zeichen  für 
a  und  u  beruhen  muß,  und  daß  es  vereinzelte  Beispiele  von 
Ligaturen  geben  kann,  beweist  die  eine  got.  Ligatur  au,  die  in  den 
Exzerpten  der  Salzburger  Handschrift  einmal  in  der  Sigle  xäus  über- 
liefert ist  Darauf,  daß  die  Figuren  der  lateinischen  Majuskeln  A 
und  V  in  dem  Zeichen  der  Opedaler  Inschrift,  rechts  gewendet  k, 
enthalten  seien,  will  ich  mich  keinesfalls  berufen,  aber  eine  Ligatur 
auf  runischer  Basis  ist  wohl  möglich,  wenn  in  der  Bindung  eines  ^ 
mit  gestürztem  V  die  beiden  Abstriche  des  a  zu  Einern  vereinfacht 
werden.  Ein  anderes  Zeichen  für  ati:fl,  das  ist  aH  +  tiPl,  findet 
sich  in  dem  reformierten  jüngeren  Fupark  Thörodds,  siehe  B.  M.  Olsen, 
Runerne  i  den  oisl.  lit.  Kobenh.  1883,  S.  85. 

Dem  gegenüber  muß  man  die  ursprüngliche  Meinung  Bugges, 
daß  b.  n  im  Sinne  von  >lod  reise«  oder  >Iod  gjöre  runerne«  aus- 
zufüllen und  gleichsam  als  ein  umord.  > faciendum  curauit«  zu  ver- 
stehen habe,  fallen  lassen.  Um  so  mehr,  als  sich  die  vermeint- 
liche kreuzförmige  Interpunktion  des  Steines  von  Möjebro  seither 
als  vollwertiger  Buchstabe  herausgestellt  hat,  Noreen,  An.  Gramm. 
P  S.  340,  und  sich  außerdem  an  späterer  Stelle  dieser  Besprechung 
die  ähnliche  Interpunktion  des  einen  Steines  von  Myklebostad  gleich- 
falls als  literales  Zeichen  erweisen  wird.  % 

Alles  übrige  im  Texte  ist  durchsichtig.  *Birgingu  ist  Vokativ, 
ebenso  die  Apposition  hierzu  swestar  minu  und  liubu  men  Wage  ver- 
tritt einen  an  diese  anknüpfenden  Relativsatz.  Der  ganze  Ausrufungs- 
satz kann  mit  > Birginga  mane  quieta,  soror  mea,  dilecta  mihi  Vago!< 
ziemlich  einwandfrei  übersetzt  werden. 

Daß  der  Personenname  *Wagas  gleich  dem  norweg.  Volksnamen 
Vagar  sei,  wie  ich  Z.  f.  d.  A.  45,  134  vermutete ^  halte  ich  auch 

8* 


108  •  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

heute  noch  für  möglich.  Das  proklitische  Pronomen  men  hat  eher 
Kürze  des  Vokales  ^  als  Länge.  Ueber  die  silbische  Geltung  der 
tftjf-Rune  im  Frajiennamen  ist  kein  Wort  zu  verlieren.  Auf  die  Al- 
literationen des  Textes :  b  und  m  und  seine  rythmische  Folge  macht 
Bugge  S.  309  mit  Recht  aufmerksam. 

Zu  den  wortreicheren  Grabschriften  der  ältesten  Zeit  gehörte 
auch  das  Fragment  des  Steines  von  Vetteland,  Bugge  Nr.  39,  aus 
der  Erde  gepflügt  1896.  Das  Bruchstück,  lichtroter  Granit,  ist 
1.11m  lang,  0.76m  breit,  0.18m  dick.  Die  Inschrift,  drei  rechts- 
läufige Zeilen  im  GtocxtiSöv -Verhältnisse,  abgebildet  S.  439,  441,  442, 
dürfte  an  dem  in  situ  gedachten  Steine,  der  sicherlich  unter  freiem 
Himmel  aufgerichtet  war,  von  unten  nach  oben  gegangen  sein.  Ihre 
Transliterierung  ergibt  den  lückenhaften  Text:  ...ist  |  ...Ina  | 
...das  faihido.  Vor  dem  Verbum  faihiäo  »scripsi«  am  Ende  der 
Inschrift,  das  in  der  gegebenen  Form  schon  vom  Einangersteine  her 
bekannt  war,  hat  ein  mask.  Personenname  gestanden,  dessen  zweiter 
Teil  'StaldaH  oder  -^idaR  oder  irgend  ein  anderes  Wort  des  urnord. 
Namenschatzes  mit  anlautendem  d  in  zweiter  Silbe  gewesen  sein  muß 
und  der  vielleicht  mit  einleitendem  *ek  verbunden  war.  Die  drei 
Buchstaben  der  zweiten  Zeile  ergänzen  Bugge  und  Olsen  zu  *staina^ 
die  drei  der  ersten  zu  *raist  als  urnord.  Form  des  Präteritums  von 
an.  rista  stv.  »schreiben«.  Die  Konkurrenz  der  beiden  Synonyma 
für  »schreibenc  in  dem  einen  Texte  wird  S.  441  so  aufgeklärt,  daß 
an  erster  Stelle  der  Auftraggeber,  der  die  Inschrift  machen  läßt,  an 
zweiter  aber  der  Runenmeister,  der  sie  körperlich  ausführt,  gemeint 
und  genannt  sei.  Daß  dies  möglich  sei  bewiese  der  Ausdruck  faßi 
fapiB  des  Röker  Steines,  von  der  Person  gebraucht,  die  die  Kunen 
schreiben  ließ.  Den  Akkusativ  *8iaina  denken  sich  Bugge  und 
Olsen  von  einer  Präposition,  etwa  an,  abhängig  und  konstruieren  ein 
Textgerippe:  >N.  N.  nach  N.  N.  schrieb  die  Runen  auf  diesen  Stein. 
Ich  ...d  malte  sie«,  aber  S.  571  hält  Bugge  mit  Berufung  auf  die 
Textierung  der  aus  dem  späten  Mittelalter  stammenden  Inschrift  von 
Eggemoen,  in  der  rceUt  > schrieb«  und  rceisti  » errichtete <  aufeinander 
folgen :  . . .  rceisi :  mik  :  ok  :  rceisti  \  amunde,  in  der  zweiten  Zeile  auch 
einen  Satz  »und  errichtete  diesen  Stein«  für  möglich,  so  daß  der 
Akkusativ  dann  doch  direkt  vom  Verbum  abhinge.  Die  Inschrift 
datieren  die  Herausgeber  mit  Berufung  auf  die  Verwandtschaft  des 
Steines  von  Einang  um  das  Jahr  400. 

Das  ist  selbstverständlich  nur  ein  Versuch,  der  aber  immerhin 
darüber  belehrt,  wie  viel  ungefähr  an  der  Inschrift  fehlt.  Da  faihjan 
vermöge  seiner  etymologischen  Herkunft  ursprünglich  >pingere€  be- 
deutet und  H.  Pipping  auf  den  in  der  Grundmauer  der  Kirche  zu 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Rnner.  109 

Ardre  1900  gefundenen  Platten  mit  jüngeren  Runen  zum  Teil  Aus^ 
malung  der  Buchstaben  mit  Mennig  festgestellt  hat,  so  könnte  die 
Doppelheit  von  rista  und  fd  in  unserm  Falle  auch  auf  die  zweifache 
gewerbliche  Tätigkeit  des  Steinmetzen  und  des  Malers  bezogen 
werden. 

Einfacher  ist  eine  kleine  Gruppe  von  Inschriften  B0,  Stenstad 
und  Tomstad,  bei  der  lediglich  der  Name  des  Bestatteten  im  Genitiv 
zusammen  mit  einem  auf  das  Grabdenkmal  gehenden  Sachworte 
auftritt. 

Die  Inschrift  des  Steines  von  Bo,  Bugge  Nr.  16  —  die  ersten 
Nachrichten  über  denselben  stammen  aus  1865  — ,  einer  1.87  m  hohen 
und  an  der  breitesten  Stelle  0.60  m  breiten  Säule  aus  feinkörnigem 
lichtgrauem  Granit,  die  ursprünglich  unter  freiem  Himmel  aufgestellt 
war,  erstreckt  sich  in  der  Ausdehnung  des  zweiten  oberen  Viertels 
mit  rechts  gewendeten  Runen  von  oben  nach  unten.  Die  Lesung 
der  einen  Zeile ,  siehe  die  Abbildungen  S.  238  und  239 ,  ergibt  nach 
Bugges  berichtigender  Beobachtung  den  Text  hnabdas  hlalwa.  Das 
zweite  Wort  ist  die  umord.  Entsprechung  zu  got.  hlaiw  n.  yxtitpo^^ 
(iV7)(i£iov<,  ahd.  hUieo  >mau8oleum,  aceruus,  tumulus,  agger«,  as.  hlio, 
ags.  hUtv,  hltew,  mhd.  le,  das  erste  der  Genitiv  eines  mask.  Personen- 
namens *HnaSäaR,  den  ich  Z.  f.  d.  Ph.  32,  295  als  Beinamen  definiert 
habe.  Wimmer,  Die  Runenschrift,  S.  303,  setzt  den  Stein  in  die 
zweite  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts,  wogegen  Bugge  S.  243  nichts 
wesentliches  einzuwenden  hat,  doch  die  Bemerkung  macht  >so  genau 
lasse  sich  die  Zeit  doch  wohl  nicht  festsetzen,  auch  sei  es  unver- 
ständlich, warum  der  Stein  von  B0  als  jünger  angesehen  werde  als 
der  von  Strand«.  Allgemeiner  >6.  Jahrhundert«  gibt  Noreen,  An. 
Gramm.  P,  S.  335,  an. 

Mit  einem  anderen  Sachworte  verbunden  ist  der  Personenname 
der  Inschrift  von  Stenstad,  Bugge  Nr.  9. 

Der  schon  1781  in  einem  Grabhügel  gefundene  Rollstein,  Quarz, 
von  mäßigem  Umfange,  trägt,  auf  eine  kräftig  markierte  Grundlinie 
gesetzt,  in  rechtsläufigen  Buchstaben  die  eine  unabgeteilte  Zeile 
igQon  fialSB,  nach  Bugges  Situierung  des  bimförmigen  Steines, 
S.  176,  von  oben  nach  unten  verlaufend  und  die  linke  Hälfte  des 
Feldes  beherrschend. 

Die  vierte  Rune  liest  Bugge  als  iig,  wiewohl  er  S.  179  die 
Lesung  ;,  gegen  die  sich  vom  sprachlichen  Standpunkte  nichts  ein- 
wenden lasse,  in  Erwägung  zieht. 

Ich  kann,  je  länger  ich  dieses  Zeichen  mir  einpräge,  das  an 
Höhe  den  übrigen  Runen  gleich  aus  zwei  Hastenhälften  besteht,  einer 


110  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

oberen  vertikal  herabsteigenden  und  einer  unteren  mit  schiefen 
Winkeln  auf  die  Grundlinie  einsetzenden,  die  beide  durch  eine,  einem 
liegenden  S  gleichende  Kurve  verbunden  sind,  um  so  weniger  zur 
Ueberzeugung  kommen,  daß  es  von  der  auf  eine  Ecke  gestellten 
Baute,  dem  nach  meiner  Meinung  typischen  Zeichen  des  ng  seinen 
Ausgang  habe  und  nicht  vielmehr  eine  besondere  Form  der,  wiederum 
nach  meiner  Ansicht  ursprünglichen,  runden  auf  dem  lat.  Q  unmittel- 
bar beruhenden  ;-Rune  sei. 

Bugge  meint  S.  179  das  Zeichen  von  Stenstad  gliche  mehr  dem 
offenen  Zeichen  der  Skäängerinschrift,  das  sicher  ^  sei,  als  der  ge- 
schlossenen j-Bune  des  Bracteaten  von  Vadstena.  Aber  das  eben, 
daß  das  Zeichen  von  Skääng  ng  sei,  bezweifle  ich  lebhaft,  und  finde 
in  der  Stenstader  Bune  nichts  anderes  als  eine  dritte  besondere  und 
offenbar  fakultative  Ausprägung  ein  und  desselben  typischen  Zeichens 
für  j. 

Aber  nicht  nur  paläographisch,  das  ist  auf  Grund  der  Verwandt- 
schaft des  geometrischen  Bildes,  empfiehlt  sich  diese  Lesung,  sondern 
auch  sprachlich,  denn  der  Frauenname  B%rg(i)nggu  des  Steines  von 
Opedal  zeigt  schon,  daß  die  Feminina  zu  den  urnord.  mask,  tn^o- 
Ableitungen :  JEToI^in^aii  Gallehus,  iu^m^ais  Beistad  als  starke  d-Stämme, 
nicht  als  schwache  dn-Stämme,  gebildet  wurden. 

Bugges  Erklärung  des  Wortes  hdlaR  mit  orthographisch  ein- 
facher Schreibung  der  eigentlich  gebührenden  Geminata  U,  wie 
urnord.  Fino  Berga  statt  *Ftnno,  also  *hall<iR  gleich  an.  hallr  »Stein«, 
litt.  Jcdlnas  >Berg< ,  aber  got.  ti-Thema:  Jiallus,  ist  um  so  mehr 
treffend,  und  die  Möglichkeit,  daß  das  Wort  Personenname  sei,  um 
so  mehr  auszuschließen,  als  Bugge  diesen  Ausdruck  auch  in  der 
jüngeren  Runeninschrift  von  Tose,  sowie  in  modern  schwed.  dial. 
lihhall  m.  > Leichenstein,  Grabmal«  nachzuweisen  vermag. 

Den  Stammvokal  des  im  possessivischen  Genitiv  stehenden 
Frauennamens  ^Igijo  muß  man  nach  der  von  Bugge  S.  32  aus 
Brugmanns  Grundriß  wiederholten  ig.  Regel:  >im  Inlaut  vor  Vokal 
steht  Halbvokal  j  nach  Kürze  und  einfacher  Konsonanz,  aber  ij  nach 
Länge  und  einfacher,  oder  nach  Kürze  und  mehrfacher  Konsonanz«, 
für  lang  halten,  was  nicht  ausschließt,  daß  das  Element  mit  dem  in 
got.  Igila  Urk.  v.  Neapel  gelegenen  identisch  sei,  da  wir  ja  die 
Qualität  des  letzteren  nicht  kennen.  Aber  freilich,  so  streng  wird  es 
mit  dieser  Regel  nicht  zu  halten  sein,  da  wir  neben  der  in  ihrem 
Sinne  korrekten  Schreibung  Harja  des  Kammes  von  Vi,  vgl.  Wimmer, 
Die  Runenschrift,  S.  63,  auf  dem  Steine  von  Skääng  die  derselben 
nicht  entsprechende  Harija  mit  ij  statt  j  finden.  Wimmer,  Die 
Runenschrift,  S.  303,  setzt  die  Inschrift  in  die  zweite  Hälfte  des 


Norgefl  Indskrifter  med  de  aeldre  Runer.  Ill 

6.  Jahrhunderts.  Die  bei  Bngge  S.  182  mitgeteilten  archäologischen 
Urteile  über  die  mit  dem  Steine  gefundenen  Gegenstände  ergeben 
eine  Datierung  um  das  Jahr  500,  der  sich  auch  Noreen,  An.  Gramm. 
P,  S.  342,  >  gegen  500«,  anschließt. 

Der  dritte  Stein  dieser  Untergruppe  ist  das  Fragment  von 
Tomstad,  Bugge  Nr.  12,  gefunden  1851  oder  1852,  eme  Platte  aus 
Hornblende-Granit,  0.66— 0.85m  lang,  0.47  m  breit,  0.11m  dick. 
Der  Stein  stammt  nach  Wimmers  Annahme,  Die  Runenschrift,  S.  301, 
aus  einem  Grabhfigel  und  gewährt  eine  die  Mittellinie  entlang 
laufende  Zeile  in  linksgewendeten  Runen,  siehe  die  Abbildung  bei 
Bugge  S.  207,  transliteriert  ...an  :  warna,  in  der  ein  Sachwort 
toaruR  mit  dem  possessivischen  Genitiv  eines  auf  -n  auslautenden 
mask.  Personennamens  verbunden  ist.  Die  Bedeutung  des  Sach- 
wortes scheint  mir  freilich  noch  nicht  gesichert,,  da  das  von  Bugge 
S.  208  verglichene  isl. Wort  aus  den  Sagas:  vor  fem.,  neunord.  vor 
mask.  > Reihe  aufgelegter  Steine  an  einer  Landungsstelle«  doch  wohl 
von  dem  Neutrum  v^r  gleich  ags.  wtxroV  >Platz  an  der  See«,  Noreen, 
An.  Gramm.  P,  S.  167,  5,  etymologisch  nicht  verschieden  sein  wird. 
Deshalb  kann  der  von  Bugge  ermittelte  Sinn  > Steinsetzung < ,  oder 
Noreens  »Steinkreis<,  An.  Gramm.  P,  S.  344,  nur  als  Versuch,  nicht 
als  wirkliche  Lösung  angesehen  werden.  Die  Zeit  des  Denkmals 
bestimmt  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  303,  auf  die  zweite  Hälfte 
des  6.  Jahrhunderts,  womit  sich  Bugge  S.  209  einverstanden  erklärt, 
Noreen,  An.  Gramm.  P  S.  344,  in  weiteren  Grenzen  auf  das  6.  Jahr- 
hundert überhaupt. 

Einen  anderen  textlichen  Typus,  der  weder  von  Stiftung  des 
Denkmales  in  irgend  einer  Form  ausdrücklich  spricht,  noch  auch  ein 
charakteristisches  Sachwort  gewährt,  sondern  sich  nur  in  Personen- 
namen bewegt,  stellt  die  Inschrift  des  Steines  von  Aarstad,  Bugge 
Nr.  15,  dar. 

Dieser  1.21m  hohe,  an  der  Basis  0.78m  breite,  0.13m  dicke, 
nach  oben  spitz  zulaufende  Stein,  Granit,  stammt  aus  einem  um  1855 
eröffneten  Hügel  mit  Grabkammer,  außerhalb  deren  westlicher  Wand 
er  errichtet  war.  Unter  den  Beigaben  des  Brandgrabes,  stark  ver- 
rosteten Eisensachen,  fanden  sich  auch  Perlen. 

Die  Inschrift  besteht  aus  drei  parallelen,  auf  die  Längsachse 
senkrechten,  von  links  nach  rechts  zu  lesenden  Zeilen,  von  denen 
die  erste  und  zweite  in  der  oberen  Hälfte  des  Steines  liegen,  die 
dritte  sich  ganz  unten  am  Rande  hinzieht.  Der  Text  ist,  transliteriert, 
hiwlgaa  I  saralu  |  pingwlnaa,  nicht  ohne  mehrfache  Zweifel,  da 
Bugge  S.  229—230  neben  hiwigan  auch  hüifiaR  zuläßt,  obwohl  er 
seine  Erklärungen  dieses  Namens  hier  wie  später  S.  540  doch  auf 


112  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

die  Lesung  mit  w,  nicht  Z,  gründet,  beim  dritten  Worte  aber  es 
zuerst  S.  230  mit  einer  Lesung  engwinau  versucht,  dieselbe  S.  233 
auf  Grund  neuer,  zusammen  mit  Rygh  ausgeführter  Untersuchung 
durch  pingwinaR  ersetzt  und  endlich  S.  539 — 540  wieder  xingwinaR  für 
möglich  hält. 

Die  beiden  phototypischen  Abbildungen  bei  Bugge  S.  226  und 
227  scheinen  mir  allerdings  die  Lesung  UwigaR  zu  bestätigen  und 
eine  Lesung  ping\..  mindestens  zu  gestatten;  glaubt  man  doch 
an  der  ersten  Hasta  noch  einen  Schimmer  des  seitlichen  Bogens  der 
j^-Rune  zu  sehen.  Das  auslautende  r  des  dritten  Komplexes  ist  nach 
Bugge,  der  S.  230  noch  die  Spur  eines  linken  Abstriches  zu  er- 
kennen meint,  ein  gestürztes  A-  Ich  muß  gestehen,  daß  ich, 
freilich  nicht  nach  der  ersten,  wohl  aber  nach  der  zweiten  Ab- 
bildung S.  227  versucht  gewesen  wäre,  auf  ein  zu  dem  der  ersten 
Zeile  stimmendes  aufrechtes  Y  zu  raten ;  das  Nebeneinanderbestehen 
beider  Formen  in  einer  Inschrift  wird  aber  allerdings  durch  Järsberg 
(Varnum)  mit  drei  A  gegen  ein  Y  und  By  mit  einem  A  gegen  sechs 
Y  gewährleistet. 

Der  Auffassung  Bugges:  hiwigaR  mask.  Personenname  mit  a-Thema 
im  Nominativ  S.  231,  a,her  pingtvinaR  mask.  Personenname  mit  i-Thema 
im  Genitiv  wie  der  Genitiv  des  i-Stammes  pulaR  Snoldelev  S.  234, 
stimme  ich  vollinhaltlich  zu,  nur  nicht  der  auch  von  Bugge  in  Zweifel 
gezogenen  Ansicht,  daß  die  Flexion  des  Genitivs  des  mask.  t-Stammes 
urnord.  *winiRj  an.  vinr:  urnord.  -winaRy  an.  t'inar  eine  Entlehnung 
aus  der  a-Deklination ,  also  vinar  nach  sunar,  oder  die  der  fem. 
i-Stämme  eine  solche  aus  der  ö-Deklination,  also  dstar  nach  giafar 
wäre.  Es  ist  mir  sehr  viel  wahrscheinlicher,  daß  die  nord.  Genitiv- 
endung der  mask,  und  fem.  t-Stämme  einheitlich  auf  -aie  zurück- 
gehe, das  beim  got.  Fem.  anstais  erhalten  ist,  während  es  bei  den 
Maskulinen  -fadis  z.  B.  durch  die  Flexion  der  ö»-Stämme  ersetzt 
wurde. 

Für  die  Lesung  des  Anlautes  ist  der  Bestand  eines  ahd.  Namens 
Dingwin  a.  801  und  823,  Dronke  Cod.  dipl.  Fuld.,  sowie  anderer 
Composita  mit  diesem  Elemente  wie  die  deutschen  Thinghraht,  TJnn- 
gold ,  ags.  pingfriä^  aschwed.  pingfastr^  pifigbj^m ,  pingulfr  doch  von 
solchem  Belange,  daß  wir  sie  der  Lesung  *IngwinaR  vorziehen  müssen, 
die  uns  eine  unerklärte  Hasta  zurückließe,  sowie  der  Lesung  ^Eng- 
winaR,  bei  der  man  nicht  begriffe,  wieso  hier  der  german.  Regel 
entgegen  vor  gedeckter  Nasalis  sich  altes  d*  erhalten  oder  gar  neues 
^  für  l  hätte  eintreten  können.  Mit  Bugges  letztem  Vorschlage  n 
aber  ist  wohl  am  allerwenigsten  etwas  anzufangen,  eine  Doppel- 
schreibung  nicht  gerechtfertigt    und    eine  Deutung    derselben    als 


Norges  Indskrifter  med  de  aeldre  Runer.  113 

Kürzung  für  ini,  Bugge  S.  539—541,  weder  graphisch  glaublich  noch 
textlich  ein  Gewinn. 

Dem  Fehlen  eines  Themavokales  in  dem  mutmaßlichen  Namen 
"^pingwinxR,  das  Bugge  schon  S.  234  beirrt,  legt  er  auch  an  der 
späteren  Stelle  ein  viel  zu  großes  Gewicht  bei. 

Eine  Thema  ^pinga-  müßte  man  ja  gar  nicht  fordern,  da  das 
Wort  nach  Ausweis  von  langobard.  thinx  alter  «-Stamm  ist.  Man 
kann  also  auch  das  konsonantische  Thema  zugrunde  legen.  Aber 
allerdings  vermag  man  dem  Kompositum  *pingwiniR  nicht  mehr 
anzusehen,  ob  in  dasselbe  konsonantisches  ^ping-  aus  *pingR  oder 
vokalisches  *pingu-  aus  *pinguH  eingetreten  ist. 

Hinsichtlich  des  ersten  Namens  HiwigaR  bin  ich  mit  Bugge 
S.  231  der  Ansicht,  daß  derselbe  wie  deutsches  Ödagj  an.  *Auäigr 
im  Ortsnamen  Audigxstadir  ein  Adjektiv  auf  -ga  sei  %  aber  die  Ab- 
leitung betreifend  möchte  ich  doch  weder  mit  Bugge  auf  an.  hy  aus 
*hiwa^  reflektieren,  noch  die  Länge  des  Stammvokales  für  ausgemacht 
halten.  Ich  möchte  am  liebsten  das  germ.  ib-Neutrum  got.  hiwi 
>|iöp(pü>otc,  forma,  species <,  ags.  hiw,  hiow^  heo  >  species,  figura,  forma, 
decus«  zugrunde  legen  und  urnord.  hiwiguR,  das  man  dann  als 
suffixale  Parallele  zu  ags.  hiwe  > beautiful <  betrachten  kann,  als 
>formosus,  pulcher<  erklären.  Der  Name  ist  Beiname  gleich  dem 
lateinischen  Adjektiv  etwa  in  der  Kombination  P.  Claudius  Pulcher 
bei  Livius  und  bedarf  nach  der  kategorischen  Seite  hin  keiner 
weiteren  Auseinandersetzungen. 

Was  den  mittleren  Komplex  der  Inschrift  saralu  angeht,  möchte 
ich  dem  älteren  Bugge  gegenüber  dem  jüngeren  zum  Rechte  ver- 
helfen. 

Daß  es  gewagt  und  unsicher  sei,  sar  als  Adverbium  >hier<,  ahd. 
gelängt  sär  >auf  der  Stelle,  sofort«,  zu  nehmen,  versichert  uns  Bugge 
S.  540  selbst,  wo  er  die  Erklärung  von  S.  232—233  sar  alu  >hier 
der  Schutz,  das  Schutzzeichen <  verläßt  und  einem  Kompositum 
*sär-alu  aus  *sa%ra'alu  das  Wort  redet.*)  Aber  im  Jahre  1871  hat 
Bugge,  wie  er  Note  3  zu  S.  231—232  mitteilt,  den  ganzen  Komplex 
für  einen  weiblichen  Personennamen  gehalten  und  bemüht  sich  nun 
an  dieser  Stelle  seine  alte,  meiner  Ueberzeugung  nach  ganz  richtige 
Beurteilung  aus  den  Aarbegern,  der  auch  Wimmer,  Die  Runenschrift 
215,  beigetreten  ist,  zurückzuweisen,  da  eine  weibliche  Nebenform 

1)  Ebenso  sa  wilagaR  Lindholm. 

2)  Die  im  Zusammenhange  damit  vorgeschlagene  neue  Erklärung  des  Ein- 
ganges *hiv>-ig  (GjdRj  das  ist  Präteritum  hiu  mit  enklitischem  Pronomen  »ich 
hiebe  und  *  OdR  als  Personenname  an.  Geirr  ist  meiner  Ansicht  nach  ein  Rück- 
schritt gegenüber  der  früheren. 


114  QM.  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

ZU  an.  8frli:*8artdo  lauten  müßte  und  eine  anf  -d,  nicht  -du, 
gebildete  Form,  die  an.  *Sfrfd  oder  *Sprl  wäre,  weder  nachgewiesen 
noch  etymologisch  erklärt  werden  könne. 

Nun  kann  man  bereitwillig  zugeben,  daß  der  Mangel  eines  ent- 
sprechenden an.  Frauennamens  ein  bedauerlicher  Ausfall  sei,  aber  ein 
Beweis  gegen  die  Existenz  eines  umord.  Fem.  Sardlu  ist  dieser 
Entgang  doch  keineswegs  und  die  Voraussetzung  Scurcdu  könne  nur 
als  Z-Deminutivum,  wie  eben  S^rli,  ahd.  Saralo,  Sarelo,  nach  got.  ma- 
gula,  matüilOy  barnilo  konstruiert  werden,  ist  durchaus  unzutreffend. 

Wir  konstatieren  ja  im  germ.  Namenschatze  auch  eine  Gruppe 
von  adjektivischen  Bildungen  auf  l  wie  Thancal,  Wg.  Trad.  Corb.  9, 
Tancolj  Mur.  1692,  2:  ags.  pancol,  panctd;  Idalus,  Pol.  Irm.  8,  Idala 
ebenda  8,  Idela  Pol.  R.:  ahd.  Ual  >uanus,  inanis«;  Hwadoi  St.  6. 
a.  799  wohl:  ahd.  wadal  >egenus,  pauper<  und  dazu  gehört  schon 
got.  Amol  bei  Jordanes. 

Der  Auslaut  dieser  Maskulina  erweist  uns  das  u  von  Saralu  als 
umord.  Flexion  eines  germ.  d-Themas  und  die  Bedeutung  eines  Adj. 
wie  ahd.  worfai  »uerbosus< ,  oder  eines  Personennamens  wie  Pieala 
Meichelbeck  11:  bie  >mor8us<,  also  >niordax<  führt  gleich  den 
got.  Vertretern  dieser  Kategorie  slahals^  slahuls  >zum  Schlagen 
geneigt«:  slahs,  sakuls  > streitsüchtig« :  ahd.  sahha,  weitiuls  >irApotvoc« : 
wein  auf  den  Begriff  der  > Geneigtheit  zu  etwas«. 

Es  ist  ja  selbstverständlich  nicht  gut  ^möglich  noch  einen  Schritt 
weiter  gehen  und  die  genaue  appellativische  Qualität  des  im  urnord. 
Nomen  gelegenen  Adjectivs  feststellen  zu  wollen.  Die  reiche  Be- 
deutungsentfaltung des  Wortes  searu  im  ags.,  zu  dem  bei  Bosworth- 
ToUer  15  lateinische  Glossierungen  angegeben  sind,  muß  zur  Vorsicht, 
wenn  nicht  zur  Enthaltung  mahnen,  immerhin  könnte  man  von  diesen 
etwa  >ars,  dolus,  insidiae«  hervorheben,  falls  die  Bedeutung  auf 
geistigem  Gebiete  gesucht  werden  soll.  Aber  auch  der  gewöhnliche 
auf  Waffen  und  Rüstung  gehende  Inhalt  des  germ.  Wortes  kann  als 
Basis  eines  entsprechenden  Adjektivs  und  im  weiteren  eines  walkü- 
rischen Frauennamens  sehr  wohl  in  Verwendung  gezogen  werden. 

Die  «(^-Synkope  in  Saralu  für  *Saru;alu  kann  aus  der  analogen 
Erscheinung  im  ahd.  wureala  gegen  ags.  wyrtwahi  erläutert  werden, 
nur  daß  sie  eben  älteren  Datums  wäre. 

Die  syntaktische  Verknüpfung  der  drei  Namen  ergibt  sich  mir  aus 
der  Annahme,  daß  sarala  nicht  Nominativ  sondern  Dativ  sei.  Ich  kon- 
statiere demnach  zwischen  UiunijaR  Sarala  dasselbe  Widmungsverhältnis, 
das  aus  Heida n  KHnimu(n)äiu  Tjurkö  bekannt  ist  und  zwischen  Sarala 
fiingwinan  dieselbe  patronymische  Beziehung,  die  in  A(n)sugJsa1as 
Muha  Kragehul  angenommen  wird,  d.  h.  UiicigaR  ist  der  überlebende 


Norges  Indskrifter  med  de  »Idre  Rtiner.  115 

Stifter  des  Grabmales,  Sardu  die  Bestattete  nnd  ^pingwiniR  ihr 
Vater.  Das  Vorhandensein  von  Perlen  unter  den  Beigaben  des 
Grabes  wird  für  die  Annahme,  daß  eine  Frau  in  demselben  zur  Ruhe 
gebettet  sei,  nicht  bedeutungslos  sein.  Das  mutmaßliche  nähere 
Verhältnis  des  Dedikanten  zur  Beerdigten  kann  als  das  des  Sohnes 
zur  Mutter  oder  des  Gatten  zur  Gattin  aufgefaßt  werden.  Bugge 
S.  235  setzt  den  Stein  an  das  Ende  6.  Jahrhunderts.  Ebenso  Noreen, 
An.  Gramm.  P,  S.  347,  »gegen  600«,  etwas  später  um  625  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  304. 

Die  Sprache  der  bisher  behandelten  Denkmäler  ist  im  wesent- 
lichen gleichartig  und  gewährt  den  ältesten  Typus  des  Urnordischen. 
Das  gilt  nicht  mehr  für  die  Inschrift  von  By,  Bugge  Nr.  6 ,  die  ich 
deshalb  gesondert  bespreche,  wiewohl  sie  ihrem  textlichen  Charakter 
nach  bei  der  ersten  Gruppe,  der  ausführlicheren  Grabinschriften, 
unterzubringen  gewesen  wäre. 

Der  Stein  von  By,  eine  Granitplatte  von  1.68m  Länge,  Im 
Breite  und  0.24m  Dicke,  von  dem  eine  Notiz  in  der  hsl.  >6eskri- 
velse  angaaende  Eger,  Modum  og  Sigdals  Sorenskriveriesdistrict« 
von  G.  Falch  aus  dem  Jahre  1744  berichtet,  daß  er  früher  auf  einem 
Erdhügel  lag,  trägt  am  vom  Beschauer  rechten  Ende  der  einen 
langen  Schmalseite  eine  am  untern  Rande  von  links  nach  rechts 
laufende  Inschrift,  die  mit  einer  kurzen  zweiten  auf  der  ersten  un- 
gefähr senkrechten  Zeile  am  rechten  Rande  dieser  Seite  abschließt. 

Bugges  Lesung  auf  Grund  des  Originales,  vgl.  den  Papier- 
abdruck S.  93,  ergibt  mit  Benutzung  sowohl  der  Zeichnung  Falchs, 
als  auch  einer  solchen  von  Haslef  aus  dem  Jahre  1810  den  ge- 
sicherten Text:  eirilaB  hroBaa  EroBea  orte  pat  aalna  . . .  |  rmps. 

Nach  amna  bis  zur  Ecke  ist  noch  Platz  für  etwa  neun  Runen, 
deren  Spuren  die  Lesung  utalaia  mit  folgendem  aus  Haslefs  Zeich- 
nung herübergenommenen  da  zu  ergeben  scheinen.  Zwischen  u  und 
t  glaubt  Bugge  noch  den  oberen  Bogen  eines  B  zu  erkennen  und 
für  das  letzte  u,  das  ein  umgewendetes  ist,  nimmt  er  S.  108  Ligatur 
mit  B  :ub,  doch  bu  zu  lesen,  an,  S.  198  aber  nach  neuerlicher  mit 
Rygh  angestellter  Untersuchung   eine  solche  von  u  +  f,  textlich :  fu. 

Die  aufsteigende  Kurzzeile,  deren  letzte  Rune  ^  Bugge,  dem 
mutmaßlichen  Lautwert  e  Rechnung  tragend ,  mit  b  transliteriert,  ist 
zwischen  zwei  parallelen  Linien  eingeschlossen. 

Die  ersten  drei  Worte  des  gesicherten  Textes  deutet  Bugge 
S.  97  ff.  als  Kombination  von  Titel  eirüaR ,  sonst  erüaR ,  Personen- 
namen HröRQR,  zu  dem  Adj.  ags.  hrorj  as.  hrör^  nhd.  in  Hihrig  und 
Patronymikon  HröR^R  mit  Endsilbe  -^r  aus  älterem  -Tä,  das  seiner- 
seits gleich  got.  -eis  in  hairdeis,  Kontraktion  aus  -j^  ist. 


116  Gott.  gol.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Dasselbe  patronymiscbe  Suffix,  das  dem  kelt.  und  griech.  -toc 
entspricht,  findet  sich  in  HaeruwulafiR  Istaby,  schon  von  Lyngby  und 
Wimmer  in  diesem  Sinne  erklärt.  Das  Verhältnis  der  älteren  Endung 
'U  zur  jüngeren  -^r  sei  dasselbe  von  älterem  an.  hiräir  zu  späterem 
hiräer. 

Bugge  findet  es  wahrscheinlich ,  und '  man  wird  ihm  darin  zu- 
stimmen, daß  der  Umlaut  von  an.  hrepe,  obwohl  in  der  Schrift  nicht 
kenntlich  gemacht,  doch  in  der  Aussprache  von  HröneR  vorhanden 
gewesen  sein  müsse. 

Die  S.  100  mitgeteilten  an.  Beispiele  von  Gleichnamigkeit  des 
Vaters  und  Sohnes,  auch  in  patronymischen  Kombinationen  bezeugt, 
beseitigen  jedes  Bedenken  hinsichtlich  der  von  Bugge  gegebenen 
Auslegung. 

Das  Verhältnis  von  urnord.  erilaR  zu  an.  jarl,  an.  eorl,  as.  erl 
deutet  Bugge  S.  100  f.  als  ein  solches  von  Doubletten  mit  und  ohne 
Suffixvokal  und  findet  bei  dieser  Gelegenheit,  der  Bogen  ist  1892 
gedruckt,  die  einzig  richtige  Erklärung  des  got.  Frauennamens  bei 
Jordanes  Erelteua  als  wulf.  "^Airilagiha, 

Da  zu  diesen  Doubletten  auch  der  alte  Volksname  Herüli  gehört, 
der  nach  meiner  Meinung  eine  Latinisierung  mit  Einwirkung  von 
hi^rtis,  also  auf  deminutives  h^rülus  umgedeutet  ist,  wirft  sich  für 
Bugge  die  Frage  auf,  ob  nicht  erilüR  hier  wie  in  anderen  Fällen  ur- 
nordischer Inschriften  als  Volksname  zu  verstehen  sei.  S.  101  ent- 
scheidet er  sich  noch  für  den  Standestitel,  aber  S.  530—531  ist  ihm 
der  als  Personenname  verwandte  Volksname  wahrscheinlicher  ge- 
worden. 

Eine  an  orte  >  fecit  <  geknüpfte  Betrachtung  über  urnord.  w  im 
Anlaute  vor  dunklem  Vokal  führt  Bugge  S.  103  zu  dem  Ergebnis, 
daß  der  Abfall  des  w  in  die  Mitte  des  7.  Jahrhunderts,  der  auch  die 
Inschrift  von  By  angehöre  (S.  115)^),  zu  verlegen  sei. 

Das  Objekt  zum  Verbum  pat  amna  bietet  die  auch  im  finn. 
arina  bewahrte  urnord.  Entsprechung  zu  an.  arttin,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  daß  dieses  Maskulinum  ist,  jenes  aber  Nentrum 
sein  muß. 

Die  Bedeutung  des  an.,  isl.  Wortes  ist  >Heerd<  aber  auch 
»Erhöhung,  Bühne,  Gestell«,  die  des  finn.  auch  >Klippe<  im  Meere. 
Innerhalb  dieser  Bedeutungen,  zu  denen  noch  »Fußboden,  Tenne« 
und  > Altäre  kommt,  halten  sich  auch  aschwed.  cerinj  ahd.  erin^ 
mhd.  eren,  ern  m.  und  n. 

Für  den  vorliegenden  Fall  hege  ich  keinen  Zweifel,  daß  aRina 

1)  In  weiteren  Grenzen  7.  Jahrhundert,  Noreen,  An.  Qramm.  P,  S.  835. 


Norgcs  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  117 

nicht  (lie  flache  Steinplatte  bezeichne,  sondern  den  Erdhügel,  der 
über  dem  Grab  errichtet  war.  Ich  übersetze  das  Wort  mit  > tumulus« 
und  betrachte  es  für  diese  Auffassung  als  irrelevant,  ob  die  Platte 
schon  ursprünglich  außen  auf  dem  Hügel  lag,  oder  wie  Bugge  S.  116 
vermutet,  innerhalb  desselben  die  Grabkammer  deckte. 

Daß  alaiuf\  um  auf  den  unsicheren  Teil  des  Textes  zu  kommen, 
gelesen  *ala%fu,  ein  Obliquus,  Akkusativ  nach  Bugge  S.  108,  jenes 
Frauennamens  sei ,  der  im  historischen  Altnordisch  Älof  oder  Ölof 
lautet  und  ein  umord.  *Anulaihu,  so  besser  nach  Noreen,  An.  Gramm. 
P  S.  77  Anm. ,  voraussetzt ,  ist  einleuchtend  und  die  Erklärung  des 
f  an  Stelle  eines  erwarteten  h  bei  Bugge  S.  109  plausibel. 

Zweifelhaft  aber  glaube  ich  ist  Bugges  Gleichung  seiner  Lesung 
übt  oder  upt  mit  dem  häufigen  uft  der  jüngeren  nordischen  Inschriften, 
worin  das  u  eine  Aussprache  0  deckt.  Da  es  sehr  möglich  ist,  daß 
überhaupt  nur  ut  ohne  ein  drittes  Zeichen  dazwischen  auf  dem  Steine 
gestanden  hat,  möchte  ich  befürworten,  an  das  bekannte  Adverbium 
üt  zu  denken  und  es  zu  dem  vorhergehenden  Verbum  orte  ...  ü^  zu 
beziehen.  Eine  Verbindung  *üt  yrhia  oder  *yr1cia  üt  wie  schwed. 
utßra,  dän.  udfere,  mhd.  üzwürken,  üzrihten,  üzarheiten  scheint  ja 
möglich;  wir  hätten  sie  als  >perficere<  oder  genauer  als  >exstruere< 
zu  verstehen. 

Für  das  hinter  dem  Personennamen  stehende  dR  gewährt  Bugge 
die  Auflösung  *dohfun,  wobei  nur  zu  bedenken  wäre,  ob  nicht  in 
demselben  Texte,  der  orte  für  älteres  ^tvarfUe  bietet,  eher  *dottttR 
oder  mit  Verinfachung  *dotuB  erwartet  werden  solle. 

Beide  aber,  den  Personennamen  und  die  Apposition  hierzu,  nehme 
ich  als  Dative  und  glaube,  daß  auch  in  diesem  Sinne  die  von  Bugge 
S.  113  metrisch  gegliederten  Zeilen:   EirilaR  HröRaR  \  HröReR  orte  \\ 

/  IL 

pat  aRina  üt  \  Alaifu  dötuR  weder  grammatisch  noch  metrisch  irgend 
einen  Einwand  erfahren  können. 

Die  vier  Runen  der  Kurzzeile  am  Ende  sind  offenbar  die  Anfangs- 
buchstaben einer  gekürzten,  formelhaften  Phrase.  Bugge  vermutet 
S.  111  *runoR  markide  Pqr  shaR  d.  i.  >litteras  scripsit  has...«  mit 
folgendem  Personennamen  im  Nominativ.  Ich  möchte  nur  bemerken, 
daß,  nachdem  HröRUR  .  .  .  orte  in  dritter  Person  eingeführt  ist,  der 
Runenschreiber  eher  in  erster  Person  sprechend  gedacht  werden  muß, 
wonach  *markiäo  auszufüllen  wäre,  sowie  daß  mir  die  proklitische 
Form  des  Demonstrativpronomens  von  Einang  pan  hier  nicht  an- 
gebracht scheint.  Das  Pronomen  wäre  hier  seiner  Stellung  nach 
betont  zu  denken,  wie  in  rufiAB  paiAR  Istaby,  an.  peer,  und  es  ist 
nicht  ausgemacht,  daß  diese  betonte  Form  ungefähr  gleichzeitig  mit 
der  Form  von  Istaby  auch  "^päR  gelautet  haben  kSmie. 


118  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Den  Namen,  der  sich  hinter  der  iA-Rune  birgt  und  der  ja  wohl 
mit  der  umord.  Form  des  Namens  dieser:  *ehaR  oder  *lÄaÄ,  Bugge 
S.  111,  identisch  ist,  findet  Bugge  auch  in  der  Inschrift  des  Brak- 
teaten  von  Aasum  Ehe  oder  ihe  ik  akaa  fahl,  ehe  bei  Noreen,  An. 
Gramm.  P  S.  347.  Die  Wortstellung  vergleicht  Bugge  112  mit 
jüngerem  kund  kiarßi  ßatsi  kitil  slaJca  aus  Lilj.  R.  U.  895. 

Das  Verbnm  merkja  ist  aus  jüngeren  nord.  Inschriften  bekannt, 
ags.  Beow.  heißt  es  allerdings  park  runstafas  mearcian. 

Viel  weniger  glücklich,  glaube  ich,  ist  der  Vorschlag,  den  Bugge 
S.  531  macht,  den  Komplex  dn  rmps  nach  der  Inschrift  von  Opedal 
in  *dohtaR  rowe  minu  par  ine  zu  ergänzen.  Ich  kann  in  demselben, 
der  stilistisch  weitaus  schwächer  ist,  der  die  metrische  Anordnung 
des  vorhergehenden  Textes  aufhöbe  und  mit  der  dritten  Person  des 
Verbums  orte  >fecitc,  nicht  orta  »feci«,  kaum  vereinbar  wäre,  einen 
Fortschritt  gegenüber  dem  vorher  gegebenen  keinesfalls  erblicken. 

Gleichfalls  um  650,  doch  wohl  noch  etwas  nach  diesem  Zeit- 
punkte ^) ,  setzt  Bugge  S.  339  die  Inschrift  von  Myklebostad  B ,  die 
er  unter  Nr.  27  behandelt. 

Der  Stein,  ein  Obelisk  aus  Hornblendegneis,  ist  1.50  m  hoch,  an 
der  Basis  0.45  m,  am  Kopfende  0.20  m  breit  und  0.11— 0.14  m  dick. 
Es  ist  vermutlich  derselbe  Stein,  über  dessen  Auffindung  im  Jahre 
1852  sich  Pfarrer  Kraft  in  einem  1857  geschriebenen  Briefe  äußert. 
Nach  den  Mitteilungen  Krafts  und  Bendixens  vom  Jahre  1870,  sowie 
nach  seiner  Form  zu  schließen,  muß  man  annehmen,  daß  der  Stein 
früher,  bevor  er  zum  Treppenstein  degradiert  wurde,  unter  freiem 
Himmel  errichtet  war,  so  daß  die  Inschrift,  siehe  die  Abbildung 
S.  318,  sich  von  unten  nach  aufwärts  erstreckte.  Diese  Inschrift, 
die  mit  rechtsgewendeten  Runen  ungefähr  die  Mittellinie  des  Steines 
entlang  läuft,  besonders  dargestellt  S.  330,  transliteriert  und  ergänzt 
Bugge  S.  337 :  writea  aiha{>row[B]  a[f]ti[B].  oramalaib[a]  und  deutet 

*tvrUeB  als  3.  sing,  praes.,  an.  ritr  > schreibt <,  *AihupröwR  als  Nom. 
eines  mask.  Personennamens,  dessen  erster  Teil  got.  aiwi-  in  ahd. 
eo- :  Eopirin,  Eoperht,  Ediup  gelegen  sei,  dessen  zweiter  zu  hu.pröasky 
ags.  prowian  gehörig  in  den  an.  Namen  prör  und  Duraprör  vor- 
komme, *aßiR  als  Präposition  »nach«  und  *Oru^ndla%ba  als  Akkusativ 
eines  nord.  mit  dem  Elemente  von  Ormr^  Ormarr,  Ornihüdr,  ags. 
Wyrmhere,  ahd.  Wurmhari  im  ersten  und  4aibaR  im  zweiten  Teile 
gebildeten  Namens. 

Wie  unsicher  die  Lesung  sei,  zeigen  die  Unterpungierungen  und 
Einklammerungen  in  Bugges  voranstehender  Transliterierung.    Seine 

1)  S.  338  auf  675—700  emgeengt. 


Korges  Indskrifter  med  de  spldre  Runer.  119 

Deutung  allerdings  gibt  einen  einfachen  und  gerundeten  Sinn,  hu 
ist  nach  Bugge  S.  337  eine  Ligatur  mit  linksgewendetem  m,  das  r 
in  prow(R)  ein  solches  ohne  Hauptstab  wie  in  der  zum  Röck-Typus 
gehörigen  Inschrift  von  Gursten,  Runverser  S.  361. 

Noch  jünger,  um  725,  ist  nach  Bugges  Bestimmung  S.  295  die 
Inschrift  des  Steines  von  Terviken  B,  die  Wimmer,  Die  Runenschrift 
S.  304  in  den  Anfang  des  Zeitraumes  von  600(625)— 675  verlegt. 

Der  Stein,  Bugge  Nr.  21,  ist  1883  in  derselben  Grabkammer 
gefunden,  aus  der  der  später  zu  behandelnde  Stein  A  stammt,  wo 
er  einen  Teil  der  seitlichen  Ausmauerung  bildete.  Die  Platte  aus 
Glimmerschiefer  hat  eine  Länge  von  2.70  m,  eine  Breite  von  0.68  m 
und  ist  0.09  m  dick. 

Die  Inschrift,  besonders  dargestellt  S.  285,  dazu  S.  287  und  293, 
läuft  am  Steine  in  der  horizontalen  Mittellinie  etwas  einwärts  vom 
rechten  Rande  beginnend  von  rechts  nach  links  und  wurde  früher 
pieprodwengk  oder  . . .  wlngk  transliteriert ,  so  Bugge  noch  S.  223 
im  Jahre  1894.  Neuerdings  hat  Bugge  am  Beginne  und  am  Ende 
dieser  in  kräftigen  Runen  geschriebenen  Zeile  noch  feiner  geritzte 
Zeichen  entdeckt,  die  er  mit  der  deutlicheren  Hauptinschrift  textlich 
verbindet.  Zugleich  interpretiert  er  aber  auch  diese,  an  deren  Buch- 
staben eine  ganze  Reihe  von  accessorischen  Seitenhasten  an  den 
Fußenden  wie  an  den  Köpfen  auffallen,  anders  und  glaubt,  S.  294, 
eine  versifizierte  Fassung. *J;ji/  pinne  päR  runö  \  ond,  Twmtteng!  'k  hiö^ 
das  wäre  >Ini!  für  Meine  Seele  diese  Runen,  des  Twenna  Sohn!  habe  ich 
gehauen«,  vorschlagen  zu  können,  die  S.  556  fif.  wieder  modifiziert  wird. 

Die  Sache  ist  so  zweifelhaft,  daß  Noreen  diese  Inschrift,  obwohl 
sie  ersichtlich  in  den  älteren  Runen  verfaßt  ist,  in  seine  Sammlung 
der  wichtigsten  umord.  Inschriften,  An.  Gramm.  P,  überhaupt  gar 
nicht  mehr  aufgenommen  hat. 

Daß  wir  es  bei  den  zehn  runischen  Gebilden  derselben  zum  Teil 
mit  komplizierten  Ligaturen  zu  tun  haben,  scheint  ja  klar,  in  welcher 
Weise  aber  z.  B.  ein  Gebilde  wie  tl,  das  die  graphischen  Figuren 
von  l,  e  und  t  enthält,  gelesen  werden  soll  und  welche  Bedeutung 
den  schiefen  Aufstrichen  an  den  Hastenfüßen  zukomme,  das  scheint 
mir  noch  völlig  ungelöst.  Die  Inschrift  kann  also  nicht  wegen  ihres 
Inhaltes,  der  unbekannt  ist,  sondern  nur  wegen  ihrer  Fundstätte  der 
Gruppe  der  wortreicheren  Grabinschriften  angereiht  werden. 

Textlich  schlösse  sich  hieran  noch  die  Inschrift  des  Steines  von 
Gimso,  Bugge  Nr.  33,  eines  Granitobelisken  von  1.70  m  Länge, 
0.40  m  unterer  und  0.22  m  oberer  Breite,  0.53  zu  0.27  m  nach  oben- 
hin abnehmender  Dicke. 

Pie  Inschrift  des  Steines,  von  Bugge  mit  einem  erstaunlichen 


120  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Aufwand  von  Sehkraft  und  Scharfsinn  aus  einer  arg  mitgenommenen 
Fläche  herausgelesen,  ist  in  jüngeren  Runen  verfaßt  und  wird  S.  411 
um  das  Jahr  825  datiert.  Bugge  hat  sie  in  die  Sammlung  der 
älteren  Inschriften  aufgenommen,  weil,  wie  er  S.  384  mitteilt,  einzelne 
Runenformen  derselben  Beziehungen  zum  älteren  Alphabete  auf- 
weisen.   Ich  gehe  auf  dieselbe  nicht  des  weiteren  ein. 

Bei  allen  bisher  behandelten  Denkmälern  war  die  Beziehung  auf 
einen  bestatteten  Toten  entweder  in  unzweideutigen  Ausdrücken  aus- 
gesprochen, oder  doch  aus  der  syntaktischen  Verbindung  blosser 
Personennamen  zu  erschließen. 

Es  gibt  aber  eine  kleine  Gruppe  von  Grabinschriften,  die  weder 
den  Toten  nennt,  noch  ein  auf  die  Denkmalserrichtung  bezügliches 
Sachwort  enthält,  sondern  sich  lediglich  mit  der  Angabe  des  >titulum 
fecic  begnügt. 

Das  klassische  Beispiel  hierfür  ist  die  Inschrift  des  Steines  von 
Einang,  Bugge  Nr.  5.  Dieser  seit  1871  bekannter  gewordene,  1.47  m 
hohe,  1.5  m  breite  und  0.13— 0.18  m  dicke  Stein  aus  grobem  Schiefer 
ist  nach  Bugges  Bericht  S.  75  der  einzige  norwegische  Runenstein 
aus  der  älteren  Eisenzeit,  der  noch  heute  auf  dem  Grabhügel  steht, 
auf  dem  er  ursprünglich  errichtet  wurde. 

Die  Inschriftzeile  desselben,  0.66  m  lang,  läuft  mit  linksgewendeten 
Runen  von  oben  nach  unten,  ungefähr  der  Mittellinie  der  oberen 
Flächenhälfte  entsprechend. 

Der  Stein  ist  von  brüchiger  Beschaffenheit  und  die  Möglichkeit 
nicht  ganz  abzuweisen,  daß  ein  Teil  der  Inschrift  im  Laufe  der  Zeit 
abgebröckelt  sei. 

Daß  die  dastehende  Zeile  überhaupt  eine  Zeit  von  1200  Jahren 
—  nach  Bugge  S.  88  und  445  vielmehr  IV2  Jahrtausenden  —  über- 
dauert habe,  erklärt  Rygh,  bei  Bugge  S.  76 ,  aus  der  Annahme,  daß 
der  Stein  bald  nach  seiner  Aufrichtung  mit  der  Inschriftseite  zur 
Erde  gewendet  umgefallen  und  erst  in  neuerer  Zeit  wieder  auf- 
gestellt worden  sei. 

Die  eine  Zeile,  abgebildet  S.  73  und  78,  transliteriert  und  teilt 
Bugge:  dagaB  paa  runo  faihido  und  erklärt  Dagan  als  mask. 
Personennamen  entsprechend  der  historischen  an.  Namensform  Dagr^ 
püR  rüno  als  Akkusativ  plur.  wie  an.  Jker  rünar  und  faihido  als 
1.  Person  sing,  praeteriti  gleich  an.  fdda  >ich  schrieb«. 

Dem  Demonstrativpronomen  J5aÄ  möchte  Bugge  lang  ä  zuerkennen, 
das  in  der  historischen  an.  Form  pwr  durch  Einfluß  des  folgenden 
R  zu  d  umgelautet  sei ;  doch  sei  es  sehr  unsicher,  das  Verhältnis  der 
nord.  Form  zu  got.  ßös  zu  bestimmen.  Ich  sehe  von  der  historischen 
Form  pch  ab,  deren  wohl  diphthongische  Vorstufe  aber  doch  sicher- 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Raner.  121 

lieh  in  dem  PaIar  yon  Istaby  gegeben  ist,  indem  ich  die  Form  von 
Einang  als  proklitische  Abfärbung  und  Kürzung  pän  durch  *pöR  aus 
*PöB  gleich  got.  pös  erkläre.  Den  üebergang  eines  aus  etymologischem 
ö  stammenden  ^  zu  a  in  unbetonter  Position  habe  ich  auch  in  urnord. 
idtäSa-y  Tune,  geltend  gemacht.  Und  wie  an  dieser  Stelle  bin  ich  auch 
hier  geneigt  neben  betontem  got.  pös  ein  unbetontes  '''^s  zuzulassen 
und  möchte  auch  hier  erinnern,  daß  man  sich  von  dem  Vorurteile 
emanzipiere,  die  gotischen  Langvokale  seien  auch  überall  und  unter 
allen  Umständen  lang  zu  sprechen  und  nicht  vielmehr  vielfach  eine 
Erscheinung  des  bloßen  orthographischen  Zwanges. 

Gegen  die  Ansicht  Wimmers,  pan  sei  hier  das  Ortsadverbium 
par,  wendet  Bugge  mit  Recht  ein,  daß  dieses  immer  mit  der  reiä- 
Rune,  nicht  mit  der  jfr-Rune  geschrieben  werde  und  daß  sich  die 
scheinbar  analogen  Schreibungen  mit  r  von  aftcR  >efter€  Tune  und 
uhüR  >over<  Järsberg  (Vamum)  nicht  heranziehen  ließen,  da  diese 
Zweisilber  ihr  r  der  Angleichung  an  die  Komparativformen  mit  r 
aus  e  verdankten,  die  bei  den  einsilbigen  Adverbien  par,  huar  Rök, 
Mar  Kolunda  nicht  statt  haben  könne. 

Der  Erklärung  Brätes  von  runo  als  lautgesetzlicher  Akkusativ- 
form pluralis  mit  -ö  aus  -ans,  der  auch  Noreen  unter  Verweisung 
auf  aschwed.-run.  runq,  runa  zustimmt,  hält  Bugge  S.  82  den  Nach- 
weis des  auslautenden  r-(A-) Verlustes  in  run.  hena,  sunt,  an.  hennar, 
synir  entgegen,  der  sich  ohne  Schwierigkeit  beispielsweise  auch  für 
runa  pasi,  Lilj.  R.  U.  968,  geltend  machen  läßt. 

Aber  Bugge  zögert  doch,  dieselbe  Annahme  des  gelegentlichen 
22 -Verlustes,  etwa  als  Sandhi- Erscheinung  vor  folgendem  tonlosem  /*, 
auch  für  den  Fall  von  Einang  zu  machen  und  scheint  sich  später 
S.  288 ,  wo  er  mit  Rücksicht  auf  runo  .  . .  raginaJeudo  des  Steines 
von  Fyrunga  (Noleby)  seine  Annahme  eines  bloß  graphischen 
Ausfalles  zurückzieht,  doch  der  Meinung  Brätes  zuzuneigen.  S.  528 
aber  akzeptiert  er  die  Erklärung  Kocks,  nach  der  der  is -Verlust  von 
runo  als  dissimilatorischer  Abfall  auf  Grund  des  anlautenden  r  be- 
ansprucht wird. 

Ich  bin  natürlich  nicht  in  der  Lage  eine  Endung  -d  als  laut- 
gesetzliche Entwicklung  aus  -an^  anzuerkennen,  das  bei  Nasalverlust 
ebenso  zu  -ör  werden  mußte,  wie  es  die  Flexion  des  Nominativs 
pluralis  -as  geworden  ist,  bei  5 -Verlust  aber  das  n  der  Flexion  zu- 
nächst bewahren  mußte.  Für  die  Erklärung  des  gelegentlichen 
it-Abfalles  in  rüno  ist  meinem  Verständnisse  die  Annahme  einer 
Sandhi-Erscheinung  am  zugänglichsten  und  wenn  nicht  alles  täuscht 
habe  ich  wohl  einen  ähnlichen  Fall  schon  Z.  f.  d.  A.  45,  134 
in  dem  nordischen  Volksnamen  Bergio  bei  Jordanes  nachgewiesen. 

QWL  f  •!.  Ani.  190e.  Nr.  2.  9 


122  Gott,  gel  Adz.  1906.  Nr.  2. 

Bugge  S.  88  setzt  die  Inschrift  zwischen  400  und  450,  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  303,  zwischen  500  und  550,  Noreen,  An.  Gramm. 
P,  S.  336,  ins  4.  Jahrhundert. 

Zur  Gruppe  der  Grabschriften  ohne  Namen  des  Toten  rechne 
ich,  nicht  im  Einklänge  mit  den  nordischen  Gelehrten,  wie  ich 
vorausschicken  mu£,  auch  die  Inschrift  von  Reistad,  Bugge  Nr.  14. 

Der  1857  oder  1858  aus  der  Erde  gepflügte  Stein,  Hornblende- 
granit, 0.65m  hoch,  0.60m  breit,  0.22m  dick,  stammt  nach  Bugge 
S.  224  aus  dem  Innern  eines  Grabhügels.  Er  trägt  in  drei  parallelen, 
von  links  nach  rechts  die  Breitseite  querüberlaufenden  Zeilen  die 
Inschrift  inpingas  |  Ik  wakraB :  unnam  |  wraita. 

Umord.  tvraita  identifiziert  Bugge  S.  222  mit  dem  ahd.  Mask. 
reiß  >linea,  nota<,  an.  reitr  >Ritz,  Furche  <,  in  den  älteren  an.  Hand- 
schriften als  ti-Stamm,  in  den  jüngeren  als  a-Stamm  flektiert. 

Da  wraüa  AJdcusativ  sing,  ist,  kann  man  nicht  ersehen,  ob  dieses 
zu  uoritan  gehörige  Nomen  acti  wie  staina^  Tune,  Maskulinum  oder 
gleich  Maiwa,  B0,  ßcU  aninaf  By,  Neutrum  sei;  die  Gemeinsamkeit 
des  an.  und  ahd.  Genus  aber  wird  uns  berechtigen  ein  umord.  Mask. 
*toraüa&  anzusetzen. 

unnam  assimiliert  aus  "^undnam  ist  wegen  ik  erste  Sing,  praet., 
die  Phrase  *wraita  undniman  offenbar  nur  in  den  Wörtern,  nicht  im 
Sinne  von  *rünoB  wurkjan  Tune  oder  *mnoB  faihjan  Einang  unter- 
schieden. 

In  lupingas  erblickt  Bugge  S.  222  den  Namen  des  Bestatteten, 
während  WakraR  der  des  Verfertigers  der  Inschrift  wäre.^) 

Ich  beziehe  beide  Namen  auf  eine  Person  und  betrachte 
lupingas  ik  Wakran  als  eine  Kombination  wie  UlewagastiR  HoUif^an 
Gallehus,  oder  ähnlich  HronaR  Storcr  By,  HipuwulafR  HAeruwulafiR 
Istaby,  HaäulaikaR  ek  hagustaäaR  Kjolevig,  ErilaR  sa  wilagaR  Lind- 
holm ,  FrawaradüR  anahdha  Möjebro ,  Hariuha  .  .  .  fauauisa  Seeland 
und  andere. 

Insbesondere  halte  ich  lußingaR  für  den  Volksnamen  röm.-germ. 
luthungi,  auch  in  matres  Suebae  Euthungae^  als  Personenname  in 
bair.  Eodunc,  ledunc  fortgepflanzt,  und  WakraR  für  den  eigentlichen 
Namen  an.  Fotr,  ahd.TfocÄar,  Bugge  S.  221,  der  aber  allerdings  auch 
kein  Voll-,  sondern  nur  ein  Beiname  ist.  In  anderer  Formulierung 
könnte  lupingaR  Hauptname  und  WakraR  Beiname  sein,  aber 
HoÜingaR  Gallehus  verstehe  ich  als  geographischen  Stammnamen  und 
so  mag  es  sich  wohl  auch  in  unserm  Falle  verhalten,   in  welchem 

1)  Auch  diese  Deutung  stöfit  Bugge  S.  541  ff.  um  und  wül  daselbst  den  ein- 
eitenden  Komplex  in  *{h)iu  pin  GdR  »diesen  (Stein)  hieb  GäBc  zerlegen.  Ich 
kann  nicht  finden,  daft  diese  spätere  Auffassung  der  früheren  vorzuziehen  w&re. 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Raner.  123 

Falle  dann  WaktuR  durch  das  zwischengesetzte  ik  als  eigentlicher 
Name  hervorgehoben  wäre. 

Der  Stein  wird  von  Bugge  S.  224  auf  das  Ende  des  6.  Jahr- 
hunderts datiert  —  ebenso  von  Noreen,  An.  Gramm.  I*,  S.  341,  gegen 
600  —  von  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  304,  in  den  Beginn  des 
Zeitabschnittes  600(625) — 675  verlegt.  Der  Text  scheint  metrisch 
zu  sein :  lupingaR  ik  WäkraR  \  unnam  wrdita. 

Der  dritte  Repräsentant  dieser  Gruppe  gehört  einer  jüngeren 
Zeit  an.  Es  ist  das  der  Stein  von  Vatn,  Bugge  Nr.  29,  der  1871  aus 
einem  eröfheten  GrabhUgel  gehoben  wurde.  Der  Stein,  blaugrauer 
Tonschiefer,  ist  0.81m  lang,  0.36m  breit,  0.04  bis  0.05m  dick. 
Die  Buchstaben  laufen  an  dem  auf  die  eine  Langseite  gelegten  Steine 
von  links  nach  rechts. 

Das  erste,  schon  länger  bekannte,  in  weiter  spatiierten  Buch- 
staben und  kräftiger  eingehauene  Wort  der  Inschrift,  das  die  mittleren 
zwei  Viertel  des  Feldes  beherrscht,  ist  der  Personenname  rhoaltB, 
an.  Hröaidr,  das  zweite  von  Bugge  nach  einer  Untersuchung  vom 
Jahre  1898  dazu  gewonnene  Wort ,  auf  der  photographischen  Nach- 
bildung S.  355  hinsichtlich  der  beiden  ersten  Runen  ziemlich  deut- 
lich, scheint  '^'fala  zu  sem. 

Die  Inschrift  wird  von  Bugge  S.  362  zwischen  725  und  750  an- 
gesetzt, von  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  304,  um  725,  allgemeiner 
von  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  346 :  8.  Jahrhundert. 

Orthographisch  beachtenswert  ist  die  verkehrte  Schreibung  rh 
für  Ar,  das  Nebeneinanderbestehen  der  zwei  6kRunen:  Y  im  Namen 
und  ^  im  Verbum,  die  Bezeichnung  des  d-Lautes  nach  jüngerer 
Weise  durch  die  ^Rune,  deren  oberes  Dach  in  der  Inschrift  übrigens 
nicht  erhalten  ist,  sondern  ergänzt  wird,  die  jüngere  Form  der 
ii-Rune  A  statt  älterem  Y»  sowie  die  Funktion  der  i-Rune  für  j  im 
Verbum. 

Ist  dasselbe  richtig  gelesen,  so  werden  wir  es  wohl  als  *fä-iu 
verstehen  und  könnten  mit  Bugge  glaulien,  daß  (^  hier  für  den 
langen  Vokal,  ^  aber  den  herrschenden  Anschauungen  von  der 
Abkunft  dieses  Zeichens  aus  der  alten  järorBxme  entgegen  für  den 
kurzen  gebraucht  sei,  eine  Unterscheidung,  die,  wie  Bugge  S.  360 
bemerkt,  in  kemer  andern  Inschrift  begegnete. 

Aber  die  Sache  kann  auch  anders  sein.  Der  gleiche  Name  ist 
auf  dem  Sterne  von  Snoldelev  im  Genitiv  rolialta,  das  ist  *Hr6alds 
geschrieben,  worin  das  h  nicht  mit  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  339, 
als  verkehrte  Schreibung  gleich  rhaaUk,  das  ist  *HraulfR  Helnsßs, 
rhafkmka,  das  ist  *Erafnunga  Laeborg,  oder  in  unserm  Namen  von 
Vatn  zu  fassen  ist,  sondern  zweifellos  als  intervokalisches  Hiatus-/», 

9* 


124  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

anders  gesagt  als  graphischer  Ausdruck  des  mit  Spiritus  lenis  ein- 
setzenden Silbenanlautes  &, 

Erinnern  wir  uns  nun,  daß  die  Rune  Y  im  jüngeren  nordischen 
Fupark  das  alphabetische  Zeichen  für  h  ist,  das  aber  in  etwas  älteren 
Inschriften  auch  a  bedeuten  kann,  so  werden  wir  den  Namen  des 
Yatner  Steines  vielleicht  mit  rhohalta ,  das  ist  *HröäldR  transliterieren 
und  den  Unterschied  beider  Zeichen  der  Inschrift  nicht  in  Kürze 
und  Länge,  sondern  in  Aspiration  und  Nichtaspiration  begründet 
finden  dürfen. 

Ungewöhnlich  in  dem  kleinen  Texte  ist  das  Präsens  faiu  >ich 
schreibe«,  wofür  wir  sonst  regelmäßig  das  Präteritum  »schrieb«  an- 
treffen. 

Eine  weitere  Gruppe  der  nordischen  Grabinschriften  bilden  jene, 
bei  denen  der  Text  sich  auf  einen  bloßen  Personennamen  beschränkt. 
Der  Name  kann  im  Nominativ  oder  im  Genitiv  stehen.  Der  Genitiv 
mag  sich  aus  der  bereits  abgehandelten  Gruppe  erklären,  wo  er,  ein 
possessivischer,  mit  dem  Nominativ  eines  auf  die  Beisetzung  zielenden 
Sachwortes  verknüpft  ist.  Der  Nominativ  erläutert  sich  aus  den  nur 
^inen  Namen  tragenden  Gerätinschriften,  insoferne  dieser  den  Namen 
des  Besitzers  darstellt.  In  ganz  ähnlicher  Anschauung  kann  auch 
der  Bestattete  als  Eigner  des  Ruheplatzes  angesehen  werden. 

Hierher  gehört  zunächst  der  Stein  von  Terviken  A,  Bugge  Nr.  20, 
Quarzschiefer  von  vierkantiger  Form,  2.34  m  hoch,  0.70  m  breit, 
0.08  m  dick,  der  1880  in  einer  Grabkammer  aufgefunden  wurde,  nach 
Bugges  Vermutung  aber,  bevor  er  in  die  Kammer  vermauert  wurde, 
einmal  unter  freiem  Himmel  errichtet  war. 

Die  Inschrift  läuft  an  dem  in  situm  gebrachten  Stein,  S.  279, 
mit  linksgewendeten  Runen  im  unteren  Drittel  der  Mittellinie  von 
oben  nach   unten   und  bietet  transliteriert  die  Lesung  ladawar^aB. 

Von  der  Rune  Y  am  Ende  ist  nur  das  rechte  Seitendetail  er- 
halten, hinter  dem  der  Stein  abgebrochen  ist,  doch  ist  die  Lesung 
derselben  keinem  Zweifel  unterworfen.  Ueber  den  Runen  a  und  tc, 
genau  auf  die  beiden  Hastenköpfe  orientiert,  steht  ein  etwas  kleineres 
u  A)  dessen  Bedeutung  Bugge  als  dunkel  bezeichnet.  Die  drittletzte 
Rune  des  Namens  liest  Bugge  S.  280  nicht  ;  sondern  ng,  trennt  den 
Komplex  in  *La(n)da  WarinyaR  und  erklärt  denselben  als  Namen 
mehr  einem  Patronymikon  auf  inga-^  beide  im  ahd.  als  Lanto  und 
Warinc  belegbar.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  würde  man  das 
übergesetzte  u  mit  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  166—167  als 
Trennungszeichen  erklären  müssen. 

Aber  übergeschriebene  Buchstaben  sind  doch  sonst,  d.  h.  in  Hand- 
schriften^ nicht  Trennungszeichen,  sondern  Nachträge  oder  Korrekturen, 


Norges  Indskrifter  med  de  aeldre  Raner.  125 

wofür  auch  bei  den  Buneninschriften  Beispiele  nicht  völlig  entgehen.' 
So  ist  z.  B.  das  g  in  der  ags.  Inschrift  des  Steines  von  Hartlepool : 
Mid  —  dlfyp,  Victor,  Die  northumbr.  Bunensteine,  Tafel  IV,  Fig.  11, 
offenbar  ein  orthographischer  Nachtrag\  nach  dessen  Analogie  man 
annehmen  müßte,  der  Bunenmeister  von  Torviken  A  habe  statt  ein- 
fachem 10  eine  Schreibung  uw  herstellen  wollen,  also  eine  Schreibung, 
die  z.  B.  auch  Beow.  58  in  guäreouto :  u  +  M?-Bune,  begegnet  und  an 
die  Darstellung  des  germ,  w  bei  lateinischen  Autoren  des  späteren 
Altertums  mit  üb  auch  ouu  und  ou  erinnert. 

In  der  Tat  ist  auch  das  nachgetragene  X  des  Frauennamens  von 
Hartlepool  mit  seinen  Fußenden  genau  so  auf  die  Hastenköpfe  des 
I  und  1^  orientiert,  wie  das  bei  dem  A  von  Torviken  A  der  Fall  ist. 

Falls  man  also  Bedenken  trüge  eine  angestrebte  Korrektur  von 
lada-  zu  ladu-  anzuerkennen,  würde  man  sich  zu  einer  Trans- 
literierung  ladauwnr^aB  entschließen  müssen. 

Meiner  schon  früher  verteidigten  Lesung  der  drittletzten  Bune 
als  j  hat  sich  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  345,  angeschlossen  und  den  ^inen 
Namen,  indem  er  d,  wie  in  dem  Dativ  Kunimudiu  von  Tjurkö,  als  ortho- 
graphische Darstellung  für  nä  nimmt,  mit  dem  deutschen  Lantwari 
von  St.  P.,  Landoarius  der  Libri  confrat.,  dem  westfränk.  Landoerus 
des  Pol.  B.  identifiziert.  Das  o  der  beiden  letzteren  Belege  ist,  wie  die 
vollere  Form  Lafidouuarius  MG.  Dipl.  1,  74  lehrt,  der  durch  folgendes 
w  dunkler  gefärbte  Themavokal  a ,  nicht  orthographische  Vertretung 
des  w\  es  wäre  daher  nicht  ungereimt  auch  im  urnord.  Namen  an 
eine  analoge  Verdunklung  von  a  zu  u  zu  denken.  Jedesfalls  aber 
haben  wir  es  nur  mit  Einern  Personennamen  zu  tun,  dessen  zweiter 
Teil  den  röm.-germ.  Volksnamen  auf  -uarii  entspricht  und  der  in 
toto  mit  dem  ags.  Appellativum  landwaru  >the  people  of  a  country, 
country«  zusammenhängt  und  sich  in  appellativischer  Hinsicht  von 
dem  bahuvrihischen  ahd.  gelando  nicht  unterscheidet. 

Da  der  Stein,  den  Bugge  S.  283  ins  6.  Jahrhundert  setzt  (ebenso 
Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  345;  aber  enger  begrenzt  in  die  zweite 
Hälfte  des  6.  Jahrhunders,  Wimmer,  Die  Bunenschrift  S.  303),  hinter 
dem  Namen  abgebrochen  ist,  so  ist  es  streng  genommen  nicht  sicher, 
daß  nur  der  eine  Name  ursprünglich  dagestanden  habe,  doch  glaubt 
Bugge  S.  280  nicht  annehmen  zu  sollen,  daß  außer  diesem  noch 
weiterer  Text  vorhanden  war. 

Aehnliche  Zweifel  kann  man  auch  in  betreff  des  Steines  von 
Myklebostad  A,  Bugge  Nr.  26,  hegen,  eines  vierkantigen  0.79m 
langen,  0.445  m  breiten  und  0.12  m  dicken  Blockes  aus  stark  schief e- 
richtem  Hornblendegneis,  der,  an  beiden  Enden  abgebrochen,  1888 
aus  der  Erde  gegraben  wurde. 


126  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Die  Inschrift  läuft  mit  rechtsgewendeten  Runen  an  dem  in  die 
wahrscheinliche  ursprüngliche  Stellung  gebrachten  Steine  (Bugge 
S.  525),  der  vermutlich  einmal  unter  freiem  Himmel  errichtet  war 
und  derselbe  Stein  sein  kann,  dessen  Pfarrer  Kraft  in  seinem  Briefe 
vom  Jahre  1857  nach  dem  Hörensagen  gedenkt  (Bugge  S.  327),  von 
unten  nach  aufwärts.  Sie  erstreckt  sich  im  linken  Felde  der  oberen 
Hälfte  des  Steines,  etwas  über  der  Mitte  beginnend  bis  zum  Rande, 
wo  sie  mit  einer  aufrechten  Hasta  ohne  Seitendetail  abbricht.  Ihre 
Transliterierung  ergibt  die  Lesung  asngas//!;  an  der  durch  zwei 
Striche  markierten  Stelle  steht  ein  von  Bugge  nach  Rygh  als 
Trennungszeichen  gefaßtes  Gebilde,  das  man  als  ein  oben  und  unten 
mit  einem  Querstriche  geschlossenes  schräges  Kreuz  beschreiben 
kann.  Dasselbe  ist  etwas  kleiner  als  die  Runen  der  Inschrift  und 
zur  langen  Mittellinie  symmetrisch  orientiert,  d.  h.  es  schwebt  über 
der  Grundlinie  und  erreicht  nicht  die  obere  Zeilengrenze.  Unmittel- 
bar am  Bruche  zeigt  das  Original  noch  eine  etwas  unterhalb  der 
Mittelhöhe  der  Buchstaben  beginnende  schräg  nach  links  ansteigende 
Vertiefung,  die  alt  zu  sein  scheint  und  als  Teil  einer  Rune  angesehen, 
dem  unteren  Aufstriche  eines  ^  entsprechen  könnte.  Bugge,  der 
diesen  Schrägstrich  schon  S.  123  beschreibt  und  ihn  daselbst  von  der 
Basis  der  Runen  ausgehen  läßt,  ist  später,  S.  326,  nicht  mehr  geneigt 
demselben  literale  Bedeutung  beizumessen. 

Bugge  erklärt  den  Komplex  asugas  als  Genitiveines  aus  *ansuR 
pss  mit  gutturalem  Suffixe  abgeleiteten  Personennamens  *Ä(n)8ugaR 
und  vermutet  in  dem  folgenden,  durch  das  angebliche  Trennungs- 
zeichen geschiedenen  i  den  Anfang  eines  nicht  mehr  ergänzbaren 
Wortes,  das  entweder  im  Nominativ  gedacht  den  Genitiv  des  Personen- 
namens regiert,  oder  im  Genitiv  als  Apposition  zu  diesem  verstanden 
werden  dürfte. 

S.  562  denkt  Bugge  an  Ergänzung  nach  an.  inni  »Herberge<  im 
Sinne  von  > Grabesraum«. 

Die  vorausgesetzte  Verwendung  des  Suffixes  ga-  zur  Ableitung 
eines  Personennamens  (aus  einem  persönlichen  Begriffe!)  bezeichnet 
Bugge  selbst  als  eine  in  logischer  Hinsicht  einzelstehende  und  durch 
Analogien  nicht  gestützte,  doch  verweist  er  später,  S.  562,  auf  das 
von  ihm  für  die  Gjevedaler  Inschrift  erschlossene  Adjektiv  *  ansog. 

Es  ist  ohne  Vergleichung  des  Originales  nicht  tunlich,  die  Ver- 
mutung Bugges,  daß  der  ansteigende  Schrägstrich  am  Bruche  keinerlei 
literale  Bedeutung  habe,  zu  bekräftigen  oder  zu  bezweifeln,  noch  aus 
den  beschreibenden  Angaben  möglich,  ein  genaues  Bild  über  Lage, 
Ausdehnung  und  Steilheit  dieses  Striches  im  Sinne  der  denkbaren 
Seitenhasta   eines  Buchstaben    zu   gewinnen;   ich   sehe  daher  von 


Norget  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  127 

demselben  vollständig  ab,  indem  ich  vorschlage,  das  vermeintliche 
Trennungszeichen  als  d  zu  lesen  und  zu  dem  hierdurch  gewonnenen 
Komplexe  asngasdi  hinter  dem  Bruche  ein  r  zu  ergänzen. 

Daß  das  angenommene  Trennungszeichen  nicht  die  Zeilenhöhe 
der  benachbarten  Hasten  erreicht,  sondern  nur,  wie  Bugge  sagt,  die 
Hälfte,  wie  mich  aber  die  Abbildung  S.  325  belehrt,  doch  nahezu 
zwei  Drittel  dieser  beträgt,  namentlich ,  wenn  man  die  untere  Breite 
des  liegenden  Zeichens  abmißt  und  sich  dieselbe  als  Höhe  aufgestellt 
denkt,  könnte  gegen  seine  literale  Bewertung  ebenso  wenig  geltend 
gemacht  werden,  wie  seine  über  der  Grundlinie  schwebende  Stellung, 
oder  seine  im  Verhältnis  zu  einem  gewöhnlichen  (f :  M  uiii  einen 
rechten  Winkel  gedrehte  Konfiguration  Y.  Nur  ist  in  diesem  Falle 
die  geringere  Größe  und  Anordnung  im  Mittelraume  der  Zeile  fakul- 
tativ, während  sie  bei  dem  regulären  k :  7  oder  ng  :  o^  typisch  ist, 
ebenso  fakultativ  wie  das  wesentlich  kleinere  n :  T  ain  Ende  des 
erhaltenen  Teiles  der  Kamminschrift  von  Whitby,  Stephens  Hand- 
book 118,  das  kleinere  ;  :  T  der  Zwinge  von  Torsbjserg,  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  147,  das  kleinere  o  :  J  der  zweiten  Nordendorfer 
Inschrift ,  Photographie ,  das  h:T  des  Kragehuler  Lanzenschaftes, 
Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  124,  das  zugleich  ein  Beispiel  für  die 
auch  bei  Bugge  S.  307  erwähnte  Drehung  der  Ä;-Rune  um  einen 
rechten  Winkel  darbietet,  die  ja  bekanntlich  in  den  späteren  stab- 
mäßigen Ausgestaltungen  dieser  Rune  nordisch  Y  Forde  und  nord. 
wie  ags.  JL  ae.  Münze  des  Brit.  Mus.  bei  Wimmer,  Die  Runenschrift 
S.  87,  typisch  geworden  ist. 

Da  sich  das  angebliche  kreuzförmige  Trennungszeichen  der  In- 
schrift von  Möjebro,  auf  das  sich  Bugge  S.  326  noch  berufen  konnte, 
nunmehr  als  ein  graphisch  kleineres  aber  vollwertiges  g  erwiesen 
hat,  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  340,  wird  die  Wahrscheinlichkeit 
literaler  Geltung  für  den  vorliegenden  Fall  wesentlich  gesteigert. 

Zur  Schreibung  des  so  gewonnenen  maskul.  Personennamens 
*ÄfiugasdiR  mit  d  statt  t  nach  s  —  die  Inschrift  verlegt  Bugge 
S. 327  ins  6.  Jahrhundert^)  —  können  die ahd.-rheinfränk.  Schreibungen 
priesdciy  gidrosda,  dursdage,  Braune,  Ahd.  Gramm.,  die  Keronischen 
munisdiures  y  kidursdlihho,  Tcihrusdiy  Kögel,  Ueb.  d.  Keron.  Glossar, 
ebenso  verglichen  werden,  wie  die  älteren  ws.  ^^  für  st:  fcesä,  düsä^ 
watsdm,  aärisärigany  die  Sievers,  Ags.  Gramm.  §  196,  verzeichnet, 
oder  die  lateinischen  Schreibungen  Sexdius,  Aufusdiae  bei  Schuchhardt, 
DerVokalism.  d.  Vulgärlat.  1,  126. 

Der  Name,  korrekt  *AnsugasHR,  reiht  sich  den  umord.  SaUgasÜR 

1)  Ebenso  Noreen,  An.  Gramst  P,  S.  340. 


128  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Berga,  ElewagasÜR  Gallehus  den  an.  por-^  Heim-,  Ood-,  Noma-gestr, 
den  salfränk.  SalegasHs,  Bodogastis  Lex  Sal.,  den  deutschen  Etbegcat 
Tit.,  von  Tenemarke  der  künic  Liudgast  Nib.  an,  wobei  insbesondere 
die  Bildungen  mit  Gottnamen  im  ersten  Teile  fur  ihn  lehrreich  sein 
werden. 

Weiteren  Text  muß  die  Inschrift  nicht  notwendig  enthalten 
haben. 

Der  Stein  von  Bratsberg,  Bugge  Nr.  30,  heute  verschollen,  wurde 
1806  aus  einem  Grabe  gehoben,  in  dem  er  als  Teil  der  Decke  des 
Gewölbes  diente. 

Klüwer,  >Norske  Mindesmaerker« ,  beschreibt  ihn  als  eine 
V/2  Ellen  lange  und  breite  Granitplatte  (Graustein!),  aber  seine  bei 
Bugge  S.  364  reproduzierte  Abbildung  gibt  nicht  genau  quadratische 
Form,  sondern  zeigt  ein  allerdings  nicht  bedeutendes  Ueberwiegen 
der  Breite. 

Die  Inschrift,  fünf  rechtsgewendete  Bunen,  erstreckt  sich  an 
der  oberen  linken  Ecke  des  Steines,  knapp  an  der  Längenkante  be- 
ginnend, parallel  zum  oberen  Rande  nach  einwärts  und  war  von 
Klüwer,  wie  ein  gleichfalls  bei  Bugge  S.  364  reproduzierter,  aus  dem 
Jahre  1806  stammender  Abdruck  der  Runen,  den  M.  F.  Arendt 
genommen  hat,  lehrt,  ganz  richtig  palin  gelesen.  Bugge  erklärt 
S.  365  das  Wort  als  mask.  Personennamen  im  Nominativ,  dessen 
etymologische  Erklärung  zweifelhaft  sei,  da  der  Name  sich  sonst 
nirgends  nachweisen  lasse.  Die  Endung  könne  ebensowohl  die  eines 
i-Stammes  -7/?,  als  auch  die  eines  ia-Stammes,  d.  i.  mit  ursprünglicher 
Länge  -Tr  sein,  die  Quantität  des  ä  sei  nicht  ausgemacht  und  die 
Liquida  könne  einfach  sein,  aber  auch  Geminata  II  darstellen.  Am 
plausibelsten  dünkt  Bugge,  der  die  Inschrift  ins  6.  Jahrhundert  ver- 
legt^), ein  Stamm  *  pallia-  aus  sn.  poll  >  Föhre  <,  weitergebildet  wie 
an.  pymir  > Dornbüsche  aus  pom  und  gleich  diesem  sekundär  ab- 
geleiteten  Maskulinum  als  Personenname  verwandt. 

Das  hier  gegebene  Wort  scheint  mir  aber  doch  als  Bestandteil 
germanischer  Namen  auch  anderweitig  vorzukommen;  so  vermutlich 
in  TaloarduSj  var.  Thaioardus  dux  Langobardorum  zum  Jahre  574 
bei  Fredegarius  Chronicar.  liber  3.  MGH  Scriptores  rer.  Merov.  2, 111, 
sowie  in  dem  zum  Jahre  865  bei  Fm.  Nbch.  P  aus  Hontheim  historia 
Trevir.  nachgewiesenen  Deminutivum  Thidilo. 

Dieses  Element  hat  im  longobardischen  Namen  dunkelvokalisches 
Thema,  weshalb  die  Endung  im  urnordischen  Namen  wohl  tatsächlich 

1)  Ebenso  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  335 ;  enger :  zweite  Hälfte  des  6.  Jahr- 
hunderts, Wimmer,  Die  Ronenschrift  S.  303. 


Norges  Indikriftar  med  de  seldre  Raner.  129 

'U  aus  -iaR  sein  wird.  Die  außerordentlich  regelmäßige  Form  der 
rechteckigen  Platte  macht  es  wahrscheinlich,  daß  der  Name  komplet 
dastehe,  daß  also  keine  dem  p  vorangehende  Runen  abgebrochen 
seien. 

Etwas  jünger,  nach  Bugge  S.  455,  der  ersten  Hälfte  des  7.  Jahr- 
hunderts angehörig,  ist  die  Inschrift  von  Eidsvaag,  Bugge  Nr.  41, 
entdeckt  1901. 

Das  Denkmal,  ein  Obelisk  von  dreieckigem  Querschnitt  aus  fein- 
körnigem granitartigem  Gestein,  3.20m  lang,  0.50m  breit,  0.23m 
dick,  wurde  innerhalb  eines  Steinkreises  umgestürzt,  fast  vollständig 
mit  Erde  bedeckt  vorgefunden.  Die  Inschriftseite  lag  nach  abwärts, 
die  Basis  des  Steines  noch  im  Zentrum  des  Kreises,  in  dem  er  auf- 
gerichtet war.  Eohlenreste  innerhalb  desselben  deuten  auf  ein 
Brandgrab. 

Die  Inschrift,  abgebildet  S.  450  und  452,  beginnt  etwas  oberhalb 
des  unteren  Drittels  und  läuft  in  der  Mittellinie  von  oben  nach  ab- 
wärts. Sie  enthält  nur  ^in  Wort,  transliteriert  haoasaB,  das  Bugge 
und  Olsen  S.  454  als  ältere  Form  des  an.  Personennamens  Hdvarr, 
ahd.  Hoger,  aus  *HauhagaimR  durch  eine  Form  *HaoJiaBaR  vermittelt 
erklären.  Die  Lautgruppe  ao  in  HaoaROR  sei  als  Langdiphthong  So 
anzusprechen,  die  Kürzung  des  zweiten  Teiles  *gaiRaR  zu  -arr  finde 
sich  auch,  Bugge  und  Olsen  S.  455,  in  an.  Hroarr,  ags.  Hrodgär, 
in  an.  nafarr  neben  ahd.  napakerj  finn.  napakaira^  der  Ausfall  des  g 
auch  in  ^uaiR  Helnaes  aus  *AnugaiRaR. 

Eine  besondere  Form  zeigt  die  dritte  Bune  des  Namens,  be- 
sonders abgebildet  S.  453,  das  ist  ein  o  :  5^,  dessen  Beine  sich  nicht 
kreuzen,  sondern  sich  nur  dem  Kreuzungspunkte  nähern,  um  dann 
nach  beiden  Seiten  auseinanderzuweichen.  Man  kann  dieses  o,  dessen 
Form  außerdem  eine  gerundete  ist,  als  ein  unten  offenes  bezeichnen. 
Der  graphische  Vorgang  bei  der  Bildung  dieser  besonderen  Form 
ist  offenbar  der,  daß  der  quadratische  oder  rhombische  Körper  des 
5^  abgerundet  und  zugleich  das  untere  Ende  des  links  absteigenden 
Beines  zum  oberen  des  rechts  absteigenden  und  umgekehrt  geschlagen 
wird.  Das  Zeichen  ist  dadurch  der  ersten  Form  des  griech.  o>,  die 
auf  der  Tafel  zu  S.  416  des  Handb.  der  klass.  Altertumswiss.  Bd.  1 
aus  Kleinasien  nachgewiesen  wird:  R,  außerordentlich  ähnlich  geworden. 

Noch  jünger,  nach  Bugge  und  Olsen  S.  435  zwischen  725  und 
775  zu  datieren,  ist  die  Inschrift  von  Tveito,  Nr.  37,  auf  einem  1896 
in  einem  Grabhügel  gefundenen  Steine.  Der  unregelmäßige  Block 
aus  blauem  Steatit,  1.15  m  lang,  0.50  bis  0.85  m  breit,  0.35  bis  0.50  m 
(abfallend  bis  zu  O.Ol  m)  dick,  trägt  auf  einer  ebenen  Bruchfläche  die 
rechtsgewendete  Inschrift  taita  mit  jüngerem  a  :  ^  und  r  :  i^,  sowie 


130  Qöti  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

mit  doppelt  konturiertem  Dach  des  zweiten  ^  :  f ,  worin  der  an. 
Personenname  Teitr,  ags.  T(U,  ahd.  Zeie  nicht  zu  verkennen  ist. 
Bemerkenswert  ist  der  Umstand,  daß  in  demselben  Grabhügel  nicht 
nur  Gegenstände  aus  der  älteren  Eisenzeit,  etwa  um  500  anzusetzen, 
sondern  auch  Sachen  aus  der  jüngeren  Eisenzeit  gefunden  wurden. 
Bugge  und  Olsen ,  S.  432 ,  halten  dies  für  einen  Zufall ,  ich  glaube 
aber,  daß  wir  es  hier  mit  einer  Nachbestattung  in  einem  alten 
Grabe  zu  tun  haben  und  daß  demnach  die  Inschrift,  die  ja  sicher 
dem  8.  Jahrhundert  angehört,  sich  nicht  auf  den  ursprünglichen 
Eigner  des  Grabes,  sondern  auf  den  ein  paar  Jahrhunderte  später 
in  demselben  zur  Ruhe  Gebetteten  beziehe. 

Ein  glänzendes  Beispiel  scharfsinniger  Rekonstruktion  ist  das 
der  Lesung  ""wadaradas  aus  den  zwei  höchst  mangelhaften  typo- 
graphischen Nachbildungen  der  Inschrift  des  verschollenen  Steines 
von  Saude  (Bugge  Nr.  10)  in  den  beiden  Ausgaben  von  Olai  Wormii 
Danica  Literatura  antiquissima,  Hafniae,  1636  (S.  68)  und  1651  (S.  66), 
woselbst  das  Denkmal  als  »monumentum  Söifuerense<  bezeichnet  ist. 
Die  Form,  in  der  d  wieder  die  Geltung  nd  hat,  erklärt  Bugge  S.  184 
als  Genitiv  eines  Personennamens :  urnord.  *  WandaradaR,  der  ja  im 
an.  und  aisl.  als  Vandrddr  mehrfach  bezeugt  ist.  Dieser  Name  ist 
ein  Pendant  zu  dem  Frawaradan  von  Möjebro  und  scheint  sich,  mit 
aisl.  vandr  Adj.  >difficult,  requiring  pains  and  care<  zusammengesetzt, 
den  apellativischen  Bildungen  aisl.  Ülräär  >wicked«  (auch  Beiname), 
sowie  kaldrddr  »cunning«  anzuschließen,  demnach  gleichfalls  eigent- 
lich ein  Beiname  zu  sein. 

Der  Genitiv  hängt,  wie  schon  früher  bemerkt,  von  einem  ge- 
dachten Sachworte  ab,  wozu  sich  aus  jüngerer. Zeit  die  Inschrift  von 
Kallerup  humbnra  |  staln .  8iill)k8,  altdän.  *Hornbora  stceinn  Swiäings, 
Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  336 — 337,  vergleicht. 

Bugge  setzt  S.  185  die  Inschrift  des  Steines  von  Saude,  über 
dessen  Form  und  Fundumstände  uns  Worm  keine  Nachrichten  über- 
liefert hat ,  ins  6.  Jahrhundert ,  woran  sich  Noreen ,  An.  Gramm.  P, 
S.  341,  fragend  anschließt. 

Die  Analogie  dieser  Inschrift  ist  auch  für  den  Obliquus  kepan 
des  Steines  von  Beiland,  Bugge  Nr.  13,  entscheidend. 

Dieser  Stein,  ein  Granitblock  von  1.65m  Länge,  0.95 m  Breite 
und  0.70 m  Dicke,  ist  in  der  Literatur  seit  1850  bekannt  und  hat 
bis  1893  als  Steg  über  einen  Bach  gedient.  Aus  seiner  unregel- 
mäßigen Form  schließt  Bugge,  daß  derselbe  früher  nicht  unter  freiem 
Himmel  errichtet  gewesen  sein  wird,  sondern,  wie  auch  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  301,  glaubt,  im  Innern  eines  Grabhügels  ange- 
bracht war. 


Norges  Indskrifter  med  de  sBldre  Rnier.  131 

Die  Inschrift  des  Steines,  kepan,  abgebildet  S.  211  und  212, 
läuft  in  einer  zu  den  Langseiten  parallelen  Zeile  nahe  dem  linken 
Rande,  nach  der  Orientierung  S.  211  etwas  vor  der  Mitte  beginnend 
von  links  nach  rechts.  Beachtenswert  ist  an  ihr  das  ä;  :  < ,  das  wie 
bei  der  Freilaubersheimer  Spange  die  volle  Hastenhöhe  der  übrigen 
Buchstaben  erreicht. 

Der  maskul.  Personenname  Kepa  ist  allerdings  einzelstehend. 
Bugge  erinnert,  indem  er  das  e  als  kurzes  nimmt,  an  den  späteren 
run.  Frauennamen  Kipa^  Lilj.  R.  U.  668,  literarisch  im  14.  Jahr- 
hundert Kie^  KycB,  S.  538  aber  an  den  norweg.  Ortsnamen  i  Kiada- 
hivrghi  (heute  Kjaherg),  dessen  erster  Teil  der  Genitiv  eines  Personen- 
namens zu  sein  scheint. 

Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  303,  hatte  die  Inschrift  in  die 
zweite  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  verlegt,  wogegen  Bugge  S.  215 
nichts  wesentliches  einwendet.  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  354,  setzt 
sie  fragend  gegen  600  an. 

S.  214  erklärt  Bugge  —  mit  Rücksicht  auf  das  gleiche  Verhalten 
der  Genitive  sing,  von  mask.  n-Stämmen  und  der  Akkusative  plur. 
von  ^-Stämmen :  umord.  -an,  an.  hana^  got.  hanins  und  umord.  ^-an^ 
an.  daga,  got.  cUiganSy  vorgerm.  -öns,  ferner  mit  Hinblick  auf  die 
Verschiedenheit  der  an.  Flexion  hana  und  daga  von  der  Nominativ- 
bildung an.  pjoäann^  umord.  *peudanaR  —  die  Genitivflexion  der 
mask.  n-Stänmie  nicht  aus  Grundformen  -efios  oder  -ewes,  sondern 
aus  -ns.  Das  umord.  -n  des  Genitivs  Kepan  geht  nach  seiner  Ansicht 
durch  -ttir  auf  -ns  zurück. 

Es  ist  aber  meines  Erachtens  doch  sehr  die  Frage,  ob  die 
umord.  Genitivendung  -an  überhaupt  eine  lautgesetzliche  Entwicklung 
aus  einer  Form  mit  auslautendem  $  sei  und  nicht  vielmehr  als 
grammatischer  Ausgleich  nach  den  anderen  Obliquen  singularis  an- 
gesehen werden  müsse. 

Zu  diesen  einzelnen  Namen  im  Genitiv  füge  ich  mit  entsprechencfem 
Vorbehalt  die  Inschrift  des  Steines  von  Tanem,  Bugge  Nr.  31. 

Der  Block  aus  Tonglimmerschiefer,  nach  0.  Ryghs  Beschreibung 
39"  lang,  28^"  breit  und  6"  dick,  wurde  1813  in  einem  Grabhügel 
vorgefunden  und,  nachdem  er  einige  Zeit  verschollen  war,  1864 
wieder  zustande  gebracht. 

Die  Inschrift  besteht  aus  ^inem  Worte,  dessen  Buchstaben,  zwischen 
parallele  Horizontallinien  eingeschlossen,  von  links  nach  rechts  ge- 
ordnet sind. 

Elüwer,  der  1823  in  Norske  Mindesmserker  eine  Abbildung  mit- 
teilte (reproduziert  bei  Bugge  S.  368),  las  manri///  und  diese  Lesung 


182  GOti  gel.  Ans.  1906.  Nr.  2. 

ist  als  ältere  Feststellung  von  Wert,  da  die  erste  Rune  heute  so 
stark  abgeschliffen  ist,  daß  man  das  innere  Kreuz  des  M  nicht  mehr 
wahrzunehmen  vermag. 

Die  phototypische  Abbildung  bei  Bugge  S.  369  zeigt  im  ganzen 
neun  vertikale  Hasten,  von  denen  die  letzte,  im  stumpfen  Winkel 
nach  einwärts  gebrochen,  der  Umrandung  angehören  kann,  doch  so, 
daß  die  Inschrift  ohne  vorderen  Randstrich  mit  der  ersten  Hasta 
des  m  begänne.  Bugge  liest  die  Inschrift  S.  371  mälrie,  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  170,  woselbst  gleichfalls  eine  Nachbildung  gegeben 
ist,  hatte  malrlB  transliteriert  und  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  344, 
bietet  nudrlB  r,  d.  h.  nur  der  letztere  hat  außer  den  sieben  voran- 
stehenden Hasten  auch  die  achte  und  neunte  als  literale  Bestandteile 
interpretiert.  Die  Lesungen  scheiden  sich  also  nach  den,  auch  auf 
der  Abbildung  Bugges  S.  369  ziemlich  sicher  erkennbaren  Runen 
airl  bei  dem  sechsten  Zeichen,  das  seinem  Aussehen  nach  an  ein 
einstabiges,  abgerundetes  und  oben  geschlossenes,  jünger  nordisches 
m :  9  erinnert  —  über  das  Vorkommen  dieser  Form  siehe :  Wimmer, 
Die  Runenschrift  S.  204  — ,  formell  aber  allerdings  auch  als  ein  ab- 
gerundetes Y  mit  der  älteren  Geltung,  das  ist  r,  aufgefaßt  werden 
könnte,  wie  das  ja  Wimmer,  der  dabei  an  das  mask.  Z-Deminutivum 
mrla  der  Etelhemer  Spange  denkt,  a.  a.  0.  tatsächlich  getan  hat. 

Dagegen  wendet  Bugge  ein,  daß  ein  derartiges  i^-Zeichen  kein 
zweites  Mal  begegne  und  daß  bei  einer  Ableitung  mit  Suffix  -üaRy 
wie  in  an.  Mcevüly  das  i  vor  l  nicht  synkopiert  worden  wäre.  Das 
ist  ja  gewiß  richtig,  aber  auch  ein  runisches  e  von  der  hier  be- 
haupteten Form,  das  man  doch  wohl  nicht  aus  dem  späteren  punk- 
tierten e:\  ableiten  dürfte,  kommt  kein  zweites  Mal  vor,  während 
allerdings  die  «-Synkope  in  einem  nach  Bugges  Aufstellung  aus 
älterem  *Marila  hervorgegangenen  *Mcerle  nicht  beanstandet  werden 
könnte. 

Ich  möchte  deshalb  hier  auf  die  einbeinigen  ags.  o -Formen, 
alphabetisch  eäd\  die  Variante  ^  im  cod.  Gott.  Galba  A  2  und  das 
(B  des  Themsemessers  ^,  verweisen,  die  es  möglich  erscheinen  lassen, 
das  fragliche  Zeichen  von  Tanem  als  o  zu  lesen.  Zwischen  diesem 
Zeichen  und  dem  glaublich  abschließenden  Rahmenstriche  findet  sich 
eine  gleichfalls  in  der  Mittelhöhe  etwas  nach  einwärts  geknickte 
Hasta,  an  der  man,  nach  dem  Bilde  bei  Bugge,  den  Querstrich  eines 
n :  f  zu  erkennen  glaubt. 

Wir  gewinnen  demnach  eine  Lesung  mairio,  oder  eher  mairloii, 
das  ist  einen  Obliquus,  einen  Genitiv,  der  auf  älterem  ^Märüön 
beruht  und  in  dem  die  Gruppe  ai  wohl  ebenso,  wie  in  den  von 
Bugge  herangezogenen  Beispielen,  den  Umlaut  ^  bezeichnet.    Dem- 


Korges  Indskrifter  med  de  seldre  Eaner.  13S 

nach  hätten  wir  es  nicht  mit  einem  maskulinen,  sondern  einem 
weiblichen  Personennamen  als  Pendant  zum  got.  Merüa  der  Neapler 
Urkunde  zu  tun. 

Die  ersten  fünf  Hasten,  vgl.  Bugge  S.  369,  reichen  bis  zur 
unteren  Randlinie,  die  letzten  drei,  beziehungsweise  vier,  scheinen 
an  der  Mittellinie  des  Zeilenraumes  zu  endigen ;  nicht  so  in  Wimmers 
Holzschnitt,  der  auch  die  Hasten  vom  l  angefangen  nach  rechts  bis 
zur  unteren  Randlinie  herabführt. 

Täuscht  Bugges  Abbildung  nicht  und  sind  die  Hasten  nicht 
bloß  abgeschliffsn,  so  könnte  man  an  das  Fujmrk  von  Maeshowe,  ab- 
gebildet bei  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  237,  erinnern,  wo  gleich- 
falls die  fünf  ersten  Buchstaben,  nach  abwärts  verlängert,  die 
doppelte  Höhe  der  folgenden  besitzen.  Aber  auch,  wenn  die  vier 
letzten  Hasten  der  Tanemer  Inschrift  nur  abgeschliffen  wären  und 
der  dann  weitaus  zu  hoch  gesetzte,  angenommene  Querstrich  des 
glaublichen  n  sich  als  zufällige  Verletzung  erwiese,  würde  man  die 
Ergänzung  der  vorletzten  Hasta  zu  einem  n  nicht  notwendig  auf- 
geben müssen,  da  dann  das  entscheidende  Detail  mit  der  unteren 
Hälfte  der  Hasta  verschwunden  sein  könnte. 

Eine  Gruppe  für  sich  bilden  die  Felswandinschriften,  von  denen 
es  nicht  ganz  klar  ist,  welchem  Antriebe  sie  entspringen  und  welchem 
Zwecke  sie  dienen.  Die  dritte  jüngere  der  hier  zu  besprechenden 
ist  allerdings  nach  Bugges  Deutung  eine  Gedächtnisinschrift  nach 
einem  Toten,  aber  leider  ist  gerade  sie  nicht  in  allen  Teilen  sicher 
und  aus  dem  Texte  der  beiden  älteren  ergibt  sich  nichts  charak- 
teristisches für  diese  Zweckbestimmung. 

Die  Inschrift  von  Valsfjorden  (Bugge  Nr.  28)  ist  in  eine  Fels- 
wand (gestreifter  Granit  von  mittlerem  Korn)  über  dem  Fjord,  mit 
der  untersten  Rune  20'  über  dem  höchsten  Wasserstand  beginnend, 
angebracht.  Sie  wurde  von  dem  Besitzer  des  Grundes  Daniel  Oksvold 
entdeckt,  der  hiervon  1872  K.  Rygh  Mitteilung  machte.  Die  Inschrift 
läuft  in  vertikaler  Zeile  mit  linksgewendeten  Runen  von  unten  nach 
oben.  Die  Länge  der  Zeile  beträgt  1.30  m.  Die  Lesung  der 
25  Runen  ergibt  den  Text:  ek  hagastaldln  |>ewaB  godagas. 

Darin  ist  peuaR  gleich  got.  pius  als  Appellativum  zu  verstehen, 
das  die  Art  des  Dienstverhältnisses  der  ersten  Person  zur  zweiten 
definiert. 

Den  Genitiv  Chdagas  hält  Bugge  S.  348  für  den  eines  zusammen- 
gezogenen Namens  *GödagaE  aus  älterem  *CrödadagaB,  dem  ags. 
Godasg  oder  Goddoeg  entsprechend.  Den  dissimilatorischen  Ausfall 
des  einen  da  vergleicht  er  mit  lat.  semodius  ans  semimodius  und 
verwirft  nunmehr  die  von  ihm  selbst  früher  aufgestellte  Möglichkeit, 


184  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

den  Namen  *GodagaR  als  adjektivische  agra-Erweiterung  aus  einfachem 
*göda'  zu  erklären.  Den  Auslaut  -ir  des  ersten  Namens  HagustaldiR 
findet  Bugge  S.  347  mit  Rücksicht  auf  das  thematische  a  von 
hagustadaR  Ejelevig  (Strand),  sowie  des  Appellativums  as.  hagastoldos, 
ags.  hcegstealdas,  got.  aglaitgastcUdans  auffallend.  Aber  S.  563  erklärt 
er  die  Form  von  YalsJ^orden  nach  Haeruundafir  von  Istaby  als  eine 
patronymische. 

Hinsichtlich  der  Zeit  meint  Bugge  S.  349 ,  die  Inschrift  gehöre 
ins  6.  Jahrhundert,  könne  aber  allesfalls  auch  noch  etwas  älter  sein. 
In  die  erste  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  hatte  sie  auch  Wimmer,  Die 
Runenschrift  S.  303,  verlegt,  in  den  Anfang  desselben  Jahrhunderts 
setzt  sie  Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  346. 

Neben  dieser  Hauptzeile  hat  Krefting  1873  eine  zweite  entdeckt 
—  siehe  die  Abbildungen  S.  344  und  350  — ,  die  an  der  linken 
Seite  etwas  vor  dem  Anfange  dieser  beginnt  und  im  Zwischenräume 
des  t  und  a  derselben  endigt.  Die  Runen  dieser  Inschrift  stehen 
von  denen  der  Hauptzeile  abgewendet  und  sind  von  links  nach  rechts 
zu  lesen. 

Bugge  glaubt  den  Bestand  dieser  sehr  undeutlichen  Zeile  nach 
einer  Photographie  mit  Reserve  als  ek  iilI>eaB  feststellen  zu  können, 
nach  seiner  Meinung  den  Namen  WolpufewaR  des  Torsbjserger  Be- 
schlages in  einer  jüngeren  Form  enthaltend. 

Diese  zweite  Zeile  ist  nach  Bugges  Ansicht  zu  Ende  des  7.  Jahr- 
hunderts geschrieben. 

In  ganz  analoger  Weise  verhält  sich  die  11'  bis  12'  über  dem 
höchsten  Wasserstande  des  Romsdalsfjords  in  gewachsenen  Fels  ge- 
hauene Inschrift  von  Veblungsnes,  Bugge  Nr.  25. 

Die  Inschrift  ist  seit  langer  Zeit  bekannt,  die  älteste  handschrift- 
liche Aufzeichnung  datiert  aus  dem  Jahre  ca.  1700;  sie  läuft  in 
horizontaler  Zeile  von  links  nach  rechts  und  ist  mit  einer  aufrechten 
Hasta  abgeschlossen.  Bugge  gewährt  S.  320  eine  treffliche  Abbildung 
nach  einem  1895  vom  Archivar  Koren  genommenen  auf  Gips  über- 
tragenen Abdruck  in  Lehmplatten. 

Der  Text,  transliteriert  eirilae  wiwila|,  besteht  aus  dem  be- 
kannten Standestitel,  den  Bugge  aber  neuerdings,  S.  530,  als  Volks- 
namen faßt,  mehr  einem  mask.  Personennamen,  der  ersichtlich  ein 
Z-Deminutivum  zu  dem  Namen  WiwaR  von  Tune  ist.  Die  Schreibung 
des  Standestitels  mit  ei  für  e  und  die  Form  der  Rune  e :  M  nüt  Ver- 
längerung des  linken  Striches  am  Innendetail  bis  zur  rechten  Hasta 
hat  diese  Inschrift  mit  der  von  By  gemeinsam.  Bugge  datiert  die 
Inschrift  um  die  Mitte  des  7.  Jahrhunderts,  Wimmer,  Die  Runen- 


Korges  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  135 

Schrift  S.  303,  verlegt  sie  in  die  zweite  Hälfte  desselben,  Noreen, 
An.  Gr.  S.  346,  ins  7.  Jahrhundert. 

Bugge  glaubt,  daß  dßr  in  der  Inschrift  genannte  Witoila  auch  der 
Verfertiger  derselben  sei,  der  sich  in  ihr  verewigt  habe. 

Ich  glaube  aber,  die  Möglichkeit ,  daß  die  Inschrift  einen  Toten 
nenne,  ist  nicht  auszuschließen.  Nur  würde  es  sich  hier,  nach  der 
Art  ihrer  Anbringung  zu  urteilen,  um  einen  im  Meere  Umgekommenen 
oder  etwa  auch  im  Meere  Bestatteten  handeln. 

Ja  auch  die  Inschrift  von  Valsfjorden  könnte  in  diesem  Sinne 
verstanden  werden,  wobei  natürlich  der  sprechende  Hagustaldis  der 
Dedikant  sein  müßte,  aber  *GödagaK  der  Tote,  dem  die  Gedächtnis- 
zeile gilt. 

Zu  diesen  beiden  alten  Inschriften  kommt  die  wesentlich  jüngere, 
von  Bugge  S.  382  um  750  datierte  Felswandinschrift  von  Hämmeren 
(Nr.  32),  eine  horizontale  Zeile,  1.83m  über  dem  am  Fjorde  sich 
hinziehenden  Weg,  die  1897  von  dem  vorüberfahrenden  Kapitän 
Herdal  entdeckt  wurde.  Von  den  sieben  Runen  der  Zeile  (siehe  die 
Abbildung  S.  374)  sind  1—4  linksgewendet,  5—7  rechtsgewendet. 
Vor  der  siebenten,  um  einen  Platz  ausgerückt,  findet  sich  außerdem 
in  oberer  Zeile  ein  linksgewendetes  runisches  JT-artiges  Gebilde  mit 
bogenförmigen  Seitenhasten,  die  übrigens  nicht  in  einem  Punkte  die 
aufrechte  Hasta  berühren,  sondern  eine  kleine  Distanz  zwischen  sich 
lassen.     Bugge   interpretiert    dieses  Zeichen    als    Bindung    zweier 

u-Runen.    Die  Zeile  ist  transliteriert  if  lapf  1>  wobei  das  erste  Zeichen 

< > 

1^  von  Bugge  zunächst  als  i  transliteriert  wird.  Bugge  liest,  indem 
er  das  ligierte  als  uu  gedeutete  Gebilde  auf  den  Anfang  und  das 
Ende  der  Zeile  verteilt,  S.  381  *ulfpalfiu  und  löst  diesen  Komplex 
in  *UlfE  fääa  Alfiu  auf,  übersetzt:  >(ich)  ülfr  schrieb  (diese  Runen) 
für  Elfr<,  mit  dem  an.  Frauennamen  Elfr  an  zweiter  Stelle. 

Das  war  wenig  überzeugend;  aber  S.  565  schlägt  Bugge,  da  ihm 

die  Verteilung  der  übergeschriebenen  Binderune  bedenklich  geworden 

t  I  I 

ist,  die  Lesung  üalfI)alfB  vor,  die  er  als  TJlfi  fdpi  Älfe  oder  Alfi  mit 

dem  Mannsnamen  Älfr  an  zweiter  Stelle  erklärt;  dem  Inhalte  nach 
also  eine  zweifellose  Gedächtnisinschrift  nach  einem  Verstorbenen. 

Diese  Deutung,  die  zwischen  den  linksgewendeten  und  den 
rechtsgewendeten  Stock  der  Zeile  eine  Wortgrenze  verlegt,  befriedigt 
weitaus  mehr,  obwohl  auch  bei  ihr  noch  die  Sonderbarkeit  in  Kauf 
genommen  werden  muß,  daß  die  beiden  ersten  Worte  gegen  die 
Schriftrichtung  der  Buchstaben,  also  zurückgelesen  werden  müssen, 
was  doch  bei  der  Inschrift  von  Odemotland,  auf  die  Bugge  S.  569  ver- 
weist, nicht  der  Fall  ist,  und  die  Härte,  daß  das  erste  f  haplographisch 


136  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  2. 

funktionierte,  trotzdem  es,  nach  Bugges  Auflösung  mit  folgendem  -t, 
das  erste  Wort  nicht  schließt.  Dagegen  scheint  mir  das  ausgerückte 
und  übergeschriebene  auch  größere  uu  nicht  mehr  so  überraschend, 
wenn  auch  in  Runeninschriften  vereinzelt,  es  wird  nach  Art  der 
Initialen  in  Handschriften  zu  beurteilen  sein.  Ich  möchte,  um  dem 
f  seine  haplographische  Stellung  zu  sichern,  vorschlagen  nicht  *<Mc//i 
sondern  iSüf  zu  lesen  und  in  dieser  B-losen  Form  des  Personennamens 
an.  Ulfr^  ahd.  Uulf  Lacombl.  a  820,  FW/*  St.  P.  einen  Vokativ  er- 
blicken, der  an  Stelle  des  Nominativs  getreten  ist. 

Dasselbe  gälte  dann  auch  von  dem  Personennamen  in  der  von 
Bugge  S.  566  ff.  hierzu  verglichenen  Inschrift  von  Konghell,  getrennt 
transliteriert:  mk  tp  kfiokffof,  ausgefüllt  *mik  fapi  Kuukuuf  und 
ich  meine,  daß  man  die  beiden  Formen  ütdf  und  tmf  zwar  aller- 
dings zu  verbinden  habe,  'doch  auf  einer  anderen  Basis  als  Bugge 
S.  568  tut.^)  (iuf{R)  für  *uulf{B)  scheint  mir  dieselbe  2- Assimilation 
an  f  zu  enthalten,  die  im  ahd.  Uuoffo,  Wofo,  Offo,  TJffo,  Ädälof^ 
Ädalufus^  Erlof,  Erlub,  Erluffo  neben  Erlulf,  anlautend  Ofheri  und 
Ofmar,  Beispiele  aus  Libri  confrat.  und  Wg.  trad.  Corb.,  sowie  aus 
dem  ags.  Wuffa,  üffa,  Ufa,  Offa,  Yffe  bekannt  ist. 

Daß  diese  Umbildung  nicht  bloß  bei  vokalischer  Deckung,  sondern 
auch  im  reinen  Auslaute  eintreten  konnte,  beweisen  die  FÜle  Ädalaf, 
mhd.  appellativisch  gellof  >levir«  zu  gelle  swf.  >Eebse<,  doch  ist  es 
für  das  Nordische  sehr  wohl  möglich,  daß  die  Entwicklung  von  uuf 
schon  auf  der  zweisilbigen  Stufe  *uufaR  aus  *uulfaR  erfolgte. 

Dieser  Auffassung  scheint,  da  die  Dehnung  des  Vokales  in  Mfr 
doch  sehr  viel  später  eintrat  (Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  119,  3),  die 
angenommene  Länge  des  Vokales  hinderlich,  die  ja  auch  Bugge  S.  568 
veranlaßt  hat  nach  einem  anderen  Etymon  mit  ü  suchen. 

Aber  die  Binderune  uu  muß  nicht  als  a,  sie  könnte  auch  als  uü 
interpretiert  werden,  so  daß  man  *wulf  und  *umf  zu  lesen  berechtigt 
wäre.  Das  wären  dann  allerdings  Formen,  die  sich  dem  gleichzeitigen 
«^-Schwund  vor  dunklem  Vokal  entzogen  hätten;  bei  einem  Namen 
keineswegs  unerhört,  da  im  Namenmaterial  aller  germ.  Dialekte  altes 
und  neues,  gewissenhaft  konserviertes  und  rücksichtslos  umgebildetes 
beisammen  liegt.  Auch  im  ersten  Teile  des  Namens  von  Konghell 
Kuuk^f  den  wir  als  sekundäre  Namendeterminierung  und  nicht 
gleich  den  mhd.  Bildungen  ginolf  »Narr«,  triegolf  >Betrüger<  als 
Ableitung  verstehen  werden,  könnte  mit  Rücksicht  auf  ags.  cwucu 
neben  cucu^  an.  kuik{k)r  die  Lautgeltung  u>ü  verteitigt  werden.    Doch 

1)  Modern  norweg.  dial  hergulv  neben  schwed.  berguf  »Steinenle«  zu  an.  üfr 
iit  dodi  zweifellos  eine  späte  Umformung. 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Raner.  137 

scheint  diese  Bewertung  des  Zeichens  für  das  ganz  gleichgebildete 
der  Inschrift  von  Odemotland  nicht  möglich  und  die  Annahme  einer 
besonderen  alphabetischen  Ligatur  fiir  die  Lautverbindung  wu  in 
keinerlei  Bedürfiiis  begründet. 

Ich  glaube  demnach  die  Sache  am  einfachsten  so  zu  lösen,  daß 
ich  die  Binderune  uu  als  neues  Zeichen  für  den  Laut  w  erkläre  — 
die  alte  Rune  hierfür  p  fehlt  in  der  Odemotlander  Inschrift!  —  das 
nach  Analogie  des  handschriftlichen  german.  uu  der  mittelalterlichen 
Orthographie  gebildet  ist  und  gleich  der  Rune  P  auch  vokalisch, 
das  ist  für  ä  gebraucht  werden  konnte.  Demnach  ergibt  sich  Ulf 
für  Hämmeren  und  Kük-Üf  für  Konghell,  wobei  der  erste  Teil  in 
der  Tat  nach  Bugges  Vorschlag  mit  an.  kükr  und  dem  Beinamen  in 
Äslakr  Kükr  gleichgesetzt  werden  kann. 

Von  den  Steininschriften  habe  ich  noch  die  von  Elgesem,  Bugge 
Nr.  7,  zu  besprechen,  die  einzige,  die  ein  alleinstehendes  Sachwort 
enthält,  das  um  so  mehr  interessiert,  als  es  gleichfalls  allein  oder  in 
Verbindung  mit  Personennamen  auch  auf  Bracteaten  erscheint. 

Die  viereckige,  aber  oben  nach  Art  unserer  Grenzsteine  ab- 
gerundete 1.72m  lange,  0.90m  breite,  0.18m  dicke  Granitplatte 
wurde  1870  am  Abhang  eines  Grabhügels  unter  dem  Rasen  auf- 
gefunden; unter  Umständen  der  Lagerung,  die  darauf  schließen 
lassen,  daß  der  Stein  niemals  aufgestellt  war,  sondern  sich  von 
vornherein  in  der  liegenden  Position  befand,  in  Mer  er  entdeckt 
wurde. 

In  der  Mittellinie  des  Steines,  nahe  dem  abgerundeten  Ende 
steht  in  linksgewendeten  Runen  von  oben  nach  abwärts  zu  lesen  das 
Wort  alu. 

Die  Gegenstände,  auf  denen  dieses  Wort  sonst  noch  vorkommt, 
zählt  Bugge  S.  161  ff.  auf;  ich  ergänze  die  Aufzählung  in  einzelnen 
Stücken : 

I.  alu  ohne  weiteren  Beisatz  auf  den  Bracteaten  von  Slangerup, 
Stephens  Nr.  15;  von  Dietmarschen,  Stephens  Nr.  16,  Henning 
Nr.  XV;  von  Gotland,  Stephens  Nr.  88;  wozu  noch  der  Bracteat 
von  Bjornerud,  Bugge  S.  428  ff.,  konunt. 

II.  In  Verbindung  nüt  anderen  Wörtern: 

1.  laukaa  |  aln,   Bracteat  von  Skrydstrup,  Stephens  Nr.  18, 
Noreen,  An.  Gramm.  P,  S.  342. 

2.  Mit  einem  getrennt  geschriebenen  Komplexe  hag  verbunden, 
Bracteat  von  Ölst,  Stephens  Nr.  68. 

3.  nlnJU.  aln,  Bracteat  von  Darum  I,  Noreen,  An.  Gramm.  P, 
S.  332. 

09%%,  c»L  Au.  190«.  Nr.  2.  10 


138  Gfött  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

4.  Ronisches  Monogramm  mehr  aln,  Ring  von  Körlin,  Henning 
Nr.  XI. 

5.  Beingeräte  von  Lindholm  aln  am  Schlüsse  einer  zweizeiligen 
Inschrift,  Stephens  I,  S.  219. 

6.  lapa  lau^aB  •  gaa£iui  aln,  Bracteat  aus  Schonen,  Stephens 
Nr.  19;  Noreen,  An.  Gramm.  P,  8.  341. 

Dazu  kommen  nach  Bugges  Meinung  noch  die  Inschrift  salu 
saln,  Bracteat  von  Sellinge,  Stephens  Nr.  20,  die  zweite  Zeile 
der  Aarstader  Steininschrift  saralu,  der  kleine  Stein  von  Kinneved 
mit  Bhuüah,  Stephens  3,  21;  und  das  Wort  aluko  auf  dem 
Senkstein  von  Forde. 

Aber  dieser  Bestand  vermindert  sich,  denn  S.  314  hat  Bugge 
die  Zugehörigkeit  des  letzteren  Wortes  zu  alu  selbst  aufgegeben,  die 
des  Personennamens  Saralu  habe  ich  im  vorhergehenden  beseitigt  und 
das  doppelt  gesetzte  Wort  scUu  des  Bracteaten  von  Sellinge  entferne 
ich  sofort,  indem  ich  es  mit  dem  ahd.  stf.  sala  >traditio,  delegatioc, 
auch  im  Kompositum  salaman,  an.  solumaär  >person  til  hvem  en  har 
solgt  noget<  Fritzner  aus  Gul.  267  identifiziere.  Es  erübrigt  nur 
siiuduh  von  Kinneved,  immerhin  eine  achtenswerte  Stütze  für  Bugges 
Ansicht,  daß  alu  neutrale  Nebenform  zum  got.  konsonant.  Fem.  alhs 
>i6pöv,  vaö<;<  sei,  das  in  northumbr.  Personennamen  als  aluch'  er- 
scheint und  mit  griech.  aXex- ,  £Xxap  u.  s.  w.  zusammengehöre ,  aber 
keineswegs  ein  zwingender  Beweis. 

Die  Bewahrung  des  auslautenden  h  in  der  Form  von  Kinneved 
wird  ja  als  Analogiebildung  nach  den  gedeckten  Obliquen  Nom.  *(üu^ 
Gen.  *aluhs  in  einwandfreier  Weise  erklärt  and  die  Bedeutung 
>Schutz«  nach  ags.  ealgian  >defendere<  in  zulässiger  Art  entwickelt; 
aber  das  sind  bloße  grammatische  Möglichkeiten,  aus  denen  doch  nicht 
hervorgeht,  wieso  ein  im  Got.  >Tempel<  bedeutendes  Wort  im  Urnord. 
hätte  > Schutze  bezeichnen  können  und  die  vor  allem  die  Inschrift 
von  Kinneved  so  dunkel  lassen  wie  zuvor.  S.  428  kommt  Bugge 
noch  einmal  auf  die  Sache  zurück  und  sagt,  daß  alu  nicht,  wie  ich 
vorgeschlagen  habe,  >Gedeihenc  bedeuten  könne,  weil  an.  ala  gleich 
lat.  aiere  > nähren«  sei. 

Ich  bin  gerne  bereit  anzuerkennen,  daß  intransitives  >Gedeihen< 
sich  mit  transitivem  an.  ala  >ernähren<,  insbesondere  auch  »Kinder 
aufziehen«  nicht  wohl  reimen  lasse,  aber  allerdings  hatte  ich  gedacht, 
daß  dem  got.  alan  in  2.  Tim.  2,  17  >voii.i]v  l/siv«  ein  intransitiver 
Wert  beizumessen  sei,  der  von  »crescere«  nicht  allzuweit  abläge. 

Mich  stört  in  meinem  Vorschlage  doch  etwas  ganz  anderes, 
nämlich,   daß  das  Wort  nicht  nur  auf  Gegenständen,  die  man  mit 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Raner.  189 

einem  Wunsche  schenken  kann,  sondern  auch  auf  einem  Steine  vor- 
kommt, der  ersichtlich  mit  einem  Grabhügel  in  Verbindung  stand. 
Da  scheint  ja  wohl  >incrementum<  wenig  zu  passen  und  »Schutz«, 
etwa  vor  Zerstörung  und  Entweihung,  viel  eher  am  Platze  zu  sein. 
Wenn  wir  aber  zur  Inschrift  von  Skydstrup  die  der  Bracteaten  von 
Darum  11  Frohila  .  liipn  und  Fünen  Horaa  |  lapu  {...),  Noreen, 
An.  Gramm.  I^  S.  336 ,  337,  vergleichen  und  berücksichtigen ,  daß 
auf  dem  Bracteaten  von  Schonen  beide  Sachwörter  nebst  zwei 
Personennamen  vorkommen,  so  werden  wir  uns  der  Einsicht  nicht 
entziehen  können,  daß  lapu  und  alu  nicht  nur  analoge  Formen  seien, 
sondern  auch  verwandte  Bedeutung  haben  müssen.  Nun  ist  laßu 
die  umord.  Form  zu  an.  loa  »Einladung«,  bjoäa  . . .  loa  >einladen<, 
ladar  ßurfi  >der  Einladung  bedürftige  und  kann  als  Bracteatinschrifb 
doch  wohl  nur  so  verstanden  werden,  daß  die  Münze  als  ein  zu 
Gelegenheit  einer  Einladung  oder  im  Sinne  einer  solchen  gegebenes 
Geschenk  betrachtet  wird.  Was  man  kulturgeschichtlich  darunter  zu 
verstehen  habe,  dürfte  kaum  zweifelhaft  sein;  es  ist  wohl  die  Ladung 
zu  einer  Festlichkeit,  oder  im  allgemeinen  ein  Zeichen  des  Will- 
kommenseins, der  angebotenen  Gastfreundschaft,  und  dann  ist  der 
damit  verbundene  Personenname  auf  jenen  Mann  zu  beziehen,  von 
dem  die  freundliche  Gesinnung  ausgeht. 

Das  wird  um  so  klarer,  als  wir  neben  lapu  einmal  auch  die 
Form  lapodu  finden,  die  ersichtlich  das  Verbalabstraktum  got.  *lapodu8 
zu  lapon,  gebildet  wie  gabaurjopus^  enthält  Bugge  (S.  173  Note  1) 
wollte  die  Bracteatinschchiift  (Stephens  Nr.  27)  tawol  |  a^du  aller- 
dings als  Zahlwort  *twö  mehr  einer  ersten  Dualis  praeteriti  des 
Yerbums  aufklären,  das  ist  aber  aus  mehr  als  ^inem  Grunde  nicht 
wahrscheinlich.  Da  nun  lapoäu  nicht  Nominativ  ist,  der  *lapoäuR 
lauten  müßte,  sondern  ein  Obliquus,  so  wird  auch  lapu  ein  Obliquus 
sein,  und  ich  denke,  es  sei  am  schicklichsten,  ihn  als  instrumentalen 
Dativ  *lapa  zu  fassen,  so  daß  sein  Sinn  etwa  »cum  invitatione<  oder 
>invitationis  causa<  bestimmt  werden  kann.  Dasselbe  gilt  auch  für 
*  lapodu,  wobei  ich  wegen  der  nicht  monophthongischen  Dativflexion 
-tu  von  Tjurkö  auf  die  got.  Dative  mit  -a  neben  den  paradigmatischen 
auf  -au  verweise.  Tawo  aber  müßte  man  für  einen  fem.  Personen- 
namen halten,  nicht  unmöglich,  da  das  Calendar.  Merseburgense  zum 
Jul.  einen  Frauennamen  Zawa  verzeichnet,  Meichelbeck  hist.  Fris. 
ein  Mask.  Zawuni  gewährt. 

Im  Einklänge  damit  wird  das  doppelte  *  salü  von  Seilinge  >tra- 
ditionis,  delegationis  causae  die  Eigenschaft  des  > Geschenkes«  defi- 
nieren und  *  aiü  vielleicht  das  Motiv.    Ich  bin  nunmehr  der  Ansicht, 

10* 


140  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

daß  umord.  alu  die  Grundlage  des  an.,  aisl.  Adj.  elslcr  >liebend<  sei, 
das  schon  Kluge,  Nom.  Stammb.  §  211,  als  germ.  i^Xro- Ableitung  an- 
gesehen hat.  Da  germ,  -iska  wie  lat.  -ico  wirkt,  werden  wir  el-skr 
»liebende  zu  *al'  wie  lat.  am-fcus  > freundlich  gesinnt,  geneigte  zu 
äm-o,  äm-or  in  Parallele  setzen  und  für  das  fem.  umord.  alu  die 
Bedeutung  >amor«  erschließen  dürfen.  In  den  Inschriften  wird  es 
sich  zumeist  empfehlen  nicht  Nominativ  sondern  instrumentalen  DaÜY 
*alü  anzunehmen,  der  demnach  »ex  amore<  oder  >amoris  causae 
übersetzt  werden  kann.  Das  stimmt  fur  die  Bracteaten,  das  für  den 
Ring  von  Körlin,  das  ist  schließlich  auch  auf  einem  Grabhügel  als 
Motiv  der  Errichtung  in  Ordnung.  Die  Bracteatinschrift  von  Magie- 
mose Hojt  lihek  pAt  diu  (korr.  aus  a2Z),  Noreen,  An.  Gramm.  I^ 
S.  339,  ergibt  dann  den  gerundeten  Sinn  >. . .  possideo  hoc  ex  amore 
(datum)  <. 

Die  Inschrift  von  Elgesem  verlegt  Bugge  S.  167  vielleicht  noch 
ins  6.  Jahrhundert ,  Wimmer ,  Die  Runenschrift  S.  304  Note  1 ,  an 
das  Ende  des  Zeitabschnittes  550—700,  Noreen,  An.  Gramm.  P, 
S.  336,  fragend  um  600. 

Ich  wende  mich  zur  Besprechung  der  Gerätinschriften,  Gegen- 
stände aus  Metall,  Bein  und  Stein,  die  sich  als  Teile  der  Ausrüstung 
und  Gewandung,  als  Schmuck  und  als  Werkzeuge  des  täglichen  Ge- 
brauches zur  Körperpflege  oder  zur  Ausübung  einer  Erwerbstätigkeit 
präsentieren. 

Zunächst  sei  das  der  älteren  Eisenzeit  angehörige  Speerblatt 
von  Ovre  Stabu,  Bugge  Nr.  34,  besprochen,  das  um  1890  mit  anderen 
archäologisch  auf  das  4.  Jahrhundert  bestimmbaren  Waffenresten  in 
einem  Grabhügel  gefunden  wurde. 

Das  Eisenblatt,  abgebildet  S.  413  und  415,  die  Inschrift  be- 
sonders S.  416,  zeigt  gleich  den  beiden  kontinentalen  Speerblättern 
von  Kowel  und  Müncheberg  eine  einzeilige  kurze  Inschrift,  für  deren 
Bewertung  als  bloßer  Personenname  die  Analogie  eben  dieser  von 
Bedeutung  ist. 

Die  Inschrift,  im  April  1900  vom  Konservator  Schetelig  entdeckt, 
läuft  mit  rechtsgewendeten,  auf  die  Mittellinie  des  Blattes  als  Grund- 
linie gestellten  Runen  von  der  Basis  zur  Spitze  und  ist  von  zwei 
punktierten  Einfassungslinien  umgeben,  die  sich  hinter  der  letzten 
von  Bugge  und  Olsen  anerkannten  Rune  a  zu  schließen  scheinen. 
Die  Hasten  setzen  sich  aus  kurzen,  parallelen,  gravierten  Querstrichen 
zusammen,  die  hier  dichter  zusammengedrängt  sind,  als  bei  den  auf 
gleiche  Art  hergestellten  omamentalen  Bandlinien  des  Speerblattes. 
Ihre  Höhe  fällt  von  der  ersten  Rune  zur  letzten  allmählich  ab. 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  141 

Die  Lesung  Bugges  and  Olsens  ergibt  einen  Komplex  raniilfi^a 
mit  deutlicher  n^-Raute,  doch  findet  sich  hinter  dem  Schluß-a  und 
dem  bogenförmigen  Vereinigungsteile  der  oberen  und  unteren  Ein- 
fassung nach  den  Worten  des  Textes  S.  416  und  der  Abbildung 
S.  415  noch  6ine  kurze  aufrechte  Hasta  mit  der  Schraffierungsdichte 
der  Runen,  die,  der  Meinung  der  Verfasser  entsprechend,  zur  Aus- 
füllung des  leeren  Raumes  dient.  In  Merks  Zeichnung  S.  416  stehen 
zwei  derartige  Hasten  hinter  dem  a  und  nach  diesen  ein  deutlicher 
punktierter  Vereinigungsstrich  der  Einfassung,  während  der  von 
Bugge  und  Olsen  S.  416  behauptete  bogenförmige  Zusammenschluß 
hier  kaum  angedeutet  ist. 

Ich  bin  daher  nicht  darüber  beruhigt,  daß  das  Wort  tatsächlich 
mit  dem  a  endigd,  wenngleich  mir  die  Abbildungen  für  eine  Lesung 
umord.  Nom.  -ür  oder  Gen.  -a«  keinen  Anhalt  gewähren. 

Aber  eine  urnord.  schwachformige  Bildung  eines  patronymischen 
oder  geographischen  Personennamens  auf  -Inga  kann  ich  mit  Hinblick 
auf  die  HoltingoR  Gallehus,  lupingan  Reistad,  Birg(i)figgu  Opedal 
nicht  zugeben  und  muß  fordern,  daß  wenn  nicht  der  Nom.  *RauningaR, 
so  doch  irgend  ein  Obliquus  dieser  zu  erwartenden  Form  von  der 
Inschrift  geboten  werde. 

Da  ist  es  denn  nicht  unmöglich  die  beiden  in  Merks  Zeichnung 
hinter  dem  a  folgenden  aufrechten  Hasten,  sei  es  daß  sie  oben  ver- 
bunden waren  oder  auch  nicht,  als  runisches  e  auszulegen  und  in 
*Rauningae  einen  Widmungsdativ  zu  erblicken,  dessen  orthographische 
Darstellung  mit  ae  für  e  sich  sowohl  im  Sinne  der  lateinischen,  als 
auch  der  älteren  ags.  Orthographie:  getrenntes  ae  statt  Ligatur  ce, 
erklären  läßt.  Auch  das  Verbum  toraet  >scripsi<  oder  >scripsit<  der 
Spange  von  Freilaubersheim  bietet  diese  Schreibung,  die  ich  freilich 
in  dem  Falle  einmal  für  diphthongisches  ae  =  ai  angesprochen  habe. 

Wäre  die  präsumptive  e-Rune  unverbunden  zu  denken,  so  böte 
sie  genau  die  Oestalt  des  latein.  kursiven  auch  epigraphisch  vor- 
kommenden II,  auf  dem  ja  die  c-Rune  fl  oder  M  beruht.  Schlösse 
das  Wort  aber  wirklich  mit  dem  a,  so  müßte  ich  annehmen,  daß  der 
Dativ  kein  nordischer,  sondern  ein  gotischer,  also  auch  das  Speerblatt 
gotischer  Herkunft  sei. 

Die  Beispiele,  deren  sich  die  Verfasser  bedienen,  um  den  Bestand 
schwachformiger  urnord.  tfi^a-Ableitungen  zu  erhärten,  scheinen  mir 
nicht  beweiskräftig.  Für  Müncheberg  halte  ich  an  der  Lesung  got. 
Ranja,  das  ist  etwa  *Bahnja  zu  ahd.  rahanen  >spoliaric  fest,  ebenso 
für  Sk&äng  und  Vimose  (Kamm)  an  einer  solchen  umord.  Harija 
und  Harja,  wobei  hinsichtlich  der  ersten  Schreibung  allesfalls  auch 


142  Göti  gel  Anz.  1906.  Nr.  2. 

an  die  ahd.  Zerdebnung  Herige  hämo  nastr^  ^lesi^  de  Engeragowe 
vom  Jahre  1079 ,  Dronke  Cod.  Fuld.  N.  766 ,  erinnert  werden  kann, 
ein  Patronymikon  *Ümnga  aus  der  ersten  Zeile  der  Vier  Spange  zu 
gewinnen  bin  icb  nicbt  in  der  Lage  —  icb  lese  vielmebr  Laasauwija  — 
die  erste  Zeile  des  Steines  von  Krogsta  mit  einem  Zeichen  am  Ende, 
das  weder  einem  ng  nocb  einem  j  genau  gleicht  und  einer  folgenden 
verletzten  Rune,  die  sowohl  n  (Bugge)  als  auch  i  (Noreen,  An.  Gramm. 
I^  S.  339)  gewesen  sein  kann,  ist  überhaupt  zweifelhaft  und  selbst 
die  Lesung  des  Namens  von  Tanum  als  Obliquus  praivif^an,  dessen 
drittletztes  Zeichen  mir  Arkiv  f.  n.  fil.  14,  117  eine  abgerundete 
und  seitlich  verschobene  n^-Raute  zu  sein  schien,  bestreite  ich  nun- 
mehr in  diesem  Punkte  und  verstehe  das  Zeichen  als  liegende,  das 
ist  um  einen  rechten  Winkel  gedrehte  ;-Rune. 

Das  Zeichen  des  Hobels  von  Vi  allerdings  ist  eine  in  der  verti- 
kalen Axe  geöffoete  Raute  und  nicht  anders  als  f^  zu  lesen,  aber 
daß  der  Komplex  talingo,  der  die  Inschrift  eröffiiet,  ein  fem.  dn- 
Stamm  sei,  folgt  daraus  nicht,  das  Wort  kann  ja,  und  das  ist  in 
der  Tat  meine  Meinung,  der  Gen.  plur.  einer  maskulinen  Uigor 
Ableitung  sein. 

Ueber  die  Etymologie  des  Namens  des  Speerblattes  von  Ovre 
Stabu,  das  sie  S.  419  ins  4.  Jahrhundert  verlegen,,  haben  die  Ver- 
fasser verschiedene  Versuche  angestellt:  an.  raun  f.  >Probe<; 
^-Synkope  in  *Rauäninga  aus  einem  Namen  *Rauda ;  m-Assimilation 
in  ^Raumninga  zum  an.  Volksnamen  Raumar,  Sing.  swm.  *Rauina^ 
an  deren  Stelle  Bugge  S.  570  eine  etymologische  Verbindung  dieses 
Namens  mit  dem  von  ihm  so  gelesenen  *Raninga  des  Müncheberger 
Blattes  auf  der  Basis  von  *Rahninga  mit  etymologischem  htv  her- 
stellt. Die  beiden  Namen  wären  bloße  Doubletten  und  könnten, 
ethnographisch  gefaßt,  einen  aus  dem  nordischen  Ränriki  stammenden 
Mann  bezeichnen. 

So  einleuchtend  aber  Bugges  Behauptung  ist,  daß  die  Kunst 
der  Runenschrift  bei  den  Germanen  innerhalb  einzelner  Geschlechter 
fortvererbt  wurde  und  so  klug  ersonnen  seine  hier  nur  skizzierte 
Ansicht,  daß  die  Ausübung  dieser  Kunst  im  Norden  durch  Männer 
erulischen  Stammes  gepflegt  wurde,  so  richtig  die  Beobachtung,  daß 
die  Ableitung  -inga  in  alter  Zeit  zur  Bildung  ethnographischer 
Namen  verwandt  wird,  so  geht  die  familiengeschichtliche  Verbindung 
der  Namen  von  Ovre  Stabu  und  Müncheberg  doch  wohl  zu  weit 
und  die  Herleitung  wenigstens  des  nordischen  Namens  dieses  verr 
meintlichen  Paares  aus  dem  der  Landschaft  Rdnriki  möchte  man 
etwas  tiefer  begründet  wünschen,  um  sich  ihr  anschließen  zu  können. 


Norges  Indskrifter  med  de  »Idre  Boner.  143 

Das  BronzefigQrchen  von  Freibov,  bartloses  Menscbenbild  mit 
kurzer,  enger  Tunika,  nackten  Beinen,  ausgestreckten  Armen  und 
in  die  Stirne  gekämmten  Haaren,  ist  1865  mit  einem  Bronzekessel, 
gefüllt  mit  gebrannten  Knochen  und  anderen  Bronze-  und  Eisen- 
bestandteilen von  Waffen  gefunden.  Alle  diese  Gegenstände  aus  der 
älteren  Eisenzeit,  um  500,  lagen  auf  den  Knocben  im  Kessel  als 
Ueberreste  nach  dem  Leichenbrande. 

Bugge  vermutet,  daß  das  Figürchen,  in  natürlicher  Größe  ab- 
gebildet S.  46,  nebst  einer  Anzahl  mit  ihm  zusammen  gefundener, 
hohler  Knöpfe  an  einem  Gürtel  als  Zier  befestigt  gewesen  sei. 

Am  Stocke  der  Tunika  stehen  drei  Zeichen,  anscheinend  von 
rechts  nach  links  zu  lesen,  links  davon  noch  die  Spuren  von  einem 
oder  zwei  weiteren  Zeichen.  Das  erste,  von  Bugge  als  omamental 
angesehen,  besteht  aus  einer  aufrechten  mit  einem  Kreise  gekrönten 
Hasta,  von  der  außerdem  zwei  Seitenstriche  nach  links  ausgehen, 
der  eine  vom  Hastenkopfe  absteigend,  der  zweite  von  der  Mitte  aus 
so  ziemlich  im  rechten  Winkel  abzweigend  ^.  Das  zweite  Zeichen 
ist  ein  linkes  runisches  a,  das  dritte  ein  oben  und  unten  geschlossenes 
runisches  d,  oder,  wie  Bugge  sich  ausdrückt,  ein  liegendes  in  einen 
viereckigen  Rahmen  eingeschriebenes  Kreuz  B-  Darauf  folgt  ein 
nach  links  absteigender  Strich ,  den  Bugge  S.  49  Anm.  5  als  Rest 
eines  a  nicht  anerkennt,  während  S.  525 — 526  nach  einer  neuerlichen 
Untersuchung  Magnus  Olsens  die  Möglichkeit  zugegeben  wird,  daß 
diese  letzte,  erst  in  neuerer  Zeit  abgekratzte  Rune  ein  a  gewesen  sei. 
Bugge  hält  es  S.  49  wegen  des  dem  diQ  des  Koweler  Speerblattes 
ähnlichen  Zeichens  fur  möglich,  daß  die  Inschrift  gotisch  sei.  S.  526 
denkt  er  an  einen  mask.  Personennamen  ada. 

Es  scheint  mir  empfehlenswerter,  wenn  schon  überhaupt  der 
Komplex  einen  Namen,  was  nicht  unwahrscheinlich  ist,  und  zwar  in 
Runen  darstellen  soll,  auch  an  dem  ersten  Zeichen  nicht  vorüber- 
zugehen; ich  halte  es  für  möglich,  daß  es  die  Geltung  w  habe. 

Der  Name  lautet  dann  Wada  und  gibt  sich  als  umord.  Ent- 
sprechung zu  an.  Vaäi,  ags.  Uada,  Wade^  ahd.  Uuudo,  Uuato  zum 
stv.  ahd.  watan,  wobei  aber  doch  die  Qualität  des  Stamm  vokales  in 
Schwebe  gelassen  werden  muß,  denn  ahd.  scheint  es,  nach  üu&to 
Libri  confr.  zu  urteilen,  auch  eine  langvokalische  Form  gegeben  zu 
haben,  deren  etymologische  Abkunft  ja  wohl  auch  eine  ver- 
schiedene ist. 

Epigraphisch  ergebnislos  sind  die  beiden  viereckigen  Schmuck- 
plättchen  aus  Silber  (Bugge  Nr.  38),  die  1898  als  Teile  eines  reichen 
Grabfundes  der  mittleren  Eisenzeit  aus  einem  eröflEneten  Hügel  ge- 


144  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

hoben  wurden.  Die  zierlich  ornamentierten  Plättchen  dienten  ver- 
mutlich als  Beschläge  an  der  Mündung  einer  Schwertscheide  und 
tragen  an  den  glatten  Rückseiten  Spuren  von  Runen,  die  jedoch 
keinerlei  gesicherte  Lesung  gestatten. 

Von  mäßigem  Ertrage  blieb  Bugge  die  Inschrift  der  Spange  von 
Fonnaas  (Nr.  4) ,  obwohl  die  an  der  glatten  Rückseite  angebrachten 
Runen  keineswegs  undeutlich  geritzt  sind.  Diese  prachtvolle,  an  der 
reich  ornamentierten  Vorderseite  zum  größten  Teil  vergoldete  Silber- 
spange (siehe  die  Abbildung,  Tafel  zu  S.  64)^)  wurde  1877  bei  An- 
lage eines  Neubruches  in  einer  Tiefe  von  ungefähr  einem  Meter 
unter  der  Erde,  vereinzelt  liegend,  ohne  Spuren  eines  Grabes,  zu 
dem  sie  gehörte,  aufgefunden.  Die  Spange  wird  nach  ihren  archäo- 
logischen Merkmalen  von  Rygh  ins  7.  Jahrhundert,  von  Montelius 
ins  5.  Jahrhundert  mit  dem  spätesten  Termin  500  gesetzt.  Der 
Spangentypus  ist  über  einen  großen  Teil  von  Europa  verbreitet, 
besonders  häufig  in  Norwegen.  Man  kennt  60—70  nordische  Exem- 
plare, teils  in  Silber,  teils  in  Bronze. 

Das  Alter  der  Spange  ist,  wie  Bugge  S.  69  mit  Recht  hervor- 
hebt, für  das  Alter  der  Inschrift  nicht  bindend,  da  ja  diese  auch  in 
beträchtlich  späterer  Zeit  angebracht  worden  sein  kann. 

Die  Inschrift  datiert  Bugge  a.  a.  0.  in  Uebereinstimmung  mit 
Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  304,  zwischen  650  und  675,  Noreen, 
An.  Gramm.  P,  S.  337,  allgemeiner:  7.  Jahrhundert. 

Hinsichtlich  der  Anordnung  der  Inschrift  beobachte  ich  folgendes : 

Die  vier  Inschriftzeilen  gliedern  sich  nach  der  Abbildung  bei 
Bugge  in  eine  rechtsläufige  am  inneren  Längenrande  der  viereckigen 
Hauptplatte  vom  Nadellager  zum  Breitenrande  sich  erstreckende 
Zeile  b,  die  zwischen  zwei  Parallelen,  das  ist  einer  Grundlinie  und 
einer  Eopflinie  eingeschlossen  ist,  sowie  in  drei  linksläufige  unter- 
einander im  oToix7]8öv -Verhältnisse  stehende,  von  mir  als  c,  d,  e  be- 
zeichnete Zeilen,  von  denen  c  und  d  auf  der  gleichen  (linken)  Hälfte 
der  Platte  vom  äußeren  Längenrande  gegen  innen  zu,  das  ist  senk- 

1)  Die  rechteckige  Querplatte  zeigt  einen  mehrfach  profilierten  Rahmen, 
der  an  den  beiden  Außenseiten  und  oben  von  einer  zusammenhängenden  Bordare 
in  Flechtomamentik  umgeben  ist.  Dieser  Rahmen  schließt,  durch  ein  Flechtband 
getrennt,  einen  kleineren  zweiten  ein,  innerhalb  dessen  sich  eine  tapetenartige 
Flächendekoration  mit  einem  haftelartigen  Ornamente  8  findet.  Das  kreuzf(5rmige 
Langstück  weist  eine  MitteUeiste  mit  Verzierung  in  gezackten  Linien  sowie  mehr- 
fach aasgebuchtete  und  geschwungene  Rahmenteile,  die  an  den  drei  Kreuzenden 
mit  ornamentierten  Menschenlarren  schließen.  Die  Zwischenräume  der  Leisten 
sind  mit  Flechtdekoration  ausgefüllt. 


Korges  Indskrifiier  med  de  eldre  Raner.  l4l( 

recht  gegen  die  Onindlinie  der  Zeile  b  sich  erstrecken,  die  dritte  e 
in  der  gleichen  Richtung  verlaufend  den  mittleren  Raum  der  zweiten 
(rechten)  Plattenhälfte  beherrscht.  Eine  vereinzelte  a-Rune  scheint 
im  breiten  Zwischenräume  von  d  und  e  am  Rande  des  rechtwinklig 
sich  abgrenzenden  Nadellagers  angebracht  und  zwar  so,  daß  sie  nach 
links  gewendet  den  Fuß  gegen  d,  den  Kopf  gegen  e  kehrt.  Es  ist 
hervorzuheben,  daß  diese  Rune  zu  d  kein  textliches  und  zu  e  kein 
kein  graphisches  Verhältnis  hat,  daß  sie  aber  allerdings  mit  b  ins 
Verhältnis  der  Umschrift  und  zwar  als  Wenderune  gesetzt  werden 
kann.  Ich  bezeichne  diese  einzelne  Rune  als  Zeile  a.  Den  Anfang 
der  Inschrifft  sollte  man  nach  der  ganzen  Einteilung  bei  b  suchen, 
nicht  bei  der  Zeile  c  oder  d,  die  ja,  wenn  b  noch  nicht  dastand  un- 
gehindert bis  zum  korrespondierenden  Rande  hätten  geführt  werden 
können,  sicherlich  nicht  bei  e,  da  einer  Folge  e,  b  der  Mangel  eines 
graphischen  Verhältnisses  zwischen  diesen  beiden  Zeilen  entgegen- 
steht und  bei  einer  Folge  e,  d,  c  für  das  unmotivierte  Abbrechen 
vor  dem  Rande  dasselbe  gälte,  was  soeben  gegen  die  Folge  c,  d  als 
Anfang  der  Inschrift  geltend  gemacht  wurde. 

Bugge  hat  auf  Grund  seiner  mit  großem  Scharfsinn  geführten 
Untersuchung  des  Textes,  die  bei  dem  mit  r  auslautendem  Komplexe 
der  Zeile  d  als  glaublichem  mask.  Personennamen  einsetzt,  eine 
Folge  d,  c,  e,  a,  b  feststellen  zu  können  geglaubt. 

Aber  auch  in  betreif  der  Lesung  muß  ich  einer  von  Bugge  ab- 
weichenden Anschauung  Ausdruck  geben.  Bugge  interpretiert  das 
dreimal  auftretende  Zeichen  f^  als  ^;  nach  meiner  Ansicht  ist  das 
Zeichen  vielmehr  die  ^äm- Rune,  hier  der  Zeit  des  Denkmales  ent- 
sprechend natürlich  mit  dem  späteren  Werte  a.  Ich  kann  nicht 
finden,  daß  dieses  Zeichen,  das  die  nordischen  Gelehrten  auf  dem 
Bracteaten  von  Vadstena,  dem  Bracteaten  von  Skodborg  (Wimmer, 
Bugge,  Noreen),  auf  dem  Steine  von  Tune  (Bugge  und  Noreen),  auf 
dem  älteren  Steine  von  Terviken  und  der  Zwinge  von  Torsbjssrg 
(Noreen)  als  ;  lesen,  das  außerdem  in  typisch  einstimmender  Form 
jetzt  in  Fupark  des  Steines  von  Kylfver  (Bugge,  Einleitung  S.  7)  zu 
Tage  gekommen  ist,  sich  im  Wesen  von  der  in  Rede  stehenden 
Rune  der  Fonnaaser  Inschrift  unterschiede,  sehe  aber  den  typischen 
Unterschied  dieses  Zeichens  vom  runischen  ng  durch  dieses  neu  ent- 
deckte Fupark,  in  dem  das  n^-Zeichen  ein  stehendes  Rechteck  D 
ist,  auch  aufs  Neue  ausgesprochen. 

Dagegen  schließe  ich  mich  in  betreff  der  fünften  Rune  der 
Zeile  e  PI,  die  schon  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  127,  als  eine 
>Veränderung<  der  eckigen  ;Vira-Rune  H  bezeichnet  und   in  dem 


146  Gott  gel  Ans.  1906.  Nr.  2. 

Worte  sAgum,  das  ist  sagum  des  Böker  Steines,  nachgewiesen  hat, 
der  Auffassung  dieses  und  Bugges  Bewertung  mit  a  an,  wenn  auch 
die  Zeichen  von  Bök  und  Fonnaas  nicht  völlig  kongruent  sind,  das 
erstere  eine  geschlossene  H  (siehe  Wimmer  a.  a.  0.  und  Bugge  S.  70), 
das  zweite  eine  mehr  offene  Form  hat. 

Aber  es  liegt  nicht  an  der  nach  meiner  Meinung  unrichtigen 
Anordnung  der  Textfolge  und  der  unrichtigen  Auslegung  der  jora- 
Bune  allein,  daß  Bugges  Lesung  nglskla  |  wksha  |  ingasAngsrbse  | 
a  I  ihspldaltl  und  seine  Deutung  *AngilashükR  Wakrs  husingR  sä 
Ingisarbiske  aih  ^ndid  tel,  das  wäre  >A.  Wakrs  Hausmann  der 
Ingisarbische  (von  einem  Ortsnamen!)  besitzt  (diese)  gute  Nadele, 
einen  mehr  als  problematischen  Eindruck  macht,  denn,  wie  man 
sieht,  sind  hier  nicht  nur  Vokale,  sondern  auch  Konsonanten  in 
größerer  Zahl  und  in  Positionen  ergänzt,  deren  Zulässigkeit  durch 
die  These  einer  > verkürzten  Schreibart <  zwar  gedeckt,  aber  doch 
nicht  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  überzeugender  Sicherheit  er- 
hoben wird. 

Tatsächlich  nimmt  denn  auch  Bugge  in  den  Berichtigungen 
S.  526—527  seiner  eigenen  Deutung  gegenüber  ein  höchst  skeptischen 
Standpunkt  ein  und  hält  nur  seine  Anordnung  der  Zeilen  für  ein 
gesichertes  Besultat,  sowie  ganz  im  allgemeinen  die  Feststellung 
eines  Personennamens  auf  -r  in  seiner  Anfangszeile,  zu  dem  die  an- 
genommene folgende  Ableitung  auf  -ingR  als  Apposition  und  das  mit 
dem  Artikel  sa  eingeleitete  Substantiv  auf  -e  als  nähere  Bestimmung 
gehöre. 

Es  ist  ja  offenkundig,  man  kommt  ohne  Annahme  von  Kürzungen 
nicht  aus,  auch  wenn  man  meine  Transliterierung  '^'a  |  ihsbidalü  | 

a  b 

wksha  I  aIsUb  |  iABsQisrbse  zugrunde  legt,  da  auch  hier  konsonan- 

e  d  « 

tische  Häufungen  zurückbleiben,  die,  um  sprechbare  Wörter  ergeben 
zu  können,  der  Einschaltung  von  Vokalen  bedürfen.  Aber  man  sieht 
doch ,  daß  in  diesem  Falle  nur  drei  Vokale  und  zwar  immer  in  un- 
mittelbarer Nachbarschaft  einer  Liquida  l  oder  r  in  tl,  skh  und  rbse 
ergänzt  werden  müßten. 

Ein  wirklicher  Gewinn  ergibt  sich  mir  dazu  aus  den  nur  neben- 
hin mitgeteilten  Beobachtungen  Bugges  S.  527,  daß  die  ^-Bune  in  tl 
an  der  Basis  einen  Aufstrich  zum  l  zeige,  so  daß  man  sie  als  Ligatur 
von  t  und  t.  auslegen  könnte,  daß  femer  das  w  in  wksha  vielleicht 
vokalische  Geltung  habe,  wie  auf  dem  Steine  von  Frerslev  vokalisches 
w  neben  u  vorkomme.  Transliterieren  wir  nun  tll,  ganz  abgesehen 
davon,  ob  es  mit  der  angenommenen  Ligatur  seine  Bichtigkeit  habe 


Norges  Indikrilfcer  med  de  »Idfe  Roner.  147 

oder  nicht  —  der  Aufstrich  am  Fuße  des  i  steht  allerdings  da  — , 
und  tikshü,  wobei  wir  einen  quantitativen  Unterschied  des  vokalischen 
w  und  des  u  voraussetzen  dürfen,  und  bringen  wir  das  h  dieses  Wortes, 
das  ein  orthographisch  versetztes  sein  wird  —  man  vergleiche  ahd. 

Liutarhtj  lUhbald^  lUiboUh  Libri  confrat.  für  -hart,  hilt-,  hilti an 

seine  richtige  Stelle,  so  erhalten  wir  die  Phrase  *til  huksü^  worin 
man  die  Präposition  til  mit  Genitiv  und  ein  zum  Adjektiv  aisl.  hugsi 
>thoughtful,  meditative<,  swv.  hugsa  >to  remember<  gehöriges  swf. 
Abstraktum  *hugsa  >memoria<  ohne  Mühe  erkennt.  *aih  . . .  tu 
hugsa  kann  also  sehr  wohl  heißen  >possideo€  oder  »possidet  ...  in 
memoriam<  und  der  folgende  Eomptex  ilskh  wird  dann  gewiß  einen 
Personennamen  im  Nominativ  oder  im  Genitiv  enthalten.  Es  ist 
vielleicht  erlaubt  *Älshilji  oder  *ÄlskilaR  auszufüllen  und  den  zweiten 
Teil  aus  an.  skil  neutr.  Plur.  > Unterschiede  mit  der  Begriffsentwick- 
lung, die  dieses  Wort  im  engl,  skill  durchgemacht  hat,  zu  erklären. 
Daß  man  Bugges  Erklärung  von  sbidal  als  *spifidul  >  Gewandspange  < 
aufgeben  müsse,  glaube  ich  nicht.  Allerdings  frz.  epingle,  mlat. 
espingla  >acicula<  ist  nur  >Stecknadel<,  aber  mhd.  bietet  Lexer 
außer  ^[^enel  >StecknadeU  auch  spendel  >monile,  spinter<,  d.  h.  wenn 
das  lateinische  Lehnwort  auch  auf  >Hal8band<  und  >Armspange< 
übertragen  werden  konnte,  die  einer  Nadel  entbehren,  mußte  das  um 
so  leichter  für  die  Gewandspange  möglich  sein,  bei  der  technisch 
eben  die  Nadel  die  Hauptsache  ist.  Aus  vulgärlat.  ^spinla,  *espinlaj 
auf  dem  ipingle  beruht,  ergibt  sich  für  das  Germanische  eine  neutrale 
Lehnform  *spindla  ohne  Schwierigkeit,  aus  der  späteres  *spindul 
mit  Sekundärvokal  entwickelt  zu  denken  ist.  Der  Eingang  der  In- 
schrift wäre  also  >possideo  fibulam  in  memoriam  .  .  .<,  und  darnach 
werden  wir  eher  den  Genitiv  >alicuius<,  als  den  Nominativ  des  Be- 
sitzers erwarten.  Dieser  Name  des  Besitzers  kann  vielmehr  in  dem 
folgenden  Komplexe  (ür  stehen,  der  als  *%aRj  *%haR  interpretiert  mit 
dem  von  Bugge  auf  dem  Bracteaten  von  Aasum  nachgewiesenen  und 
für  die  Inschrift  von  By  vermuteten  Personennamen  ehaR  oder  ihaR 
identisch  sein  mag.  Ist  nun  die  fünfte  Rune  der  Zeile  tatsächlich  gleich 
dl,  wobei  die  Annahme,  daß  sie  aus  der  eckigen  ;ara-Rune  stamme, 
wie  ich  unten  S.  158  f.  zeigen  werde  durchaus  nicht  hinderlich  er- 
scheint, so  gewinnen  wir  in  sä.. .  rbse  einen  Beinamen,  der  nur  nicht, 
wie  Bugge  wollte,  sich  auf  ÄlsklR,  sondern  auf  ior  bezieht. 

Was  nun  rbse  betrifft,  so  ist  zunächst  zu  betonen,  daß  eine  Be- 
wertung des  b  als  S  zwar  naheliegend,  aber  doch  keinesfalls  einzig  und 
allein  möglich  sei.  Man  kann  das  b  sehr  wohl  auch  als  p  verstehen. 
Ferner  mache  ich  aufmerksam,  daß  rbse  eine  nordische  Maskulin- 


148  Gott.  ^1.  Anz.  1906.  Kr.  2. 

bildung  mit  Suffix  -si,  wie  bersi  >ur8U8<  zu  ahd.  bero,  gassi  >gander< 
zu  gas  >Gan8<,  sein  wird,  so  daß  wir  rpse  vielleicht  in  *erpse  aus- 
füllen dürfen,  das  sich  des  weiteren  aus  an.  iarpr,  ags.  eorp,  ahd. 
flektiert  erpfer  > braun,  fu8cus<  leicht  erklärt.  Um  so  mehr  scheint 
diese  Beziehung  gestattet,  als  das  Adjektiv  im  Altnordischen  auch 
als  Pferdename  Iarpr  und  Fem.  lorp,  wie  nhd.  dial,  der  Braun, 
dem.  Bräunl,  sowie  als  sagenhafter  mask.  Erpr  und  als  weiblicher 
mythischer  Name  Irpa,  -u  auftritt  und  ein  aus  diesem  Adjektiv  ge- 
bildeter römisch  -  germanischer  Beiname  Arpus,  mit  vulgärlat.  a  für 
germ,  e,  schon  bei  Tac.  Ann.  bezeugt  ist.  Es  erübrigt  nur  noch  das 
zwischen  sä  und  *erpse  stehende  as.  Man  kann  die  Meinung  haben, 
daß  dasselbe  mit  sä  zusammenzulesen  sei  und  das  säas  Doppel- 
schreibung enthalte,  säs  wäre  dann  entweder  nach  ahd.  th4}se,  dese^ 
ags.  pes,  an.-run.  säst  > dieser c  zu  beurteilen  und  das  s  wäre  das 
des  deiktischen  Elementes  -se,  -s.  Man  kann  aber  auch  säs  mit  dem 
aschwed.-run.  sas  >der  welcher<  gleichsetzen,  das  nach  Noreen,  An. 
Gramm.  II,  S.  94,5,  aus  sa  es  >ille  qui<  zusammengezogen  ist. 
Nach  der  Seite  der  Bedeutung  hin  muß  man  sogar  das  letztere  vor- 
ziehen, da  >ille  quic  gar  nicht  anders  wirkte,  als  das  aus  lateinischen 
Texten  bekannte  Beinamen  anfügende  »qui  et<.  Aber  auch  formell  ist 
das  Bedenken  einer  Doppelschreibung  mit  zwei  verschiedenen  Runen 
schwer  zu  überwinden,  um  so  mehr,  als  das  Zeichen  in  sa  ja  ohne- 
hin schon  eine  Ligatur  zweier  a:V\,  somit  alphabetisches  lang-a 
ist.  Ich  bin  daher  geneigt  die  Stelle  sH  as  zu  transliterieren  und 
in  sa  as  die  nicht  verschmolzene  Paarung  von  Demonstrativum  und 
Relativum,  also  Noreens  sa  es  zu  erblicken,  wobei  für  das  zweite 
dieselbe  seltene  Schreibung  anzunehmen  ist,  die  Noreen,  An.  Gramm.  11, 
S.  512  Anm.  1,  in  einigen  jüngeren  Inschriften  konstatiert.  Die 
Wirkung  der  grammatisch  unverschmolzenen  Bindung  sä  as  ist  natür- 
lich keine  andere  als  die  des  zusammengezogenen  säs.  Das  Bedenken, 
das  aus  der  Annahme  dreier  a-Runen  in  äiner  Inschrift  gegen  die 
richtige  Interpretierung  überhaupt  erhoben  werden  könnte,  läßt  sich 
mit  dem  Hinweise  auf  die  Inschrift  von  Snoldelev,  Wimmer,  Die 
Runenschrift  S.  338,  beseitigen,  denn  auch  hier  finden  sich  drei 
a-Runen :  ^  (zweimal) ,  f  (fünfmal) ,  f^  (einmal)  nebeneinander.  Die 
separat  angebrachte  Rune  a  der  Fonnaaser  Inschrift,  die,  mit  dem 
ih  der  ersten  Vollzeile  zusammengelesen,  das  einleitende  Verbum 
aih  ergibt,  könnte  man  allesfalls  als  nachgetragene  Korrektur  an- 
sehen. Doch  dünkt  es  mich  wenig  glaublich,  daß  der  Schreiber  den 
graphischen  Ausdruck  des  prononzierten  Anlautes  von  aüi  hätte 
übersehen  können  und  ich  bin  daher  vielmehr  der  Ansicht ,  er  habe 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Runer.  149 

die  ursprüngliche  Absicht  gehabt,  die  Inschrift  mit  linksgewendeter 
Zeile  in  der  Mitte  der  Platte  zu  beginnen,  habe  das  linksgewendete 
a  geritzt  und  unmittelbar  darauf  seine  erste  Absicht,  gewiß  aus 
GrUnden  der  überlegten  Raumeinteilung  aufgegeben  und  die  Inschrift 
am  Rande  weitergeführt.  Das  einmal  geschriebene  a  aber  habe  er 
als  Anfang  der  Inschrift  trotz  der  etwas  ungewöhnlichen  Position  in 
voller  Geltung  stehen  lassen. 

Das  Beinkammfragment  von  Nedre  Hov,  Bugge  Nr.  35,  abgebildet 
S.  421  und  423,  1868  mit  anderen  auf  eine  Frau  deutenden  Gegen- 
ständen in  einem  Grabhügel,  Brandgrab,  gefunden,  gehört  archäo- 
logisch der  Zeit  der  Moorfunde,  300—500  nach  Rygh,  200—500  nach 
Sophus  Müller,  200—400  nach  Montelius,  an.  Das  Fragment  zeigt 
auf  der  einen  Seite  nicht  sicher  bestimmbare  Runen,  auf  der  anderen 
den  deutlichen  Komplex  ekad . . . ,  das  ist  ohne  Zweifel  das  Pronomen 
>ich€  mehr  einem  folgenden  Personennamen  im  Nominativ.  Bugge 
ergänzt  denselben  zu  *Ääa,  aschwed.  Adhi,  adän.  Adce^  ahd.  Ado 
und  Ato.  Da  aber  S.  421  gesagt  ist,  daß  etwas  mehr  als  die  Hälfte 
des  Kammes  fehle,  hat  man  keine  Sicherheit,  daß  der  Name  nicht 
länger  gewesen  sei,  obwohl  freilich  auch  ein  folgendes  Verbum  *aih 
den  Raum  füllen  würde.  Außerdem  möchte  man  auf  einem  aus  einem 
Frauengrab  stammenden  Kamme  einen  weiblichen  Namen  erwarten. 

Von  noch  nicht  sicher  erkannter  Bestimmung  ist  das  Beingeräte 
von  Odemotland,  Bugge  Nr.  17,  das  1886  an  das  Museum  zu  Bergen 
eingeliefert  wurde.  Das  Geräte,  in  natürlicher  Größe  abgebildet 
S.  244,  ist  kalziniert,  muß  also  dem  Feuer  ausgesetzt  gewesen  sein. 
Die  Inschrift  läuft  innerhalb  zweier  paralleler,  von  Randleisten  ein- 
gefaßter Zeilen,  in  der  unteren  von  links  nach  rechts,  in  der  oberen, 
wobei  das  Geräte  umgedreht  werden  muß,  von  rechts  nach  links. 
Die  Uastenköpfe  sind  demnach  einander  zugewendet,  die  Füße  von- 
einander abgewendet.  Die  Randleisten  gabeln  sich  am  Anfange  der 
SchriftzeUen  gegen  das  linke  Ende  in  ein  Delta,  das  noch  besonders 
konturiert  ist.  Deltaartige  Figuren  sind  auch  in  die  leeren  Räume 
vor  dem  Anfange  und  am  Ende  der  zwei  Buchstabenreihen  ein- 
geschrieben. Die  Buchstaben  sind  zum  Teil  doppelt  konturiert, 
bandartig,  zum  Teil  einfach,  bei  einigen  Zeichen  wechselt  die  Kontu- 
rierung  innerhalb  derselben;  die  Seitenhasten  sind  ein  paarmal  will- 
kürlich vermehrt,  außerdem  finden  sich  Wenderunen  und  Ligaturen. 
Bugge  hält  S.  263—264  den  Gegenstand  samt  seiner  Inschrift  für 
eine  Kopie  nach  älterem  Muster,  das  seinerseits  hinsichtlich  seiner 
Form  und  Ornamentierung  auf  eine  noch  ältere  Vorlage  zurück- 
gehe. 


150  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Die  Inschrift  selbst  transliteriert  Bugge  S.  259 : 
aliaiirtebarinaailjidlinua  —  aetaapabiahnfpitiardplnaa , 

wobei  zunächst  bemerkt  werden  soll,  daß  die  Ligatur  te  nach  der 
Folge  der  Zeichen  eigentlich  et  ist  —  der  rechte,  äußere  Abstrich 
des  t  ist  dabei  doppelt  wie  der  des  folgenden  a  dreifach  — , 
daß  ferner  an  Stelle  von  Bugges  Jl  ein  einfaches  Zeichen  von  dem 
Orundtypus  X  dasteht  und  daß  das  letzte  u  dieser  Zeile  eine  Sturz- 
rune ist.  In  Worte  geteilt  und  ausgefüllt  ergibt  sich  Bugge  der 
Text  *Üha  urte^  Umrinu  aijiä  pinnu  \  w6;  Tuupa  bi  ühan  fähidi 
tiard  pinnu.  Üha,  *Eburinu,  *Tuupa  sind  dabei  als  Personennamen 
gefaßt,  aiiid  als  3.  Sing,  praes.  ind.  aih  mehr  einer  enklitischen 
Pronominalform  »det<,  urte  >fecit€  und  *  fähidi  >scripsit<  zwei 
weitere  Verba  und  u€  »heiliger  Gegenstand«  sowie  das  Kompositum 
ti-ard,  das  >Inschrift<  bedeuten  soll,  die  Objekte  dazu ;  bi  wäre  Präpo- 
sition >bei«  und  pinuu  das  Pronomen  demonstrativum  ahd.  den  mehr 
einem*enklitischen,  deiktischen  nü.  Einleuchtend  daran  ist  der  Eingang: 
swm.  Personenname  Ulia  mehr  Verbum  urte  >  fecit <,  die  Konstatierung 
eines  Frauennamens  in  dem  folgenden  Komplexe  burinu,  die  Ver- 
mutung, daß  aifid  eine  Form  des  Verbums  aigan  >possidere<  ent- 
halte, ferner  die  Beziehung  von  ulin  als  Obliquus  zum  Namen  Uha 
und  Z*^  als  3.  Sing,  praet.  zu  an.  fd  » schreiben  <.  Wahrscheinlich 
ist,  daß  das  doppelte  pinuu  ein  Demonstrativpronomen  enhalte. 

In  den  Berichtigungen  S.  545  ff.  ist  Bugge  der  wichtige  Wurf 
gelungen,  das  Zeichen  K  >  ^^  ^t^  vorher  zweimal  als  r,  einmal  als  b 
interpretiert  hatte,  in  Uebereinstimmung  mit  den  Zeichen  von 
Hämmeren  und  Konghell  als  uu  zu  erkennen,  aber  die  sonstigen 
Deutungen  an  dieser  Stelle  *Uha  urte  Ebuuuinu  ai  ingd,  was  S.  547 
in  *ing[wanj  oder  *%ng[winaR]  dfohtarj  ausgefüllt  wird,  und  *pinuu 
ue-tuupa  >den  geweihten  Zahn<  als  Objekt,  ferner  der  Schluß  S.  550 
*uu%  uhfaj  [ajn  f[dh]pi  Ti  auue  (B)[bu]uu[i]nuu  »auf  diesen  ge- 
weihten Gegenstand  schrieb  Uha:  Ty  (das  ist  der  Gottname)  sei  der 
Ebuuvinu  günstig  !<  schließen  eher  einen  Rückschritt  ein.  S.  554 
berichtet  Bugge,  er  sei  nach  Drucklegung  des  Bogens  (1903)  be- 
züglich des  Komplexes  aoaeeaanao,  das  ist  also  des  .Schlusses  der 
zweiten  Zeile  in  neuer  Transliterierung  zu  einer  differierenden  Auf- 
fassung gelangt,  die  er  in  den  > Allgemeinen  Bemerkungen«  mit- 
teilen werde. 

Ich  habe  keinen  Grund  gegen  diö  Gleichsetzung  des  Personen- 
namens umord.  Uha  mit  ahd.  Üo,  Üvo  Mchb.  hist.  Fris.  (Bugge  S.  247), 


I 


Norges  Indskrifter  med  de  seldre  Rnner.  151 

auch  Fem.  Üva  Libr.  confr.  etwas  einzuwenden,  auch  nichts  gegen 
die  appellatiyische  Identifizierung  dieses  Namens  mit  ahd.  üwo,  üvo 
»bubo,  Uhu<  demin.  in  üunla  >noctua,  £ule<  Graff  1,  172,  ags.  üf, 
an.  üfr,  wozu  ich  noch  nhd.  dial,  der  auf  und  auvogd  nach- 
tragen kann,  aber  freilich  als  zweiten  Teil  des  umord.  Personen- 
namens Hariuha,  Bract,  von  Seeland,  kann  ich  denselben  nicht  an- 
erkennen und  seine  Verbindung  mit  dem  uidf  von  Hämmeren  muß 
ich  zurückweisen.  Dagegen  scheinen  mir  die  etymologischen  Ver- 
suche, den  folgenden  Frauennamen  zu  deuten,  überhaupt  verfehlt 
und  das  Bestreben,  demselben  noch  ein  vorhergehendes  e  anzuhängen, 
in  nichts  gerechtfertigt.  Liest  man  Büwinu,  so  ist  dieser  Name  ja 
nichts  anders  als  eine  fem.  inid-Motion  zu  an.  BüL  ahd.  Püwo  St.  G. 
a.  817  und  bedarf  keiner  weiteren  Bemühungen.  Das  Zeichen  %,  bei 
Bugge  einmal  als  v>  d&s  anderemal  als  ng  gelesen,  ist  doch  eine 
offenbare  ^-Rune,  deren  besondere  Ausprägung  ich  schon  Z.  f.  d.  Ph. 
32,  295  aus  einem  ags.  Fupark  nachgewiesen  habe.  Es  ergibt  sich 
also  die  Lesung  aigä,  wohl  in  *aigiä  aufzulösen  als  analogische  3.  Sing, 
praes.  nach  dem  PI.  an.  eigom,  Inf.  eiga  >  besitzen  <  gebildet.  Was 
die  zweite  Zeile  angeht,  scheint  mir  das  unterpungierte  u  vielmehr 
ein  r  zu  sein,  das  unmittelbar  folgende  ist  eine  Wenderune  u,  der 
Schluß  aber,  glaube  ich,  ist  tiaum^inaa  zu  lesen.  Die  gleiche 
Form  des  d:M  mit  Verwandlung  des  inneren  Kreuzes  in  zwei  ein- 
springende einander  nicht  berührende  Haken  ü  bietet  ja  zweimal  die 
Inschrift  von  ValsQorden  (siehe  Bugge  S.  344  und  346).  Wenn  uha, 
ausgefüllt  *ühan,  Dativ  des  Interesses  »für  Uha<  ist  und  *fßjpi 
das  bekannte  Verbum  > schriebe,  so  haben  wir  hierzu  Subjekt 
und  Objekt  zu  suchen.  Wie  Bugge  in  seiner  ersten  Beurteilung 
sehr  richtig  gesehen  hat  steckt  das  Subjekt,  ein  Personenname  in 
dem  Komplexe  am  Eingange  der  Zeile,  das  Objekt  in  dem  zwischen 
dem  Verbum  und  dem  Pronomen.  Ich  vermute  einen  Personennamen 
*UHrüp(R),  dessen  erster  Teil  mit  dem  der  an.  Namen  Ve-geirr, 
-gestTy  'tnundr  und  anderen  zusammenfällt,  während  der  zweite 
sich  mit  aisl.  irudr  >a  juggler  <,  auch  Beiname  Ann  truär^  ags.  truä 
>liticen,  histrioc  identifizieren  läßt,  wonach  man  es,  das  lehren  schon 
die  Bedeutungen  dieses  Wortes,  mit  einem  Beinamen  zu  tun  hat. 
a  JJl  kann  örtliche  Bestimmung  >zu  Vfc  ^)  sein  und  in  tuaSud  birgt 

1)  Legt  man  hierfür  an.  vi  n.  als  »aedes«  oder  »templom«  zugrunde,  so 
ist  das  bewahrte  i  nach  Noreen,  An.  Gramm.  P,  §  107, 1,  nur  dann  zu  verstehen, 
wenn  man  Yon  dem  aus  dem  Althochdeutschen  bekannten  Lokatiy  auf  -t  ausgeht, 
a  ttttl  also  auf  "^on  vüki  zurückführt.  Der  Schwund  der  Nasalis  in  der  glaub- 
lichen Präposition  an  gegenüber  den  Nichtschwund  in  der  Rexion  Mh(a)n  erkl&rt 
sich  leicht  aus  der  untertonigen  Proklise  dieses  Bedeteiles. 


152  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

sich  doch  wahrscheinlich  das  gemeingerm.  Wort  ^auäa-,  an.  auär  m., 
ags.  eod,  as.  od  >bonum,  possessio <  in  irgend  einer  Zusammensetzung, 
etwa  ^ti-auäR,  die  es  gestattet  die  gelegentliche  Bedeutung  desmhd. 
Jdeindt  >  kleines  Hausgeräte  <  (Lexer)  auf  dieselbe  zu  übertragen,  oder 
eine  analoge  ausfindig  zu  machen. 

Das  von  Bugge  angesetzte  deiktische  Element  in  pinuu^  ahd. 
then^  findet  sich  in  ahd.  sinu^  senu  >ecce<  wieder  und  ist  wohl  sicher 
die  Partikel  nü.  Textlich  ist  zu  beachten,  daß  hier  auch  der 
Schreiber  in  der  dritten  Person  von  sich  spricht,  was  nach  Bugges 
Bemerkung  für  die  Textfassung  der  jüngeren  nordischen  Runen- 
inschriften charakteristisch  ist. 

Das  Fehlen  des  Nominativzeichens  r  in  *üstrüp  kann  aus  der 
von  Noreen,  An.  Gramm.  11,  §  383e8,  für  das  Altschwedische  for- 
mulierten Regel  erläutert  werden,  wonach  dasselbe  in  Titeln  un- 
mittelbar vor  dem  zugehörigen  Namen,  später  auch  im  Namen  vor 
dem  Patronymikon,  also  im  nebentonigen  proklitischen  Worte  unter- 
drückt wird.  In  unserem  FaUe  konnte  die  folgende  Ortsbezeichnung 
uStrüp  ä  uuT  gleich  dem  Hauptnamen  wirken  und  uBtrüp  stünde  wie 
ein  Titel,  was  es  ja  vielleicht  ohnehin  ist. 

Der  vermutlich  für  eine  Angelschnur  bestimmte  Senkstein  von 
Ferde,  aus  Steatit  (Bugge  Nr.  24),  0.12  m  lang,  0.05  m  breit,  im  ver- 
kleinerten Maßstab,  halber  natürlicher  Größe  abgebildet  S.  313,  in 
etwas  über  natürlicher  Größe  S.  314,  wurde  1874  gefunden.  Die  In- 
schrift alako  steht  zwischen  zwei  Bohrlöchern  eingeschnitten  senk- 
recht auf  die  Längenachse  des  Steines  und  ist  von  links  nach  rechts 
zu  lesen.  Die  Runenhöhe  läßt  an  den  Rändern  oben  und  unten  nur 
mäßig  freien  Raum  übrig. 

Den  Komplex  erklärt  Bugge  nunmehr  als  Frauennamen  mit 
deminutivischem  i-Suffix  als  Pendant  zu  dem  northumbr.  Mask. 
Äluca,  ndd.  Äluco  (Werden),  9.  Jahrhundert,  ausgehend  von  einem 
Vollnamen  der  an.  ol- :  Olbjorn,  Qlmodr,  ags.  ealu- :  Ealuburh,  Ealu- 
bearht,  Äloburg  im  ersten  Teile  besaß. 

S.  315  setzt  Bugge  die  Inschrift  zwischen  650  und  700,  Wimmer 
die  Runenschrift  S.  304  Note  1  gegen  Schluß  der  Periode  550—700, 
ebenso  gegen  700  Noreen,  An.  Gramm.  I*  S.  337. 

Ich  möchte  nur  bemerken,  daß  das  £lement  alu-,  trotzdem  die 
Inschrift  weder  magisch  ist,  Wimmer  a.  a.  0.,  noch  mit  >Schutz< 
etwas  zu  tun  hat,  Bugge,  S.  162  ff.,  mit  dem  in  dem  einfachen  alu 
repräsentierten  Worte  gleich  sein  kann. 

lieber  die  Zeit,  der  die  mit  Inschriften  in  den  älteren  Runen 
versehenen  Goldbracteaten  angehören,  äußert  sich  Bugge  S.  45,  daß 


Norges  Indskrifler  med  de  seldre  Rimer.  153 

man  die  Hauptmenge  derselben  ins  6.  Jahrhundert  verlegen  mttsse. 
Auf  diesen  Zeitabschnitt  führen  die  von  den  nordischen  Antiquaren 
gegebenen  Grenzen:  5.  Jahrhundert  bis  erste  Hälfte  des  6.  Jahr- 
hunderts Montelius,  550—700  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  304 
Note  1. 

Die  Inschriften  der  Bracteaten  sind  nicht  immer  deutbar  und 
zwar  nicht  etwa  bloß  aus  dem  Grunde,  daß  die  mitunter  in  graphisch- 
omamentale  Gebilde  zusammengeschlossenen  Runen  sich  der  Ent- 
wirrung entziehen,  sondern  auch  deshalb,  weil  die  erhaltenen  Brac- 
teaten nicht  immer  Originale  sind.  Sie  wurden  ja  vielfach  rein 
mechanisch  nachgebildet,  wobei  die  ursprünglich  sinnvollen  Inschriften 
in  unheilbarer  Weise  entstellt  werden  konnten. 

Die  Bracteaten  von  Sotvet,  zwei  Exemplare,  1879  in  einem 
Grabhügel  mit  Schmuckresten  und  etwa  um  das  Jahr  600  datierbaren 
Gegenständen  gefunden,  die  auf  ein  Frauengrab  schließen  lassen, 
sind  mit  demselben  Stempel  geprägt,  in  Bild  und  Wort  vollkommen 
gleiche  Doubletten. 

Die  Inschrift  des  Bracteaten,  abgebildet  S.  170,  steht  in  zwei 
Partien  rechts  und  links  vom  Henkel,  in  dem  von  Perlenschnüren 
umgebenen  Bildfelde  mit  linksläufigen,  auf  eine  äußere  Grundlinie 
orientierten  Buchstaben,  gibt  sich  also  als  Umschrift,  die  rechts  oben 
beginnt,  beinahe  drei  Viertel  des  Kreises  überspringt  und  links  oben 
endigt.   Sie  lautet  transliteriert: 

aelwao— nl.  Am  Anfange  der  zweiten  Partie  steht  ein  von  Bugge 
als  nicht  literal  angesehenes,  dreiarmiges  Zeichen  Xj  d&s  auch  auf 
anderen  Bracteaten  vorkommt  und  gleich  dem  Hakenkreuze  ein 
Symbol  sein  wird. 

Bugge  liest  elwa  onla,  oder  orUa  ehoa  und  sieht  in  diesen 
Wörtern  zwei  Nominative  auf  a,  von  denen  der  eine,  onla^  mit  dem 
Suffixe  von  Wi^DÜa  Veblungsnes,  sowie  der  Namen  Frohila,  Nitiwila^ 
NiujilfaJ  der  Bracteaten  von  Darum  ü,  NaBsbjaerg  und  Darum  I, 
Mrla  der  Spange  von  Etelhem  gebildet,  mit  ags.  Onela,  Beow.,  dem 
Namen  eines  schwedischen  Königs  des  6.  Jahrhunderts  und  an. 
Ölif  Öli  oder  Ali  identisch  sein  könne.  Doch  müßte  man  mit  Bugge, 
S.  171  erwarten,  daß  das  a  bei  Entsprechung  zu  ags.  Onela,  ahd.- 
dän.  Änulo,  Einh.  zum  Jahr  812,  zur  Zeit  des  Bracteaten  noch  be- 
wahrt sei  und  dieses  Bedenken  leitet  Bugge,  wenn  er  S.  535—536  den 
Onla  von  Setvet  auf  Äunila  zurückführt  und  den  Namen  gleich  dem 
Fröhila  von  Darum  als  gotisch  erklärt;  d.  h.  Bugge  nimmt  an,  daß 
bei  den  Nordleuten  auch  Namen  gotischer  Form  und  Herkunft  in 
Gebrauch  gewesen  seien.  Daß  dagegen  der  Vokal  des  zweiten  Namens 

06ti.  gd.  Axa,  190«.  Nr.  2.  11 


154  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

dwa,  nicht  iltva^  streite,  den  Bugge  als  swm.  Form  des  ahd.  Ad- 
jektivs do,  elawSr  >gelb<  bestimmt,  hebt  der  Verfasser  ausdrück- 
lich hervor,  meint  aber,  das  e  statt  i  könne  wohl  auch  dialektisch 
sein.  Ich  muß  gestehen,  daß  mir  der  Umweg  über  das  Gotische 
ebensowenig  überzeugend  erscheint,  als  die  Uebertragung  des  latei- 
nisch-gotischen ö  für  gotisch  au  auf  den  Fröhila  des  Bracteaten  von 
Darum.  Der  Name  kann  auch  germ,  ö  haben,  zum  ahd.  Adv.  frö^ 
fruo  >mane<,  auch  Adj.  fruer  >matutinus,  antelucanus<  Oraff  3,655 
gehören  und  sich  mit  dem  ahd.  Fruölo  der  Libri  confrat.  vollständig 
decken.  Dieses  Element  kommt  ja  auch  sonst  noch  vor;  so  mög- 
licherweise in  Fruarit  Trad.  Wiz.  a.  808,  Fruorit  Dronke  a.  802  und 
Fruosint  Libr.  confr.,  die  man  freilich  auch  aus  fruot-  ableiten  kann. 
Sicher  aber  ist  das  Wort  in  Fruogia,  Libri  confr.,  einem  Beinamen, 
der  ganz  und  gar  dem  römischen  Eognomen  Mätütina  gemäß  ist.  Ich 
glaube  daher  behaupten  zu  dürfen,  daß  der  Name  Fröhila  unbe- 
denklich als  urnordischer  angesehen  werden  dürfe  und  zwar  als  De- 
minutivform eines  einfachen,  dem  römischen  Eognomen  Mätütlnus 
entsprechenden  Beinamens,  etwa  *FröjaR.  Nicht  anders  verhält  sich 
die  Sache  bei  dem  Deminutivum  NiujilfaJ',  es  gehört  zu  einem  ein- 
fachen Beinamen,  der  wie  das  römische  Eognomen  Növus  zu  ver- 
stehen ist,  und  ich  zweifle  nicht,  daß  beide  sich  bedeutungsmäßig 
auf  Oeburtsumstände  beziehen  werden. 

Demnach  stehe  ich  dem  angeblich  gotischen  *aunila  in  onla  mit 
noch  größerem  Mißtrauen  gegenüber  als  der  früheren  Gleichung 
Bugges  mit  ags.  Onela.  Aber  die  Sache  wird  sich  auch  hier  auf 
drittem  Boden  entscheiden.  Aus  dem  Eomplexe  iong  des  Hobels  von 
Vi  wissen  wir,  daß  germ,  ü  im  Urnordischen  auch  vor  gedeckter 
Nasalis  als  ö  auftreten  könne.  Ich  gehe  daher  für  Onla  von  einer 
Form  *Onnila  aus  und  diese  ist  klärlich  wieder  nichts  anderes,  als 
eine  Deminutivbildung  zu  dem  einfacheren  Namen  ags.  Onna,  ahd. 
Unna,  Libr.  confr.,  beziehungsweise  eine  deminuierte  Eurzform  aus 
einem  Eompositum  wie  Unnari,  ebenda,  Onnhardus  Necrol.  Germ. 
111,326.  Bleiben  wir,  was  am  nächsten  liegt,  bei  Unno^  so  erkennen 
wir  darin  unschwer  das  zum  Verbum  ahd.,  ags.  unnan  >dare,  attri- 
buere,  concedere<  an.  unna  gehörige  swm.  Abstractum  unna  in  der 
dritten  Bedeutung  bei  Bosworth-Toller  »a  grant,  what  in  given<, 
von  >Gabe<  wenig  verschieden  in  dem  a.  a.  0.  ausgezogenen  Passus 
se  de  das  lyfu  and  äisne  unnan  unlle  Gode  and  sancte  Pdre  ceibredan 
»wer  diese  Gabe  und  Gunst  Gott  und  St.  Peter  entziehen  will«, 
d.  h.  ahd.  Unna  ist  ein  Beiname,  der  im  römischen  Eognomen  Con- 
C€s$u$  eine  genaue  Parallele  hat 


Norges  Indskiifter  med  de  seldre  Raner.  155 

Aber  auch  Elwa  ist  Beiname,  ahd.  Elo  Libri  confrat.  und  seiner 
Bedeutung  nach  gewiß  mit  dem  römischen  Kognomen  Flavus  gleich, 
denn  der  appellativische  Wert  des  Adj.  ahd.  do  wird  sich  nach  den 
Belegen  bei  Graff  1,225,  wie  elewü  laehin  »sacellum  crisum«,  als 
>  lichtgelb  €  bestimmen  lassen.  Dieser  Beiname  ist  demnach  aus  der 
Komplexion  geschöpft. 

Was  die  Folge  der  Namen  auf  den  Bracteaten  anbelangt,  muß 
ich  mich  für  dwa,  onla  entscheiden,  da  es  unglaublich  ist,  daß  die 
Inschrift  am  Ende  des  Schriftraumes  im  rechten  oberen  Felde  be- 
ginne und  nicht  vielmehr  am  Anfange  desselben.  Das  a  vor  dem 
Namen  Elwa  ist  um  die  Hälfte  kleiner  als  das  folgende  e,  ich  bin 
der  Ansicht,  daß  der  Stempelschneider,  wie  er  auch  die  Größe  des 
l  aus  Raumgründen  reduzieren  mußte,  den  letzten  Buchstaben  des 
zweiten  Namens  vor  dem  Anfangsbuchstaben  des  ersten  eingeflickt 
habe,  da  er  denselben  auf  der  linken  Seite  nicht  mehr  unterbringen 
konnte. 

Das  Verhältnis  der  beiden  Namen  ist  entweder  das  von  zwei 
Beinamen  zweier  Personen,  oder  das  von  zwei  Beinamen  einer 
Person.  Es  ist  ja  richtig,  daß  wir  in  diesem  letzteren  Falle  eher 
die  Folge  Onla  Elwa  als  die  tatsächlich  anzunehmende  Elwa  Onla 
erwarteten,  aber  entscheidend  ist  das  doch  nicht,  da  z.  B.  der  Folge 
Totila  qui  et  Baduüla  im  chron.  Sigeb.  die  umgekehrte  Baduüla 
qui  d  Totila  dicebatur  in  Ekkeh.  chron.  univers.  gegenübersteht,  d.  h. 
man  hat  es  mit  zwei  freien  und  von  einander  unabhängigen,  nicht 
zu  einem  festen  Systeme  verbundenen  Namen  zu  tun. 

Nur  ^inen  Namen  gewährt  der  aus  Norwegen  stammende,  heute 
im  Nationalmuseum  zu  Kopenhagen  autbewahrte  Bracteat,  Bugge 
Nr.  42,  abgebildet  S.  457.  Hinter  dem  das  Mittelfeld  einnehmenden 
Menschenhaupt  findet  sich  innerhalb  eines  Bandrahmens  der  links- 
läufige Komplex  anoana,  den  die  Verfasser  mit  ahd.  Änawan  ver- 
gleichen. Der  erste  Teil  enthielte  ahd.  ano,  wozu  auch  die  nordischen 
Namen  Ali,  Oli  und  Älof,  Öluf,  urnord.  Alaifu  By  gehörten,  oder 
die  Präposition  an,  der  zweite  entweder  got.  tcans,  an.  vanr,  ahd.  wan 
> mangelnd«,  oder  an.  vanr  »gewohnt  an«.  Das  o  sei  wie  in  hoiE  des 
Steines  von  Rök  als  konsonantisches  u  zu  bewerten.  Diese  ortho- 
graphische Darstellung  o  für  u  ist  allerdings  in  irgend  einem  Punkte 
richtig,  man  könnte  z.  B.  ahd.  choat  neben  chat  im  älteren  Physio- 
logus  vergleichen,  aber  Anawän  habe  ich  schon  an  anderer  Stelle, 
A.  f.  d.  A.  27, 133  als  Speratus  erklärt  und  setze  demgemäß  urnord. 
*ana'wana  mit  got.  aswSna  »exspes,  &ic6Xic(Ca>v<  ins  Verhältnis.  Das 
0  der  belegten  Form  anoäna  ist  demnach  etymologisch  eigentlich  das 

11*    . 


156  Qött  gd.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

durch  folgendes  w  dunkelgefarbte  auslautende  a  der  Präposition  got. 
ana-,  bedingt  aber  allerdings  auch  den  Anlaut  w  in  der  wirklichen 
Aussprache,  die  sich  mit  deutlichem  Gleitlaute  ^  zwischen  beiden 
Vokalen  vollzieht.  Der  Bedeutung  nach  kann  Anoäna  nicht  passivisch 
sein  wie  ahd.  Anawän^  sondern  nur  aktivisch  >sperans,  exsperans«. 

Einen  mask.  Personennamen  auf  -r  wird  man  auch  für  den  zirka 
1805—1810  in  einem  Brandgrabe  gefundenen  Bracteaten  von  Fredriks- 
stad,  Bugge  Nr.  2,  vermuten  dürfen,  abgebildet  S.  44,  obwohl  die 
Lesung  des  Komplexes,  der  von  bandartiger  Umrahmung  abgegrenzt, 
am  linken  oberen  Rande,  vor  dem  Gesichte  der  Reiterfigur  im  Bild- 
felde derselben  steht,  der  Lesung  Schwierigkeiten  entgegen  setzt. 

Bugge  hält  S.  45  die  Inschrift  für  die  entstellte  Kopie  nach 
einer  älteren  Vorlage,  gelangt  aber  S.  524—525  doch  zur  Memung, 
daß  der  Bracteat  ein  Original  sei  und  schlägt  eine  Lesung  ndaiiB, 
d.i.  einen  Personennamen  vor,  der  *udd'üuR  oder  -m  zu  konstru- 
ieren wäre  und  im  ersten  Teile  an.  odd-,  ahd.  ort-,  im  zweiten  aber 
die  umordische  Form  des  modern  nord.  dial.  Maskulinums  tir  »Stein- 
eule« enthalte,  verwandt  also  mit  dem  Namen  Üha  von  Memotland. 
Das  ist  unter  der  Voraussetzung,  daß  man  *udd'üR  als  Beinamen 
fasse,  ja  gewiß  möglich;  man  könnte  dazu  allesfalls  auch  das 
appellativische  Kompositum  ortfoda  >accipiter<  der  malbergischen 
Glosse  vergleichen. 

Ergebnislos  blieb  Bugge  die  Inschrift  des  Bracteaten  von  Sogn- 
dal,  Nr.  23,  abgebildet  S.  311,  der  1861  gefunden  ist. 

Die  Inschrift  steht  im  linken  unteren  Viertel  hinter  den  Beinen 
eines  nach  rechts  sprengenden  Reitpferdes.  Die  Zeichen  sind  in  der 
Tat  schwer  entwirrbar,  Bugge  hält  dieselben  für  mechanische  Nach- 
ahmung nach  einem  älteren  Bracteaten. 

Ebenso  verhält  sich  die  Sache  mit  dem  Goldmedaillon  von 
Mauland,  Bugge  Nr.  40,  abgebildet  S.  446,  das  1899  vom  Museum 
zu  Stavanger  erworben  wurde.  Die  Aversseite  dieses  Medaillons 
zeigt  ein  römisches  Kaiserbrustbild  und  trägt  eine  nur  das  untere 
Viertel  des  Kreises  freilassende  Umschrift  in  lateinischen  Buchstaben 
und  Runen.  Die  Reversseite  enthält  eine  Menschenfigur  zu  Pferde, 
einen  Kranz  emporhaltend  und  davor  stehend  eine  zweite  Figur  mit 
langem  Gewände. 

Bugge  hält  das  Medaillon  für  Nachbildung  einer  römischen 
Kaisermünze  —  die  Aversseite  erinnere  sehr  an  die  Darstellung  des 
Kaisers  Valens  (375 — 378)  — -  die  Inschrift  gleichfalls  für  eine  mecha- 
nische Nachbildung  ohne  sprachliche  Bedeutung.  Derartige  Nach- 
bildungen römischer  Goldmünzen  sind  in  Norwegen  im  ganzen  sechs 
gefunden. 


Norges  Indskrifter  med  de  «Idre  Raner.  157 

In  ähnlicher  Weise  beurteilt  Bugge  auch  die  Inschrift  des  großen 
Bracteaten  von  Selvig,  Nr.  18,  mit  38  mm  Durchmesser,  der  1846 
mit  anderen  Bracteaten  und  Goldsachen  gefunden  wurde.  Die  In- 
schrift mit  linksgewendeten  Runen  tan,  abgebildet  S.  267,  findet 
sich  vor  der  Nase  des  linksgewendeten  Menschenkopfes  im  Mittel- 
felde und  läuft  vom  Fuße  des  u  an  in  eine  merkwürdige  Umrahmung 
aus,  deren  Anfangsstttck  ganz  einem  griechischen  £  gleicht.  Außer- 
dem stehen  die  vier  Runenhasten  auf  vier  Postamenten,  die  ihrer- 
seits wieder  auf  einem  freien  langgestreckten  Rahmenteile  aufsitzen. 

Bugge  ist  nicht  der  Ansicht,  daß  die  Inschrift  ein  wirkliches 
Wort  sei,  sondern  hält  sie  für  eine  Entstellung  aus  alu. 

Die  Runen  sind  aber  so  klar  und  sicher,  daß  es  schwer  scheint, 
dieselben  als  bloße  Entstellung  anzusehen,  ich  meine  daher,  daß  die- 
selben ein  Sachwort  mit  der  Flexion  von  alu,  lapu,  oder  einen  Namen 
enthalten. 

Man  kann  zweisilbiges  *tä-u  in  *tä-u)u  rekonstruieren  und  darin 
entweder  die  umordische  Entsprechung  zu  got.  tewa^  stf.  »t^yil«, 
ordo<,  oder  zum  ahd.  Frauennamen  Zawa  des  Cal.  Merseb.  Jul. 
finden.')  Wäre  das  Wort  ein  Sachwort,  so  könnte  man  insbesondere 
an  ahd.  gizanua,  stf.  >das  Gelingen«  zum  swv.  eauoen  >glücken,  ge- 
lingen, zu  teil  werden«  denken.^)  Demnach  würde  man  *tawü  als 
instrumentalen  Dativ,  wie  >mit  dem  Wunsche  des  Gelingens,  des 
Glückes«  oder  >in  bonam  fortunam«  erklären  dürfen. 

Ein  Sachwort,  auch  nach  Bugges  Meinung,  bietet  der  Bracteat 
von  Bjomerud,  Nr.  36,  der  1895  von  der  üniversitätssammlung  nordi- 
scher Altertümer  in  Christiania  erworben  wurde.  Es  ist  das  bereits 
besprochene  Wort  aln,  das  in  linksgewendeten  Runen  vor  dem  im 
Profil  dargestellten  Menschenkopfe  steht.  Daß  das  u  derselben  ein 
rechtsgewendetes  sei,  kann  ich  auf  der  Abbildung  S.  428  nicht  sehen. 
Im  übrigen  möchte  ich  nur  hinzufügen,  daß  mir  die  vorausgesetzten 
Dative  mit  den  germanischen  adverbialen  Dativen,  wie  got.  allaim 
haidum  »icavtl  Tpöic(|><  Beziehungen  zu  haben  scheinen. 

Eine  längere,  aber  späterer  Zeit  angehörige  Inschrift  leistet  der 
Bracteat  von  Aagedal,  Bugge  Nr.  11,  in  vergrößertem  Maßstab  ab- 
gebildet S.  188,  der  1879  als  Teil  eines  großen  Grabfundes  zu  Tage 

1)  Vgl.  das  anter  Elgesem  zum  Bracteaten  Stephens,  Nr.  27^  Gesagte!  — 
welche  Gründe  Bngge  hestimmen,  S.  554  diese  Yerhindang  ohne  weiteres  abzu- 
lehnen, ist  mir  nicht  verständlich. 

2)  Otfrid  in  der  »Invocatio  scriptoris  ad  Dominnmc.  1,2,^  gizduua  mo 
firlihe  ginada  thin  theig  thihe  »verleihe  deine  Gnade  ihm  (d.  L  meinem  Worte), 
Gelingen,  auf  daß  es  gedeihe«. 


158  G6U.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  2. 

kam.  Die  Gegenstände  lassen  auf  ein  Frauengrab  schließen  und  sind 
archäologisch  etwa  um  das  Jahr  700  zu  datieren. 

Die  volle  Umschrift  läuft  mit  linksgewendeten  Kunen  zwischen 
einem  äußeren  und  einem  inneren  Kreise  eingeschlossen,  am  Rande 
um  das  Bild,  eine  Reiterdarstellung.  Bugge  liest  S.  200  zusammen- 
gefaßt apilR  RikipiR  ai  eirüidi,  Uha  ifalh  fahd  Hade  eliß  an  it  und 
übersetzt  »der  edle  R.  besitzt  den  Häuptlingsschmuck.  Uha  gra- 
vierte, schrieb,  ordnete  die  Eibin  (das  wäre  das  Bild  des  Bracteaten!) 
darauf«.  S.  553  ändert  er  den  Schluß  in  fahd  ti-ad  ee  lifi  an  it, 
übersetzt  >(Uha)  . . .  schrieb  darauf:  kriegerischer  Ty  (der  Gott- 
name I),  er  lebe!< 

Die  Buchstaben  sind  in  vielen  Stücken  so  deutlich,  daß  man  von 
weiteren  Bemühungen  um  die  Inschrift  die  Erlangung  eines  in  allen 
Stücken  befriedigenden  Ergebnisses  erwarten  darf. 

Einige  Worte  habe  ich  noch  den  Exkursen  zu  widmen,  die  zum 
Teil  Probleme  der  runischen  Schriftzeichen  erörtern,  zum  Teil  Deu- 
tungen nichtnorwegischer  Inschriften  einflechten. 

Der  Exkurs  über  die  Rune  der  Fonnaaser  Spange  d,  so  in  rechts- 
gewendeter Schrift,  S.  70f.,  begründet  die  Herleitung  dieses  Zeichens 
aus  der  eckigen  ;ara^Rune,  deren  Name  später  zu  ära,  an.  dr  wurde, 
so  daß  mit  dem  Abfalle  des  anlautenden  ;  auch  das  Zeichen  seine 
ursprüngliche  Lautgeltung  zugunsten  einer  neuen  ä  verlor.  Nur  hat 
Bugge  nicht  hervorgehoben,  daß  das  Zeichen  von  Fonnaas  nicht  bloß 
eine  graphische  Veränderung  der  eckigen,  schon  auf  dem  Lanzen- 
schafte von  Kragehul  in  dieser  Form  vorkommenden  ;ara-Rune  H 
sei,  sondern  offenbar  eine  Doppelsetzung  dieses  Zeichens,  eine  Li- 
gatur aI,  die  also  nicht  nur  ausdrücklich  tür  die  Schreibung  des 
lang  a  erfunden  ist,  sondern  auch  voraussetzt,  daß  zur  Zeit,  als  sie 
gebildet  wurde,  das  einfache  H  als  alphabetischer  Ausdruck  der 
Länge  nicht  mehr  angesehen  sein  könne.  Die  Inschrift  des  Krage- 
huler  Lanzenschaftes,  abgebildet  bei  Wimmer,  Die  Runenschrift 
S.  124,  wird  von  diesem  selbst  S.  303  in  die  erste  Hälfte  des  6.  Jahr- 
hunderts gesetzt,  während  Montelius  geneigt  war,  sie  über  100  Jahre 
früher,  um  400  zu  datieren.  Das  ist  vermutlich  übertrieben,  aber  so 
viel  ist  sicher,  daß  die  eckige  /ära-Rune  mit  der  runden  9  von  Tune 
z.  B.  gleichzeitig  ist. 

Wäre  aber  selbst  die  eckige  järchRnne  früher  bezeugt  als  die 
runde,  was  man  schon  mit  Rücksicht  auf  das  runde  S  der  Thors- 
bjsBrger  Zwinge,  die  Wimmer,  Die  Runenschrift  S.  303,  zwischen  400 
und  500  datiert,  nicht  zuzugeben  braucht,  so  wäre  das  noch  immer 
kein  Beweis,  daß  die  eckige  Form  auch  die  alphabet-geschichtlich 


Norges  Indskrifter  med  de  nldre  Raner.  159 

ältere  sei,  denn  sie  ist  offenbar  die  Form  der  Holztechnik  und  es 
ist  kein  Zufall,  daß  sie  zuerst  auf  einem  Holzgeräte  auftaucht, 
während  sie  später  auch  in  Steininschriften,  wie  Istaby,  eintreten 
konnte.  Wir  müssen  also  annehmen,  daß  die  runde  Form  der 
Metalltechnik  und  die  eckige  der  Holztechnik  im  6.  Jahrhundert 
gleichzeitig  nebeneinander  bestanden  haben,  daß  aus  der  letzteren 
eine  Ligatur  äa  gebildet  wurde  und  nur  aus  dieser  graphisch  ge- 
bildet werden  konnte  und  ich  finde  daher  keinen  Widerspruch  darin, 
daß  in  der  Fonnaaser  Inschrift,  die  nach  meiner  Aufstellung  runde 
Form  und  die  aus  der  eckigen  der  Holztechnik  hervorgegangene 
Ligatur  nebeneinander  vorkommen. 

Von  beträchtlichem  Umfange,  S.  117 — 148,  ist  der  Exkurs  Bugges 
über  die  13.  Kune  des  germanischen  Fuparks,  deren  rechtsläufige 
Normalform  nach  meiner  Ansicht  die  des  Themsemessers  und  des 
Bracteaten  von  Vadstena  1  ist. 

Bugge  zieht  zunächst  die  ags.  Schulüberlieferung  der  runischen 
Alphabete  heran,  in  der  nicht  alles  klar  ist,  so  z.  B.  schon  nicht,  ob 
die  Wertangabe  im  Fufuirk  der  Salzburger  Handschrift  %  &  h,  wie 
bei  n  d:  g,  d.  i.  =  ng,  additiv:  lÄ,  ob  sie  alternativ:  T  oder  A,  ob 
sie  nur  bestimmend:  h  in  der  Qualität  nach  r,  d.  i.  palatales  x,  ge- 
meint sei. 

Bugge  erschließt  den  letzteren  Wert  für  die  Rune  im  Worte 
aimehttig  des  Kreuzes  von  Ruthwell,  während  sie  in  den  übrigen  ags. 
Inschriften  einen  t-Laut,  wofür  die  Transliterierung  i  vorgeschlagen 
wird,  in  den  nordischen  aber  einen  i-Laut  oder  ^-Laut  vertrete,  den 
er  S.  123  mit  i  oder  b  transliteriert.  Ich  habe  nicht  die  Absicht, 
gegen  den  in  nordischen  Inschriften  zuweilen  anzunehmenden  Laut- 
wert ^  etwas  einzuwenden  und  muß  dementsprechend  den  Wechsel 
der  Transliterierung  i  und  b  als  einen  wohlbedachten  anerkennen. 
Der  Wechsel  des  Wertes  wird  sich  ja  ähnlich  wie  bei  der  ^ära-Rune 
verhalten,  die  zuerst  ;,  dann  a  bedeutet,  Bugge  S.  123,  und  wie  bei 
dieser  mit  einem  lautlichen  Vorgänge  am  Runennamen  zusammen- 
hängen, d.  h.  das  Zeichen,  das  ursprünglich  dem  Namen  *ihaR  ent- 
sprechend, einen  t-Laut  bezeichnete,  mußte  später,  da  derselbe  nach 
Analogie  der  Beispiele  bei  Noreen,  An.  Gramm.  P  §  107,2  zu  *ShaB 
geworden  war,  auch  als  Bezeichnung  eines  6-Lautes  funktionieren. 
Wenn  es  eine  Zeit  gab,  in  der  nach  dem  zitierten  an.  vorliterarisch 
wirkenden  Lautgesetze  Nom.  *^haR  und  Dat.  *ihs,  Bugge  S.  123,  un- 
ausgeglichen nebeneinander  bestanden,  so  könnte  für  diese  Periode  so- 
gar ein  Schwanken  des  alphabetischen  Lautwertes  behauptet  werden, 
obwohl  man  denken  sollte,  daß  derselbe  doch  wesentlich  durch  den 


160  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

Nominatiy  des  Runennameiis  bestimmt  war.  Aber  diese  aktuellen 
LautgeltuDgen  im  Altnordischen  haben  mit  der  Abkunft  des  Zeichens 
nichts  zu  tun  und  könnten  als  Beweis  gegen  meine  graphische  Her- 
leitung derselben  aus  lateinischem  Z  mit  dem  vertauschten  Werte  y 
nicht  aufgeführt  werden.  Die  von  mir  vorgeschlagene  Transliterierung 
y^  die  dem  Lautwerte  nicht  präiudiziert,  beruhte  auf  der  Beobach- 
tung des  Wechsels  von  i  und  unfestem  y  in  der  angelsächsischen 
Orthographie  mit  lateinischen  Buchstaben,  zu  der  die  Verwendung 
der  iA-Rune  in  angelsächsischen  Inschriften  sich  ganz  analog  verhält. 
Wenn  in  der  Inschrift  des  Braunschweiger  Reliquienschreines  der 
Genitiv  des  Pronomens  hirce  mit  4^  statt  %  geschrieben  ist,  so  muß 
man  doch  schließen,  daß  dieses  Zeichen  wenigstens  orthographisch 
etwas  anderes  sein  soll  als  i :  i,  und  da  wir  diphthongisches  ie  wegen 
der  in  derselben  Inschrift  vorkommenden  Schreibung  hcel^g  aus- 
schließen müssen,  so  lag  es  nahe,  das  Zeichen  nach  der  gelegent- 
lichen Schreibung  hyre  als  unfestes  y  zu  interpretieren,  um  so  mehr, 
als  sich  ags.  neben  ican  auch  die  Schreibung  ycan  findet  —  dies 
zur  Inschrift  des  Schwertgriffes  von  Gilton  ^ce  ic  sigi  >augeo  uicto- 
riam<  —  und  auch  ahd.  orthographisches  y  zuweilen  für  i  steht, 
s.  Braune,  Ahd.  Gramm.  §  22. 

Der  Exkurs  gibt  Bugge  die  Gelegenheit,  die  angelsächsischen, 
urnordischen  und  deutschen  Denkmäler,  in  denen  diese  Rune  vor- 
kommt, zu  besprechen  und  in  einem  besonderen  Auslaufe,  S.  133 
bis  136,  nachzuweisen,  daß  der  alte  Name  der  Rune  1  ags.  ih,  im 
Norden  auf  die  iz-Rune:  Y  in  älterer  Zeit,  X.  in  jüngerer  übertragen 
worden  sei,  aus  welchem  Namen  dieser  Rune  in  jüngeren  Inschriften 
auch  vokalische  Geltung:  y  und  e,  erwuchs.  In  einem  Schlußworte, 
S.  145—148,  stellt  Bugge  die  Meinungen  früherer  Runenforscher  über 
die  VRune  zusammen. 

Bei  der  Deutung  der  Inschriften  innerhalb  dieses  Exkurses 
bleiben  doch  noch  manche  Fragen  ungelöst,  so  z.  B.  wie  die  Doppel- 
schreibung des  i  in  dem  Worte  liinmu  des  Braunschweiger  Kästchens, 
falls  das  ags.  limu  > membra  <  wäre,  zu  verstehen  sei,  oder  die  Er- 
klärung der  Inschrift  des  Bronzegegenstandes  aus  der  Themse,  die  in 
toto  nicht  überzeugt.  Ein  schöner  Gewinn  ist  die  Verständlichmachung 
der  Inschrift  des  Danneberger  Bracteaten,  gllaugin  um  rfuJnfojR, 
S.  125  ff.,  aber  die  Beurteilung  der  Inschrift  von  Krogsta  muß  ich  z.  T. 
für  ergebnislos  halten.  Die  Lesungen  und  Erklärungen  der  deutschen 
Denkmäler,  die  sich  von  Hennings  und  Wimmers  Auffassungen  stark 
entfernen,  scheinen  mir  am  allerzweifelhaftesten,  doch  wird  man  die 
S.  140  gegebenen  Beispiele  orthographischer  Buchstabenversetzungen 


Norges  Indskrifter  med  de  sftldre  Boner.  161 

in  jüngeren  nordischen  Inschriften  aus  der  reichlich  spendenden  Hand 
des  grammatischen  Forschers  als  wichtigen  Behelf  fttr  die  Beseitigung 
so  mancher  Schwierigkeiten,  auch  in  den  älteren  Inschriften,  mit 
Dank  entgegennehmen. 

Der  nächste  Exkurs,  S.  148—158,  behandelt  die  goüändische 
Spangeninschrift  von  Etelhem  mkmrlawrta^),  deren  Verbalform  wrta 
mit  Auslaut  a  wie  got.  waurhta,  nicht  e  wie  umord.  wurte  l^nrkö, 
orte  By,  sjde  Gommor,  dieselbe  als  gotisch  erscheinen  läßt. 

Daran  knüpft  Bugge  die  ethnologische  Betrachtung,  daß  die 
Gotländer,  die  sich  selbst  Gutar  nannten,  mit  den  festländischen 
Goten  an  der  Weichselmündung  ^ines  Stammes  gewesen,  dann  in 
späterer  Zeit,  nach  der  Auswanderung  der  festländischen  Goten  im 
3.  Jahrhundert  vom  Stamme  losgelöst,  allmählich  zu  einem  nordi- 
schen Volke  geworden  wären. 

Die  ältesten  gotländischen  Denkmäler  der  historischen  Zeit,  dem 
10.  Jahrhundert  angehörige  Runeninschriften,  seien  schon  ausgemacht 
rein  nordisch,  nicht  mehr  gotisch.  Doch  glaubt  Bugge  aus  einer 
Beihe  gotländischer  Idiotismen,  die  S.  154—158  vorgefllhrt  werden, 
noch  Beziehungen  zum  gotischen  Wortschatze  nachweisen  zu  können. 
Ist  diese  Darlegung  richtig,  und  ich  zweifle  nicht,  daß  sie  es  im 
großen  und  ganzen  ist,  so  muß  man  doppelt  bedauern,  daß  der  Ver- 
fertiger  der  Inschrift  uns  die  Binnenvokale  der  drei  Wörter  vorent- 
halten hat,  die  erst  volle  Sicherheit  über  die  nationale  Herkunft  der 
Inschrift  gewährten.  Noreen  löst  mit  nordischem  Vokalismus  auf  fn[i]k 
m[a]r[i]la  tofujrtaa  —  hinter  dem  Schluß-a  folgt  noch  ein  Zeichen, 
dessen  Geltung,  ob  literal  a  oder  bloßes  Schlußzeichen  wie  die  Ab- 
schlußzeichen  in  Veblungsnes  oder  Skääng  umstritten  ist.  —  Bugge 
S.  152  hält  aber  auch  eine  Ausfüllung  mfsjrßjla  für  möglich. 

In  einem  weiteren  Exkurse,  S.  264—66,  sucht  Bugge  mit  Rück- 
sicht auf  seine  Erklärung  des  Wortes  ue  in  der  Odemotlander  In- 
schrift als  maskulines  Substantiv  > heiliger  Gegenstand«,  die  Existenz 
dieses  Wortes,  das  als  Substantivierung  des  A4j.  got.  weü^  zu  ver- 
stehen wäre,  auch  aus  anderen  Inschriften  wie  der  des  Bracteaten 
von  Naesbjserg,  Stephens  Nr.  79,  liliBidwQi,  der  des  gotischen  Gold- 
ringes von  Pietroassa  und  aus  dem  Komplexe  #da  der  Inschrift  von 
Fyrunga  zu  begründen,  ein  Versuch,  der  mir  in  keinem  Falle  ge- 
lungen schemt. 

Ein  Exkurs,  obschon  nicht  als  solcher  gekennzeichnet,  ist  auch 

1)  5.  Jahrhundert,  sp&testens  um  600  nach  MonteUus  (Bugge  S.  154),  550 
bis  600  Wünmer,  Die  Runenschrift,  S.  304,  etwas  nach  500  Noreen,  An.  Gramm.  I' 
S.  336. 


162  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

die  in  Nr.  35,  Kamm  von  Nedre  Hov,  eingefügte  Erklärung  der  In- 
schrift der  Spange  ans  dem  Viermoore,  S.  424—427.  ^) 

Die  Verfasser,  Bugge  und  Olsen,  transliterieren  nach  der  Ab- 
bildung bei  Wimmer,  Die  Runenschrift,  S.  147  laasauwlnga  (r.) 
aadagäsu  (umgewendet  r.)  und  deuten  die  weder  von  Wimmer,  der 
in  ihr  wirkliche  Wörter  überhaupt  nicht  anerkennen  wollte,  noch  von 
Noreen  erklärte  Inschrift,  als  Namenkombination  *Aadaga[n]$uJaa 
sa  Uwinga.  Dagegen  ist  aber  einzuwenden,  daß  ein  Auslaut  mit  6e- 
minata  a,  also  lang  a  bei  einem  mask.  n-Stamme  lautlich  nicht  zu 
verstehen  sei  und  daß  sich  die  von  den  Verfassern  berührte  Möglich- 
keit, es  wäre  durch  die  nur  graphische  Geminata  am  Ende  des  Wortes 
eine  symmetrische  Zusammenfassung  und  Abgrenzung  desselben  gegen 
die  folgenden  Teile  der  Inschrift  bezweckt,  durch  keinerlei  Beispiel 
stützen  lasse.  Abgrenzung  wenigstens  wäre  durch  ein  Trennungs- 
zeichen weit  bequemer  und  unzweideutiger  erreicht.  Femer  ist 
geltend  zu  machen,  daß  man  den  Beginn  der  Inschrift  eher  bei  der 
inneren  Zeile  erwartet,  als  bei  der  am  äußeren  Rande  angebrachten, 
endlich,  daß  die  Lesung  der  vorletzten  Rune  der  Seite  als  ng  nicht 
bloß  dubios,  sondern  offenbar  unrichtig  ist.  Das  Zeichen  ist  typisch 
genau  dasselbe  von  Torsbjserg,  Vädstena,  Tune,  Skodborg,  Torviken 
und  kann  nur  ;,  nicht  ng  gelesen  werden.  Materiell  läßt  sich  gegen 
die  Deutung  der  Verfasser  die  Häufung  der  Vogelnamen  >Gans<  im 
Hauptnamen  und  >Uhu€  im  Patronymikon  einwenden,  die  bei  aller 
Anerkennung  des  altgermanischen  Witzes  in  Namen  denn  doch  des 
Guten  etwas  zu  viel  tut.  Formell  ist  die  schwache  Bildung  des  ver- 
meintlichen Patronymikons  anfechtbar,  ungewöhnlich  die  Deminution 
eines  zusammengesetzten  Namens. 

Die  Gleichung  des  Elementes  äda-  zu  isl.  (kpr  >Eidergans<  einer 
movierten  fem.  Form  mag  ja  richtig  sein,  obgleich  uns  in  den  alt- 
hochdeutschen Namen  Äto^  Ato,  Aata  Libri  confrat.  ein  mit  umord. 
aäor  vergleichbares  Element  zu  Gebote  steht,  das  doch  wohl  anderes 
Ursprunges  ist,  und  gegen  Bezug  des  Komplexes  gctsu  auf  ein  urnord. 
Mask.  *gan$uB  >Gans<  habe  ich  keinerlei  Bedenken  vorzubringen, 
um  so  weniger,  als  ja  an.  Gassi,  ahd.  Gansalin  Graff,  Ccensili  Libr. 
confr.,  röm.-germ.  Gandestrius  Tac.  als  Beinamen  begegnen,  aber  die 
von  den  Verfassern  behauptete  Deminutivform  ist  mir  nicht  nur 
sprachlich  bedenklich,  sondern  scheint  auch  paläographisch  weniger 
empfohlen,  als  die  einfache  aadagafnjsu,  die  bei  einer  ganzzeiligen 
Lesung  laasauw^a  |  aadagäsu  sich  ergibt. 

1)  Erste  H&lfte  des  6.  Jahrhunderts,  Wimmer,  Die  Runenschrift,  S.  303, 
zweite  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts,  Noreen,  An.  Gramm.  P  S.  347. 


Norges  Indskrifter  med  de  eldre  Raner.  168 

Der  Vorteil  dieser  Anordnung  ist  unverkennbar.  Wir  gewinnen 
zwei  zusammengesetzte  Namen,  den  einen  im  Nominativ,  den  an- 
deren im  Dativ  und  können  sofort  ausmachen,  daß  das  Verhältnis 
beider  nicht  anders  wie  bei  HeldaR  Kunimufnjdiu  . . .  Tjurkö  oder 
Manios  med  fefdked  Numasioi,  Fibel  von  Praeneste  zu  denken  sei, 
daß  wir  es  also  jedesfalls  mit  einem  Dativ  des  Interesses  >Lä8auwija 
für  Ädaga[n]suB<  zu  tun  haben. 

Der  Dativ  -gafnjsü  verhält  sich  dabei  zu  dem  aus  Tjurkö  belegten 
Dat.  'mufnjdiu  wie  die  gotischen  gelegentlichen  monophthongischen 
Dative  auf  -u  zu  den  paradigmatischen  auf  -oti.  Die  Restitution 
eines  n  ist  nach  Afnjsugisaias  Eragehul  ganz  in  Ordnung. 

Lasauwija  aber  müßte  man  als  Ableitung  aus  einem  Ortsnamen 
oder  Ortsappellativum  *Lasatoi  ansehen,  so  wie  HoltingaR  Gallehus, 
oder  wie  etwa  röm.-got.  Uidigöia  auf  eine  territoriale  Bezeichnung 
*widugawi  >  das  Waldland  c  zurückgeht,  oder  die  deutschen  Personen- 
namen auf  -gouwo  von  Ortsnamen  mit  -gouui  im  zweiten  Teile  ab- 
stammen. Aus  einfachem  *a%o%  abgeleitet  ist  der  ahd.  Personename 
Ouuiw  Libri  confr.,  entsprechend  dem  röm.-germ.  Volksnamen  Auiones. 

Der  erste  Teil  des  Kompositums  könnte  etwa  im  ags.  Ices^  -tce, 
-e  >pascua<,  mod.  engl,  leasow  gefunden  werden,  einem  Worte,  das 
im  ags.  tta-Stamm  vielleicht  ursprünglich  ti-Stamm:  ^läsu-^  got.  *lssu' 
gewesen  sein  kann.  Das  thematische  wa  oder  u  müßte  also  im  Kom- 
positum synkopiert  sein. 

Das  Wort  scheint  übrigens  von  ags.  Ices  f.  »a  letting«  etymo- 
logisch nicht  verschieden.  Ob  das  Element  im  deutschen  Ortsnamen 
Laasdorp  a.  945,  heute  »Lastrup«  in  Oldenburg,  siehe  Förstern. 
Nbd.  IV,  angenommen  werden  dürfe,  kann  ich  nicht  ausmachen. 

Ich  will  damit  mein  Keferat  abbrechen.  Daß  dasselbe  die  Fülle 
der  von  Bugge  aufgegriffenen  Probleme  nur  ausschnittsweise  vor- 
führen konnte,  war  von  vornherein  ebenso  entschieden,  wie  daß  es 
nur  zu  den  inschriftlichen  Fragen,  die  sich  an  die  älteren  norwegi- 
schen Denkmäler,  als  den  Rückgrat  des  ganzen  Werkes,  knüpfen, 
Stellung  nehmen  konnte. 

Daß  dies  zum  Teil  in  Richtungen  geschah,  die  von  Bugge  selbst 
angebahnt  sind,  ist  dem  Reichtum  seiner  Eingebungen  zu  danken, 
doch  hofft  der  Berichterstatter,  der  eher  ein  Mitarbeiter  sein  wollte 
als  ein  Kritiker,  in  einigen  Punkten  wenigstens,  der  Runenforschnng, 
dieser  nach  sachlicher  Grundlage  und  Arbeitsleistung  fast  ausschließ- 
lich nordischen  Angelegenheit,  auch  eigene,  fordernde  Gedanken  zu- 
geführt zu  haben. 
Czernowitz.  Theodor  von  Grienberger. 


166  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

hafte  geistliche  Rhetorik  auf  deutsch  kaum  zu  lesen  ertragen,  nur 
die  fremde  Sprache  hält  die  Aufmerksamkeit  wach.  Die  Dogmatik 
des  Mar  Jakob  kann  nur  der  würdigen,  dem  eine  genaue  Kenntnis 
der  Dogmengeschichte  und  speziell  der  syrischen  Patristik  einen 
Maßstab  der  Vergleichung  bietet.  Sein  Monophysitismus  tritt  hier 
nirgend  sehr  deutlich,  namentlich  nirgend  polemisch  auf.  Für  den 
Kenner  mag  er  sich  darum  doch  bemerklich  machen.  Es  fällt  auf, 
wie  sehr  Mar  Jakob  bestrebt  ist,  unter  dem  Einfluß  griechischer 
Philosophie  die  biblischen  Anthropomorphismen  aufzulösen:  Gott 
kommt  nicht  wirklich  auf  den  Sinai  herab,  ruft  nicht  wirklich  die 
zehn  Gebote  den  Juden  laut  in  die  Ohren,  schreibt  sie  nicht  wirk- 
lich mit  eigener  Hand  auf  die  zwei  Tafeln  u.  s.  w.  Dabei  kommt  er 
freilich  nicht  über  ein  widerspruchsvolles  Schwanken  heraus;  er  läßt 
trotzdem  den  sogenannten  biblischen  Realismus  gelten,  auch  in  seiner 
Auf&ssung  der  Sakramente.  Die  christliche  Taufe  betrachtet  er  als 
Fortsetzung  der  Taufe  (im  passivischen  Sinn)  Jesu,  als  Sohnwerdung 
durch  den  heiligen  Geist;  doch  entsündige  die  Kirche  durch  ihre 
Sakramente  auch  diejenigen,  die  kein  Bewußtsein  davon  haben,  z.  B. 
die  Kinder  und  die  Toten.  Man  solle  nicht  an  den  Gräbern  weinen, 
sondern  Opfer  für  die  Verstorbenen  (d.  h.  Beiträge  an  Brot  und 
Wein  fUr  die  Eucharistie)  in  die  Kirche  bringen  und  sie  nicht  etwa 
hochmütigerweise  nur  durch  eine  Magd  hinschicken;  denn  davon, 
was  die  Lebendigen  opfern,  haben  die  Toten  Gewinn.  Heilige  solle 
man  aber  nicht  anrufen.  Im  Verhältnis  zu  dem  Herrn  steht  nicht 
etwa,  wie  bei  den  Gnostikern,  die  Seele,  sondern  die  Kirche;  das 
Alte  Testament  wird  vorzugsweise  als  Vorbildung  der  Kirche  ver- 
wertet, weniger  als  Weissagung  auf  Jesus  Christus.  Indessen,  das 
Dogma  wird  im  ganzen  eher  vorausgesetzt,  als  eingeschärft;  die 
neblige  und  amorphe  Sphäre,  die  um  den  festen  Kern  herum  liegt, 
tritt  dagegen  stark  hervor.  Aus  den  biblischen  Themata,  die  Mar 
Jakob  seinen  Betrachtungen  zugrunde  legt,  zieht  er  weit  mehr  und 
weit  Phantastischeres  heraus,  als  was  die  eigentliche  Dogmatik  ent- 
hält —  wie  das  ja  auch  sonst  bei  Predigten  üblich  ist  Zum  Teil 
schöpft  er  dabei  wohl  aus  seinem  eigenen  Busen,  zum  Teil  aber  aus 
einer  hergebrachten,  halbmythischen  Exegese.  Den  reichen  Jüngling 
(Matth.  19)  schilt  er  als  einen  hochmütigen  Heuchler;  den  Lot  lobt 
er  als  verständig,  weil  er  seine  Töchter  für  die  Gerechtigkeit  aus* 
liefern  wollte.  Jesus  ist  der  Honig  aus  dem  Aas  von  Simsons  Löwen, 
er  hat  den  Löwen  Tod  getötet.  Er  ist  auch  der  Hirsch,  der  für  die 
Schlange  perniziös  ist;  es  wird  da  wohl  auf  eine  Legende  Bezug 
genommen,  über  die  man  sich  aus  dem  Physiologus  wird  unterrichten 


Mar  Jacob!  Sarugensis  homiliae  ed.  Bedjan.  I.  167 

können.  Jedem  Frommen  steht  sein  Engel  im  Himmel  in  der  Ver- 
suchung bei;  zuweilen  indessen  läßt  Gott  ihn  allein  gegenüber  der 
Anfechtung,  und  dann  wird  die  Sache  schlimm,  wie  bei  Hieb.  Das 
Brot  für  den  Tag  soll  man  deshalb  erbitten,  weil  es  nicht  zuträglich 
und  auch  kaum  möglich  ist,  die  Portion  für  zwei  Tage  an  einem 
einzigen  zu  fressen,  wie  es  die  Könige  und  die  Reichen  tun  möchten. 
Man  sieht,  daß  hier  das  alte  lachma  amina  d'jauma  (das  be- 
ständige Brot  für  den  Tag)  zugrunde  liegt,  entsprechend  der  Lesart 
des  Lukas  (töv  äptov  töv  lÄto6otov  tö  xa*'  i^iiipav),  die  in  der  Vetus 
Syra  auch  bei  Matthäus  erscheint,  wo  die  griechische  Ueberlieferung 
a7]|i6pov  statt  xad*'  f^|i^pav  bietet. 

Wie  sich  für  einen  alten  syrischen  Kirchenvater  von  selbst  ver- 
steht, ist  Mar  Jakob  auf  das  innigste  mit  der  Bibel  vertraut,  nicht 
zum  wenigsten  mit  dem  Alten  Testament;  er  lebt  und  webt  darin. 
Gelegentlich  benutzt  er  auch  die  Apokryphen,  die  Berechtigung  des 
Meßopfers  für  die  Verstorbenen  stützt  er  auf  das  zweite  Makkabäer- 
buch  (12,43—45).  Um  die  Epitheta,  die  er  gebraucht,  und  die  An- 
spielungen, in  denen  er  sich  ergeht,  zu  verstehen,  dazu  gehört  eine 
Bibelfestigkeit,  wie  sie  nachgerade  selten  geworden  ist.  Der  Heraus- 
.geber  hätte  hier  wohl  ein  Uebriges  tun  können,  um  dem  Leser  zu 
helfen.  Er  gibt  nur  sehr  selten  Bibelstellen  an ;  es  wäre  nötiger  ge- 
wesen, Act.  5,25  zu  Seite  39,17  zu  zitieren,  als  Isa.  5,1  zu  Seite 
330, 16. 

Sprachliche  Beobachtungen  habe  ich  wenig  gemacht,  da  ich 
dafür  nicht  recht  vorbereitet  bin.  Für  den  untergeordneten  Satz 
wird  auffallend  häufig  (etwa  wie  im  Aethiopischen)  das  nackte  Im- 
perfekt verwandt,  statt  des  Infinitivs  oder  des  mit  der  Partikel  de 
präfigierten  Imperfekts.  Das  Lamed  des  Akkusativs  scheint  weit 
seltener  vorzukommen,  als  in  der  Prosa  üblich  ist.  Für  er  war  im 
Begriff  zu  fallen  oder  aufzusteigen  heißt  es ^"^^^^  {o»  oder 
«Attl^  {oi  (18,7.  33,10).  Die  lexikalische  Ausbeute  ist  gewiß  nicht 
geringfügig;  es  kommen  manche  seltene  Wörter  vor  und  noch  mehr 
seltene  Bedeutungen  bekannter  Wörter.  So  «o^  (240, 3.  324, 14)  im 
Sinne  von  jo  mit  der  Präposition  ;q^  =  etwas  mit  einem  abmachen, 
paktieren.  Der  Imperativ  {&<^  des  denominativen  Paels  Jb^^  ist 
durch  228,5  zu  belegen.  Häufig  wird  ^läa  in  einem  sehr  abge- 
blaßten Sinn  gebraucht  (z.  B.  462, 7 :  Schweigen  üben),  ebenso  manch- 
mal Jb^^  im  Sinne  von  empfangen  (58,18.  156,2).  Die  Bedensart 
^o»L  JLu)o{  (476,17)  bedeutet  der  Weg  wird  begangen,  ebenso 
wie  oU  ji^)(  die  Erde  wird  bewohnt.  Neben  {^  findet  sich 
im  gleichen  Sinne  das  intransitive  )^  (z.  B.  5, 6).    Das  Wort  l^,^ 


168  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  2. 

für  Streit  findet  sich  336,8;  ich  verstehe  aber  den  Satz  nicht. 
Ebenso  wennig  verstehe  ich  das  Verbum  lyski^  (24,5).  Die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  scheint  mir  hie  nnd  da  bedenklich  zn  sein. 
Sie  schwankt  stark,  wie  man  ans  der  kleinen  Probe  erkennen  kann, 
welche  Bnrkitt  in  seiner  neuen  Ausgabe  der  alten  syrischen  Evan- 
gelien (2, 269)  gegeben  hat.  Bedjan  gibt  nur  eine  Auswahl  aus  dem 
Ballast  der  Varianten.  Er  hätte  öfters  die  Variante  in  den  Text 
setzen  müssen,  z.  B.  in  dem  Verse  486, 3,  obgleich  es  schade  ist, 
daß  dann  das  interessante  o;^^  (für  {Lo;^^^^,  die  Weisheit  von  Be- 
rytus)  verschwinden  würde.  In  vi^^W  (541,11)  hätte  er  am  Schluß 
wohl  ein  Ghet  statt  des  'Ain  schreiben  dürfen.  Im  Uebrigen  hat  er 
sich  seine  Aufgabe  keineswegs  leicht  gemacht.  Er  hat  den  Text, 
wie  er  immer  zu  tun  pflegt,  durchgängig  punktiert,  wobei  er  in- 
dessen ungewöhnliche  Aussprachen,  die  durch  das  Metrum  erfordert 
werden,  unberücksichtigt  läßt,  ohne  Zweifel  mit  Absicht.  Es  mag 
dabei  allerlei  Subjektives  mit  untergelaufen  sein,  und  von  rein 
wissenschaftlichem  Standpunkte  lassen  sich  Einwendungen  dagegen 
erheben,  daß  aus  praktischen  Zwecken  ein  westsyrischer  Autor  ganz 
nach  ostsyrischer  Weise  vokalisiert  wird.  Aber  die  vollständige 
Punktierung  des  Textes  bedeutet  doch  einen  wertvollen  durchlaufen- 
den Kommentar,  den  nur  wenige  europäische  Gelehrte  in  dieser 
Weise  hätten  schreiben  können  und  der  die  Lektüre  sehr  er- 
leichtert. 

Aus  Versehen  ist  S.  XII  das  letzte  Buch  des  Bellum  Judaicum 
statt  des  vorletzten  angegeben.  Mehrere  Seitenzahlen  am  Anfang 
des  Inhaltsverzeichnisses  S.  IX  und  X  sind  verdruckt. 

Göttingen.  Wellhausen. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Rudolf  Meißner  in  GOttingen. 


Mflrz  1906.  No.  3. 


Fr.  GleMlbreelit,  Die  ftlttestamentliche  Schätzung  des  Gottes- 
namens  und  ihre  religionsgeschichtliche  Grandlage.  Königsberg, 
Thomas  &Oppermami  (F.  Bejersche  Bachhandlang),  1901.  VI,  144  S.   Mk.  4.— . 

Vorliegende  interessante  nnd  in  ihren  Ergebnissen  bedeutsame 
Schrift  beschäftigt  sich  mit  einem  Problem  der  alttestamentlichen 
Wissenschaft,  das  zwar  auch  schon  vorher  mehr  oder  weniger  deut- 
lich empfunden  wurde,  aber  ohne  eine  allseitig  befriedigende  Lösung 
geblieben  war.  1898  hatte  J.  Boehmer  eine  Monographie  veröffent- 
licht, die  der  gleichen  Frage  gewidmet  war  (Das  biblische  >im 
Namen  €.  Eine  sprachwissenschaftliche  Untersuchung  über  das  hebrä- 
ische Dth  und  seine  griechischen  Aequivalente,  Gießen,  Ricker),  sich 
aber  über  den  alttestamentlichen  Bereich  hinaus  auch  und  besonders 
auf  das  neue  Testament  erstreckte  und  eine  Lösung  lediglich  im 
Rahmen  der  biblischen  Literatur  suchte.  Auch  diese  Arbeit  brachte 
noch  keine  genügende  Lösung,  wie  Giesebrecht  in  zuweilen  recht 
temperamentvoller  Auseinandersetzung  darzutun  sucht.  Giesebrecht 
selbst  beschränkt  —  mit  gutem  Grunde  —  seine  Aufgabe  auf  das 
alte  Testament,  schlägt  aber  einen  neuen,  in  unserem  religions- 
geschichtlichen Zeitalter  naheliegenden  Weg  ein,  den  oft  so  auffälligen 
Gebrauch  des  Gottesnamens  (es  handelt  sich  dabei  um  den  Ge- 
brauch des  Ausdrucks  DtD  in  Beziehung  auf  Gott,  des  T\lTy^  utD  als 
einer  Art  selbständigen  Wesens  neben  dem  Gotte  Jahwe)  im  alten 
Testament  zu  einem  wirklichen  vorstellungsgeschichtlichen  Verständnis 
zu  bringen. 

Es  finden  sich,  wenn  nicht  überall,  so  doch  sehr  weit  verbreitet 
innerhalb  der  Völkerwelt  abergläubische  Vorstellungen  und  Gebrauchs- 
weisen von  Namen  überhaupt  und  insbesondere  von  Namen  göttlicher 
oder  gottverwandter  Wesen  (Giesebrecht  bietet  im  in.  Teil  seiner 
Arbeit  ausreichende  Beweise  hierfür),  die  mit  den  auffälligsten  Er- 
scheinungen im  alttestamentlichen  Gebrauche  des  Gottesnamens  un- 
verkennbare Verwandtschaft  zeigen  und  uns  die  ersehnte  Erklärung 
für  sie  zu  bieten  verheißen. 

0«H.  gel.  Abs.  1900.  Nr.  8.  12 


170  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Giesebrechts  Arbeit  ist  zweifellos  erfolgreich  gewesen.  Sie  hat, 
indem  sie  den  alttestamentlichen  Gebrauch  in  den  ZusammenhaDg 
jener  allgemeingeschichtlichen  Erscheinungen  hineingestellt,  den  rich- 
tigen Weg  zu  seinem  Verständnis  gezeigt.  Das  beweist  auch  die 
nicht  unbeträchtliche  Literatur,  die  ihr  gefolgt  und  von  ihr  wesent- 
lich befruchtet  ist,  wie  W.  Heitmüllers  Buch  (Im  Namen  Jesu  1903), 
wie  das  des  Rabbiners  B.  Jacob  (Im  Namen  Gottes.  Eine  sprach- 
liche und  religionsgeschichtliche  Untersuchung  zum  alten  und  neuen 
Testament,  1903),  der  freilich  (begreiflicherweise,  aber  vergebens) 
das  alte  Testament  möglichst  von  dem  im  Sinne  Giesebrechts  all- 
gemeinmenschlichen ,  d.  h.  heidnischen  Einschlag  zu  entlasten  sucht, 
ferner  W.  Brandts  Aufsatz  in  der  Theol.  Tijdschr.  1904  (De  too  ver- 
kracht van  namen  in  oud  en  nieuw  testament)  und  J.  Boehmers, 
Giesebrechts  wie  Heitmüllers  und  Jacobs  Schrift  kritisch  besprechender 
Aufsatz,  den  er  in  der  von  ihm  herausgegebenen  Monatschrift  >Die 
Studierstube  €  1904  (Juni  bis  Okt.)  veröffentlichte  unter  dem  Titel: 
Das  biblische  >Im  Namen«:  Zauberformel?  Phrase?  Glaubens- 
bekenntnis? 

Leider  haben  oft  recht  schwere,  die  Ausführung  von  Arbeiten, 
die  über  meine  nächsten  Berufspflichten  hinausgingen,  arg  hemmende, 
äußere  und  innere  Umstände  in  meinem  persönlichen  Leben  und  teils 
auch  dazwischen  hineinfallende  unaufschiebbare  Arbeitspflichten  zur 
Folge  gehabt,  daß  sich  die  von  mir  gern  übernommene  Anzeige  der 
für  das  vorliegende  Problem  grundlegenden  Arbeit  Giesebrechts  so 
ungebührlich  lange  verzögert  hat.  Ziemlich  ausgedehnte  Vorarbeiten 
für  ihre  Besprechung  hatte  ich  zeitig  genug  begonnen  und  mit 
häufigen  Unterbrechungen  auch  schon  vor  geraumer  Zeit  abgeschlossen, 
aber  der  zusammenfassenden  Darstellung  dessen,  was  ich  zu  sagen 
habe,  stellten  sich  leider  immer  von  neuem  Hindernisse  in  den  Weg. 
Angesichts  der  angeführten,  inzwischen  erschienenen  ansehnlichen 
Literatur  hätte  ich  wohl  Bedenken  tragen  können,  ob  es  angebracht 
sei,  die  Anzeige  jetzt  noch  so  spät  ausgehen  zu  lassen.  Aber  gute, 
die  weitere  Forschung  wirklich  befruchtende  Bücher  verlieren  ihren 
Wert  ja  nicht,  und  ein  Hinweis  auf  sie  an  bedeutsamer  Stelle  kann 
darum  nicht  ohne  weiteres  für  überflüssig  gehalten  werden,  auch 
wenn  er  spät  erfolgt.  Dieser  Gedanke,  aber  nicht  minder  auch  die 
Ueberzeugung ,  mit  der  Anzeige  zugleich  aus  meiner  eigenen  Arbeit 
etwas  förderliches  zur  Diskussion  des  Problems  beitragen  zu  können, 
hat  mir  Mut  gemacht,  anstatt  mich  unter  Entschuldigungen  zurück- 
zuziehen, jetzt  noch  die  Anzeige  darzubieten.  Möge  das,  was  ich 
bieten  zu  dürfen  glaube,  mich  rechtfertigen. 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  171 

Giesebrecht  charakteirisiert  in  einleitenden  Ausführungen  das 
Problem  und  stellt  als  Aufgabe,  die  er  lösen  will,  den  Nachweis  fest, 
daß  das  alte  Testament  in  seiner  Schätzung  des  Oottesnamens  von 
einer  anderen  Weltanschauung  ausgehe  als  wir  (S.  4).  Es  handle 
sich  auch  nicht  um  eine  lediglich  biblische  Erscheinung,  sondern  um 
einen  uralten,  über  die  ganze  Mtoschheit  verbreiteten  und  für  die 
antike  Religion  überhaupt  charakteristischen  Gebrauch  des  »Götter- 
nameDS<  (S.  3).  Besonderen  Dank  verdient  er  für  den  Hinweis  auf 
Origenes'  bedeutsame  Ausführungen  zu  derselben  Frage  in  der  Schrift 
c.  Gels.  1,24 f.;  5,45.  Die  Vermutung,  es  würde  ihm  auf  Grund 
seiner  Arbeit  der  Vorwurf  der  Entwicklungstheorie  gemacht  werden, 
gibt  ihm  Anlaß  zu  einigen  Bemerkungen  über  die  religionsgeschicht- 
liche Methode  in  ihrer  Anwendung  auf  die  alttestamentliche  Religion. 
Es  könnte  mich  reizen,  dazu  einiges  zu  sagen,  aber  ich  möchte  den 
Baum  doch  für  Wichtigeres  sparen. 

Im  ersten  Teil  (S.  7—45)  seiner  Arbeit  führt  Giesebrecht  dem 
Leser  den  Tatbestand  des  alttestamentlichen  Gebrauchs  des  Wortes 
üt  vor  Augen  und  zwar  einerseits  in  seiner  Anwendung  auf  Wesen 
außer  Gott  und  andererseits  in  seiner  Verbindung  mit  Gott,  beides 
nach  den  verschiedenen  Sichtungen  des  wirklichen  Gebrauchs.  Im 
zweiten  Teil  (S.  45—68)  läßt  er,  um  die  bisher  gegebenen  Erklä- 
rungen des  Tatbestandes  vorzuführen,  eine  Beibe  von  Gelehrten  ihre 
Meinungen  vortragen  und  unterwirft  sie  dann  einer  eingehenden 
Kritik.  Er  beschließt  diesen  Teil  (S.  66 — 68)  mit  einer  möglichst 
knapp  formulierten  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  dieser  Kritik. 
In  sieben  Sätzen  legt  er  fest,  in  welchen  Bichtungen  der  alttesta- 
mentliche Tatbestand  bisher  noch  keine  ausreichende  und  überzeu- 
gende Erklärung  gefunden  hat. 

Als  erstes,  das  bisher  noch  keine  ausreichende  Erklärung  ge- 
funden, bezeichnet  Giesebrecht  die  außerordentliche  Häufigkeit  des 
Gebrauchs  des  > Namens  Gottes  c.  Gewiß,  sagt  er,  hätten  Propheten 
und  Psalmisten  einen  Kampf  gegen  die  anderen  Götter  führen 
müssen,  und  es  sei  daher  wohl  begreiflich,  daß  sie  hierbei  den 
Jahwenamen  als  den  Namen,  den  fromme  Israeliten  allein  in  den 
Mund  nehmen  durften,  stärker  betonten,  als  es  später  wohl  nötig 
gewesen  sei,  aber  damit  sei  die  Frage  für  die  überwiegende  Masse 
des  vorliegenden  Materials  noch  nicht  erledigt,  warum  der  Ausdruck 
»Name  Gottes  (Jahwes)  <  so  häufig  angewandt  werde. 

Das  ist  an  sich  gewiß  alles  richtig.  Aber  gerade  der  Gegensatz, 
der  zwischen  dem  Hinweis  auf  die  Propheten  (die  Psalmisten  müssen 
zunächst  begreiflicherweise  ausscheiden;  sie  zeitlich  im  einzelnen  fest- 
zulegen, ist  ja  bisher  unmöglich)  und  dem  Satze  zutage  tritt,  es  sei 

12* 


172  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.-  3. 

vielleicht  später  eine  so  starke  Hervorhebung  des  Jahwenamens 
nicht  mehr  nötig  gewesen,  zwingt  mich  unter  dem  gleichzeitigen 
Einfluß  der  heutigen  Lage  der  alttestamentlichen  Textkritik  zu  einer 
Zwischenfrage,  von  deren  Beantwortung  meines  Erachtens  die  Ent- 
scheidung auch  der  von  Giesebrecht  aufgerollten  besonderen  religions- 
geschichtlichen Frage  recht  wesentlich  mitbestimmt,  vielleicht  sogar 
in  eine  neue  bedeutsame  Beleuchtung  gerückt  wird.  Die  genaue 
Feststellung  dieser  Zwischenfrage  mag  sich  aus  dem  Folgenden  er- 
geben. 

Stade  hatte  schon  in  seiner  Geschichte  des  Volkes  Israel  II,  247  ff. 
die  Beobachtung  mitgeteilt,  der  hier  in  Frage  stehende  Gebrauch  des 
Gottesnamens  gehöre  zu  den  Eigentümlichkeiten  der  deuterono- 
mistischen  Schule  und  habe  dann  in  nachexilischer  Zeit  (also  ge- 
rade in  der  Zeit,  wo,  wie  wir  hörten,  nach  Giesebrecht  vielleicht  an 
sich  eine  so  starke  Hervorhebung  des  Jahwenamens  nicht  mehr  nötig 
gewesen  wäre)  stärkere  Verbreitung  gefunden.  In  seiner  Biblischen 
Theologie  des  alten  Testaments  (1905)  I  §  25  erklärt  er  im  Einklang 
damit,  Einwirkungen  des  Namenaberglaubens  (diesen  selbst  setzt  er 
freilich,  wie  es  scheint,  in  Israel  stillschweigend  auch  für  ältere 
Zeiten  voraus)  >auf  Kult  und  Religion«  ließen  sich  »erst  seit  dem 
7.  Jahrhundert  belegen«.  Giesebrecht  hat  selbstverständlich  auf 
Stades  Urteil  an  jener  ersten  Stelle  kritische  Rücksicht  genommen 
(S.  33  ff.),  aber  seine  zeitliche  Begrenzung  des  Gebrauchs  des  Gottes- 
namens in  bestimmter  kultischer  Beziehung  vermag  er  schließlich 
doch  nicht  anzuerkennen. 

Diese  Differenz  zwischen  Giesebrecht  und  Stade,  vornehmlich 
aber  die  unbestreitbare  Gewißheit,  daß  die  älteren  Schriften  nicht 
ganz  selten  und  dazu  in  oft  durchaus  nicht  unwesentlichen  Dingen 
vom  Standpunkt  jüngerer  Zeit  und  veränderten  Glaubens  aus  eine 
das  Alte  abändernde  Bearbeitung  erfahren  haben,  gab  mir  Veran- 
lassung zu  prüfen,  ob  Stade  oder  Giesebrecht  im  Rechte  sei.  Je 
mehr  ich  nun  in  das  zur  Untersuchung  stehende  Material  kritisch 
eindrang,  um  so  schärfer  drängte  sich  mir  die  Erkenntnis  der 
Wichtigkeit  auf,  die  eine  möglichst  genaue  Feststellung  der  Zeit, 
seit  wann,  eventuell  auch  wo  der  merkwürdige  Gebrauch  des 
Gottesnamens  nachweisbar  sei,  für  die  religionsgeschichtliche  Er- 
kenntnis auf  alttestamentlichem  Boden  überhaupt  haben  könne  und 
haben  müsse.  Gewiß  findet  sich  jetzt  jener  Gebrauch  des  Gottes- 
namens in  literarischen  Zusammenhängen,  die  uns  in  Zeiten  hinauf 
führen,  die  vor  der  von  Stade  bezeichneten  Grenzlinie  liegen.  Aber 
es  ist  doch  die  Frage,  ob  auch  nur  an  einer  einzigen  Stelle  wir  dem 
DV  Gottes  (Jahwes)    in   ursprünglichem   Zusammenhang   begegnen. 


Giesebrecht,  Die  alttettamentliche  8ch&tzang  des  Gottesnamens.         173 

Natürlich  erkennt  auch  Giesebrecht  für  eine  große  Anzahl  von 
Stallen  deuteronomistischen  oder  doch  jüngeren  Ursprung  an,  aber 
einzelne  nimmt  er  davon  doch  mit  größerer  oder  geringerer  Ent- 
schiedenheit aus.  Mir  aber  drängte  sich  bei  meiner  Durcharbeitung 
des  Materials  die  Frage  auf,  ob  nicht  auch  diese  Stellen  genau  so 
wie  jene  anderen  beurteilt  werden  müssten,  und  das  Ergebnis  meiner 
Untersuchung  rechtfertigte  diese  Frage  vollkommen. 

Mit  der  Möglichkeit,  daß  Stades  These  der  Wirklichkeit  ent- 
spreche, tauchte  sodann  vor  meinen  Augen  eine  neue,  von  Giese- 
brecht nicht  erwogene  Frage  von  nicht  geringerer  religionsgeschicht- 
licher Tragweite  auf.  Ich  mußte  mir,  wenn  Stade  Recht  haben  sollte, 
die  Frage  vorlegen,  wie  es  sich  erkläre,  daß  der  auffällige  Gebrauch 
des  Gottesnamens  in  so  junger  Zeit  aufkam,  ob  sich  derselbe  aus  der 
geistesgeschichtlichen  Entwicklung  Israels  selbst  und  allein  begreifen 
lasse,  oder  ob  sich  in  seinem  Aufkommen  nicht  vielmehr  auch  der 
Einfluß  von  Beziehungen  geltend  mache,  in  die  in  jenen  Zeiten  das 
Volk  zu  fremden  religiösen  Vorstellungskreisen  gekommen  war.  Die 
Möglichkeit  eines  solchen  Einflusses  und  auch  einer  Verkörperung 
desselben  im  religiösen  Sprachgebrauch  der  jüdischen  Gemeinde  läßt 
äich  sicher  nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  weisen.  Und  sollten 
Bich  positive  Gründe  für  die  Erhebung  dieser  Möglichkeit  wenig- 
stens zur  Wahrscheinlichkeit  finden  lassen,  so  könnte  das  Ergebnis 
auch  für  andere  religionsgeschichtliche  Probleme  auf  alttestament- 
lichem  Boden  von  nicht  geringer  Bedeutung  werden. 

Ich  habe  nun  diese  Fragen  mir  wirklich  vorgelegt  und  auf  sie 
eine  Antwort  gesucht.  Wie  ich  meine,  ist  die  Mühe  nicht  umsonst 
gewesen.  Wir  können  in  den  angegebenen  Richtungen  noch  sichere 
Schritte  vorwärts  tun.  Es  sei  mir  gestattet,  hier  in  möglichster 
Kürze  den  Ertrag  meiner  Arbeit  mitzuteilen.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  ich  schon  mit  Rücksicht  auf  den  Raum  meine  kritischen 
Erwägungen  nicht  in  extenso  zur  Darstellung  bringen  kann,  das  muß 
ich  mir,  so  weit  es  nötig  ist,  für  eine  andere  Gelegenheit  vorbe- 
halten. Ich  werde  mich  meist  mit  nur  kurzen  Ausführungen  oder 
gar  nur  Andeutungen  begnügen. 

Zunächst  aber  noch  eine  methodische  Bemerkung.  Es  ist  ein 
das  Endergebnis  der  Untersuchung  leicht  übel  beeinflussender  me- 
thodischer Fehler,  bei  einer  zugleich  kritischen  Darlegung  des  in 
Frage  stehenden  Materials  nur  eine  sachliche  Gruppierung  desselben 
zu  bieten,  ohne  dabei  die  für  die  geschichtliche  Beurteilung  seines 
Vorstellungsinhaltes  doch  sehr  bedeutsamen  literarhistorischen  Ge- 
sichtspunkte mit  allem  Ernste  zu  beachten.  Bei  einer  bloß  sach- 
lichen Gruppierung  ist  die  Gefahr  sehr  groß,  daß  die  von  einem 


174  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Teile  der  Beweisstellen  vertretene,  aber  vielleicht  oder  gar  sicher 
erst  einer  jüngeren  Entwicklungsstufe  angehörige  Vorstellung  das 
Auge  des  Forschers  derart  gefangen  nimmt,  daß  es  auch  andere 
älterer  Zeit  entsprossene  und  tatsächlich  inhaltlich  abweichende 
Stellen  in  der  von  jenen  gebotenen  Beleuchtung  schaut  und  das  Ur- 
teil alsdann  irreleitet.  Giesebrecht  ist  dieser  Gefahr  auch  nicht  ent- 
gangen. Es  sind  doch  nicht  ganz  wenige  Stellen,  die  für  ihn  unter 
den  vom  sogenannten  Namenglauben  oder  -aberglauben  dargebotenen 
Gesichtswinkel  gerückt  sind,  ohne  daß  sie  es  in  Wahrheit  verdient 
hätten.  Dieser  Gefahr  kann  die  religionsgeschichtliche  Untersuchung 
überhaupt  nur  entgehen,  wenn  sie  bei  der  Zusammenstellung  und 
Bearbeitung  des  Materials  aufs  strengste  die  wenigstens  subjektiv 
als  sicher  angesehenen  Ergebnisse  der  literarhistorischen  Arbeit  am 
alttestamentlichen  Schrifttum  beachtet. 

Eine  diesem  längst  erprobten,  aber  leider  nicht  allseitig  be- 
folgten Grundsatz  entsprechend  aufgestellte  statistische  Uebersicht 
über  den  Gebrauch  des  Wortes  üW  in  Verbindung  mit  der  Gottheit, 
soweit  er  hier  in  Betracht  kommt,  zeigte  mir  sofort  ein  Bild,  das 
sich  mit  überraschender  Deutlichkeit  der  Position  Stades  günstig 
erwies.  Es  ist  wirklich  so:  einerseits  das  Deuteronomium, 
andererseits  das  Buch  Jeremia  in  der  Gestalt,  in  der 
beide  Bücher  heute  uns  vorliegen,  bilden  sichtlich 
wenigstens  im  allgemeinen  zeitlich  nach  rückwärts 
eine  feste  obere  Grenze  für  das  Auftreten  des  >Namens< 
Gottes  im  religiösen  Sprachgebrauch  überhaupt  oder 
doch  mindestens  für  sein  auffällig  starkes  Auftreten 
in  dem  von  Giesebrecht  gemeinten  Sinne.  Die  Zahl  von 
Stellen,  die  nach  ihrer  Umgebung  oder  dem  literarischen  Zusammen- 
hang, in  dem  sie  stehen,  älteren,  vor  jener  Grenze  liegenden  Zeiten 
anzugehören  beanspruchen  und  die  anscheinend  den  gleichen  Namen- 
glauben bekunden  wie  andere  zeitlich  unterhalb  jener  Grenze  liegende 
Stellen,  ist  auffällig  gering,  und  die  Kleinheit  ihrer  Zahl  wird 
noch  eindrucksvoller,  wenn  man  sie  im  Zusammenhange  der  Schriften 
oder  Schriftteile  betrachtet,  wozu  sie  zunächst  gehören.  Da  sieht 
man  sich  unwillkürlich  zu  der  Frage  gedrängt,  ob  es  sich  bei  den 
ganz  vereinzelten  Stellen  wirklich  um  ursprüngliche  Aussagen  der 
alten  Verfasser  handele  und  nicht  vielmehr  um  Einschübe  von  jün- 
geren Händen,  oder  ob  man  recht  daran  tue,  sie  im  Sinne  von 
Giesebrechts  Erklärungsversuch  zu  verstehen,  und  nicht  vielmehr 
richtiger  handle,  wenn  man  einer  harmloseren  Auffassung  das 
Wort  rede. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  es  von  besonderer  Beweiskraft  für 


Glesebrecht,  Die  alttestamentliche  Sch&tzang  des  Qottesnamens.  175 

das  Vorhandensein  des  sogenannten  Namenglanbens  in  der  Jahwe- 
religion auch  schon  in  älterer  vorexilischer  Zeit  sein  würde,  wenn 
sich  in  den  älteren  Prophetenschriften  kritisch  unanfechtbare 
Stellen  fänden,  die  man  im  Sinne  dieses  Aberglaubens  deuten  müßte 
oder  doch  deuten  könnte.  Meines  Erachtens  finden  sich  aber  solche 
Stellen  nicht. 

Im  Buche  Amos  stoßen  wir  auf  mehrere  Stellen,  die  im  Sinne 
Giesebrechts  in  Betracht  kommen  können,  aber  alle  ohne  Ausnahme 
bieten  der  Textkritik  verheißungsvolle  Angriffspunkte.  Zunächst  be- 
gegnet uns  das  formelhafte  iTO  nn*»  5,8;  9,6  oder  'tJ  rYT«ax  -^nbÄ  '^'» 
4,13;  5,27  (vgl.  Giesebrecht  S.  30).  In  5,27  streichen  Wellhausen, 
Nowack,  Marti  Wto  als  Zusatz  jttngerer  Hand,  wohl  mit  Recht.  Die 
drei  anderen  Stellen  gelten  vielen  Kritikern,  auch  wohl  Giesebrecht, 
als  Teile  jttngerer  doxologischer  Einschübe,  und  unleugbar  bieten  sie 
Anlaß  zu  Bedenken  gegen  ihre  Ursprünglichkeit,  wenigstens  in  der 
überlieferten  Form.  4, 12  f.  ist  offenbar  nur  ein  trümmerhafter  Text; 
5,8.9  zerreißen  jetzt  den  Zusammenhang,  abgesehen  von  anderen 
Schwierigkeiten  in  v.  6—10;  9, 5  f.  schließt  sich  formell  auch  nicht 
gut  an  das  Vorausgehende  an,  v.  6^  ist  dazu  ==  5, 8^,  v.  5^  =  8,8^ 
Die  Möglichkeit,  daß  hier  jüngere  Zusätze  vorliegen,  muß  zugegeben 
werden.  Diese  Möglichkeit  wird  in  Bezug  auf  jenes  formelhafte 
1t3tb  TVXV^  umso  näher  gerückt,  als  dasselbe  in  der  ganzen  älteren 
prophetischen,  ja,  auch  der  außerprophetischen  Literatur  bis  auf  das 
Jeremiabuch  hinab  unbekannt  ist,  eine  scheinbare  Ausnahme  im 
Exodus  wird  uns  noch  beschäftigen.  Wäre  diese  doxologische  Formel 
zur  Zeit  des  Amos  so  geläufig  gewesen,  wie  die  Stellen  seines  Buches 
vermuten  lassen,  so  sollte  man  erwarten,  daß  sie  uns  auch  z.  B.  bei 
einem  Jesaja  begegnete,  dessen  Prophetie  ihrem  Inhalte  wie  ihrer 
Form  nach  nicht  selten  Gelegenheit  geboten  hätte,  so  nachdrücklich, 
wie  es  in  jenen  Amosstellen  geschieht,  auf  den  Namen  Jahwes  hin- 
zuweisen. Jedenfalls  können  diese  Stellen  nicht  beweisen,  daß  die 
Formel  dem  Amos  und  dann  unter  den  prophetischen  Schriftstellern 
der  vorexilischen  Zeit  ihm  allein  geläufig  war,  am  wenigsten  aber 
können  sie  beweisen,  daß  man  schon  in  jener  Zeit,  d.  h.  im  8.  Jahr- 
hundert, mit  dem  üW  Jahwes  besondere  Vorstellungen  im  Sinne  des 
Namenglaubens  verknüpfte.  —  9,12  finden  wir  die  an  sich  freilich 
harmlose,  nur  ein  Besitzverhältnis  ausdrückende,  immerhin  aber  wegen 
des  starken  Hervortretens  des  göttlichen  üW  bemerkenswerte  Formel 
b:p  v-»  uw  Änp3.  Kritiker  wie  Wellhausen  u.  a.  halten  den  verheißen- 
den Schlußabschnitt  überhaupt  fur  einen  Zusatz.  Wenn  ich  nun 
auch  nicht  glaube,  diesem  radikalen  Urteil  zustimmen  zu  dürfen,  so 
hege  ich  doch  ernstliche  Bedenken  gegen  die  Ursprünglichkeit  des 


176  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

V.  12.  Man  beachte  nur  die  sehr  üble  grammatische  Verkflüpfung 
des  Satzes  mit  v.  11.  Auch  der  Inhalt,  zumal  der  Hinweis  auf  Edom, 
ist  nicht  ohne  Bedenken. 

Bedeutsamer  ist  die  Stelle  2, 7*.  Nowack  (D.  kl.  Proph.  *  z.  St) 
bemerkt  dazu  unter  ausdrücklicher  Berufung  auf  Giesebrecht  (vgl. 
S.  27  f.  und  33flF.;  S.  27  ist  übrigens  statt  Amos  2,26  zu  lesen  2,7*), 
hier  sei  >  absichtlich  von  Jahwes  DO  die  Rede,  habe  er  doch  gerade 
im  Tempel  seine  Stätte«,  d.  h.  im  Sinne  Giesebrechts,  der  >Name< 
Jahwes  wohne  als  eine  Art  selbständigen  Wesens  (Hypostase),  abge- 
löst von  dem  transcendenten  Jahwe,  in  dem  ihm  geweihten  Heilig- 
tum, und  dieser  heilige  >Name<  Jahwes  werde  durch  das  unzüchtige 
Treiben  der  Israeliten  entweiht.  Ob  diese  Auffassung  richtig  ist, 
bleibe  dahingestellt.  Ich  habe  Bedenken  gegen  die  ursprüngliche 
Zugehörigkeit  von  2,7*  zum  Amostexte.  Kaum  kann  es  des  Pro- 
pheten Meinung  sein,  nur  das  in  diesem  Verse  gemeinte  zuchtlose 
Treiben  verletze  Jahwes  heiligen  >Namen<,  nicht  auch  das  abscheu- 
liche Treiben  an  heiliger  Stätte,  wovon  v.  8  die  Rede  ist.  Beachtet 
man  ferner,  daß  ürh^n  u^'^'Xi  und  w^tn^  p"^  v.  8  sich  sachlich  eng 
an  die  Sünden  anschließen,  auf  die  v.  6^.  7""  hinweisen,  so  empfindet 
man  v.  7^  als  eine  Störung  dieses  sachlichen  Zusammenhangs.  Dazu 
kommt,  daß  Amos  (sich  dadurch  einigermaßen  von  Hosea  unter- 
scheidend) wenn  auch  nicht  allein,  so  doch  vorwiegend  die  Nicht- 
achtung und  Vergewaltigung  von  Recht  und  Gerechtigkeit  als  Ur- 
sache für  Jahwes  richterliches  Eingreifen  bezeichnet.  Es  könnte  also 
allenfalls  auch  dies  v.  7^  als  Störung  des  ursprünglichen  Zusammen-* 
hangs  erscheinen  lassen.  Ich  könnte  schließlich  auch  rhythmisclie 
Gründe  ins  Feld  führen,  nur  tue  ich  das  nicht,  weil  für  die  text- 
kritische Beurteilung  prophetischer  Rede  sichere  rhythmische  Mafi- 
stäbe, wenigstens  bisher,  nicht  vorhanden  sind.  Aber  jene  Beob- 
achtungen genügen  auch,  Zweifel  an  der  Ursprünglichkeit  des  Saties 
in  den  Bereich  der  Möglichkeit  zu  rücken.  Eine  wesentliche  Steige- 
rung erwächst  diesem  Zweifel  aus  einer  weiteren  Beobachtung.  Die 
Wendung  •»thj;  D«-nÄ  Vm  oder  blos  ^t?«  oder  auch  ^hb«  otD  kommt 
in  keiner  prophetischen  Schrift  vor  Ezechiel  vor,  außer  in  unserer 
Amosstelle  und  einer  auch  höchst  einsamen  Stelle  im  Jeremiabuche 
34,16,  wo  überdies  das  Sätzchen  ohne  Schädigung  des  Zusammen- 
hangs fehlen  (ohne  es  würde  der  Zusammenhang  vielleicht  sogar 
besser)  und  unter  dem  Einfluß  des  Schlußsatzes  des  v.  15  später 
eingefügt  sein  könnte.  Von  LXX  bezeugt  wird  sie  auch  Jes.  48,11 
(ein  verwandter  Ausdruck  steht  52,5).  Es  handelt  sich  bei  jener 
Wendung  innerhalb  der  Prophetie  um  einen  spezifisch  ezechielischen 
Ausdruck.    Sie  findet  sich  sonst  nur  noch  im. Bereiche  der  das  sog. 


Giesebrecht,  Die  alttestamenUiche  Schätzung  des  Gottesnamens.  177 

Heiligkeitsgesetz  in  sich  bergenden  Kapp,  des  Leviticus  (vgl.  Lev. 
18,21;  19,12;  20,3;  21,6;  22,2.32),  aber  ob  sie  schon  dem  Heilig- 
keitsgesetz selbst  angehörte  und  nicht  vielmehr  von  jüngerer,  von 
Ezechiel  beeinflußter  Hand  abstammt,  danach  darf  man  meines  Er- 
achtens  wohl  fragen.  Dieser  Tatbestand  ist,  wie  man  zugeben  wird, 
doch  recht  merkwürdig.^)  Natürlich  vermag  auch  er  allein  nicht  die 
Unechtheit  des  Satzes  bei  Amos  zu  beweisen,  aber  in  Verbindung 
mit  den  vorher  geltend  gemachten  Bedenken  steigert  sich  doch  die 
Beweiskraft  recht  erheblich.  Auf  alle  Fälle  aber  halte  ich  es  nun 
für  untunlich,  die  Stelle  ohne  weiteres  zu  dem  Beweise  zu  ver- 
werten, Amos  habe  den  Namenglauben  geteilt  und  bezeuge,  daß  der- 
selbe zu  seiner  Zeit  in  der  Vorstellungswelt  der  Jahwereligion  einen 
festen  Platz  innegehabt  habe.  Man  darf  dabei  auch  nicht  übersehen, 
wie  dieser  Prophet  durchweg  von  Jahwe  und  seinem  innerweltlichen 
Wirken  redet  Auch  das  spricht  nicht  dafür,  daß  er,  selbst  wenn 
jene  Stelle  sein  Eigentum  wäre ,  das  'p  üio  in  dem  Sinne  Giese- 
brechts  resp.  Nowacks  verstanden  haben  sollte.  Solche  oder  ähn- 
liche Hypostasen  oder  Mittelwesen  zwischen  Jahwe  und  der  irdischen 
Welt  sind  der  religiösen  Vorstellung  des  Amos  meines  Erachtens 
ganz  fremd. 

Aber  diesem  Urteil  scheint  doch  die  eine  Stelle  ^,10  ent- 
schieden zu  widersprechen.  An  ihr  findet  sich  wirklich  eine  posi- 
tive Scheu  vor  dem  Aussprechen  des  »Namens«  Jahwes,  also  ein 
deutliches  Merkmal  des  Namenaberglaubens.  Aber  haben  wir  hier 
wirklich  echten  Amostext?  Daß  wir  dort  nur  Trümmern  des  ur- 
sprünglichen Textes  gegenüberstehen,  bezweifelt  niemand,  der  ge- 
lernt hat,  den  biblischen  Text  mit  kritischem  Auge  anzusehen.  Die 
kritische  Arbeit  zur  Auffindung  des  wirklich  ursprünglichen  Textes 
ist  bisher  vergeblich  gewesen  und  wird  es  wohl  auch  bleiben.  Ein- 
zelne Kritiker  haben  das  letzte  hier  in  Frage  stehende  Glied  des 
Satzes  für  einen  Zusatz  erklärt  (vgl.  überhaupt  zur  Kritik  des  Verses 

1)  Befläufig  erwähne  ich,  daß  V$Ti  überhaupt  Yomehmlich  zum  Sprach- 
gebrauch Ezechiels  und  des  Heiligkeitsgesetzes  gehört.  £&  kommt  im  Alten 
Testament  nur  75  Mal  vor,  davon  finden  sich  bei  Ezechiel  29,  im  Heiligkeits- 
gesetz 15  Stellen.  In  Prophetenschriften  findet  sich  außer  unserer  Amosstelle  nur 
noch  eine  SteUe  bei  Sefanja,  3  Stellen  bei  Jer.,  5  bei  Deut-Jes.  und  8  bei 
MaleachL  Sonst  findet  es  sich  noch  Gen.  49,4;  Ex.  20,25;  31,14;  Num.  18,82; 
30,3  (nur  die  drei  letzten  SteUen  in  P,  auch  bemerkenswert).  Deut.  20,6  (bis); 
28,80  steht  V$T\  in  ganz  besonderer  Verwendung.  Sonst  begegnen  wir  ihm  noch 
1  Mal  in  Threni,  5  in  Psalmen  (davon  3  in  Fs.  89),  2  in  Neh.,  1  in  I.  Chron. 
(=  (Jen.  49,4);  1  in  Dan.  —  bh  findet  sich  nur  7  Mal  im  Alten  Testament,  da- 
von 4  in  £z.  und  1  in  Lev.  10,10;  sonst  nur  noch  1.  Sam.  21,5.6.  Diese 
statistische  Uebersicht  ist  auch  für  die  AmossteUe  nicht  ohne  kritischen  Wert. 


178  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

den  Bericht  bei  Nowack  z.  St.),  und  ich  gestehe,  mir  scheint  dies 
radikale  Urteil  nicht  unbegründet  zu  sein.  Das  Schlußsätzchen 
macht  wirklich  den  Eindruck,  als  wolle  jemand  dem  Leser,  der  nicht 
weiß,  warum  vorher  ün  geboten  werde,  die  erforderliche  Belehrung 
geben.  Aber  sollte  Amos,  wenn  er  selbst  jenen  Namenglauben  oder 
-aberglauben  besessen  und  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  als  festen 
Besitz  vorausgesetzt  hätte,  es  für  nötig  gehalten  haben,  den  be- 
gründenden Satz  hinzuzufügen?  Und,  wenn  dies,  würde  er  die  Be- 
lehrung wohl  in  der  vorliegenden  Form  gegeben  haben?  So  darf 
man  mit  Rücksicht  auf  den  charakteristischen  Stil  dieses  Propheten 
sehr  wohl  fragen.  Mir  scheint  das  Sätzchen  schon  aus  diesem 
Grunde  allein  recht  bedenklich  zu  sein.  Und  wenn  ich  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  hinzunehme,  daß  der  »Name<  Jahwes  an  den  anderen 
Stellen  Amos'  Eigentum  ist,  so  verdichten  sich  meine  Bedenken 
auch  gegenüber  jenem  Sätzchen  in  6, 10  zu  der  Ueberzeugung,  auch 
in  ihm  mache  sich  eine  jüngere  Hand  bemerkbar,  es  sei  also  über- 
haupt kein  haltbarer  Grund  vorhanden,  Amos  zum  Zeugen  für  das 
Vorhandensein  des  Namenglaubens,  wenigstens  innerhalb  der  bewußt 
jahwegläubigen  Kreise,  im  Volke  seiner  Zeit  zu  machen.  Und  in 
dieser  Ueberzeugung  bestärkt  mich  der  Befund  bei  den  ihm  folgen- 
den Propheten  bis  auf  Jeremia  hinab  oder  richtiger:  bis  auf  das  Jeremia- 
buch  hinab,  da  es  sogar,  wie  wir  sehen  werden,  sehr  zweifelhaft 
ist,  ob  selbst  Jeremia  schon  jenen  Glauben  besessen  und  in  Wort 
und  Schrift  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

Eine  sehr  starke  Bestätigung  unseres  Urteils  über  Amos  bietet 
die  Tatsache,  daß  bei  seinem  prophetischen  Zeitgenossen  Hosea  auch 
nicht  eine  sichere  Spur  von  dem  Vorhandensein  jenes  Glaubens  ge- 
funden wird.  12,6,  wo  wir  inDT  nirr^  ...  im  Sinne  von  yüW'^''^  finden, 
ist  kritisch  stark  angefochten,  und  wohl  mit  Recht,  im  übrigen  hat 
der  Satz  mit  dem  Namenglauben  nichts  zu  tun.  Deutlicher  scheint 
dieser  freilich  1,7  herauszublicken,  wo  n'in'^i  ja  geradezu  dem 
'ai  ntiga  parallel  steht,  aber  daß  dieser  Vers  ein  Einschub  ist,  kann 
man  nicht  wohl  bezweifeln.  Transzendenz  und  Immanenz  stoßen  sich  in 
Hoseas  Gottesvorstellung  ebensowenig  wie  in  der  des  Amos.  Nirgends 
kann  man  bei  ihnen  das  Bedürfnis,  sei  es  auch  nur  ein  unbewußt 
empfundenes,  herausfühlen  nach  einer  Ausgleichung  beider  durch 
eine  vermittelnde  Vorstellung,  wie  sie  der  Namenglaube  zu  bieten 
vermöchte  (der  -fsbtt  Hos.  12,5  steht  diesem  Urteil  nicht  im  Wege, 
da,  abgesehen  von  der  kritischen  Lage  der  Stelle  überhaupt,  die 
Geschichte  dieser  Vorstellung  meines  Erachtens  auch  etwas  anders 
liegt,  als  man  allgemein  annimmt).  Und  dies  Urteil  dürfen  wir  nun, 
wie  ich  meine,  auch  getrost  auf  die  ganze,  wahrhaft  jahwegläubige 


Oiesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schiitzang  des  Gottesnamens.  179 

Gemeinde  der  Zeit  dieser  beiden  Propheten  im  Süden  wie  im  Norden 
des  Landes  ausdehnen.  Ihrer  religiösen  Vorstellungswelt  wie  ihrer 
religiösen  Sprache  war  der  üxb  Jahwes  im  Sinne  des  Namenglaubens 
mindestens  nicht  geläufig,  wahrscheinlich  aber  gänzlich  fremd. 

Damit  stimmt  auch,  was  wir  bei  Jesaja  und  Micha  finden.  — 
Im  Protojesajabuche  begegnen  wir  allerdings  ein  paar  Stellen,  die 
den  Namenglauben  voraussetzen,  aber  sie  sind  so  vereinzelt,  daß  sie 
schon  darum  Bedenken  gegen  ihre  Beweiskraft  erwecken.  Ueberdies 
legen  die  kritischen  Verhältnisse  der  Texte,  wo  sie  sich  finden,  das 
Urteil  nahe,  daß  sie  zwar  das  Vorhandensein  jenes  Glaubens  zur 
Zeit,  als  das  Jesajas  Namen  tragende  gegenwärtige 
Buch  entstand,  beweisen,  nicht  aber  sein  Vorhandensein  auch 
bei  Jesaja  persönlich  und  beim  jahwegläubigen  Volke  seiner  Zeit. 
Meines  Erachtens  trifft  dies  Urteil  das  Richtige.  Jesaja  selbst  hat 
vom  ütb  Jahwes  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  nichts  gewußt.  Er 
hatte,  wie  man  sich  leicht  vergegenwärtigen  kann,  wenn  man  einmal 
alle  für  echt  gehaltenen  Stücke  des  Jesajabuches  daraufhin  prüft, 
auch  noch  nicht  das  Bedürfnis,  in  seiner  Vorstellung  wie  in  seiner 
Rede  Jahwe,  den  überweltlichen  Gott,  persönlich  gleichsam  aus  der 
unmittelbaren  innerweltlichen  Wirksamkeit  auszuschalten  und  zwischen 
ihm  und  der  Ausführung  seines  Willens  in  der  diesseitigen  Welt 
eine  Vermittelung  in  mehr  oder  weniger  persönlich  oder  selbständig 
gedachten  Machtwesen  zu  schaffen.  Von  Engeln  weiß  er  auch  nichts. 
Was  wir  Jes.  6  lesen,  steht  dem  meines  Erachtens  keineswegs  ent- 
gegen. Er  redet  von  Jahwe  oder  bei  ihm  redet  Jahwe  von  sich 
und  seinen  Beziehungen  zum  Volke,  zum  Lande  und  zum  Tempel 
überall  ganz  in  der  schlichten  naiven  Weise,  wie  man  es  von 
früheren  Zeiten  her  gewohnt  war.  Die  Vorhöfe  des  Tempels  nennt 
Jahwe  1,12  >meine  Vorhöfe <  und  überall  in  1,10 ff.  hat  man  den 
Eindruck,  als  sei  Jahwe  unmittelbar  persönlich  im  Heiligtum  auf 
dem  Zion  gegenwärtig  gedacht  (ähnlich  wie  Amos  1,2),  und  den 
gleichen  Eindruck  behält  man  auch  sonst  überall ;  vgl.  z.  B.  auch 
29, 1  ff.  Wir  sind  daher  nach  meiner  Ueberzeugung  durchaus  be- 
rechtigt;  mit  kritischen  Bedenken  an  die  zwei  vereinzelten  Stellen 
18,7  und  30,27,  wo  DO  in  auffälliger  Weise  vorkommt,  heranzutreten. 
Die  allenfalls  noch  hierher  gehörige  Stelle  12,4  (vgl.  Giesebrecht 
S.  27  ff.)  fällt  außer  Betracht ,  weil  die  jesaianische  Herkunft  des 
Hymnus  c.  12  nicht  ohne  Grund  angezweifelt  wird.  Im  übrigen  vgl. 
Motä  nSito  mit  2,11.17;  es  ist  nicht  ohne  weiteres  nötig,  den  Aus- 
druck im  Sinne  des  Namenglaubens  zu  verstehen. 

Von  manchen  Kritikern  (z.  B.  Cheyne,  Duhm,  Marti)  wird  nun 
18,7  ganz  als  jüngerer  redaktioneller  Zusatz  beurteilt.    Dem  kann 


178  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

den  Bericht  bei  Nowack  z.  St.),  und  ich  gestehe,  mir  scheint  dies 
radikale  Urteil  nicht  unbegründet  zu  sein.  Das  Schlußsätzchen 
macht  wirklich  den  Eindruck,  als  wolle  jemand  dem  Leser,  der  nicht 
weiß,  warum  vorher  ün  geboten  werde,  die  erforderliche  Belehrung 
geben.  Aber  sollte  Amos,  wenn  er  selbst  jenen  Namenglauben  oder 
-aberglauben  besessen  und  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  als  festen 
Besitz  vorausgesetzt  hätte,  es  für  nötig  gehalten  haben,  den  be- 
gründenden Satz  hinzuzufügen?  Und,  wenn  dies,  würde  er  die  Be- 
lehrung wohl  in  der  vorliegenden  Form  gegeben  haben?  So  darf 
man  mit  Rücksicht  auf  den  charakteristischen  Stil  dieses  Propheten 
sehr  wohl  fragen.  Mir  scheint  das  Sätzchen  schon  aus  diesem 
Grunde  allein  recht  bedenklich  zu  sein.  Und  wenn  ich  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  hinzunehme,  daß  der  >Name<  Jahwes  an  den  anderen 
Stellen  Amos'  Eigentum  ist,  so  verdichten  sich  meine  Bedenken 
auch  gegenüber  jenem  Sätzchen  in  6,10  zu  der  Ueberzeugung,  auch 
in  ihm  mache  sich  eine  jüngere  Hand  bemerkbar,  es  sei  also  über- 
haupt kein  haltbarer  Grund  vorhanden,  Amos  zum  Zeugen  für  das 
Vorhandensein  des  Namenglaubens,  wenigstens  innerhalb  der  bewußt 
jahwegläubigen  Kreise,  im  Volke  seiner  Zeit  zu  machen.  Und  in 
dieser  Ueberzeugung  bestärkt  mich  der  Befund  bei  den  ihm  folgen- 
den Propheten  bis  auf  Jeremia  hinab  oder  richtiger:  bis  auf  das  Jeremia- 
buch  hinab,  da  es  sogar,  wie  wir  sehen  werden,  sehr  zweifelhaft 
ist,  ob  selbst  Jeremia  schon  jenen  Glauben  besessen  und  in  Wort 
und  Schrift  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

Eine  sehr  starke  Bestätigung  unseres  Urteils  über  Amos  bietet 
die  Tatsache,  daß  bei  seinem  prophetischen  Zeitgenossen  Hosea  auch 
nicht  eine  sichere  Spur  von  dem  Vorhandensein  jenes  Glaubens  ge- 
funden wird.  12,6,  wo  wir  *inDT  n^in*^  ...  im  Sinne  von  yow'^''^  finden, 
ist  kritisch  stark  angefochten,  und  wohl  mit  Recht,  im  übrigen  hat 
der  Satz  mit  dem  Namenglauben  nichts  zu  tun.  Deutlicher  scheint 
dieser  freilich  1,7  herauszublicken,  wo  TXM^^^  ja  geradezu  dem 
'^"\  n^a  parallel  steht,  aber  daß  dieser  Vers  ein  Einschub  ist,  kann 
man  nicht  wohl  bezweifeln.  Transzendenz  und  Immanenz  stoßen  sich  in 
Hoseas  Gottesvorstellung  ebensowenig  wie  in  der  des  Amos.  Nirgends 
kann  man  bei  ihnen  das  Bedürfnis,  sei  es  auch  nur  ein  unbewußt 
empfundenes,  herausfühlen  nach  einer  Ausgleichung  beider  durch 
eine  vermittelnde  Vorstellung,  wie  sie  der  Namenglaube  zu  bieten 
vermöchte  (der  -[«bTO  Hos.  12,5  steht  diesem  Urteil  nicht  im  Wege, 
da,  abgesehen  von  der  kritischen  Lage  der  Stelle  überhaupt,  die 
Geschichte  dieser  Vorstellung  meines  Erachtens  auch  etwas  anders 
liegt,  als  man  allgemein  annimmt).  Und  dies  Urteil  dürfen  wir  nun, 
wie  ich  meine,  auch  getrost  auf  die  ganze,   wahrhaft  jahwegläubige 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  179 

Gemeinde  der  Zeit  dieser  beiden  Propheten  im  Süden  wie  im  Norden 
des  Landes  ansdehnen.  Ihrer  religiösen  Vorstellungswelt  wie  ihrer 
religiösen  Sprache  war  der  üxb  Jahwes  im  Sinae  des  Namenglaubens 
mindestens  nicht  geläufig,  wahrscheinlich  aber  gänzlich  fremd. 

Damit  stimmt  auch,  was  wir  bei  Jesaja  und  Micha  finden.  — 
Im  Protojesajabuche  begegnen  wir  allerdings  ein  paar  Stellen,  die 
den  Namenglauben  voraussetzen,  aber  sie  sind  so  vereinzelt,  daß  sie 
schon  darum  Bedenken  gegen  ihre  Beweiskraft  erwecken.  Ueberdies 
legen  die  kritischen  Verhältnisse  der  Texte,  wo  sie  sich  finden,  das 
Urteil  nahe,  daß  sie  zwar  das  Vorhandensein  jenes  Glaubens  zur 
Zeit,  als  das  Jesajas  Namen  tragende  gegenwärtige 
Buch  entstand,  beweisen,  nicht  aber  sein  Vorhandensein  auch 
bei  Jesaja  persönlich  und  beim  jahwegläubigen  Volke  seiner  Zeit. 
Meines  Erachtens  trifft  dies  Urteil  das  Richtige.  Jesaja  selbst  hat 
vom  üW  Jahwes  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  nichts  gewußt.  Er 
hatte,  wie  man  sich  leicht  vergegenwärtigen  kann,  wenn  man  einmal 
alle  für  echt  gehaltenen  Stücke  des  Jesajabuches  daraufhin  prüft, 
auch  noch  nicht  das  Bedürfnis,  in  seiner  Vorstellung  wie  in  seiner 
Rede  Jahwe,  den  überweltlichen  Gott,  pei*sönlich  gleichsam  aus  der 
unmittelbaren  innerweltlichen  Wirksamkeit  auszuschalten  und  zwischen 
ihm  und  der  Ausführung  seines  Willens  in  der  diesseitigen  Welt 
eine  Vermittelung  in  mehr  oder  weniger  persönlich  oder  selbständig 
gedachten  Machtwesen  zu  schaffen.  Von  Engeln  weiß  er  auch  nichts. 
Was  wir  Jes.  6  lesen,  steht  dem  meines  Erachtens  keineswegs  ent- 
gegen. Er  redet  von  Jahwe  oder  bei  ihm  redet  Jahwe  von  sich 
und  seinen  Beziehungen  zum  Volke,  zum  Lande  und  zum  Tempel 
überall  ganz  in  der  schlichten  naiven  Weise,  wie  man  es  von 
früheren  Zeiten  her  gewohnt  war.  Die  Vorhöfe  des  Tempels  nennt 
Jahwe  1,12  >meine  Vorhöfe <  und  überall  in  1,10 ff.  hat  man  den 
Eindruck,  als  sei  Jahwe  unmittelbar  persönlich  im  Heiligtum  auf 
dem  Zion  gegenwärtig  gedacht  (ähnlich  wie  Amos  1,2),  und  den 
gleichen  Eindruck  behält  man  auch  sonst  überall ;  vgl.  z.  B.  auch 
29, 1  ff.  Wir  sind  daher  nach  meiner  Ueberzeugung  durchaus  be- 
rechtigt, mit  kritischen  Bedenken  an  die  zwei  vereinzelten  Stellen 
18, 7  und  30, 27,  wo  üt  in  auffälliger  Weise  vorkommt,  heranzutreten. 
Die  allenfalls  noch  hierher  gehörige  Stelle  12,4  (vgl.  Giesebrecht 
S.  27ff.)  fällt  außer  Betracht,  weil  die  jesaianische  Herkunft  des 
Hymnus  c.  12  nicht  ohne  Grund  angezweifelt  wird.  Im  übrigen  vgl. 
"rata  Xito  mit  2,11.17;  es  ist  nicht  ohne  weiteres  nötig,  den  Aus- 
druck im  Sinne  des  Namenglaubens  zu  verstehen. 

Von  manchen  Kritikern  (z.  B.  Cheyne,  Duhm,  Marti)  wird  nun 
18,7  ganz  als  jüngerer  redaktioneller  Zusatz  beurteilt.    Dem  kann 


178  Oött.  gel.  Am.  1906.  Nr.  3. 

den  Bericht  bei  Nowack  z.  St.),  und  ich  gestehe,  mir  scheint  dies 
radikale  Urteil  nicht  unbegründet  zu  sein.  Das  Schlußsätzchen 
macht  wirklich  den  Eindruck,  als  wolle  jemand  dem  Leser,  der  nicht 
weiß,  warum  vorher  ün  geboten  werde,  die  erforderliche  Belehrung 
geben.  Aber  sollte  Arnos,  wenn  er  selbst  jenen  Namenglauben  oder 
-aberglauben  besessen  und  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  als  festen 
Besitz  vorausgesetzt  hätte,  es  für  nötig  gehalten  haben,  den  be- 
gründenden Satz  hinzuzufügen?  Und,  wenn  dies,  würde  er  die  Be- 
lehrung wohl  in  der  vorliegenden  Form  gegeben  haben?  So  darf 
man  mit  Rücksicht  auf  den  charakteristischen  Stil  dieses  Propheten 
sehr  wohl  fragen.  Mir  scheint  das  Sätzchen  schon  aus  diesem 
Grunde  allein  recht  bedenklich  zu  sein.  Und  wenn  ich  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  hinzunehme,  daß  der  >Name<  Jahwes  an  den  anderen 
Stellen  Amos'  Eigentum  ist,  so  verdichten  sich  meine  Bedenken 
auch  gegenüber  jenem  Sätzchen  in  6, 10  zu  der  Ueberzeugung,  auch 
in  ihm  mache  sich  eine  jüngere  Hand  bemerkbar,  es  sei  also  über- 
haupt kein  haltbarer  Grund  vorhanden,  Amos  zum  Zeugen  für  das 
Vorhandensein  des  Namenglaubens,  wenigstens  innerhalb  der  bewußt 
jahwegläubigen  Kreise,  im  Volke  seiner  Zeit  zu  machen.  Und  in 
dieser  Ueberzeugung  bestärkt  mich  der  Befund  bei  den  ihm  folgen- 
den Propheten  bis  auf  Jeremia  hinab  oder  richtiger:  bis  auf  das  Jeremia- 
buch  hinab,  da  es  sogar,  wie  wir  sehen  werden,  sehr  zweifelhaft 
ist,  ob  selbst  Jeremia  schon  jenen  Glauben  besessen  und  in  Wort 
und  Schrift  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

Eine  sehr  starke  Bestätigung  unseres  Urteils  über  Amos  bietet 
die  Tatsache,  daß  bei  seinem  prophetischen  Zeitgenossen  Hosea  auch 
nicht  eine  sichere  Spur  von  dem  Vorhandensein  jenes  Glaubens  ge- 
funden wird.  12,6,  wo  wir  r\D1  rr\r\^ ...  im  Sinne  von  raW'^'^  finden, 
ist  kritisch  stark  angefochten,  und  wohl  mit  Recht,  im  übrigen  hat 
der  Satz  mit  dem  Namenglauben  nichts  zu  tun.  Deutlicher  scheint 
dieser  freilich  1,7  herauszublicken,  wo  rr\T\^^  ja  geradezu  dem 
'^^  n^a  parallel  steht,  aber  daß  dieser  Vers  ein  Einschub  ist,  kann 
man  nicht  wohl  bezweifeln.  Transzendenz  und  Immanenz  stoßen  sich  in 
Hoseas  Gottesvorstellung  ebensowenig  wie  in  der  des  Amos.  Nirgends 
kann  man  bei  ihnen  das  Bedürfnis,  sei  es  auch  nur  ein  unbewußt 
empfundenes,  herausfühlen  nach  einer  Ausgleichung  beider  durch 
eine  vermittelnde  Vorstellung,  wie  sie  der  Namenglaube  zu  bieten 
vermöchte  (der  -[«bTO  Hos.  12,5  steht  diesem  Urteil  nicht  im  Wege, 
da,  abgesehen  von  der  kritischen  Lage  der  Stelle  überhaupt,  die 
Geschichte  dieser  Vorstellung  meines  Erachtens  auch  etwas  anders 
liegt,  als  man  allgemein  annimmt).  Und  dies  Urteil  dürfen  wir  nun, 
wie  ich  meine,  auch  getrost  auf  die  ganze,  wahrhaft  jahwegläubige 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  179 

Gemeinde  der  Zeit  dieser  beiden  Propheten  im  Süden  wie  im  Norden 
des  Landes  ausdehnen.  Ihrer  religiösen  Vorstellungswelt  wie  ihrer 
religiösen  Sprache  war  der  üxb  Jahwes  im  Sinae  des  Namenglaubens 
mindestens  nicht  geläufig,  wahrscheinlich  aber  gänzlich  fremd. 

Damit  stimmt  auch,  was  wir  bei  Jesaja  und  Micha  finden.  — 
Im  Protojesajabuche  begegnen  wir  allerdings  ein  paar  Stellen,  die 
den  Namenglauben  voraussetzen,  aber  sie  sind  so  vereinzelt,  daß  sie 
schon  darum  Bedenken  gegen  ihre  Beweiskraft  erwecken.  Ueberdies 
legen  die  kritischen  Verhältnisse  der  Texte,  wo  sie  sich  finden,  das 
Urteil  nahe,  daß  sie  zwar  das  Vorhandensein  jenes  Glaubens  zur 
Zeit,  als  das  Jesajas  Namen  tragende  gegenwärtige 
Buch  entstand,  beweisen,  nicht  aber  sein  Vorhandensein  auch 
bei  Jesaja  persönlich  und  beim  jahwegläubigen  Volke  seiner  Zeit. 
Meines  Erachtens  trifft  dies  Urteil  das  Richtige.  Jesaja  selbst  hat 
vom  üW  Jahwes  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  nichts  gewußt.  Er 
hatte,  wie  man  sich  leicht  vergegenwärtigen  kann,  wenn  man  einmal 
alle  für  echt  gehaltenen  Stücke  des  Jesajabuches  daraufhin  prüft, 
auch  noch  nicht  das  Bedürfnis,  in  seiner  Vorstellung  wie  in  seiner 
Rede  Jahwe,  den  überweltlichen  Gott,  persönlich  gleichsam  aus  der 
unmittelbaren  innerweltlichen  Wirksamkeit  auszuschalten  und  zwischen 
ihm  und  der  Ausführung  seines  Willens  in  der  diesseitigen  Welt 
eine  Vermittelung  in  mehr  oder  weniger  persönlich  oder  selbständig 
gedachten  Machtwesen  zu  schaifen.  Von  Engeln  weiß  er  auch  nichts. 
Was  wir  Jes.  6  lesen,  steht  dem  meines  Erachtens  keineswegs  ent- 
gegen. Er  redet  von  Jahwe  oder  bei  ihm  redet  Jahwe  von  sich 
und  seinen  Beziehungen  zum  Volke,  zum  Lande  und  zum  Tempel 
überall  ganz  in  der  schlichten  naiven  Weise,  wie  man  es  von 
früheren  Zeiten  her  gewohnt  war.  Die  Vorhöfe  des  Tempels  nennt 
Jahwe  1,12  >meine  Vorhöfe <  und  überall  in  l,10flF.  hat  man  den 
Eindruck,  als  sei  Jahwe  unmittelbar  persönlich  im  Heiligtum  auf 
dem  Zion  gegenwärtig  gedacht  (ähnlich  wie  Amos  1,2),  und  den 
gleichen  Eindruck  behält  man  auch  sonst  überall ;  vgl.  z.  B.  auch 
29,1fr.  Wir  sind  daher  nach  meiner  Ueberzeugung  durchaus  be- 
rechtigt, mit  kritischen  Bedenken  an  die  zwei  vereinzelten  Stellen 
18,7  und  30,27,  wo  üt  in  auffälliger  Weise  vorkommt,  heranzutreten. 
Die  allenfalls  noch  hierher  gehörige  Stelle  12,4  (vgl.  Giesebrecht 
8.27  ff)  fällt  außer  Betracht,  weil  die  jesaianische  Herkunft  des 
Hymnus  c.  12  nicht  ohne  Grund  angezweifelt  wird.  Im  übrigen  vgl. 
•nsÄ  aSite  mit  2, 11.17 ;  es  ist  nicht  ohne  weiteres  nötig,  den  Aus- 
druck im  Sinne  des  Namenglaubens  zu  verstehen. 

Von  manchen  Kritikern  (z.  B.  Cheyne,  Duhm,  Marti)  wird  nun 
18,7  ganz  als  jüngerer  redaktioneller  Zusatz  beurteilt.    Dem  kann 


178  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

den  Bericht  bei  Nowack  z.  St.),  und  ich  gestehe,  mir  scheint  dies 
radikale  Urteil  nicht  unbegründet  zu  sein.  Das  Schlußsätzchen 
macht  wirklich  den  Eindruck,  als  wolle  jemand  dem  Leser,  der  nicht 
weiß,  warum  vorher  Dn  geboten  werde,  die  erforderliche  Belehrung 
geben.  Aber  sollte  Arnos,  wenn  er  selbst  jenen  Namenglauben  oder 
-aberglauben  besessen  und  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  als  festen 
Besitz  vorausgesetzt  hätte,  es  für  nötig  gehalten  haben,  den  be- 
gründenden Satz  hinzuzufügen?  Und,  wenn  dies,  würde  er  die  Be- 
lehrung wohl  in  der  vorliegenden  Form  gegeben  haben?  So  darf 
man  mit  Rücksicht  auf  den  charakteristischen  Stil  dieses  Propheten 
sehr  wohl  fragen.  Mir  scheint  das  Sätzchen  schon  aus  diesem 
Grunde  allein  recht  bedenklich  zu  sein.  Und  wenn  ich  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  hinzunehme,  daß  der  >Name<  Jahwes  an  den  anderen 
Stellen  Amos'  Eigentum  ist,  so  verdichten  sich  meine  Bedenken 
auch  gegenüber  jenem  Sätzchen  in  6,10  zu  der  Ueberzeugung,  auch 
in  ihm  mache  sich  eine  jüngere  Hand  bemerkbar,  es  sei  also  über- 
haupt kein  haltbarer  Grund  vorhanden,  Amos  zum  Zeugen  für  das 
Vorhandensein  des  Namenglaubens,  wenigstens  innerhalb  der  bewußt 
jahwegläubigen  Kreise,  im  Volke  seiner  Zeit  zu  machen.  Und  in 
dieser  Ueberzeugung  bestärkt  mich  der  Befund  bei  den  ihm  folgen- 
den Propheten  bis  auf  Jeremia  hinab  oder  richtiger:  bis  auf  das  Jeremia- 
buch  hinab,  da  es  sogar,  wie  wir  sehen  werden,  sehr  zweifelhaft 
ist,  ob  selbst  Jeremia  schon  jenen  Glauben  besessen  und  in  Wort 
und  Schrift  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

Eine  sehr  starke  Bestätigung  unseres  Urteils  über  Amos  bietet 
die  Tatsache,  daß  bei  seinem  prophetischen  Zeitgenossen  Hosea  auch 
nicht  eine  sichere  Spur  von  dem  Vorhandensein  jenes  Glaubens  ge- 
funden wird.  12,6,  wo  wir  'inDT  tT\rv  ...  im  Sinne  von  Myd*^'*^  finden, 
ist  kritisch  stark  angefochten,  und  wohl  mit  Recht,  im  übrigen  hat 
der  Satz  mit  dem  Namenglauben  nichts  zu  tun.  Deutlicher  scheint 
dieser  freilich  1,7  herauszublicken,  wo  rr\T\^^  ja  geradezu  dem 
'y\  ntfga  parallel  steht,  aber  daß  dieser  Vers  ein  Einschub  ist,  kann 
man  nicht  wohl  bezweifeln.  Transzendenz  und  Immanenz  stoßen  sich  in 
Hoseas  Gottesvorstellung  ebensowenig  wie  in  der  des  Amos.  Nirgends 
kann  man  bei  ihnen  das  Bedürfnis,  sei  es  auch  nur  ein  unbewußt 
empfundenes,  herausfühlen  nach  einer  Ausgleichung  beider  durch 
eine  vermittelnde  Vorstellung,  wie  sie  der  Namenglaube  zu  bieten 
vermöchte  (der  ^bü  Hos.  12,5  steht  diesem  Urteil  nicht  im  Wege, 
da,  abgesehen  von  der  kritischen  Lage  der  Stelle  überhaupt,  die 
Geschichte  dieser  Vorstellung  meines  Erachtens  auch  etwas  anders 
liegt,  als  man  allgemein  annimmt).  Und  dies  Urteil  dürfen  wir  nun, 
wie  ich  meine,  auch  getrost  auf  die  ganze,  wahrhaft  jahwegläubige 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  179 

Gemeinde  der  Zeit  dieser  beiden  Propheten  im  Süden  wie  im  Norden 
des  Landes  ausdehnen.  Ihrer  religiösen  Vorstellungswelt  wie  ihrer 
religiösen  Sprache  war  der  üxb  Jahwes  im  Sinae  des  Namenglaubens 
mindestens  nicht  geläufig,  wahrscheinlich  aber  gänzlich  fremd. 

Damit  stimmt  auch,  was  wir  bei  Jesaja  und  Micha  finden.  — 
Im  Protojesajabuche  begegnen  wir  allerdings  ein  paar  Stellen,  die 
den  Namenglauben  voraussetzen,  aber  sie  sind  so  vereinzelt,  daß  sie 
schon  darum  Bedenken  gegen  ihre  Beweiskraft  erwecken.  Ueberdies 
legen  die  kritischen  Verhältnisse  der  Texte,  wo  sie  sich  finden,  das 
Urteil  nahe,  daß  sie  zwar  das  Vorhandensein  jenes  Glaubens  zur 
Zeit,  als  das  Jesajas  Namen  tragende  gegenwärtige 
Buch  entstand,  beweisen,  nicht  aber  sein  Vorhandensein  auch 
bei  Jesaja  persönlich  und  beim  jahwegläubigen  Volke  seiner  Zeit. 
Meines  Erachtens  trifit  dies  Urteil  das  Richtige.  Jesaja  selbst  hat 
vom  üW  Jahwes  in  dem  hier  gemeinten  Sinne  nichts  gewußt.  Er 
hatte,  wie  man  sich  leicht  vergegenwärtigen  kann,  wenn  man  einmal 
alle  für  echt  gehaltenen  Stücke  des  Jesajabuches  daraufhin  prüft, 
auch  noch  nicht  das  Bedürfnis,  in  seiner  Vorstellung  wie  in  seiner 
Rede  Jahwe,  den  überweltlichen  Gott,  persönlich  gleichsam  aus  der 
unmittelbaren  innerweltlichen  Wirksamkeit  auszuschalten  und  zwischen 
ihm  und  der  Ausführung  seines  Willens  in  der  diesseitigen  Welt 
eine  Vermittelung  in  mehr  oder  weniger  persönlich  oder  selbständig 
gedachten  Machtwesen  zu  schaifen.  Von  Engeln  weiß  er  auch  nichts. 
Was  wir  Jes.  6  lesen,  steht  dem  meines  Erachtens  keineswegs  ent- 
gegen. Er  redet  von  Jahwe  oder  bei  ihm  redet  Jahwe  von  sich 
und  seinen  Beziehungen  zum  Volke,  zum  Lande  und  zum  Tempel 
überall  ganz  in  der  schlichten  naiven  Weise,  wie  man  es  von 
früheren  Zeiten  her  gewohnt  war.  Die  Vorhöfe  des  Tempels  nennt 
Jahwe  1,12  >meine  Vorhöfe<  und  überall  in  1,10 ff.  hat  man  den 
Eindruck,  als  sei  Jahwe  unmittelbar  persönlich  im  Heiligtum  auf 
dem  Zion  gegenwärtig  gedacht  (ähnlich  wie  Amos  1,2),  und  den 
gleichen  Eindruck  behält  man  auch  sonst  überall ;  vgl.  z.  B.  auch 
29, 1  ff.  Wir  sind  daher  nach  meiner  Ueberzeugung  durchaus  be- 
rechtigt, mit  kritischen  Bedenken  an  die  zwei  vereinzelten  Stellen 
18,7  und  30,27,  wo  üt  in  auffälliger  Weise  vorkommt,  heranzutreten. 
Die  allenfalls  noch  hierher  gehörige  Stelle  12,4  (vgl.  Giesebrecht 
S.  27ff.)  fällt  außer  Betracht,  weil  die  jesaianische  Herkunft  des 
Hymnus  c.  12  nicht  ohne  Grund  angezweifelt  wird.  Im  übrigen  vgl. 
yüt  nsito  mit  2,11.17;  es  ist  nicht  ohne  weiteres  nötig,  den  Aus- 
druck im  Sinne  des  Namenglaubens  zu  verstehen. 

Von  manchen  Kritikern  (z.  B.  Cheyne,  Duhm,  Marti)  wird  nun 
18,7  ganz  als  jüngerer  redaktioneller  Zusatz  beurteilt.    Dem  kann 


180  GcHt  gel.  Anz.  1906.  Nr.  S. 

ich  wie  Giesebrecht  (S.  36)  nicht  ohne  weiteres  zustimmen,  aber  das 
Wort  DV  halte  ich  für  einen  jüngeren  Zusatz.  Zwar  zeigt  LXX,  daß 
es  alt  im  Texte  ist,  aber  das  beweist  nicht,  daß  es  von  Jesaja  selbst 
herrühren  müsse.  Meines  Erachtens  fehlen,  wie  ich  schon  andeutete, 
bei  dem  wirklichen  Jesaja  die  theologischen  Voraussetzungen,  auf 
denen  der  Ausdruck  TXrrr^  üxo  Dipio  beruht.  Wenn  der  Satz  von  Jesaja 
herrührt,  hat  er  sicher  nur  TXyrx^  Dipio  geschrieben.  Dafür  scheint 
mir  auch  "^SiDtt  v.  4  (zu  pDü  vgl.  Salomos  Tempelweihspruch  1.  Reg. 
8, 12 f.,  auch  Jes.  4,5)  zu  sprechen,  denn  ich  glaube  in  der  Tat, 
Jesaja  hat  dabei  wirklich  an  Jahwes  irdische  Wohnstätte  gedacht, 
an  der  sich  ja,  wie  er  immer  und  immer  wieder  ankündigen  mußte, 
die  Sturmwellen  des  Assyrerheeres  brechen  sollten.  Auf  sie  war 
meines  Erachtens  daher  ganz  naturgemäß  sein  Blick  auch  in  einem 
solchen  Worte  an  fremde  Gesandte  in  erster  Linie  gerichtet,  auch 
wenn  er  wohl  wußte,  wo  die  eigentliche  Wohnung  des  Heiligen 
Israels  zu  suchen  sei. 

Ebenso  halte  ich  auch  in  30, 27  (vgl.  Giesebrecht  S.  44)  Uta  für 
einen  jüngeren  Zusatz.  Von  einzelnen  Kritikern  ist  der  ganze  Schluß- 
abschnitt 30, 27  ff.  für  unecht  erklärt  worden  (so  von  Cheyne  und 
Marti,  aber  nicht  von  Duhm).  Wäre  dies  Urteil  richtig,  was  auch 
ich  nicht  anerkenne,  fiele  auch  rm^  üt6  für  Jesajas  religiöse  Vor- 
stellungswelt und  Rede  außer  Betracht.  Bemerkenswert  ist  Gheynes 
urteil  zur  Stelle  (vgl.  s.  >Einleitung  in  das  Buch  Jesaja<):  der  Aus- 
druck >Jahwes  Name<  finde  sich  in  nicht  angefochtenen  Stücken 
Jesajas  nirgends.  Darin  hat  er  sicher  recht.  Duhm  hat  sich  (Das 
Buch  Jesaja  ^S.  195)  auch  (teils  polemisch)  eingehender  zu  dem  Aus- 
druck an  dieser  Stelle  geäußert  und  gesagt,  wenn  üW  verdächtig  sei, 
was  er  freilich  nicht  glaubt  (mit  Unrecht  zieht  er  übrigens  den 
Mal'akh  Jahwe  im  Deboraliede  Jud.  5,23  heran;  der  ist  dort,  wie 
der  Rhythmus  lehrt,  sicher  auch  eingearbeitet  und  nicht  ursprüng- 
lich, vgl.  meinen  Aufsatz  ZDMGLVI  [1902]  S.  466),  so  würde  es 
einzig  korrekt  sein,  blos  dies  Wort  zu  streichen.  Und  das  ist  in  der 
Tat  notwendig.  Die  hier  vorliegende  Vorstellung  vom  > Namen  < 
Jahwes  ist  in  noch  höherem  Maße,  als  die  18,7,  mit  der  religiösen 
Denk-  und  Redeweise  des  wirklichen  Jesaja  unvereinbar.  Ich  möchte 
gerne  in  echten  Jesajareden  auch  nur  eine  Stelle  nachgewiesen 
sehen,  aus  der  man  mit  unzweifelhafter  Gewißheit  schließen  müßte 
od^  auch  nur  allenfalls  schließen  könnte,  der  Prophet  habe  je  in 
seinem  Leben  Anstoß  daran  genommen,  derartiges  wie  30, 27  ff.  von 
Jahwe  unmittelbar  auszusagen,  es  habe  sich  seinem  religiösen  Em- 
pfinden und  Denken  das  Bedürfnis  aufgedrängt,  eine  solche  causa 
q^edia,  wie  sie  sein  UfD  für  spätere  Zeiten  darstellte,  zwischen  Jahwes 


Giesebrecht,   Die  alttestamentliche  Scbätzung  des  Gottesnamens.  181 

transzendente  Person  und  die  irdische  Sphäre  seiner  Wirksamkeit 
einzuschieben.    Dazu  bezieht  sich  alles,   was  hernach  in  'yi  1&M  m 
ausgesagt  wird,  auf  TV^rv  und  setzt  nur  dies  voraus,  nicht  aber 
tx6,  von   dem  sicher  weder  Jesaja  noch  sonst  ein  Prophet  gesagt 
haben  würde,  er  habe  Nase,  Lippen  oder  Zunge.    Freilich  weiß  ich, 
daß  es  gut  hebräisch  sein  kann,  die  sachlichen  Prädikate  gramma-, 
tisch  vom  Genitiv  in  einer  Konstruktusverbindung  abhängig  sein  zu 
lassen.    Aber  diese  grammatische  Möglichkeit  kann  hier  nicht  ent* 
scheiden.    Man  hat  hier  doch  bei  unbefangener  Lektüre  den  Ein- 
druck starker  Unnatur,  wenn  man  von  dem  durch  T\:in  so  stark  be- 
tonten üW  her  zu  den  hernach  folgenden  stark  menschlichen  Aussagen 
gelangt.  Sonst  scheut  sich  aber  Jesaja  keineswegs,  von  Jahwe  direkt 
in  nicht  minder  stark  menschlichen  Formen  zu  reden.  Hält  man  also 
an   der  jesajanischen  Herkunft   des  Abschnittes   fest,    dann  bleibt 
nichts  übrig,  als  üt  kritisch  auszuscheiden.  Jesajanisch  ist  das  Wort 
und  die  in  ihm  ausgesprochene  religiöse  Vorstellung  jedenfalls  nicht 
Wir  würden  also  keine  Stelle  haben,  die  beweise,  daß  zur  Zeit 
Jesajas,  d.  h.  bis  rund  700  v.  Chr.,  jener  Namenglaube  in  der  Jahwe- 
religion vorhanden  gewesen  sei,  und  sollte  er  der  breiten  Masse  des 
Volkes  nicht  fremd  gewesen  sein,  so  würde  sich  doch  ergeben,  daß 
derselbe  wenigstens  bei  denen,  die  wirklich  auf  der  Höhe  der  Jahwe- 
religion standen,  bis  zu  jener  Zeit  noch  keinen  wesentlichen  Einfluß 
auf  Denken  und  Reden  gewonnen  hatte.  Und  das  finde  ich  nun  auch 
bei  Micha  bestätigt.    Auch  dieser  Prophet,  der  jüngere  Zeitgenosse 
Jesajas,  hat  vom  üt  Jahwes  in  dem  fraglichen  Sinne  noch  nichts  ge- 
wußt.   In  den  kritisch  unangefochtenen,   drei  ersten  Kapiteln  des 
Michabuches  findet  sich  gar  nichts,  das  an  das  Vorhandensein  eines 
derartigen  Namenglaubens  zu  erinnern  vermöchte.    3,11  bestätigt  für 
die  Zeit  Michas  unser  Urteil  zu  Jes.  18,7.   Auch  hier,  aus  der  Ver- 
bindung von  V.  11  und  v.  12,   sieht  man,   wenn  man  nur  will,   daß 
das  Bedürfnis,  Transzendenz  und  Immanenz  Jahwes  durch  eine  ver- 
mittelnde Vorstellung  auszugleichen,  damals  noch  gar  nicht  erwacht 
war.    Und  das  ist  auch   von  Wichtigkeit  für  die  Beurteilung  der 
wenigen  Stellen  in   den  folgenden,  von  vielen  hart  angefochtenen 
Kapiteln,  die  vom  qtd  Jahwes  reden :  4, 5 ;  5,3  und  6, 9. 

4,1 — 4  findet  sich  ja  auch  Jes.  2,1—4  (hier  freilich  nicht  so 
vollständig).  Die  Weissagung  bietet  ein  unlösbares  literarhistorisches 
Rätsel.  Und  diesem  Urteil  unterliegt  vornehmlich  auch  v.  5,  dem 
deutlich  Jes.  2,5  entspricht,  trotz  formeller  und  inhaltlicher  Difie- 
renzen.  Schwerlich  stammt  dieser  Vers  von  Micha.  Insbesondere  aber 
hat  Micha  schwerlich  gesagt  "Ti  DiDn  -fbn,  das  darum  schon  auffallig 
ist,  weil  diese  Verbindung  überhaupt  im  alten  Testament  nicht  mehr 


182  Gott.  gel.  Anz.  190G.  Nr.  3. 

vorkommt.  DTD  wird  umso  auftälliger,  als  in  Jes.  2, 5  vielmehr  ^'^  ^1«n 
steht  und  der  Grieche  das  erste  n'^nbK  Dtin  überhaupt  nicht  gelesen 
zu  haben  scheint.  LXX  weist  auf  eine  Vorlage  ysy^'s,  W^Ht,  dann  liest 
sie  freilich  auch  Iv  övö|iau  xopteo  (x.  fehlt  cod.  A)  *6oö  %äv.  Aller- 
dings findet  sich  eine  Parallele  Sach.  10,12,  aber  dort  ist  statt 
nDbnn''  wahrscheinlich  mit  LXX  ib^nn*^  zu  lesen.  Giesebrecht  (S.  42) 
übersetzt  DiDn  hier  »in  Kraft  des  Namens«.  Ob  das  wirklich  richtig 
ist,  lasse  ich  dahingestellt.  Es  ließe  sich  auch  anders  deuten  und 
die  Notwendigkeit,  DID  als  > Machtmittel  aufzufassen,  vermeiden. 
Jedenfalls  aber  kann  dieser  Vers  nicht  beweisen,  daß  der  Namen- 
glaube schon  zu  Michas  Zeit  in  Israel  irgendwelche  Bedeutung  in 
der  wirklichen  Yorstellungswelt  der  Jahwegläubigen  besessen  hat. 
Und  das  gilt  auch  von  5,3,  auch  wenn  man  wie  ich  im  Gegensatz 
zur  neueren  Kritik  die  messianische  Weissagung  wirklich  von  Micha 
herleitet,  n^rv*  Tbl  nötigt  nicht,  im  parallelen  ^'^  DTD  ein  von  Jahwe 
losgelöstes  Machtwesen  oder  -mittel  zu  erblicken.  Eine  harmlosere 
Auffassung  liegt  meines  Erachtens  ebenso  nahe.  Aber  ist  DTD  oder 
'^''^  DTD  hier  überhaupt  ursprünglich?  Sollte,  gerade  wegen  des  Pa- 
rallelausdrucks, nicht  vielmehr  'bht  ^'^  t^^^  oder  noch  wahrschein- 
licher nur  n*>nb«'3in  ursprüngliche  Lesart  sein?  Auch  der  übel 
überlieferte  und  vielfach  sicher  überarbeitete  Text  legt  nahe,  hier 
wie  in  den  Jesajastellen  an  jüngere  Einschiebung  zu  denken.  — 
Nicht  anders  ist  meines  Erachtens  zu  6,9  zu  urteilen,  wo  der  Text 
ohne  allen  Zweifel  arg  verderbt  ist.  LXX  übersetzt,  als  stände  da: 
tot}  ^iKy;  T^tnr\\  Ich  würde  wenigstens  nicht  wagen ,  aus  dieser 
Stelle  einen  Schluß  auf  den  Gebrauch  des  »Namens«  Gottes  bei 
Micha  zu  ziehen.  Entscheidend  bleibt  freilich  für  mich  die  Tatsache, 
daß  nach  den  kritisch  im  wesentlichen  unangefochtenen  Teilen  des 
Michabuches  der  Prophet  Micha  ebensowenig  wie  Jesaja  sich  ge- 
scheut hat,  Jahwe  unmittelbar  in  der  diesseitigen  Welt  wirken  und 
auch  an  seinem  irdischen  Wohnorte  wohnen  zu  lassen.  Freilich  könnte 
man  sagen,  die  von  Micha  zuerst  ausgegangene  Drohung,  auch 
Tempel  und  Tempelberg  könnten  der  Verwüstung  preisgegeben,  also 
Jahwe  nach  seinem  eigenen  Willen  genötigt  werden,  seine  irdische 
Wohnstätte  zu  verlassen  (vgl.  Ez.  10,18fif.;  11,22 ff.),  habe  den 
grundlegenden  Anstoß  zu  der  Entwicklung  innerhalb  der  jüdischen 
religiösen  Vorstellungswelt  gegeben,  die  schließlich  auch  zu  dem 
Gebrauch  des  üt  Jahwes  in  dem  hier  fraglichen  Sinne  führte. 

Nach  den  bisherigen  Ausführungen  haben  wir  also  keine  sichere 
prophetische  Stelle,  die  beweisen  könnte,  daß  der  Namenglaube  oder 
-aberglaube  in  der  religiösen  Vorstellungswelt  oder  Rede  des  8.  Jahr- 
hunderts heimisch  gewesen  sei.    Zu  dem  gleichen  Ergebnis  gelangen 


Giesebrecbt,  Die  alttesfamentlicbe  Schätzung  des  Gottesnamens.  183 

wir  aber  nun  auch  für  das  7.,  das  letzte  vorexilische,  Jahrhundert. 
Zunächst  finden  wir  weder  bei  Nahum,  noch  Habakkuk,  noch  *Oba(]ya 
(ür'obadja)  etwas  derartiges.  Bei  Sefanja  (c.  630)  freilich  stoßen  wir 
auf  ein  paar  Stellen,  die  vom  ülb  Jahwes  reden  und  zur  Diskussion 
gestellt  werden  können.  Aber  zweifelhaft  ist  es  auch  hier  wieder, 
ob  die  Stellen  wirklich  echt  sind.  Zeitlich  vorauf  gingen  die 
schlimmen  Zeiten  der  Könige  Manasse  und  Amon.  Wie  wenig  wir 
von  ihnen  auch  wissen,  so  viel  aber  wissen  wir  doch,  daß  zu  ihrer 
Zeit  und  wohl  auch  durch  ihre  Schuld  ein  starker  Strom  fremden 
religiösen  Wesens  oder  Unwesens  in  Juda  und  Jerusalem,  ja,  bis  in 
die  Räume  des  Jahwetempels  selbst  hineinflutete.  Es  ist  daher  wohl 
begreiflich,  daß  die,  wie  gesagt,  vielleicht  in  Michas  Prophetie  ge- 
schichtlich wurzelnde  Richtung  im  religiösen  Glauben  und  Denken, 
die  darauf  hindrängte,  das  heilige  Wesen  Jahwes  von  der  Berührung 
mit  der  irdischen  Unreinheit  zu  scheiden  und  das  innerweltliche 
Wirken  des  heiligen  Gottes  durch  causae  mediae  begreiflich  zu 
machen,  in  dieser  Zeit  starke  Förderung  erfuhr.  Aber  daß  sie 
gleich  den  Gebrauch  des  ütt  Jahwes  herbeigeführt  habe,  ist  doch 
nicht  sicher,  kann  meines  Erachtens  auch  aus  dem  Sefanjabüchlein 
nicht  erwiesen  werden. 

Die  in  ihm  in  Betracht  kommenden  Stellen  stehen  alle  im 
3.  Kapitel.  Dies  3.  Kapitel  gilt  nicht  wenigen  Kritikern  (vgl.  Marti) 
ganz  als  unecht;  andere  (vgl.  Nowack)  beanstanden  nur  einzelne 
Teile  desselben  (in  wie  weit  mit  Recht,  kann  hier  nicht  untersucht 
werden).  Ungewiß  ist  jedenfalls  die  Echtheit  seines  Inhalts  im 
ganzen  überlieferten  Umfange.  Es  ist  möglich,  daß  fremde  Hände 
darin  tätig  waren,  also  auch,  daß  eine  Vorstellung  wie  die  vom 
üw  Jahwes  später  eingearbeitet  ist. 

Zunächst  lesen  wir  3,9  die  Redewendung  '^''^  DM  «np  im  Sinne 
der  kultischen  Anrufung  und  Verehrung.  Bemerkenswert  ist  schon, 
daß  diese,  an  sich  ja  mit  dem  Namenglauben  nicht  notwendig  zu- 
sammenhängende, Wendung  in  keiner  älteren  Prophetenschrift  vor- 
kommt außer  Jes.  12,4,  d.  h.  in  einem  schwerlich  jesajanischen 
Hymnus.  Nicht  minder  beachtenswert  ist  die  Tatsache,  daß  sie  auch 
dem  Zeitgenossen  Sefanjas,  dem  Propheten  Jeremia,  nicht  gerade 
besonders  geläufig  gewesen  zu  sein  scheint.  Wir  finden  sie  Jer.  10, 25 
(=  Ps.  79, 6  f.)  in  einem  kritisch  anfechtbaren  Satze,  sodann  nur 
noch,  so  viel  ich  sehe,  44,26,  dort  aber  vom  Nennen  des  Namens 
Jahwes  beim  Schwur,  d.h.  in  der  (feststehenden)  Schwurformel. 
Sonst  findet  sich  n«  »np  29,12  und  b« 'p  11,14;  33,3,  aber  ohne 
DID.  Von  Jeremia  aus  läge  daher  der  Schluß  nahe,  auch  Sefanja  sei 
jene  Redewendung  nicht  geläufig  gewesen;  es  sei  also  das  kritische 


184  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Bedenken  gegen  die  Echtheit  von  v.  9. 10  nicht  unbegründet.  Be- 
weiskräftiger würde  dagegen,  Echtheit  vorausgesetzt,  y.  12  sein  (vgl. 
Giesebrecht  S.  41),  und  die  maßvollere  Kritik  läßt  v.  11—13  unan- 
gefochten. Der  Satz  'i")  Dtin  ^on*}  läßt  wirklich  den  >Namen<  Jahwes 
als  eine  Macht  oder  ein  Machtwesen  erscheinen,  wobei  man  wirk- 
samen Schutz  gegen  alle  Gefahren  finden  kann.  LXX  bietet  ab- 
weichend und  Beachtung  verdienend :  xal  s^XaßiQ^aovtat  inb  too  6v6- 
(iatoc  xopCoo  ot  xatdXoiTcoi  too  'lapai^X,  aber  es  könnte  vom  Svo(i.a  xop. 
die  gleiche  Vorstellung  enthalten,  wie  die  hebräische  Lesart  (vgl. 
Giesebrecht  S.  42),  wenngleich  es  meines  Erachtens  nicht  unbedingt 
nötig  ist,  in  der  Wendung :  den  Namen  Gottes  fürchten,  sich  vor  ihm 
scheuen,  ohne  weiteres  eine  realistische  Auffassung  des  > Namens« 
neben  Jahwe  im  Sinne  des  Namenglaubens  zu  suchen.  Bedenklich 
wird  aber  die  Sache,  wenn  wir  feststellen  müssen,  daß  im  ganzen 
Alten  Testamente  nur  an  dieser  einen  Stelle  non  mit  '''''  nm  ver- 
bunden vorkommt,  überall  sonst  wird  es  ohne  Scheu  unmittelbar  mit 
mn"»n  oder  a  mit  entsprechendem  Pronominalsuffix  verknüpft.  Nach 
meinem  Gefühl  verträgt  sich  mit  v.  12*  auch  nicht  recht  'te''  tr^^vcD 
in  V.  13*.  Mir  scheint  hier  am  ursprünglichen  Texte  gearbeitet  zu 
sein.  Wie  der  ursprüngliche  Text  gelautet  haben  mag,  lasse  ich  un- 
erörtert  (es  käme  auch  der  Rhythmus  in  Betracht).  Ich  halte  es 
für  sehr  wahrscheinlich,  daß  ^''^  ütb^  von  jüngerer  Hand  herrührt. 
Einfaches  ''a  (woraus  leicht  mn^^a  entstehen  konnte)  wäre  in  der 
persönlichen  Jahwerede  ohnehin  angemessen.  Und  warum  steht  3,2 
nur  Ttin'^a  rroa  und  nicht  auch  •»'•»  Dtia?  Es  läßt  sich  also  jedenfalls 
auch  mit  dieser  Stelle  nicht  beweisen,  Sefanja  habe  den  Namen- 
glauben vertreten.  —  Die  Stelle  3, 20 :  ninribn  Dtob  kommt  sachlich 
nicht  weiter  in  Betracht.  Ich  bemerke  nur,  daß  auch  diese  Wort- 
verbindung, so  weit  ich  sehe,  in  älteren  Prophetenschriften  nie  vor- 
kommt, sondern  sich  zuerst  ein  paarmal  im  Jeremiabuche  findet 
(13,11;  33,9,  hier  fehlt  aber  üt  in  LXX,  ähnlich  32, 20:  sich  DV 
machen). 

Bis  auf  Sefanja  herab  fehlen  also  sichere  prophetische  Zeug- 
nisse für  das  Vorhandensein  der  abergläubischen  Schätzung  des 
Gottesnamens  im  religiösen  Denken  und  Beden  der  vornehmsten 
Träger  des  Jahweglaubens.  Anders  wird  das  Bild,  sobald  wir  an 
das  Jeremiabuch  kommen.  Das  Buch  bietet  eine  große  Zahl  von 
Stellen,  wo  der  >Name<  Jahwes  in  der  einen  oder  anderen  Ver- 
bindung gebraucht  wird,  die  im  Sinne  des  Namenglaubens  gedeutet 
werden  zu  müssen  scheint.  Das  ist,  zumal  nach  unserem  bisherigen 
Ergebnis,  doch  recht  auffällig.  Es  erfordert  genauere  Untersuchung, 
ob  wirklich  Jeremia  selbst  für  das  fast  plötzliche  Auftauchen  so 


Giesebrecht,  Die  ftlttfistamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  185 

vieler  derartiger  Stellen  in  seinem  Buche  verantwortlich  gemacht 
werden  darf.  Und  müßten  wir  die  Frage  bejahen,  so  ständen  wir 
sofort  vor  der  weiteren  Frage,  wie  es  sich  erkläre,  daß  gerade  bei 
diesem  Propheten  zuerst  jener  Namenglaube  und  der  ihm  Ausdruck 
gebende  Sprachgebrauch  hervortritt  und  zwar  gleich  in  so  starkem 
Maße ;  ob  sich  etwa  schon  in  der  älteren  nichtprophetischen  Literatur 
vorbereitende  Spuren  davon  vorfinden  oder  ob  wir  von  anderwärtsher 
eine  Erklärung  für  die  auffällige  Erscheinung  zu  gewinnen  ver- 
mögen. 

Nun  stelle  ich  aber  sofort  die  sehr  bedeutsame  Tatsache  fest, 
daß  sich  alle  Stellen  des  Buches,  wo  vom  Dti  Jahwes  in  irgend  einer 
hier  in  Betracht  kommenden  Verbindung  die  Rede  ist,  außerhalb  von 
c.  1 — 6  finden,  d.  h.  außerhalb  des  großen  (wenigstens  c.  2— 6  um- 
fassenden) Zusammenhangs,  in  dem  man  zu  allemächst  berechtigt 
ist,  jenes  erste  Weissagungsbuch  zu  suchen,  das  nach  c.  36  Jeremia 
persönlich  dem  Baruch  in  die  Feder  diktierte.  Nur  3, 17  begegnet 
eine  Stelle,  die  dieser  Feststellung  zu  widersprechen  scheint  Indes, 
sie  gehört  zu  einem  den  ursprünglichen  Zusammenhang  sprengenden 
Einschub,  gleichviel,  ob  man  diesen  Einschub  auf  3,14—18  be- 
schränkt, wie  ich  tue,  oder  ihm  mit  anderen  größere  Ausdehnung  gibt. 
Obendrein  hat  LXX  in  ihrer  Vorlage  die  Worte  rhtnr^b  mry^  Dtfc 
noch  nicht  gelesen;  sie  bilden  also  in  dem  Einschub  noch  einen 
jüngeren  Einschub.  Die  Tatsache  bleibt  also  bestehen,  daß  Jeremia 
in  diesen  Kapiteln  vom  *>'*>  ütD  nichts  weiß.  Das  ist  aber  um  so  be- 
deutsamer, als  es  auch  in  diesen  Beden  nicht  an  Gelegenheiten  ge- 
fehlt hätte,  statt  von  mn'>  vom  mrx^  ü6  zu  reden,  wenn  der  Prophet 
selbst  theologisch  das  Bedürfnis  gehabt  hätte,  der  darin  ausgeprägten 
Vorstellung  Ausdruck  zu  verleihen. 

Beachten  wir  nun  weiter,  daß  von  c.  7  an  nach  dem  Ausweise 
der  einleitenden  und  überleitenden  Formeln  die  Beden  Jeremias  fast 
durchgehends  von  anderer  Hand  berichtet  werden,  so  eröffiiet  sich 
uns  die  Möglichkeit,  das  Vorkommen  des  üW  Jahwes  ebensogut,  wie 
auf  Jeremia  selbst,  auf  jenen  Berichterstatter  (Baruch?)  zurück- 
zuführen, ja,  wer  weiß,  ob  wir  nicht  sogar  die  Redaktion  unseres 
gegenwärtigen  Jeremiabuches  dafür  verantwortlich  machen  dürften.  ^) 

1)  Dazu  ist  auch  die  TextdifFerenz  zwischen  LXX  und  dem  masoretischen 
Jeremiabache  nicht  zu  yergessen.  Sie  lehrt,  daB  sogar  noch,  als  die  der  LXX 
zugronde  liegende  Textgestalt  schon  nach  Aegypten  verpflanzt  war,  auf  palästi- 
nensischem Boden  am  Texte  redigiert  worden  ist  Es  müßte  also  auch  bei  jeder 
einzelnen  SteUe  die  Möglichkeit  erwogen  werden,  daß  an  ihr  Dti  ganz  spät  ein- 
gefügt und  vieUeicht  sogar  erst  nachträglich  in  die  handschriftliche  Tradition  der 
LXX  eingedrongen  sei.  Wir  sahen  ja  schon,  daß  3, 17  LXX  vom  ^vojia  Jahwes 
noch  nkdits  weiß. 

Q«tk.  f^  Am.  IM.  Vr.  9.  13 


186  Mit.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Damit  ist  aber  schon,  wie  man  zugeben  wird,  die  Gewißheit,  daß 
Jeremia  der  erste  in  der  Reihe  der  Propheten  gewesen  sei,  der 
vom  >  Namen  <  Gottes  im  fraglichen  Sinne  Gebrauch  gemacht,  stark 
erschüttert.  Wahrscheinlich  schwände  diese  Gewißheit  gänzlich,  wenn 
wir  bei  allen  Stellen  sicher  bestimmen  könnten,  wie  weit  für  ihren 
Wortlaut  fremde  Hände  verantwortlich  sind.  So  viel  ist  sicher,  viele 
der  in  Betracht  kommenden  Stellen  gelten  nicht  wenigen  Kritikern 
als  nichtjeremianisch.  Immerhin  aber  müssen  wir  mit  der  Möglich- 
keit rechnen,  daß  auch  Jeremia  selbst  schon  häufiger  vom  ülö  Jahwes 
geredet  und  dadurch  jüngerer  Zeit  Anlaß  geboten  hat,  Vorstellung 
und  Redeweise  von  diesem  DID  stärker  zu  beleben  und  ihr  auch  in 
seinem  Buche  stärkeren  Eingang  zu  verschaffen.  Meines  Erachtens 
läßt  sich  jedoch  mit  einigermaßen  genügender  Sicherheit  nur  eine 
Redewendung  auf  ihn  selbst  zurückführen  und  dazu  noch  eine  im 
Grunde  ziemlich  harmlose. 

Die  Redewendung,  die  ich  meine,  ist  die,  welche  das  göttliche 
Eigentumsverhältnis  zu  einer  Person  oder  Sache  umschreibt  und  so 
lautet:  b? ''''»  DtD  «npj?.  Wir  finden  sie  7,10.11  (ob  hier  wirklich 
ursprünglich?).  14  (ebenso?  man  beachte  den  Paseqstrich).  30; 
14,9;  15,16  (auch?);  25,29;  32,34  (=  7,30);  34,15  (Dan.  9,18.19 
beruhen  wohl  auf  einer  Nachwirkung  Jeremias).  Der  Ausdruck  an 
sich  entstammt  der  Umgangssprache  und  dürfte  geläufiger  gewesen 
sein,  als  die  beiden  einzigen,  dahin  gehörigen  Beispiele  2.  Sam.  12,28; 
Jes.  4,1  vermuten  lassen.  Natürlich  bleibt  möglich,  daß  er  auch 
schon  vor  Jeremia  zur  Bezeichnung  des  Verhältnisses  Jahwes  zu 
irgend  einem  persönlichen  oder  sachlichen  Objekte  gebraucht  wurde, 
aber  bemerkenswert  ist  doch,  daß  vor  ihm  tatsächlich  kein  prophe- 
tisches Buch  den  Ausdruck  verwendet.  Die  einzige  Stelle  Am.  9, 12 
ist,  wie  wir  sahen,  ja  kritisch  recht  anfechtbar  und  angefochten. 
Ebenso  ist  bemerkenswert,  daß  in  der  außerprophetischen  Literatur, 
so  weit  sie  beanspruchen  kann,  aus  voijeremianischer  Zeit  zu  stammen, 
der  Ausdruck  auch  nicht  sicher  nachweisbar  ist.  2.  Sam.  6,2; 
1.  Reg.  8,43,  ja,,  sogar  Deut.  28,10  sind  hinsichtlich  ihres  Alters 
zweifelhaft;  sie  köonen  deuteronomistisch  sein,  also  gerade  so  gut 
nach-  wie  v o r jeremianisch.  Freilich  auch  in  der  späteren  Literatur 
ist  der  Ausdruck  selten.  Er  findet  sich  nur  noch  Jes.  63, 19;  1.  Chron. 
13,6  (Text  korrupt,  vgl.  2.  Sam.  6,2),  2.  Chron.  6,33  (==  1.  Reg. 
8,43);  7,14;  Esra  5,1;  (vgl.  Jer.  15,16).  Nach  allem  liegt  die  An- 
nahme recht  nahe,  die  Anwendung  des  Ausdrucks  auf  Jahwe  und  ihm 
Gehöriges  sei  überhaupt  nur  jeremianisch  und,  wo  sie  sich  sonst 
findet,  sei  sie  unter  dem  Einfluß  Jeremias  eingedrungen.  Und  daß 
Jeremia  sich  der  Redewendung  zu  bedienen  begann,  ließe  sich  reli- 


Giesebrecbt,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  187 

gionsgeschichtlich  und  psychologisch  auch  noch  ziemlich  begreiflich 
machen. 

Bedenken  wir  die  Ursache  seiner  Ankündigung  des  Gerichts 
nicht  blos  über  Land  und  Volk,  sondern  auch  über  Jerusalem  und 
sogar  den  Tempel,  erinnern  wir  uns  des  fremden  Kultus,  dessen  sich 
das  Volk  schuldig  gemacht  und  der  bis  in  die  geheiligten  Räume 
des  Jahwetempels  eindrang,  dann  begreifen  wir,  wie  es  kam,  daß 
der  Prophet  so  umständlich,  d.  h.  aber,  so  nachdrücklich  darauf  hin- 
zuweisen das  Bedürfnis  hatte  oder  haben  konnte,  der  Tempel  trage 
doch  den  Namen  Jahwes  als  seines  Besitzers  und  nicht  den  irgend 
eines  Baal  und  das  Volk  heiße  doch  Jahwes  Volk  und  nicht  Volk  der 
Himmelskönigin  oder  irgend  eines  Baal.  Ja,  so  begreift  sich  auch, 
daß  er  sich  selbst  im  Gegensatz  zu  dem  abgefallenen  Volke  als 
Jahwes  Knecht  so  bezeichnet,  denn  als  sein  Prophet  ist  er  in  Wahr- 
heit auch  vornehmlich  Träger  des  Namens  vor  allem  Volk.  Es  be- 
darf schließlich  aber  kaum  besonderer  Erwähnung,  daß  in  dieser 
Redewendung  nichts  ist,  das  auf  jenen  Namenaberglauben  hinweisen 
müßte.  Ob  der  >Name<  Jahwes  im  Sinne  dieses  Glaubens  auch  oder 
vielmehr  schon  für  Jeremia  Bedeutung  hatte,  müßte  sich  aus  dem 
weiteren  Gebrauche  in  seinem  Buche  ergeben ;  aus  jener  Redewendung 
kann  es  jedenfalls  nicht  geschlossen  werden. 

Diesen  Beweis  liefern  natürlich  auch  die  oben  zu  Sef.  3, 20  er- 
wähnten Stellen  nicht,  wo  Ü16  im  Sinne  von  Ruhm,  Ehre  Jahwes 
vorkommt,  ebensowenig  auch  das  nur  zweimal  vorkommende  Tpati  pjü\> 
14,7.21  oder  der  Satz,  Jahwes  Namen  vergessen  über  (=  ihn  ver- 
tauschend mit)  dem  Baal  (b:?^^)  23,27  (zweimal,  aber  an  der  ersten 
Stelle  ist  der  Text  zweifelhaft,  vgl.  LXX),  wo  vielleicht  (meines 
Erachtens  sehr  wahrscheinlich)  ursprünglich  sogar  dem  b:^ni  nur 
•^nn«  gegenüberstand  (vgl.  weiter  unten!).  Ueber  Dtin  «np  habe  ich 
zu  Sef.  3, 9  auch  schon  das  Nötige  gesagt. 

Ziemlich  oft  findet  sich  nun  aber  der  Ausdruck  ^'^  DtDl  K^3: 
11,21;  14,124 f.;  23,25;  26,9.16.20;  27,15;  29,9.21  oder  Dtön'na^: 
20,9;  29,23;  44,16.  Ob  alle  Sätze  echt  jeremianisch  sind,  sei  dahin- 
gestellt. Zur  Bedeutung  des  Dlbn  an  diesen  Stellen  vgl.  Giesebrecht 
S.  24;  Giesebrecht  gibt  zu,  daß  26,16.20  Diön  >den  positiven  Auf- 
trage Jahwes  bezeichnen  könne;  ich  meine,  man  könne  dies  zu  allen 
Stellen  sagen.  Freilich  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  falschen 
Propheten  so  gut  wie  die  echten  bei  ihren  Aussagen  den  Jahwe- 
namen  aussprechen.  Auch  sie  wollen  als  nnn*>  "»ö  (vgl.  Jer.  15,19; 
23,16)  gelten,  genau  so  wie  die  wirklich  von  Jahwe  berufenen  Pro- 
pheten, denn  auch  ihre  Autorität  beruht  auf  diesem  Anspruch.  Nun 
beachte  man,  2,8;  23,13  steht   >weisBagen<  b$$$,  also  ohne  Dtü; 

13* 


188  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

ähnlich  lesen  wir  23,27  als  Objekt  zu  rot?  einerseits  ^laiD,  anderer- 
seits aber  das  einfache  b:?a.  Dem  b:^än  bei  K^  (oder  nan)  würde 
also  eigentlich  Tr\n^^  (oder  pronom.  ^2)  entsprechen.  Sollte  Jeremia 
selbst  nicht  wirklich  so  gesprochen  haben  und  die  Form  mit  DID  von 
jüngerer  Hand  in  seine  Ausdrucksweise  hineinkorrigiert  sein?  Hätte 
Jeremia  selbst  bei  Jahwe  vom  ütö  geredet,  beim  Baal  aber  nicht,  so 
bewiese  das  allerdings,  daß  in  seiner  religiösen  Denkweise  die  Ten- 
denz, Jahwes  persönliches  transzendentes  Wesen  vom  Diesseits  zu 
scheiden,  schon  wirksam  zu  werden  begonnen  hatte.  Aber  hat 
Jeremia  selbst  wirklich  so  gesprochen  und  geschrieben?  Das  ist  die 
Frage.  Zu  einer  Verneinung  dieser  Frage  könnte  noch  eine  andere 
Beobachtung  Anlaß  geben.  12,16  vgl.  44,26  (dazu  weiter  unten) 
finden  wir  :P^ld^  mit  "^^  DVD  verbunden.  Das  ist  an  sich  unaufiällig, 
weil  beim  Schwur  ja  der  Name  Jahwes  wirklich  ausgesprochen  wird. 
Aber  merkwürdigerweise  steht  12,16  auch  wieder  daneben  das  bloße 
b:?^,  und  22,5;  49,13  sagt  Jahwe:  ^nsfät^s  *'^,  formell  also  ent- 
sprechend b:^U.  Dieses  Schwanken  in  der  Form  des  Ausdrucks  legt 
es  meines  Erachtens  doch  sehr  nahe,  zu  vermuten,  in  dieser  wie  in 
jener  Redewendung  gehe  DID  nicht  auf  Jeremia  selbst  zurück.  Jeden- 
falls ist  seine  Herkunft  von  ihm  sehr  zweifelhaft. 

Im  Jeremiabuche  stoßen  wir  nun  auch  wieder  auf  das  an  vier 
zweifelhaften  Stellen  bei  Arnos  vorkommende  formelhafte  n'Qtü  Tr\TV^ 
33,2  oder  "«)m«as  nin'>  10,16;  31,35»»  (=  Jes.  51,15);  32,18;  50,34; 
51,19  (=  10,16);  an  drei  Stellen  geht  ?[bian  D«D  vorher:  46,18; 
48,15;  51,57.  Von  all  diesen  Stellen  ist  auch  nicht  eine  einzige 
unangefochten  und  vielleicht  auch  keine  wirklich  unanfechtbar  (vgl. 
Giesebrecht  S.  31).  Und  das  gilt  auch  von  der  zwar  von  Giesebrecht 
a.  a.  0.  nicht  mitbesprochenen  (vgl.  jedoch  S.  43),  aber  hierherge- 
hörigen Stelle  16,21  (und  sie  werden  erkennen,  Tv\rv^  ^lOilO  '^i).  Handelt 
es  sich  nun  aber  hier  überall,  wie  in  den  Amosstellen,  um  Erzeug- 
nisse irgend  eines  nicht  mit  Jeremia,  ja,  wahrscheinlich  sogar  nicht 
einmal  mit  Baruch  identischen  Schriftstellers,  so  ergibt  sich,  daß  wir 
innerhalb  der  prophetischen  Literatur  bis  einschließlich  Jeremia  jene 
Formel  überhaupt  nicht  finden.  Erst  bei  Deuterojesaja  resp.  im 
Deuterojesajabuche  (vgl.  Giesebrecht  a.  a.  0.)  —  denn  auch  bei 
Ezechiel  begegnet  sie  uns  nirgends  —  stoßen  wir  auf  sie  in  ursprüng- 
lichem Zusammenhang  (ob  48,2  dazu  gehörig?)  oder  doch  auf  Sätze, 
die  auf  diese  Formel  inhaltlich  und  im  Wortlaut  zurückführen,  die 
aber  auch  mindestens  noch  nicht  viel  von  dem  verspüren  lassen,  was 
man  unter  Namenglauben  versteht  und  Giesebrecht  tatsächlich  her^ 
ausfühlen  zu  müssen  meint.  Wir  haben  meines  Erachtens  darin 
vielmehr  einen  Widerhall  und  Nachball  des  bei  Ezechiel  so  häufig 


Giesebrecht,  Die  alttestamentUche  Schätzung  des  Gottesnamens.         189 

Yorkommenden  Satzes  zu  erkennen,  Jahwes  Wirksamkeit  werde  zur 
Folge  haben,  daß  man  erkenne,  daß  er  Jahwe  sei.  Und  das  er- 
innert femer  auch  an  das  nachdräckliche,  für  das  Heiligkeitsgesetz 
80  charakteristische :  rtin*«  "^SK.  —  Mir  scheint  also  der  nachgewiesene 
einfache  Tatbestand  mit  aller  Bestimmtheit  zu  erweisen,  daß  jene 
Formel  in  der  prophetischen  Bede  erst  in  nachjeremianischer  Zeit 
Eingang  gefunden  und,  soweit  erkennbar  ist,  Deuterojesaja  der  erste 
Prophet  war,  der  sie  in  seiner  ja  in  sehr  gehobenem  Tone  dahin- 
fließenden Rede  verwendet  hat.  Natürlich  ist  damit  nicht  auch  aus- 
geschlossen, daß  die  Formel  in  der  außerprophetischen  religiösen 
Sprache  auch  schon  früher  geläufig  war.  Aber  ob  das  wirklich  der 
Fall  gewesen,  müssen  wir  hernach  auch  prüfen,  und  dabei  wird  sich 
alsdann  herausstellen,  ob  Giesebrechts  Urteil  (S.  33),  die  Formel 
weise  »auf  bestimmte  Vorstellungen  vom  Namen  Jahwes  zurück,  die 
schon  der  vorexilischen  Zeit  angehört  haben  müßten  c,  nicht  doch 
einer  ernstlichen  Einschränkung  bedarf.  Was  wir  bisher  gesehen 
haben,  ist  Giesebrechts  Urteil  sicher  nicht  günstig. 

Auch  10,6,  der  Satz,  groß  sei  Jahwes  Name  rrrin^  (vgl.  Giese- 
brecht  S.  28),  kommt  für  Jeremias  Vorstellungswelt  nicht  in  Be- 
tracht. Zunächst  stelle  ich  fest,  daß,  auch  wenn  man  nicht,  wie  viele 
tun,  den  ganzen  Abschnitt  10,1—16  Jeremia  abspricht,  doch  v.  6—8 
als  Zusatz  ausgeschieden  werden  müssen,  weil  sie  der  Grieche  nicht 
gelesen  hat.  Im  übrigen  sehe  ich  auch  nicht  ein,  daß  man  hier  an 
etwas  anderes  als  an  Jahwes  Buhm  um  seiner  Heldenkraft  und  ihrer 
geschichtlichen  Bezeugungen  willen  denken  muß.  —  Auch  für  44,26, 
wo  Jahwe  bei  seinem  großen  Namen  schwört,  ist  die  jeremianische 
Herkunft  sehr  ungewiß,  aber  es  ist  meines  Erachtens  in  »dem  großen 
Namen<  im  Zusammenhang  der  Bede  auch  nichts  mehr  zu  suchen 
als  ein  Hinweis  auf  Jahwes  Größe  im  Verhältnis  zu  der  vom  Volke 
verehrten  heidnischen  Gottheit.  —  Auf  die  einsame  Stelle  34,16  ist 
schon  oben  S.  176  zur  Genüge  hingewiesen  worden. 

Es  bleibt  noch  7,12.  Giesebrecht  (S.  35f.)  hat  die  Gründe  ein- 
gehend gewürdigt,  die  gegen  jeremianische  Herkunft  des  in  Frage 
stehenden  Belativsatzes  'y^  '^ins^ip  ni^2^,  sprechen  können.  Auch  hat 
er  auf  die  sicher  sehr  auffällige  Singularität  des  Ausdrucks  üt6  plD 
gegenüber  dem  oben  besprochenen  bv  Dtü  vnp:  hingewiesen  und  es 
für  möglich  erklärt,  daß  diese  Wendung  einst  auch  hier  stand,  dann 
aber  von  > einem  an  die  Darstellung  der  Deuteronomisten  gewöhnten 
Schreiberc  unabsichtlich  ersetzt  wurde.  Wir  können  von  dieser  Mög- 
lichkeit absehen.  Meines  Erachtens  stößt  sich  der  Belativsatz  mit 
dem  vorausgehenden  'ib^^a  n^K  *>^pt3  zu  arg,  als  daß  er  ursprünglich 
sein  könnte.   Man  beadite  das  Suffix  in  "nahpts.   Darin  liegt  ja  deut- 


190  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

lieh  genug,  worauf  es  ankommt.  Aber  gerade  das  allgemeine  ü^pü 
konnte  einen  späteren  Leser,  vielleicht  schon  den  Bedaktor  des 
jetzigen  Jeremiabuches ,  veranlassen,  den  Relativsatz  hinzuzufügen, 
um  das  noch  bestimmter  auszudrücken,  was  eigentlich  schon  im 
Suffix  ausgesprochen  war,  nämlich  daß  Jahwe  dort  seiner  Zeit  wirk- 
lich seine  Wohnung  gehabt  habe.  Auch  in  v.  14  ist,  wie  schon 
früher  angedeutet,  der  erste  Relativsatz  sehr  wahrscheinlich  einge- 
schoben, und  V.  12  entspricht  meines  Erachtens  diesem  v.  14  in 
seiner  wahrscheinlich  ursprünglichen  Gestalt  auch  viel  genauer,  wenn 
er  ohne  jenen  Relativsatz  gelesen  wird.  —  Zu  alledem  kommt  nun 
aber  auch  noch,  daß  es  unerweislich  ist,  wie  wir  bisher  gesehen,  daß 
Jeremia  überhaupt  den  Namenglauben  besessen  hat,  der  in  dem 
Ausdruck  DID  "fslO  ausgesprochen  wird.  Freilich  mag  seine  Prophetic 
von  der  möglichen,  ja,  schließlich  der  unvermeidlichen  Zerstörung 
auch  des  Tempels,  worin  er  der  Nachfolger  Michas  war  (vgl.  c.  26), 
auch  seine  Redewendung  "an  «^pa,  allenfalls  auch,  wenn  von  ihm 
selbst  herrührend,  die  Verbindung  von  KSi:  pa^i)  mit  ^'^  Dtin  statt 
des  einfachen  nin*>n,  auf  die  Förderung  der  deuteronomistischen  Vor- 
stellung und  ihres  sprachlichen  Ausdrucks  von  entscheidender  Ein- 
wirkung gewesen  seih,  aber  daß  Jeremia  selbst  die  Vorstellung  vom 
üW  Jahwes  als  einem  im  Tempel  gleichsam  aufgestellten  selbständigen 
Machtwesen  neben  Gott  wirklich  gehabt  habe,  dem  widerspricht,  so- 
viel ich  sehe,  seine  theologische  Gedankenwelt,  wenn  wir  sie  in 
ihrem  ganzen  Umfange  auffassen,  durchaus.  Ja,  selbst  für  die  Volks- 
vorstellung seiner  Zeit  läßt  sie  sich  nicht  ohne  weiteres  behaupten, 
wenigstens  ließe  sich  dagegen  das  7, 4  stehende  nin*»  by^n  mit  einigem 
Gewicht  geltend  machen.  —  Sehr  wesentlich  verstärkt  wird  diese 
Beweisführung  durch  die  Tatsache,  daß  auch  Ezechiel  noch  die 
Redewendung  'y)  Ulb  )^10  nicht  kennt,  und  diese  Tatsache  rückt  in 
eine  besonders  wirksame  Beleuchtung,  wenn  wir  bei  ihm  lesen,  nicht 
>der  Name«  Jahwes  verlasse  vor  der  Zerstörung  Jerusalems  Tempel 
und  Stadt  und  kehre  hernach  wieder  dorthin  zurück,  sondern  sein 
niM  (vgl.  Ez.  ll,22flf.;  43, Iff.).  Dazu  läßt  sich  auch  nicht  sagen, 
bei  ihm  werde  (z.B.  43, 7  ff.)  der  >heilige  Namec  Jahwes  von  dem 
transzendentalen  Lichtwesen  Jahwes  unterschieden.  Aber  wohl  läßt 
sich  vielleicht  hier  bei  Ezechiel  ein  weiterer  Anknüpfungspunkt  er- 
kennen, von  dem  aus  die  hier  in  Frage  stehende  Vorstellung  und 
Redeweise  vom  iNamenc  Jahwes  hernach  begreiflich  werden  würde. 
Nun  war  aber  Ezechiel  wie  Jeremia  priesterlicher  Herkunft,  auch 
sicher  als  schon  erwachsener,  wenn  auch  noch  jugendlicher  Mann  ins 
Exil  gefuhrt  worden.  Wir  dürfen  also  wohl  schließen,  daß  ihm  von 
Haus  aus  jedenfalls  jene  Redewendung  ebenso  wenig  geläufig  war, 


Oiesebrecht,  Die  alttesiamentliche  Seh&txmig  des  Gottesnamens.         191 

wie  seinem  Priestergenossen  Jeremia.  Das  dürfte  dann  aber  doch 
wohl  gleichbedeutend  sein  mit  der  Gewißheit,  daß  auch  jener  Namen- 
glaube überhaupt  beiden  und  dem  Kreise,  aus  dem  sie  hervor- 
gegangen, um  600  herum  noch  etwas  Fremdes  war.  Nun  findet  sich 
die  Redewendung  'y\  pt  freilich  auch  nicht  bei  Deut.-Jes.,  ja,  auch 
bei  keinem  der  noch  später  lebenden  Propheten;  selbst  in  der 
priesterlichen  Schrift  sucht  man  sie  vergeblich,  so  oft  auch  in  ihr 
P^  mit  TOD  Jahwe  verbunden  steht  oder  )^tü  von  Jahwes  Wohn- 
stätte gesagt  wird.  Aber  gerade  auch  dies  rechtfertigt  dann  umso 
mehr  die  Vermutung ,  daß  in  Jer.  7,12  der  fragliche  Relativsatz  von 
irgend  einer  fremden  Hand  eingefügt  wurde.  Wo  die  literarische 
Heimat  der  Redewendung  ist,  wird  sich  hernach  vielleicht  deutlich 
ergeben. 

Das  Ergebnis  unserer  Untersuchung  der  prophetischen 
Literatur  ist  nach  allem,  wie  ich  meine,  ziemlich  klar  und  sicher. 
Stades  These  ist,  soweit  diese  Literatur  in  Betracht  kommt,  wirklich 
wohl  begründet.  Nachweisbar  beginnt,  wie  es  scheint,  erst  mit 
Jeremia  in  der  Sprache  der  Prophetie  der  >Name<  Jahwes  stärker, 
wenn  auch  zunächst  noch  in  recht  harmlosem  Sinne,  immerhin  aber 
doch  derart  hervorzutreten,  daß  sich  mit  seiner  Verwendung  in  der 
religiösen  Vorstellung  nach  und  nach  jener  Namenaberglaube  ver- 
binden konnte.  Und  wir  sahen  gelegentlich  ja  auch,  daß  die  bis- 
herige Entwicklung  des  Inhalts  der  Glaubenswelt  Keime  in  sich 
barg,  die  geeignet  waren,  sich  in  der  Richtung  jenes  Aberglaubens 
zu  entwickeln,  falls  etwa  noch  von  anderer  Seite  her  dieser  Namen- 
glaube nahegebracht  werden  mochte. 

Doch  wie  stehts  nun  mit  der  älteren  außerprophetischen 
Literatur?  Stimmt  ihr  Zeugnis  mit  dem  der  prophetischen  überein? 
Man  muß  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  Propheten  Vorstellungen 
und  Redewendungen  mieden,  die  der  volkstümlichen  Religiosität  ge- 
läufig und  durchaus  unanstößig  waren,  aus  begreiflichen  Gründen 
auch'  leichter  in  geschichtlicher  Darstellung  Raum  fanden  als  in 
prophetischer  Thora.  —  Freilich  berührte  ich  schon  gelegentlich 
Tatsachen,  die  zu  erweisen  scheinen,  daß  man  in  den  älteren  Zeiten 
in  den  wirklich  religiösen  Kreisen  des  Volkes  in  der  hier  fraglichen 
Beziehung  weder  anders  dachte,  noch  anders  redete,  als  von  den 
Propheten  geschah.  Man  hatte  im  Volke  noch  weniger  als  in  der 
Prophetie  das  Bedürfnis,  in  der  Vorstellung  und  Rede  Jahwe  von 
der  diesseitigen  Welt  zu  scheiden.  Man  dachte  und  redete  von  ihm 
und  seinem  innerweltlichen  Dasein  und  Walten  in  harmlos  mensch- 
licher Weise.  Der  Tempel  war  »Jahwes  Haus<;  niemand  dachte 
daran,  vom  >Hau8e  des  Namens  Jahwes«   zu  reden.    Und  sehen 


192  Gott.  gd.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

wir  genauer  zu,  so  ergibt  sich,  daß  auch  in  der  älteren  außer- 
prophetischen, der  poetischen  wie  erzählenden  Literatur,  nichts  Yor- 
kommt,  das  ernstlich  mit  unseren  Beobachtungen  an  der  prophe- 
tischen Literatur  in  Widerspruch  stände.  Wo  sich  dergleichen  findet 
oder  zu  finden  scheint,  ist  genügende  Veranlassung  zu  der  Annahme 
vorhanden,  daß  wirdeuteronomistischer  Textbearbeitung  gegen- 
überstehen. Allerdings,  wollten  wir  jetzt  zu  einem  absolut  sicheren 
Ergebnis  gelangen,  so  müßten  wir  die  älteren  Quellen  sorgfältig  und 
reinlich  von  Zutaten  jüngerer  redaktioneller  Bearbeitung  scheiden 
und  auch  die  als  Zutaten  erkannten  Textbestandteile  auf  ihre  Her- 
kunft und  die  Zeit  ihrer  Entstehung  genauer  Prüfung  unterwerfen. 
Natürlich  muß  hier  von  dieser  Aufgabe  abgesehen  werden.  Aber  ich 
denke,  es  wird  damit  der  Wert  unseres  Ergebnisses  nicht  allzu  sehr 
geschädigt. 

Die  ältesten  literarischen  Zeugnisse,  wie  z.B.  das  Debo  railed 
(auch  •fMb'Q  Jud.  5, 23  ist,  wie  schon  bemerkt,  nicht  ursprünglich),  der 
Tempel weihspruch  Salomos  (1. Reg.  8, 12 f.),  wissen  vom  >Namen< 
Jahwes  in  dem  fraglichen  Sinne  nichts.  Im  Bundesbuch  Ex.  20, 24^ 
(vgl.  dazu  23,13;  Jos.  23,7;  Hos.  2,19)  handelt  es  sich  um  kulti- 
sche Anrufung  Jahwes  mittels  des  Namens  Jahwe.  Nach  der  elo- 
histischen  Erzählung  Ex.  3, 13—15  soll  der  Jahwename  nach  Gottes 
eigener  Willensofienbarung  sein  nDT  sein.  Er  will  damit  angerufen 
werden  und  auf  die  Anrufung  auch  hören.  Man  könnte  im  Sinne 
des  Namenglaubens  allenfalls  sagen,  die  Nennung  des  Namens  übe 
auf  den  Angerufenen  eine  Macht  aus  und  zwinge  ihn  herbei.  Aber 
es  liegt  in  solchen  und  ähnlichen  Stellen  nicht  der  geringste  Anlaß 
vor  zu  der  Annahme,  der  >Name<  Gottes  habe  für  die  religiöse 
Vorstellung  schon  in  den  alten  Zeiten,  aus  denen  die  genannten 
Stellen  stammen,  eine  gewisse  Selbständigkeit  gegenüber  dem  persön- 
lichen transzendenten  Wesen  Jahwes  besessen.  Auch  Giesebrecht 
(vgl.  sein  Urteil  S.  26)  denkt  daran  nicht  ohne  weiteres;  nur  be- 
merkt er,  >die  intime  und  dauernde  Verknüpfung  des  Namens  mit 
dem  Kultus  scheine  am  Ende  eine  sehr  starke  Verselbständigung 
des  Namens  bewirkt  zu  haben  <.  Gewiß  ist  das  richtig,  nur  fragt 
sich,  von  wann  an  dies  eingetreten  ist.  Auch  die  außerprophetische 
Literatur  beweist  nicht,  daß  diese  Wirkung  sich  früh  geltend  ge- 
macht hat. 

Die  Zeugnisse,  die  unbedenklich  aus  älterer  Zeit  abgeleitet 
werden  können,  sind  auch  hier  wieder  merkwürdig  dünn  gesät. 
«i'S  Dtb  vnp  begegnet  uns  zunächst  nur  in  der  jahwistischen  Schrift 
Gen.  4,26;  12,8;  13,4;  21,33;  26,25,  vgl.  dazu  auch  Ex.  33,19; 
34,5.    Hierbei  handelt  es  sich  nur  um  die  Nennung  des  Namens 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Scbätzang  des  Gottesnamens.  198 

Jahwes,  um  Anrufang  Gottes  mit  seinem  Namen.  Nicht  auffällig  ist 
dann  auch,  daß  die  Bedewendung  für  die  ganze  kultische  Ver- 
ehrung, auch  für  die  am  Altare  mittels  der  Opfer,  gebraucht  wird, 
eben  weil  es  eine  Verehrung  Jahwes  am  Altare  ohne  wirkliche  An- 
rufung, wie  immer  diese  geschah,  sei  es  im  Gebet,  sei  es  im 
Hymnus,  nicht  gab,  und  die  Psalmen  zeigen  uns  genau  so,  wie  die 
sonst  in  der  Literatur  vorkommenden  Gebete,  daß  Gottes  Anrufung 
mit  seinem  Namen  Jahwe  ebenso  selbstverständlich  wie  gewöhnlich 
und  —  harmlos  war.  Das  gilt  auch  von  den  Stellen  in  der  Elia- 
geschichte, 1.  Reg.  18,24—26  ('»"■•Dm  v.  32  ist  sicher  fehlerhaft; 
in  der  hexaplarischen  und  lucianischen  Rezension  der  LXX  fehlt  es 
mit  Recht;  vgl.  Giesebrecht  S.  25  Anm.  1).  —  Sehr  bemerkenswert 
ist  nun,  daß  wir  diese  Redewendung  außer  beim  Jahwisten  und  in 
der  Eliageschichte  und  noch  einer  sogleich  zu  besprechenden  Stelle 
in  der  außerprophetischen  Literatur  bis  in  die  nach  exilische  Zeit 
hinein  nirgends  mehr  antreffen  (die  priesterliche  Schrift  gebraucht 
sie  ebensowenig  wie  das  Deuteronomium ;  Deut.  32,3  gehört  nicht 
hierher).  So  weit  sie  in  Betracht  kommt,  könnte  man  also  kaum 
vom  Vorhandensein  jenes  Namenaberglaubens  sprechen. 

Indes,  dem  scheint  2.  Reg.  5, 11  zu  widersprechen.  Der  Syrer 
Na'man  erwartete,  Elisa  werde  persönlich  zu  ihm  kommen,  >den 
Namen  Jahwes  anrufen c,  seine  Hand  über  die  vom  Aussatz  be- 
fallene Stelle  seines  Körpers  fahren  (streichen)  lassen  und  ihn  so 
heilen.  Es  ist  klar,  daß  eine  Art  Zauber  vom  Propheten  erwartet 
wird,  aber  es  ist  wohl  zu  beachten,  daß  die  Zauberhandlung  aus 
zwei  Teilen  besteht.  Der  Anrufung  des  Namens  Jahwes  geht  die 
Bewegung  der  Hand  über  die  kranke  Stelle  zur  Seite.  Daß  das 
i's  Qöl  tmp  einen  wesentlichen,  ja,  den  wesentlichsten  Teil  der  Hand- 
lung bildete,  wenn  sie  wirksam  sein  sollte,  versteht  sich  von  selbst 
Aber  man  kann  selbst  nicht  einmal  für  den  Heiden  mit  Sicherheit 
voraussetzen,  er  sei  der  Meinung  gewesen,  die  Nennung  des  Namens 
des  Gottes  Jahwe  allein  schon  habe  in  Verbindung  mit  der  Hand- 
bewegung die  erwünschte  Wirkung.  Die  Annahme  liegt  ebenso 
nahe,  das  'AI  mp  sei  ebenso  gedacht  wie  jenes  kultische  beim  Gebet 
oder  Altardienste  (wie  in  der  Eliageschichte  1.  Reg.  18, 24 ff.),  es 
werde  der  Gott  herbeigerufen  und  unsichtbar  die  durch  die  Hand- 
bewegung symbolisch  dargestellte  heilende  Wirkung  an  ihm  voll- 
ziehen. Jedenfalls  läßt  sich  meines  Erachtens  auch  von  dieser  Stelle 
aus  wenigstens  nicht  behaupten,  in  Israel  seien  zur  Zeit  Elisas  d.  h. 
also  im  9.  Jahrhundert  oder  zur  Zeit  der  Aufzeichnung  der  Elisa- 
geschichten  im  8.  Jahrhundert  mit  dem  DO  Jahwes  Vorstellungen  im 
Sinne  des  Namenaberglaubens  verknüpft  worden,  ob  das  auf  Seiten 


194  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Kr.  8. 

des  Heiden  Na'man  geschah,  mag  auf  sich  beruhen  bleiben.  Vgl. 
Giesebrecht  S.  25  f.  Damit  will  ich  nicht  behaupten,  man  habe  im 
Volke  Israel,  so  weit  man  solchen  Heilungszauber  trieb  und  an  ihn 
glaubte  (und  das  wird  sicher  geschehen  sein),  nicht  auch  schon  dem 
bloßen  Aussprechen  des  Gottesnamens  bei  der  Zauberhandlung,  ge- 
wissermaßen diesem  Namen  selbst,  heilende  Wirkung  zugeschrieben, 
dem  Namen  also  eine  Art  Selbständigkeit  gegenüber  dem  mit  ihm 
genannten  überweltlichen  Gotteswesen  beigelegt;  aber  wir  dürfen 
dabei  nicht  übersehen,  daß  die  Jahwereligion  selbst  und  selbstver- 
ständlich alle  ihre  wahrhaft  gläubigen  und  erkenntnisklaren  Vertreter 
allem  Zauberwesen  prinzipiell  feindlich  gegenüberstanden  (vgl. 
die  Gesetzgebung,  schon  Ex.  22,17).  Beachten  wir  dies,  so  gewinnt 
die  Seltenheit  des  Vorkommens  jener  Redewendung  und  ihre  (mög- 
liche) Harmlosigkeit  da,  wo  sie  vorkommt,  selbst  2.  Reg.  5, 11,  im 
Sinne  unserer  Beweisführung  doch  sehr  erheblich  an  Gewicht,  auch 
gegenüber  Giesebrechts  Bemerkung  im  Exkurse  S.  129.  Gewiß 
mögen  auch  > Prophetensöhne«  Zauber  getrieben  haben  mit  Jahwes 
Namen,  wie  es  Na'man  erwartete  und  aus  seiner  aramäischen  Heimat 
kannte,  aber  daß  man  diese  Leute  nicht  ohne  weiteres  als  Kron- 
zeugen für  den  wirklichen  Inhalt  der  religiösen  Vorstellungswelt  und 
ihrer  praktischen  Betätigung  bei  den  klarbewußten  Jahwegläubigen 
verwerten  darf,  lehrt  uns  ja  Am.  7, 14  deutlich  genug.  Die  eine 
Stelle  allein  beweist  also  nicht  viel,  wenigstens  so  weit  die  wirkliche 
Jahwereligion  und  die  Kreise  ihrer  wahren  Vertreter  in  jener  Zeit 
in  Betracht  kommen.  Daß  damals  viel  Heidentum,  heidnisches 
Denken  und  Tun  ins  Volk  des  nördlichen  Reiches  eingedrungen  war, 
ist  ja  geschichtliche  Tatsache,  und  die  Zeugnisse,  die  wir  haben,  be- 
weisen auch,  daß  mit  solchem  Heidentum  immer  auch  Zauberwesen 
allerlei  Art  aufs  engste  verbunden  war.  Es  läßt  sich  meines  Er- 
achtens  daher  gegenüber  dem  von  mir  schon  aus  der  prophetischen 
Literatur  nachgewiesenen  Sachverhalt  nur  sagen,  der  sich  immer 
wieder  erneuernde  Einfluß  eindringenden  Heidentums  habe  schließlich 
in  Verbindung  mit  den  von  mir  schon  gelegentlich  angedeuteten,  in 
der  israelitisch-jüdischen  religionsgeschichtlichen  Entwicklung  selbst 
hervortretenden  Umständen  mit  darauf  hingewirkt,  daß  jener  Namen- 
glaube auch  innerhalb  der  genuinen  Jahwereligion  Boden  fand.  Ihr 
selbst  aber  blieb  er  —  und  das  wird  auch  das  Folgende  wieder  be- 
stätigen —  im  übrigen  in  der  vorexilischen  Zeit  fremd. 

2.  Sam.  6, 2  und  Deut.  28, 10  (vgl.  Giesebrecht  S.  22  f.)  finden 
wir  die  jeremianische  Redewendung  b:P  '^''^  ütb  Knp3.  Aber  der  Text 
der  ersteren  Stelle  ist  kritisch  unsicher  und  beweist  nichts.     An 


Giesebrecbt,  Die  alttestamentliche  Sch&tztmg  des  Gotteflnamens.         19$ 

beiden  Stellen  kann  und  wird  deuteronomistische  Einwirkung  auf  den 
ursprünglichen  Wortlaut  vorliegen. 

Giesebrecht  (S.  30  f.)  weist  nachdrücklich  auf  das  formelhafte 
i'sti  nnn*^  in  dem  Siegesliede  Ex.  15,3  hin,  das  »zwar  selbst,  wie  er 
meint,  nicht  alt«  sein  werde  (meines  Erachtens  ist  v.  1^—10,  ein 
paar  Zusätze  ausgenommen,  alt  und  echt),  >aber  doch  auf  ältere 
Kultus  Vorbilder  zurückgehen  dürfte  <.  Sichtlich  soll  auch  für  diese 
Stelle  so  gut  wie  für  die  im  Zusammenhang  mit  ihr  genannte 
Jer.  10,16  (nicht  jeren^ianisch  auch  für  Giesebrecht,  vgl.  seinen 
Komm.  z.  St.;  er  findet  in  Jer.  10,1—^16  starke  Züge  deuterojesaja- 
nischer  Art)  das  hernach  folgende  Urteil  gelten,  es  werde  hier  >der 
Name  Jahwe  mit  dem  Bewußtsein  mitgeteilt,  daß  er  (nämlich  der 
Name)  allem  Streit  ein  Ende  mache,  daß  mit  seiner  Nennung  die 
anderen  Götter  zu  Boden  geschlagen  seien  <.  Davon  finde  ich  im 
Zusammenhang  des  Liedes  Ex.  15,  Pff.  nichts.  Vorher  wird  in  immer 
neuen  Wendungen  Jahwe  gepriesen  für  das,  was  er  an  dem  singen- 
den Ich  (dem  Volke)  getan  hat.  Mit  großem  Nachdruck  weist  es 
V.  2^  darauf  hin,  daß  solcher  Art  sein  Gott  sei  und  es  ihn  darum 
preisend  erheben  wolle  und  müsse,  und  dann  heißt  es  v.  3,  dieser 
Jahwe  sei  ein  Kriegsmann,  Jahwe  sei  sein  Name,  und  daran  schließt 
sich  wieder  von  neuem  der  Hinweis  auf  die  große  Heldentat  dieses 
göttlichen  Kriegsmannes  am  roten  Meere.  Was  aber  bedeutet  das? 
Das  bedeutet  meines  Erachtens  doch  nur,  daß  es  eben  der  Jahwe 
(man  denke  an  Ex.  3 !)  geheißene  und  dadurch  von  allen  sonstigen 
Göttern  unterschiedene  Gott  Israels  war,  der  so  Großes  an  seinem 
Volk  getan  und  dessen  Name  nun  aller  Welt  bekannt  wird  und 
seinen  Ruhm  verkündigen  wird,  aber  auch  Schrecken  vor  ihm  und 
seinem  Volke  verbreiten  wird  (vgl.  v.  14flF.).  Man  darf  hier  ver- 
gleichen Redewendungen  wie  2.  Sam.  7,9.23;  1.  Reg.  5,11.  Von 
irgend  welcher  Verknüpfung  des  dichterischen  jubelnden  Ausrufs,  der 
Gott,  der  Israels  Kriege  führe,  heiße  Jahwe,  mit  irgend  welchem 
kultischen  Gebrauche  des  Gottesnamens,  wie  Giesebrecht  meint, 
braucht  doch  nicht  die  Rede  zu  sein,  noch  kann  ich  davon  etwas 
finden.  Viel  eher  würde  ich  sagen,  jenes  jubilierende  'i'atö  n\n^  in 
dem  Hymnus  Ex.  15  habe  dazu  beigetragen,  daß  in  späteren  Zeiten 
dies  Wort  zu  jener  formelhaften  Verwendung  kam,  die  wir  kennen 
lernten.  Und  daß  diese  Zeiten  wirklich  recht  späte  gewesen,  dafür 
zeugt  im  Einklang  mit  der  prophetischen  Literatur  auch  die  außer- 
prophetische Literatur.  Denn  vor  dem  Exil  findet  sie  sich  in  dieser 
nirgends  mehr,  selbst  nicht  im  Deut.  Wir  kommen  hier  also  wieder 
zu  genau  dem  gleichen  Ergebnis  wie  bei  dem  Ausdruck  *>'*>  'l6^  anp. 
Hat  die  Formel  rati  rr\7X^  irgendwo  etwas  gemein  mit  jenem  Namen- 


196  Oött.  gd.  Ans.  1906.  Nr.  3. 

glauben,  so  hat  sie  das  sicher  nicht  oder  doch  nicht  nach- 
weisbar schon  in  vor  exilischer  Zeit  angenommen.  Deut.-Jes.  wärde, 
so  weit  wir  sehen  können,  nach  wie  vor  die  obere  zeitliche  Grenze 
dafür  bilden. 

Nicht  ganz  unwichtig  ist  auch,  daß  yniä^  überall  in  der  jahwisti- 
schen  und  elohistischen  Schrift  direkt  mit  dem  Gottesnamen  ver- 
bunden wird  ohne  Vermittlung  durch  üto.  Das  Gleiche  ist  auch  in 
den  Geschichtsbüchern  Jud.  Sam.  Reg.  der  Fall.  Nur  1.  Sam.  20,42 
bildet  eine  Ausnahme,  aber  hier  könnte  DOl  auch  auf  eine  jüngere 
deuteronomistische  Hand  zurückgehen.  Jedenfalls  fällt  die  eine 
Stelle  ebensowenig  ins  Gewicht,  wie  die  Stellen  Lev.  19,12;  Deut. 
6,13;  10,20.  Beim  Schwören  wird  und  muß  ja  wirklich  der  Name 
Gottes  ausgesprochen  werden,  und  bei  einem  Bekenntnisakt,  ein 
solcher  war  der  Schwur,  durfte  natürlich  der  Israelit  keines  anderen 
Gottes  Namen  in  den  Mund  nehmen  (vgl.  Ex.  23,13). 

Zurückhaltend  urteilt  auch  Giesebrecht  (S.  23)  bei  Stellen  wie 
Gen.  32,30;  Jud.  13,6.17.18  (mir  scheint  v.  18  "^Kb^  Kinn  gerade  im 
Hinblick  auf  die  sonst  recht  genaue  Parallele  in  Gen.  32, 30  textlich 
nicht  ganz  sicher  zu  sein,  und  daß  ryT^"^  in  Gen.  16, 13  wirklich  ur- 
sprünglich sei,  bezweifle  ich  auch,  vgl.  Giesebrecht  a.  a.  0.).  Gewiß 
ergibt  sich  aus  diesen  Stellen  in  Verbindung  mit  Ex.  3, 13  ff.,  6, 2  ff., 
daß  man  die  Kenntnis  des  Namens  der  Gottheit,  die  einem  nahe  ge- 
kommen war,  für  etwas  sehr  Bedeutsames  und  Notwendiges  ansah. 
Man  könnte  sagen,  es  werde  hier  vorausgesetzt,  daß  der  nach  dem 
Namen  fragende  Mensch  nicht  blos  noch  andere  göttliche  »Namen«, 
sondern  auch  noch  andere,  ihm  aber  noch  unbekannte,  Götter  als 
vorhanden  voraussetze.  Verlangte  er  nach  dem  Namen,  so  würde 
das  also  zunächst  nur  harmlos  sein  und  bedeuten,  er  wünsche  in  den 
Stand  gesetzt  zu  werden,  den  ihm  erschienenen  Gott  anzurufen  und 
zu  verehren.  Man  muß  sich  dabei  an  die  alt-  und  gemeinsemitische 
Anschauung  erinnern,  daß  das,  was  ist,  seinen  Namen  hat;  was  man 
nicht  nennen  kann,  existiert  auch  für  die  wirkliche  menschliche  Er- 
kenntnis noch  nicht  im  wahren  Sinne  des  Wortes.  Ein  wirkliches, 
inneres,  persönliches  Verhältnis  des  Menschen  zu  einem  göttlichen 
Wesen  war  darum  auch  erst  dann  vorhanden,  wenn  er  dieses  Wesen 
mit  seinem  Namen  nennen  konnte,  es  also  auch  in  seiner  persön- 
lichen Realität  kannte.  Die  Jahwereligion  weiß  nichts  von  einem 
>unbekannten<  Gott.  Das  ist  ja  besonders  nachdrücklich  berichtet» 
daß  sich  Jahwe  seinem  Volke  persönlich  bekannt  und  nennbar  ge- 
macht hat.  Man  kann  gewiß  in  jenen  Stellen  im  Hintergrund  der 
dort  zur  Aussprache  gelangenden  religiösen  Gedankenwelt  den 
Glanben  finden,  die  Gottheit  suche  ihren  eigentlichen  Namen  zu 


Giesebrecht,  Die  alttestanentliche  Schätzung  des  GottesnaineDs.  197 

verheimlichen,  damit  der  Mensch  nicht  durch  Kenntnis  dieses  Namens 
Gewalt  über  sie  erhalte.  Es  mag  also  aus  jenen  Erzählungen  eine 
Spur  des  Namenglaubens,  wie  er  sonst  in  der  Yölkerwelt  verbreitet 
war,  herausblicken.  Man  darf  jedoch  nicht  vergessen,  daß  die  genuine 
Jahwereligion  in  alten  wie  in  jttngeren  Zeiten  immer  die  lieber- 
Zeugung  genährt  hat,  daß  Israels  Gott  sich  von  Anfang  an  persönlich 
bekannt  und  nennbar  gemacht  habe.  Freilich  das  darf  auch  nicht 
übersehen  werden,  alle  Benennungen  des  Gottes  Israels  sind  relativer 
Natur,  sind  Aussagen  über  seine  Beziehung  zum  kreatürlichen  Wesen 
und  Leben,  zum  geschichtlichen  Werden  und  Sein;  sein  eigentliches 
innerstes  Wesen  in  seiner  ganzen  Fülle  und  Tiefe  bleibt  immer 
verborgen;  das  zu  schauen,  ist  eben  dem  Menschen  versagt.  Jener 
Glaube,  mit  der  Kenntnis  des  Namens  erlange  der  Mensch  Macht 
über  den  mit  ihm  benannten  Gott,  lebte  innerhalb  der  älteren  Zeiten 
allenfalls  nur  noch  in  der  harmlosen  Formel  '^'^  Dtän  xnp  fort. 

Nun  scheint  aber  1.  Sam.  17,45  ganz  in  den  Bereich  des  Namen- 
glaubens zu  führen  (vgl.  Giesebrecht  S.  42).  Zunächst  scheint  in 
der  Tat  der  Gedanke,  David  trete  'y\  um  dem  Goliat  entgegen, 
während  dieser  mit  Schwert  u.  s.  w.  herankommt,  nin^  un  in  Gegen- 
satz zu  '3in  y^ypi  zu  stellen  und  sagen  zu  wollen,  wie  Goliat  mit  den 
äußeren  Waffen  komme,  so  wolle  David  den  »Namen«  Jahwes  als  Waffe 
gebrauchen.  Giesebrecht  versteht  den  Satz  wirklich  so.  Er  sagt,  der 
Fromme  wisse,  daß  er  »mit  diesem  gewaltigen  Machtmittel  auch 
gegen  den  stärksten  . . .  Mann  anrennen  könne  <.  Aber  legt  der  Zu- 
sammenhang der  Erzählung  diese  Auffassung  wirklich  nahe?  Kommt 
David  wirklich  ohne  äußere  Waffe  zum  Streit,  er,  der  Zwerg,  gegen 
den  Riesen?  Gewiß,  Schwert  und  Spieß  und  alle  andere  Rüstung  hat 
er  verschmäht,  aber  ist  er  darum  ohne  Waffe  gekommen?  Hat  er 
denn  nicht  Schleuder  und  Steine  bei  sich,  die  ihm  gewohnte  Wehr, 
womit  er  den  Riesen  zu  fällen  hofft?  Und  was  der  Erzähler  v.  46 
David  sagen  läßt  und  dann  (wahrscheinlich  ein  Glossator  jüngerer 
Zeiten)  v.  47  als  erkenntnismäßige  Wirkung  des  Sieges  Davids  an* 
gibt,  das  scheint  mir  den  Schluß  auch  nicht  zu  rechtfertigen,  der 
>Name<  Jahwes  werde  hier,  gewissermaßen  abgelöst  von  Jahwe,  als 
>  Machtmittel <  aufgefaßt.  Meines  Erachtens  beweist  auch  diese  Stelle, 
die  durchaus  harmlos  aufgefaßt  werden  kann,  ja,  meines  Erachtens 
werden  muß  (wie,  das  brauche  ich  nicht  auszuführen),  nicht,  daß  in 
älterer  vorexilischer  Zeit  der  Namenglaube  in  Israel  oder  in  den 
jahwegläubigen  Kreisen  geläufig  gewesen  ist. 

Blicken  wir  nun  zurück  auf  unsere  Darlegungen,  so  ergibt  sich, 
daß  wir  bisher  weder  in  der  prophetischen  noch  in  der  auAer* 
prophetischen  Literatur  auch  nur  eine  sichere  Stelle  geämden  haben, 


198  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

die  das  Vorhandensein  jenes  Aberglaubens  in  der  vorexilischen  Zeit 
beweisen  könnte.  Dem  ältesten  Beweise  für  sein  Vorhandensein 
würden  wir  im  Deuteronomium  begegnen,  freilich  auch  nur  in  einer 
eigentümlichen  Beziehung  des  >Namens<  Jahwes  zu  seinem  sichtbaren 
irdischen  Wohnsitze  inmitten  des  Volkes,  wenn  wir  unbedingt  ge- 
wiß sein  könnten,  daß  die  in  Betracht  kommenden  Redewendungen 
wirklich  zum  Bestände  der  ursprünglichen  Gestalt  des  Buches  ge- 
hörten. Sie  stehen  zwar  inmitten  der  eigentlichen  Gesetzgebungs- 
abschnitte, und  es  könnte  scheinen,  als  spräche  dies  besonders  für 
ihre  Ursprünglichkeit.  Aber  nach  Lage  der  Dinge  läßt  sich  die 
Möglichkeit  nicht  ausschließen  (wie  auch  Giesebrecht  zugibt,  vgl. 
S.  35),  daß  an  den  betreffenden  Stellen  deuteronomistische  Federn 
mitgewirkt  haben. 

Die  Redewendungen,  um  die  es  sich  handelt,  sagen,  Jahwe  habe 
seinen  >Namen<  in  den  Tempel  gesetzt  (D^^to  vgl.  12,5.21;  14,24) 
oder  öfter,  er  habe  ihn  dort  > wohnen  lassen«,  eigentlich  auch  == 
hingestellt,  (l?ü  vgl.  12,11;  14,23;  16,2.6.11;  26,2).  Hier  wird 
tatsächlich  deutlich  der  >Name<  von  dem  persönlichen  transzen- 
denten Jahwe  unterschieden.  In  der  prophetischen  Literatur  findet 
sich,  wie  wir  sahen,  die  zweite  Form  des  Ausdrucks  nur  noch 
Jer.  7, 12,  aber,  wie  wir  auch  erkannten,  ohne  sichere  Gewähr  für 
wirklich  jeremianischen  Ursprung  daselbst.  Bedeutsamer,  weil  ja 
Jeremia  vom  Deut,  abhängig  sein  könnte,  ist  dann  aber,  daß  sie 
auch  in  der  wirklich  älteren  außerprophetischen  Literatur  gar  nicht 
angetroffen  wird.  Freilich  stoßen  wir  auf  die  gleiche  oder  verwandte 
Weise,  vom  >Namenc  Jahwes  im  Tempel  zu  reden  und  zu  denken, 
ziemlich  häufig  in  den  Büchern  Samuel  und  Reg.  (dem  >Namen< 
Jahwes  ein  Haus  bauen;  Jahwes  >Name€  soll  sein  [n'^n]  im  Tempel), 
aber  daß  es  sich  dabei  um  deuteronomistische  Stellen  handelt, 
ist  auch  Giesebrecht  (vgl.  S.  34  ff.)  gewiß.  Auch  nicht  von  einer 
dieser  Stellen  kann  man  behaupten,  sie  entstamme  einer  älteren 
als  der  Zeit  deuteronomistischer  Schriftstellerei.  Einen  meines  Er- 
achtens  sehr  gewichtigen  Grund  für  die  Annahme,  daß  auch  im 
Deut,  selbst  jene  Redeweise  und  die  ihr  entsprechende  religiöse 
Vorstellung  nicht  mit  Gewißheit  als  ursprüngliches  Eigentum  des 
sogenannten  Deuteronomikers  betrachtet  werden  kann,  bietet  uns  die 
Tatsache,  daß  wir  sie  weder  bei  Jeremia  (außer  jener  unsicheren 
Stelle)  noch  auch  bei  Ezechiel  (vgl.  oben  S.  190)  antreffen.  Wäre  sie 
wirklich  so  geläufig  gewesen,  wie  man  nach  ihrem  Vorkommen  im 
Deut,  voraussetzen  sollte,  dann  sollte  man  doch  wohl,  wenn  vielleicht 
auch  nicht  die  gleiche  Form  der  Redeweise,  so  doch  einen  irgend- 
wie gearteten  Widerhall  ihres  Inhaltes  bei  diesen  Propheten  resp.  m 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  199 

ihren  Büchern  erwarten.  Aber  das  ist  nicht  der  Fall.  Ja,  wie 
Ezechiel  yon  Jahwes  offenbarem  Wesen  und  seiner  Gegenwart  im 
Tempel  dachte  und  redete,  daß  er  dabei  vom  »Namen«  Jahwes  im 
Sinne  jenes  Namenaberglaubens,  so  oft  er  auch  vom  > heiligen 
Namen  c  Jahwes  spricht,  nichts  gewußt  hat,  haben  wir  ja  schon  ge- 
sehen. Mir  drängt  sich  daher  immer  stärker  die  Gewißheit  auf,  daß 
Stade  wirklich  Recht  gehabt  hat,  wenn  er  die  These  aufstellte,  jene 
Weise,  vom  Wohnen  des  Namens  Jahwes  im  Tempel  zu  reden,  ge- 
höre erst  der  deuteronomistischen  Schriftstellerei  an.  Ich 
würde  die  These  nur  dahin  erweitern  und  verschärfen,  der  Denk- 
und  Redeweise  innerhalb  aller  Kreise,  die  wirklich  klar  bewußte 
Bekenner  der  Jahwereligion  waren,  war  der  Namenglaube  bis  in  die 
deuteronomistische  Zeit,  d.h.  bis  in  die  exilische  Zeit  hinein 
fremd.  Ich  leugne  nicht,  wie  ich  ja  wiederholt  gezeigt  habe,  daß  in 
der  geschichtlichen  Entwicklung  des  religiösen  Glaubens  und  Denkens 
in  den  letzten  Zeiten  vor  dem  Exil,  vor  dem  Zusammenbruch  Judas, 
Jerusalems  und  seines  Jahwetempels,  zumal  auch  in  der  prophetischen 
Gedankenentwicklung  Keime  lagen  und  sich  zu  entfalten  begonnen 
hatten,  die  schließlich  in  der  eigentümlichen  Weise,  vom  >Namen« 
Jahwes  zu  reden,  und  zwar  zunächst  mit  Bezug  auf  sein  Wohnen 
im  irdischen  Heiligtum,  ihre  geschichtliche  Verkörperung  fanden. 
Aber  der  wirkliche  Eintritt  des  Namenglaubens  in  den  unangefoch- 
tenen Inhalt  des  religiösen  Denkens  und  der  religiösen  Sprache  ist 
meines  Erachtens  erst  in  deuteronomistischer  oder  exili- 
scher Zeit  erfolgt,  und  wahrscheinlich  auch  da  anfänglich  noch  in 
verhältnismäßig  harmloser  Gestalt.  Festigung  und  weitere  Aus- 
gestaltung, .zumal  in  der  oft  überstark  realistischen  Form,  wie  ihn 
die  Psalmen  darbieten,  erfuhr  er  meiner  Ueberzeugung  nach  sicher 
erst  in  nachexilischer  Zeit.  Es  bedarf  nun  keiner  weiteren  Aus- 
führung mehr,  daß  ich  auch  Ex.  23,21  für  deuteronomistische  Er- 
weiterung einer  älteren  Textform  halten  muß,  wenn  nicht  vielmehr 
V.  20. 21  in  ihrem  ganzen  Umfang  als  solche  zu  betrachten  sein 
sollten.  Auch  die  Vorstellung  vom  ^Kbta  in  v.  20  ist  meines  Erachtens 
nicht  sehr  alt  (vgl.  gleich  unten). 

Nun  erhebt  sich  aber  die  Frage,  ob  nicht  fremder  Einfluß 
sehr  wesentlich  dazu  beigetragen  hat,  daß  in  der  deuterono- 
mistischen Vorstellungswelt  und  ihrer  Ausprägung  in  der  reli- 
giösen Rede  der  »Name«  Jahwes  im  Sinne  jenes  Glaubens  anfing, 
realistischere  Gestalt  anzunehmen,  oder  geradezu  materialisiert  zu 
werden.  Mir  scheint  es  sehr  fraglich  zu  sein,  ob  die  Entwicklungs- 
fäden, die  ich  gelegentlich  in  der  früheren  Geschichte  glaubte  nach- 
weisen zu  können,  wirklich  ohne  irgend  welchen  besonderen  Anstofi 


200  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

im  Bereiche  der  exilischen  Zeit  dazu  geführt  haben  würden,  vom 
> Namen«  Jahwes  so  zu  denken  und  zu  reden,  wie  von  deuterono- 
mistischen  Schriftstellern  geschehen  ist.  Ja,  wenn  ich  auf  die 
priesterliche  Schrift  und  ihre  zweifellos  sehr  absichtliche  Art  von 
Oott  zu  reden  hinsehe,  wird  mir  das  noch  zweifelhafter.  Freilich 
haben  wir  doch  auch  sonst  noch  Beweise  dafür,  daß  gerade  die  Zeit 
des  Exils  im  allgemeinen  die  Zeit  gewesen  ist,  die  im  Interesse 
steigender  Transzendentalisierung  des  Gottgedankens  causae  mediae 
schuf  oder  doch  vorhandene  vorstellungsmäßige  Ansätze  zu  solchen 
in  ihrer  Weiterbildung  förderte.  Ich  denke  insbesondere  an  die  dem 
>Namen<  Jahwes  ziemlich  nahe  verwandte  Vorstellung  vom  rmtr^  ^fi6t) 
(die,  wie  sich  mir  aus  längst  abgeschlossenen,  der  Veröffentlichung 
noch  harrenden  Untersuchungen,  wie  gelegentlich  schon  bemerkt, 
ergeben  hat,  auch  nicht  so  alt  ist,  wie  die  überlieferte  Literatur 
glauben  läßt),  ja,  an  die  Engelvorstellung  überhaupt,  die  auch  ge- 
rade in  der  exilischen  Periode  in  hohem  Maße  Förderung  innerhalb 
der  jüdischen  religiösen  Vorstellungswelt  erfuhr.  Dazu  haben  aber 
meines  Erachtens  Einflüsse  fremder  Vorstellungskreise  und  Rede- 
weisen, mit  denen  das  jüdische  Geistesleben  in  Berührung  trat,  in 
sehr  erheblichem  Maße  mitgewirkt.  Es  sei  mir  vergönnt,  hierzu  aus 
meinen  Beobachtungen  zur  Klärung  einen  kleinen  Beitrag  hinzuzu- 
fügen. 

Die  naheliegende  Erwägung,  die  sehr  regen  politischen  Bezie- 
hungen Judas  zur  assyrischen  resp.  babylonischen  Welt  in  den  letzten 
Jahrzehnten  vor  seinem  Zusammenbruch,  sodann  die  noch  engere 
Berührung  gerade  der  oberen,  zum  Teil  auch  geistig  hervorragenderen 
Kreise  Judas  mit  babylonischer  Kultur,  babylonischer  religiöser  Denk-, 
Rede-  und  Lebensweise  an  den  Orten  ihrer  Gefangenschaft  möchten 
nicht  unwesentlich  mitgewirkt  haben  zur  Belebung  und  Förderung 
der  hier  in  Frage  stehenden  Erscheinung  in  der  jüdischen  Vor- 
stellungswelt und  ihrer  sprachlichen  Ausprägung,  verdichtete  sich 
mir  am  Ende  zu  dem  Entschluß,  der  Frage  näher  zu  treten,  ob  sich 
etwa  zeigen  lasse,  daß  von  Babylonien  in  der  Zelt  um  das  Exil 
eine  wirkliche  Anregung  ausgehen  konnte,  die  geeignet  war,  zu 
einem  stärkeren  Gebrauch  vom  > Namen«  Jahwes  zu  führen.  Wohl 
hat  auch  Giesebrecht  (vgl.  S.  85  f. ;  102  ff. ;  140  ff.)  unsere  Aufmerk- 
samkeit auf  hierher  gehörige  Erscheinungen  in  der  babylonischea 
und  arabischen  Welt  hingelenkt;  seine  Darlegungen  verdienen  nach 
allen  Seiten  hin  Beachtung.  Aber  nach  dem  Nachweise,  den  ich  bis- 
her geführt  habe,  ergibt  sich  für  uns  eine  doch  etwas  schärfer  ab- 
zugrenzende Fragestellung.  Nach  unserem  Ergebnis  müssen  wir 
fragen,  ob  das  Auftauchen  unverkennbarer  Zeichen  des  Eindringens 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Sch&tztmg  des  Gottesnamens.  201 

des  Namenglaubens  in  die  religiöse  Vorstellungswelt  der  jüdischen 
Gemeinde  innerhalb  der  deuteronomistischen  Schriftstellerei  eine 
Wirkung  sein  kann  der  engen  und  lebendigen  Berührung  der 
exilierten  Judäer  mit  ihrer  babylonischen  Umgebung^  Warum  ich 
meine,  die  Frage  auf  die  exilierten  Judäer  beschränken  zu  müssen, 
ergibt  sich  aus  den  früheren  Feststellungen,  zumal  zu  Jeremia  und 
Ezechiel.  Ich  habe  Antwort  auf  diese  Frage  gesucht,  und  ich  glaube, 
eine  bejahende  Antwort  läßt  sich  genügend  begründen. 

Ich  legte  mir,  um  irgend  eine  Antwort  auf  jene  Hauptfrage  zu 
erhalten,  zunächst  die  Frage  vor,  ob  etwa  babylonische  Quellen  er- 
kennen ließen,  daß  der  Gebrauch  des  Wortes  Sum  (=  D)^),  sei  es  in 
Bezug  auf  Menschen,  sei  es  in  Bezug  auf  die  Gottheit,  in  der  Zeit 
um  das  Exil  herum  im  alltäglichen  Leben  der  Babylonier  eine  Rolle 
gespielt,  die  die  Vermutung  zu  rechtfertigen  vermöge,  das  Maß 
dieses  Gebrauchs  könne  auch  auf  die  Weise  zu  reden  und  schließlich 
auch  auf  die  zu  denken  bei  den  auf  babylonischen  Boden  verpflanzten 
Juden  befruchtenden  Einfluß  ausgeübt  haben.  Ich  versuchte,  an  dem 
in  Schraders  Keilinschriftlicher  Bibliothek  vorliegenden,  zwar  be- 
schränkten, aber  immerhin  einen  guten  und,  wie  ich  glaubte  und 
erfahren  habe,  auch  ausreichenden  Ausschnitt  aus  der  großen  Menge 
vorhandener  Quellen  darbietenden  Material  meine  Beobachtungen  zu 
machen,  und  beschränkte  mich  zunächst  auf  die  Eigennamen  in  der 
Voraussetzung,  daß  sich  gerade  in  ihrer  eigentümlichen  semitischen 
Gestaltung  in  besonderem  Maße  die  jeweilige  Gegenwart  beherr- 
schende Vorstellungen  und  Redeformen  abspiegeln  möchten.  Und 
ich  glaube  mich  in  dieser  Voraussetzung  nicht  getäuscht  zu  haben, 
umso  weniger,  als  die  Ausdehnung  meiner  Beobachtungen  auch  auf 
die  Quellen  aus  altbabylonischen  und  assyrischen  Zeiten,  soweit  sie 
in  der  Eeilinschriftlichen  Bibliothek  mitgeteilt  sind,  das  Ergebnis  fUr 
die  neubabylonische  oder  exilische  Periode  in  eine  Beleuchtung  ge- 
rückt hat,  die  geeignet  ist,  auch  in  das  uns  hier  interessierende 
Problem  erfreuliche  Aufklärung  zu  bringen.  Das  von  mir  gesammelte 
Material  kann  ich  um  des  dazu  erforderlichen  Raumes  willen  im 
einzelnen  nicht  mitteilen.  Ich  begnüge  mich  hier  mit  Andeu- 
tungen. 

Meine  Beobachtungen  ergaben  für  Assur,  daß  auf  seinem  Boden 
Eigennamen  mit  Sum  als  Kompositionselement  wenigstens  bis  gegen 
Ende  des  8.  Jahrhunderts  recht  selten  gewesen  sein  müssen.  Es 
kommen  zwar  solche  Namen  auch  in  älteren  Zeiten  vor,  aber  sie 
sind  zu  vereinzelt,  als  daß  man  annehmen  könnte,  die  Bildung  von 
Namen  solcher  Art  sei  bei  den  Assyrem  etwas  Geläufiges  gewesen. 
Dagegen  scheint  von  Sanheribs  Zeit,  d.  h.  vom  Ende  des  8.  Jahr- 

Gltl.  f*l.  Aas.  1906.  Nr.  8.  14 


202  G6tt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  3. 

hunderts  an,  der  Gebrauch  so  gestalteter  Eigennamen  ein  etwas 
häufigerer  zu  werden,  besonders  zahlreich  sind  die  wirklich  vor- 
kommenden Namen  dieser  Art  aber  auch  da  noch  nicht,  und  gerade 
die  aus  dem  Volksleben  erwachsenen  Privaturkunden  bieten  äußerst 
selten  ein  Beispiel.  Sehr  unergiebig  sind  auch  die  Urkunden  aus  der 
Zeit  Asarhaddons.  Ganz  anders  wird  das  aber,  sobald  wir  die  Zeit 
des  letzten  großen  Assyrerkönigs  Assurbanipal  (668—628)  betreten. 
In  öffentlichen  königlichen  oder  politischen  wie  in  Privaturkunden 
dieser  Zeit  begegnen  wir  einer  ziemlich  großen  Anzahl  solcher 
Namen,  freilich,  glaube  ich,  ist  nicht  selten  Anlaß  genug  vorhanden, 
bei  den  in  öffentlichen  Urkunden  vorkommenden  Namen  die  Frage 
aufzuwerfen,  ob  ihre  Träger  Assyrer  oder  nicht  vielmehr  ßabylonier 
waren.  Aber  warum  —  so  darf  man  fragen  —  tauchen  seit  San- 
heribs  Zeit  in  assyrischen  Urkunden  mit  §um  zusammengesetzte 
Namen  in  steigender  Häufigkeit  auf?  Sollte  das  zusammenhängen 
mit  der  seit  jener  Zeit  wachsenden  politischen  Erstarkung  Baby- 
loniens  und  dem  damit  wohl  auch  verbundenen  wachsenden  kulturellen 
Einfluß,  der  von  ihm  ausging?  Eine  Bejahung  dieser  Frage  liegt 
aus  verschiedenen  Gründen  recht  nahe,  zumal  auch,  wenn  wir  sehen, 
wie  es  mit  dem  Gebrauch  von  §um  in  Eigennamen  auf  babylonischem 
Boden  überhaupt,  insbesondere  aber  in  jener  Zeit  bestellt  ge- 
wesen ist. 

In  babylonischen  öffentlichen  und  privaten  Urkunden  finden  wir 
von  der  ältesten  Zeit  an  derartige  Eigennamen.  In  den  ältesten  und 
älteren  Zeiten  freilich  sind  sie  noch  nicht  allzu  häufig.  Das  kann 
zufällig  sein.  Bemerkenswert  ist  aber  immerhin,  daß  in  den  aus 
Hammurabis  Zeit  in  der  Keilinschriftlichen  Bibliothek  III  und  IV 
veröffentlichten  Urkunden  beiderlei  Art,  falls  ich  recht  gesehen,  kein 
einziger  Name  mit  §um  vorkommt.  Daß  solche  Namen  aber  in  jener 
uralten  Zeit  nichts  Unerhörtes  waren,  beweisen  die  Namen  der  beiden 
ersten  Könige  der  ersten  babylonischen  Dynastie:  Sumuabi  und 
Sumulailu  (vgl.  Giesebrecht  S.  106).  In  den  j^folgenden  Zeiten  jedoch, 
zumal  etwa  vom  Ende  des  2.  Jahrtausends  an,  mehren  sich  die 
Namen  mit  §um.  Bemerkenswert  ist  dabei,  daß  die  Zahl  der  Könige, 
die  solche  Namen  trugen,  ziemlich  groß  ist.  Die  Mehrung  dieser 
Namen  in  den  vorhandenen  Urkunden  wird  auffallig  im  9.  und  8. 
Jahrhundert.  In  hohem  Maße  beliebt  wurde  diese  Art  von  Eigen- 
namen indes  allem  Anschein  nach  in  der  Zeit  des  neubabylonischen 
Reiches  und  blieb  es  dann  auch  in  der  persischen  Periode.  In 
Privaturkunden  (Keilinschriftl.  Bibliothek  IV)  aus  der  Zeit  Nabopo- 
lassars  finde  ich  fünf  Fälle  solcher  Namen,  aus  der  Zeit  Nebukad- 
nezars  13  (davon  aber  zwei  Namen  je  dreimal);  aus  der  Evil-Mero* 


Gi^sebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.         203 

dacbs  nur  einen,  aus  der  Neriglissars  7  (+ 1  verstümmelt),  aus  der 
Nabonids  26,  aus  der  des  Gyrus  und  Cambyses  18  (einzelne  davon 
wiederholen  sich  in  einer  Reihe  von  Urkunden,  so  daß  tatsächlich 
die  Zahl  der  Fälle  für  diese  Zeit  sehr  viel  höher  angesetzt  werden 
müßte). 

Wenn  ich  nun  die  Tabelle  überblicke,  die  ich  mir  über  das  Vor- 
kommen solcher  Namen  in  babylonischen  Urkunden  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  auf  die  erste  persische  Zeit  herab  angelegt  habe,  so  sehe 
ich  mich  vollkommen  berechtigt  zu  der  Feststellung,  daß  die  Zeit 
des  neubabylonischen  Reichs  d.  h.  aber  die  Periode  des  babylonischen 
Exils  eine  Zeit  gewesen  ist,  in  der  man  in  der  babylonischen  Welt 
mit  großer  Vorliebe  Eigennamen  verwendete,  die  mit  Sum  zusammen- 
gesetzt waren.  Daß  sich  solche  Namen  seit  der  sogenannten  ersten 
babylonischen  Dynastie,  der  Hammurabi  angehörte,  in  babylonischen 
Urkunden  finden  und,  wie  urkundlich  belegt  werden  kann,  auf  baby- 
lonischem Boden  nie  gefehlt  haben,  sich  aber  dann  hernach  dort  in 
so  starkem  Maße  gemehrt  zu  haben  scheinen,  das  beweist  meines 
Erachtens,  daß  diese  Art  Namen  ihre  Heimat,  soweit  das  mesopota- 
mische  Gebiet  in  Frage  steht,  eben  in  Babylonien  hatte.  Ob  sie  dort- 
hin mit  der  semitischen  Einwanderung  aus  der  arabischen  Steppe 
gekommen,  und  ob  wir,  wenn  wir  nach  ihrer  eigentlichen  Urheimat 
fragen,  nach  dem  minäischen  Arabien  gewiesen  werden,  lasse  ich  un- 
erörtert.  Ich  halte  das  für  wohl  möglich  und  verweise  gerne  dazu 
auf  das,  was  Giesebrecht  ausgeführt  hat,  vgl.  S.  103 ff.,  140 ff. 

Ich  glaube  nun  auch,  angesichts  der  bisher  von  mir  nach- 
gewiesenen Tatsachen  liegt  der  Schluß  sehr  nahe,  daß  die  auffällige 
Mehrung  solcher  Namen  in  assyrischen  Urkunden  seit  dem  Ende  des 
8.  Jahrhunderts  und  dann  besonders  zur  Zeit  Assurbanipals  wirklich 
auf  eine  Einwirkung  babylonischen  Brauches  zurückgeführt  werden 
muß.  Nicht  minder  aber,  meine  ich,  dränge  sich  uns  nun  auch  der 
Schluß  auf,  daß  die  allem  Anschein  nach  recht  große  Rolle,  die  der 
Gebrauch  von  sum  im  Denken  und  Reden  der  babylonischen  Welt 
in  der  exilischen  Periode  gespielt  hat,  die  geistige  Atmosphäre  schuf, 
unter  deren  Einfluß  der  >Name<  auch  im  Denken  und  Reden  der 
dorthin  verpflanzten  Juden  anfangen  konnte,  eine  höhere  Bedeutung 
zu  gewinnen.  Bei  Männern,  die  wie  Ezechiel  ihre  Geistesbildung  und 
Sprache  noch  aus  der  westlichen  Heimat  mitgebracht,  ist  es,  schon  um 
ihres  naturgemäßen  innem  Gegensatzes  gegen  das  babylonische  Wesen 
willen,  wohl  begreiflich,  daß  sie  von  jenem  Einfluß  noch  keine  deut- 
lichen Spuren  bekunden.  Begreiflich  ist  es  aber  auch,  wenn  wir  bei 
einem  Schriftsteller,  wie  Deuterojesaja,  der  wahrscheinlich  im  Exil 
selbst  geboren  und  in  manchfaltiger  Beziehung  zum  babylonischen 


204  Gtöit.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Wesen  und  Leben  aufgewachsen  war,  trotz  aller  Schärfe  seines  reli- 
giösen Gegensatzes  gegen  die  babylonische  Kultur,  jenen  Einfluß  in 
seiner  Ausdruckweise  deutlich  wirksam  sehen.  Und  vielleicht  dürfen 
wir  in  bezug  auf  den  uns  hier  interessierenden  besonderen  Gegen- 
stand diesen  Einfluß  in  noch  deutlicherer  Form  bei  den  sogenannten 
deuteronomistischen  Autoren,  die  wir  meines  Erachtens  ebenfalls  in 
der  Mehrzahl  innerhalb  der  exilischen  Periode  zu  suchen  haben, 
wirksam  erkennen.  Ist  es  nun  sichere  Tatsache,  daß  kein  zweifelloses 
alttestamentliches  Zeugnis  den  Namenglauben  kennt  bis  auf  Jeremia 
und  Ezechiel  herab,  derselbe  aber  unterhalb  dieser  Zeitgrenze  anfängt, 
immer  deutlicher  sich  in  der  jüdischen  Literatur  fühlbar  zu  machen, 
so  liegt,  wie  ich  meine,  die  Annahme  wirklich  nahe,  daß  dies  kaum 
ohne  babylonischen  Einfluß  geschehen  sein  wird. 

Ich  übersehe  bei  alledem  keineswegs,  daß  §um  in  den  babylo- 
nischen Personennamen  seiner  Bedeutung  nach  nicht  ohne  weiteres 
zu  dem  Gebrauche  des  UtO  Jahwes,  womit  wir  uns  hier  beschäftigen, 
in  Beziehung  gesetzt  werden  darf.  Sicher  sind  die  Namen  nicht 
zahlreich,  in  denen  Sum  den  göttlichen  iNamenc  meint,  wenn  über- 
haupt welche  darunter  sind,  die  so  verstanden  werden  dürfen,  was 
ich  dahingestellt  sein  lasse,  aber  auch  nicht  bestreiten  möchte.  Indes, 
darauf  kommt  es  auch  nicht  an.  Es  kommt  nur  darauf  an,  die  Mög- 
lichkeit festzustellen,  daß  ein  ziemlich  ausgedehnter  Gebrauch  von 
Sum,  auch  in  Verbindung  mit  Göttern  oder  Götternamen  (wie  sie  ja 
in  den  Eigennamen  vorliegt),  in  Babylonien  auch  das  jüdische  Denken 
und  Reden  zu  einem  häufigeren  Gebrauch  von  DO,  und  zumal  in 
Beziehung  auf  Jahwe  veranlaßte,  von  dem  man  sich  fem  glaubte, 
dessen  Name  aber  trotzdem  inmitten  der  Exulanten  fortlebte  und 
angerufen  wurde.  Diese  Möglichkeit  wird  man  vielleicht  ohne  Mühe 
zugestehen,  aber  sie  wird  meines  Erachtens  zur  Wahrscheinlichkeit, 
ja,  fast  zur  Gewißheit  erhoben,  wenn  wir  folgende  Erwägungen  be- 
rücksichtigen. 

Da  wir  die  Redewendung  "^'"^  Dt)i  vnp  (man  sagt  auch  üW  Tsm), 
für  die  es  selbstverständlich  auch  in  der  babylonischen  religiösen 
Sprache  Parallelen  gibt ,  ebenso  auch  das  jeremianische  b:^  ''w  mpo 
als  durchaus  harmlos  beiseite  lassen  dürfen,  so  würden,  wie  wir 
sahen,  die  nachweisbar  ältesten,  eine  gewisse  Materialisierung  des 
>Namen8«  Jahwes  voraussetzenden  Redewendungen  das  deuterono- 
mische  oder  vielmehr  deuteronomistische  '^'^  Dti  pö  und  die  damit 
verwandten  deuteronomistischen  Ausdrucksweisen  sein.  Ueberblickt 
man  nun  aber  die  große  Menge  von  Eigennamengebilden  in  Babylonien, 
so  sieht  man  alsbald,  daß  zu  allen  Zeiten,  in  besonderem  Maße  aber 
gerade  auch  in  der  neubabylonischen  Zeit  Namen  aus  sakänu  mit  dem 


Giesebrecht,  Die  ahtastamentliche  Sch&tzang  des  Gottesnamens.         206 

Objekt  §um  und  irgend  einem  Gottesnamen  (gelegentlich  auch  wohl 
mit  Auslassung  des  Gottesnamens  in  der  Umgangssprache)  als  Subjekt 
zusammengesetzt  wurden,  z.  B.  Bil-gum-i§kun ,  auch  blos  §&kin-§um. 
Auch  wenn  §um  in  diesen  Namen  soviel  sein  mag  als  r^nt  (Nach- 
kommenschaft) oder  vielleicht  auch  als  >Ruhm,  £hre< ,  so  ließe  sich 
doch  denken,  daß  ein  Jude  sich  die  Redewendung  aneignete,  um  aus- 
zudrücken, Jahwe  habe  in  den  Tempel  seinen  Namen  hineingesetzt, 
ihm  dort  Wohnung  gegeben.  Aber  ich  finde  die  Redewendung  Sakänu 
mit  §um  anderwärts  in  einer  Weise  gebraucht,  die  jenem  deuterono- 
mistischen  Gebrauche  noch  deutlicher  verwandt  ist. 

K.  B.  II  S.  112  Z.  62  ff.  sagt  Sanherib,  er  habe  in  dem  von  ihm 
erbauten  Palaste  seine  Namensinschrift  angebracht  (gitir  iumija  ina 
kirbiSa  aSkun)  und  er  spricht  dann  den  Wunsch  aus,  sollte  der  Palast 
baufällig  werden,  so  möge  ein  späterer  Nachfolger  ihn  wiederherstellen, 
seine  Namensinschrift  sehen,  sie  salben,  opfern  und  sie  wieder  an  ihre 
Stelle  bringen;  dann  würden  ASur  und  ßtar  sein  Gebet  erhören. 
Vgl.  ebenso  II,  S.  150  Z.  15—21.  Hier  läßt  sich  sagen,  Sanherib 
weile  in  seinem  Namen  dauernd  in  jenem  Palaste,  aber  auch,  die 
Inschrift  seines  Namens  bezeuge  immerfort  den  Palast  als  ihm 
gehörig. 

Näher  jener  deuteronomistischen  Wendung  scheint  zu  stehen, 
was  wir  E.  B.  V  (Amarnabriefe)  lesen.  Dort  lesen  wir  in  einem  Brief 
des  Abdfeiba,  des  Königs  von  Jerusalem  (S.  308,  Brief  180,  Z.  60—62): 
>Siehe,  der  König  (nämlich  Amenophis  IV.)  hat  gelegt  seinen  Namen 
nach  Jerusalem  auf  ewig ;  deshalb  kann  er  nicht  verlassen  das  Gebiet 
von  Jerusalem«,  und  ebenso  (S.  308,  Brief  181,  Z.  5—7):  >Siehe, 
der  König,  mein  Herr,  hat  gelegt  seinen  Namen  (äakan  §umi§u)  auf 
den  Osten  und  den  Westen«.  H.  Winckler  bemerkt  in  seinem  >Keil- 
inschr.  Textbuch  zum  A.  Test.<  S.  6  Anm.  1  zu  der  ersten  Stelle: 
>Der  König  (Amenophis  IV.)  hat  seinen  Kult  als  Gott  in  Jerusalem 
eingeführt«,  und  zur  zweiten  Stelle  in  Anm.  2:  >  Anspielung  auf  den 
Kult  Amenophis'  IV.  als  Inkarnation  des  Sonnengottes  als  alleiniger 
Gottheit<.  Auch  G.  A.  Smith  (vgl.  the  Expositor  1903,  No.  XLI, 
p.  331)  teilt  diese  Ansicht.  Die  vernünftigste  Auslegung  jener  Sätze 
sei,  der  König  habe  imposed  upon  Jerusalem  the  worship  of  himself 
as  the  incarnation  of  Aten,  the  sun's  Disk.  Diese  Deutung  werde 
empfohlen  durch  die  servile  terms,  mit  denen  Abd^iba  und  die  be- 
nachbarten Fürsten  sich  vor  Amenophis,  ihrer  Sonne,  ihrem  Gotte, 
niederwürfen. 

Ich  halte  diese  Deutung  nicht  für  richtig;  auch  die  allerdings 
sehr  starken,  aber  im  Orient,  auch  im  alten,  unschwer  begreiflichen 
servile  terms  beweisen  nichts  für  sie.    Meines  Erachtens  bezeichnet 


206  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

der  Ausdruck  nichts  anderes  als  das  Herrschaftsverhältnis,  in  dem 
der  ägyptische  König  zu  Jerusalem  steht.  Indem  er  dort  seine  Ober- 
herrschaft aufrichtete,  den  König  von  Jerusalem  sich  zum  Gehorsam 
verpflichtete  (vgl.  besonders  Brief  181  die  weiteren  Sätze),  versetzte 
er  gleichsam  dorthin  seinen  Namen.  Dazu  läßt  sich  aus  der  schon 
erwähnten  Sanheribinschrift  (K.  B.  II  S.  112  Z.  64  f.)  die  Redewendung 
vergleichen :  Götter  nennen  (berufen)  den  Namen  Jemandes  zur  Herr- 
schaft über  Land  und  Leute;  vgl.  II,  S.  208,  Z.  110 f.  (Inschrift 
Assurbanipals);  S.  237(11),  Z.  4;  Illa,  S.  186,  Z.  54 f.;  S.  192,  Z.  21  f. 
(Merodach-Baladan  II).  Auch  eine  Inschrift  Sargons  bietet  vergleich- 
bare Stellen.  Wir  lesen  K.  B.  II,  S.  40,  Z.  3,  die  Götter  hätten 
seinen  (des  Königs)  Namen  hinausziehen  lassen  (vgl.  auch  ibid.  S.  36, 
Z.  2;  52,  Z.  4.  5)  und  S.  44,  Z.  31,  der  König  habe  die  Herrschaft 
über  die  Länder  ringsum  begründet,  indem  er  seinen  Namen  C^"^!) 
gewaltig  machte.  Danach  darf  man  doch  wohl  annehmen,  daß  jene 
Bedewendung,  der  ägyptische  König  habe  seinen  Namen  nach  Jeru- 
salem oder  auf  den  Osten  und  den  Westen  gelegt,  nichts  anderes 
sagen  will,  als,  er  habe  dort  seine  Herrschaft  aufgerichtet.  An  eine 
von  ihm  dort  begründete  kultische  Verehrung  seiner  Person  als  In- 
karnation des  Sonnengottes  zu  denken,  liegt  meines  Erachtens  fern. 
Uebrigens  zeigt  allerdings  ein  Brief  eines  Fürsten  im  Libanongebiet  (?), 
in  Katna  (K.  B.  V,  Brief  138,  S.  256,  Z.  18flF.),  daß  ägyptische  Könige 
Bilder  des  Sonnengottes  an  Wohnstätten  ihrer  Vasallen  gestiftet 
haben  oder  doch  wenigstens  in  der  genannten  einen  Stadt  und  auf 
die  Gottesstatue  ihren  (der  Spender)  Namen  setzten  (§umu  .... 
iSakkan).  Dadurch  wurde  natürlich  der  ägyptische  Sonnengott  und 
sein  Kult  dorthin  verpflanzt,  zugleich  aber  auch  der  Name  seines 
königlichen  Oberherrn  dorthin  gesetzt.  Dazu  ließe  sich  die  oben 
erwähnte  Namensinschrift  Sanheribs  in  dem  von  ihm  errichteten 
Palaste  wohl  vergleichen. 

Von  besonderem  Interesse  sind  dann  zwei  Stellen  in  der  Annalen- 
inschrift Assurbanipals,  nach  denen  der  >Name<  des  Assyrerkönigs 
eine  sieghafte  Macht  bedeutet.  K.  B.  H,  S.  172  f.,  Z.  95—99,  heißt 
es,  dem  Könige  von  Lydien,  Gyges,  habe  der  Gott  A§ur  seinen  (des 
Assurbanipal)  Namen  in  einem  Traume  offenbart  und  habe  ihm  ge- 
sagt, er  möge  die  Füße  des  Assyrerkönigs  umfassen,  dann  werde  er 
>  durch  seinen  (des  Assyrerkönigs)  Namen  seine  Feinde  besiegen €. 
Dann  lesen  wir  ebenda  S.  176,  Z.  119:  iDie  Oimirier,  die  er  durch 
meinen  (Assurbanipals)  Namen  unter  sich  getreten,  . .  .c  Diese  Sätze 
führen  uns  wenigstens  formell  sehr  nahe  an  den  Namenglauben 
heran,  der  uns  hier  interessiert.  Und  alle  die  herangezogenen  aus 
sehr  weit  voneinander  liegenden  Zeiten  stammenden   Stellen  legen 


Giesebrecht,  Die  alttestamentliche  Schätzung  des  Gottesnamens.  207 

meines  Erachtens  recht  nahe,  zu  vennaten,  daß  auch  dem  exilischen 
Babylonien  die  Vorstellung  nicht  fremd  war,  jemand,  gleichviel  ob 
König  oder  Gott,  setze  seinen  Namen  irgend  wohin,  wenn  man  sagen 
wollte,  er  begründe  dort  seine  Macht  und  Herrschaft,  lasse  sich  dort 
als  dem  Herrn  und  Gebieter  dienen,  übe  von  dort  aus  seine  Macht 
und  erfülle  von  dort  aus  die  Herzen  mit  Furcht. 

Man  wird  also  der  Annahme  wohl  Ausdruck  geben  dürfen,  daß 
es  nicht  nur  möglich  gewesen  sei,  daß  jüdische  Schriftsteller  auf 
babylonischem  Boden  jene  Redewendung  ütö  pw  aufnahmen,  sondern 
auch ,  daß  jener  Namenglaube  tatsächlich  unter  dem  Einfluß  babylo- 
nischer Vorstellungs-  und  Redeweisen  in  die  jüdische  Vorstellungs- 
welt und  ihre  sprachlichen  Aeußerungsformen  eindrang,  nachdem  ihm 
allerdings,  wie  wir  sahen,  in  der  vorausgehenden  religiösen  Entwick- 
lung in  manchfacher  Weise  die  Wege  gebahnt  waren.  Und  da  wir 
wirklichen  Beweisen  für  das  Vorhandensein  des  Namenglaubens  im 
jüdischen  Denken  und  Reden  erst  seit  der  exilischen  Zeit  begegnen, 
so  meine  ich,  wir  dürften  jener  Annahme  mindestens  den  Charakter 
hoher  Wahrscheinlichkeit  beilegen,  wenn  es  auch  geboten  sein  mag, 
noch  nicht  ohne  weiteres  von  Gewißheit  zu  reden.  Die  Prophetie  des 
Deuterojesaja  liefert  den  sichersten  Beweis  einerseits  für  die  selbst- 
verständlich nicht  überraschende  Tatsache,  daß  der  Glaube  der  Jahwe 
treu  gebliebenen  Exulantengemeinde  nach  und  nach  genötigt  wurde, 
sich  emstlichst  mit  babylonischem  Glauben  und  Denken  auseinander- 
zusetzen, das  auch  in  ihre  Reihen  immer  stärker  eindringende  baby- 
lonische Heidentum  in  religiöser  Vorstellung  und  kultischer  Praxis 
nachdrücklichst  zu  bekämpfen;  andrerseits  aber  auch  für  die  Tat- 
sache, daß  bei  der  unausweichlichen  Auseinandersetzung  mit  Babel 
und  seiner  Geisteswelt  die  jüdische  Begriffswelt  und  ihre  sprachlichen 
Ausdrucksformen  sich  recht  wesentlich  und  gewiß  je  länger,  umso 
stärker  der  babylonischen  Art  akkommodierten.  Und  das  konnte  natür- 
lich geschehen,  auch  wenn  man  in  den  Kreisen,  die  ihrem  ererbten 
Glauben  und  mit  ihm  ihrer  jüdischen  Eigenart  treu  blieben,  mit 
allem  Eifer,  ja,  eifersüchtig  an  der  Sprache  der  Väter  festhielt,  wofür 
ja  gerade  die  herrlichen  prophetischen  Poesien  des  Deuterojesaja 
den  glänzendsten  Beweis  liefern,  aber  auch  bedeutsame  Literatur- 
denkmäler der  nächsten  nachexilischen  Zeiten  Zeugnis  ablegen.  Die 
breite  Masse  der  in  Babylonien  angesiedelten  jüdischen  Exulanten 
wird  indes,  genötigt  schon  durch  das  Bedürfnis  des  alltäglichen 
Lebens,  nicht  bloß  bald  babylonisch  zu  reden,  sondern  auch  je  länger, 
je  mehr  babylonisch  zu  denken  angefangen  haben.  Kittel  hat  jene 
Akkommodation  in  den  sprachlichen  Ausdrucksformen,  die  sich  aus 
einer  Vergleichung  der  Tonzylinderinschrift  des  Cyrus  (K.  B.  Hlb, 


208  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  3. 

S.  120 ff.)  und  der  Schrift  Deuterojesajas  ergibt,  ins  Licht  gestellt, 
vgl.  Zeitschr.  f.  d.  alttest.  Wissensch.  1898,  S.  149  ff.  Ich  würde  in 
der  Lage  sein,  weitere  Beweise  dafür  zu  erbringen.  Jedenfalls  bietet 
die  geistige  Atmosphäre,  in  die  uns  Deuterojesaja  hineinführt  und 
die  im  wesentlichen  dieselbe  ist,  der  wir  in  den  meisten  Dokumenten 
der  sogenannten  deuteronomistischen  Literatur  begegnen,  den  Boden, 
auf  dem  in  der  jüdischen  religiösen  Denk-  und  Bedeweise  die  Ent- 
wicklung (Fortschritt  kann  man  es  kaum  nennen)  vor  sich  gehen 
konnte,  die  sich  in  dem  allerdings  anfangs  in  zaghaften  Formen  auf- 
tretenden Namenglauben  verkörperte.  Daß  derselbe  in  seiner  eigent- 
lichen Entwicklung  erst  der  nachexilischen  Zeit,  also  auch  der  nach- 
deuterojesajanischen,  angehört,  könnte  man  auch  darin  erwiesen  sehen, 
daß  die  meisten  und  stäi*ksten  Zeugnisse  für  sein  Vorhandensein  im 
Psalter  gefunden  werden.  Es  würde  freilich  eine  notwendige,  wenn 
auch  sehr  schwierige,  aber,  wie  ich  glaube,  doch  durchführbare  und 
lohnende  Arbeit  sein ,  zu  untersuchen ,  inwieweit  das  im  Sinne  jenes 
Namenglaubens  deutbare  DID  Jahwes  wirklich  zum  ursprünglichen 
Text  der  Lieder  gehört  (daß  es  oft  zugesetzt  ist,  erweist  meines  £r- 
achtens  der  Bhythmus),  und  aus  welchen  Zeiten  Lieder,  in  denen 
dies  der  Fall  ist,  abgeleitet  werden  müssen.  Ich  bin  überzeugt,  es 
würde  sich  herausstellen,  daß  auch  die  vom  Psalter  gebotenen  Bei- 
spiele uns  in  die  nachexilische  Zeit  hineinweisen. 

Ich  breche  hier  mit  meinen  Ausführungen  ab.  Im  Grunde  ist 
es  methodologischer  Natur,  was  ich  an  Giesebrechts  Arbeit  auszu- 
setzen habe.  Aber  mich  mit  der  formellen  Feststellung  des  metho- 
dischen Mangels  an  seiner  und  nicht  blos  seiner  Arbeit,  sondern 
auch  an  der  Arbeit  anderer,  soweit  sie  sich  auf  das  alte  Testament 
bezieht,  zu  begnügen,  schien  mir  nicht  empfehlenswert.  Gerade  an 
dem  Orte,  wo  ich  die  Arbeit  anzeigen  durfte,  hielt  ich  es  für  gut, 
durch  positive  Beweisführung  zu  zeigen,  was  herauskomme  oder 
doch  herauskommen  könne,  wenn  man  in  der  von  mir  für  richtig 
gehaltenen  methodischen  Weise  den  zur  Untersuchung  stehenden 
Stoff  bearbeitet.  Nach  meinen  Ergebnissen  würde  also  alles,  was 
Giesebrecht  an  fremdem  Material  zum  Namenglauben  oder  -aber- 
glauben  beigebracht  und  auf  Grund  desselben  zur  Erklärung  der 
alttestamentlichen  Stellen,  wo  vom  uw  Jahwes  in  oft  so  auffälliger 
Weise  geredet  wird,  ausgeführt  hat,  nur  für  das  jüdische  Denken 
und  Reden  der  letzten  exilischen  und  vornehmlich  erst  der  nach- 
exilischen Zeiten  von  wirklicher  Gültigkeit  sein  können.  Es  liegt 
mir  fem  zu  leugnen,  daß  auch  im  älteren  Israel  und  Juda  wohl  in 
den  tieferen  Schichten  des  Volkes  solcher  Aberglaube  geherrscht 
haben  mag,  sicher  nachweisbar  aus  den   uns  zugänglichen  Quellen 


Giesebrecht,  Die  ahtestamentliche  Sch&tzong  des  Gottesn&meiu.         209 

ist  er  aber  nicht.  Indes,  das  glaube  ich  zuversichtlich  behaupten  zu 
dUrfen,  daß  er  der  Denk-  und  Redeweise  innerhalb  der  genuinen 
Jahwereligion  in  der  Torexilischen  Zeit  und  bis  tief  in  die  exilische 
Zeit  hinein  fremd  war,  aber  ich  leugne  wiederum  nicht,  daß  sich 
in  der  Frophetie  wie  unter  der  Einwirkung  der  äußeren  Entwicklung 
auch  in  dem  volkstümlichen  religiösen  Denken  in  den  letzten  Zeiten 
vor  dem  Exil  der  Boden  schon  zu  bereiten  anfing,  der  das  wirkliche 
Eindringen  jenes.  Namenglaubens  in  die  religiöse  Vorstellungswelt  der 
jüdischen  Gemeinde  ermöglichte.  In  welchem  Sinne  und  in  welchem 
Umfange  ich  dies  meine,  ergiebt  sich  aus  gelegentlichen  Bemerkungen 
in  meinen  Ausführungen. 

Ich  gehe  nun  nicht  mehr  auf  die  weiteren,  unzweifelhaft  wert- 
vollen Darlegungen  Giesebrechts  ein.  Sie  behalten  ihren  Wert,  auch 
wenn  ich  sie  religions-  oder  vorstellungsgeschichtlich  gerne  etwas 
anders  benutzt  sehen  möchte.  In  manchen  Einzelheiten  wird  man 
mit  ihm  rechten  können,  aber  an  der  Bedeutung  dessen,  was  er  mit 
seiner  Arbeit  geleistet,  wird  damit  nichts  gemindert.  Seine  Arbeit 
ist  und  bleibt  an  diesem  Punkt  der  Erklärung  eigentümlicher  religions- 
geschichtlicher Phänomene  auf  alttestamentlichem  Boden  für  alle 
weitere  Forschung  grundlegend,  und  darum  verdient  sie,  wie  viel 
man  an  ihr  im  einzelnen  auch  wandeln  muß,  wärmsten  Dank. 

Halle  a.  S.  J.  W.  Rothstein. 

Alexios Melnonf ,  Ueber  Annahmen.    Leipzig  1902,  Johann  Ambrosias  Barth. 
XV,  298  8.    Mk.  8.—. 

Daß  sich  die  Anzeige  des  1902  erschienenen  Buches^)  durch 
äußere  Umstände  bis  jetzt  verzögerte,  hat  insofern  sein  sachlich 
Gutes,  als  inzwischen  die  Untersuchungen  jenes  Buches  durch 
Meinong  und  seine  Schüler^  eifrig  weitergeführt  worden  sind  und 
demnach  über  einige  der  so  erzielten  Vereinfachungen  und  Ver- 
tiefungen jetzt  mitberichtet  werden  kann. 

Mag  es  auf  den  ersten  Blick  befremden,  daß  die  scheinbar  ganz 
spezielle  psychische  Tatsache  der  >Annahmen<  eine  Monographie  von 

1)  Es  trägt  am  Schluß  den  Vermerk  »Eingegangen  am  5.  NoTember  1901c 
in  seiner  Eigenschaft  als  Sonderband  der  Ztschr.  f.  Psych,  a.  Physiol,  d.  Sinnes- 
organe (was  nur  auf  dem  äoBeren,  nicht  auf  dem  inneren  Titelblatt  des  Baches 
bemerkt  ist). 

2)  Namentlich  in  den  »Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  und  Psycho- 
logiec,  herausgegeben  von  A.  Meinong,  Johann  Ambrosias  Barth  1904,  634  8. 

Beim  AbschluB  dieser  Anzeige  des  »Annahmen« -Buches  (Herbst  1905)  war 
mir  nicht  bekannt,  daß  die  ausführliche  Anzeige  der  »Untersuchungen«  durch 
Dürr  (G.  g.  A.  1906, 1)  bevorstehe.  —  Einige  Mißverständnisse  Dürrs  werde  ich 
bei  nächster  Gelegenheit  zu  berichtigen  suchen. 


210  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

fast  300  Seiten  erlaubt  oder  gar  fordert,  so  klärt  hierüber  die  Be- 
merkung des  Vorwortes  auf,  daß  das  Buch  auch  die  >in  größter 
Mannigfaltigkeit  von  allen  Seiten  sich  herandrängenden  Tatsachen  < 
mitbehandelt,  was  >der  formellen  Geschlossenheit  dieser  Ausführungen 
abträglich  gewesen«  sei.  Die  Berichterstattung  wird  daher  vielleicht 
am  schnellsten  orientieren ,  wenn  wir  zuerst  jede  der  beiden  Haupt- 
entdeckungen des  Buches,  die  der  > Annahmen <  und  die  der 
>Objektive<,  für  sich  besprechen  und  dann  erst  unter  UI  die 
Reihenfolge  der  sich  an-  und  eingliedernden  Nebenuntersuchungen 
in  einigen  Hauptpunkten  vorführen. 

I.  Annahmen.  —  Als  Ausgangsbeispiel  einer  solchen  wird  ver- 
langt (S.  3)  »sich  etwa  zu  denken,  die  Buren  hätten  der  englischen 
Uebermacht  nicht  weichen  müssen  oder  sie  hätten  seitens  der  Völker 
des  europäischen  Kontinents  nicht  nur  Bewunderung  und  Sympathie, 
sondern  auch  politisch  wirksame  Unterstützung  erfahren«.  Diese  An- 
nahme (—  es  sind  eigentlich  ihrer  zwei,  eine  negative  >.  .  nicht 
weichen  müssen  .  .<  und  eine  positive  >.  .  Unterstützung  erfahren  .  .c) 
ist  mehr  als  bloßes  Vorstellen  (S.  6)  aber  weniger  als  volles  Urteilen ; 
denn  »wer  urteilt,  glaubt  etwas,  ist  von  etwas  überzeugt«.^) 

1)  Es  sei  sogleich  hier  bemerkt,  daß  obiger  Gebrauch  des  Wortes  »über- 
zeugt sein«  sich  nicht  mit  dem  deckt,  was  der  Verfasser  (und  der  Referent) 
bisher  unter  »überzeugt  sein«  verstanden  hatten,  nämlich  gewisses  Urteilen 
im  Gegensatz  zum  bloßen  wahrscheinlichen,  zum  Vermuten.  Diesen  älteren 
Sprachgebrauch  handhabt  der  Verfasser  auch  später  wieder  einmal,  indem  er 
(S.  173)  sagt,  daß  durch  »ich  bin  überzeugt  oder  ich  vermute«  der  Gewiß- 
heitsgrad bestimmt  sei.  Wenn  aber  auch  die  Absicht  des  Verfassers  im  ganzen 
die  ist,  das  Wort  Ueberzeugung  nunmehr  als  Gattungsnamen  für  gewisses  und 
wahrscheinliches  (sicheres  und  unsicheres)  Urteilen  zu  verwenden  (vgl.  z.  B.  auch 
den  ganzen  §  15  »das  Wesen  der  Ueberzeugungsvermittlung«),  so  hält  Referent  es 
doch  für  zweckmäßiger,  nach  wie  vor  das  Wort  »Ueberzeugnng«  für  die  höchsten 
Gewißheits-  (und  Sicherheits)grade  aufzusparen  und  es  daher  in  der  allgemeinen 
Charakteristik  des  Begriffes  Urteilen  nicht  zu  verwenden.  —  Hiemach  bleibt  von  der 
obigen  Doppelbestimmung  des  Urteilens  nur  die  erste  »wer  urteilt,  glaubt 
etwas« ;  wodurch  nun  freilich  wieder  zu  aUen  jenen  Mißverständnissen  Gelegenheit 
gegeben  ist,  die  einen  Teil  der  Schuld  daran  tragen,  daß  es  zu  einer  allgemeinen 
Anerkennung  der  Gleichung  Urteil  =  Glauben  bisher  nicht  kommen  wollte. 
Diesem  Mißverständnisse  gereicht  es  zu  einer  Art  sachlichen  oder  wenigstens 
sprachUchen  Entschuldigung,  daß  das  Wort  »Glauben«  leider  selbst  wieder 
nicht  weniger  als  vier  verschiedene  Bedeutungen  hat  (wie  ich  in  meiner 
Logik  1890  S.  126  gezeigt  habe).  Im  obigen  wird  das  Wort  Glauben  in  der  ersten, 
allgemeinsten  dieser  vier  Bedeutungen  gebraucht,  wonach  es  weder  in  einem 
Gegensatze  zum  Wissen  steht,  noch  die  spezieUe  Bedeutung  »einem  etwas  glanbenc 
hat,  noch  auch  ein  »Glauben  aus  Liebe«  (wie  die  Mutter  an  ihren  Sohn  glaubt 
oder  wie  das  im  guten  Sinne  religiöse  Glauben)  besagt.  —  Durch  diese  Unter- 
scheidung wäre  z.  B.  das  Mißverständnis  zu  vermeiden  gewesen,  dem  soeben  wieder 


A.  Ifeinong,  üeber  Annahmen.  211 

Aber  niemand  glaubt,  daß  die  Buren  Unterstützung  erfuhren,  da  er 
eben  das  Gegenteil  weiß.  Aber  gleichviel,  ob  er  es  weiß  oder  nicht 
weiß,  glaubt  oder  nicht  glaubt,  kann  er  es  jeden  Augenblick  > an- 
nehme n<.  —  Während  sich  also  in  jedem  Urteil  erstens  Glauben, 
zweitens  Bejahung  oder  Verneinung  finden,  fehlt  dagegen  beiden 
dem  Vorstellen;  die  Annahmen  aber  bilden  »ein  Tatsachen- 
gebiet zwischen  Vorstellen  und  Urteilen<,  weil  auch  ihnen 
(wie  den  Vorstellungen)  das  Glauben  fehlt,  dagegen  Bejahung  oder 
Verneinung  (wie  den  Urteilen)  zukommt.  —  Indem  von  da  ab  das 
Wort  > Annahme«  als  technischer  Ausdruck  für  alle  Tatsachen  jenes 
Zwischengebietes  zwischen  Vorstellen  und  Urteilen  gebraucht  wird, 
übersieht  der  Verfasser  nicht,  daß  es  noch  eine  andere  Bedeutung 
des  Wortes  Annehmen  gibt,  die  wieder  ganz  unter  den  Begriff  >Ur- 
teilen«  fällt  (z.  B.  eine  Lehre  annehmen,  d.  h.  sie  glauben).  Soweit 
>§  1.  Ein  Tatsachengebiet  zwischen  Vorstellen  und  Urteilen.«  — 
Weitere  Beispiele  bringt  das  dritte  Kapitel  >die  nächstliegenden  An- 
nahmefälle«, so  §  10  »Annahme  in  Spiel  und  Kunst«,  auf  die  zuerst 
Fräulein  M.  Radakoviö  aufmerksam  machte,  weshalb  auch  ihr  das 
ganze  Buch  gewidmet  ist. 

Der  Berichterstattung  sei  aber  die  Freiheit  gewährt,  dem  weiteren 
Bericht  sogleich  hier  den  Hinweis  auf  eine  Fundgrube  von  Beispielen 
einzuschalten,  die  die  weitere  psychologische  und  erkenntnistheoretische 
Untersuchung  aufs  wirksamste   gegen  den  Verdacht   schützen   wird, 

Mach  (Erkenntnis  und  Irrtum  S.  118,  Anm.  3)  unterliegt,  wenn  er  sagt:  »Ich 
kann  mich  nicht  mit  der  Ansicht  befreunden,  daß  das  Glauben  ein  besonderer 
psychischer  Akt  sei,  welcher  dem  Urteil  zugrunde  liegt  und  dessen  Wesen  aus- 
macht. Urteile  sind  keine  Glaubensangelegenheiten,  sondern  naive  Befunde« 
Glauben,  Zweifel,  Unglauben  beruhen  vielmehr  auf  Urteilen  [!]  über  die  Ueberein- 
stimmnng  oder  Nichtübereinstimmung  von  zuweilen  recht  komplizierten  Urteils- 
komplexen.« Etwas  früher  (S.  88)  hatte  Mach  aus  dem  Beispiel  einer  indianischen 
Zauberin  und  der  Geschichte  der  Hexenprozesse  die  Warnung  davon  abgeleitet 
»sich  von  irgend  einem  Glauben  die  Lebenswege  vorschreiben  zu  lassen«.  Solche 
»Glanbensangelegenheiten«  sind  natürlich  die  Urteile  auch  nach  unserer  Ansicht 
nicht,  die  wir  es  ganz  sprachgebräuchlich  finden  z.B.  zu  fragen :  Glaubst  du,  daß 
2x2  =  4?  Glaubst  du,  daß  es  keine  Hexen  gibt?  Ob  und  wie  sich  dann  das 
Ja  und  Nein  auf  Empfindungen  und  Erinnerungen  (oder  auf  was  sonst)  »voll- 
ständig und  auf  die  einfachste  Weise  beschreibend«  zurückführen  lasse, 
bleibt  noch  immer  abzuwarten;  auch  nur  halbwegs  plausibles  Positives  ist  der 
von  J.  St.  Mill  und  Brentano  vertretenen  Lehre  von  der  ünzurückfuhrbarkeit 
des  psychischefa  Phänomens  Glauben  (belief)  auf  bloße  Vorstellungen,  einschließlich 
bloßen  »VorsteUungsverbindungen«  und  »Vorstellungstrennungen«  bisher  nicht  ent- 
gegengestellt worden.  —  Für  die  Sache  der  Annahmen  ist  die  der  Urteile  nur 
insofern  von  Belang,  als  Meinong  behufs  Charakteristik  der  Annahmen  von  den 
Urteilen  ausgeht,  wobei  er  aber  ausdrücklich  »noch  für  recht  weit  auseinander- 
liegende Meinungen  über  die  Natur  des  Urteils  Raum  gelassen«  wissen  wül. 


dl3  OMt  gel  Ans.  IMd.  Nr  8. 

als  hätte  da  ein  Philosoph  wieder  einmal  eine  Spezialität  ausgegraben, 
die  füglich  nur  ihn,  nicht  aber  die  Bebauer  fruchtbarer  Arbeits- 
gebiete interessieren  könne.  Ich  meine  die  »Annahmen«  in  der 
Mathematik  und  in  der  mathematischen  Physik.  Von  jeher 
hatte  es  zum  altehrwürdigen  (man  könnte  sagen)  Ritual  eines  form- 
gerechten Beweises  Euklidscher  Manier  gehört,  ihn  so  zu  gliedern: 
> Annahme,  Behauptung,  Beweis«  (worauf  dann  Diskussion,  Deter- 
mination und  dergleichen  folgt).  Hier  trifft  die  Gegenüberstellung 
der  zwei  ersten  Eunstausdrücke  >  Annahme«  und  >Behauptung< 
praktisch  genau  das,  was  nun  Meinong  mit  der  Gegenüberstellung 
der  Annahme  gegen  das  Urteil  theoretisch -psychologisch  festhält; 
wie  es  denn  auch  längst  in  der  Logik  üblich  war,  das  Urteil  mehr 
oder  weniger  ausdrücklich  als  > Behauptung«  zu  charakterisieren. 
Nun  könnte  gegen  den  Hinweis  auf  die  Euklidsche  Formgebung 
mathematischer  Beweise  von  mathematischer  Seite  eingewendet 
werden,  daß  das  altmodisches  Zeug  sei,  und  daß  eine  Erkenntnis- 
psychologie, die  sich  auf  erkenntnistheoretische  (einschließlich  psycho- 
logischer) Analyse  jener  veralteten  Erkenntnispraxis  stütze,  nicht  in 
Fühlung  sein  oder  kommen  könne  mit  dem  gegenwärtig  als  fruchtbar 
anerkannten  Wissenschaftsbetrieb.  Auf  einen  solchen  Einwand  wird 
die  Philosophie  natürlich  antworten,  daß  sie  sich  ihrerseits  keines- 
wegs einzumischen  gedenke  in  die  internen  Fragen  der  Mathematik, 
inwieweit  es  für  ihren  fruchtbaren  Betrieb  nützlich  und  geschmack- 
voll sei,  den  Euklidschen  Apparat  von  Definition,  Axiom,  Postulat, 
sodann  Annahme,  Behauptung,  Beweis  u.  s.w.  auch  äußerlich  mög- 
lichst auffällig  hervorzukehren  oder  aber  sich  dieser  logischen  Leit- 
begriffe nur  tätig  und  fruchtbar  zu  bedienen,  ohne  von  ihnen  äußer- 
lich viel  Aufhebens  zu  machen.  Nur  so  viel  darf,  ohne  daß  man 
sich  damit  der  exakten  Wissenschaft  gegenüber  eine  Einmischung  in 
ihre  internen  Angelegenheiten  erlaubt  hätte,  füglich  behauptet 
werden,  daß  wenn  sogar  Heinrich  Hertz  in  seiner  posthumen 
Mechanik  jene  alte  Mode  der  auch  äußerlichen  Gliederung  in  Defi- 
nition ,  Behauptung  u.  s.  w.  zu  erneuern  beliebt  hat ,  er  hierdurch 
allein  sicher  noch  nicht  zum  altmodischen  Denker  sich  gestempelt 
hatte.  —  Wie  dies  aber  auch  sei:  es  fehlt  auch  innerhalb  der  un- 
bestrittenen modernsten  Bemühungen  im  Gebiete  der  reinen  Mathe- 
matik nicht  an  logischen  Anstrengungen,  deren  intimste  Charakteristik 
sich  gar  nicht  schärfer  geben  läßt  als  durch  strenges  Unterscheiden 
zwischen  den  Leitbegriffen  Definition,  Annahme,  Behauptung  u. s.w. 
Wir  meinen  die  mit  nie  erlebter  Energie  gegenwärtig  auf  der 
Tagesordnung  stehenden  Untersuchungen  über  die  Natur  der  Axiome 
(zuerst  nur  die  der  Geometrie,  später  die  der  Arithmetik).    Der 


A.  Meinoikg,  tJeber  Annahmen.  218 

modernste  und  radikalste  Versuch,  die  immer  dichter  sich  schürzenden 
wissenscbaftstheoretischen  Knoten  zu  durchhauen,  ist  die  These:  >die 
Axiome  sind  nichts  als  Definitionen<.    Wir  Logiker  und  Psy- 
chologen hören  aus  dieser  These  heraus:   »Urteile  sind  nichts  als 
Vorstellungen  € ;   denn  die  Axiome  hatten  bisher  für  unmittelbar 
evidente  Urteile  gegolten,  die  Definitionen  als  eindeutige  Be- 
stimmungen von  Begriffsinhalten  (gemäß  der  Definition  in  meiner 
Logik  §  14:  Begriffe  sind  Vorstellungen  von  eindeutig  bestimmtem 
Inhalt).    Auch  der  gerade  hierüber  zwischen  den  Mathematikern  ge- 
führte Streit  soll  nichts  weniger  als  durch  Einmischnng  seitens  der 
Philosophen  zu  schlichten   gehofft  werden;  nur  das  wird  uns  nicht 
verwehrt  werden  können,  daß  wir  uns  angesichts  solcher  Streitig- 
keiten unsem  Teil  denken  und  ruhig  abwarten,  ob  sich  zwischen  den 
unmittelbar  Beteiligten  der  Streit  eher  schlichten  wird ,  als  bis  man 
es  mit  dem  Auskunftsmittel  versucht,  daß   es  eben  zwischen  Vor- 
stellung (inkl.  Definitionen)    und   Urteil  (inkl.  Axiomen)  noch  ein 
Mittleres  gibt,  die  Annahme.    Und  gewiß  wird  man  es  uns  nicht 
verwehren,  wenn  wir  die  ebenfalls  öfters  zu  vernehmende  Aufklärung, 
der  Ersatz  des  elften  Axioms   durch  die  Lobatschewskysche  oder 
Riemannsche   Annahme    sei   weder   Definition    noch   Behauptung, 
sondern  eben  —  Annahme,  als  wertvolles  psychologisches  Beweisstück 
zur  Kenntnis  nehmen.  —  So,  genau  so  ist's!  —  würde  ich  sagen, 
wenn  ich  hier  auch    mein    mathematisches   Glaubensbekenntnis   in 
Sachen  der  Euklidschen  und  Nicht-Euklidschen  Geometrie  abzulegen 
hätte.     Aber  nicht  als  Mathematiker,  sondern   als  Referent  über 
Meinongs  philosophische  Abhandlung  glaube  ich  betonen  zu  dürfen, 
daß   wenn   der   Begriff   >Annahme<    dem    gesunden   Instinkte   zur 
Schlichtung  so  grundlegender  Dinge  sich  als  nicht  nur  notwendig, 
sondern  auch  ausreichend  bewährt  hat,   eine  gerade  diesem  psychi- 
schen Gebilde  des  Annehmens  gewidmete  Untersuchung  nicht  un- 
fruchtbar sein  könne.     Erst   wenn    diese  Mittelstellung    der   »An- 
nahme«   zwischen     iDefinitionc    und    >Axiom<    auch    seitens    der 
beteiligten   Mathematiker    einmal    ausdrücklich    anerkannt    werden 
sollte,  wird  es  an  der  Zeit  sein,  die  bisher  von  den  Mathematikern 
geübte  Erkenntnispraxis  und  was  sie  selbst  nebenher  an  theoretischen 
Gedanken  über  diese  Praxis  geäußert  haben,  historisch  und  syste- 
matisch zu  überblicken.  —  Nur  damit  wir  neben  der  reinen  Mathe- 
matik auch  aus  der  mathematischen  Physik  wenigstens  einen  Beleg 
geben,  sei  darauf  hingewiesen,  daß  Boltzmann  in  seiner  Mechanik 
(1897)  auch  schon  äußerlich  sieben  »Annahmen«   an  die  Spitze 
gestellt  bat  und  sich  ausführlich  über  die  hierdurch  ermöglichte 
deduktive   und   dennoch   der   Empirie  gerecht  werdende  Methode 


214  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

äußert.  Der  Erkenntoistheoretiker  ^)  hat  dem  nichts  hinzuzufügen, 
als  daß  diese  Methode  die  logisch  sauberste  ist,  wie  man  überhaupt 
empirische  Tatsachen  gedanklich  bewältigt. 

Nachdem  wir  uns  nun  schon  die  Freiheit  des  einen  großen  Ex- 
kurses gestattet  haben,  sei  auch  noch  ein  zweiter  gestattet,  ehe  wir 
in  der  eigentlichen  Berichterstattung  fortfahren.  Ich  berichte  näm- 
lich aus  der  Zeit,  daMeinongs  These,  es  gebe  zwischen  Vorstellen 
und  Urteilen  ein  Mittleres,  die  Annahme,  zuerst  bekannt  wurde,  daß 
diese  These  nicht  nur  Aufsehen,  sondern  natürlich  auch  Opposition 
bei  allen  erregt  hat,  die  so  lange  Zeit  hindurch  gewohnt  waren,  in 
dem  Vorstellen  und  Urteilen  die  beiden  Grundklassen  des  intellek- 
tuellen Lebens  zu  erblicken.  Und  ich  füge  sogleich  hinzu,  daß  wenn 
einmal  ein  Mittleres  zugegeben  ist,  auch  der  Gedanke  mehrerer  und 
dann  auch  wohl  unendlich  vieler  stetig  ineinander  gehender  Zwischen- 
glieder der  äußerlichen,  ja  gerade  der  äußerlichsten  Auffassung  sehr 
nahe  liegt.^)  Da  nun  Meinong  selbst,  wie  gesagt,  die  Annnahmen 
ausschließlich  dadurch  charakterisiert,  daß  ihnen  über  das  Vorstellen 
hinaus  das  Moment  des  Ja  und  Nein  zukommt,  dagegen  zum  Urteile 
das  Moment  des  Glaubens  fehlt,  so  bleibt  weiteren  Gedanken  darüber, 
wie  und  warum  es  überhaupt  ein  solches  Mittleres  gebe  und  geben 
könne,  noch  weiter  Spielraum.  Und  deshalb  ist  es  vielleicht  nicht 
unangebracht,  wenn  ich,  über  das  Referat  als  solches  hinausgehend, 
hier  einen  Gedanken  mitteile,  der  mich  nicht  verläßt,  seitdem 
Meinong  den  Vorgang  des  bloßen  Annehmens  im  Gegensatz  zum 
wirklichen  Urteile  zu  einem  psychologischen  Problem  gemacht  hat. 
Verhält  sich  nicht  die  Annahme  zum  Urteil  wie  eine  bloß  sta- 
tische Kraftwirkung  zur  kinetischen?  Vielleicht  hat  sich  mir 
diese  Analogie  nur  aufgedrängt,  weil  ich  um  jene  Zeit  anhaltend  mit 

1)  Ilöchstens  der  Didaktiker  könnte  noch  wünschen,  es  möchten  den  An- 
nahmen —  unbeschadet  ihrer  rein  logischen  Souveränität  —  schon  einige  empi- 
rische Tatsachen  vorausgeschickt  worden  sein,  warum  man  sich  gerade  diese 
und  nicht  ganz  andere  Annahmen  (die  ja  ebenso  logisch  souverän  gewesen  wären) 
zur  Bearbeitung  vorgesetzt  hat.  Wie  diese  einander  widerstreitenden  Interessen 
der  Logik  und  der  Didaktik  angesichts  physikalischer  einschließlich  mechanischer 
Tatsachen  miteinander  in  Einklang  zu  bringen  seien,  habe  ich  in  dem  Aufbau 
meiner  Physik  (Vieweg  1904)  praktisch  zu  zeigen  versucht  (indem  nämlich  z.  B. 
den  abstrakten  Begriflfcn  von  Geschwindigkeit  und  Beschleunigung  Versuche  mit 
Galileis  FaUrinne  vorausgeschickt  werden;  ebenso  dem  Begriffe  der  Zusammen- 
setzung von  Bewegungen  und  dergleichen  Galileis  Behandlung  des  Wurfes  u. s.w.; 
worüber  das  logische  und  didaktische  Prinzipielle  in  der  Vorrede  zur  großen  Aot- 
gabe  meiner  Physik  ausführlich  gesagt  ist 

2)  Dieser  Einfall  ist  kürzlich  veröffentlicht  worden  von  Willy  (»Gegen  die 
Schulweisheit«,  eine  Kritik  der  Philosophie,  1905). 


A.  Meinong,  üeber  Annahmen.  215 

den  Orundphänomenen  der  Mechanik  beschäftigt  war.  Vielleicht 
spricht  aber  auch  ein  schon  viel  früher  von  Meinong  selbst  ge- 
äußerter Gedanke  für  eine  solche  statische  Theorie  der  Annahmen 
im  Gegensatz  zur  kinetischen  Theorie  der  Urteile  (wie  wir  den 
ganzen  Gedanken  kurz  nennen  können).  Es  hat  nämlich  Meinong 
in  seiner  Abhandlung  über  »psychische  Analyse«  ^)  daraufhingewiesen, 
daß  das  Urteil  zu  denjenigen  psychischen  Vorgängen  gehört,  denen 
ein  Ziel  wesentlich  ist,  >mit  dessen  Erreichung  es  seinen  natürlichen 
Abschluß  findet«.  So  nun  >strebt<')  auch  der  Stein  der  Erde  zu, 
und  dieses  Streben  findet  seinen  einfachsten  Ausdruck  darin,  daß  er 
fallend  die  Erde  schließlich  erreicht.  Aber  außer  dieser  kinetischen 
Wirkung  der  Schwere  gibt  es  eben  noch  eine  zweite,  die  statische, 
falls  der  Stein  vor  Erreichung  der  Erdoberfläche  durch  irgend  ein 
Hindernis  aufgehalten  wird,  wobei  dann  nicht,  wie  es  fast  immer 
und  überall  ganz  ungenau  heißt :  die  > Kraft  aufgehoben«  ist;  sondern 
infolge  des  Entgegenwirkens  einer  zweiten  Kraft  bringen  eben  es 
beide  zusammen  nur  mehr  zu  einer  statischen  Wirkung  (Druck,  Zug, 
Spannung)  statt  der  kinetischen  (Beschleunigung).  —  Keineswegs 
soll  hier  die  Durchführbarkeit  der  Analogie  nach  allen  Richtungen  be- 
hauptet oder  auch  nur  geprüft  werden;  aber  soviel  wird  sich  wohl 
sagen  lassen,  daß  man  nur  dort  mit  »Annahmen«  sich  begnügt,  wo 
man  aus  irgend  einem  (logischen  oder  außerlogischen)  Grunde  es  für 
geboten  hält,  sein  Urteil  zu  »suspendieren«  ^)  (ein  Wort,  das  ja  auch 

1)  Ztschr.  f.  Psychol,  (herausg.  v.  Ebbinghaus,  Bd.  VI,  1894)  S.  448:  »Es 
gibt  YorsteUungsobjekte ,  deren  Charakteristisches  einer  Zeitstrecke  bedarf,  am 
sich  zu  entfalten;  es  gibt  dagegen  Objekte,  bei  denen,  was  sie  kennzeichnet,  sich 
bereits  in  einem  einzigen  Zeitpunkt  zusammengedrängt  findet.  Das  nächstliegende 
Beispiel  für  die  erste  Gruppe  gibt  wohl  die  Bewegung  ab.  . .  Ob  »der  Pfeil«  fliegt 
oder  ruht,  darüber  gibt  ein  herausgegriffener  Zeitpunkt  gar  keinen  Aufschluß.  . . 
Das  psychische  Analogon  des  Gegensatzes  von  Bewegung  und  Ruhe  bietet  sich 
im  Gegensatz  von  Aktivität  und  Passivität  dar.  .  .  Wer  tut,  muß  etwas  tun; 
dieses  Etwas  ist  ein  Zielpunkt,  auf  den  das  Tun  gerichtet  ist  und  mit  dessen 
Erreichung  es  seinen  natürlichen  Abschluß  findet.  .  .  Sagt  man:  YorsteUen  und 
Fühlen  sei  passiv,  Urteilen  und  Begehren  aktiv,  so  hat  man  dabei  Ausgedehntes 
im  Auge.« 

2)  Auch  im  Annahmenbuch  S.  101 ,  102  heißt  es  wieder :  »Wer  einer  von 
Urteil  begleiteten  YorsteUung  die  Gegenständlichkeit  ansieht,  der  wird  auch  der 
von  dem  urteilsähnlichen  Tatbestand  der  qualitätsgleichen  Annahmen  begleiteten 
YorsteUung  das  Hinstreben,  die  Tendenz  nach  dem  Erfassen  des  Gegenstandes 
ansehen  können.«  Doch  nicht  der  YorsteUung  selbst  kommt  dieses  »Hinstreben« 
zu,  sondern  es  sei  »aUes  aktuell  gegenständliche  Yorstellen  von  affirmativen  An- 
nahmen begleitet«. 

3)  Auch  dieses  Wort  findet  sich  wiederholt  angewendet  im  Annahmenbuch; 
z.  B.  S.  177:  »fingierte  Urteile,  deren  Richtigkeit  man  in  susjpenso  läßt.« 


216  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

geradezu  an  das  Brettchen  erinnert,  das  man  dem  fallenwollenden 
Stein  unterschiebt).  —  Wie  man  sieht,  ist  die  Rollenverteilung 
zwischen  dieser  Hypothese  und  der  Meinen gschen  Beschreibung  die 
von  genetischer  und  deskriptiver  Psychologie.  Und  wie  immer  die 
Erklärung  ausfällt,  so  kann  sie  nichts  verschieben  an  einer  schon 
vorher  richtig  gegebenen  Beschreibung.  Deshalb  kann  auch  die 
gegebene  Anregung,  gleichviel  ob  sie  haltbar  ist  oder  nicht,  keines- 
wegs Meinongs  Beschreibung  von  den  Annahmen  umstoßen  wollen. 
Vielleicht  fällt  aber  bei  künftiger  Ueberprüfung  der  Erklärung  doch 
auch  noch  manches  ab  für  die  Bereicherung  ihrer  bisherigen  Be- 
schreibung durch  das  einstweilen  nur  eine  positive  Merkmal,  daß 
auch  in  ihnen  bejaht  oder  verneint  (nicht  aber  geglaubt)  werde, 
ähnlich  dem  Urteile.  — 

Doch  es  gibt  auch  in  Meinongs  Buch  selbst  noch  ein  zweites 
deskriptives  Moment  für  Urteil  und  Annahmen  zusammen:  Es  liegt 
in  der  Eigenart  dessen,  was  angenommen,  was  geglaubt  wird  — 
im  Gegensatz  zu  bloß  Vorgestelltem  und  Vorstellbarem.  Dieses  An- 
genommene und  Geglaubte  sind  nämlich  die  eingangs  schon  als 
zweite  Entdeckung  des  Buches  erwähnten  >Objektive<.  Im  Sinn 
der  oben  gebrauchten  Charakteristik  der  Urteile  durch  ein  >Ziel< 
könnten  wir  sagen :  so  wie  die  statische  und  kinetische  Wirkung  der 
Schwere  ganz  wesentlich  dadurch  mitcharakterisiert  ist,  daß  alle 
schweren  Körper  entweder  eine  Beschleunigung  oder  einen  Zug  zur 
Erde  haben,  so  zielen  auch  Urteile  und  Annahmen  auf  ein  > Ob- 
jektiv«.   Was  meint  nun  dieses  neue  Wort? 

II.  Das  Objektiv  (S.  150—212).  —  Als  Ausgangsbeispiel  dient 
ein  negatives  Urteil  darüber,  >daß  keine  Ruhestörungen  vorgefallen 
sind<,  und  ein  positives  Urteil  darüber,  »daß  es  draußen  Schnee 
gibt<.  Hier  ist  >Schnee<  das  Objekt  des  Urteils,  dagegen  >daß 
es  Schnee  gibt<  das  Objektiv  desselben  Urteils.  Ein  drittes  Bei- 
spiel lautet:  >Es  steht  fest,  daß  die  Akten  noch  nicht  geschlossen 
sind«.  Wieder  ist  es  hier  der  >Daß-Satz<,  der  ein  Objektiv 
ausdrückt;  von  den  beiden  früheren  Beispielen  aber  unterscheidet 
sich  das  dritte  durch  den  sozusagen  unpsychologischen  Charakter 
des  >Es  steht  fest«  (wo  ja  das  >es<  auch  grammatisch  längst  als 
ein  > Impersonale <  bezeichnet  wird);  wogegen  es  in  den  beiden  ersten 
Beispielen,  wie  gesagt,  ausdrücklich  Urteile  waren,  deren  Gegen- 
stand dann  das  Nicht-sein  der  Ruhestörung  und  das  Sein  des  Schnees 
war.  Ehe  ich  aber  eingehe  auf  die  in  späteren  Publikationen 
Meinongs^)    und    seiner   Schüler    besonders    wichtig    gewordene 

1)  >Ueber  UrteUsgefohle«  (1905).  Vgl.  die  nnten,  S.  221  dieser  Anzeige, 
angeführte  Stelle. 


A.  Memong,  Ueber  Annahmen.  217 

«apsychologische   Betrachtungsweisec,    die  sich  in  dem 
Buch  von  1902  noch  nicht  rein  durchgerungen  hatte,   empfehle  ich 
dem  Leser,   den  die  drei  angeführten  Beispiele  natürlich  noch  nicht 
sogleich  in  Sachen   der  > Objektive«   aufs   Laufende  setzen  werden, 
25  Seiten  später  (§  39,  S.  175—182)  die  Gegenüberstellung  folgender 
Beispiele  zu  prüfen:  Man  sagt:  Ich  glaube,  daß  ein  Tisch  im  Zimmer 
steht,  aber  niemand  wird  sagen :  ich  glaube  an  einen  Tisch  im  Zimmer 
(S.  176);  ferner  (S.  178)  über  den  Unterschied  zwischen  Tisch  und 
Existenz  des  Tisches,  über  den  Unterschied  von  Schwarz  und  Schwärze, 
von  verschieden   und  Verschiedenheit.     Es  sei  hier  bemerkt,   daß 
allen  Jenen,  die  z.B.  zwischen  Tisch  und  Existenz  des  Tisches 
überhaupt  weder  einen  sachlichen  noch  einen  gedanklichen,  sondern 
eben  nur  den  sprachlichen  Unterschied  finden  können,  auch  das  von 
Meinong  entdeckte  und  durchforschte  Gebiet  der  Objektive  ver- 
schlossen bleiben  oder  zum  mindestens  als  unfruchtbar  gelten  wird. 
Von  mir  selbst  habe  ich  einzugestehen,  daß,  wie  ich  noch  in  meiner 
Logik  (1890,  S.  51)   den  Unterschied  von  rot  und  Röte  für  einen 
(beinahe?)  nur  sprachlichen  gehalten  hatte,  mir  erst  durch  die  vor- 
liegenden Untersuchungen,  nach  denen  rot  ein  Objekt,  Röte  = 
Rot-sein  ein  Objektiv  ist,  jene  Berufung   auf  bloß  sprachliche 
Unterschiede  sich  als  ein  allzu  wohlfeiles  Auskunftsmittel  dargestellt 
hat.    Wer  dann  einmal  soweit  ist,  hinter  den  sehr  mannigfaltigen 
sprachlichen  Wendungen,    die   der  Bezeichnung  der  Objektive  im 
Unterschied  von    Objekten    dienen    [nicht   das    einzige,    immerhin 
aber  das  auffälligste  dieser  Mittel  sind  die  »Daß-Sätze«,  von  denen 
Meinong  (S.  156)  als  linguistisch  feststehend  annimmt,  daß  >daß< 
von  hausaus  nichts  anderes  als  ein  Demonstrativpronomen  ist  — 
z.  B.  ich  glaube,  daß  draußen  Schnee  ist  =  ich  glaube  das :  draußen 
ist  Schnee]  einen  nicht  bloß  sprachlichen,  auch  nicht  bloß  einen 
gedanklichen,  sondern  im  letzten  Grunde  einen  sachlichen,  gegen- 
ständlichen Unterschied  gefunden  zu  haben,  mag  erstaunt  und 
erfreut  sein  über  die  Tragweite  dieser  Entdeckung.     Nur  als  eine 
Probe  dafür,  was  alles  sich  an  hergebrachten  Meinungen  über  grund- 
legende Dinge  durch  die  Entdeckung  der  Objektive  in  neuem  Licht 
darstellt,  gebe  ich  folgende  Ausführungen  (S.  173,  174)  über  Wahr 
(Falsch)  und  Evident  hier  im  Wortlaut  an.    Nachdem  Meinong 
daraufhingewiesen  hat,   >wie  die  Wendung  ,es  ist  mir  einleuchtend, 
daß  . .'  sich  auch  mit  Bezug  auf  eine  andere  Person  und  dann  auch 
ohne  Bezugnahme  auf  irgend  eine  Person,  also  etwa:   ,es  leuchtet 
ihm  ein,  daß  . .'  und  kurzweg  ,es  leuchtet  ein,  daß  .  /   umwandeln 
läßt,   ohne  daß  die  hiermit  beabsichtigte  Charakteristik  des  Urteils 
nach  der  Eigenschaft  seiner  Evidenz  etwas  Wesentliches  verliert«, 

0«li  pü  Au.  1906.  Nr.  8.  15 


218  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

fährt  er  fort  (S.  173):  >An  einer  solchen  unpersönlichen  Form  wird 
besonders  aufifallend,  was  freilich  eigentlich  schon  auch  an  jeder 
der  persönlichen  Formulierungen  zu  bemerken  gewesen  wäre,  dafl 
hier  etwas,  das  sich  zunächst  als  eine  Eigenschaft  eines  Urteils  dar- 
stellt, nun  geradezu  als  Attribut  des  im  >daß< -Satze  zur  Geltung 
kommenden  Objektivs  erscheint.  Evidenz  ist  doch  sicher  so  gut 
Sache  des  Urteils  wie  etwa  Gewißheit ;  gleichwohl  könnte  das  Sprach- 
gefühl, das  dem  Theoretiker  heute  anstandslos  gestattet,  das  Adjektiv 
> evident«  ohne  Weiteres  an  das  Substantiv  > Urteil«  anzuschließen, 
vielleicht  erst  durch  die  erkenntnistheoretische  Kunstsprache  geschaffen 
sein,  indes  es  dem  Laien  sicher  um  Vieles  natürlicher  sein  wird,  zu 
sagen:  >es  leuchtet  ein,  daß  3  größer  als  2  ist«  als  etwa  >das  Urteil 
hierüber  ist  einleuchtend«.  Noch  deutlicher  wird  dies  an  den  gegen- 
sätzlichen Terminis  >  w  a  h  r  «  und  »falsch«.  Man  kann  bekanntlich 
durchaus  nicht  sagen,  daß  dieselben  einer  Anwendung  in  übertragener 
Bedeutung  sonderlich  widerstreben:  >  wahrer  Freund«,  > falsche  Zähne«, 
>wahre  Rede«,  »falsche  Vorstellung«  sind  ja  geradezu  Schulbeispiele 
für  Mehrdeutigkeit.  Bezeichnet  man  nun  ein  Urteil  als  wahr  oder 
falsch,  so  hat  man  dabei  immerhin  nicht  mehr  das  Gefühl  einer 
geradezu  uneigentlichen  Wortanwendung.  Dennoch  kann  es  keinen 
Augenblick  zweifelhaft  sein,  daß  genau  besehen  die  Wendung:  »es 
ist  wahr,  daß  A  existiert«,  >e8  ist  falsch,  daß  .  . .«  eine  um  Vieles 
natürlichere,  ja  im  Grunde  die  einzige  wirklich  naturgemäße  Rede- 
weise ist.  >Wahr«  und  > falsch«  sind  eben,  näher  besehen, 
Attribute  von  Objektiven,  ebenso  wie  es  oben  bei  »evident« 
zu  konstatieren  war.«  —  Während  also  die  Frage  »Was  ist  wahr?« 
in  dem  Sinne:  »Wem  kommt  Wahrheit  zu:  Dingen  oder  Gedanken 
oder  Uebereinstimmungsbeziehungen  zwischen  Dingen  und  Gedanken 
und  dergleichen  mehr«  seit  Aristoteles  ein  für  allemal  dahin  be- 
antwortet schien:  >die  Eigenschaften  wahr  und  falsch  kommen  un- 
mittelbar nur  Urteilen  zu,  und  erst  mittelbar  auch  Dingen, 
Vorstellungen  und  dergleichen,  lernen  wir  jetzt,  daß  auch  das  Urteil 
erst  von  seinem  Objektiv  das  Merkmal  Wahrheit  zu  Lehen  trage, 
sowie  man  früher  bemerkt  hatte,  daß  z.  B.  der  > wahre  Freund«  nur 
im  mittelbaren  Sinne  »wahr«  genannt  wird  nach  dem  wahren  Urteil, 
das  ihn  für  einen  Freund  hält. 

In  diesem  Beispiel  von  der  Umbildung  des  Wahrheitsbegriffes 
durch  die  Verschiebung  des  als  unmittelbar,  nicht  erst  durch  Ueber- 
tragung  als  >wahr«  zu  bezeichnenden  Gegenstandes  aus  dem 
Psychologischen  ins  Apsychologische  mag  das  ehrwürdige 
Alter  der  so  modifizierten  Lehre  ein  Maß  fiir  die  Wichtigkeit  der 
Entdeckung  und  für  die  Bedeutung  des  Entdeckten,  >der  Objektivec, 


A.  Meinong,  Ceber  Annahmen.  219 

innerhalb  der  ganzen  Erkenntnistheorie  abgeben.  —  Ja  vielleicht  ist 
die  Sachlage,  daß  und  wieso  diese  neue  Gruppe  von  Gegenständen, 
der  Objektive,  überhaupt  erst  >entdeckt<  werden  konnte  und  mußte, 
ein  gutes  Beispiel  dafür,  was  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  > ent- 
decken c  heißt  (wo  ja  doch  nach  sehr  allgemeiner  Meinung  höchstens 
noch  neue  >  Gesichtspunkte c  für  historische  Gruppierungen  und  der- 
gleichen >  erfunden  <  werden  können).  Daß  nämlich  auf  philosophi- 
schem Gebiete,  soweit  Philosophie  alles  Psychische  zu  ihrer  Domäne 
zählt  (und  neben  dem  Psychischen  freilich  auch  >Apsychologisches<, 
nämlich  das  >Gegenstandstheoretische<,  wie  es  Meinong  seit  1904 
ausdrücklich  nennt),  hier  ebenso  gut  immer  feinere  Artikulationen  des 
intellektuellen  und  emotionalen  Lebens  >entdeckt<  werden  können^ 
wie  etwa  in  der  Nervenlehre  eines  Tages  die  Neuronen  haben  ent- 
deckt werden  können  und  auch  heute  noch  als  nicht  nur  »erfunden« 
den  verschiedenen  Angriffen  gegenüber  wenigstens  teilweise  sich  auf- 
recht erhalten,  sollte  für  Jeden  feststehen,  der  nicht  auf  das  kuriose 
Dogma  eingeschworen  ist,  daß  zwar  das  Gehirn  eine  über  alle  Be- 
griffe und  Anschauungen  feine  Organisation  haben  dürfe,  dagegen 
das  vom  Gehirn  >  produzierte  <  Denken  auf  alle  Fälle  nur  eine  Art 
homogener  Gallerte  zu  bilden  habe  (etwa  wie  man  sich  vor  noch 
nicht  gar  langer  Zeit  auch  das  Gehirn  selber  gedacht  hatte).  —  Nun 
sollen  zwar  die  neuentdeckten  > Objektive«  nicht  eine  besondere  Art 
psychischer  Gebilde,  sondern  eine  neue  Art  von  Denkgegen- 
ständen sein;  und  dies  führt  allerdings  Jeden,  der  sich  erst  in  die 
Natur  dieser  Gegenstände  hineinfinden  will,  auf  Fragen,  wie  die: 
Sollen  wir  uns  also  von  jetzt  ab  die  Welt  nicht  nur  aus  den  Gegen- 
ständen rot ,  Tisch ,  verschieden  u.  s.  w. ,  sondern  daneben  auch  aus 
Rot-sein  =  Röte,  Sein  (=  Eustenz)  des  Tisches,  Yerschieden- 
sein  =  Verschiedenheit  u.  s.  w.  zusammengesetzt  vorstellen?  Wozu 
die  Verdoppelung?  Und  ist  das  den  Dingen  dieser  Welt  Stück  Tür 
Stück  aufzuheftende  >Sein<  mehr  als  eine  bloße  Denkform  oder 
gar  nur  Denkformel?  Ist  wirklich  auch  schon  >Sein<  ein  >Gegen- 
stand€?  Und  wenn  ja,  so  doch  hoffentlich  nicht  ein  > Gegenstand 
an  sich<,  sondern  doch  wieder  nur  ein  Gegenstand  des  Denkens, 
worin  dann  aber  wieder  keine  sachliche  Entdeckung  liegt,  sondern 
nur  eine  Benutzung  des  Umstandes,  daß  eben  das  Wort  »Gegen- 
stand« so  geduldig  ist,  sich  den  sprachlichen  Verbindungen  »Gegen- 
stand des  Vorstellens< ,  > Gegenstand  des  Urteilens  und  Annehmens, 
des  Gefühles,  des  Begehrens«  zu  fügen.  —  Es  ist  zu  vermuten,  daß 
dem  Leser  gerade  des  inhaltsschweren  siebenten  Kapitels  >das  Ob- 
jektiv« innerhalb  des  vorliegenden  Buches  solche  oder  ähnliche 
Fragen  sich  werden  aufgedrängt  haben,  da  eben  hier  dem  bis  dahin 

15* 


220  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

als  mit  >GegenstaQd<  einfach  synonymen  »Objekt«  zum  erstenmal 
ein  >Objektiv<  an  die  Seite  gestellt  wird.  Und  daß  in  der  Tat  nicht 
schon  dieses  Buch  alles  Nötige,  sei  es  zur  Beantwortung,  sei  es  zur 
Ablehnung  solcher  Bedenken  getan  habe,  ist  jetzt,  wo  drei  Jahre 
nach  Abschluß  des  Annahmenbuches  (Ende  1901)  die  »Untersuchungen 
zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologiec  erschienen  sind  (Ende  1904), 
ohne  weiteres  zuzugeben;  ja  es  ist  ausdrücklich  hervorzuheben,  daß 
durch  das  letztere  Buch  Vieles  von  dem  geklärt  und  geglättet  worden 
ist,  was  im  früheren  Buch  in  Sachen  des  Gegenstandsbegriffs  offenbar 
dem  Verfasser  selbst  noch  nicht  so  geläufig  war,  wie  es  jetzt  ihm 
und  seinen  Schülern  ist.  So  lesen  sich  insbesondere  die  ersten  Be- 
stimmungen über  >Objektiye«  schon  darum  öfters  schwer,  weil  der 
Verfasser  zögert,  geradewegs  die  > Gegenstände <  einzuteilen 
in  Objekte  und  Objektive.  Dagegen  lautet  z.  B.  jetzt  in 
Ameseders  > Beiträgen  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie< 
(a.  a.  0.  S.  54)  sogleich  der  Titel  des  §  2  >Es  gibt  zwei  Klassen 
von  Gegenständen:  Objekte  und  Objektive«.  Im  An- 
nahmenbuch hatte  es  an  der  Spitze  des  Kapitels  >Das  Objektiv« 
(S.  150)  nur  geheißen,  daß  wir  in  ihm  >wenn  nicht  geradezu  einen 
zweiten  Gegenstand  neben  dem  bereits  bekannten  ersten,  so  doch 
etwas  Gegenstand- Aehnliches  vor  uns  haben«.  Und  auch  noch  gegen 
Schluß  dieses  Kapitels  heißt  es  (S.  200):  >Wer  urteilt,  erfaßt  nicht 
den  Gegenstand  [das  Objekt?]  und  außerdem  noch  das  Objektiv, 
sondern  er  erfaßt  einfach  das  Objektiv  und  in  diesem  den  Gegen- 
stand [das  Objekt?].  Ihrer  zwei  sind  darum  Objekt  und  Objektiv 
gleichwohl.  Und  dann  kann  sich  wohl  auch  einmal  das  Bedürfnis 
einstellen,  von  den  Gliedern  dieser  Zweiheit  als  solchen  zu  reden, 
d.  h.  beide  Glieder  unter  einen  auf  beide  anwendbaren  Namen  zu 
subsumieren.  Vielleicht  eignet  sich  hierzu  ein  Terminus  wie  > gegen- 
standartige <  oder  > gegenständliche  Momente«.  —  Wichtiger  als  die 
nunmehrige  Vereinfachung  dieser  terminologischen  Schwierigkeiten 
ist  der  folgende  Schritt  nach  vorwärts :  Im  Annahmenbuch  waren  die 
Objektive,  wie  gesagt,  vorwiegend  durch  >Daß-Sätze<  sprachlich  aus- 
gedrückt worden;  dagegen  wird  in  den  »Untersuchungen«  (so  nament* 
lieh  von  Mally,  »Zur  Gegenstandstheorie  des  Messens«,  S.  137;  auch 
Ameseder,  »Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie«, 
S.  57y  Z.  1  von  oben  spricht  von  den  > Objektiven  ,A  ist  B'  und 
,A  ist  nicht  B'«)  nicht  nur,  »daß  A  ist«,  sondern  auch  schon  >A 
ist«  geradezu  als  Objektiv  bezeichnet.  Während  also  dort  der  ab- 
hängige Satz  >daß  A  ist«  immerhin  auf  ein  Urteil  oder  eine 
Annahme  oder  auch  auf  ein  unpersönliches  >Es  steht  fest«  (siehe 
oben  S.  216  dieser  Anzeige)  hingewiesen  hatte,  wird  jetzt  auch  der 


A.  Meinong,  Ueber  Annahmen.  221 

unabhängige  Satz  >A  ist«  als  sprachliches  Zeichen  f&r  das  Ob- 
jektiv angeführt.  Hiermit  erscheint  die  apsychologische  Be- 
trachtungsweise^) noch  ausdrücklicher  durchgeführt,  als  wenn 
im  Annahmenbuch  nur  ausgesprochen  war,  daß  »die  Satzbedeutung 
mit  dem  Objektiv  zusammenfalle <. 

m.  Wie  eingangs  angekündigt  soll  nun  noch  aus  den  an  die 
> Annahmen <  und  die  > Objektive«  sich  angliedernden  Nebenunter- 
suchungen wenigstens  einiges  als  Proben  aus  dem  überreichen  Inhalt 
des  Buches  mitgeteilt  und  dabei  die  äußere  Reihenfolge  wie  im  Buch 
eingehalten  werden. 

§  2  Das  Negative  gegenüber  dem  >blos  Vorgestellten« 
erbringt  den  Beweis,  daß  die  Negation  weder  an  den  Gegenständen 
selbst  noch  an  bloßen  Vorstellungen  (trotz  der  zahlreichen  >negativen 
Begriffe«  non-A,  nicht-rot,  unsterblich.  Loch,  blind  und  dergleichen) 
ihren  Sitz  haben  könne,  sondern,  soweit  nicht  an  den  Urteilen,  so 
wenigstens  an  den  Annahmen  (worüber  Näheres  dann  zu  Ende  des 
§32). 

Das  II.  Kapitel  >Zur  Frage  nach  den  charakteristischen 
Leistungen  des  Satzes«  unterscheidet  zwischen  Ausdruck 
und  Bedeutung  beim  Worte  (§  4):  >Ein  Wort  bedeutet  allemal 
den  Gegenstand  der  Vorstellung,  die  es  ausdrückt,  und 
drückt  umgekehrt  die  Vorstellung  von  dem  Gegenstande  aus,  den  es 
bedeutet«;  ferner  >Wa8  Bedeutung  hat,  ist  zugleich  auch  Ausdruck«; 
aber:  >was  Ausdruck  ist,  muß  darum  noch  durchaus  nicht  Bedeutung 
haben«.  So  die  Wörter  Ja  und  Nein,  die  in  der  Regel  Urteile  aus- 
drücken, aber  durchaus  nicht  erkennen  lassen,  worüber  geurteilt 
wird.  —  §  7.  >Das  Verstehen  bei  Wort  und  Satz«;  es  setzt  immer 
Annahmen  voraus. 

III.  Kap.  Die  nächstliegenden  Annahmefälle.  §  10. 
>Annabme  in  Spiel  und  Kunst.«    §  11.   >Die  Lüge.    Das  ,Vorstellen' 

1)  Diese  führt  Meinong  aosdrücklich  ein  in  seiner  Abhandlung  »Ueber  Urteils- 
gefühle, was  sie  sind  und  was  sie  nicht  sind«  (Archiv  fur  systematische  Philo- 
sophie, 1905,  S.  22—58;  hier  namentlich  S.  84):  >Wie  die  Darstellung  in  meinem 
Buche  ,üeber  Annahmen^  nirgends  verkennen  läßt,  hat  sich  mir  der  Gegensatz 
zwischen  Objekt  und  Objektiv  zunächst  sozusagen  vom  Standpunkt  des  Urteils 
resp.  der  Annahme  aus  aufgedrängt.  . .  Aber  der  Gegensatz  wird  nicht  erst  durch 
diese  Akte  in  das  Erfaßte  hineingetragen:  er  hat  seine  Bedeutung  nicht  nur  fur 
eine  psychologische  (beziehungsweise  erkenntnistheoretische),  sondern  auch  för 
eine,  wie  man  wohl  sagen  kann,  apsychologische  Betrachtungsweise. 
NamentUch  die  Untersuchungen  K.  Ameseders  haben  dies  deutlich  gemacht.  .  . 
Daneben  besteht  aber  die  psychologische  Betrachtungsweise  der  Gegenstände  nach 
wie  vor  zu  Recht:  jedes  gegebene  UrteU  ,hat'  eben  sein  Objektiv  und  darin  sein 
Objekt,  das^  psychologisch  ein  Objekt  bleibt  . . .  .< 


222  Gott:  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

fremder  Urteile.«    §  12.   »Annahmen  bei  Fragen  und  sonstigen  Be- 
gehrungen. <    §  13.   Aufsuggerierte  Annahmen. 

Das  IV.  Kap.    Die  Annahmeschlüsse  (§  14  Unmittelbare 
und  mittelbare  Evidenz,  §  15  Das  Wesen  der  Ueberzeugungsvermitt- 
lung,  §  18  Das  Erfassen  der  formalen  Richtigkeit  von  Schlüssen  und 
das  hypothetische  Urteil,  §  19  Annahmeschlüsse  und  Urteilsschlüsse, 
§  20  Hypothetische  Urteile  als  Annahmeschlüsse)  steht  einer  Grund- 
frage in  Sachen  der  Annahmen  besonders  nahe.    Es  hatte  nämlich 
Meinong  in  seiner  Relationstheorie  (1882)  das  hypothetische  Urteil 
und  ähnlich  die  Schlüsse  mit  suspendierten  oder  fingierten  Pr&missen 
dahin  beschrieben,   daß   es  sich  im  Vorder-  und  Nachsatz  nicht  um 
wirkliche,  sondern  um  nur  »vorgestellte  Urteile«  handle.   Denn, 
me  von  jeher  bekannt,  will  ein  Vordersatz  >wenn  A  ist«  nicht  be- 
haupten, »daß  A  ist<;  ja  im  »irrealen«  Fall:  >wenn  A  wäre«,  be- 
sagt ja  der  Konjunktiv  ausdrücklich,   daß   nicht   >A  ist«,   sondern 
daß   >A  ist  nicht«   geglaubt  wird.     Für   den   > Vordersatz«   war 
längst  das  Wort   »Annahme«   ebensogut  gebräuchlich,   wie   für  die 
> Annahme«  im  geometrischen  Beweis,  die  denn  auch  geradezu  als 
Hypothesis  bezeichnet  zu  werden  pflegte,  wie  die  darauf  folgende 
Behauptung  als  Thesis.    Indem  aber  Meinong  nunmehr  seine  Dar- 
stellung von  1882  ausdrücklich  zurücknimmt  und  an  Stelle  der  >  vor- 
gestellten Urteile«  ausdrücklich  die  >Annahmen«  setzt,  hat  zwar  die 
neue  Beschreibung  des  Vordersatzes  als  Annahme  in  der  für  ihn 
längst  nicht  mehr  ungewohnten  Bezeichnung  (die  nur  noch  nicht  als 
allgemeiner  fester  Terminus   geprägt  war)  eine  sozusagen  populäre 
Bestätigung.    Es  will  aber  dem  Ref.  erscheinen,  daß  der  Nachweis, 
auch  der  Nachsatz  bezeichne  eine  solche  »Annahme«,  doch  hätte 
besonders  geführt  werden  müssen.    Wie,  wenn  nur  der  Vordersatz 
eine  Annahme,  der  Nachsatz  aber  immer  noch  ein  vorgestelltes  Ur- 
teil oder  aber  ein  vorgestelltes  Objektiv  wäre   (wobei  freilich  das 
Vorstellen  nicht  das  adäquate  psychische  Phänomen  zum  vollen  Er- 
fassen eines  Objektives  ist,   sondern  nur  Annahmen  oder  Urteilen). 
Nicht  als  ob  hiermit  eine  neue  fertige  Theorie  des  hypothetischen 
Urteils  aufgestellt  wäre.    Aber  wenn  ich  mich  frage,  was  an  Stelle 
der  Analyse,  die  ich  in  meiner  1890   unter  Mein  on  gs  Mitwirkung 
herausgegebenen  »Logik«  von  dem  hypothetischen  Urteil  durch  die 
Formel  Aa  C  {Ä  Antecedens  oder  Annahme,  a  Notwendigkeitsrelation, 
C  Consequens)  gegeben  habe,  nunmehr  als  eben  so  kurze  und  durch- 
sichtige Formel  zu  setzen  wäre,  so  wird  es  mir  insbesondere  schwer, 
auf  die  Notwendigkeits-  oder  Zusammenhangs-  oder  Abhängigkeits- 
relation a  zu  verzichten.  Wer  mit  vollem  Nachdruck  das  >Wenn  —  so« 
ausspricht,  weiß  sich  hierzu  ja  doch  nur  berechtigt,  insoweit  er  eine 


A.  Meuiong,  Ueber  Annahmen.  223 

solche  Notwendigkeitsbeziehung  für  gegeben  zn  halten  sich  berechtigt 
weiß  oder  glaubt  Nun  weist  ja  jetzt  Meinong  einen  solchen  Zu- 
sammenbang nicht  unter  allen  Umständen  ab.  Aber  seine  mannig- 
faltigen und  tiefgehenden  Analysen  der  durch  die  Formel  >  Wenn  —  so< 
zusammengehaltenen  Gedanken  scheinen  mir  einstweilen  noch  mehr 
der  Forderung  der  Spezifikation  als  der  der  Homogenität  (vgl.  die 
Eingangsworte  von  Schopenhauer  >yierfiache  Wurzel«)  zu  ent- 
sprechen. 

Das  V.  Kap.  Zur  Gegenständlichkeit  des  Psychischen 
geht  ein  auf  »die  Grundtatsache  des  Erkennens<,  (Schopenhauer 
nennt  sie  >da8  Wunder  der  Erkenntnistheoriec),  nämlich  das  »Er- 
fassen einer  Wirklichkeit  durch  unser  Erkennen«;  wofür  der  Ver- 
fasser »das  herkömmliche  Wort  Transcendenz<  ^)   nicht   vermeiden 

1)  Gegen  diese  Anwendung  hat  mir  gegenüber  mündlich  Oelzelt-Newin 
Einsprach  erhoben ,  der  jenes  psychologisch  gegebene  Tr&nscendieren  als  bloßes 
Pseudo-Transcendieren  bezeichnet  (also  ähnlich  wieMeinongdas  bloße  »Existieren 
in  der  Yorstellung«  als  Pseudo-Existieren.  Meinong  selbst  spricht  S.  11  seiner 
Abhandlung  »Ueber  Qegenstandstheorie«  (1904)  von  »Qoasitranscendenz«  in  anderem 
Sinn.)  Gelegenheiten  zur  Fortsetzung  und  hoffentlich  früher  oder  später  zum 
Aastrag  dieser  nicht  nur  terminologischen,  sondern  sehr  sachlichen  Streitfrage 
werden  Oelzelts  »Die  anabhängigen  Realitäten«  (anter  der  Presse)  and 
Mein  on gs  »Die  Erfahrangsgrandlagen  des  Wissens«  (Berlin  1906)  geben. 
Hier  za  dem  sehr  zeitgemäBen  Thema  nar  soviel:  Wenn  z.  B.  soeben  wieder 
Mach  (Erkenntnis  and  Irrtam,  Vorwort  S.  VII)  mit  Schuppe  sagt,  »das  Land 
des  Transcendenten  ist  mir  Terschlossen« ,  so  leugnen  sie  hiermit  schwerlich 
jenes  »Gerichtetsein«  alles  Psychischen,  in  dem  Meinong  schon  Transcendenz 
findet  Wir  haben  also  die  von  Mach  zugegebene  Transcendenz  (man  könnte 
sie  die  immanente  Transcendenz  oder  die  phänomenale  nennen)  von  der  durch 
Mach  geleugneten  (der  transcendenten  Transcendenz  oder  der  metaphänomenalen) 
zum  mindesten  terminologisch  zu  unterscheiden.  Nur  um  Meinongs  Sprach- 
und  Begrifisgebrauch  fürs  erste  dem  leidigen  Gebiete  des  bloßen  Wortstreites  zu 
entrücken,  spreche  ich  meine  eigene  Meinung  in  dieser  Sache  dahin  aus:  Weder 
Kant  noch  Mach  (der  sich  zu  den  »Empiriokritikem«  und  den  »Immanenten« 
überraschender  Weise  nunmehr  in  Gegensatz  stellt ,  ib.  S.  VII  Aum.)  noch  sonst 
ein  Philosoph  oder  Antiphilosoph  haben  bisher  wirklich  bewiesen,  daß  »uns«  das 
Land  der  metaphänomenalen  Transcendenz  wirklich  »verschlossen«  sei.  Sie  bilden 
sich  nur  ein,  es  nicht  betreten  zu  können  oder  zu  dürfen  oder  zu  —  wollen 
(etwa  wie  sich  die  Henne,  von  der  Mach  a.  a.  0.  S.  122  erzählt,  nicht  über  den 
Kreidestrich  bewegt,  sei  es,  daß  sie  hypnotisiert  oder  daß  sie  —  zu  faul  ist). 
Das  bloße  Fehlen  eines  solchen  Beweises  ist  aber  natürlich  noch  lange  kein  posi- 
tiver Beweis,  daß  es  jenseits  meiner  eigenen  psychischen  Phänomene  noch  etwas 
gebe;  und  daß,  wenn  es  etwas  gibt,  uns  ein  nicht  bloß  immanentes  Transcendieren 
in  das  Land  des  Metaphänomenalen  vergönnt  sei.  Wie  vororteilsfrei«  man,  ruch 
aber  auch  allen  Dogmen  der  Erreichbarkeit  oder  Unerreichbarkeit  jenes  Landes 
gegenüber  hält,  so  darf  und  muß  man  doch  so  viel  festhalten :  We  n  n  es  ein  mehr 
als  nur  immanentes  Transcendieren  geben  soll,  so  muß  es^sich  doch  der  Denkmittel 


224  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

zu  sollen  glaubt.  Ein  solches  >Erfa8sen<  ist  wesentlich  den  affirma- 
tiven, wahren  Urteilen.  Daß  auch  die  negativen  Urteile  und  die  Vor- 
stellungen Gegenständlichkeit  haben,  wird  beschrieben  und  erklärt 
durch  einen  Anteil  der  Annahmen. 

Im  VI.  Kap.  >Das  Erfassen  von  Gegenständen  höherer 
Ordnung«')  werden  die  Probleme  des  wesentlichen  Unterschiedes 
zwischen  Anschaulichem  und  Unanschaulichem  (§§  25  bis  28  und 
wieder  §  33),  der  Relation  zwischen  Inhalt  und  Gegenstand  (§  29), 
die  >thetische  und  synthetische  Funktion  des  Urteils  und  Annehmens< 
behandelt.  Hier  nur  zum  letzten  Problem  einige  Bemerkungen: 
Nachdem  Brentanos  Versuch,  die  kategorischen  auf  Existenzial- 
urteile  zurückzuführen,  wiederholt  abgelehnt  wird,  spricht  Meinong 
die  Urteile  >A  ist<  und  >A  ist  B<  geradezu  als  zwei  aufeinander 
überhaupt  nicht  zurückführbare  Urteilsfunktionen  an;  dementsprechend 
vertritt  er  seither  geradezu  die  Koordination  von  Sein  und  Sosein. 
Nebenbei  bemerke  ich  hierzu,  daß,  wie  ich  schon  (1885)  bei  Ab- 
fassung meiner  Logik  (§  45)  das  Bedürfnis  gehabt  hatte,  >Dasein< 
und  >  Bestehen«  (von  Beziehungen)  terminologisch  auseinander  zu 
halten,  mir  auch  jetzt  noch  eine  etwas  andere  Bezeichnungsweise  als 
die  M  e  i  n  0  n  g  sehe  mundgerecht  ist ;  die  positiven  Vorschläge  hierüber 
wird  die  Neubearbeitung  meiner  Logik  bringen.  Die  sachliche  Haupt- 
frage ist  die,  ob  und  was  für  eine  Art  Relation  die  > prädikative 
Verknüpfung«  ist.  Während  Meinong  in  diesem  Kap.  (S.  147) 
sogar  >das  fundamentale  Prinzip  der  Koinzidenz  von  Komplexion 
und  Relation  in  Frage  gestellt  sein«  läßt,  da  z.  B.  in  der  Komplexion 
>rotes  Kreuz«  nichts  von  einer  Relation  zwischen  den  Gegenständen 
>Kreuz<  und  >rot<  zu  bemerken  sei,  bringt  das  folgende  (VII.)  Kap. 
(S.  164)  die  Ergänzung:  >Das  Urteil  erfaßt  Objekte  in  Verbindung 
miteinander,  indem  es  das  Objektiv  erfaßt,  das  sie  verbindet.« 

Ueber  dieses  VU.  Kap.  >Das  Objektive  wurde  schon  oben 
(unter  II)  eingehender  berichtet.  Das  VIII.  Kap.  >Zur  Begehrungs- 

der  bloß  immanenten  Transcendenz  bedienen ;  oder  weniger  paradox  gesagt :  Aach 
wer  etwas  anderes,  tiefer  Liegendes  erkennen  wiU,  als  was  auch  der  Solipsist  als 
gegeben  gelten  läBt,  muB,  indem  er  »erkennt«,  jenes  tiefer  Liegende  zum  »Gegen- 
stand« seines  Erkennens  machen ;  and  zwar  zum  Gegenstand  ganz  inMeinong- 
sehen  Sinne  des  Wortes  »Gegenstand«.  Ob  und  wie  nun  die  Freunde  des  »Dinges 
an  sich«  finden  werden,  daß  dieser  Gegenstandsbegriff  zu  wenig,  die  Feinde  des 
»Dinges  an  sich«,  daß  er  zu  viel  voraussetzt,  bleibt  abzuwarten. 

1)  Diesen  Terminus  hat  Meinong  in  der  Abhandlung  »Ueber  Gegenstände 
höherer  Ordnung«  (Ztschr.  f.  Psychol.,  Bd.  21,  S.  182-272)  eingeführt  an  Stelle 
der  »fundierten  Inhalte«  (Meinong)  oder  »Gestaltqualitäten« 
(Ehrenfels).  Beispiele  sind  alle  auf  mindestens  zwei  Glieder  (Inferiora)  sich  auf- 
bauende Relationen,  die  Raumgestalten,  Melodien  (Superiora). 


A.  Meinong,  üeber  Annahmen.  225 

und  Wertpsychologie <  gibt  für  das  alte  Problem  der  Natur 
des  Zusammenhanges  zwischen  Gefühlen  und  Begehrungen  (S.  215) 
neue  Lösungen  (S.  230,  239).  Anknüpfend  an  die  seit  langem  zwischen 
Meinong  und  Ehrenfels  geführte  und  hier  durch  neue  Argu- 
mente fortgeführte  Diskussion  über  das  Wesen  der  Begehrung  und 
des  Wertes  wird  die  Begehrung  als  ein  nach  wie  vor  nicht  auf 
andere  Phänomenenklassen  restlos  zurückführbares  Phänomen  dar- 
getan, und  ebenso  das  Werthalten  als  Gefühls-,  nicht  als  Begehrungs- 
phänomen. Zu  den  Annahmen  und  den  Objektiven  treten  jene  Kontro- 
versen dadurch  in  Beziehung,  daß  ich  genau  genommen  nicht  A 
begehre,  sondern  nur,  daß  A  sei  oder  nicht  sei,  und  daß  somit 
jedes  Begehren  (so  gut  wie  jedes  Urteil)  sein  Objektiv  habe  (S.  184, 
209).  Femer  stellt  sich  das,  was  Ehrenfels  als  Einschaltung  in 
die  subjektive  Wirklichkeit  (bezw.  Ausschaltung  aus  ihr)  in  dem 
> Gesetz  der  relativen  Glücksförderung <  (Meinong  hält  zwei 
Gesetze  dieses  Namens  auseinander  S.  217)  und  ebenso  in  seiner 
Wertdefinition  als  wesentlich  aufgestellt  hat,  als  Annahme  heraus: 
ich  überlege  mir,  >wie  es  wäre,  wenn  .  .  bezw.  wenn  nicht  . .  .< 
Ein  solches  Luftschloßbauen  ist  eben  weder  schon  Urteil  noch  bloße 
Vorstellung,  sondern  eben  —  Annahme.  —  Aber  auch  auf  zwei  neue 
Klassen  emotionaler  Erscheinungen ,  Fantasiegefühle  und 
Fantasiebegehrungen  (§§  53 ff.),  sieht  sich  Meinong  hier 
geführt.  Das  Ausgangsbeispiel  sind  die  >Furcht<  und  das  >Mitleid<, 
wie  sie  die  Tragödie  erwecken  soll.  »Eine  Furcht,  bei  der  man  sich 
im  Grunde  doch  gar  nicht  fürchtet,  ein  Mitleid,  das  doch  gar  nicht 
weh  tut,  sind  nicht  Gefühle,  wohl  aber  ein  Gefühlsartiges  —  ebenso 
wie  die  Annahmen  nicht  Urteile,  wohl  aber  ein  Urteilsartiges  sind.< 
Hierdurch  gewinnt  zunächst  das  ästhetische  Problem  der  »Einfühlung« 
neue  Beleuchtungen.  Aber  auch  von  dem  Werthalten  (als  Wertgefühl) 
und  Bewerten  (als  Werturteil)  hebt  sich  nun  das  > Werten«  ab  als 
dasjenige  Verhalten,  bei  dem  >auf  die  Annahme  von  der  Existenz 
oder  Nicht-existenz  eines  Objektes  mit  einem  . .  Fantasiegefühle  rea- 
giert wird<  (S.  252). 

Das  IX.  Kap.  >Ergebnisse,  Bausteine  zu  einer  Psy- 
chologie der  Annahmen<  (S.  285— 287)  rekapituliert  und  er- 
gänzt zunächst  die  bisher  gegebenen  Beschreibungen  der  Annahmen, 
bestimmt  dann  ihre  Stellung  zu  ihrer  psychologischen  Umgebung 
(einschließlich  ihres  sprachlichen  Ausdruckes  §  60) ,  und  es  schließt 
mit  Vorschlägen  zur  Systematik  und  Terminologie,  die  sich,  vom 
neuen  Erwerb  der  Annahmen  ausgehend,  auf  das  Ganze  der  Psycho- 
logie erstrecken.  Zur  Nachprüfung  fordern  hier  insbesondere  folgende 
zwei  Vorschläge  heraus:  Erstens  »Urteilen<   und  > Annehmen«  seien 


226  6dtt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

unter  der  Bezeichnung  >Denken<  zusammenzufassen  (S.  276 ff.) 
und  zweitens  der  Gebrauch  des  Wortes  >Fantasie«  sei  dahin  zu 
erweitem,  daß  nicht  nur  den  >Wahmehmungsyorstellungenc  >  Fantasie- 
vorstellungen <  (die  hiermit  gegenüber  den  von  Meinong  1888  vor- 
geschlagenen >Einbildungs Vorstellungen <  rehabilitiert  werden)^  sondern 
auch  den  eigentlichen  > Urteilen«  die  > Annahmen«  als  >Fanta8ie- 
urteile<  an  die  Seite  gestellt  werden,  wozu  noch  die  >Fantasiegefiihle< 
und  » Begehrungen  <  in  dem  obigen  Sinn  kommen.  —  Es  sei  dem 
Bef.  gestattet,  als  ein  sehr  subjektives  Reagens  auf  diese  Vorschläge 
seine  eigene  Situation  bei  der  ihn  eben  beschäftigenden  Neubearbeitung 
seiner  Psychologie  hier  anzuführen:  er  hat  sich  bisher  nicht  ent- 
schließen können,  aus  allem,  was  er  dem  Meinong  sehen  Buche  an 
sachlichen  Anregungen  verdankt,  auch  alle  die  vorgeschlagenen  ter- 
minologischen Eonsequenzen  zu  ziehen.  Ist  es  wirlich  geraten,  aus 
dem  Begriff  des  > Denkens <  das  >  Vorstellen«  auszuschließen?  Meinong 
selbst  gibt  dem  Bedürfnis  nach  einer  Zäsur  zwischen  > Vorstellen«, 
»Urteilen«  und  >Annehmen<  einerseits,  >Fühlen«  und  »Begehren« 
anderseits,  allenthalben  dadurch  Ausdruck,  daß  er  die  ersten  als  in- 
tellektuelle,  die  letzteren  als  emotionale  Phänomene  bezeichnet  und 
hiermit  wieder  unter  je  einem  höheren  Gattungsbegriff  zusammenfaßt. 
Sollen  wir  nun  für  diesen  auf  das  Fremdwort  »Intellekt«  angewiesen 
sein  und  auf  >Denken«  (>6edanke«)  künstlich  verzichten,  nur  um  es 
für  >Urteile«  und  > Annahme*  zu  reservieren?  Wenn  ja  doch 
Meinong  selbst  die  Annahmen  als  > Fantasieurteile«  bezeichnet  und 
auch  sachlich  die  nahe  Beziehung  gerade  zu  den  Urteilen  überall 
hervorhebt  —  ist  es  dann  reaktionär  und  eine  Undankbarkeit  gegen 
die  Entdeckung  der  Annahme-Tatsache  als  solcher,  wenn  ich  ruhig 
nach  wie  vor  die  zweite  Hauptklasse  intellektueller  Phänomene  als 
Urteile  bezeichne  und  höchstens,  wo  es  einem  Uebersehen  des 
bloßen  »Annehmens«  gegenüber  dem  volleren  >61auben«  zuvorzu- 
kommen gilt,  beisetze:  >Urteile  (,  einschließlich  *  oder  , nebst'  An- 
nahmen)«? Aehnlich  kann  es  ja  geraten  sein,  angesichts  der  (auch 
von  Meinong  S.  283  erwähnten)  Abneigung  oder  dem  Ungeschick 
mancher,  bei  »Vorstellungen«  auch  an  iWahrnehmungsvorstellungen«, 
speziell  > Empfindungen«  zu  denken,  geraten  sein,  den  Titel  für  die 
erste  Hauptklasse  so  zu  formulieren  > Vorstellungen  (einschließlich 
Wahmehmungs Vorstellungen)«  und  »Wahrnehmungsvorstellungen  (ein- 
schließlich Empfindungen)«.  —  Aber  sind  denn  alle  solche  Vorschläge 
und  Bedenken  zur  Terminologie  überhaupt  der  Rede  wert  ?  Meinong 
selbst  gedenkt  (S.  251)  >der  babylonischen  Sprachverwirrung  in  betreff 
der  philosophischen  Terminologie,  unter  der  alles  wissenschaftliche 
Arbeiten  auf  philosophischem  Gebiete  immer  noch  in  so  hohem  Maße 


A.  Mdnong,  üeber  Annahmen.  227 

Ieidet<  und  appelliert  in  einer  Anmerkung  >an  die  unvermeidliche 
Selbstentäußerung  des  einzelnen«.  Sollte  zu  dieser  nicht  auch  ein 
bewußter  Verzicht  auf  das  > Bessere«  gehören,  wenn  es  ein  Feind  des 
Guten  zu  werden  droht?  Nun  fängt  sich  z.  B.  kaum  erst  die  Er- 
kenntnis durchzusetzen  an,  daß  es  neben  den  Vorstellungen  auch 
Urteile  gebe.  Ist  es  wahrscheinlich,  daß,  wenn  man  nun  den  Terminus 
>  Urteil  <  wieder  in  den  Hintergrund  treten  und  den  schon  so  oft 
umdefinierten  Terminus  > Denken«  sozusagen  stillschweigend  das  An- 
wendungsgebiet >Urteil<  +  >  Annahme«  Übernehmen  läßt,  dies  das  vor 
allem  nötige  Einleben  in  die  Tatsachen  selbst  beschleunigen  wird, 
was  doch  die  Vorbedingung  fär  das  Einleben  einer  Terminologie  ist? 
—  So  hält  Ref.  z.  B.  auch  die  Wiederaufnahme  des  Brentano  sehen 
Terminus  >Motiyation«  (S.  67)  nicht  nur  bei  > Begehrungen«,  sondern 
auch  bei  >Urteilen<  für  gefährlich.  Bei  Begehrungen  besagt  >Moti- 
yation«  eine  Kausation,  die  bei  Urteilen  so  sicher  das  Wesen  des 
Begriindens  nicht  trifft,  wie  sich  Realgrund  nicht  mit  Erkenntnis- 
grund deckt.  > Motiv«  und  >Motivat«  (ib.)  würden  durch  > Ver- 
mittelndes« und  > Vermitteltes«  wiederzugeben  sein;  den  Ausdruck 
»Vermittlung«  gebraucht  ja  Meinong  selbst,  und  insoweit  die  Ana- 
logien zwischen  Begehrung  anklingen  sollen,  leistet  dies  von  selbst 
das  Wort  >Mittel«  (z.B.  Zweck  und  Mittel  einerseits,  Mittel-Begriff 
anderseits).  —  Doch  genug  von  den  Wörtern.  Auch  in  der  Sache 
regen  die  Schlußbetrachtungen  aufs  mannigfaltigste  an;  z.  B.  den 
Ref.  zur  Frage,  warum  nicht  die  Analogie 

Annehmen  :  Urteilen  =  Wünschen  :  Wollen 
ins  Auge  gefaßt  wurde?    Vielleicht  fiele  von  da  her  ein  neues  Licht 
auf  die  beschämende  crux  der  deskriptiven  Psychologie,  daß  sich 
bisher  nicht  recht  wollte  sagen  lassen,  um  was  das  Wünschen  weniger 
ist  als  das  Wollen.    Zudem  ergäbe  sich  aus  der  Analogie 

Wünschen  :  Wollen  =  statisch  :  kinetisch, 
die  ich  S.  508  meiner  Psych,  angeregt  habe,  wohl  auch  ein  weiterer 
Anknüpfungspunkt  zur  Prüfung  meiner  oben  (S.  214)  gegebenen  An- 
regung, 

Annehmen  :  Urteilen  =  statisch  :  kinetisch.  — 

Ist  es  beschämend  oder  hoffnungsvoll  für  unsere  so  oft  ange- 
zweifelte und  geschmähte  Wissenschaft  der  introspektiven  Psycho- 
logie, daß  sich  an  die  Entdeckung  einer  anscheinend  allerspeziellsten 
Tatsache,  wie  es  die  der  Annahmen  ist,  sogleich  wieder  neue  Fragen 
zu  hunderten  anschließen?  —  Schämen  wir  uns  nicht,  zu  hoffen! 

Prag.  Alois  Höfler. 


228  GöU.  gol.  Anz.  1906.  Nr.  3. 


W«  Sehmidt,  8.  Y«  D.,  Grandzüge  einer  Lautlehre  der  Mon-Ehmer- 
Sprachen.  (Denkschriften  der  Kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Wien.  Philosophisch-historische  Klasse.  Band  LI.  Wien  1905.  In  Kommission 
hei  Carl  Gerolds  Sohn.    233  S.    4». 

Qrundzüge  einer  Lautlehre  der  Khasi-Sprache  in  ihren 
Beziehungen  zu  derjenigen  der  Mon-Khmer-Spr achen.  Mit 
einem  Anhang:  Die  Palaung-,  Wa-  und  Riang-Sprachen  des 
mittleren  Salwin.  (Aus  den  Abhandlungen  der  K.  Bayer.  Akademie  der 
Wiss.  Kl.  I,  Bd.  XXII,  Abt.  m.)  München  1904.  Verlag  der  Akademie,  in 
Kommission  des  G.  Franzschen  Verlags  (J.  Roth).    S.  675—810.    4°. 

Die  Mon- Khmer -Sprachen  sowie  das  Ebasi  wurden  früher  als 
Mitglieder  der  sogenannnten  indo-chinesischen  Sprachenfamilie  be- 
trachtet. In  seinen  Beiträgen  zur  Spracbenkunde  Hinterindiens 
(Sitzungsberichte  der  pbilos.- pbilol.  und  bistor.  Klasse  der  königl. 
bayer.  Akad.  der  Wiss.  1889.  Heft  U.  S.  189—236),  wies  sodann 
Kuhn  nach,  daß  die  Mon-Kbmer-Spracben  als  eigene  Famile  ab- 
getrennt werden  müssen,  und  zeigte,  daß  sie  zu  dem  Kbasi,  den 
Dialekten  der  Urbewobner  Malakkas,  dem  Nancowry,  und  den  MuQiJä- 
Spracben  in  engster  Verbindung  stehen,  ohne  daß  er  doch  eine  Ur- 
verwandtschaft aller  dieser  Sprachen  für  erwiesen  hielt.  >Aber  sicher 
scheint  es«,  sagt  er  S.  220,  >daß  einem  großen  Teile  der  hinter-  wie 
der  Yorderindischen  Bevölkerung  ein  gemeinsames  Substrat  zu  Grunde 
liegt,  welches  von  den  späteren  Einwanderern  überscbicbtet  wurde, 
aber  trotzdem  so  mächtig  blieb,  daß  noch  jetzt  in  dem  ganzen  Ge- 
biete seine  Spuren  erkennbar  hervortreten«. 

Auf  dem  von  Kuhn  betretenen  Wege  ist  dann  Pater  Schmidt 
weiter  gegangen.  In  seiner  Abhandlung  Die  Sprachen  der  Sakei  und 
Semang  auf  Malacca  und  ihr  Verhältnis  zu  den  Mon-Kbmer-Spracben 
(Bijdragen  tot  de  taal-,  land-  en  volkenkunde  van  Nederlandsch-Indie. 
6.  volgreeks,  VHI,  p.  401  —  583.  s'-Gravenhage  1901)  kam  er  zu 
dem  Resultate:  >die  Sakei-  und  Semang  -  Sprachen  sind  den  Mon- 
Kbmer-Spracben  innerlich  verwandt  und  als  ein  Glied  dieser  Gruppe 
zu  betrachten«.  In  seinen  beiden  neuen  Abhandlungen  legt  er  nun 
eine  sichere  Grundlage  für  die  Beurteilung  der  Mon -Khmer-  und 
Khasi- Sprachen,  indem  er  die  herrschenden  Lautgesetze  feststellt, 
und,  soweit  dies  möglich  ist,  historisch  verfolgt.  In  seiner  Khasi- 
Lautlehre  stellt  er  sodann  die  folgende  Gruppierung  der  Mon-Khmer- 
und  verwandten  Sprachen  auf: 

I.  a)  Khasi, 

b)  Wa  angku,  Riang,  Palaung,  Danaw, 

c)  Nicobar. 


Schmidt,   Mon-Ehmer-Sprachen.    Ehasi-Sprache.  229 

II.  Semang,  Tembe,  Senoi  und  Sakei. 

III.  Mon,   Khmer,   Bahnar,   Stieng,  Huei,   Suk,  Sue,  So,  Hin, 
Nahhang,  Anam,  Bersisi,  und,  merkwürdiger  Weise,   dieser 
Gruppe,  nicht  dem  Ehasi  nahestehend,  die  Eolh-Sprachen. 
Unter  allen  diesen  Sprachen  nimmt  Verfasser  einen  genetischen 
Zusammenhang  an,  der  sodann  auch  weiter  die  austro-nesischen  (indo- 
nesischen,  melanesischen  und  polynesischen)  Sprachen   zu   umfassen 
scheint.    Ueber  die  letzteren  werden  wir  hoflfentlich  bald  einer  Spezial- 
untersuchung von  Schmidts   Hand   entgegensehen  können.     Die  auf- 
fallende Uebereinstimmung  im  Wortschatze  zwischen  ihnen  und  den 
mit  Mon-Khmer   zunächst   zusammenhängenden  Sprachen   ist   schon 
früher  hervorgehoben  worden.    Um    den  Zusammenhang  näher  dar- 
zustellen wird  es  aber  notwendig  sein  die  Lautverhältnisse  und   die 
für  die  Wortbildung  geltenden  Gesetze  näher  zu  untersuchen.    Und 
zu  einer  derartigen  Untersuchung  ist  sicherlich  niemand  besser  aus- 
gerüstet als  unser  Verfasser. 

Schon  die  durch  seine  bisherigen  Untersuchungen  gewonnenen 
Resultate  haben  die  Ergebnisse  von  Kuhns  Studien  vielfach  bestätigt 
und  erweitert.  Kuhn  wagte  nicht  einen  genetischen  Zusammenhang 
der  monosyllabischen  Mon  -  Khmer  -  Sprachen  mit  polysyllabischen 
Sprachen  wie  Mun^ä  u.  s.  w. ,  ohne  weiteres  anzunehmen.  Dieser 
Grund  wird  aber  hinfällig  wenn  wir  erwägen,  daß  einerseits  die 
Mon -Khmer -Sprachen  bloß  insofern  monosyllabisch  sind,  als  die 
Wortstämme  einsilbig  sind,  während  die  Wörter  selbst  durch  Zu- 
sammensetzung und  durch  Hinzufügung  von  Präfixen  und  Infixen  oft 
mehrsilbig  werden.  Andererseits  aber  ist  der  Wortschatz  der  Mu^dä- 
Sprachen  und  des  Nancowry  noch  nicht  ordentlich  untersucht  worden. 
In  vielen  Fällen  läßt  sich  aber  schon  jetzt  zeigen,  daß  auch  in  diesen 
Sprachen  das  Verhältnis  genau  dasselbe  ist  wie  im  Mon-Khmer:  die 
Wurzeln  sind  einsilbig,  die  Wörter  dagegen  mehrsilbig.  Ueber  das 
Nancowry  bin  ich  nicht  in  der  Lage  näher  zu  urteilen,  da  es  mir  an 
Material  gebricht.  Auf  dem  vorjährigen  anthropologischen  Kongresse 
zu  Salzburg  hat  Pater  Schmidt  einen  sehr  beachtungswerten  Vortrag 
über  die  uns  gerade  beschäftigende  Sprachenfamilie  gehalten,  und 
daselbst  den  Nachweis  zu  liefern  versucht,  daß  die  Mon-Khmer- 
Sprachen  ursprünglich  Suffix-Sprachen  waren.  Die  Vergleichung  des 
Nancowry,  das  noch  heute  in  großer  Ausdehnung  Suffixe  verwendet, 
hat  dabei  eine  große  Rolle  gespielt.  Diese  Sprache  muß  überhaupt 
von  der  größten  Bedeutung  sein  für  die  Feststellung  der  mannig- 
faltigen Beziehungen  zwischen  den  verschiedenen  zu  unserer  Familie 
gehörigen  Sprachen.  Um  so  mehr  bedauere  ich  dieselbe  nicht  heran- 
ziehen zu  können. 


^Ö  Oött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  8. 

Was  sodann  die  MuQ^ä- Sprachen  betrifft,  so  liegt  eine  genaue 
Analyse  ihres  Lautsystems  heute  noch  nicht  vor.  Es  scheint  aber 
schon  jetzt  möglich  zu  zeigen,  daß  Verfasser  ihre  Stellung  innerhalb 
der  ganzen  Familie  richtig  bestimmt  hat,  und  daß  sie  in  der  Tat  den 
Mon-Khmer-Sprachen  näher  stehen  als  dem  Ehasi. 

Die  MuQ^ä-Familie  umfaßt  eine  ganze  Beihe  von  Dialekten,  von 
denen  die  meisten  bis  jetzt  höchst  ungenügend  bekannt  sind.  Nach 
den  Berichten  der  letzten  indischen  Volkszählung  wurden  sie  von 
3164036  Individuen  gesprochen.  Von  diesen  fallen  mehr  als  die 
Hälfte  auf  Santäll,  welche  Sprache  eine  Anzahl  von  1795118  aufwies. 
Santäli  ist  auch  diejenige  Mu^^ä- Sprache,  die  am  besten  bekannt 
ist  Santäll  ist  aber  sehr  wenig  verschieden  von  anderen  Dialekten 
wie  Mu^däri,  Bhumij,  Birhär,  Eö4ä,  Ho,  Türi,  AsurI  und  Eorwä. 
Diese  können  als  sehr  eng  miteinander  verwandte  Dialekte  einer 
und  derselben  Sprache  angesehen  werden.  In  der  von  Grierson  ge- 
leiteten sprachlichen  Untersuchung  Indiens  (Linguistic  Survey  of 
India)  werde  ich  dieselbe  mit  dem  Namen  Eherwäri  bezeichnen.  Un- 
gefähr elf  Zwölftel  aller  Mu^ijäsprechenden ,  oder  genau  2  788  636 
gehörten  dieser  Sprache  an.  Nahe  verwandt  ist  auch  der  Eürkü- 
Dialekt,  welcher  weiter  nach  dem  Westen,  in  den  sogenannten  Central 
Provinces,  von  87  675  Personen  gesprochen  wurde.  Femer  ab  liegt 
das  Ehariäy  von  82  506  Individuen  westlich  vom  MuQ^än  gesprochen, 
Juäng  (10853  Sprecher  in  Orissa),  und,  weiter  nach  dem  Süden,  in 
der  Madras  Presidency,  die  Dialekte  Savara  (von  157 136  gesprochen) 
und  Gadabä  (37  230  Sprecher). 

Eeiner  von  allen  diesen  Dialekten  ist  von  den  umgebenden 
Sprachen  unbeeinflußt  geblieben.  Namentlich  ist  der  Wortschatz  stark 
mit  arischen  Lehnwörtern  durchsetzt  Das  grammatische  System 
scheint  sich  auch  den\jenigen  der  Nachbarsprachen  zum  Teil  ange- 
paßt zu  haben.  Die  ausgedehnte  Anwendung  von  Suffixen  kann 
z.  B.  teilweise  dem  Einfluß  dravidischer  Idiome  zuzuschreiben  sein. 

Es  zeigt  sich  nun,  daß  Ehariä,  Savara,  und  Eürkü  den  Mon- 
Ehmer-Sprachen  näher  stehen  als  Eherwäri.  Für  Juäng  und  Gadabä 
ist  das  Material,  das  mir  zur  Verfügung  steht,  nicht  ganz  zuverlässig. 
Die  beiden  Dialekte  stehen  aber  sicher  dem  Ehariä  und  dem  Savara 
nahe.  Die  folgende  Tabelle,  in  welcher  Santäll  als  Bepräsentant  des 
Eherwäri  gebraucht  worden  ist,  zeigt  das  Yerwandtschaftsverhältnis 
der  Zahlwörter. 


Schmidt,  Mon-Khmer-Sprachen.    Ehasi-Sprache. 


231 


Kher- 
vlri 

Kiirkü 

Kharift 

Savara 

Mon 

Khmer 

Bahnar 

Stieng 

K>%ni 

1 

M«^' 

n^ 

moi 

6o,  mt- 

mwai 

fnüy 

moü 

mu6i 

wei 

2 

bar 

ban 

bar 

bär 

ßa 

ß^ 

bar 

bar 

Or 

3 

pä 

aped 

up^ 

yar 

pi 

P^y 

pen 

pH 

lai 

4 

pan 

lipon 

fpan 

uüji 

pan 

puon 

püön 

pu6n 

Sau 

5 

märS 

numo 

moloi 

molloi 

p^sun 

pra 

pödam 

pram 

San 

6 

turiU 

iurül 

tiburu 

tudru, 
turru 

trau 

hran 

tödrou 

prou 

hinrlu 

7 

sae 

^,  y^ 

gul 

guUji 

fpah 

grvl 

töpSh 

pifh 

hinnieu 

8 

iriß 

aar 

tham 

tam-ji 

d'cam 

koH 

tanam 

pham 

phra 

9 

arä 

arö 

tomsing 

tim-ji 

d'cü 

kansar 

toxin 

sin 

khyndai 

10 

gäl 

gel 

gol 

galji 

eah 

ucd 

min-jit 

femät 

fipeu 

Zur  Umschrift  bemerke  ich  hier,  daß  ich  im  großen  und  ganzen 
Pater  Schmidt  gefolgt  bin.  So  habe  ich  mit  ihm  die  aus  der  Schrift 
erschließbaren  älteren  Formen  für  Mon  und  Khmer  aufgenommen. 
Es  scheint  mir,  daß  Verfasser  mit  Recht  die  gegen  dies  Verfahren 
eriiobenen  Bedenken  zurückgewiesen  hat.  Dagegen  habe  ich  auch  in 
den  Mon-Khmer-Sprachen  die  Palatale  in  der  für  indische  Sprachen 
gewöhnlichen  Weise  durch  c,  ch,  j,  jh  und  fi,  bezeichnet,  und  y  an 
die  Stelle  von  Schmidts  j  gesetzt,  um  Einheitlichkeit  zu  erzielen. 
Für  das  Khasi  habe  ich  Pater  Schmidts  Umschrift  unverändert  be- 
lassen, so  daß  y  einen  irrationalen  Vokal  bezeichnet.  Die  sogenannten 
Halbkonsonanten  der  Mu^^äspr&chen  bezeichne  ich  in  der  herkömm- 
lichen Weise  als  k\  c\  t\  p\ 

Die  Tafel  zeigt  deutlich,  daß  die  MuQcJäzahlwörter  den  Mon- 
Khmer-Formen  näher  stehen  als  denjenigen  des  Khasi.  Man  ver- 
gleiche namentlich  die  gemeinsamen  Präfixe  in  den  vier  ersten  und 
in  dem  Zahlwort  sechs.  Khariä  und  Savara  stimmen  näher  zu  Mon- 
Khmer  in  den  Zahlwörtern  sieben  bis  neun,  als  Kherwärl  und  KürkQ. 
Savara  scheidet  sich  aber  aus  in  den  Formen  für  drei  und  vier. 

Auch  in  anderer  Beziehung  ist  es  möglich  eine  Klassifikation 
der  Mu^iJ&sprachen  in  bezug  auf  ihr  Verwandtschaftsverhältnis  zu 
Mon -Khmer  zu  unternehmen.    In  mehreren  Fällen  steht  im  Kher« 


232  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

wäri  ein  h,  wo  Eürkü,  Khariä,  Juäng,  und  wahrscheinlich  auch 
Savara  und  Gadabä  k  aufweisen.  Zum  Beispiel  Kürkü  Jcön,  Santäli 
hän,  Sohn;  Eürkn  Jcön,  Santäli  hä-hä,  rufen;  Kürkü  Jcäküj  Santäli 
hälcö,  Fisch;  KürkQ  Jcörö,  Santäli  här,  Mann;  Kürkü  Jcoiyö,  Sant&li 
hoßj  hoyon,  Wind ;  Kürkü  hölöma,  Khariä  kolong^  Santäli  holon,  Korn ; 
Kürkü  kBnde,  Santäli  hende,  schwarz. 

Die  Yergleichung  mit  Mon-Khmer  zeigt,  daß  Kherwärl  in  solchen 
Fällen  die  ursprüngliche  Sachlage  geändert  hat.  Vgl.  Mon  kön^ 
Kind;  ka,  Fisch;  %ä,  Luft;  Khmer ^Mä,  Santäli  &aAa,  Blume,  u.s.w. 

In  vielen  Fällen  finden  wir  in  einigen  Mu9(JStsprachen  vollere 
Formen  als  in  anderen.  Vgl.  Kürkü  und  MuQ(j[ärI  ßlü ,  Santäli  jd^ 
Fleisch;  Kürkü  iö/ö,  Mu^däri  Aöra,  Santäli  A4r,  Weg;  Kürkü  rfm, 
Santäli  rtmi,  ausfinden.  Die  vollere  Form  ist  dann  die  ursprüng- 
lichere, wie  die  Vergleichung  mit  verwandten  Sprachen  zeigt  Oft 
liegt  die  Sache  so,  daß  ein  einsilbiger  auf  Vokal  auslautender  Stamm 
mit  einem  Präfix  ausgestattet  ist.  Der  Schlußvokal  wird  dann  elidiert, 
und  das  Wort  wird  wieder  einsilbig.  Vgl.  Kürkü  körö,  Mup^ärl  härä^ 
Santäli  häj-j  Hö  hö,  Mann,  mit  Khasi  brTu,  Mann,  Mon  trü,  männlich ; 
Kürkü  kiää,  Santäli  ^u/,  Mon  kla,  Tiger;  Kürkü  ;uma,  Khariä  flieiitt, 
Gadabä  imi,  Santäli  fiii-tu-m,  Korwä  yum,  Mon  ymu,  Khmer  jhmöh, 
Name ;  Kürkü  öte,  Santäli  ät,  Mon  ti,  Khmer  /iy,  Bahnar  teh^  Stieng 
iSh,  Erde ;  Kherwärl  bir,  Khmer  brSi ,  Bahnar  und  Stieng  bri,  Wald ; 
Santäli  sJfi,  MuQ^äri  singT,  Gadabä  sii,  Mon  tnäij  Khmer  thnäiy^ 
Khasi  sni,  Sonne,  Tag,  u.s.w. 

Es  zeigt  sich  somit,  daß  Kürkü  und  die  südlichen  Muncjädialekte 
den  Mon -Khmer -Sprachen  näher  stehen  als  Kherwärl.  Unter  den 
Kherwäridialekten  hat  oft  das  MuQ^äri  ältere  Formen  bewahrt.  Daß 
Kürkü  und  Mu^cjärl  näher  mit  den  Mon  -  Khmer  -  Sprachen  überein- 
stimmen als  z.  B.  Santäli,  ist  auffallend,  wenn  wir  bedenken,  daß  sie 
weiter  von  ihnen  entfernt  sind  als  die  letzterwähnte  Sprache. 

Es  ist  schon  oben  bemerkt  worden,  daß  die  Wurzeln  und  Stämme 
der  Mon- Khmer -Sprachen  zwar  einsilbig  sind,  daß  die  Wörter  aber 
mittelst  Anfügung  von  Affixen  gewöhnlich  mehrsilbig  gemacht  werden. 
Dasselbe  ist  auch  im  Khasi  und  den  Mu^däsprachen  der  Fall.  Auch 
hier  stellen  sich  die  letzteren  näher  zu  Mon -Khmer  als  zu  Khasi, 
insofern  als  die  letztere  Sprache  die  Verwendung  von  Infixen  stark 
eingeschränkt  hat,  was  bei  den  anderen  nicht  der  Fall  ist.  Da  der 
Mu9(j[äwortschatz  meines  Wissens  noch  nie  auf  die  Verwendung  von 
Affixen  hin  untersucht  worden  ist,  wird  es  vielleicht  von  Interesse 
sein  einige  hierher  gehörende  Tatsachen  zusammenzustellen,  wobei 
ich  aber  keinenfalls  auf  Vollständigkeit  Anspruch  mache. 


Schmidt,  MoihElimer«SpTachen.    Ehasi-Sprache.  283 

Zunächst  sehe  ich  von  der  häufigen  Verwendung  von  Suffixen 
in  der  Flexion  der  Mu94äsprachen  ab.  Auch  in  der  Wortbildung 
seheinen  Suffixe  früh  verwendet  gewesen  zu  sein.  Vergleiche  das 
schließende  m  in  Santäli  ö-m,  geben  (em-ad-e-a  oder  e-wad-e-a,  gab 
ihm),  Eürkü  f;  Santäli  ;ä.m,  essen  {a-jä,  zu  essen  geben);  Eürkü 
anji^mf  hören  (änjöen,  gehört),  u.  s.  w. ;  das  Suffix  kü  in  Kürkü  kä-Jcu 
(Mon  ka),  Fisch;  rü-kü  (Mon  ruäi),  Fliege,  und  anderes  mehr.  In 
seinem  früher  erwähnten  Vortrage  auf  dem  Salzburger  Anthropologen- 
Kongreß  hat  Pater  Schmidt  die  Suffixfrage  in  ihrem  vollen  Umfange 
aufgenommen,  und  ich  will  nicht  versuchen  seinen  Resultaten  hier 
vorzugreifen. 

Wie  im  Mon -Khmer  so  spielen  in  den  Muj|;i<}äsprachen  Präfixe 
und  Infixe  eine  bedeutende  Rolle  in  der  Wortbildung.  Zunächst  ein 
paar  Worte  über  die  Präfixe.  Ich  sehe  dabei  von  den  häufigen 
Repetitionen  und  Reduplikationen  der  Wurzel  ab,  da  diese  in  jeder 
Santäligrammatik  behandelt  worden  sind. 

Ein  vokalisches  Präfix  findet  sich  in  einer  Reihe  von  Fällen, 
z.  B.  Santäli  ayup\  Abend,  Khmer  yub,  Nacht;  Kürkü  öte,  Erde, 
Mon  ti;  Santäli  ipil,  Stern,  Mon  p^hlOj  glitzern,  funkeln,  Khmer 
bhluh,  hell,  leuchtend;  Santäli  isin,  kochen,  Mon  ein,  Bahnar  im, 
Stieng  sin;  Santäli  äräc\  zerreißen  {räc\  wegreißen),  Mon  sräk.  In 
mehreren  Fällen  wird  ein  Präfix  a  vor  Verbalstämmen  gesetzt,  um 
eine  Art  von  Permissiven  oder  Faktitiven  zu  bilden.  Zum  Beispiel 
Santäli  q-fiu,  zu  trinken  geben,  von  flu,  trinken ;  a-jä,  zu  essen  geben, 
von  järm,  essen;  q-krifi,  verkaufen,  von  hiriüy  kaufen.  Dies  a  ist 
vielleicht  verwandt  mit  dem  a,  das  einem  Pronomen  vorangeht,  wenn 
ee  als  indirektes  Objekt  gebraucht  wird;  z.  B.  Santäli  -q-ri,  mir; 
-o-m,  dir;  >a^6,  ihm.  Dies  a  wird  dann  oft  mit  dem  Vorschlag  eines 
w  gesprochen.  So  z.  B.  Santäli  e-to-ad-e-a,  gab  ihm.  Das  Präfix  a 
kann  deshalb  verwandt  sein  mit  dem  Kürkü  Präfix  wä,  das  Permis- 
siva  bildet ;  z.  B.  die'  eng-ken  wa-^en-hä,  er  läßt  mich  gehen. 

Wie  das  Khasi  und  die  Mon-Khmer-Sprachen  scheinen  auch  die 
MuQiJäsprachen  eine  zweite  Stufe  zu  kennen,  in  welcher  noch  ein 
Nasal  hinzugefügt  wird.  Hierher  gehört  vielleicht  Santäli  and-kul, 
zum  Tiger  werden. 

Ein  Gutturalpräfix  wird  sehr  häufig  verwendet.  Da  k  in  Kher- 
wäri  oft  zu  h  wird,  werden  viele  mit  h  anfangenden  Wörter  hierher- 
zuziehen sein.  Man  vergleiche  Formen  wie  Kürkü,  kö-rö,  Mun^ftri 
hä-räj  Khasi  b-riu,  Mann;  Kürkü  k^n,  Savara  ön,  Mon  Ä-ön,  Sohn; 
Kürka  ha-la^  Santäli  ku4,  Mon  k-la,  Tiger;  Santäli  ho-n,  Mon  k-ni, 
g-nij  Bahnar  Ä:d-n?,  Stieng  kö-nei,  Ratte;  Santäli  ha-ram^  alt,  Khmer 
nem,  älterer  Bruder;  Santäli  ka-bak^  mit  einem  spitzigen  Gegenstand 

Gȟ  gel.  Abs.  1906.  Nr.  8.  16 


234  Gott,  gel  Ans.  1906.  Nr.  8. 

berühren,  hdk\  an  einem  Dorne  stecken  bleiben;  Santftll  g-ur^  fallen, 
Khmer  ür,  e^,  Kbasi  Or;  Santäll  gi4k\  schlafen,  Mon  8-<ii-6-tofl, 
Khmer  t^k^  Bahnar  t^.  Die  zweite  Stufe  dieses  Präfixes  liegt  vor 
in  Savara  kin-sor^  Gadabä  ghusö^  Stieng  stfu^  Ehasi  k-seu,  Hund; 
Savara  kim-botl.  Schwein;  kim-pon^  Khmer  höh,  Bauch,  u. s.w. 

Ein  Palatalpräfix  scheint  vorzuliegen  in  Santftll  japity  liegen,  vgl. 
Stieng  bic\  Kürku  jü-mü,  Name,  vgl.  Ehmer  jhmöh;  und  ein  Dental- 
präfix in  Formen  wie  Santäl!  tthrüi^  Mon  t-rau,  sechs;  Ehariä  ^m- 
soflg,  Feuer;  Khariä  tom-sing^  Savara  tim-ji^  Stieng  sin^  neun.  Die 
letzten  Beispiele  zeigen  wiederum  die  zweite  Stufe  der  Präfixbildung. 

Ein  Labialpräfix  liegt  vor  in  Formen  mebär,  zwei;  Santäll  6ir, 
Khmer  brei^  Bahnar  und  Stieng  6rt,  Wald;  Kürkü  bi-tt,  Santäll  fr^-te, 
reif,  vgl.  Khmer  pMe,  Bahnar  und  Stieng  plei^  Frucht;  Santali  qric^ 
und  beb'aric\  viel;  Santäli  6a-Aa,  Khmer  phkä,  Blume,  u.  s.w.  Es 
fängt  mit  m  an  in  Formen  wie  Santäli  m-ü^  ein;  märyäm,  Stieng 
ma-fiamj  Bahnar  pham,  maham,  Blut. 

Auch  Präfixe,  welche  mit  Liquidae  oder  einem  Zischlaut  anfangen, 
kommen  vor.  Man  vergleiche  Khariä  ro-mong,  Kherwärl  tnd,  Mon 
muh^  Nase,  und  vielleicht  Kurkü  lu-tür,  Uon  ktöw,  Bahnar  /dn,  Ohr; 
MuQdärl  5i-n^7,  Khasi  s-ni,  Mon  ^ndi,  Sonne,  Sonne;  Santäli  «a-n^Vt, 
Mon  jornai,  Khmer  ch-näy,  Bahnar  Sö-ftai^  Stieng  nai,  fem;  Savara 
sifif  suüf  Juäng  iyä,  Mon  s-ni,  Stieng  fli,  Haus,  u.  s.w. 

In  der  Anwendung  von  Pfäfibcen  in  der  Wortbildung  stimmen  die 
MuQdäsprachen  sowohl  mit  Khasi  als  mit  Mon-Khmer  Uberein.  Es 
ist  nur  zu  merken,  daß  das  Präfibc  gewöhnlich  einen  vollen  Vokal  hat. 

Neben  den  Präfixen  verwenden  die  MuQdäsprachen  auch  in 
großer  Ausdehnung  Infixe,  ganz  wie  es  in  den  Mon-Khmer-Sprachen 
der  Fall  ist,  während  diese  Art  der  Wortbildung  in  Khasi  zwar  vor- 
liegt, aber  doch  kaum  mehr  als  eine  lebendige  bezeichnet  werden 
kann. 

Ein  Infix  A'  ist  sehr  allgemein  zur  Bildung  von  Intensiven,  be- 
sonders  von  Verben,  welche  mit  einem  Vokal  anfangen.  So  z.  B. 
Santäll  äk'dl  von  äl^  schreiben;  bek'nao  von  benao,  machen.  Dasselbe 
Infix  bildet  auch  Distributivzahlen  und  einige  Pronominalstämme. 
Vergleiche  Santäli  eVäe^  je  sieben,  von  eäe^  sieben;  nük'üi^  eben 
dieser,  von  tiui,  dieser. 

Die  Dentale  sind  durch  ein  t-  und  ein  n-Infix  vertreten.  Das 
f-Infix  scheint  Verbalnomina  zu  bilden;  vergleiche  Santftll  flu-to-m, 
Name,  von  num^  nennen;  ä-iä-häp^  Anfang,  von  ähäp\  anfangen; 
bo-to-r^  Furcht,  von  bor^  fürchten.  Auch  das  n-Infix  ist  nominal- 
bildend.    So  z.  B.  Savara  tub,  teilen,  ta-nu-b^  Teil;   Santäli  aka^ 


Schmidt,  Mon-Ehmer-Spracheii.    Khasi-Sprache.  235 

hSogen,  a^kp-kfa),  ein  Bambus  zum  Aufhängen  von  Kleidern;  hah\ 
an  einen  Haken  hängen,  ba-na-h^  Haken;  dapät^  bedecken,  da-na-pal, 
HfiUe;  mueaV  und  miMiu-cat^  Ende.  Das  Infix  kommt  auch  in 
KollektiYzahlwörtern  und  Verben  vor.  Vergleiche  Santäli  ba-na-r^ 
beide;  i>o-iio-n,  alle  vier;  ^heeok^  nnddhe^-cok^  hinken;  Kürkü  fhar 
und  fka-nä-r,  stehen,  bleiben,  u.  s.w. 

Ein  p-Infix  wird  verwendet,  um  Eollektiva  und  reziproke  Verben 
zu  bilden.  So  z.  6.  Santäli  maajhi,  ein  Hanptmann,  mchpa-njhi,  eine 
Sammlung  von  Hauptleuten;  daram,  begegnen,  da-pa-ram,  sich  be- 
gegnen. Bisweilen  wird  die  Bedeutung  durch  dies  Infix  nicht  wesent- 
lich geändert;  z.  B.  hän  und  A<S-pd-n,  Sohn. 

Ein  Mnfix  scheint  vorzuliegen  in  dem  Frequentativ-Suffix  bara 
und  fto-i-ra,  und  in  Intensivbildungen  wie  ha-b-ric*  von  bqric\  zer- 
stören; ie-fr-r^'  von  beret\  au&tehen;  burum  und  bu-b-rum^  brilten, 

U.8.W. 

Auch  l  und  r  werden  infigiert.  Man  vergleiche  Santäli  du-ru-p', 
Ma94än  dup\  sitzen;  Santäli  &e-re-<',  Eürkü  bü\  aufstehen;  Santäli 
d-fflk-ib^  Khariäoo  (d.  h.  wohl  oik'%  Haus;  Eürkü  öt^  und  ö-le-t^  aus- 
gehen; Santali  ge4e-c\  aushöhlen,  ge€\  abschaben,  u. s.w. 

Es  zeigt  sich  somit,  daß  die  Wortbildung  der  Mui^^äsprachen 
nach  denselben  Prinzipien  erfolgt  wie  im  Ehasi  und,  in  noch  höherem 
Grade,  in  den  Mon-Ehmer-Sprachen.  Den  letzteren  stehen  sie  auch 
im  Wortschatz  und  im  grammatischen  System  besonders  nahe.  Zwar 
kann  in  dieser  Beziehung  von  einer  durchgehenden  Uebereinstimmung 
keine  Rede  sein,  da  die  Mu^^äsprachen  hier  wohl  zweifelsohne  von 
anderen  indischen  Sprachformen  beeinflußt  worden.  In  denjenigen 
Punkten  aber,  die  Pater  Schmidt  hervorhebt,  und  in  welchen  sich 
das  Ehasi  von  den  Mon-Ehmer-Sprachen  unterscheidet,  stimmt  die 
Mnj^däfamilie  mit  den  letzteren  Uberein.  Was  die  persönlichen  Pro- 
nomina betrifit,  so  hat  sie  z.  B.  nichts  dem  Ehasisystem  der  Plural- 
bildnng  entsprechendes.  Sie  hat  neben  dem  Plural  auch  ein  Dual, 
und  Doppelformen  des  Duals  und  des  Plurals  der  ersten  Person,  die 
einen  den  Angeredeten  einschließend,  die  anderen  ihn  ausschließend. 
Dagegen  kennt  sie  ebenso  wenig  wie  die  Mon-Ehmer-Sprachen  die 
dem  Khaai  eigentümliche  Unterscheidung  des  Geschlechts.  Die  ver- 
schiedenen Formen  stimmen  auch  in  vielen  Einzelheiten  überein,  wie 

ans  der  nachstehenden  Tafel  leicht  ersehen  kann. 


16^ 


I 


236 


Qött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  3. 


Ehasi 

Santäli 

Bahnar 

ich 

fki 

ifi 

iü 

ich  und  du 

äAüii 

ba 

ich  und  er 

Orlm 

üi 

ich  und  ihr 

ni 

ä'bön 

bön 

ich  und  sie 

ni 

a-ia 

fion 

du 

fnSj  m. ;  pho,  fem. 

am 

e,  bu  (Stieng  mei) 

ihr  beide 

ä'ban 

mieh 

ihr 

phi 

ä'pä 

iem 

Was  nun  den  Wortschatz  betrifft,  so  muß  daran  erinnert  werden, 
daß  die  zahlreichen  Lehnwörter  das  Verhältnis  vielfach  trüben,  und 
daß  eine  Analyse  der  Mu^d^prachen ,  wie  sie  Verfasser  für  Khasi 
und  Mon-Khmer  geliefert  hat,  noch  nicht  vorliegt.  Auf  ein  paar 
Fälle,  in  welchen  sich  die  MuQdäsprachen  näher  an  Mon-Khmer  als 
an  Khasi  anschließen,  kann  aber  schon  jetzt  hingewiesen  werden. 

1.  Auge.  —  Santäli  mat\  Mon  tnatj  Khasi  khfffnat, 

2.  Bein.  —  Santäli  jangä^  Mon  juifi,  Khmer  jön,  Khasi  kyjat. 

3.  Blut.  —  Santäli  mäyämj  Stieng  mdham,  Khasi  snam. 

4.  Fliege.  —  Santäli  rä,  Korkü  rüha^  Mon  ru^»,  Khmer  ruy, 
Bahnar  roi,  Khasi  sJcoin. 

5.  Haar.  —  Kürku  hup%  Kherwärl  up',  Mon  söJc^  Khasi  iniuh. 

6.  Nacken.  —  Kürkü  ka-rü,  Mon  ka\  Khasi  ryndan. 

7.  Nase.  —  Kherwäri  mä,  Mon  muh,  Khasi  Ichmut. 

8.  trunken.  —  Santäli  bul^  Mon  baßü,  Bahnar  &uZ,  Khasi  buäid. 

9.  Wasser.  —  Kherwäri  döi',  Savara  cß,  Mon  cZäi,  Bahnar  dot, 
Khasi  um. 

Es  zeigt  sich,  daß  die  Muodäsprachen  hier  auf  dieselbe  Weise 
vom  Khasi  abweichen  als  die  Mon-Khmer-Familie.  Vgl.  SchmidtB^ 
Khasi-Lautlehre,  S.  757. 

Unsere  Untersuchung  hat  also  Verfassers  Klassifikation,  soweit 
die  Mu^däsprachen  davon  betroffen  sind,  völlig  bestätigt.  Sie  stehen 
den  Mon-Khmer-Sprachen  besonders  nahe.  Es  wird  aber  dann  sehr 
wahrscheinlich,  daß,  wenn  die  letzteren  von  sowohl  Khasi  als  Mu^^ft 


Schmidt,  Mon-Khmer-Sprachen.    Khasi-Sprache.  237 

abweichen ,  mit  fremdem  Einflüsse  zu  rechnen  ist.  So  liegt  es  z.  B. 
nahe,  an  indo-chinesischen  Einfluß  zu  denken,  um  die  Aenderung  von 
tönenden  Explosivlauten  zu  tonlosen  im  Mon-Khmer  zu  erklären. 
Die  durch  die  Schrift  erschließbare  ältere  Form  hat  die  tönenden 
Laute  noch  erhalten,  in  der  modernen  Sprache  aber  ist  die  Aenderung 
vollzogen;  vgl.  Schmidt,  Mon-Khmer,  S.  4.  Im  Khasi  aber  werden 
die  tönenden  Laute  noch  gesprochen,  und  dasselbe  ist  bekanntlich  in 
den  Mu^ijäsprachen  der  Fall.  Man  vergleiche  z.  B.  Santäll  jati, 
Khmer  cAaM,  Bein;  Kürkü  d^c*,  Stieng  ^^c,  brechen;  Santäli  flre/', 
Mon  huty  Khmer  Icat^  schneiden;  Santall  hxk\  Mon  pen,  Khmer  6^, 
Bahnar  &^,  hen,  Stieng  hiin^  voll,  u.  s.  w.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  daß  die  Entwickelung  in  den  Mon-Khmer-Sprachen  ver- 
hältnismäßig spät  ist.  Die  indo-chinesischen  Sprachen  haben  nun, 
wie  Gonrady  nachgewiesen  hat,  durchgehend  die  Tendenz  tönende 
Explosivlaute  in  tonlose  umzuwandeln,  und  es  liegt  deshalb  nahe  an 
eine  Beeinflussung  seitens  dieser  Sprachen  zu  denken.  Das  annami- 
tische  Tonsystem  muß  doch  wohl  durch  eine  ähnliche  Annahme  er- 
klärt werden. 

Was  konsonantischen  Anlaut  sonst  betrifft,  so  werde  ich  mich 
nicht  auf  Einzelheiten  einlassen.  Bloß  zu  einem  Punkte  werde  ich 
eine  kurze  Bemerkung  machen.  Verfasser  weist  nach,  daß  der  ton- 
lose Explosivpalatal  c  (ch)  den  Mon-Khmer-Sprachen  wie  dem  Khasi 
nicht  ursprünglich  ist,  sondern  aus  der  Verbindung  eines  Guttural- 
präfixes mit  einem  folgenden  y-  oder  ^-Anlaut  entstanden  ist.  Im 
Khasi  hat  sich  dann  dies  c  weiter  zu  s  entwickelt. 

Die  MuQ^äsprachen  scheinen  dies  Resultat  zu  bestätigen.  Man 
vergleiche  Stieng  cal,  Khmer  Jchydl,  Knrkü  toi-t/ö.  Wind ;  Mon  chim, 
Santäll  mä-^äm,  Blut;  Mon  chu^  Stieng  cw,  Kürkü  tscing,  Juäng  sim, 
Gadabä  sulö,  Baum;  Mon  cäi,  Khmer  cai,  Bahnar  si,  Stieng  sVi, 
Santäl!  $e,  und  Khasi  ist,  Laus;  Mon  cß,  Bahnar  ^em,  Stieng  cum, 
Kberwäri  «fm,  Vogel ;  Mon  ein,  Bahnar  Sin,  Stieng  sin,  Santäli  isin, 
kochen;  Khmer  cap,  Bahnar  cep,  Stieng  cap,  Santäli  8ap\  greifen; 
Khmer  cök,  Santäli  8äk\  hineinstecken. 

In  allen  solchen  Fällen  entspricht  ein  s  oder  ein  y  in  den 
Mun^äsprachen  einem  stimmlosen  Palatal  der  Mon-Khmer-Sprachen, 
ganz  wie  wir  nach  Pater  Schmidts  Ausführungen  erwarten  müssen. 
Ob  der  tonlose  Palatal  der  MuQdäsprachen  auf  dieselbe  Weise  ent- 
standen ist,  muß  noch  untersucht  werden. 

Was  die  Zerebrallaute  betrifft,  so  kommen  sie  im  Khasi  nicht 
vor,  und  in  den  Mon-Khmer-Sprachen  sind  sie  bloß  dem  Mon  und 
dem  Khmer  eigentümlich.  Der  zerebrale  Nasal  ist  in  keiner  von 
diesen  Sprachen  ursprünglich,  wie  Schmidt  nachweist.    Auch  der 


238  Gott  gd.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

zerebrale  Explosivlaut  ist  oft  sekundär.  Vergleiche  Mon  dak^  Khmer 
d^f  Bahnar  dak,  Stieng  däk,  Santäll  däk\  Wasser;  Mon  hduh^  hassen. 
Das  letztere  Wort  ist  ein  Pali-Lehnwort ;  vergleiche  Pali  doso,  Haß, 
und  auch  das  erstere  geht,  wie  Verfasser  bemerkt,  vielleicht  auf 
Sanskrit  daica  zurück,  so  daß  in  beiden  der  Dental  sicher  ursprüng- 
lich ist.  Auch  in  den  Mu^d&sprachen  finden  wir  eine  ähnliche  Zere- 
bralisierung;*  vergleiche  Savara  da,  Gadabä  da  und  da,  Wasser. 

Auch  zu  der  Behandlung  auslautender  Explosivlaute  werden  wir 
in  den  Mu^däsprachen  Parallelen  finden.  Eine  gemeinsame  Eigen- 
tümlichkeit des  Khasi  und  der  Mon-Khmer-Sprachen  ist  es,  auslautende 
Konsonanten  in  verschiedener  Weise  abzuschwächen.  Auf  ganz  ähn- 
liche Weise  werden  oft  die  MuQdäkonsonanten  im  Auslaut  abgeschwächt. 
Was  die  Verschlußlaute  betrifiTt,  so  unterbleibt  in  solchen  Fällen  die 
eigentliche  Explosion  nach  dem  Verschluß.  Man  nennt  gewöhnlich 
solche  abgekürzte  Verschlußlaute  Halbkonsonanten.  Vergleiche  Santäll 
däk\  Wasser;  gitic\  schlafen;  sap\  greifen,  u.  s.  w. 

In  vielen  wichtigen  Eigentümlichkeiten,  im  Lautsystem,  im  Wort- 
schatz und  Wortbildung,  und  in  grammatischen  Einzelheiten  stimmen 
somit  die  Mu^däsprachen  so  genau  mit  den  Mon-Khmer-Sprachen 
überein,  daß  der  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  Familien  ein 
genetischer  sein  muß.  Auf  ähnliche  Weise  sind  die  Mon-Khmer- 
Sprachen  mit  dem  Nancowry  und,  wie  Pater  Schmidt  hervorhebt, 
auch  mit  den  austronesischen  Sprachen  verwandt.  Eine  neue  große 
linguistische  Famile  ist  somit  aufgestellt  worden.  Dies  getan  zu 
haben  und  den  Zusammenhang  zwischen  den  wichtigsten  Gliedern  der 
Familie  bewiesen  zu  haben,  ist  schon  eine  hervorragende  Leistung. 
Verfasser  ist  aber  weiter  gegangen,  und  hat  in  seinen  beiden  Ab- 
handlungen eine  feste  Grundlage  für  die  vergleichende  Erforschung 
der  ganzen  Familie  gelegt.  Da  er  noch  immer  auf  demselben  Ge- 
biete weiter  arbeitet,  dürfen  wir  hoffen,  daß  er  noch  manche  Schwierig- 
keit aus  dem  Wege  räumen  wird.  Dafür  bürgt  seine  methodische 
Sicherheit,  sein  Kombinationsvermögen,  sein  umfassendes  Wissen,  und 
der  Scharfsinn,  von  dem  seine  Arbeiten  ein  so  vorzügliches  Zeugnis 
ablegen. 

Ghristiania.  Sten  Konow. 


Nenes  Ter-Mikaelian,  Dm  armenische  Hymnariam.  239 


Kenes  Ter-MlkaellM,  'Das  armenische  Hymnariam.  Stadien  za 
seiner  geschichtlichen  Entwicklung.  Leipzig,  J.C.Heinrichs, 
1905.    IV,  110  S.    M.  4.60. 

Die  yorliegende  Arbeit,  die  dem  Nebentitel  zufolge  in  erster 
Linie  einen  Beitrag  zur  Aufhellung  der  geschichtlichen  Entwicklung 
des  armenischen  Hymnariums  liefern  will,  gliedert  sich  in  drei  äußer- 
lich als  ganz  gleichwertig  hingestellte  Kapitel,  eins  über  das  heutige 
Hymnarium,  eins  über  seine  Geschichte  und  eins  über  die  Verfasser 
der  einzelnen  Bestandteile  der  Sammlung.  Das  erste  Kapitel  ist 
jedoch  in  Wahrheit  mehr  eine  Art  Einleitung,  und  es  wäre  vielleicht 
gut  gewesen,  dies  sowohl  durch  eine  entsprechende  Aufschrift  wie 
auch  durch  die  Beschränkung  des  Umfangs  auf  ein  bescheideneres 
Maß  erkennen  zu  lassen.  Denn  dieses  sogenannte  erste  Kapitel 
bietet  eigentlich  nur  eine  ausführliche,  wie  gesagt  wohl  gar  zu  breit 
angelegte  Beschreibung  des  Hymnariums,  das  gedruckt  vorliegt  und 
für  einen  nicht  geradezu  unerschwinglichen  Preis  zu  kaufen  ist,  eine 
Beschreibung,  die  dem  Neuling  auf  dem  Gebiete  der  armenischen 
Philologie  einen  recht  willkommenen  Ueberblick  gewähren  wird,  die 
aber  die  Forschung  um  nichts  von  Belang  bereichert  und  deshalb  im 
vorliegenden  Werke  nur  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  sie  sich  damit 
bescheidet  in  den  Stand  der  Frage  einzuführen. 

Der  Verfasser  bringt  nach  einigen  Auseinandersetzungen  über  das 
Alter  des  heutigen  Hymnariums,  über  die  Zahl  der  in  ihm  enthaltenen 
Hymnen  sowie  das  Wesen  der  einen  Kanon  bildenden  Gruppe  eine 
vollständige  Uebersetzung  aller  Ueberschriften,  wie  sie  in  der  Etsch- 
miadsiner  Ausgabe  vom  Jahre  1861  enthalten  sind.  Wie  eine  An- 
merkung ausdrücklich  hervorhebt,  soll  die  Uebertragung  eine  mög- 
lichst treue  sein  ohne  Rücksicht  darauf,  daß  dabei  ein  etwas  schwer- 
fälliges Deutsch  herauskomme.  Nun  mag's  ja  allerdings  ziemlich 
gleichgültig  sein,  wie  die  Wiedergabe  des  armenischen  Textes  den 
Deutschen  in  die  Ohren  klingt,  wenn  auch  Uebersetzungen  wie 
>Kanon  des  vierzigtägigen  Kommens  des  Herrn  in  den  TempeU  und 
>Kanon  des  lucemarium  des  Theophanias«  vielleicht  doch  mehr  als 
nur  schwerfällig  sind.  Wenn  aber  die  sogenannte  Treue  der  Ueber- 
tragung, d.h.  die  mechanische  Wörterbuchwälzerei ,  zu  unverständ- 
lichen Ausdrücken  führt,  dann  darf  und  muß  man  —  scheint  mir  — 
doch  Einspruch  erheben.  Was  soll  sich  einer,  der  des  Armenischen 
durchaus  unkundig  ist  —  und  nur  für  solche  Leute  ist  doch  die 
Uebersetzung  bestimmt  —  unter  einem  neuen  Sonntag,  unter  einem 
großen  Freitag  denken?  Daß  letzterer  der  Karfreitag,  ist  wird  ja 
vielleicht  noch  von  einem  scharfsinnigen  Leser  erraten  werden.   Sollte 


240  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  8. 

er  aber  auch  darauf  kommen,  daß  der  neue  Sonntag  der  Sonntag 
Quasimodogeniti  ist?  So  wäre  auch  hier  und  da  ein  erläuternder  Zu* 
satz,  wenn  auch  nicht  gerade  notwendig,  so  doch  wenigstens  erwünscht 
gewesen.  Sicherlich  wird  es  nicht  allen  Lesern  gegenwärtig  sein, 
daß  der  Hymnus  auf  die  20000  die  20000  in  Nikomedien  durch 
Feuer  umgekommenen  Märtyrer  feiert,  daß  Julitta  die  Mutter  des 
heiligen  Kyriakos  ist  und  anderes  mehr.  Bücher  sollen  doch  bis  zu 
einer  gewissen  Grenze  auch  verstanden  werden,  und  wenn  man  bei 
seinen  Lesern  eine  so  beängstigende  Unkenntnis  voraussetzt,  wie  der 
Verfasser  es  im  ersten  Kapitel  tut,  dann  darf  man  auch  bei  Angaben 
nicht  selbstverständlicher  Umstände  nicht  allzusehr  mit  Worten  kargen. 
Eine  besondere  Bemerkung  erfordert  der  Ausdruck  Melodie,  der  in 
der  Uebersetzung  der  Ueberschriften  wiederholt  vorkommt.  Die  acht 
Grundmelodien,  von  denen  der  Verfasser  S.  4  ohne  weitere  Erläuterung 
redet,  sind  keineswegs  das,  was  man  im  gewöhnlichen  Leben  unter 
Melodie  versteht,  sondern  Tonarten  wie  die  acht  aus  der  griechischen 
Musik  übernommenen  sogenanten  Eirchentöne  oder  Kirchenmodi,  mit 
denen  sie  auch  fraglos  zusammenhängen.  Wie  in  der  griechisch- 
christlichen  und  danach  auch  in  der  lateinischen  Kirchenmusik  den 
vier  Haupttonarten,  die  der  altgriechischen  dorischen,  phrygischen, 
lydischen  und  mixolydischen  entsprechen,  vier  Nebentonarten  gegen- 
überstehn,  deren  jede,  gleicher  Tonika  mit  der  entsprechenden  Haupt- 
tonart, aus  der  auf  diesem  Grundton  stehenden  Quinte  und  der 
darunterliegenden  Quart  besteht,  so  liegt  auch  im  Armenischen  eine 
Scheidung  in  je  vier  Kirchenmodi  vor,  und  die  Namen  zeigen  deut- 
lich an,  daß  Byzanz  die  Heimat  ist.  Man  vergleiche: 
uiiuuep'ü  Xtujb  > erster  Ton<     =  xpötoc  "^x^^  x&pioc       = 

L  tonus  authenticus. 
uin.uacp%  ^miiT  >erste  Seite <     =  icpöTog  iixo^  icXdYioc     = 

U.  tonus  plagalis. 
irp^npq.  Xmjb  >zweiter  Tou«  =  deotepog  '^/oc  xopiog     = 

ni.  tonus  authenticus. 
ttiLjif^  /(n^  >große  Seite<        =  SeGtepog  -^x^^  icXi^ioc  = 

IV.  tonus  plagalis. 
tppnpq.  hujb  >  dritter  Ton<     =  tpttoc  rixoQ  xopiog        =« 

V.  tonus  authenticus. 
/[tun.  >  feurig  <  =  tpCtoc  "^x®^  icXdyiog      = 

VI.  tonus  plagalis. 
Ifippnpq.  äuijb  >  vierter  Ton<    =  i^taprog  ifjup^  xöptoc    = 

VU.  tonus  authenticus. 
4Ppi^  >Ende<  =  tStaptog  iix^Q  ffXdtYtoc  = 

VIIL  tonus  plagalis. 


Nerses  Ter-Mikaelian ,  Das  armenische  Hymnarium.  24t 

In  drei  Fällen  entspricht  das  Armenische  dem  Griechischen  ja 
nnn  allerdings  nicht.  Aber  die  für  uitMiq.  ^nqj]  ^mn.  und  ^^^  ge- 
brauchten Abkürzungen  ^f ,  ^  und  qJ^  lassen  sich  nur  als  die  dem 
griechischen  Ausdruck  angemessenen  Worte  irpipnpq.  Iinif  »zweite 
Seite <,  tppnpq.  ^n^  >  dritte  Seite <  und  inppnpq.  ^nq^  > vierte  Seite < 
auflösen. 

Am  Schluß  des  ersten  Kapitels,  bei  der  Angabe  der  Literatur, 
stoße  ich  dann  noch  auf  eine  Bemerkung,  in  der  ich  auch  ein  auf- 
klärendes Wort  glaube  äußern  zu  müssen.  Bei  der  im  großen  und 
ganzen  übrigens  durchaus  anerkennenden  Erwähnung  von  Avetikhians 
Arbeit  über  die  armenischen  Hymnen  bemerkt  der  Verfasser: 
> Avetikhians  großes  Werk  ist  ein  wertvolles  Hilfsmittel,  um  den 
Text  lexikalisch  und  grammatikalisch  richtig  zu  verstehn.  Allein  es 
muß  vorsichtig  benutzt  werden,  da  der  Verfasser  katholisch  ist  und 
ein  starkes  dogmatisches  Interesse  in  dem  ganzen  Werk  äußert.  < 
So  allgemein  hingestellt,  ohne  den  allergeringsten  Versuch  der  An- 
gabe, worin  denn  die  —  mir  übrigens  unbekannten  —  Schäden  des 
dogmatischen  Vorurteils  zu  Tage  treten,  ist  eine  derartige  Bemerkung 
eine  Ungehörigkeit.  Ich  würde  aber  den  Fall  doch  ruhig  unerwähnt 
lassen,  wenn  es  sich  nur  um  eine  vielleicht  etwas  unüberlegte  Be- 
merkung eines  vereinzelten  Schriftstellers  handelte.  Das  ist  aber 
leider  nicht  der  Fall.  Es  ist  vielmehr  der  verständnislos  nur  aus- 
wendig gelernte  Ausdruck  einer  Anschauung,  die  fast  das  ganze 
Etschmiadsiner  Lager  beherrscht,  einer  Anschauung,  die  von  einem 
ja  leicht  verständlichen  Haß  gegen  eine  gefahrdrohende  stärkere 
Kirche  ins  Leben  gerufen  und  dann  bei  der  jüngeren  Generation 
durch  die  auf  den  deutschen  Hochschulen  wirkenden  protestantischen 
Theologen  noch  einigermaßen  genährt  worden  ist.  Aber  in  wissen- 
schaftlichen Angelegenheiten  sollte  man  sich  doch  eines  derartigen 
Parteihaders  enthalten  und  unbefangen  und  dankbar  jeden  Beitrag 
annehmen.  Und  namentlich  armenische  Philologen  dürften  nicht  ver- 
gessen, daß  sie  den  größten  Teil  ihrer  Errungenschaften  katholischen 
Theologen  verdanken.  Es  soll  den  letzteren  damit  nicht  etwa  ein 
besonderes  Kompliment,  zumal  nicht  den  Protestanten  gegenüber, 
gemacht  werden.  Vielleicht  ist  nur  der  Umstand,  daß  katholischen 
Theologen  die  geistige  Betätigung  in  Fragen  der  eigenen  Kirche  nur 
in  begrenztem  Maße  gestattet  ist,  bei  ihnen  ein  Antrieb  zur  Be- 
arbeitung verwandter  Gebiete  geworden.  Aber  wie  es  auch  sein 
mag,  die  angegebene  Tatsache  bestreiten  kann  nur  der,  der  nichts 
von  der  Sache  versteht  oder  lügt.  In  erster  Linie  sind  es  natürlich 
die  Mechitharisten ,  deren  Tätigkeit  von  jedem  billig   denkenden. 


242  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8. 

Forscher  dankend  anerkannt  werden  sollte,  ohne  deren  Arbeit,  soviel 
Mängel  sie  auch  haben  mag,  wir  einfach  um  hundert  Jahre  zurück- 
versetzt  würden;  und  die  katholischen  Theologen  anderer  Nation 
haben  sich  mindestens  energischer  in  die  armenischen  Eirchenver- 
hältnisse  eingearbeitet  und  infolgedessen  auch  mehr  für  deren  Auf- 
hellung getan  als  ihre  evangelischen  Amtsgenossen.  Es  liegt  mir  fem, 
in  Bausch  und  Bogen  alles  gutzuheißen,  was  auf  S.  Lazzaro  und  in 
Wien  hervorgebracht  worden  ist.  Ich  verkenne  nicht  den  Mangel 
an  Kritik,  der  manche  fleißige  Arbeit  nur  allzusehr  geschädigt  hat. 
Aber  erstens  lassen  sich  solche  Mängel  auch  anderwärts  entdecken, 
und  dann  sind  das  doch  andere  Dinge  als  Fälschungen,  seien  es  voll-, 
seien  es  halbbewußte,  und  wer,  was  in  Etschmiadsin  gang  und  gäbe 
ist,  anderen  Forschem  derartige  Fälschungen  vorwirft,  der  übemimmt 
auch  die  Verpflichtung  sie  nachzuweisen.  Sonst  bleibt  eben  nichts 
anderes  übrig  als  eine  einfache,  niedrige  Verleumdung.  Zudem  sollte 
man  sich  etwaigen  dogmatischen  Vorurteilen  gegenüber  in  Etschmiadsin 
doch  auch  des  Wortes  bewußt  bleiben,  daß  die,  die  im  Glashause 
sitzen,  besser  nicht  mit  Steinen  werfen.  Man  überlege  sich  beispiels- 
weise doch  einmal  emstlich  die  von  kindischer  Wut  eingegebenen 
Sophistereien,  mit  denen  Earapet  Ter-Mkrttschean  im  Ararat  (1902, 
S.  809—830)  Oelzers  Ansicht  zu  widerlegen  versucht,  daß  Aschtischat 
die  geistliche  Hauptstadt  Armeniens  gewesen  sei.  Man  besehe  sich 
doch  einmal  etwas  genauer  die  entsprechenden  Spiegelfechtereien  in 
Erwand  Ter-Minassiantzs  leichtfertiger,  von  der  philologischen  Sektion 
der  Universität  Leipzig  angenommenen  Dissertation  (Die  Beziehungen 
der  armenischen  Kirche  zu  den  syrischen  bis  zum  Ende  des  6.  Jahr- 
hunderts), für  die  eine  andere  Universität  —  man  erzählt,  Gießen 
—  dem  Verfasser  die  Würde  eines  Licenciaten  verliehen  hat,  was 
nun  die  weitere  Folge  hat,  daß  er  in  der  Verlagsanzeige  der  zu 
einem  größeren  Buche  erweiterten  Dissertation  als  Prof.  Lie.  Dr.  er- 
scheint (das  Buch  selbst  kenne  ich  nicht,  da  ich  nach  dem  Vor- 
geschmack der  Dissertation  zur  Enthaltsamkeit  entschlossen  bin). 
Und  wenn  man  sich  dann  fragt,  wie  es  möglich  ist,  die  bei  allem 
Redeschwulst  im  Kern  einfache  nüchterne  Erzählung  des  Faustus  von 
Byzanz  durch  das  Zeugnis  der  Wundergeschichten  des  Agathangelos 
widerlegen  zu  wollen,  dann  bleibt  nur  die  Vermutung  bestehn,  daß 
die  uralte  Heiligkeit  von  Etschmiadsin  eben  aus  naheliegenden  Gründen 
auf  keinen  Fall  beanstandet  werden  darf.  Nun  will  ich  zwar  dem 
Verfasser  des  hier  vorliegenden  Buches  gem  zugestehn,  daß  er  sich 
in  Gegensatz  zu  den  beiden  genannten  Herren  redlich  bemüht,  die 
Quellen  unbefangen  zu  prüfen;  aber  er  hat  sich  eben  noch  nicht  in  dem 


Nene«  Ter-Mikaelian,  Das  anneniBche  Hymnarium.  349 

Maße  von  Vorurteilen  losreißen  können,  wie  die  streng  wissenschaft- 
liche Arbeit  es  erheischt.  Diesen  Mangel  an  Kritik  zeigt  deutlich 
das  zweite  Kapitel.  Drei  Fragen  sind  es,  deren  Beantwortung  dort 
yersucht  wird,  die  nach  dem  Alter  des  Hymnariums,  wie  es  heute  in 
Gebrauch  ist,  die  nach  seiner  Gestalt  vor  der  letzten  großen  Be- 
arbeitung durch  Nerses  Schnorhali  und  die  nach  dem  ersten  Auf- 
treten von  Hymnen  in  der  armenischen  Kirche  Überhaupt  Die  Be- 
antwortung der  beiden  ersten  Fragen,  der  man  im  großen  und  ganzen 
zustimmen  kann,  stützt  sich  hauptsächlich  auf  die  Handschrift  202 
der  Bibliothek  der  Wiener  Mechilharisten-Kongregation,  die  aus  drei 
Teilen  besteht  und  das  allmähliche  Anwachsen  des  Hymnenbestandes 
anschaulich  vor  Augen  ftthrt.  Die  Untersuchung  führt  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  Nerses  Schnorhali  (1112—1173)  die  zu  seiner  Zeit  vor- 
liegende Hymnensammlung  etwa  um  ein  Fünftel  des  heutigen  Um- 
fangs  vermehrt  hat,  und  daß  die  Gestalt  des  heutigen  Hymnariums 
in  allen  wesentlichen  die  Anordnung  betreffenden  Zügen  bis  zum 
letzten  Drittel  des  13.  Jahrhunderts  zurückzudatieren  ist.  Die  sich 
daran  anschließenden  Bemerkungen  über  das  erste  Auftreten  be- 
stimmter Hymnen  werden  jedoch  wohl  hier  und  da  noch  Einschrän- 
kungen erfahren,  wenn  weitere  Handschriften  herangezogen  werden. 
S.  51  heißt  es  beispielsweise,  die  Magnifikate  zur  Auferstehung  des 
Herrn,  der  fünfte  bis  achte  von  den  acht  Kanones  für  alle  Ver- 
storbenen seien  in  keiner  Handschrift  vorhanden,  die  laut  Datierung 
älter  als  das  15.  Jahrhundert  sei.  Dem  widerspricht  aber  z.  B.  eine 
Handschrift  der  königlichen  Universitätsbibliothek  zu  Tübingen  aus 
dem  Jahre  1316  (Ma  XUI  22),  in  der  nur  ein  Teil  des  siebenten 
Kanons  für  alle  Verstorbenen  fehlt,  die  anderen  hier  angeführten 
Hymnen  aber  schon  vorhanden  sind.  Und  so  dürfte  manche  Hand- 
sdirift  aus  der  urwaldartigen  Etschmiadsiner  Bibliothek  noch  uner- 
wartete Aufschlüsse  bringen.  Es  ist  überhaupt  zu  bedauern,  daß  der 
Verfasser,  der  schon  vor  Beginn  des  Satzes  seiner  Arbeit  aus 
Deutschland  nach  Armenien  zurückkehrte,  nun  nicht  noch  einige 
wenige  Monate  mit  der  Drucklegung  wartete  und  die  reichen  Mate- 
rialien, die  ihm  in  Etschmiadsin  zur  Verfügung  standen,  wenigstens 
zum  Teil  ausnutzte.  Was  nun  die  dritte  Frage  anbetrifft,  wann  die 
Hymnen  überhaupt  zuerst  in  der  armenischen  Kirche  im  Gebrauch 
erscheinen,  so  legt  sich  der  Verfasser  da  eine  Reserve  auf,  die  viel- 
leicht doch  etwas  übertrieben  ist.  Es  ist  gewiß  richtig,  daß  man 
nicht  jeder  historischen  Notiz  ohne  weiteres  Glauben  schenkt.  Aber 
unbegründetes  Anzweifeln  dürfte  nicht  weniger  folsch  sein  als  unbe- 
gründetes Zutrauen.     Der  Bericht  des  Kyriakos  von  Gandsak  aus 


244  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  S. 

dem  13.  Jahrhundert,  in  dem  von  einer  Revision  des  Hymnariums 
unter  Nerses  III.  (640—661)  erzählt,  also  ein  ziemlich  hohes  Alter 
vorausgesetzt  wird,  ist  nach  des  Verfassers  Meinung  durchaus  unzu- 
verlässig. Schon  beim  ersten  aufmerksamen  Lesen  des  Berichts  falle 
die  sagenhafte  Art  der  Erzählung  auf  —  was  ich  übrigens  von  mir 
nicht  behaupten  kann  — ,  ferner  sei  es  auffällig,  daß  andere  Historiker 
nichts  davon  erzählten  —  was  mir  auch  nicht  gerade  von  großer 
Bedeutung  zu  sein  scheint  — ,  und  endlich  widerspreche  Eyriakos 
sich  selbst  durch  eine  Erzählung  an  andrer  Stelle  —  was  allerdings 
Bedenken  erregen  müßte,  wenn  es  der  Fall  wäre  — .  Nun,  diese 
Stelle  ist  die,  wo  Eyriakos  einen  beträchtlichen  Teil  des  Hymnariums 
schon  den  Uebersetzem  des  5.  Jahrhunderts  zuschreibt,  eine  Stelle, 
über  die  der  Verfasser  folgendermaßen  referiert:  >Er  schreibt  ihnen 
fast  das  ganze  Hymnarium,  die  Hymnen  für  Herrenfesttage,  alle 
Heiligen,  Bußzeit,  alle  Verstorbenen  zu  und  endet  mit  den  Worten 
,. . .  verschiedene  und  zahllose,  die  bis  zu  dem  heutigen  Tage  in 
den  armenischen  Kirchen  gebraucht  werden.'c  Hierzu  muß  ich 
nun  leider  zunächst  bemerken,  daß  Kyriakos  etwas  ganz  anderes 
sagt,  als  man  nach  dem  Referate  vermuten  sollte,  daß  er  vor  allem 
keineswegs  den  Uebersetzern  fast  das  ganze  Hymnarium  zuschreibt. 

Er  sagt :  Wp^'pt'^  ^  h-p^  ^^piul^iuUuiß  »g¥'q_gp  L.  f^lp'gp^  hqmbml^tuL.  h. 
A&  lunn^nn.n^  ilahn^uuah  ^^\nhumnuh  L.  j^uiiLUiuuonh'uij  tuuiumlrmltlt  h 
muiSiunh^  JIUimnL.ß-lnultlt  L.  lrl^tuL.npnL.p-lruilab  jt  ^^^ß-u»Ljim  II  jY^nnLMUin^J* 
dtti-ji  ytuntuß-nilL  ^p^ptubtuß  L.  ju»pnL.ß-builab  ^  ^uiJpuipXJutlih  L.  ^nqj-tn 
^mtumlrmlab^  fuut^  L.  bl^lrqbßt-nj  ^  L.  u»jl_  mttbjtß  mtpni^mlpubutß  ^  II  upana 
utißrlblrßHi^j  uiupu^Jumpni-P-lnub  L.  uiißritiujb  *^fl'g^l^g^  u^f^ututuu  L.  «lullratf» 
muLm   II.    u^ß-jfLM^    np    i^lb^    ßiujuop   upu^ft  J^^^qp'ßl^  ^unutumuibinuMa 

d.  h.  »Sie  schufen  auch  Hymnen  süß  und  schön  an  Melodie  und 
gedankenreich  zur  Geburt  Christi  und  zur  Darbringung  im  Tempel, 
zur  Taufe  und  zur  Ankunft  in  Bethania  und  in  Jerusalem,  zur 
großen  Passionswoche  und  Auferstehung,  zur  Himmelfahrt  und  zur 
Herabkunft  des  Geistes,  auf  das  Kreuz  und  die  Kirche  und  zu 
anderen  Herrenfesten,  und  zu  Allerheiligen,  zum  Bußfeste  und  zu 
Allerseelen,  verschiedenartige  und  mannigfaltige  und  zahllose,  die 
bis  heute  in  der  armenischen  Kirche  in  Gebrauch  sind.«  Wenn  man 
nun  selbst  annehmen  wollte,  unter  den  anderen  Herrenfesten  seien 
sämtliche  anderen  Herrenfeste  als  die  genannten  zu  verstehn,  was 
aber  offenbar  nicht  der  Fall  ist,  dann  kommt  noch  immer  nicht  fast 
das  ganze  Hymnarium  heraus,  sondern  ein  ganz  bescheidener 


Nerses  Ter-Mikaelian,  Das  anneziische  Hymnarium.  245 

Bruchteil  desselben.  Davon  kann  sich  jeder  leicht  überzeugen,  der 
die  lange,  vom  Verfasser  S.  5— 8  in  Uebersetzung  aufgestellte  Liste 
der  Ueberschriften  der  einzelnen  Bestandteile  des  heutigen  Hymna* 
riums  vergleicht.  Nach  dem  Referat  klingt  es  freilich  so,  als  ob 
Eyriakos  alle  auf  Heilige  gedichteten  Hymnen  den  Uebersetzem  des 
fünften  Jahrhunderts  zuschriebe,  und  man  könnte  sogar  vermuten, 
er  habe  außer  den  bereits  erwähnten  noch  verschiedene,  zahllose 
derselben  Periode  zugeteilt.  Es  ist  aber  ganz  klar,  daß  sich  up^n^ 
mSrbbßntX  nur  auf  das  Allerheiligenfest  beziehen  kann.  Wie  könnte 
Kyriakos  sonst  an  anderen  Stellen  seines  Werkes  bestimmte  Hymnen 
auf  bestimmte  Heilige  ganz  bestimmten  Verfassern  zuschreiben,  die 
lange  nach  den  sogenannten  Uebersetzem  lebten?  Und  was  den 
Schlußsatz  anbetrifft,  so  erwähnt  derselbe  ganz  entschieden  keine 
anderen,  vorher  nicht  ins  Auge  gefaßten  Hymnen,  sondern  bemerkt 
nur,  als  Apposition  zu  dem  Verhergehenden,  daß  die  genannten 
Hymnen  verschiedenartig  und  groß  an  Zahl  sind.  Wäre  es  anders, 
80  würde  der  Satz  durch  L  >und€  angeknüpft  worden  sein.  Dieser 
Bericht  soll  also  mit  der  erwähnten,  S.  55  mit  deutscher  Uebersetzung 
abgedruckten  Erzählung  von  der  Revision  des  Hymnariums  unter 
Nerses  UI.  in  Widerspruch  stehn.  Die  Stelle  lautet  in  der  Ueber- 
tragung  des  Verfassers:  »Es  geschah  einmal,  daß  er  (Nerses  HI.) 
mit  einer  sehr  großen  Menge  von  allen  Seiten  des  Landes  am  Feier- 
tage der  Verklärung  in  Baguan  war.  Und  die  Hymnen  in  der 
armenischen  Kirche  waren  so  zahlreich  geworden,  daß  eine  Provinz 
die  der  anderen  nicht  kannte.  Eine  Seite  fing  den  Hymnus  aus  dem 
Kanon  der  Verklärung  an,  die  andere  aber  konnte  es  nicht  wechsehi, 
und  es  wurden  viele  Hymnen  gewechselt,  aber  man  kannte  auch 
nicht  die  anderen.  Darauf  wählte  der  Patriarch  Nerses  unter  Zu- 
stimmung der  Synode  die  brauchbaren  und  die  nützlichen,  damit  in 
allen  Kirchen  jeden  Tag  ein  und  derselbe  Gottesdienst  sein  soll, 
nach  der  Bestimmung  des  Tages.  Und  man  wählte  gelehrte  Männer 
ans,  damit  sie  das  ganze  Land  Armenien  bereisen  und  dieselbe 
Ordnung  stiften  sollten,  die  bis  zu  dem  heutigen  Tage  ist.«  Diese 
Uebertragung  gibt  in  einem  Punkte  das  Original  nicht  in  verstehbarer 
Weise  wieder  —  von  Ungelenkigkeiten  des  Ausdrucks  sehe  ich 
natürlich  ab  — ,  nämlich  in  dem  mechanischen  Ersatz  des  armenischen 
t^b^L  ^^^^  >wechseln<.  Es  handelt  sich  um  einen  Antiphonal^^ 
gesang.  Die  eine  Partei  begann  einen  bestimmten  Hymnus,  aber 
die  andere,  mit  demselben  nicht  hinlänglich  vertraut,  wußte  nun 
licht  mit  dem  Oegengesang  richtig  einzufallen,  was  Kyriako»  korzi 


246  G5tt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8. 

durch  n^  ^T«*^  ^n\plri_  angibt.  Im  folgenden  Satz  wird  dann  ^nfmirg^ 
im  eigentlichen  Sinne  angewandt,  d.  h.  sie  ließen  einen  Wechsel  von 
Hymnen  eintreten,  versuchten  es  mit  anderen  Hymnen,  bei  denen 
der  Wechselgesang  aber  auch  nicht  gelang.  Inwiefern  widersprechen 
sich  nun  die  beiden  Stellen  aus  Eyriakos'  Oeschichtswerk?  Da  ich 
den  Widerspruch  nicht  zu  sehn  vermag,  lasse  ich  den  Verfasser 
selbst  reden:  >Wir  wollen  davon  absehn,  daß  zu  Lebzeiten  Eyrakos' 
(der  Verfasser  gebraucht  stets  diese  Mischform  aus  Kopiaxöc  und 
\^^pm^ttu)  das  Hymnarium  schon  durch  Nerses  Schnorhali  sehr  viel 
bereichert  und  verändert  war ;  wir  wollen  davon  absehn,  daß  Kyrakos 
die  ganze  Tätigkeit  der  vor-  und  nachnersesianischen  Zeit  den  Ueber- 
setzern  zugeschrieben  hat;  woher  weiß  Kyrakos,  daß  die  von  den 
Uebersetzem  gedichteten  Hynmen  noch  immer  im  kirchlichen  Ge- 
brauch sind?  Beide  Berichte  verneinen  sich  gegenseitig.  Es  heißt 
nicht  Nerses  HI.  oder  Barsegh  Wardapet  Tschon  hätten  die  Dich- 
tungen der  Uebersetzer  in  aller  Treue  bewahrt  und  nur  Dichtungen 
anderer  Verfasser  gestrichen;  es  heißt  vielmehr  ,die  brauchbaren 
und  nützlichen',  dann  kann  auch  nicht  davon  die  Rede  sein,  daß  alle 
die  aufgezählten  Hymnen,  die  zu  Lebzeiten  Kyrakos'  im  Gebrauch 
waren,  Anspruch  auf  die  Namen  der  Uebersetzer  erheben  könnten.« 
Nun,  glfickauf  zur  Entzifferung  dieser  rätselhaften  Inschrift!  Einen 
kleinen  Beitrag  hierzu  kann  und  muß  ich  jedoch  auch  liefern.  Ich 
kann  dem  Leser  wenigstens  erklären,  wie  es  kommt,  daß  der  Vardapet 
Basilius,  genannt  Dschon  (des  Verfassers  Barsegh  Wardapet  Tschon), 
von  dem  in  Kyriakos'  Bericht  nichts  zu  lesen  war,  so  unerwartet 
den  Schauplatz  der  Diskussion  betritt  Zwei  im  letzten  Drittel  des 
19.  Jahrhunderts  herausgegebene  Werke  erzählen  nach  ungenannten 
Quellen,  Nerses  HI.  habe  den  Vardapet  Basilius,  genannt  Dschon, 
mit  der  Aufgabe  betraut,  die  Auswahl  der  Hymnen  vorzunehmen. 
Diese  beiden  Berichte,  die  der  Verfasser  vorher  besprochen  hatte« 
sind  nun  offenbar  in  der  Hitze  des  Gefechts  in  seiner  Erinnerung 
mit  den  Angaben  des  Kyriakos  zu  einer  einheitlichen  feindlichen 
Erzählung  verschmolzen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  ich  mit 
alledem  nicht  behaupten  will,  dem  Bericht  des  Kyriakos  sei  ein  un- 
bedingtes Vertrauen  entgegenzubringen.  Es  mag  sein,  daß  alles 
falsch  ist,  was  er  zu  dieser  Frage  sagt.  Ich  meine  nur,  man  müsse 
auch  dem  Werke  eines  längst  dahingegangenen  Schriftstellers,  das 
von  Anfang  bis  zu  Ende  den  Eindruck  einer  ruhigen,  nUchtemen 
Erzählung  macht,  soviel  Achtung  zollen,  daß  man  seine  Angaben 
nicht  ohne  jeden  Grund  beanstandet.  Die  wiederholt  aufgeworfene 
Frage,  woher  Kyriakos  das  alles  wisse,  läßt  sich  überall  stellen  und 


Nenes  Ter-Mikaelian,  Das  armeniBche  Hymnariom.  247 

bringt  einen  doch  wohl  übertrieben  wohlfeilen  Skeptizismus  zum 
Ausdruck.  Woher  weiß  z.  B.  derselbe  Eyriakos  das  kleine,  sicher- 
lich leicht  der  Vergessenheit  ausgesetzte  Ereignis,  daß  der  Patriarch 
Photios  Yon  Konstantinopel  seinem  Briefe  an  den  König  Aschot  I. 
ein  Stückchen  vom  Kreuze  Christi  beilegte  oder  wenigstens  etwas, 
was  er  dafär  hielt  oder  ausgab?  Das  weiß  der  Verfasser  wahrschein- 
lich auch  nicht,  und  ich  weiß  es  auch  nicht.  Aber  das  weiß  ich, 
daß  Kyriakos  etwas  durchaus  Wahres  erzählt  Denn  der  nur  armenisch 
erhaltene  Brief  des  Patriarchen  Photios  (IlpaBocJiaBHUJt  IlajecTHHCRUt 
GdopHHR'L,  ToitbXI,  BunycRX  nepBBifi  210—213,  ^h^/i^  P^iß'^s 
279—282)  schließt  mit  den  diesen  Bericht  bestätigenden  Worten: 

^mi^btA  ft    t^m^maiuiükm^  Wßtmniju^plb^m^   i|iiiiiim.iiifitf2Er    (fim^u     >Wir 

schicken  Deiner  tapferen  Familie  und  hohen  Persönlichkeit  das  An- 
denken des  Segens  von  dem  angebeteten  gottempfangenden,  verehrten 
Kreuzet.  So  dUrfte  aber  wohl  noch  manches  bestätigt  werden,  was 
heute,  wenn's  nicht  in  den  Kram  paßt,  kurz  beiseite  geschafft  wird, 
und  auf  jeden  Fall  ist  das  die  Aufgabe,  die  entlegensten  Winkel 
nach  Zeugnissen  zu  durchstöbern,  nicht  das  billige  Prunken  mit 
Nichtwissenkönnen.  Auch  hinsichtlich  des  Gebrauchs  der  Ausdrücke 
MVft/oir  »Psalm<,  Irpf  ^iifLap  >geistliches  Lied<  und  anderer  dürfen 
wir  uns,  glaube  ich,  nicht  einfach  mit  den  Ergebnissen  des  Verfassers 
beruhigen.  Er  weist  auf  eine  Stelle  hin,  wo  der  Ausdruck  >geist- 
liches  Lied<  auf  einen  Psalm  angewandt  wird,  und  schließt  nun,  daß 
dieser  Ausdruck  immer  diese  Bedeutung  habe.  Ist  es  nun  aber 
nicht  auffällig,  daß  wiederholt  von  Psalmen  und  geistlichen  Liedern 
geredet  wird?  Ich  gebe  zu,  es  kann  einfach  Tautologie  sein,  was 
namentlich  bei  Faustus  von  Byzanz  naheliegt,  dessen  umqJnu^i^  L 
^üvL^  W^/*®*^  III  11  noch  nicht  sein  schlimmstes  Beispiel  sein 
würde.  Ich  gebe  auch  zu ,  daß  Koriuns  umqJhu^i.^  L  op^L%p-lrutir^ 
L  Irpfo^  ^nfLnpo^  »mit  Psalmou,  Lobgesang  und  geistlichen  Liedern < 
(S.  42.  45)  auffällig  an  Eph.  5,  19  und  Kol.  3,  16  erinnert.  Aber  man 
hat  doch  sicherlich  auch  im  alten  Armenien  nicht  nur  in  Zitaten 
geredet  und  sie  vor  allem  doch  sicherlich  nicht  immer  angewandt, 
wenn  sie  nicht  paßten.  Und  sollte  nicht  eine  andere  Stelle  bei 
Koriun,  wo  er  sagt,  Mesrop  habe  kluge  und  lernbegabte  Knaben  mit 
zarter  Stimme  und  langem  Atem  (jirpiwpnf^u)  um  sich  versammelt 
(S.  21),  durch  den  Ausdruck  jirptucft  ^^P^ziell  auf  den  Hymnen- 
gesang hinweisen?    Es  ist  zuzugestehen,  daß  der  Ausdruck  nicht  ini 


348  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

Entferntesten  zwingend  ist.  Aber  der  lange  Atem  spielt  bei  der 
Psalmenrezitation  eine  so  yerhältnismäßig  bescheidene,  bei  dem 
armenischen  Hymnengesang  mit  seinen  außerordentlich  lang  hin- 
gezogenen Tönen  eine  so  große  Rolle,  daß  ich  meine,  man  denkt  bei 
der  Lektüre  von  Koriuns  Bericht  unwillkülich  an  Hymnen.  Zur  Be- 
antwortung der  Frage  nach  den  Verfassern  der  einzelnen  Hymnen 
werden  sieben  Quellen  ausgenutzt:  die  Verfasserliste  am  Ende  des 
heutigen,  in  Etschmiadsin  gedruckten  Hymnariums,  Angaben  des 
Martyriologiums,  Berichte  von  Geschichtsschreibern,  der  die  Hymnen 
behandelnde  Abschnitt  aus  dem  Buch  der  Fragen  von  Gregor  von 
Tathey,  ein  aus  dem  17.  Jahrhundert  stammendes  Gedicht  eines 
Priesters  Stephanos,  die  Verfasserliste  am  Anfang  des  gedruckten 
Hymnariums  und  endlich  Angaben  in  verschiedenen  Handschriften. 
Die  ersten  beiden  Quellen  fertigt  der  Verfasser,  und  hinsichtlich  der 
ersten  unbedingt  mit  Recht,  als  wenig  bedeutend  kurz  ab.  Wichtiger 
erscheinen  ihm  die  Historiker  und  unter  diesen  vor  allen  der  kurz 
vorher  noch  so  unfreundlich  behandelte  Eyriakos,  dessen  Bericht 
über  die  Erweiterung  des  Hymnariums  durch  Nerses  Schnorhali 
> völlig  zuverlässig  ist«.  Der  Abschnitt  aus  dem  Buch  der  Fragen 
ist  im  Grundtext  und  einer  Uebersetzung  angeführt,  das  Gedicht  des 
Stephanos  leider  nur  im  Urtext,  da  eine  Uebersetzung  nach  des  Ver- 
fassers leider  nicht  begründeten  Ansicht  überflüssig  ist,  und  die  Ver- 
fasserliste am  Anfang  des  gedruckten  Hymnariums,  die  merkwürdiger- 
weise als  die  maßgebende  Quelle  bezeichnet  wird,  ebenfalls  nur  in 
der  Grundschrift.  Die  Randnotizen  der  Hymnarienhandschriften  werden 
nur  ganz  nebenbei  kurz  behandelt,  was  zu  bedauern  ist.  Denn  ge- 
rade da  läßt  sich  noch  neues  finden.  Das  Ergebnis  der  ganzen 
Untersuchung  ist  im  wesentlichen  wieder  weise  Beschränkung:  was 
nach  Nerses  Schnorhali  geschieht,  liegt  klar  vor,  das  frühere  weiß 
man  nicht. 

Alles  in  allem  muß  ich  sagen:  die  vorliegende  Arbeit  ist  ver- 
früht und  übereilt.  Das  soll  nicht  besagen,  daß  sie  schlecht  sei, 
keine  Leser  verdiene.  Leser  möchte  ich  ihr  im  Gegenteil  recht  viele 
wünschen,  und  ich  bezweifle  auch  nicht,  daß  heute,  wo  es  in  Europa 
noch  so  jämmerlich  um  eine  armenische  Philologie  bestellt  ist,  mancher 
aus  dem  Buche  Gewinn  ziehen  wird.  Uebereilung  zeigt  schon  äußerlich 
die  Fülle  von  Flüchtigkeiten,  die  der  Verfasser  leicht  hätte  vermeiden 
können.  Ich  rede  nicht  von  den  Mängeln  des  Ausdrucks,  die  man 
dem  Ausländer  nicht  allzusehr  verübeln  darf  und  die  ich  in  letzter 
Linie  aufbauschen  möchte,  da  ich  mir  bewußt  bin,  wie  ich  selbst  in 
fremden  Sprachen  rede  und  schreibe.    Das  aber  konnte  vermiedeii 


Nerses  Ter-Mikaelian ,   Das  armenische  Hymnarium.  249 

werden,  daß  armenische  Wörter  bald  in  Originalbuchstaben,  bald  in 
Umschrift  erscheinen,  und  zwar  ohne  jeden  erkennbaren  Plan,  daß 
der  Titel  Vardapet  einigemal,  wie  es  sich  auf  deutsch  gehört,  vor 
dem  Namen  steht,  meist  aber  diesem  folgt,  daß  Eigennamen  ganz 
nach  Laune  bald  in  armenischer,  bald  in  griechischer,  bald  in  latei- 
nischer Form  angeführt  werden  und  dergleichen  mehr.  Diese  Plan- 
losigkeit zeigt  sich  aber  auch  in  größerem  Stil  trotz  scheinbar 
scharfer  Gliederung  in  den  drei  Kapitelüberschriften,  und  vor 
allem  darin,  daß  das  Buch  keinem  bestimmten  Leserkreis  angepaßt 
ist.  Leuten,  die  ohne  Kenntnis  des  Armenischen  an  das  Buch  heran- 
treten, nützt  es  nichts,  daß  ein  ihnen  unverständliches  langes  und 
langweiliges  Gedicht  und  gar  über  drei  Seiten  des  gedruckten 
Hymnariums  ohne  Uebersetzung  vorgelegt  werden.  Für  die  Mit- 
forschenden aber  enthält  das  Buch  viel  zu  viel  des  Elementaren,  ist 
es  übermäßig  in  die  Breite  gezogen.  Man  kann  sich  überhaupt  des 
Eindrucks  nicht  erwehren,  daß  eben  ein  Buch  um  jeden  Preis  schnell 
fertig  gemacht  und  dabei  doch  auf  einen  stattlichen  Umfang  gebracht 
werden  sollte.  Und  das  ist  schade.  Es  wäre  besser  gewesen,  der 
Verfasser  hätte  alles  das,  was  er  hier  niedergelegt  hat,  noch  einige 
Zeit  als  eine  Vorarbeit  zurückbehalten  und  sich  dann  tief  in  die 
vielen  Hymnarienhandschriften  versenkt,  die  Etschmiadsin  ihm  zur 
Verfügung  stellen  konnte.  Da  würde  sich  sicherlich  noch  manches 
Rätsel  gelöst  haben  und  vielleicht  schon  ein  grundlegendes  Ergebnis 
möglich  geworden  sein.  Wie  die  Sache  nun  aber  einmal  liegt,  kann 
man  nur  wünschen,  daß  er  das  Studium  nicht  für  abgeschlossen 
halten  möge,  weil  sein  Buch  abgeschlossen  ist,  und  sich  selbst  daran 
mache,  es  durch  ein  anderes  Werk  zu  ersetzen,  das  dasselbe  Problem 
auf  breitestem  Grunde  behandelt.  Der  Dank,  den  man  ihm  auch 
jetzt  schon  für  seine  Mühe  schuldet,  wird  ihm  dann  in  bedeutend 
erhöhtem  Maße  dargebracht  werden  können. 

Groß-Lichterfelde.  Franz  Nikolaus  Finck. 


Glti.  f«l.  Ans.  190e.  Nr.  S.  17 


250  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8. 


Reeneil  des  Historlens  des  Gaules  et  de  la  Franee.  Tome  vingt-quatri^me, 
contenant  les  enqu^tes  administratives  du  r^gne  de  Saint-Louis 
etla  Chronique  de  1 'Anonyme  deB^thune,  p.p.  Leopold  Delisle. 
Premiäre  et  seconde  parties,  Paris  1904.    885*  and  940  S.  folio. 

Es  ist  eine  gewaltige  Fülle  bisher  unbekannten  Materiales,  die 
Delisle  mit  gewohnter  Meisterschaft  hier  vor  uns  ausbreitet,  und  es 
wird  geraume  Zeit  dauern,  bis  es  gelingt,  die  überreiche  Gabe  zu 
verarbeiten  und  in  den  gangbaren  Hilfsmitteln  zur  allgemeinen 
Kenntnis  zu  bringen.  Der  Inhalt  des  zur  Bequemlichkeit  der  Be- 
nutzer in  zwei  Halbbäude  gegliederten  Bandes  (mit  fortlaufender 
Seitenzählung)  gliedert  sich  folgendermaßen:  Im  Vorwort  gedenkt 
Delisle  in  ehrenden  Worten  seines  Lehrers  Natalis  de  Wailly,  auf 
dessen  Anregung  die  Aufnahme  urkundlicher  Quellen  in  die  letzten 
Bände  des  Recueil  zurückzuführen  ist.  Unter  diesen  waren  be- 
sonders in  Aussicht  genommen  die  Protokolle  der  Umfragen,  die 
König  Ludwig  der  Heilige  veranstalten  ließ,  um  den  fortwährenden 
Klagen  der  Untertanen  über  Beamtenwillkür  möglichst  gründlich  ab- 
zuhelfen. Die  Geschäftsführung  der  ordentlichen  Beamten  mußte 
durch  außerordentliche,  durch  Königsboten,  wie  man  in  Erinnerung 
an  karolingische  Zeit  sagen  würde,  geprüft  und  dem  König  unmittel- 
bar Bericht  erstattet  werden.  Solche  'Königsboten  waren  unter 
Ludwig  fast  sämtlich  Geistliche,  zumeist  Dominikaner  und  Franzis- 
kaner. Die  beiden  neuen  Orden  stellten  sich  demnach  durchaus  in 
den  Dienst  der  werdenden  modernen  Monarchie.  Die  politische 
Bedeutung  guter  Verwaltung  war  natürlich  auch  den  Vorgängern 
Ludwigs  nicht  entgangen.  Seinem  Großvater  Philipp  August  werden 
schon  in  den  Briefstellern  aus  dem  ersten  Regierungsjahrzehnt  sehr 
beherzigenswerte  Grundsätze  zugeschrieben.  Aber  erst  seit  dem 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts,  seit  der  ganz  unverhältnismäßigen 
Gebietserweiterung  des  französischen  Staates  durch  die  vormals  eng- 
lischen Besitzungen  auf  dem  Festlande,  mußte  die  Frage  brennend 
werden,  ob  es  gelingen  würde,  die  neu  gewonnene  Bevölkerung  mit 
der  Veränderung  der  Dinge  auszusöhnen  und  zu  guten  Franzosen 
zu  machen.  Bemerkenswert  und  in  hohem  Grade  rühmlich  erscheint 
für  die  französische  Verwaltung ,  daß  die  von  Richard  Löwenherz  so 
furchtbar  ausgesogene  Normandie  gar  keinen  Versuch  gemacht  hat, 
bei  England  zu  bleiben,  diese  Landschaft,  auf  der  doch  die  Kraft 
des  anglo-normannisch-angevinisch-aquitanischen  Reiches  vornehmlich 
ruhte.    Delisle  hat  alle  Klagen-Protokolle,  deren  er  habhaft  werden 


Recueil  des  Historians  de«  Gaules  et  de  U  France.  XXIV.  251 

konnte  —  die  meisten  sind  verloren  gegangen  —  in  diesem  Bande 
vereinigt.  Die  Absicht  des  Königs  ging  dahin,  die  schlechten  Ver- 
walter zu  strafen  und  aus  seiner  Tasche  den  angerichteten  Schaden 
zu  ersetzen,  ein  Streben,  das  heute  etwa  bei  den  Erwägungen  über 
Entschädigung  unschuldig  Verurteilter  in  Erinnerung  gebracht  werden 
kann.  Waren  die  Geschädigten  selbst  oder  ihre  Erben  nicht  aufzu- 
finden, so  wandte  Ludwig  ihren  Anteil  den  Armen  zu.  Aus  der  Er- 
laubnis, die  ihm  der  Papst  dazu  gewährt,  ersehen  wir,  daß  es  dem 
König  in  vollkommen  idealer  Auffassung  seines  Fürstenamtes  darum 
zu  tun  war,  sein  Gewissen  zu  entlasten  und  das  in  seinem  Namen 
geschehene  Unrecht  wieder  gut  zu  machen.  Die  Nachfolger  des 
frommen  Herrschers  entsandten  auch  ihrerseits  Kommissare,  aber  der 
Geist  war  jetzt  anders.  Es  war  nicht  mehr  von  Billigkeit  und  Er- 
barmen mit  dem  kleinen  Mann  die  Rede,  sondern  von  den  Mitteln, 
durch  hohe  Geldstrafen  den  Fiskus  zu  bereichem.  Delisle  versäumt 
nicht,  ausdrücklich  zu  betonen,  daß  die  Klagen  ein  durchaus  ein- 
seitiges Bild  der  königlichen  Verwaltung  geben,  weil  darin  nur  die 
Mißbräuche  zur  Sprache  kommen. 

Eine  ganz  ungeheure  Arbeit  steckt  in  dem  Verzeichnis  der 
königlichen  Baillis  und  Seneschalle  von  den  Anfängen  bis  zum 
Regierungsantritt  Philipps  von  Valois  (S.  15*--270*).  Es  wird  immer 
allen,  die  sich  mit  der  inneren  Geschichte  Frankreichs  befassen,  die 
wertvollsten  Dienste  leisten.  Einzelheiten  herauszugreifen  ist  kaum 
möglich.  Ich  erwähne  nur,  was  über  die  Pr^vöts  von  Paris  gesagt 
wird,  da  diese  gelegentlich  eine  politische  Rolle  gespielt  haben« 
Recht  schwierige  verfassungsgeschichtliche  Fragen  mußten  dabei  ge- 
streift werden. 

Vom  Standpunkte  der  deutschen  Geschichte  sei  hingewiesen  auf 
die  Baillis  der  Freigrafschaft  und  der  Stadt  Lyon  (S.  179*flF.).  Im 
Jahre  1296  urkundet  ein  Ritter  als  Bailli  Philipps  des  Schönen  in 
der  Grafschaft  Burgund.  In  Lyon  setzt  derselbe  König  1292  einen 
>gardiator<  ein,  der  gleich  seinen  späteren  Amtsgenossen  die  An- 
gliederuug  des  ehemaligen  kaiserlichen  Gebietes  an  Frankreich 
wesentlich  förderte. 

Als  »Preuves  de  la  Preface  (S.  271*— 368*)  sind  262  Urkunden 
und  Aktenstücke  zusammengestellt,  von  denen  nur  weniges  schon  ge- 
druckt war.  Ein  alphabetisches  Verzeichnis  [Register]  (S.  373*  bis 
385*)  erleichtert  Nachforschungen  nach  einzelnen  Beamten  der 
Zentralverwaltung. 

Dann  beginnen  die  Texte.  S.  1—750  werden  die  Klagen,  queri- 
moniae,  und  die  Umfragen,  inquisitiones,  abgedruckt.    Die  meisten 

17* 


252  Gott  gd.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

stammen  aus  dem  Jahre  1247,  sonst  1248.  Die  übrigen  Stücke, 
darunter  gewahrte  Entschädigungen  (restitutiones) ,  Einwände  gegen 
erhobene  Klagen  (exceptiones) ,  Urteile  der  Eönigsboten  (sententiae 
a  regiis  nunciis  prolatae),  reichen  von  1254 — 1269. 

Ganz  besondere  Beachtung  verdienen  für  die  allgemeine  Kirchen- 
gescbichte  jene  Einwände  gegen  die  Klagen,  die  in  den  albigensischen 
—  wenn  der  Ausdruck  gestattet  ist  —  Gebieten  gemacht  wurden. 
Die  Sache  verhielt  sich  so:  die  Feinde  des  nordfranzösischen 
Königtums  waren  teils  nach  der  ersten  Eroberung  teils  nach  den 
wiederholten  Aufständen  ihres  Besitzes  beraubt  worden.  Sie  reichten 
Vorstellungen  gegen  das  ihnen  gegenüber  geübte  Verfahren  ein  und 
diese .  wurden  geprüft.  Oft  handelt  es  sich  darum ,  ob  einer  ein 
faiditus  gewesen,  das  heißt  seinem  alten  Herrn  treu  geblieben  war. 
Der  vereidigte  Zeuge  bekundet  beispielsweise  gegen  die  Klage  der 
Rica :  dixit  se  vidisse  fratrem  Ricae  faiditum  tempore  comitis  Montis- 
fortis  (2,  245 ;  Nr.  1).  Ein  andermal  heißt  es :  Arnaldus  fuit  immuratus 
pro  haeresi,  ipso  teste  viOente  (Nr.  7).  Aus  dem  Munde  von  Augen- 
zeugen bekommen  wir  auch  Mitteilungen  über  die  großen  Ereig- 
nisse während  der  Eroberung  des  ketzerischen  Südens  durch  den 
Norden. 

Völlig  anderer  Art  ist  die  S.  750 — 775  erstmalig  abgedruckte 
Chronik  des  Anonymus  von  B^thune.  Delisle  nimmt  an, 
worin  man  ihm  beipflichten  wird,  daß  der  Verfasser  derselbe  ist,  wie 
der  der  sogenannten  Histoire  des  dues  de  Normandie  et  des  rois 
d' Angleterre ,  und  eben  dieser  ist,  wie  Holder -Egger  in  den  MGH. 
SS.  26,  699  gezeigt  hat,  ein  Anonymus  von  B^thune.  Der  Wert  der 
Chronik  ist  nicht  gering.  Für  die  Geschichte  der  Schlacht  bei 
Bouvines  hat  Luchaire  sie  schon  für  seine  anziehende  Schilderung  in 
der  Histoire  der  France,  die  Lavisse  herausgibt,  benutzt.  Ueber  den 
Tod^)  Kaiser  Friedrichs  des  Rotbarts  bringt  der  Anonymus  S.  755 
einen  kurzen  Bericht,  der  zusammengefaßt  werden  mag:  Der  Kaiser 
schlug  sein  Zelt  am  Ufer  eines  Flusses  auf,  der  nicht  sehr  groß 
war.  Mehrere  Ritter  nahmen  der  Hitze  wegen  ein  Bad  und  er  auch. 
Er  sah,  wie  einer  der  Ritter  dem  Ertrinken  nahe  war,  und  keiner 
Hilfe  zu  bringen  wagte.  Da  wollte  er  selbst  es  tun,  aber  der  Er- 
trinkende klammerte  sich  an  ihn  und  beide  kamen  um.  »Es  war 
einer  der  schmerzlichsten  Unglücksfälle,  die  der  Chri.9tenheit  zustoßen 
konnten.«  \. 


1)  Infolge  eines  Versehens  ist  der  Todestag  in  der  Anmerkt jng  5  falsch  an« 
gegeben  worden.    Es  maß  heißen:  10.  Jon!  1190.  \ 


Recadl  des  Eistoriens  des  Gaules  et  de  la  France.   XXIV.  253 

Was  die  Herkunft  des  Berichtes  anlangt,  so  ist  zu  bemerken, 
daß  Robert  V.  yon  Bethune  auf  dem  Wege  nach  dem  heiligen  Lande 
in  Sutri  starb  (S.  756),  wohin  er  in  der  Begleitung  des  Grafen 
Philipp  von  Flandern  gegangen  war.^)  Der  Anonymus  dürfte  sich 
im  Gefolge  der  Herren  befunden  und  den  Grafen  in  das  christ- 
liche Lager  vor  Äkkon  begleitet,  hier  auch  die  Kunde  vom  Tode 
des  Kaisers  gehört  haben.  In  der  grundlegenden  Abhandlung 
Riezlers^  finde  ich  diese  Todesursache,  nämlich  infolge  des  Ver- 
suches, einen  anderen  zu  retten,  nicht  erwähnt  und  meine  daher, 
daß  sie  sonst  nicht  quellenmäßig  belegt  ist.  Auch  sie  dient  wohl 
dem  Zwecke,  den  zufällig  beim  Bade  erfolgten  Tod  des  Kaisers 
moralisch  wertvoll  zu  machen. 

Von  den  Mitarbeitern  Delisles  ist  Simeon  Luce  während  des 
Druckes  gestorben.  Elie  Berger,  der  Verfasser  der  Werke  über 
Blanka  von  Kastilien  und  die  Beziehungen  Ludwigs  IX.  zu  Innocenz  IV., 
hat  sich  durch  die  Anfertigung  der  ausgedehnten  Register  kein  ge- 
ringes Verdienst  erworben.  Nicht  anders  als  mit  aufrichtigem  Danke 
kann  man  von  der  trefflichen  Veröffentlichung  scheiden.  Nur  eines 
vermißt  man :  jede  Andeutung  über  eine  Fortführung  des  Recueil  des 
Historiens  de  la  France.  Möchte  es  dem  Altmeister  der  französischen 
Geschichtsforschung  vergönnt  sein,  die  weitere  Sammlung  der  fran- 
zösischen Chronisten  nach  neuem  Plane  auf  Grund  seiner  einzigen 
Quellenkenntnis  in  die  Wege  zu  leiten ! 

Jena.  Alexander  Cartellieri. 


1)  Ueber  die  Beteiligung  Philipps  von  Flandern  am  dritten  Ereozzuge 
habe  ich  im  zweiten,  soeben  erschienenen  Bande  des  Philipp  Aognst  gehandelt. 
Vgl.  S.  161. 

2)  Der  Kreuzzug  Kaiser  Friedrichs  I.,  Forsch,  z.  d.  Gesch.  10  (1870),  Bei- 
lage 2,  S.  126.:  Das  Ende  des  Kaisers  in  Geschichte  und  Sage. 


954  Gdti  gel.  Ans.  1906.  Nr.  3. 


JeM  TMw,  Vie  d'alHadjdj&dj  ibn  Yousof,  d'apr^s  les  sources 
a r ab  es.    Paris  1904,  Ubrairie  E.  Bouillon.    XXI,  364  S.    13  fr. 

In  der  Einleitung  beißt  es,  Musa  b.  NuQair  im  Occident  und 
Haggag  b.  Jusuf  im  Orient  seien,  von  den  Cbalifen  abgesehen,  die 
beiden  hervorragendsten  Gestalten  in  der  islamischen  Geschichte 
während  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Jahrhunderts  nach  der  Higra. 
Musa  sei  in  Europa  bekannt,  Haggag  dagegen  kaum,  jedenfalls  nicht 
nach  Verdienst  und  nicht  nach  dem  Maße  der  reichen  Kunde  über 
ihn  in  den  arabischen  Quellen.  Diese  Lücke  solle  durch  das  vor- 
liegende Buch  ausgefüllt  werden. 

Das  erste  Buch  behandelt  die  Herkunft,  die  Kindheit  und  das 
erste  Auftreten  des  Helden.  Das  Material  darüber  wird  sehr  voll- 
ständig und  sehr  ausführlich  zusammengestellt.  Es  sind  meist  ten- 
denziöse Anekdoten,  in  denen  sich  das  Urteil  der  Späteren  abspiegelt 
Niederer  Abkunft  war  Haggag  schwerlich,  da  seine  Mutter  eine  vor- 
nehme Frau  war;  zum  Schulmeistergehilfen  wird  er  vielleicht  deshalb 
gemacht,  weil  er  sich  später  Verdienste  um  die  Lesung  des  Korans 
erwarb.  Auch  sein  Debut  in  dem  Feldzug  gegen  Mug'ab  liegt  im 
Dunkeln;  es  ist  sehr  zu  bezweifeln,  daß  er  als  Jüngling  schon  der 
Pädagoge  gewesen  sei,  der  die  Disziplin  im  verlotterten  Heere  des 
Abdalmalik  hergestellt  habe.  Eigentümlich  ist  die  Meinung  P^riers, 
daß  Haggag  seine  Vaterstadt  Tftif  der  Vergessenheit  entrissen  habe. 
Aus  Täif  stammten  doch  auch  Abu  Ubaid  (Muchtftrs  Vater),  Ziäd  b. 
Abihi  (der  Vater  Ubaidallahs) ,  Mughira  b.  Schu'ba.  Der  letztere 
soll  allerdings  bloß  ein  Poet  gewesen  sein,  und  zwar  offenbar  kein 
po^te  remarquable;  denn  es  wird  nicht  wie  bei  Ka'b  al  Aschqari 
gerügt,  daß  Brockelmann  ihn  in  seiner  arabischen  Literaturgeschichte 
anzuführen  vergessen  hat.  Die  ältesten  Genossen  des  Propheten 
sollen  >Missionarec  betitelt  sein;   man  wußte  das   bisher  nur  von 

Zubair,  dem  ^j]y^  (abessinisch  =  Apostel).  Ebenso  hat  man  bisher 
unter  ^li^l  ^IJ^I  nicht  rejetons  des  serpents  verstanden,  sondern 
Söhne  von  unverehelichten  Müttern. 

Das  zweite  Buch  handelt  von  Haggag  als  dem  Zuchtmeister  des 
Iraq,  namentlich  von  der  Niederwerfung  der  Chavärig  und  des  Ibn 
Asch'ath,  und  von  den  Kämpfen  in  Choräsan  und  Indien.  Die  mili- 
tärischen Berichte  der  Quellen  werden  viel  ausführlicher  reproduziert 
als  es  für  eine  Biographie  des  Haggag  erforderlich  war,  der  zwar  die 
Heere  ausrüstete  und  die  Befehlshaber  instruierte,  selber  aber  ge- 


Pdrier,  Vie  d'alHadjdjftdj  ibn  Yonsof.  265 

wohnlich  nicht  mit  ins  Feld  zog.  Erst  im  dritten  Buch  tritt  seine 
Person  wirklich  in  den  Vordergrund.  Wichtige  Maßnahmen  seiner 
Verwaltung  kommen  zur  Sprache,  die  wichtigste  aber,  sein  Versuch 
zur  Steuerreform,  wird  keineswegs  nach  Verdienst  gewürdigt.  Mit 
Liebe  wird  dagegen  aber  seine  Beziehungen  zu  dem  Herrscherhause, 
zu  seiner  Verwandtschaft  und  zu  den  Dichtern  geredet;  zum  Schluß 
über  seinen  verschieden  beurteilten  Charakter,  Über  seinen  Tod 
und  über  die  Reaktion  gegen  seine  Partei  unter  dem  Ghalifen 
Sulaiman. 

Parier  versichert  öfters,  er  habe  die  Absicht,  sich  nur  auf  das 
wesentliche  zu  beschränken.  Das  ist  ihm  indessen  nicht  gelungen. 
Er  ist  zu  sehr  an  die  Tradition  gebunden  und  erhebt  sich  nicht  über 
den  Rohstoff.  Er  stellt  das  Unbedeutende  und  Nichtige  auf  eine 
Linie  mit  dem  Wesentlichen.  Er  übt  auch  keine  literarische  Kritik. 
Er  bevorzugt  nicht  grundsätzlich  die  älteren  Berichte  vor  den 
späteren,  die  immer  parteiischer  und  anekdotischer  werden;  er  unter- 
scheidet bei  Tabari  nicht  dessen  Autoritäten,  auch  wenn  dieser 
sie  angibt  —  das  ist  zwar  manchmal  nicht  nötig,  aber  auch, 
wo  es  nötig  ist,  wird  es  unterlassen.  Die  großen  Probleme  der 
inneren  Geschichte  des  Islams,  die  in  der  Zeit  des  Haggag  spielen, 
werden  nur  oberflächlich  berührt  und  meist  ganz  unselbständig  nach 
der  herrschenden  Meinung  gelöst;  sie  werden  weder  klar  gestellt 
noch  klar  beantwortet.  So  z.  B.  das  Verhältnis  der  politischen  und 
religiösen  Parteien  zu  einander ;  die  Rivalität  der  Kalb  und  Qais,  der 
Jemen  und  Mudar  und  die  Verallgemeinerung  der  partikularen  Zwiste 
zu  einem  großen  Stammdualismus,  der  das  ganze  Reich  durchzieht; 
die  Stellung  der  Mavftli  zu  den  arabischen  VoUbUrgem;  der  Anta- 
gonismus zwischen  den  Provinzen,  besonders  zwischen  Syrien  und  dem 
L:&q.  Es  kommt  alles  nicht  recht  heraus.  Wäre  das  Werk  vor 
einem  halben  oder  einem  ganzen  Jahrhundert  erschienen,  so  wäre 
es  als  Stoffsammlung  willkommen  gewesen.  Im  Jahre  1904  bedeutet 
es  keinen  Forschritt  über  Weil  hinaus,  es  ist  schon  beim  Erscheinen 
veraltet.  Einer  ausführlichen  Begründung  dieses  Urteils  an  dieser 
Stelle  bin  ich  überhoben,  weil  sie  schon  vorliegt  in  meinem  Buche 
über  das  arabische  Reich  und  seinen  Sturz  (Berlin  1902)  und  in  den 
Vorarbeiten  dazu,  den  Prolegomena  zur  ältesten  Geschichte  des  Is- 
lams (Berlin  1899),  dem  Referat  über  die  Kämpfe  der  Araber  mit 
den  Romäern  (Göttingen  1901)  und  der  Abhandlung  über  die  religiös- 
politischen Oppositionsparteien  im  alten  Islam  (Berlin  1901).  Parier 
ist  indessen  noch  jung,  ä^ve  diploma  de  P^cole  pratique  des  hautes 
^tttdes,  und  die  Schuld  am  Mißlingen  sdner  Arbtit,  als  einer  hiMo- 


256  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  3. 

rischen  Leistung,  liegt  zum  größten  Teil  daran,  daß  es  ihm  an  der 
nötigen  Wegweisung  gefehlt  hat.  Man  kann  es  bedauern,  daß  so 
viel  Fleiß  und  Eifer  ihn  nicht  zum  Ziel  geführt  bat;  aber  er  hat 
sich  doch  einigermaßen  in  die  Quellen  hineingelesen,  und  diese 
Arbeit  wird  für  ihn  nicht  verloren  sein.  Was  er  nicht  ist,  ein 
Historiker,  kann  er  noch  werden. 

Göttingen.  Wellhausen. 


Berlchttgang. 


Man  lese: 
S.    99  Z.  12  V.  0.   satun  statt  sätun. 
S.  112  Z.  18  y.  u.   fi-Deklination  statt  a-Deklination. 
S.  134  Z.    6  V.  0.   HaerutoulaftR  statt  Haerutoulafir. 
S.  146  Z.  10  v.o.   tel  statt  tel. 
S.  148  Z.  12  y.  0.   und  daß  statt  und  das. 

Czemowitz.  Th.  y.  Grienberger. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Rudolf  Meißner  in  GGttmgen. 


April  1906.  No.  4. 

Friedrieh  Spitta,  >Ein  feste  Burg  ist  unser  Oott«.  Die  Lieder 
Luthers  in  ihrer  Bedeutung  für  das  evangelische  Kirchen- 
lied.  Gottingen,  Vandenhoeck  und  Ruprecht   1906.   ¥111,410  S.   Mk.  12.—. 

Zwei  traditionellen  Anschauungen  will  Spitta  mit  diesem  Buche 
den  Todesstoß  geben:  1.  der  Anschauung,  als  sei  die  klassische 
Periode  des  evangelischen  Kirchenliedes  der  Reformationszeit,  wie 
sie  vor  allem  durch  den  Namen  Luther  gekennzeichnet  werde,  die 
Periode  des  objektiven  Bekenntnisliedes.  Dem  stellt  Spitta  die  These 
entgegen:  Das  Neue  im  evangelischen  Eirchenliede  gegenüber  der 
Objektivität  der  dogmatischen  und  liturgischen  Formen  der  katho- 
lischen Kirche  besteht  in  dem  Ausdruck  des  religiösen  Indivi- 
dualismus. 2.  Die  hergebrachte  Anschauung,  als  sei  Luther  erst 
1623/24  unter  der  Aufgabe,  für  die  Gemeinde  Kultuslieder  zu  dichten, 
zum  Dichter  geworden,  ist  falsch.  Vielmehr  stammen  die  meisten 
seiner  1524  ans  Licht  getretenen  Dichtungen  aus  früherer  Zeit.  Da- 
mit nimmt  Spitta  eine  These  wieder  auf,  die  schon  Achelis  in  einem 
Marburger  Programm  1883  durchzuführen  gesucht  hatte,  ohne  dafür 
Zustimmung  zu  finden.  Seine  Entstehung  verdankt  das  Buch  der 
Kontroverse  zwischen  Größler  und  Tschackert  über  die  Entstehungs- 
zeit des  Lutherliedes:  >Ein  feste  Bürge.  Daher  steht  dieses  Lied 
im  Mittelpunkt  der  Untersuchungen  Spittas,  daher  gibt  dieses  Lied 
auch  dem  Buche  den  Titel. 

Mir  ist  nicht  zweifelhaft,  daß  Spitta  mit  der  ersten  These  voll- 
kommen recht,  mit  der  zweiten  ebenso  unrecht  hat.  Das  lahme 
Schlagwort  von  der  Objektivität  des  reformatorischen  Kirchenliedes, 
das  sich  von  Handbuch  zu  Handbuch  schleppt,  wird  hofifentlich  in 
Zukunft  verschwinden.  Uebrigens  hat  schon  Nelle,  das  sei  nicht  ver- 
schwiegen, in  seinem  Schriftchen:  Geschichte  des  deutschen  evan- 
gelischen Kirchenliedes  (Hamburg  1904)  einer  neuen  und  richtigeren 
Betrachtung,  wenigstens  Luther  gegenüber,  Raum  gegeben  (S.  24fif.; 
Spitta  S.  373).  Man  kann  der  ersten  These  Spittas  zustimmen,  ohne 
deshalb  auch  die  zweite  annehmen  zu  müssen.    Er  selbst  glaubt 

Ottt  f^l.  Ins.  190«.  Nr.  4.  18 


258  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

f  reilich,  daß  aus  der  ersten  die  zweite  folge,  weil  er  Eultuslied  und 
persönliches  Lied  in  einen  strikten  Gegensatz  stellt.  Wir  werden 
uns  davon  überzeugen,  daß  er  damit  unrecht  hat.  Das  Buch  ist 
nun  so  temperamentvoll  und  mit  Aufbietung  eines  so  reichen  ge- 
lehrten Apparates  und  mit  soviel  Geist  geschrieben,  daß  ich  über- 
zeugt bin,  daß  nicht  wenige  ihm  auch  in  dieser  zweiten  These  zu- 
fallen werden.  Und  so  ist  zu  befürchten,  daß  an  Stelle  einer 
glücklich  ausgemerzten  falschen  Anschauung  eine  neue  falsche  sich 
eindrängen  wird.  Dem  entgegenzuwirken,  ist  vor  allem  der  Zweck 
der  folgenden  Zeilen.  Denn  mit  Bedauern  muß  ich  es  aussprechen, 
daß  die  Methode  Spittas  irreführend  und  unzuverlässig  ist  und  seine 
Resultate  daher  mit  äußerster  Skepsis  aufzunehmen  sind.  Ich  kann 
nicht  allen  Aufstellungen  und  Beweisführungen  Spittas  nachgehen. 
Dazu  fehlt  der  Raum.  Aber  ich  glaube,  daß  meine  Untersuchungen 
über  nur  einzelne,  und  zwar  die  wichtigsten  Partien  seines  Buches 
meine  ablehnende  Stellung  hinreichend  begründen  und  die  Methode 
Spittas  in  genügendes  Licht  rücken  werden.  Spitta  ist  von  seiner 
These  so  fasziniert,  daß  er  Möglichkeiten  für  Tatsachen,  Vermutungen 
für  Beweise  nimmt.  Jede  Selbstkritik  fehlt.  Andere  Möglichkeiten 
als  die,  die  gerade  zu  seiner  These  passen,  werden  nicht  erwogen. 
Wo  kämen  wir  in  der  historischen  Forschung  hin,  wenn  wir  auf 
diese  Weise  mit  den  Stoffen  umspringen  wollten !  So  stehe  ich  nicht 
an,  das  Buch  im  wesentlichen  für  verunglückt  zu  erklären.  Das 
schließt  nicht  aus,  daß  es  nicht  da  und  dort  Richtiges  und  Beachtens- 
wertes bietet.  Möglich  bleibt  es  gewiß,  daß  Luther  schon  vor  1523 
gedichtet  hat,  aber  es  fehlen  uns  bisher  dafür  alle  Beweise,  und 
auch  Spitta  ist  nicht  imstande,  stichhaltige  Gründe  dafür  anzuführen. 
Uebrigens,  das  bleibe  nicht  unausgesprochen,  würde  sich  unser 
Lutherbild  in  nichts  wesentlichem  ändern,  wenn  wir  wirklich  die 
Achelis-Spittasche  These  annehmen  müßten.  Um  eine  Frage  ersten 
Ranges  handelt  es  sich  also  nicht.  Trotzdem  sollen  sich  nicht  Irrtümer 
festsetzen,  denn  wie  leicht  können  aus  ihnen,  nimmt  man  sie  für 
bare  Münze,  weitere  Folgerungen  gezogen  werden. 

Ich  nehme  mir  die  Freiheit,  von  der  Ordnung  des  Buches  ein 
wenig  abzuweichen.  Sachlich  macht  das  nichts  aus.  Auch  werde  ich 
mich  nur  auf  die  Psalmdichtungen  Luthers  beschränken. 

L    »Aus  tiefer  Not  schrei  ich  zu  dir<  (S.  16—28;  42—51). 

Spitta  behauptet,  daß  dieses  Lied,  und  zwar  in  seiner  längeren 
Rezension,  sicher  vor  1523,  ehe  Luther  noch  daran  dachte,  fttr  die 
Gemeinde  und  den  Gottesdienst  zu  dichten,  entstanden  sei,  vielldcht 
schon  im  Jahre  1510. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  Ist  unser  Gott  259 

Welche  Beweise  hat  er  für  diese  Behauptung? 

Als  > ausschlaggebende  bezeichnet  er  es  zunächst,  daß  dieses  Lied, 
das  man  mit  Recht  als  die  >Erone  der  Psalmenlieder«  Luthers  an- 
sieht, nicht  aus  dem  > Gefühl  eigener  Unfähigkeit <  (S.  16),  »aus  einer 
Stimmung  dichterischer  Mutlosigkeit <  (S.  17;  vgl.  S.  354;  355),  wie 
sie  Luthers  Vorrede  zur  Formula  missae  und  sein  Brief  an  Spalatin 
vom  Anfang  des  Jahres  1524^)  aufweisen,  stammen  könne.  Es  fragt 
sich  zunächst,  ob  diese  beiden  Schriftstücke  wirklich  auf  eine  solche 
Stimmung  bei  Luther  schließen  lassen.  In  der  Formula  missae  sagt  er : 
>Poetae  nobis  desunt,  aut  nondum  cogniti  sunt,  qui  pias  et  spiri- 
tuales  cantilenas  (ut  Paulus  vocat)  nobis  concinnent,  quae  dignae 
sint  in  ecclesia  dei  frequentari<.  Und  ein  wenig  später:  >Haec  dico, 
ut,  si  qui  sunt  poetae  germanici,  extimulentur  et  nobis  poemata 
pietatis  cudant<.^)  Eine  weitere  Stelle  dieser  Vorrede  kann  nicht 
in  Betracht  kommen.  Ich  kann  aber  in  den  angeführten  Worten 
schlechterdings  nicht  einen  Ausdruck  > dichterischer  Mutlosigkeit«, 
des  »Gefühls  eigener  Unfähigkeitc  entdecken.  Denn  von  sich  selbst 
spricht  Luther  überhaupt  nicht.  Und  aus  der  Tatsache,  daß  er 
andere  zur  Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  Liederdichtung  anregen 
will,  folgt  doch  nicht,  daß  er  selbst  zu  dieser  Aufgabe  keine  Neigung 
und  Freudigkeit  habe.  Er  kann  doch  nicht  ganz  allein  diese  Riesen- 
aufgabe übernehmen  wollen.  Für  Luthers  persönliche  Stimmung  ist 
also  aus  dieser  Stelle  gar  nichts  zu  schließen.  Wer  etwas  kühn  im 
Schlüsseziehen  wäre,  könnte  vielleicht  aus  diesen  Worten  heraus- 
lesen —  was  ich  aber  nicht  tue  — ,  daß  Luther  auch  sich  selbst 
nicht  unter  die  Dichter  rechne,  also  überhaupt  noch  nicht  gedichtet 
habe.  Dieser  Schluß  wäre  aber  nicht  weniger  gewagt  als  der,  den 
Spitta  daraus  zieht. 

Es  kommt  zweitens  der  Brief  Luthers  an  Spalatin  von  Anfang 
1524  in  Betracht.  Hier  kann  Spitta  zunächst  nur  an  die  Worte 
denken:  >Quaerimus  undique  poetas<  und  sodann  an  das  Sätzchen: 
>Ego  non  habeo  tantum  gratiae,  ut  tale  quid  possem,  quale  vellem<. 
Der  erste  Satz  wiederholt  aber  nur,  was  wir  schon  in  der  Formula 
missae  gelesen  haben,  und  der  zweite  sagt  nur:  Ich  habe  nicht  so- 
viel Gabe,  um  das,  was  ich  gern  möchte,  auch  wirklich  zu  leisten. 
Damit  ist  nur  gesagt,  daß  Luther  fühlt,  er  bleibe  mit  seinen  Lei- 
stungen selbst  hinter  seinem  Ideal  zurück,  nicht  aber,  daß  er  keinerlei 
Lust  verspüre,  jetzt  zu  dichten.  Auch  Bachmann  liest  nichts  anderes 
ans  diesen  Worten  heraus,  als  >  Luther  tat  mit  diesen  ersten  Ver- 
suchen . . .  sich  selbst  und  der  ihm  vorschwebenden  hohen  Aufgabe 

1)  de  Wette,  Luthers  Briefe  n,  590  =s  Enders,  Luthers  Briefwechsel  IV,  273. 

2)  Werke  Luthers  ErL  A.  opp.  v.  a.  VII,  17  =  W.  A  XU,  218. 

18* 


260  Gott  gel  Anz.  1906.  Kr.  4. 

keineswegs  geüug<.^)  Man  kann  auch  nichts  anderes  in  ihnen  finden. 
Und  wenn  Luther  in  diesem  Brief  die  Abfassung  von  Gemeindeliedem 
geradezu  organisiert,  indem  er  die  sieben  Bußpsalmen  auf  ver- 
schiedene Leute,  darunter  auch  Spalatin  und  Hans  von  Dolzig,  ver- 
teilt, so  heißt  es  doch  diese  Tatsache  wieder  nicht  richtig  deuten, 
wenn  Spitta  sagt,  Luther  weise  die  Tätigkeit  in  dieser  Richtung  von 
sich  ab  und  anderen  zu.  Daß  er  selbst  nicht  mittun  wolle,  davon 
steht  im  ganzen  Brief  kein  Wort.  Im  Gegenteil:  wer  unvoreinge- 
nommen den  Brief  liest,  kommt  nur  zu  dem  Eindruck,  daß  Luther 
auch  mit  bei  der  Sache  ist.  Sagt  er  doch  ausdrücklich:  >Oro,  ut 
nöbiseum  in  hac  re  labores<.  Wenn  nun  auch  der  Ausdruck  nobis- 
cum  nicht  auf  Luther  allein  sich  bezieht,  sondern  auf  jene  Gruppe 
von  Männern  in  Wittenberg,  die  diese  Aufgabe  gemeinsam  in  die 
Hand  genommen  hatten  —  man  beachte  den  Anfang  des  Briefes: 
Concilium  est  — ,')  so  folgt  daraus  keineswegs,  daß  sich  Luther 
nicht  als  Mitarbeiter  fühle,  sondern  das  Gegenteil.  Legt  er  doch  an 
Spalatin  eine  Probe  seiner  Dichtkunst  bei,  nach  dem  sich  Spalatin 
richten  solle:  >sicut  hie  habes  meum  exemplum<.  Mit  Recht  sagt 
Spitta,  daß  man  nicht  entscheiden  könne,  welches  Lied  das  gewesen 
sei,  und  sicher  hat  Enders,')  Bachmann*)  folgend,  völlig  unrecht, 
wenn  er  es  als  unmöglich  bezeichnet,  daß  darunter  das  Lied  >Aus 
tiefer  Not<  verstanden  werden  könne.  Und  wenn  Luther  endlich 
am  Schlüsse  des  Briefes  sagt,  den  sechsten  Bußpsalm  (130.  Psalm) 
habe  er  selbst  schon  übersetzt,  so  ist  es  das  Nächstliegende,  anzu- 
nehmen, daß  er  eben  damals  das  Lied  »Aus  tiefer  Not<  gedichtet 
habe,  wenn  nicht  entscheidende  Gründe  dagegen  vorgebracht  werden 
können. 

Aus  den  beiden  Schriftstücken  Luthers  also  auf  ein  >  Gefühl 
eigener  Unfähigkeit«  oder  auf  eine  > Stimmung  dichterischer  Mut- 
losigkeitc  bei  ihm  damals  zu  schließen,  ist  völlig  unmöglich.  Und 
isomit  fällt  auch  der  weitere  Schluß  dahin,  Luther'  habe  damals  das 
wundervolle  Lied  >Aus  tiefer  Not<  nicht  dichten  können.  Aber 
Spitta  hat  noch  einen  zweiten  Grund  für  seine  These  ins  Feld  zu 
führen.  Wir  besitzen  bekanntlich  das  Lied  >Aus  tiefer  Not<  in  zwei 
Rezensionen,  in  einer  kürzeren  und  einer  längeren.  In  jener  sind 
die  beiden  Strophen  2  und  3  der  längeren  in  eine,  die  zweite, 
Strophe,  zusammengezogen.  Spitta  meint  nun,  die  längere  Rezension 

1)  Ztschr.  f.  kirchL  yTissensch.  Y  (1884),  S.  165. 

2)  Vgl.  Enden  zur  Stelle,  S.  274  Anm.  3  und  Bachmann  in  Ztschr.  f.  IdrchL 
Wissensch.  V  (1884),  S.  164. 

8)  A.  a.  0.  S.  274,  Anm.  4. 

4)  Ztschr.  f.  Urchl.  Wlssensch.  V  (1884),  S.  165. 


Spitta,  Ein  feste  Barg  ist  unser  Gott.  261 

sd  die  ältere,  die  Luther  früher  als  1523  gedichtet  habe,  und  die 
kürzere  sei  eine  von  Luther  veranstaltete  Bearbeitung  der  längeren. 
Zn  dieser  Behauptung  sieht  er  sich  durch  einen  Vergleich  der 
beiden  Rezensionen  gedrängt.  Die  kürzere  Rezension  bietet  —  das 
dürfte  das  Durchschlagende  sein  —  an  einer  Stelle  einfach  Un- 
logisches, das  sich  nicht  aus  der  Vorlage  des  Psalms,  sondern  allein 
aus  der  längeren  Rezension  erklärt.   Die  Stelle  lautet: 

Den  so  du  wilt  das  sehen  an, 

wie  manche  sund  ich  hab  gethan, 

wer  kan,  herr,  fur  dir  bleiben.  ^) 

Die  logische  Folgerung  aus  der  Tatsache,  daß  der  Dichter 
manche  Sünde  begangen  hat,  ist  doch  nicht,  daß  niemand  vor  dem 
Herrn  bleiben,  bestehen  kann.  Wie  diese  unlogischen  Verse  ent- 
stehen konnten,  erklärt  sich  nur  aus  der  längeren  Rezension: 

Denn  so  du  willt  das  sehen  an, 

was  sund  vnd  vnrecht  ist  gethan, 

wer  kan,  Herr,  fur  dyr  bleyben?*) 

Indem  die  mittlere  Zeile  verändert  wurde,  entstand  der  Unsinn. 
Und  noch  eine  zweite  Stelle  scheint  erst  aus  der  längeren  Form 
ganz  verständlich  zu  werden.   Die  kürzere  Form  liest: 

Es  steht  bey  deyner  macht  allein, 

die  Sunden  zu  vergeben, 

das  dich  forcht  beide,  gros  vnd  kleyn, 

auch  yn  dem  besten  leben. 

Was  soll  hier  der  letzte  Vers  bedeuten?  Die  Macht  Gottes, 
allein  Sünden  vergeben  zu  können,  zwingt  jeden  zur  Furcht  vor 
ihm.  Der  Vers  wird  nur  verständlich,  wenn  man  ergänzt:  Und 
Sünder  sind  sie  doch  alle,  auch  wenn  sie  das  beste  Leben  führen. 
Diesen  Gedanken  bietet  denn  auch  die  längere  Rezension: 

Bey  dyr  gillt  nichts  den  gnad  und  gonst, 

die  Sunden  zu  vergeben. 

Es  ist  doch  vnser  thun  vmbsonst 

auch  yn  dem  besten  leben. 

Also  mit  der  Behauptung,  daß  die  längere  Rezension  die  ältere, 
die  jüngere  die  kürzere  sei,  scheint  mir  Spitta  völlig  im  Recht  zu 
sein.   Man  lese  seine  Darlegung. 

Allein  wenn  er  als  Grund  für  diese  Kürzung  des  Liedes  durch 
Luthers  Hand  anführt,  Luther  sei  dazu   durch  sein  im  Brief  an 

1)  Wackemagel,  Kirchenlied,  III,  S.  7  Nr.  5. 

2)  Waekemftgd,  a,  a.  0.  S.  7  Nr.  6. 


262  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Spalatin  aufgestelltes  Ideal  für  die  Psalmenumdichtung  veranlaßt 
worden,  so  kann  ich  ihm  darin  leider  wieder  nicht  folgen.  Er  be- 
hauptet nämlich,  Luther  fordere  Freiheit  vom  Wortlaut  der  Originale 
nur,  um  für  das  einfache  Volk  den  Sinn  klar  und  bestimmt  wieder- 
zugeben; dabei  aber  solle  man  sich  ganz  an  den  Psalm  halten.  Oder 
er  formuliert  jene  von  Luther  gestellte  Aufgabe  auch  so:  > Enger  An- 
schluß an  das  Original,  Freiheit  von  dessen  Form  nur  soweit,  als  es 
die  Verständlichkeit  des  Ausdrucks  erfordert«  (S.  26;  vgl.  S.  22; 
172;  354).  Um  dieser  Aufgabe  selbst  zu  genügen,  habe  Luther  seine 
ursprüngliche  längere,  vom  Original  sich  durch  Aufnahme  von  allerlei 
anderen  biblischen  Gedanken  entfernende  Dichtung  gekürzt,  und  so 
sei  die  kürzere  Rezension  entstanden  (S.  38). 

Ganz  offenbar  deutet  Spitta  auch  hier  jenen  Brief  an  Spalatin 
ganz  falsch.  Er  liest  aus  ihm  gerade  das  Gegenteil  von  dem  heraus, 
was  drin  steht.  Da  er  aber  auf  diese  seine  Auffassung  sehr  viel  auf- 
baut, da  sie  geradezu  einer  der  Hauptpfeiler  seines  Gebäudes  ist,  so  ist  es 
nötig,  der  Frage  genauer  nachzugehen.  Was  sagt  jener  Brief?  Nach- 
dem Luther  Spalatin  mit  der  Aufgabe,  daß  es  sich  um  die  deutsche 
Umdichtung  von  Psalmen  handele,  bekanntgemacht  und  seine  Bitte 
um  Mitarbeit  vorgebracht  hat,  fährt  er  fort:  >velim  autem  novas  et 
aulicas  voculas  omitti,  quo  pro  captu  vulgi  quam  simplicissima  vulga- 
tissimaque,  tamen  munda  simul  et  apta  verba  canerentur,  deinde 
sententia  perspicua  et  psalmis  quam  proxima  redderetur.  Libere 
itaque  hie  agendum  et  accepto  sensu,  verbis  relictis,  per  alia  verba 
commoda  vertendum«.  In  diesen  Worten  ist  im  wesentlichen  zweierlei 
gesagt:  1.  Hauptsächlich  kommt  es  bei  der  Umdichtung  darauf  an, 
den  Sinn  des  Psalms  genau  zu  treffen^);  und  2)  in  der  sprachlichen 
Form  gilt  es,  sich  frei  zu  bewegen  und  wirklich  volkstümlich  zu 
sein.  Nicht  das  ist  die  Sorge  Luthers,  man  möchte  sich  zu  weit  vom 
Original  entfernen,  sondern  umgekehrt:  er  fürchtet,  daß  man  bei 
zu  ängstlicher  Wörtlichkeit  in  der  Wiedergabe  in  eine  unvolkstüm- 
liche, höfische  oder  gelehrte  Ausdrucksweise  verfalle.^)  Ich  meine, 
daß  sich  ein  Widerspruch  zwischen  dieser  Anweisung  und  der  län- 
geren Rezension  von   >Äus  tiefer  Not<   nur  künstlich  herausstellen 

1)  Das  geht  auch  aus  folgender  SteUe  des  Briefes  an  Spalatin  herror: 
»Habes  autem  meos  Septem  Psalmos  poenitentiales  et  commentarios,  e  quibns 
sensum  psalmi  capere  poterisc. 

2)  Auch  Bachmann  (a.  a.  0.  S.  164)  umschreibt  diese  SteUe  ganz  in  dem- 
selben Sinne:  ». . .  nachdem  er  ausgeführt,  wie  es  sich  ihm  dabei  um  freie 
Wiedergabe  des  Sinnes  ohne  sklavisches  Festhalten  der  Worte  und  um  einfältigen, 
volkstümlichen  Ausdruck  unter  Vermeidung  höfischer  Redeweise  handle  . .  .c  Vgl. 
dazu  auch  S.  2D9.  Ebenso  Küstlin-KaweraUi  Martin  Luther  ^  1, 536. 


Spitta,  Ein  feste  Barg  ist  nnser  Gott.  263 

läfit,  SO  viel  wörtlicher  auch  die  Umdichtungen  des  67.  Psalms: 
>£&  wollt  uns  Gott  genädig  sein«,  des  128.  Psalms:  >Wohl  dem, 
der  in  Gottes  Furcht  steht <  und  des  124.  Psalms:  >Wär  Gott 
nicht  mit  uns  diese  Zeit<  sein  mögen. ^)  Daß  sich  Luther  in:  »Aus 
tiefer  Note  ein  wenig  mehr  von  der  Vorlage  frei  gemacht  hat,  ohne 
doch  den  Grundgedanken  des  Psalms  zu  alterieren,  erklärt  sich 
aufs  beste  daraus,  daß  dieser  Psalm  seiner  inneren  Stimmung  ganz 
besonders  lag.  Indessen  selbst  wenn  Spitta  mit  seiner  Deutung  der 
Briefstelle  Recht  hätte,  so  folgt  daraus  noch  keineswegs,  daß  sich 
Luther  unbedingt  mit  peinlicher  Aengstlichkeit  an  diese  Anweisung 
sollte  gehalten  haben.  Es  würde  den  Eindruck  des  Pedantischen 
machen,  wenn  Luther  um  seiner  Theorie  willen  sollte  sein  älteres, 
ein  wenig  freieres  Lied  geradezu  verstfimmelt  haben.  Aber  die 
Theorie  gab  dazu  nicht  einmal  einen  Anlaß. 

Wie  aber,  so  wird  man  fragen,  ist  denn  dann  die  kürzere  Re- 
zension entstanden?  Diese  findet  sich  in  den  beiden  Erfurter  Enchi- 
ridion und  im  sogenannten  Achtliederbuch  —  alle  drei  aus  dem 
Jahre  1524.  Keines  dieser  Bücher  hat  Luther  selbst  herausgegeben. 
Die  beiden  Enchiridion  hat  vielleicht  Justus  Jonas  besorgt,  der  aber 
jedenfalls  den  Druck  nicht  überwachte,^  während  das  Achtlieder- 
buch, in  Nürnberg  oder  Augsburg  gedruckt,  ein  Auszug  aus  diesem 
ist.^  Erst  das  Walthersche  Ghoralbuch,  das  unter  Luthers  Mitarbeit 
zu  Wittenberg  1524  nach  jenen  drei  Büchern  erschien,  bringt  Luthers 
>Ans  tiefer  Not<  in  der  längeren  Form.  Man  kommt  angesichts 
dieser  Tatsachen  und  im  Hinblick  auf  die  schwer  verständliche 
Fassung  der  kürzeren  Form  zu  der  Vermutung,  daß  die  Kürzung 
des  echten  Lutherischen  Textes  nicht  von  Luther  selbst,  sondern  von 
einem  Dritten  herrührt,  der  Gott  weiß  aus  welchen  geschmackvollen 
Gründen  Luthers  Lied  verstümmelte.  Dieser  Gedanke  scheint  auch 
Spitta,  der  doch  Luther  selbst  als  Bearbeiter  annimmt,  gelegentlich 
vorgeschwebt  zu  haben.  Denn  S.  20  redet  er  sehr  unbestimmt: 
»Dabei,  nämlich  bei  dieser  Umarbeitung,  übersah  man<  —  und  we- 
nige Zeilen  weiter  spricht  er  von  einem  >Korrektor<,  der  die  Aende- 
mngen  angebracht  habe ;  Luther  scheint  er  hier  ganz  aus  dem  Auge 
verloren  zu  haben.  Eine  solche  Yerballhornisierung  einer  Dichtung 
Luthers  ist  bei  den  damaligen  literarischen  und  buchdruckerischen 

1)  Andere  haben  freilich  auch  hier  den  Eindruck,  daß  sich  Luther  sehr 
firei  Ton  der  Vorlage  halte.  Vgl.  Schneider  in  Luthers  Werke,  B.  A.  8  (1892), 
S.  SO  Anm.  1. 

2)  ZeDe,  Das  älteste  luthersche  Haus-Gesangbuch,  1524.  Göttingen  1903. 
8.  8.   Vgl.  auch  Köstlin-Eawerau,  Martin  Luthers  >^I,  S.  781.  Anm.  1  zu  S.  538. 

3)  Zelle,  a.  a.  0.,  S.  8. 


264  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Verhältnissen  dorchans  keine  Unmöglichkeit.  Zeigt  doch  auch  das 
Lied  >Ach  Oott,  vom  Himmel  sieh  darein<,  in  den  Erfurter  Enchi- 
ridion eine  unechte  Schlußstrophe, ^)  während  in  dem  Lied:  >Ein 
neues  Lied  wir  heben  an«  zwei  Strophen  fehlen.') 

Aber  Spittas  Gründe,  das  Lied  nicht  in  diese  Zeit  zu  setzen, 
sind  noch  nicht  erschöpft.  Um  eine  sichere  Datierung  zu  gewinnen, 
zieht  er  noch  Luthers  Uebersetzungen  und  Erklärungen  des  130. 
Psalms  heran.  Es  kommen  in  Betracht:  Die  sieben  Bußpsalmen  von 
1517,')  in  neuer  Bearbeitung  1525;^)  seine  Psalmenübersetzung  von 
1524;^)  seine  >  Glossen  <:  dictata  super  Psalterium  von  1513 — 16.^ 
Außerdem  sind  die  Uebersetzungen  der  Vulgata,  des  Hieronymus 
und  Reuchlins  heranzuziehen. 

Was  findet  Spitta  durch  die  Vergleichung  des  Liedes  mit  diesem 
Material? 

1.  Die  Meinung  Bachmanns,  daß  sich  im  Liede  leise  schon  die 
Uebersetzung  von  1524  anbahne,  sei  Illusion.  Darin  hat  Spitta,  so- 
viel ich  sehe,  recht 

2.  Die  Zusammenklänge  des  Liedes  mit  der  Uebersetzung  von 
1517  fielen  nicht  ins  Gewicht,  da  sich  die  fraglichen  Wendungen 
auch  in  Vulgata,  bei  Hieronymus  und  Reuchlin  finden.  Dem  kann  ich 
nicht  zustimmen.  Denn  es  handelt  sich  doch  im  Lied  und  in  der 
Uebersetzung  von  1517  um  deutsche  Wendungen.  Treffen  sie  zu- 
sammen, so  liegt  an  sich  der  Schluß  nahe,  daß  auch  die  Ab&ssnngs- 
zeit  des  Liedes  und  die  der  Uebersetzung  nicht  weit  von  einander 
liegen  werden.  Indessen  kann  sich  Luther  auch  bei  einer  späteren 
Abfassung  des  Liedes  noch  an  die  Uebersetzung  von  1517  gehalten 
haben.  Verweist  er  doch  auch  Spalatin  in  jenem  Brief  auf  diese 
Uebersetzung.  Es  liegt  nahe,  daß  er  sich  dieses  frühere  Werk 
seiner  Feder  gerade  zu  dem  Zwecke  der  Umdichtung  für  die  Ge- 
meinde eingehend  und  prüfend  wieder  angesehen  habe.  Trifft  dies 
auf  seine  Psalmenübersetzung  von  1517,  so  ebenso  auf  die  bei- 
gefügte Erklärung.  Von  ihr  sagt  Spitta,  und  dies  ist  eine  dritte 
Folgerung,  die  er  zieht,  daß  sie  dem  Liede  näher  stehe  als  die 
Uebersetzung.  Namentlich  verwertet  er  einen  Punkt  für  seine  Thesen 
nämlich  die  Erklärung  des  Wortes  Israel.  Er  stellt  fest,  daß  Luther 

1)  ZeUe,  a.  a.  0.  S.  103  Anm.  zu  Z.  1. 

2)  Ebenda,  S.  121  Anm.  zu  Z.  11.  Woher  weiß  ZeUe,  daB  Luther  diese 
beiden  Strophen  später  hinzugedichtet  habe? 

3)  ErL  A.  37, 340  ff. ;  W.  A.  1, 154  ff.   Psalm  130 :  S.  420  ff.  und  S.  206  ff. 

4)  ErL  A.  37, 340  ff.  mit  aufgenommen;  noch  fehlend  in  der  W.  A. 

5)  Erl.  A.  37,  S.  104 ff.;  Psalm  130:  S.  230. 

6)  W.  A.  III  und  IV;  Psahn  130:  IV,  p.  418  ff. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott  265 

dafUr  eine  doppelte  Erklärung  habe:  1.  Israel  bedeute  den  Mann, 
>der  Gott  siebet  oder  der  von  Gott  ist  richtig«,  >denn<,  fügt  Luther 
hinzu,  >  directus  cum  Deo  oder  directus  Dei  seu  Deo  heifit  einer, 
der  da  richtig  ist  zu  Gott.  Darum  wartet  Niemand  Gottes,  denn  die 
da  recht  Israel  sind,  das  sind  die  Richtigen  Gottes«.^)  Man  sieht, 
in  dem  Begriff  >richtigc,  wie  Luther  ihn  hier  braucht,  steckt  der 
Begriff  der  > Richtung«  (directus)  darin:  Israel  ist  der,  der  die 
rechte  Richtung  hat.  Diese  Erklärung  erscheint  im  Kommentar  des 
130.  Psalms  von  1517.  Luther  habe  sie  bis  1520  festgehalten.  Von 
da  ab  trete  eine  neue  Erklärung  dieses  hebräischen  Namens  auf. 
Israel  werde  von  jetzt  ab  als  der  Gotteskämpfer  gedeutet.  Nun  be- 
hauptet Spitta,  daß  in  den  Worten  des  Liedes: 

>So  thu  Israel  rechter  Art, 

der  aus  dem  Geist  erzeuget  ward 

und  seines  Gotts  erharre« 

jene  erste  Auffassung  von  Israel  vorliege.  Allein  das  ist  zu  viel  ge- 
schlossen. Mag  zwar  das:  Israel  rechter  Art  an  das  >von  Gott 
richtige  erinnern,  so  geht  es  doch  nicht  an,  darin  jene  sprach- 
liche Erklärung  wiedererkennen  zu  wollen.  Auch  hat  Luther  in 
der  zweiten  Bearbeitung  der  Bußpsalmen-Erklärung  von  1525  folgen- 
des geschrieben:  >Denn  Israel  war  das  sonderlich  Volk  Gottes,  dem 
solch  Harren  gebührt.  Dazu  stimmt  auch  der  Name.  Denn  Israel 
heißt  ein  Kämpfer  mit  Gott.  Alle,  die  nun  so  fest  harren,  daß  sie 
gleich  mit  Gott  drüber  kämpfen,  das  sind  rechte  Israeliten«.  *)  Man 
sieht,  daß  diese  Stelle  ganz  gut  die  Grundlage  für  jene  Stelle  im 
Liede  hätte  abgeben  können.  Wie  Luther  das  Wort  Israel  auch 
deute,  das  rechte  Israel  harrt  auf  Gott,  darauf  kommt  es  an.  Keines- 
wegs kann  man  also  den  Schluß  ziehen,  den  Spitta  zieht:  Im  Liede 
liegt  die  erste  Auffassung  von  Israel  vor,  folglich  kann  das  Lied 
nicht  nach  1520  entstanden  sein.   Der  Obersatz  ist  falsch. 

Es  bleiben  endlich  4.  einige  Anklänge  an  die  Glossen  von  1516 
übrig,  die  auf  Spitta,  vereint  mit  seinen  sonstigen  Gründen,  einen 
solchen  Eindruck  gemacht  haben,  daß  er  keinen  Grund  sehe,  der 
uns  veranlassen  könnte,  nicht  mit  der  Zeit  der  Abfassung  von  »Aus 
tiefer  Not«  bis  zu  1516  hinaufzugehen.  Allein,  wiegen  die  wenigen 
Stellen  wirklich  so  schwer,  daß  sie  allein  vermögen,  die  Wagschale 
zugunsten  der  These  Spittas  niederzudrücken?  Mir  erscheinen  sie 
so  gut  wie  ganz  belanglos. 

Das  sind  Spittas  Gründe  für  seine  Datierung  des  Liedes  >Aus 

1)  W.  A.  I,  p.  210;  Erl.  A.  37,426. 

2)  Erl.  A.  37,426. 


266  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

tiefer  Not  schrei  ich  zu  dir«.    Es  fragt  sich  nun:  Hat  Spitta  auch 
alle  Instanzen  berücksichtigt,  die  gegen  ihn  sprechen? 

Es  ist  ihm  eine  Stelle  entgangen,  die  die  ernsteste  Berück- 
sichtigung bei  der  ganzen  Frage  verdient  und  die  nicht  wenig  zu- 
gunsten der  Ansicht  ins  Gewicht  fällt,  nach  der  das  Lied  in  den 
Anfang  des  Jahres  1524  gehört.  In  einer  Predigt,  die  Luther  am 
1.  Sonntag  nach  Epiphanias,  am  10.  Januar  1524,  über  Luk.  2,41  ff. 
gehalten  hat  und  die  wir  in  einer  kurzen  Rörerschen  Nachschrift 
haben,  ^)  zitiert  er  den  130.  Psalm.  Die  Stelle  lautet:  >Tutus  es, 
quamdiu  fides  in  corde,  sed  interim  potest  ein  schändlich  opinio  ein- 
reißen, quasi  deus  velit  tibi  omnia  exhibere  propter  tuam  guet,  ho- 
nestam  [sc.  vitam].  Quare  fit,  ut  sinat  te  iaci  in  peccatum,  quod 
non  cognoscis  esse  peccatum,  et  hoc  facit,  ut  gratiam  suam  nobis 
notam  faciat.  'Si  iniquitates  observaveris,  domine'  etc.  [Psalm  130,3] 
si  lege^  vis  erigere,  quis  sanctus  potest  coram  te  consistere?  nee 
mater  ipsa,')  quae  omnium  sanctissima  fuit.  Postquam  deus  incipit 
eam  sentire,  quid  possit,  illico  cadit,  'quia  apud  te  propitiatio'  (Psalm 
130,4),  du  hast  beschlossen  bey  dir,  ut  nemo  accedat,  nisi  qui 
sperat  in  gratiam  q.  d.  si  veniret  ex  nostris  operibus,  diceremus: 
fidem  habemus  et  opus,  quod  facio,  deo  placet,  sicut  praedicavimus 
de  calice  aureo  Laurentii.^)  Non  est  scriptum  'tecum  operatio',  sed 
'propitiatio',  es  gilt  nichts  den  gnad  haben.  Oportet  cogitemus: 
her,  es  leyt  an  deiner  gunst,  gnaden;  quam  sanctus  sum  et  probus, 
nihil  iuvat,  oportet  timeo<.^)  —  Noch  einmal  kommt  Luther  kurz  auf 
denselben  Psalmen  zu  sprechen:  »Quare  voluit  deus,  ut  nos  raperet 
ab  illa  opinione  operum.  Naturaliter  sie  geniti  sumus,  ut  respiciamus 
ista,  et  iudicamus  secundum  illa.  Si  cogitarem  'tecum  propitiatio' 
etc.  non  meritum«.^  Diese  ausgehobenen  Stellen,  die  sich  unmittel- 
bar mit  dem  130.  Psalm  beschäftigen,  bringen  unverkennbare  wört- 
liche Anklänge  an  unser  Lied.  Man  vergleiche  miteinander: 
Predigt:  >quis  sanctus  potest  coram  te  consistere?«  Lied:  >Wer 
kann,  Herr,  vor  dir  bleiben?«  —  Predigt:  >Du  hast  beschlossen  bei 
dir,  ut  nemo  accedat,  nisi  qui  sperat  in  gratiam  ...  es  gilt  nichts 
den  gnad  haben.  Oportet  cogitemus:  her,  es  leyt  an  deiner  gunst, 
gnaden;  quam  sanctus  sum  et  probus,  nihil  iuvat,  oportet  timeo«.  — 
Lied: 

1)  W.A.XV,414ff. 

2)  SoUte  nicht  legem  zu  lesen  sein? 
8)  Gemeint  ist  Maria,  die  Matter  Jesu. 
4)  Vgl.  ErLA.XV«,  S.  499. 

6)  W.A.XV,  S.416,19C 
6)  W.A.XV,  S.  416,36  ff. 


8pitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  267 

>B6y  dyr  gillt  nichts  den  gnad  vnd  gonst, 

die  Sunden  zu  vergeben. 

Es  ist  doch  vnser  thun  vmbsonst 

auch  ynn  dem  besten  leben.  ^) 

Fur  dyr  niemant  sich  rühmen  kan, 

des  mus  dich  furchten  yederman, 

vnd  deyner  gnaden  lebenc 

Predigt:    »Si  cogitarem  *tecum  propitiatio'  etc.  non  meritum<.   — 
Lied: 

>Darumb  aufif  Gott  will  hoffen  ich, 

auff  meyn  verdienst  nicht  bawenc 

Vor  allem  aber  ist  diese  ganze  Predigt  einfach  eine  Ausführung 
der  mitgeteilten  Liedstellen,  oder  umgekehrt:  wer  eine  authentische 
Erklärung  dieses  Liedes  überhaupt  bei  Luther  sucht,  der  greife  zu 
dieser  Predigt.  Wahrlich,  die  Geschichte  vom  zwölQährigen  Jesus  bietet 
an  sich  nicht  leicht  Anlaß,  diese  Gedanken  zu  entwickeln.  Luther  muß 
schon  tief  von  ihnen  bewegt  gewesen  sein,  wenn  er  diesen  Text  be- 
nutzte, um  sie  vor  der  Gemeinde  auszuführen.  Man  kommt  auf  den 
Gedanken,  daß  unmittelbar  vorher  das  Lied  »Aus  tiefer  Not<  ent- 
standen sein  muß.  Denn  umgekehrt,  aus  der  Predigt  ist  es  keines- 
falls erwachsen. 

Wie  weit  liegt  nun  aber  auch  diese  ganze  Auffassung  des 
130.  Psalms  ab  von  der  der  Auslegung  von  1517.  Hier  die  Gegen- 
überstellung des  alten  und  des  neuen  Menschen,  von  dem  im  Liede 
nicht  die  Rede  ist,  dort  aber  wird  die  Erfahrung  des  Heiligen,  des 
Gläubigen  geschildert,  den  Gott  tief  fallen  läßt,  um  in  ihm  und 
durch  ihn  in  anderen  den  Glauben  an  die  Gnade  allein  zu  be- 
festigen. 

Ein  Moment  spricht  aber  nicht  wenig  für  die  Annahme,  daß  die 
Abfassung  von  >Au8  tiefer  Not<  und  die  Predigt  vom  10.  Januar  1524 
zeitlich  nahe  liegen  müssen,  nämlich  die  auffallende  Tatsache,  daß 
Luther  in  den  uns  bekannten  früheren  Predigten  den  130.  Psalm  nicht 
erwähnt.  Wenigstens  habe  ich  keine  Stelle  finden  können.  Aber  ge- 
rade am  10.  Januar  1524  taucht  er  auf  und  beherrscht  eine  ganze 
Predigt.  Auch  am  20.  März  desselben  Jahres  zitiert  Luther  wieder 
Psalm  130,4^)  und  wieder  ganz  im  Sinne  des  Liedes:  »Coram  dec 
kan  nyemant  besthen,  quantumvis  sanctus,  nisi  confiteatur  se  pecca- 

1)  Vgl.  dazu  auch  die  Worte  p.  415,  Z.  21 :  »propter  toam  gaet,  honestam 
[sc.  Yitamjc  und  p.  416,  Z.  17 f.:  »Patamos  nos  optime  yivere  et  sine  peccato 
esse:  tum  autem  sentimus,  quando  tentat«. 

2)  W.A.XV,482. 


268  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  4. 

torem.  'Apud  se  propitiatio',  qui  coram  te  agere  vult,  oportet  ex 
corde  dicat:  nisi  tu  misericorditer  velis  nobiscum  agere,  perditi 
essemus«.  Und  die  entsprechende  Stelle  in  der  Schrift:  »Ein  Sermon 
von  der  Beicht  und  Sakrament«,  die  auch  auf  dieser  Predigt  beruht, 
lautet:  >fur  Gott  kan  nyemand  bestehen,  er  bringe  denn  dise  beicht 
mit  sich,  wie  der  129.  psalm  sagt  'Bey  dyr  ist  gnad,  auff  das  du 
gefurchtet  werdist'.  Das  ist:  wer  fur  dyr  handeln  will,  mus  also 
handeln,  das  solche  beycht  von  hertzen  gehe,  die  also  spreche :  Herr, 
bistu  nicht  barmhertzig,  so  ist  es  verloren,  wie  frum  ich  auch  seyn 
kan.   Solchs  müssen  alle  heyligen  bekennen.^) 

Alles  in  allem  —  Spitta  hat  nach  meiner  Meinung  keinen  stich- 
haltigen Grund  angeführt,  der  die  Abfassung  des  Liedes  >Aus  tiefer 
Not<  gegen  Anfang  des  Jahres  1524  unmöglich  oder  unwahrschein- 
lich machte.  So  lange  keine  zwingenderen  Gründe  als  die  vor- 
getragenen vorliegen,  wird  man  im  Blick  auf  die  Predigt  Luthers 
am  10.  Januar  1524  und  auf  die  Briefnotiz  an  Spalatin  Anfang  1524, 
daß  er  den  sechsten  Bußpsalm  übersetzt  habe,  die  Datierung  des 
Liedes  auf  jene  Tage  wohl  wagen  können,  ohne  sich  zu  großer 
Kühnheit  schuldig  zu  machen.  Zeigen  sich  im  Liede  Anklänge  an 
die  Uebersetzung  oder  die  Erklärung  der  Bußpsalmen  von  1517, 
so  ist  dafür  die  einfachste  Erklärung,  daß  Luther  jenes  Werk  zum 
Zwecke  der  Umdichtung  dieses  Bußpsalms  noch  einmal  eingesehen 
hat  Die  Predigt  aber  zeigt  aufs  deutlichste,  wie  falsch  es  ist, 
zwischen  der  rein  subjektiven,  persönlichen  Poeterei  Luthers  und 
seinem  Dichten  für  die  gottesdienstlichen  Zwecke  einen  Gegensatz 
anzunehmen.  Beides  verträgt  sich  sehr  wohl  miteinander.  Damit  soll 
nicht  gesagt  sein,  daß  bei  jeder  Umdichtung  Luthers  Seele  in  so 
starke  Glut  geraten  ist,  wie  gerade  bei  diesem  wundervollen  Lied. 

2.   >Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott<  (S.  28—34;  85—169). 

Spitta  ist  der  Ueberzeugung,  daß  das  größte  Lutherlied  1521 
auf  Luthers  Reise  nach  Worms,  und  zwar  am  wahrscheinlichsten  in 
Frankfurt  entstanden  sei. 

Sein  Beweis  stützt  sich  auf  ein  Vierfaches: 

1.  Auf  die  Bibelübersetzung,  die  dem  Liede  zugrunde  liegen 
soll;  2.  auf  die  im  Liede  angedeutete  Lage  des  Dichters;  3.  auf  die 
Anklänge  an  dieses  Lied  in  Luthers  Schriften  und  4.  auf  das  Urteil 
von  Männern  des  16.  Jahrhunderts. 

Der  Frage  nach  der  Grundlage  des  Liedes  nachzugehen,  sieht 
sich  Spitta  durch  Bachmann  veranlaßt.  Dieser  hatte  nämlich  be- 
hauptet, daß  das  Lied  auf  Luthers  deutscher  Uebersetzung  des  46. 

1)  W.A.XV,482. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  269 

Psalms  ans  dem  Jahre  15240  beruhe  0.  Spitta  erbringt  nun  zu- 
nächst den  Erweis,  daß  diese  Uebersetzung  auf  Hieronj^mus,  nicht  auf 
der  Vulgata  beruht.  Luther  habe  sich  überhaupt  immer  mehr  von 
der  Vulgata  entfernt  und  sich  Hieronymus  bezw.  dem  Grundtext  bei 
seinen  Uebersetzungen  zugewendet.  Ein  Lied  also,  so  schließt  Spitta 
weiter,  das  nach  1524  auf  Grund  von  Psalm  46  gemacht  worden  ist, 
muß  wesentlich  auf  Hieronymus,  bezw.  auf  dem  Grundtext,  und  darf 
nicht  auf  der  Vulgata  beruhen.  Das  ist  aber  bei  >Ein  feste  Bürge 
nicht  der  Fall.  Vielmehr  liegt  ihm  die  Vulgata  zugrunde.  Also  kann 
das  Lied  nicht  nach  1524  gedichtet  sein. 

Wie  steht  es  mit  den  Anklängen  des  Liedes  an  die  Vulgata? 
In  sorgfältiger  Untersuchung  stellt  Spitta  fest,  wo  sich  Berührungen 
des  Liedes  mit  dieser  Uebersetzung  finden.  Zugegeben,  er  hätte  hier 
in  allen  Einzelheiten  recht  —  in  vielen  hat  er  es  ohne  Zweifel  — , 
folgt  daraus  mit  Sicherheit:  Luther  kann  das  Lied  nicht  nach 
1524  gedichtet  haben?  Auch  daraus  glaubt  Spitta  einen  sicheren  Beweis 
für  seine  These  gefunden  zu  haben,  daß  das  Lutherlied  die  Uebersetzung 
von  1524  ignoriert.  >Für  ein  Psalmlied<,  sagt  er  S.  109,  >das  nach 
1524  gedichtet  worden  sei,  müßte  man  dementsprechend  annehmen, 
daß  es  die  Vulgata  weit  hinter  sich  gelassen  habe.  Ja,  wenn  dieses 
erst  in  der  Zeit  von  1527  bis  1529  verfaßt  wäre,  so  wäre  zu  be- 
denken, daß  damals  Luthers  Uebersetzung  bereits  derartig  Allgemein- 
gut geworden  war,  daß  ein  Psalmlied,  das  auf  sie  keine  Rücksicht 
nähme,  einfach  undenkbar  wäre<.  Diese  Schlüsse  würden  nur  zwin- 
gende Kraft  haben,  wenn  sich  zeigen  ließe,  1.  daß  Luther  immer 
mehr  die  Vulgata  überhaupt,  und  nicht  nur  in  seinen  Psalmenüber- 
setzungen, auf  die  Seite  geschoben  habe,  und  2.  daß  Luther  nach 
1524  (bis  zur  neuen  Psalmenausgabe  1528)  die  Psalmen  in  seinen 
Predigten  und  erbaulichen  Schriften  nur  nach  seiner  Uebersetzung 
von  1524  zitiere,  eben  weil  er  —  Spittas  Meinung  nach  —  auf  die 
Verbreitung  seiner  Psalmübersetzung  im  Volke  Rücksicht  nehmen 
musste. 

Prüfen  wir  nun,  ob  sich  diese  beiden  Tatsachen  bestätigen! 

Was  zunächst  den  Gebrauch  der  Vulgata  durch  Luther  betrifft, 
80  ist  das  Gegenteil  von  dem  der  Fall,  was  Spitta  annimmt:  Luther 
hat  sich  fortgesetzt  sehr  viel  mit  der  Vulgata  beschäftigt.  Schon 
1523,  wenn  nicht  früher,  beginnt  er  eine  Revision  dieses  alten 
lateinischen  Textes.')  Als  Frucht  dieser  Arbeit  erschienen  1529  bei 
Nikolaus  Schirlentz  in  Wittenberg  in  lateinischer  Uebersetzung  einige 

1)  Erl.  A.  37,  8. 150. 

2)  Ztschr.  f.  kirchl.  Wissensch.  V  (1884),  8.  299  ff. 
8)  Vgl  W.A.  23, 435  f. 


270  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Bttcher  des  alten  Testaments  (bis  zn  den  Büchern  der  Könige  ein- 
schließlich), ^)  und  1527  gab  er  den  119.  Psalm  heraus.^  Im  Jahre 
1529  erschien  auch  der  ganze  Psalter  lateinisch,  unter  dem  Titel :  Psalte- 
rium  translationis  veteris  correctum  (bei  Joh.  Luft).  Wahrscheinlich 
stammt  auch  diese  Ausgabe  von  Luther.')  Zwar  steht  er  nicht  auf 
dem  Titel  als  Herausgeber,  aber  das  ist  auch  bei  jener  anderen 
lateinischen  Ausgabe  von  1529  nicht  der  Fall,  die  bei  Schirlentz  er- 
schienen ist  und  die  doch  sicher  auf  Luther  zurückgeht.  Für  Luther 
als  Herausgeber  dieses  lateinischen  Psalters  spricht,  daß  ihm  seine 
Psaltervorrede  von  1528^)  in  lateinischer  Uebersetzung  vorgedruckt 
ist.^)  Es  wäre  der  Mühe  wert,  diese  seltene  Ausgabe,  die  mir  nicht 
zur  Hand  ist,  mit  der  Vulgata  zu  vergleichen,  speziell  den  Text  des 
46.  Psalms.  Aber  wie  es  auch  um  die  Autorschaft  Luthers  und 
um  das  Verhältnis  dieser  Uebersetzung  zur  Vulgata  stehen  mag,^ 
jedenfalls  ist  die  Tatsache,  daß  Luther  sich  dauernd  mit  der  Vul- 
gata beschäftigt  und  sie  nicht  als  wertlos  zur  Seite  gelegt  hat, 
—  hielt  er  sie  doch  sogar  für  so  ehrwürdig,  daß  er  sie  keineswegs  aus 
dem  öffentlichen,  gottesdienstlichen  Gebrauch  verdrängen  wollte, 
wie  er  ausdrücklich  erklärte  —  für  die  These  Spittas :  ein  Lutherlied, 
das  auf  der  Vulgata  beruht,  kann  nicht  nach  1524  entstanden  sein, 
einfach  vernichtend.  Mag  sich  Luther  auch  in  seinen  deutschen 
Uebersetzungen  immer  mehr  an  Hieronymus  und  den  Grundtext  an- 
geschlossen haben,  so  haben  wir  doch  kein  Recht,  zu  folgern,  daß  er 
seinen  Umdichtungen  von  Psalmen  nur  seine  deutschen  Uebersetzungen 
zugrunde  gelegt  habe,  und  es  ist  nicht  angängig,  die  Grundsätze, 
die  für  diese  gelten  mögen,  schlankweg  auch  auf  jene  zu  übertragen. 
Wenn  seine  großartige  Neuschöpfung  des  46.  Psalms  da  und  dort 
einige  Anklänge  an  die  Vulgata  zeigt,  so  ist  das  auch  dann  ganz 
verständlich,  wenn  er  sich  sonst  in  den  Uebersetzungen  von  der 
Vulgata  entfernt.  Klingen  im  Liede  einzelne  Töne  an  die  Vulgata 
an,  so  empfahl  sie  sich  eben  an  diesen  einzelnen  Stellen  seinem 
dichterischen  Empfinden. 

Wie  wenig  sich  aber  Luther  in  seinen  Predigten  und  in  seiner 
erbaulichen  Schriftstellerei  von   der  Vulgata,   die  doch  ebenso  wie 

1)  Abgedruckt  als  Anhang  des  XIV.  Bandes   der  Walchschen  Ausgabe  der 
Werke  Luthers. 

2)  W.A.23,436f. 

3)  ErL  A.  37,  245  u.  247. 

4)  ErL  A.  63, 27  ff.    Hier  ist  die  Angabe,  daß  diese  Vorrede  ins  Jahr  1531 
gehöre  und  zuerst  lateinisch  1529  erschienen  sei,  zu  verbessern. 

5)  Zur  ganzen  Frage  ygl.  Köstlin-Eawerau,  Martin  Luther  ^11,  S.  157. 

6)  Die  obenerwähnte  Ausgabe  eines  Teils  des  Alten  und  des  Kenen  Testa- 
ments ist  nur  eine  revidierte  Vulgata. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  371 

seine  Lieder  aufs  Volk  berechnet  waren,  emanzipiert  hat,  dafür 
dient  zum  Beweis  schon  die  Tatsache,  daß  er  Auslegungen  einzelner 
Psalmen  unter  dem  Anfangswort  des  betreffenden  Psalms  in  der 
Vttlgata  herausgibt.  So  erscheint  1530  seine  Auslegung  des  118. 
Psalms  unter  dem  Titel:  >Das  schöne  Confitemini<  ^)  entsprechend 
dem  Anfangswort  dieses  Psalms  in  der  Vulgata,  und  die  Auslegung 
des  147.  Psalms  von  1532  trägt  als  Stichwort  am  Anfang:  Lauda 
Jerusalem,')  ebenso  läßt  Luther  1539  die  Auslegung  des  110.  Psalms 
unter  dem  Titel  erscheinen:  Dixit  dominus.')  Wenn  jemand  um 
jeden  Preis  die  Vulgata  zur  Seite  schieben  will,  so  tut  er  das  nicht. 
Wer  aber  so  arglos  an  die  Vulgata,  an  ihre  Psalmanfänge  sich  an- 
schließt, der  kann  auch  zu  derselben  Zeit  ein  Lied  dichten,  das  an  die 
Vulgata  da  und  dort  anklingt,  so  gut  wie  er  as  unter  dem  Titel: 
>Der  XLVL  Psalm,  Deus  noster  refngium  et  virtus«  erscheinen  läßt. 
Ja,  es  verdient  beachtet  zu  werden,  daß  es  auch  gerade  der  An- 
fang des  46.  Psalms  nach  der  Vulgata  ist,  der  offenbar  im  Luther- 
lied am  deutlichsten  anklingt.  Die  Vulgata-Anfänge  hafteten  am 
festesten  im  Kopfe,  und  wenn  ein  Lied  den  Anfang  eines  Psalms 
nach  der  alten  lateinischen  Uebersetzimg  bot,  so  war  damit  das 
ganze  Lied  charakterisiert. 

Femer  hat  Luther  seiner  Auslegung  des  82.  Psalms  den  latei- 
nischen Vulgatatext,  wenigstens  zur  Hälfte,  vorausgesetzt.^)  So  gut 
Luther  das  tun  kann,  kann  er  auch  bei  seiner  Dichtung  der  Vulgata 
einen  Einfluß  gestattet  haben. 

Femer  als  Beweis  datür,  wie  sehr  er  persönlich  mit  seinem 
Innenleben  mit  der  Vulgata  verwachsen  war,  kann  es  dienen,  daß 
er  auf  der  Koburg  1530  den  17.  Vers  des  118.  Psalms  —  nicht 
deutsch,  nicht  hebräisch,  sondern  im  Wortlaut  der  Vulgata  an  die 
Wand  geschrieben  hat,  um  sich  daran  zu  trösten:  >non  moriar,  sed 
viyam,  et  narrabo  opera  domini<.*)  Wieder  sage  ich:  wer  1530 
noch  so  in  der  Vulgata  lebt,  der  sollte  nicht  auch  1527  ein  Lied, 
das  aus  tiefster  Seele  kam  und  offenbar  die  Lösung  eines  starken 
seelischen  Druckes  war,  mit  Anklängen  an  den  Vulgatatext  haben 
dichten  können? 

Endlich,  wirft  man  einen  Blick  in  Luthers  Predigten  etwa  aus 
dem  Jahre  1526,  so  findet  man,  daß  er  sich  in  seinen  Psalmen- 
zitaten gar  nicht  an  seine  Uebersetzung  von  1524  bindet,  sondern 

1)  Erl.  A.  41, 1  ff. 

2)  Erl.  A.  41, 161  ff. 
8)  Erl  A.  40, 38  ff. 

4)  ErLA.  89,225. 

5)  ErLA.  Dp.  ex.  17,804. 


ä72  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Kr.  4. 

auch  hier  ganz  naiv  und  arglos  nach  der  Vulgata  zitiert.  Schlägt 
man  allerdings  die  Drucke  von  Predigten,  wie  über  Jerem.  23, 5 — 8  ^) 
vom  Jahre  1526  oder  aber  das  1.  Buch  Mose  vom  Jahre  1527  (ge- 
halten sind  die  Predigten  1523/24)^  auf  und  prüft  die  darin  vor- 
kommenden Psalmstellen,  so  sind  sie  durchgängig  in  dem  Texte  der 
Lutherschen  Uebersetzung  von  1524  gegeben.  Aber  diese  Drucke 
sind  nicht  von  Luther  selbst,  sondern  von  anderer  Hand,  die  Predigten 
fiber  1.  Mose  sicher  von  Grutziger  besorgt  worden.  Sie  fallen  also 
für  unsere  Frage  aus  der  Diskussion  heraus.  Daß  aber  Luther  noch 
1526  den  Psalter  auf  der  Kanzel  im  Vulgatatext  zitiert  hat,  dafür 
bietet  die  Trinitatispredigt  dieses  Jahres  über  Joh.  3,1—15  eine 
schlagende  Stelle.  Denn  nicht  nur  bringt  die  Rörersche  Nachschrift 
die  Stelle  Psalm  135,7  mit  den  Vulgata  werten :  >Qui  producit  ventos 
etc.«,  sondern  auch  der  Predigtdruck,  der  vielleicht  von  Luther 
selbst  stammt,  bringt  erst  dieses  lateinische  Vulgatazitat,  nur  aus- 
führlicher, und  darauf  eine  deutsche  Uebersetzung,  die  aber  nicht 
die  Luthers  von  1524  ist.^  Damit  ist  bewiesen,  daß  Luther  die 
Vulgata  auch  1524  noch  auf  der  Kanzel  zitiert  hat.  Aber  auch  sonst 
läßt  sich  zeigen,  daß  Luther  in  den  Predigten  nach  1524  nach  der 
Vulgata  und  nicht  nach  seiner  Uebersetzung  oder  dem  Grundtext 
den  Psalter  zitiert.  Man  vergleiche  z.B.  die  Stellen:  Psalm  91,9 
und  10  in  W.A.  20,230;  Psalm  116,15,  ebenda  S.  265. 

Daß  sich  Luther  aber  nach  1524  keineswegs  bei  seinen  Psalmen- 
zitaten an  seine  Psalmenübersetzung  aus  diesem  Jahre  gehalten  hat, 
ist  ebenso  schlagend  noch  auf  andere  Weise  zu  beweisen.  Ich  habe 
mir  die  Mühe  genommen,  die  Psalmstellen  in  Luthers:  > Der  Prophet 
Jona  ausgelegt <  vom  Jahre  1526^)  zu  prüfen,  und  es  ergab  sich, 
daß  unter  19  angeführten  Psalmstellen  (eine  wird  dreimal  zitiert, 
nämlich  Psalm  32,3)  nur  eine  einzige,  nämlich  Psalm  16,10  im  Wort- 
laut mit  der  Uebersetzung  von  1524  übereinstimmt,  alle  anderen 
weichen  davon  ab,  und  oft  recht  bedeutend.  Wenn  also  Luther  in 
einer  für  das  breite  Volk  bestimmten  Erbauungsschrift  des  Jahres 
1526  seine  Psalmenübersetzung  von  1524  so  gut  wie  völlig  ignoriert, 
wird  man  es  dann  mit  Spitta  noch  für  >  undenkbar  <  erklären  können, 
daß  ein  Psalmlied  Luthers,  das  1527  entstanden  wäre,  auf  jene  Ueber- 
setzung keine  Rücksicht  nähme,  da  diese  bereits  Allgemeingut  ge- 
worden sei?  Auch  in  seinen  deutschen  Briefen  aus  späterer  Zeit 
zitiert  Luther  den  Psalter  einfach  nach  der  Vulgata,  weil  sich  ihm 

1)  W.A.  20, 547 ff. 

2)  W.A.  24, Iff. 
8)  W.A.  20,424. 
4)  W.A.  19, 186 ff. 


Spitta,  Ein  feste  Borg  ist  unser  Gott.  273 

dieser  Text  am  leichtesten  einstellt,  so  z.B.  Ps.  110,  1  und  4  in 
einem  Brief  an  den  Fürsten  Joachim  von  Anhalt  vom  19.  Juni  1533  ^), 
oder  Ps.  57,  9  in  einem  Brief  an  denselben  vom  18.  Juni  1534^,  oder 
in  einem  Brief  an  einen  Ungenannten  vom  25.  Oktober  1536  ').  Doch 
genug  der  Beispiele! 

Alles  in  allem:  der  Beweis  Spittas,  den  er  aus  der  dem  Liede 
zugrunde  liegenden  Uebersetzung  des  46.  Psalmen  für  die  Abfassungs- 
zeit vor  1524  hat  erbringen  wollen,  ist  als  gescheitert  zu  bezeichnen.  — 

Nun  dehnt  aber  Spitta  die  biblische  Grundlage  des  Lutherliedes 
über  den  46.  Psalm  noch  viel  weiter  aus.  Er  nimmt  außerdem  nicht 
nur  noch  etliche  alttestamentliche  Stellen  als  Grundlagen  an,  was 
auch  schon  Bachmann  getan  hatte ,  sondern  auch  drei  neutestament- 
liehe,  nämlich  Apok.  12,  7— 11,  Wendungen  aus  den  Reden  Jesu  im 
Johannesevangelium  c.  14  ff.  und  Eph.  6,  10—20.  Von  diesen  Stellen 
behauptet  Spitta  nicht  etwa  nur,  daß  sie  möglicherweise  Luther 
bei  Abfassung  des  Liedes  im  Sinne  lagen,  nein,  das  soll  wirklich 
and  zweifellos  der  Fall  sein  (S.  104).  Aber  Spitta  scheint  mir 
hier  von  einer  ganz  unbewiesenen  Voraussetzung  auszugehen.  Da 
flir  das  folgende  viel  davon  abhängt,  ob  man  ihm  hierin  zustimmt 
oder  nicht,  muß  ich  darauf  kurz  näher  eingehen.  Mit  Apok.  12, 7 — 11 
soll  das  Lied  folgende  wörtliche  Berührungen  gemeinsam  haben: 
Apok.  12,9  ist  die  Rede  von  der  alten  Schlange  (6  Scpig  6  ip- 
Xaioc;  Vulg.:  serpens  antiquus)  und  im  Liede  Str.  1,5  vom  > alten 
bösen  Feinde  Apok.  12,  11  ist  die  Rede  vom  Xö^og  t^c  (taptopCag 
a&Tfldv;  das  soll  sich  berühren  mit  Str.  4, 1 :  >Das  Wort  sie  sollen  lassen 
8tan<.  Endlich  Apok.  12,  10  ist  die  Rede  von  der  ßaoiXeCa  too  dsoö 
iffj&yf;  das  soll  wiederklingen  in  dem  Satze  Str.  4,  9:  >Das  Reich 
muß  uns  doch  bleiben  <. 

Aus  dem  Johannesevangelium  sollen  —  und  das  hatte  auch 
schon  Bachmann  behauptet^)  —  die  Wendungen  14,  30:  >Es  kommt 
der  Fürst  dieser  Welt  und  hat  an  mir  nichts <,  und  16, 11:  >daß  der 
Fürst  dieser  Welt  gerichtet  ist<  im  Liede  ihre  Parallelen  haben, 
nämlich  in  der  3.  Str.:  >Der  Fürst  dieser  Welt,  wie  sauer  er  sich 
stellt,  tut  er  uns  doch  nicht,  das  macht,  er  ist  gericht.< 

Endlich  sollen  Beziehungen  zwischen  dem  Liede  und  Eph.  6, 10—20 
bestehen.  Eph.  6,  11  und  13  ist  von  der  Waffenrüstung  Gottes 
(il  acavoicXCa  too  dsoö)  die  Rede;  das  soll  wiederklingen  in  den  Worten 
des   Liedes   Str.  1,7:    »groß   Macht  und  viel  List   sein   grausam 

1)  ErL  A.  55,  21 ;  vgl.  S.  49  and  Enden,  IX,  814. 

2)  ErL  A.  55,  51. 

3)  ErL  A.  65, 112. 

4)  Ztachr.  f.  kirchl.  Wusensch.  Y  (1884),  S.  301  Anm.  6. 

G«tt.  fL  Abs.  19(M.  Kr.  4.  19 


274  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4.{ 

Rüstung  ist<.  Die  Formel:  >das  Feld  behaltene  in  Str.  2, 9  braucht 
Luther  auch  in  der  Uebersetzung  von  Eph.  6,  13.  Einen  weiterem 
Zusammenklang  nimmt  Spitta  zwischen  Eph.  6,  19,  wo  vom  X670C  die 
Bede  ist,  und  Str.  4,1  des  Liedes  an:  >Das  Wort  sie  sollen  lassen 
stan<.  Gedanklich  sollen  sich  Lied  und  Brief  berühren,  wenn  es 
Str.  1,9  und  2,  If.  heißt: 

»auf  Erd  ist  nicht  seins  Gleichen. 

Mit  unsrer  Macht  ist  nichts  getan, 

wir  sind  gar  bald  verlorene 
und  Eph.  6, 12,  sofern  hier  von  den  bösen  Geistern  betont  werde, 
daß  sie  in  der  überirdischen  Begion  sich  befinden.  Die  letzte  Ent- 
lehnung des  Liedes  aus  der  Epheserstelle  soll  in  der  Formel:  »der 
alt  böse  Feind<  stecken;  vom  >Bösen<  ist  auch  Eph.  6, 16  die  Beda 
Ich  muß  angesichts  dieses  aufgeführten  Materials  offen  gestehen, 
daß  es  mir  nicht  in  den  Kopf  will,  daß  Luther,  als  er  sein  Lied 
dichtete,  > wirkliche  und  »zweifellose  diese  drei  neutestamentlichen 
Stellen  im  Sinne  hatte.  Am  ehesten  kann  man  annehmen,  daß  ihm 
einige  Wendungen  aus  Joh.  im  Sinne  lagen.  Aber  die  anderen  zwei 
Partien?  Ich  glaube,  in  der  Zuversicht,  die  Spitta  hier  zeigt,  werden 
wenige  ihm  folgen.  Jedenfalls  heißt  es  ein  Haus  auf  Sa^d  bauen, 
wenn  man  die  Annahme ,  dem  Lutherlied  lägen  neben  Ps.  46  auch 
noch  jene  drei  neutestamentlichen  Partien  zugrunde,  zur  Grundlage 
weiterer  Schlüsse  macht. 

Wenn  man  aber  einwenden  wollte,  die  Gesamtsituation  im  Liede 
und  in  jenen  Abschnitten  entspräche  sich  doch  völlig,  wo  anders  her  ab 
aus  diesen  könnte  Luther  also  sein  Gedankenmaterial  entlehnt  haben, 
so  antworte  ich :  Wenn  ein  modemer  Dichter  einmal  solch'  einen  Kampf 
zwischen  Teufel  und  Christus  darsteUt,  dann  kommt  man  wohl  auf 
den  Gedanken,  daß  er  sich  durch  eine  oder  mehrere  ähnliche  Bibel- 
stellen werde  haben  anregen  lassen.  Aber  Luther?  Man  versetze  sich 
nur  einen  Augenblick  in  den  ganzen  massiven  Teufelsglauben  Luthers 
und  seiner  Zeit,  in  die  allen  geläufige  Vorstellung,  daß  fortgesetzt 
der  Teufel  und  sein  Heer  das  Beich  Christi  und  seiner  Bekenner  zu 
zerstören  drohe,  daß  der  ganze  Geschichtsverlauf  ein  steter  gewaltiger 
Kampf  zwischen  dem  Teufel  und  Christus  ist,  und  man  wird  nicht 
nötig  haben,  dieses  Gemälde,  das  Luther  in  seinem  Lied  entwirft, 
erst  durch  eine  bewußte  Bezugnahme  auf  jene  neutestamentlicbeii 
Stellen  zu  erklären,  man  mag,  wie  Spitta  tut,  noch  so  sehr  betonei, 
daß  es  sich  eben  um  einen  großen  Entscheidungskampf  handle.  Wer 
will  beweisen,  daß  Luther  wirklich  in  diesen  Stellen  bei  Abfassung 
des  Liedes  ganz  gelebt  und  gedacht  habe?^) 

1)  Da  ich  überhaupt  die  Abh&ngigkeit  dee  liedee  von  jenen  Beatestament- 


Spitta,  Ein  fette  Borg  ist  unser  Gott  276 

Aber  vieUeicht  kann  uns  Spitta  doch  noch  davon  überzeugen, 
daß  LntlTer  mn  großes  Lied  mit  dem  festen  Blick  auf  jene  neu- 
teatamentlichen  Stoffe  geschaffen  habe. 

2.  Von  seiner  entschiedenen  Meinung  aus  geht  Spitta  dazu  über, 
die  Lage  zu  schildern,  in  der  der  Dichter  sich  befunden  haben  müsse, 
als  er  das  Lied  dichtete.  Lagen  ihm  die  Reden  Jesu  bei  Johannes 
(Joh.  14,  30;  16, 11)  im  Sinne,  so  muß  seine  Lage  der  Lage  Jesu 
entsprochen  haben,  als  dieser  vor  seinem  Leiden  den  letzten  Ansturm 
des  Teufels  zu  bestehen  hatte;  wie  dieser  so  muß  auch  der  Dichter 
>yor  einer  entscheidenden  Stunde  stehen,  auf  die  Satan  seine  ganze 
Hoffiiung  gesetzt  hat,  ihn  zu  Falle  zu  bringen«.  Steht  Luther  bei 
der  Dichtung  seines  Liedes  Eph.  6, 10 — 20  vor  der  Seele,  so  muß 
seine  Lage  entsprechend  der  des  Paulus  gewesen  sein,  als  dieser 
jene  Stelle  schrieb.  »Noch  steht  Paulus  vor  der  Entscheidung,  wo 
et  öffentlich  sich  verantworten  soll.  Er  hat  sich  auf  den  Kaiser  be- 
rufen ;  so  soll  er  denn  auch  vor  den  Kaiser  gestellt  werden  (Apg.  25, 12). 
Man  soll  für  ihn  beten,  daß  er  i^e,  wie  sich's  gebührt:  nicht  zag- 
haft, nicht  sich  und  seine  Sache  entschuldigend,  sondern  mit  freudigem 
Auftun  des  Mundes  als  der,  welcher  Christi  Sache  vertritt,  die  siegen 
muß.  Und  so  ist  es  ihm  auch  gegeben  worden,  wie  er  selbst  davon 
berichtet  IL  Tim.  4, 17.<  In  ganz  der  gleichen  Lage  zeigt  das  Lied 
unsem  Luther:  >Auch  er  steht  vor  der  einen  Verantwortung  des 
Eyangeliums,  bei  der  ihm  wohl  das  Zagen  ankommen  kann  und  für 
die  er  in  besonderem  Maße  der  Fürbitte  der  Gläubigen  bedarf«. 
Daß  Luther  endlich  vom  46.  Psalm  auch  auf  Apok.  12, 7 — 11  geführt 
wurde,  erklärt  sich  nur  aus  der  eigentümlichen  Stimmung,  in  der 
er  sich  bei  Abfassung  des  Liedes  befand.  Luther  erlebte  ein  irdisches 
Gegenstück  zu  jenem  apokalyptischen  Vorgang.  »Jetzt  wird  die  große 
Ekitscheidungsschlacht  geschlagen,  und  der  Dichter  des  Liedes  selbst 
ist  es,  dem  die  göttliche  Sendung  geworden  ist,  in  diesem  Kampf 
mit  Menschen  und  Teufeln  unter  dem  Feldherm  Jesus  Christus  zu 
fechten«.  —  Alles  sehr  geistreich,  in  einer  Predigt  sehr  wirkungs- 
voll, aber  haben  alle  diese  Ausführungen  nur  im  geringsten  festen 
Boden  unter  den  Füßen?  Sind  alle  Ausleger  des  Lutherlieds  blind 
gewesen,  daß  sie  das  alles  nicht  gesehen  haben? 

Welche  Lage  aber  läßt  sich  im  Leben  Luthers  bis  1521  finden, 
so  fährt  Spitta  fort,  die  auf  die  aus  dem  Liede  sich  ergebende 
Situation  so  vollkommen  paßt,  als  die  Lage,  in  der  sich  Luther  auf 

Stenen  leugne,  so  ist  f&r  mich  die  Frage,  die  Spitta  besonders  interessiert,  ob 
nimlich  diese  neatestamentlichen  SteUen  nach  dem  Urtext  oder  nach  der  Yolgata 
oder  nach  der  Lutherischen  Deb^setzung  von  1622  im  Liede  benntst  seien, 
gegenstandslos. 

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276  Gott  gel.  Am.  1906.  Nr.  4. 

seiner  Reise  zum  Reichstag  nach  Worms  befand?  Dies  sucht  Spitta 
so  zu  erweisen,  daß  er  zunächst  gegen  die  These  Tschackerts  sich 
wendet,  der  namentlich  aus  sprachlichen  Zusammenklängen  zwischen 
Predigten  Luthers  Über  Joh.  17  und  dem  Liede  den  Schluß  gezogen 
hat,  das  Lied  sei  zur  Zeit  der  Packschen  Händel  entstanden.  Daß 
mit  solchen  sprachlichen  Beweisen  allein  nichts  zu  machen  ist,  zeigt 
Spitta  meiner  Meinung  nach  ganz  schlagend,  indem  er  aus  der  Schluß- 
strophe des  Liedes  >Nun  freut  euch  lieben  Christen  gemein«  durch 
Vergleichung  mit  jenen  Johannes-Predigten  den  Beweis  erbringt,  daß 
das  Lied,  das  sicher  1524  erschienen  ist,  nur  1529  entstanden  sein 
könne.  Damit  beweist  er  tatsächlich,  wie  unzulänglich  die  Methode 
ist,  die  Tscbackert  verfolgt. 

So  hat  sich  Spitta  die  Bahn  freigemacht,  um  aus  der  Lage  und 
den  Schriften  Luthers  vor  und  während  seiner  Wormser  Reise  den  Be- 
weis zu  erbringen,  daß  sie  in  so  und  soviel  Stellen  nicht  nur  an  den 
46.  Psalm,  sondern  auch  an  jene  neutestamentlichen  Stellen,  vor 
allem  an  Eph.  6  anklingen.  In  der  Tat,  wenn  Spitta  dies  gelänge, 
wenn  er  uns  zeigen  könnte,  wie  sich  auch  damals  in  Luthers 
Aeußerungen  Ps.  46  und  Eph.  6  stetig  miteinander  verknüpfen,  so 
würden  wir  vielleicht  auch  glauben,  daß  hinter  dem  Lied  jene 
paulinischen  Gedanken  stünden.  Sehen  wir  zu,  was  Spitta  uns  zu 
sagen  hat. 

3.  Zunächst  zieht  Spitta  den  Brief  Luthers  an  Spalatin  vom 
21.  Dezember  1520  heran  ,^)  der  schon  deutlich  die  Grundlinien  von 
»Ein  feste  Burg<  enthalten  soll.  Hier  soll  von  Wichtigkeit  sein,  daß 
zwar  nicht  der  46.,  wohl  aber  der  ihm  nahe  verwandte  2.  Psalm  von 
Luther  zitiert  wird.  Aber  sieht  nicht  Spitta,  daß  dies  gerade  stark 
gegen  ihn,  nicht  für  ihn  spricht?  Wenn  Luther,  als  er  den  Brief 
schrieb,  von  starker  Glaubenszuversicht  erfüllt  war  und  er  drückt  diese 
mit  Worten  nicht  des  46.,  sondern  des  2.  Psalmen  aus,  so  ist  damit 
eben  bewiesen,  daß  er  damals  den  46.  Psalm  absolut  nicht  im  Sinne 
hatte.  Nun  soll  auch  bereits  Eph.  6  in  den  Brief  hereinwirken: 
Luther  schreibt:  >Ita  me  conf ortet  Dominus  Jhesus<;  und  >VaIe  et 
esto  robustus  in  Domino«.  Darin  soll  eine  Beziehung  auf  Eph.  6, 10 
liegen:  >de  cetero  fratres  confortamini  in  domino  et  in  potentia  vir- 
tutis  ejus«.  (Vulg.).  Das  erste  Wort  aus  dem  Briefe  kann  gar  nicht 
in  Betracht  kommen.  Denn  hat  Luther  etwa  auch  Eph.  6 ,  10  im 
Sinne  gehabt,  als  er  einen  Brief  vom  1.  Oktober  1520  mit  den 
Worten  schloß:   >Vale  jn  Domino   Jhesu  Christo,  qui  conf  ortet  et 

1)  de  Wette,  Luthers  Briefe,  1, 584f.  ==  Enders,  Luthers  Briefwechsel,  in,  93f. 
Der  Brief  ist  vom  29.  Besember,  wie  Enaake  in  Stud,  und  Krit.  1900,  274  ne- 
^eigt  hat. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  277 

serret  spiritum  et  intelligentiam  nostramc  ?  ^)  Und  das  zweite  Wort 
ist  schon  deshalb  nicht  aus  der  Epheserstelle  geflossen ,  weil  eben 
dieVnlgata,  die  doch  1521  für  Lather  noch  gelten  soll,  confortamini 
hat,  während  Luther  schreibt:  esto  robustus.  Und  sodann:  Wieviele 
Briefe  Lnthers  schließen  nicht  mit  der  Formel:  Vale  in  Domino! 
Wenn  er  hier  das  esto  robustus  noch  hinzufügt,  so  braucht  das 
wahrlich  nicht  aus  der  Epheserstelle  zu  fließen!  Oder  ist's  etwa 
auch  ein  Anklang  an  dieses  Bibelwort,  wenn  er  einen  Brief  an  die 
Evangelischen  in  Leipzig  am  11.  April  1533  mit  den  Worten  schließt: 
>Christas,  unser  Herr,  der  stärke  euch  und  sei  mit  euch,  Amen<?') 

Nun  soll  auch  dieser  Brief  schon  an  die  Situation  des  Paulus 
erinnern,  die  Luther  als  der  seinen  ganz  analog  erkennt!  War  doch 
Paulus  von  der  Zuversicht  erfüllt,  vor  dem  Kaiser  zu  seinem  Rechte 
zu  kommen,  wie  Luther  zu  Karl  V.  das  beste  Zutrauen  hegte,  wovon 
der  Brief  Zeugnis  gibt!  Ferner  soll  Luther  an  Paulus  (vgl.  Köm.  13) 
gedenken,  wenn  er  im  Rufe  des  Kaisers  zugleich  einen  Ruf  des 
Herrn  sieht!  Sind  das  nicht  alles  Willkürlichkeiten  und  wertlose  Re- 
flexionen? Es  ist  ein  andres,  ob  sich  uns  zwischen  den  Situationen 
zweier  Männer  eine  Analogie  aufdrängt,  ein  andres  ist  der  wirkliche 
Beweis,  daß  der  spätere  dieser  Männer  selbst  tatsächlich  diese  Ana- 
logie zu  seiner  Lage  empfunden  habe.  Wenn  Luther  damals  von 
Paulus  und  dessen  Schicksal  wiederholt  spräche,  dann  wäre  die  Sache 
klar.  Aber  aus  so  schwachen  Anklängen,  die  einer  Prüfung  absolut 
nicht  Stand  halten,  kann  man  gar  nichts  folgern. 

Spitta  glaubt  nun  aus  den  weiteren  Briefen  Luthers  vor  dem 
Reichstag  zu  Worms  immer  deutlicher  die  Töne  des  Liedes  heraus- 
zuhören. Gewiß,  die  Briefe  werden  immer  satter  und  stärker  von 
Glaubenszuversicht.  Aber  wenn  man  nicht  von  vornherein  überzeugt 
ist,  das  Lutherlied  gehöre  in  jene  Tage,  so  sind  alle  von  Spitta  vorge- 
brachten Anklänge  ohne  zwingende  Beweiskraft.  Ich  kann  nicht 
jedem  einzelnen  Punkt  nachgehen,  um  nicht  zu  breit  zu  werden,  nur 
einzelnes  sei  herausgehoben.  So  will  z.  B.  Spitta  in  dem  Briefe 
Luthers  an  Spalatin  vom  14.  April  (?)  1521 ")  wieder  die  Epheserstelle 
heraushören.  Schreibt  doch  Luther:  »intrabimus  Wormatiam  invitis 
omnibus  portis  infemi  et  potestatibus  aeris«.  Das  soll  eine  Nach- 
wirkung von  Eph.  6,  12,  verbunden  mit  Eph.  2,  2,  unter  Berührung 

1)  Enders,  a.  a.  0.  ü,  486. 

2)  £ri  A.  55,  8.  Ueberhaupt  findet  sich  dieser  Gedanke:  »Gott  stärke« 
(oder  ahnlich)  angezählte  Male  in  den  Briefen  Luthers,  zumal  am  SchluB.  Ich 
ferweise  beispielshalber  nur  noch  auf  folgende  Stellen:  Erl.  A.  58,  58.  184.  144. 
167.  172.  179.  182.  204.  268.  276  u.  s.  f. 

3)  De  Wette,  Lutherbriefe  I,  568 f.;  Enders,  Luthers  Briefwechsel  in,  120 f. 


278  Göte.  gel.  Anz.  190$.  Nr.  4. 

mit  Ps.  24,7  sein!  Daß  Luther  schreibt:  »dispone  ergo  hospitimn« 
soll  ein  Beweis  dafür  sein  ,  daß  Luther  an  die  Lage  des  Paulus 
denkt,  denn  in  der  Zeit  seiner  Gefangenschaft  schreibt  er  Philem.  22 : 
>simul  autem  et  para  mihi  hospitium<!  Als  Luther  in  Worms  aus 
dem  Wagen  stieg  und  das  Wort  sprach:  >Gott  wird  mit  uns  sein<, 
soll  ihm  Ps.  46,  8  im  Sinn  gelegen  haben:  >Der  .Herr  Zebaoth  ist 
mit  uns,  der  Gott  Jakobs  ist  unser  Schutze!  Der  Schluß  seiner 
Wormser  Rede:  »Gott  helfe  mir  —  Gott,  komme  mir  zu  Httlf<  soll 
aus  Ps.  46,  2:  »Gott  ist  eine  Hülfe  in  den  großen  Nöten«  geflossen 
sein!  Auch  als  Luther  1546  (man  beachte  das!)  von  seiner  Wormser 
Reise  sprach ,  ^)  soll  er  unwillkürlich  in  Wendungen  aus  Ps.  46  und 
Eph.  6  hineingekommen  sein!  Er  sagt:  > denn  ich  war  unerschrocken, 
fürchte  mich  nichts,  ...  Ich  weiß  nicht,  ob  ich  jetzt  auch 
so  freudig  wäre.<  Ps.  46,  3  ist  zu  lesen:  >Darum  fürchten  wir 
uns  nichts«  und  Eph.  6,  19.  20:  >auf  daß  mir  gegeben  werde  das 
Wort  mit  freudigem  Auftun  meines  Mundes;  daß  ich  darinnen 
freudig  handeln  möge  und  reden,  wie  sichs  gebühret. c  Ich 
glaube,  keine  dieser  angeblich  deutlichen  Beziehungen  von  Worten 
Luthers  zu  den  biblischen  Stellen,  die  nach  Spitta  damals  Luther 
im  Sinne  lagen,  werden  auf  einen  Historiker  einen  Eindruck 
machen.  Auch  die  Anhäufung  verfehlt  ihres  Eindrucks.  Denn  mit 
gleichem  Recht  könnte  man  auch  zeigen,  daß  Luther  irgend  eine 
andre  oder  mehrere  andre  Schriftstellen  damals  im  Sinne  lagen.  Mit 
gleichem  Rechte  könnte  ich  etwa  behaupten,  daß  Luther,  als  er  in 
dem  Brief  an  Spalatin  vom  14.  April  1521  die  Worte  schrieb: 
>Christus  vivit«,  IL  Korr.  13,  4  im  Sinne  gelegen  habe.  Oder  warom 
soll  ihm  nicht  bei  der  Formel:  >Ich  weiß  nicht,  ob  ich  jetzt  auch  so 
freudig  wäre«  ebenso  gut  I.  Thess.  2,  2  vorgeschwebt  haben?  Bfit 
Recht  hat  Spitta  Tschackert  gegenüber  auf  die  Gefahr  aufmerksam 
gemacht,  die  ein  Haschen  nach  sprachlichen  Anklängen  für  die 
Datierung  unsres  Liedes  in  sich  schließt.  Ist  er  selbst  dieser  Gefahr 
entgangen  oder  ist  er  ihr  erlegen? 

Und  nun  vergegenwärtige  man  sich  einmal,  ob  es  psychologisch 
denkbar  ist,  daß  ein  normaler  Mensch  seine  Gedanken  in  drei  oder 
vier  Bibelstellen  so  verstrickt,  daß  er  auch  nicht  das  einfachste  Wort 
schreiben  oder  sprechen  kann,  ohne  daß  ihm  dabei  nicht  eine  Phrase 
aus  jenen  Stellen  in  den  Mund  oder  in  die  Feder  kommt.  Rein  un* 
erträglich  ist  dieser  Gedanke.  Jeder  weiß,  daß  Luthers  Rede  von 
biblischem  Sprachgut  gesättigt  ist.  Wollten  wir  seine  Schriften  nach 
Anklängen  etwa  an  Eph.  6  durchmustern,  wir  würden  wahrscheinlich 
überall  und  immer  auf  Formeln  stoßen,  die  an  auch  dort  vorkommende 

1)  £il.  A.  64,  368. 


Spitta,  Ein  feste  Barg  ist  onser  Gott.  279 

Wendnngen  erinnem.  Also  auf  diesem  Wege  kann  man  nichts  er- 
reichen. 

Blicken  wir  zurück!  Weder  hat  uns  Spitta  davon  überzeugen 
können,  daß  dem  Liede  selbst  neben  Psalm  46  deutliche  Benutzung 
von  Apok.  12,  Eph.  6  und  den  Johanneischen  Jesusreden  zugrunde 
liegt,  noch  davon,  daß  Psalm  46  und  Eph.  6  wirklich  Luther  vor  und 
in  Worms  lebhaft  beschäftigt  haben,  noch  davon,  daß  er  seine  Situa- 
tion deutlich  als  die  des  Paulus  oder  die  von  Jesus  empfunden  habe. 
Möglich  ist  natürlich  alles  dies.  Aber  Möglichkeiten  sind  keine  Be- 
weise, und  so  muß  ich  leider  auch  hier  erklären:  Auch  von  dieser 
Seite  her  ist  Spitta  der  Beweis,  daß  Luther  sein  Lied  auf  der  Reise 
nach  Worms  gedichtet  habe,  nicht  gelungen. 

Es  bleibt  endlich  das  Zeugnis  der  Zeitgenossen.  Mit  Recht 
scheidet  Spitta  die  Angaben  von  Sleidan,  Seinecker  und  Walter 
(gegen  Orößler)  aus,  die  wertlos  für  die  Sache  sind.  Aus  den  Be- 
richten des  Chytraeus  (und  Coelestin)  stellt  er  in  sorgsamer  Unter- 
suchung fest,  daß  sie  angeben,  Luther  habe  das  Lied  >Ein  feste 
Burg«  vor  dem  Augsburger  Reichstag  —  nicht  verfaßt — ,  sondern 
veröffentlicht  (evulgavit).  Das  stimmt  gewiß  mit  dem,  was  bis- 
her über  die  Veröffentlichung  des  Liedes  bekannt  ist.  Allein  diese 
Angabe  besagt  gar  nichts  für  die  Entstehung  des  Liedes.  Damach 
kann  es  1521  oder  1527  oder  1529  entstanden  sein.  Nun  hat 
Größler  als  Zeugen  für  das  Jahr  1521  als  Abfassungsjahr  den 
Rostocker  Professor  und  Superintendenten  Simon  Pauli  (f  1591)  ins 
Feld  geführt.^)  An  drei  Stellen  seiner  iPostillac  behauptet  dieser, 
das  Lutherlied  sei  1521  in  Worms  von  Luther  gedichtet  worden.  Um 
diesem  Zeugnis  ein  möglichst  großes  Gewicht  zu  verschaffen,  hat 
Größler  auf  die  Bedeutung  dieses  Mannes  als  Gelehrten  und  speziell 
als  Hymnologen  nachdrücklich  aufmerksam  gemacht.  Ja,  er  legt  be- 
sonderen Wert  darauf,  daß  Pauli  vier  Jahre  in  Wittenberg  (wohl 
seit  1555)  verbracht  habe,  und  zwar  als  treuer  und  vertrauter 
Schüler  Melanchthons.  Von  wem  anders  als  von  Melanchthon,  so 
schloß  Größler  weiter,  kann  er  die  dreimal  mit  so  viel  Sicherheit 
vorgetragene  Angabe  über  die  Entstehung  des  Lutherliedes  haben? 
Mit  Recht  macht  Spitta  darauf  aufmerksam,  daß  dieser  Schluß  nicht 
zwingend  ist  und  daß  die  an  allen  drei  Stellen  von  Pauli  zitierten 
bekannten  Worte  Luthers,  er  werde  nach  Worms  gehen,  wenngleich 
dort  so  viele  Teufel  wären  als  Ziegel  auf  den  Dächern,  dem  Einwand 
immer  wieder  Boden  geben,  die  Ansicht  Paulis  von  der  Entstehung 
des  Liedes  im  Jahre  1521   beruhe  einzig  auf  dem  Zusammenklang 

1)  Vgl.  Mansfelder  Blätter  XVU  (1903),  S.  123  f.  und:  Wann  und  Wo  ent- 
stand das  Lutherlied  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott?  Magdeburg  1904,  S.  26 ff. 


280  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

jenes  Lutherwortes  mit  der  dritten  Strophe  des  Liedes  (S.  163). 
Nun  glaubt  aber  Spitta  das  Zeugnis  Paulis  dennoch  retten  zu  können. 
Pauli  habe  von  anderer  Ansicht  über  den  Ursprung  des  Liedes  ge- 
wußt, speziell  yon  Sleidans  Ansetzung  desselben  ins  Jahr  1530.  Wenn 
Pauli  trotzdem  eine  abweichende  Meinung  vertrete,  so  müsse  er 
seine  guten  Gründe  gehabt  haben,  es  müsse  eine  bestimmte  Tradition 
gegeben  haben,  die  die  Abfassung  des  Liedes  in  die  Wormser  Zeit 
verlegte.  Wäre  nur  die  Parallele  des  Liedes  zu  jenem  Lutherwort 
maßgebend  gewesen,  so  hätten  sich  aus  der  Augsburger  Zeit  eben- 
soviele  Parallelen  zum  Liede  finden  lassen.  Es  liege  also  nicht  der 
geringste  Grund  vor,  Paulis  Angabe  zu  mißtrauen. 

Ist  dieser  Schluß  zwingend?  Keineswegs.  Denn  wenn  Pauli 
wirklich  einen  anderen  Grund  für  seine  Datierung  des  Liedes  ge- 
habt hätte  als  jenes  Lutherwort  von  den  Ziegeln  auf  den  Wormser 
Dächern,  so  würde  er  es  ganz  offenbar  gesagt  haben,  um  die  andere 
Meinung  als  nichtig  zu  erweisen.  Jedenfalls  hat  zu  Paulis  Zeiten 
niemand  mehr  etwas  sicheres  über  die  Entstehung  des  Liedes  ge- 
wußt, und  der  eine  nahm  die  Wormser,  der  andere  die  Augsburger 
Zeit  an,  je  nachdem  ihm  dieser  oder  jener  Grund  einleuchtete.  Von 
einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  der  Frage  kann  damals  nicht 
die  Rede  sein.  So  fällt  mit  dem  Zeugnis  Paulis  auch  das  des  Luther- 
biographen Seidel  (1581)  dahin,  der  das  Lied  in  Oppenheim  vor 
Luthers  Einzug  in  Worms  entstanden  sein  läßt.  Endlich  hat  Spitta 
durch  Heranziehung  des  handschriftlichen  Textes  das  Zeugnis  Saxes 
in  seiner >  Beschreibung  von  Eyderstedt,  Everschop  und  Uthholm  usw.< 
aus  dem  17.  Jahrhundert,  auf  das  Achelis  und  Qrößler  mehr  oder 
weniger  Gewicht  gelegt  haben,  als  gegenstandslos  erwiesen. 

So  ist  denn  aus  der  Bezeugung  des  16.  Jahrhunderts  für  die 
Frage  nach  der  Datierung  des  Lutherliedes  nichts  stichhaltiges  zu 
entnehmen. 

Abschließend  ist  also  zu  sagen,  daß  uns  die  eingehenden  Unter- 
suchungen Spittas  in  Wirklichkeit  um  keinen  Schritt  in  jener  Frage 
vorwärts  gebracht  haben.  Wir  sind  heute  noch  ebenso  im  ungewissen 
über  die  Entstehungszeit  von  >Ein  feste  Burg«,  wie  wir  es  bisher 
waren.  Spittas  Untersuchungen  leiden  an  methodischen  Fehlern,  und 
daher  geht  ihnen  die  überzeugende  Kraft  ab. 

Es  wäre  wohl  möglich,  daß  das  Lied  1521  entstanden  sei.  Dann 
bliebe  freilich  höchst  auffallend,  warum  Luther,  als  er  1524  so  eifrig 
nach  Beiträgen  für  den  evangelischen  Qemeindegesang  sich  bemühte, 
sein  früheres  Lied  nicht  damals  schon  hervorgeholt  und  herausge- 
geben hätte.  Spitta  will  das  damit  erklären,  daß  diese  Dichtung 
Luthers  Ideal  einer  Psalmenumdichtung,  wie  er  es  im  Brief  an  Spa- 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  281 

latin  aufstellt,  nicht  entsprochen  habe.  Dieser  Grund  löst  sich  in 
sich  selbst  auf,  weil  Spitta,  wie  wir  gesehen  haben,  dieses  Ideal 
sicher  falsch  konstruiert.  Und  selbst  wenn  Spitta  recht  hätte,  so  wäre 
sein  Qrund  nur  dann  stichhaltig,  wenn  wir  Luther  als  einen  klein- 
lichen, schulfuxigen  Pedanten  kennten.  Uebrigens  sei  zum  Ueberflufi 
gegen  Spittas  Auffassung  auch  noch  geltend  gemacht,  daß  die  Ent- 
Wickelung,  die  er  in  diesem  Punkte  Luther  zuschreibt,  höchst  un- 
natürlich und  im  Widerspruch  mit  allem  ist,  was  wir  in  dieser  Be- 
ziehung von  ihm  wissen.  Nach  Spitta  soll  Luther  in  den  Jahren 
1516—1521  dem  biblischen  Text  völlig  frei  gegenüber  gestanden 
haben,  aber  1524  soU  er  auf  einmal  das  entgegengesetzte  Prinzip 
verfolgt  haben,  nämlich  möglichst  engen  Anschluß  an  den  Wortlaut. 
1528  bez.  1529  aber  gibt  er  das  Ein  feste  Burg  endlich  heraus,  also 
muß  er  damals  wieder  anderer  Meinung  über  das  Ideal  eines  Psalmen- 
liedes geworden  sein.  Was  für  ein  Zickzackweg!  Verfolgt  man  aber 
seine  Uebersetzertätigkeit  am  Psalter,  so  zeigt  sich,  daß  er  nicht 
nur,  wie  Spitta  selbst  sagt,  immer  mehr  der  Vulgata  den  Abschied 
gibt  und  sich  dem  Grundtext  zuwendet,  sondern  er  ringt  sich  auch 
immer  mehr  von  diesem  los  und  gestaltet  auch  in  der  Prosaüber- 
setzung den  einzelnen  Psalm  immer  mehr  zu  einer  freien,  selb- 
ständigen Dichtung.^)  In  diese  Entwicklung  paßt  ganz  und  gar 
hinein,  was  Luther  an  Spalatin  Anfang  1524  schreibt,  wenn  man  die 
Stelle  nur  richtig  interpretiert.  Spittas  Auffassung  dagegen  schafft 
eine  völlig  unverständliche  Entwickelung.  Schon  daran  geht  sie  in 
die  Brüche.  Damit  fällt  aber  für  Spitta  selbst  ein  Hauptgrund 
seines  Datierungsversuches  dahin,  denn  er  gibt  selbst  zu,  daß,  hätte 
>Ein  feste  Burg<  Luthers  Ideal  entsprochen,  sich  allerdings  kein 
Grund  finden  lasse,  warum  er  die  1521  verfaßte  Dichtung  nicht 
1524  und  erst  1528  oder  1529   veröffentlicht  haben  sollte  (S.  37  f.). 

3.  Die  anderen  Psalmenlieder  Luthers. 

a)  »Ach  Gott,  vom  Himmel  sieh  darein<.  Psalm  12. 
Spitta  behauptet,  daß  dieses  Lied  nicht  1523  oder  1524,  wie  man 
gewöhnlich  annimmt,  entstanden  sein  könne,  sondern  in  die  Zeit  vor 
der  Erklärung  Luthers  in  den  Operationes,  ^  also  auf  das  Jahr  1519 
oder  1518  zu  verlegen  sei. 

Prüfen  wir  seine  Gründe! 

Zunächst  geht  er  daran,  Bachmanns  Behauptung,  in  dem  Liede 
klinge  die  Psalmübersetzung  von  1522  nur  noch  in  einzelnen  Spuren 

1)  Vgl.  darüber  besonders  G.  Keyssner,  Die  drei  Psalterbearbeitongen 
Luthers  von  1524,  1528  und  1531.   Meiningen  1890. 

2)  VIT.  A.V,  368  ff. 


282  Gdtt.  gel.  Abs.  1906.  Nr.  4. 

an,  während  ihm  deutlich  die  Uebersetzung  von  1524  zugrunde 
li^fe,^)  als  irrig  zu  erweisen.  Ich  kann  nicht  behaupten,  daß  dieser 
Beweis  erbracht  sei.  Präft  man  vorurteilslos  die  Texte,  so  drängt  es 
sich  förmlich  auf,  wie  verwandt  die  Uebersetzung  von  1524  und  die 
Dichtung  miteinander  sind.  Spitta  meint  freilich,  diese  Verwandt- 
schaft beruhe  auf  der  Vulgata,  aus  der  das  Lied  geflossen  sei.  Aber 
diese  gemeinsame  Grundlage  erklärt  doch  keineswegs  die  deut- 
schen Gleich-  und  Anklänge  in  Uebersetzung  und  Lied.  Femer 
sagt  Spitta,  wo  das  Lied  von  der  Uebersetzung  von  1524  abweiche, 
gehe  es  auf  den  lateinischen  Text  zurück.  Diese  Behauptung  ist 
aber  nicht  richtig.  Denn  1.,  Str.  1,5:  >Dein  Wort  läßt  man  nicht 
haben  wahre  beruht  keineswegs  mit  Sicherheit  auf  der  Yulgata- 
stelle:  »diminutae  sunt  veritates«,  sondern  ist  höchst  wahrscheinlich 
ein  völlig  freigebildeter  Satz.^  2.,  Str.  4,5:  >Mein  heilsam  Wort  soll 
auf  dem  Plan«  soll  eine  Wiedergabe  der  Vulgata:  >ponam  in  saln- 
tari<  sein,  aber  nicht  der  Uebersetzung  von  1524:  >ich  will  ein 
Heil  aufrichten <.  Warum  nicht?  Es  ist  das  eine  wie  das  andere 
möglich.  Endlich  soll  Str.  5, 7 :  >und  leucht  stark  in  die  Lande«  die 
Vulgata  voraussetzen:  >probatum  terrae«.  Wie  wenig  das  zwingend 
ist,  beweist  Luthers  Auslegung  dieses  Psalmen  aus  dem  Jahre  1530.^ 
Auch  hier  hält  Luther  an  der  Auffistssung  von  1524  fest:  >ein  irdener 
Tiegel«  (in  vasis  fictilibus).^)  Aber  er  sagt:  >In  uns  exercet  unser 
Herr  Gott  das  verbum,  je  mehr  es  angefochten  wird,  je  lauterer  und 
reiner  es  wird«.  Und  dann:  >Qui  igitur  verbum  habet,  is  et  crucem 
habebit,  debet  autem  crux  prodesse  et  non  obesse.  Es  muß  also 
sein,  illa  crux  soll  heißen  ein  purgatio  et  probatio.  So  ists  auch 
uns  gangen:  Hätten  sie  uns  nit  also  gehäuet  und  getrieben,  das 
verbum  war  nimmermehr  so  lauter  an  Tag  kommen«.  Damit  ver- 
gleiche man: 

»Es  [das  Wort]  will  durchs  Kreuz  bewähret  sein, 
da  wird  sein  Kraft  erkannt  und  Schein 
und  leucht  stark  in  die  Lande«. 

Hier  wie  dort  derselbe  Gedanke,  ohne  daß  die  Vulgata  herangezogen 
wäre. 

Aber  zugegeben,  das  ganze  Lied  wäre  sogar  aus  der  Vulgata 
geflossen,  so  wttrde  das  nach  dem,  was  wir  oben  über  Luthers  Vul- 

1)  Zdtschr.  f.  kirchl.  Wissensch.  u.  kirchl.  Leben  Y  (1884),  S.  295. 

2)  Vgl  snr  SteUe  noch  die  Bemerkungen  unten  S.  284. 
8)  Erl.  A.,  op.  ex.  17, 104  (vgl.  deutsch  88, 119). 

4)  Ueberhaupt  h&lt  Luther  seit  dem  Betbüchlein  1522  (»in  irdischen  G«- 
f&ßenc)  an  dieser  Uebersetzung  fest. 


Spitta,  Ein  feete  Burg  ist  unser  Gott.  288 

gatabenntzung  gesagt  haben,  fUr  die  Datierung  des  Liedes  gar  nichts 
ausmachen.  Jedenfalls  könnte  niemand  daraus  den  Schluß  ziehen, 
das  Lied  könne  dann  nicht  1523  oder  1524  gedichtet  sein.  Sodann 
aber  ist  der  Schluß,  ein  Lied,  das  der  Psalmenttbersetzung  von  1524 
fernstehe,  könne  nicht  in  diesem  Jahre  verfaßt  sein,  auch  aus  folgen- 
den Erwägungen  falsch.  Wir  wissen  nicht  genau,  wann  die  Psalter- 
öbersetzung  Luthers  im  Jahre  1524  erschienen  ist.  Am  1.  September 
1624  schreibt  Luther  an  Heinrich  von  Zütphen:  >Ad  Michaelis  festum 
edetur  Psalterium  vemaculum  parvum«.^)  Damit  ist  unsere  Ausgabe 
gemeint;  aber  es  ist  auffallend,  daß  sie  als  >kleine<  bezeichnet  wird. 
Nun  ist  tatsächlich  Luthers  Psalter  —  außer  im  dritten  Teil  seiner 
Uebersetzung  des  Alten  Testaments  —  in  zwei  Sonderausgaben  1524 
erschienen:  die  erste  war  eine  Ausgabe  in  Quart-,  die  zweite  eine 
in  Oktavformat.  ^)  Die  letztere  meint  Luther  offenbar  in  jenem 
Briefe.  Dazu  stimmt,  daß  Milich  an  Blaurer  am  24.  Juni  1524  schreibt 
>Psalterium  Germanicum  excusum  est«.^)  Damit  wird  die  erste  oder 
Quartausgabe  gemeint  sein.  Also  ist  der  Psalter  doch  etwa  Anfang 
Juni  im  Manuskript  fertig  gewesen.  Diese  große  Arbeit  muß  aber 
Luther  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  zustande  gebracht  haben.  Denn 
wir  haben  eine  Uebersetzung  des  120.  Psalmen  vom  Februar  1524,^) 
die  ganz  erheblich  von  der  in  der  Ausgabe  von  1524  abweicht. 
Jene  ist  noch  ganz  von  der  Vulgata  abhängig,  wie  schon  darin 
sich  zeigt,  daß  sie  im  Präteritum  gehalten  ist,  dagegen  ist  die 
Uebersetzung  in  der  Ausgabe  von  1524  präsentisch  und  von  der 
Vulgata  Überhaupt  sehr  frei  gehalten.  Mag  immerhin  dieser  Psalm 
mit  zu  den  letzten  gehören,  die  Luther  neu  bearbeitete,  so  kann 
doch,  wenn  ein  Psalmlied  Luthers  noch  starke  Verwandtschaft  mit 

1)  Enders,  Luthers  Briefwechsel  V,  S.  15. 

2)  ErL  A.  37, 104. 

3)  Hartfelder,  Melanchthon.  Paedag.,  S.  141;  vgl.  S.  144;  Zeitschr.  f.  Eirchen- 
gesdt  XYU  (1897),  S.  408.  Auf  Grund  von  zwei  Briefen  an  Steph.  Roth  in 
Wittenberg  vom  18.  und  vom  20.  Mai  1524  (Archiv  f.  Gesch.  d.  deutschen  Bueh- 
faasdeli  16,  1898,  8.33)  nimmt  Köstlin-Kawerau,  Luther"  1,572  an,  der  Psalter 
sei  schon  im  Mai  1524  erschienen.  Indessen  die  Notiz  im  Brief:  >solche  bucher 
hab  ich  antworden  bis  auff  den  aynen  psalteriumc,  die  Buchwald  in  der  An- 
merkung mit  dem  Hinweis  auf  Luthers  Sonderausgabe  des  Psalters  glaubt  erklftrt 
zu  haben,  ist  ganz  dunkel  Und  aus  der  betreffenden  Notiz  des  Briefes  vom 
20.  Mai  ist  eher  zu  entnehmen,  daß  von  dem  dritten  TeQ  der  Uebersetzung  des 
Alten  Testaments  noch  nichts  erschienen  war,  sonst  würde  wohl  der  Briefschreiber 
eben  bestimmt  vom  Psalter  reden.  Wahrscheinlich  hatte  ihm  Both  mitgeteilt,  daa 
etwas  aus  diesem  dritten  Teil  n&chstens  erscheinen  werde,  und  nun  bittet  der 
Briefschreiber  um  Besorgung  dieses  Stückes  sofort  nach  seinem  Erscheinen. 

4)  Luthers  Trostschrift  an  die  Miltenberger  W.  A.  XV ,  54  ff.  Der  Psalm 
S.  74.  Vgl.  damit  Erl.  A.  37,226. 


284  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

der  Yülgata  und  wenig  oder  sogar  gar  keine  Verwandtschaft  mit  der 
Uebersetzang  von  1524  zeigt,  dieses  Lied  sehr  gnt  in  den  ersten 
Monaten  des  Jahres  1524  entstanden  sein. 

Viel  wichtiger  scheint  aber  ein  anderes  Beweisverfahren  Spittas 
zu  sein.  Er  nimmt  nämlich  die  Grosse  Luthers  zum  Psalter  von 
1513  ff.,  die  operationes  von  1519  ff.  und  die  Uebersetzungen  znr 
Hand  —  ein  Verfahren,  das  an  sich  sehr  richtig  ist  —  und  will 
durch  Vergleichung  mit  dem  Liede  jene  These  beweisen. 

Auch  hier  ist  es  unerläßlich,  ins  einzelne  einzugehen.  Folgende 
Stellen  des  Liedes  zieht  Spitta  in  Betracht:  1.  Str.  1,5:  > Dein  Wort 
man  läßt  nicht  haben  wahr<.  Durch  Vergleichung  dieses  Verses  mit 
der  Glosse,  den  operationes  und  den  Uebersetzungen  kommt  Spitta 
zu  dem  Schluß,  das  Lied  müsse  zwischen  den  operationes  und  der 
Glosse,  jedenfalls  vor  1519  abgefaßt  sein.  Er  geht  dabei  von  der 
Voraussetzung  aus,  daß  jener  Vers  auf  der  Vulgata  beruhe:  >dimi- 
nutae  sunt  veritates  [a  filiis  hominum]<.  Diese  wird  auch  noch  in 
der  Glosse,  die  einfach  scripturarum  hinzufügt,  anerkannt.  Lied  und 
Glosse  sollen  also  auf  Seiten  der  Vulgata  stehen.  Dagegen  habe  sich 
Luther  in  den  operationes  von  der  Auffassung  der  Vulgata  losgesagt 
—  hier  ersetzt  er  die  veritates  durch  fides  =  fidelitas,  Treue  — 
und  sich  angeschickt,  zur  Auffassung  der  deutschen  Uebersetzungen 
fiberzugehen.  Dagegen  ist  folgendes  geltend  zu  machen:  Es  ist  gar 
nicht  erwiesen,  daß  jener  Vers  auf  der  Vulgata  beruht.  Vielmehr 
hat  Luther  offenbar,  als  er  das  Lied  dichtete,  bereits  die  Erkenntnis 
der  operationes  gehabt,  denn  er  singt:  >Der  Glaub  ist  auch  ver- 
loschen gar,  bei  allen  Menschenkindern  <  —  eine  Stelle,  die  sich  auf- 
fallend mit  einem  in  den  operationes  zweimal  erscheinenden  Satz  be- 
rührt, der  die  betreffende  Stelle  (Psalm  12,22)  so  wiedergibt:  >inter 
homines  non  est  amplius  fides  <  und  >Vult  enim  dicere  non  esse 
amplius  fidem  in  hominibus<.^)  Daß  Vulgata,  Glosse  und  Lied  zu- 
sammengingen, kann  man  also  nicht  behaupten,  vielmehr  stehen 
Lied  und  operationes  zusammen.  Daraus  folgt  aber  mit  Bestimmt- 
heit, daß  es  falsch  ist,  zu  sagen:  das  Lied  muß  vor  1519  gedichtet 
sein.  Es  kann  nach  dem  Gesagten  sehr  gut  nach  1519  gedichtet 
sein.  Die  Uebersetzungen  von  1522  und  1524  haben  nun  beide  nicht; 
»der  Glaubec,  sondern  >die  Gläubigen<.  1522  liest:  »und  die  Gläu- 
bigen haben  abgenommen«  (deutlich  wirkt  in  dem  >haben  abge- 
nommen« noch  die  Phrase  aus  der  Vulgata:  »diminutae  suntc  nach), 
1524:  >und  der  Gläubigen  ist  wenig«.  Das  scheint  unser  Lied  von 
den  Uebersetzungen   ab   und   den   operationes   zuzuschieben.    Aber' 

1)  W.  A.  V,  370, 6  u.  14. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  285 

wenn  man  keine  weiteren  Gründe  hat  als  diesen,  so  wird  er  allein 
fichwerlich  ausreichend  für  eine  solche  Datierung  sein. 

2.  Str.  4, 5—7 :  »Mein  heilsam  Wort  soll  auf  den  Plan, 
getrost  und  frisch  sie  greifen  an 
und  sein  die  Kraft  der  Armen<. 

Spitta  behauptet,  und  mit  Recht,  daß  Luther  in  den  operationes 
der  Vulgata:  >ponam  in  salutari,  fiducialiter  agam  in  eoc  zwei  Ge- 
danken entnehme:  der  Glaube  an  Christus  als  Heilsgrund  und  die 
furchtlose  Verkündigung  des  Wortes  von  selten  der  Gläubigen.  Dieser 
doppelte  Gedanke  habe  auch  den  Ausdruck  in  den  hier  vorliegenden 
drei  Uebersetzungen  bestimmt:  1522:  >Ich  will  ein  Heil  aufrichten, 
davon  man  soll  freudig  wider  sie  handeln<;  1524  und  1528:  >Ich  will 
ein  Heil  aufrichten,  das  (so!  nicht  daß)  getrost  darin  handeln  soll<.^) 
Später:  >Ich  will  eine  Hülfe  schaffen,  daß  man  getrost  lehren  solle  Im 
liede  aber  fehle  der  Gedanke;  das  Wort,  die  Verkündigung  er- 
-scheine  hier  nicht  als  Folge  des  Glaubens,  sondern  allein  als  gött- 
liche Gabe.  Daraus  folge  ebenfalls,  daß  das  Lied  zwischen  die 
Glossen  und  die  operationes  zu  setzen  sei.  Wenn  nur  Spitta  die 
Uebersetzung  von  1524  richtig  zitiert  hätte!  Liest  man,  wie  er 
irrigerweise  angibt:  >Ich  will  ein  Heil  aufrichten,  daß  getrost  darin 
handeln  soll<,  so  hat  man  zwar  das  erwünschte  ut  consecutivum, 
aber  einen  Satz,  der  keinen  Sinn  gibt.  Liest  man  aber  richtig,  so 
ist  hier  genau  der  Gedanke  ausgesprochen,  wie  im  Lied:  das  von 
Gott  aufgerichtete  Heil,  d.  i.  sein  Wort,  soll  getrost  (wie  im  Lied) 
darin,  d.  h.  in  der  Not  der  Armen,  also  wider  ihre  Feinde  handeln. 
1526  zitiert  Luther  diese  Psalmstelle  auch  in  seiner  Auslegung  des 
Propheten  Habakuk,  und  zwar  in  derselben  Weise:  >Ich  wil  ein  heil 
auffrichten,  das  soll  frei  drynnen  handeln <.  Er  fährt  dann  fort: 
>wilchs  alles  so  viel  ist  gesagt:  die  weissagunge  von  Christo,  wenn 
sie  nu  erfüllet  werden,  so  wird  freigehen  und  erausbrechen,  das 
itzt  verborgen  ligt,  das  man  ynn  aller  weit  davon  predigen  und 
sagen  wird,  also  das  auch  niemand  hindern  kan,  wenn  sich  gleich 
die  pforten  der  hellen  dawiddersetzten.  Denn  das  ist  die  art  dieses 
Ebraischen  worts  *Frey  handeln',  das  es  heist:  frei  offinbar  erans 
faren  mit  reden  und  getrost  und  kecklich  von  eim  dinge  sagen, 
niemds  angesehen<.^)  Also  auch  hier  die  Gedanken  des  Liedes.  Ganz 
auf  dieser  Linie  liegt  auch  die  Erklärung  von  1530:  >£r,  d.i.  Gott 
selbst,  soll  frisch  und  fröhlich  (vgl.  das  >frisch<  im  Liede)  wider 

1)  Erl  A.  37,118;  BindseU-Niemeyer,  Martin  Luthws  Bibdabersetcung  III 
(1850),  S.  78. 

2)  W.A.XIX,392f. 


286  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Kr.  4. 

sie  reden<.^)  Endlich  kehrt  dieselbe  Auffassung  auch  in  den  Sum« 
marien  von  1533  wieder. ')  Also  auch  hier  liegt  keinerlei  Grand  vor, 
das  Lied  vor  1519  zu  setzen.  Gerade  die  angezogenen  Verse  stimmen 
trefflich  zur  Uebersetzung  von  1524. 

3.  Str.  5, 1—7 :  Das  Silber,  durchs  Feuer  siebenmal 
bewährt,  wird  lauter  funden. 
Am  Gottes  Wort  man  warten  soll 
Desgleichen  alle  Stunden. 
Es  will  durchs  Kreuz  bewähret  sein, 
da  wird  sein  Kraft  erkannt  und  Schein 
und  leucht  stark  in  die  Lande. 

Die  Vulgata  liest:  >Eloquia  domini  casta,  argentum  igne  exami- 
natum,  probatum  terrae,  purgatum  8eptuplum<.  Spitta  Mt  die 
Phrase:  »probatum  terrae«  als  für  ihn  wichtig  ins  Auge.  In  der  Glosse 
deutet  Luther  diese  Worte  mit:  »separatum  a  terrae^  wie  Hieio- 
nymus.  In  den  operationes  wendet  sich  Luther  von  dieser  Erklärung  ab 
und  Reuchlin  zu,  denn  einmal  sei  terrae  im  Hebräischen  Dativ,  so- 
dann lehre  Reuchlin,  daß  »aelil«  eine  Bezeichnung  für  ein  Gefäß  sei, 
worin  die  Metalle  geschmolzen  und  gereinigt  werden.  Man  könne, 
sagt  Luther,  die  Stelle  etwa  so  übersetzen:  > Argentum  liquatum  in 
liquatorio  terrae,  sive  ad  terram,  quod  sonat  in  rem  et  ad  usnm 
terrae,  hoc  est  quo  utantur  qui  in  terra  sunt,  scilicet  hominee«.^) 
Er  führt  dann  weiter  aus,  daß  das  Gefäß  die  Gläubigen  seien;  in 
ihnen  muß  das  Wort  geläutert  werden,  und  zwar  in  der  Anfechtung. 
Die  Gottlosen  wollen  von  solcher  Läuterung  nichts  wissen.  >Non  ergo 
intelligitur  nee  fructificat  eloquium  dei  nisi  mortificatis  et  tribulatis 
nobis,  hoc  est  nisi  propter  verbum  fortiter  impugnatis  et  tentatis, 
non  enim  tam  nos  quam  verbum  patitur  in  nobis«.  ^)  Die  lieber- 
Setzungen  nun  lauten  folgendermaßen:  1522:  »Das  Wort  Gottes  ist 
lauter,  wie  ein  durchfeuert  Silber  in  irdischen  Gefäßen,  siebenfältig 
ist  es  gereinigt«,^  1524:  >Die  Bede[n]  des  Herrn  sind  lauter  wie 
durchfeuert  Silber  im  irdenen  Tiegel,  bewährt  siebenmalc  ^  Seit  1528: 
>Die  Bede  des  Herrn  ist  lauter,  wie  durchläutert  Silber  im  erdenen 
Tiegel,  bewähret  siebenmal«.  In  den  Uebersetzungen  ist  also  das 
>terrae<  genetivisch  gefaßt:  >irdener  Tiegel«.  Nun  sagt  Spitta:  Im  Ued 

1)  Erl.  A.  op.  ex.  17,104. 

2)  ErLA.87,278. 

S)  W.A.  in,96,15  n.  88. 

4)  W.A.V,880,28ff. 

5)  W.A.  Y, 881.  ISC 

6)  ErLA.87,444. 

7)  ErL  A.  37, 118. 


Spitta,  Ein  f«8te  Barg  ist  miser  Gott.  287 

fehlt  die  Vorstellung  vom  irdenen  Tiegel,  dagegen  ist  die  dativische 
Fassung  des  terrae  deutlich  erkennbar.  >Auch  hier  also«,  so  schließt 
er,  »versteht  sich  der  Text  des  Liedes  nur  aus  der  Zeit  zwischen 
Glossen  und  Operationen  <.  Auch  dieser  Schluß  ist  yorschnell.  Hätte 
Spitta  die  Auslegung  des  12.  Psalms  von  1530  zur  Hand  genommen, 
80  hätte  er  sich  überzeugen  können,  daß  seine  Meinung,  das  Lied 
zeige  die  >  dativische  <  Auffassung  des  terrae  wegen  der  beschriebenen 
Wirkung  des  Wortes,  falsch  ist.  Wie  1522,  so  hält  auch  Luther  1580, 
wie  überhaupt  immpr,  an  der  genetivischen  Auffassung  fest.  Ausdrück- 
lich erklärt  er  den  Ausdruck  >in  vasis  fictilibus«  mit  den  Worten: 
>ya8a  terrae  seu  terrena  et  fictilia  vasa  nos  sumus«.^)  Dann  aber 
spricht  er  trotzdem  von  dem  Kreuz  und  von  dessen  Erfolg  vor  der 
Welt,  wie  ich  oben  schon  gezeigt  habe.  Also  ist  aus  dem  Verhältnis 
der  fünften  Strophe  zu  den  operationes  gar  nichts  für  die  Abfassung 
des  Liedes  zu  schließen,  am  wenigsten,  daß  sie  vor  die  operationes 
zu  setzen  sei.  Diese  fünfte  Strophe  kann  in  der  Zeit  von  1519  bis 
1530  und  auch  noch  nachher  gedichtet  sein. 

4.  Str.  6,1:  >Das  wellst  du,  Gott,  bewahren  reine  Hier  ist 
Spitta  ein  handgreiflicher  Irrtum  untergelaufen.  Er  meint,  Luther 
habe  die  in  den  operationes  vorgetragene  Auffassung:  »servabis  eos< 
»  die  Heiligen  oder  auch  die  Gottlosen  zwar  noch  nicht  1522,  aber 
1624  in  seiner  Uebersetzung  und  später  vorgetragen.  Allein  das  ist 
nicht  richtig.  Die  Auffassung  in  den  operationes  hat  Luther  über- 
haupt verlassen  und  als  Objekt  des  >Bewahrens<  1522,  1524,  1528 
und  im  Lied  das  »Wort<  angesehen.  Wenn  die  Uebersetzung  von 
1524  lautet:  >Du,  Herr,  wollest  sie  bewahren«  (1522:  Gott,  du 
wollest  es  erhalten),  so  bezieht  sich  das  auf  die  >Beden  des  Herrn« 
zurück,  die  vorherstehen.  Das  Lied  schließt  sich  also  weder  der 
Glosse  noch  den  operationes,  sondern  der  Auffassung  von  1522,  1524 
und  später  ^  an.  Auch  mit  diesem  Beweise  hat  Spitta  also  daneben- 
gegriffen. 

5.  In  Str.  6,7  sollen  die  Worte  »in  deinem  Volk«  im  Wider- 
spruch mit  den  Uebersetzungen  und  mit  der  in  den  operationes  vor- 
getragenen Exegese  stehen.  Hier  begleitet  Luther  die  Erklärung  der 
diesbezüglichen  Vulgatastelle :  >filios  hominum«,  die  die  Väter  bieten, 
darunter  nämlich  die  »filii  dei<  zu  verstehen,  mit  der  halb  ablehnen- 

1)  Erl.  A.,  op.  ex.  17, 104;  deutsch  38, 119. 

2)  YgL  ErL  A.  87,444;  118;  BindseU- Niemeyer,  M.  Luthers  Bibelflber- 
setznng  III  (1850),  S.  79;  op.  ex.  17,  105  erklärt  Luther  die  betr.  Worte:  „Lieher 
Herr,  laS  uns  dabei  (d.  h.  bei  den  Reden  des  Herrn,  eloquia  domini)  bleiben,  wir 
könnens  aUeine  nicht  erhobene.  Also  von  den  Heiligen  ist  gar  nieht  die  Rede.  — 
Vgl.  auch  das  Zitat  Ps.  12,7  in  der  Schrift:  Wider  die  himsdisdieD  Propheteo, 
wovon  unten  noch  die  Rede  sein  wird. 


'ä88  Gatt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

den  Bemerkung :  >  Quorum  sententiam  non  damno,  sed  literalem  esse 
non  credo<.^)  In  den  Uebersetzungen  bietet  Luther  1522:  >unter 
den  Leuten«,  1524  und  1528  »unter  den  Menschenkindern«;  später, 
seit  1531:  > unter  den  Menschen«.  ^)  Luther  könne  also,  so  meint 
Spitta,  wohl  kaum  nach  1519  die  Worte  >in  deinem  Volke«  ins  Lied 
gesetzt  haben,  die  er  doch  1519  als  mit  dem  Schriftbuchstaben 
streitend  bezeichne.  Nun  hat  aber  Luther  in  seiner  Erklärung  des 
12.  Psalmen  1530  das  >inter  filios  hominum«  von  dem  Volke  Gottes 
verstanden.  Er  schreibt:  »Wo  die  n^>T  ins  Predigtamt  kommen, 
so  kann  Niemand  das  Volk  erhalten  . . .  Est  insigne  nomen,  quasi 
diceret:  Devorant  populum  meum,  quaerunt  suum  ventrem  pascere«.^ 
Wer  will  also  aus  den  Uebersetzungen  von  1522  (»Leute«)  und  1524 
(»Menschenkinder«)  den  Schluß  ziehen,  er  habe  dabei  nicht  ebenso 
gedacht?  Endlich  hat  aber  Spitta  hier  plötzlich  die  Glosse,  die  ge- 
rade recht  ¥Fichtig  ist,  ganz  außer  acht  gelassen;  hier  versteht 
Luther  unter  den  >filii  hominum«  die  principes  nach  Prov.  28,  2. 
Hätte  Spitta  mit  seiner  Annahme  recht,  so  ergäbe  sich  also  folgende 
Kette  für  Luthers  Deutung  der  >filii  hominum« :  1.  in  der  Glosse  1519: 
die  Fürsten;  2.  im  Lied:  das  Volk  Gottes;  3.  in  den  operationes:  die 
Gottlosen;  4.  1522  und  1524  dasselbe;  5.  1530:  das  Volk  Gottes.  Ist 
das  eine  wahrscheinliche  Reihe?  Spricht  nicht  alles  dafür,  daß  das 
Lied  zwischen  der  Uebersetzung  von  1524  und  der  Auslegung  von 
1530  anzusetzen  ist?  Zu  alledem  kommt  hinzu,  daß  gerade  die  letzten 
Verse  des  Liedes  deutliche  Verwandtschaft  mit  der  Uebersetzung 
von  1524  und  der  von  1528  zeigen.  Hier  übersetzt  Luther:  »Es 
sind  Gottlosen  umb  und  umb,  wenn  unter  den  Menschenkindern  die 
Losen  erhöhet  werden«. 

6.  Str.  2,5—7  (richtiger  3—7): 

»Hur  Herz  nicht  eines  Sinnes  ist, 
in  Gottes  Wort  gegründet. 
Der  wählet  dies,  der  andre  das, 
sie  trennen  uns  ohn  alle  Maß 
und  gleißen  schön  von  außen«. 

Die  Vulgatastelle :  »in  corde  et  corde  [locuti  sunt]«  erklärt  die 
Glosse  durch  den  Zusatz:  »vel  duplici,  alitor  sciebant,  alitor  docue- 
runt«.^)  Diese  Auflassung  läßt  Luther  in  den  operationes  als  möglich 
gelten,  zieht  aber  die  Deutung  auf  verschiedene  Personen  vor:  die 

1)  W.  A.  V,  884, 20. 

2)  ErLA.  87,444;  118;  88,116. 

8)  ErL  A.  op.  ex.  17,105;  deuUch  88,120. 
4)  W.A.ni,96,l. 


Spitta,  Ein  feste  Borg  ist  unser  Gott.  289 

impii  sind  unter  einander  uneins:  »quia  vera  et  unica  fides  deest, 
impossibile  est,  ut  uno  corde  sint,  sed  necesse  est,  partium  studia 
factionesque  inter  eos  abundare.  Nunquam  enim  orta  est  secta,  ex 
qua  non  mox  aliae  sint  natae  . . .  Quare  divisionem  istam  sectarum  per 
divisionem  cordis  intelligendam  putoc!^)  1522  übersetzt  Luther: 
»sie  predigen  wider  ihr  Gewissenc;')  1524  und  1528:  »und  reden 
Heuchelei  mit  uneinigem  Herzen«;  1531:  >und  lehren  aus  uneinigem 
Herzen«;^  1530  gibt  er  dazu  die  Erklärung :  »Id  est,  diverse  corde, 
sie  haben  ein  falsches  Herz,  sie  gebens  blande  für  mit  Worten,  und  habens 
anders  im  Herzen,  sie  sind  eitel  Lügner.  Ratio  est,  quia  sunt  incerti 
in  corde.«  ^)  Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  das  Lied  der  Auffassung 
Luthers  in  den  operationes  am  nächsten  steht.  Daß  es  aber  vor 
diese  falle,  zu  dieser  Annahme  liegt  keinerlei  Grund  vor.  Aber  auch 
das  kann  man  nicht  behaupten,  daß  die  Auffassung  des  Liedes  im 
Widerspruch  stände  mit  Luthers  Uebersetzung,  bez.  Erklärung  von 
1524  und  1530.  Gewiß  denkt  Luther  1530  nicht  an  eine  Meinungs- 
verschiedenheit der  Sektierer  untereinander,  sondern  an  die  Glaubens- 
unsicherheit der  Einzelnen  in  ihrer  Mitte.  Aber  wie  nahe  liegt 
diesem  Gedanken  jener!  Auch  hier  steht  es  so:  Einen  Beweis  da- 
für, daß  das  Lied  nicht  1524  gedichtet  sein  könne,  hat  man  nüt 
dieser  Sachlage  nicht  in  der  Hand.  Wer  wollte  behaupten,  Luther 
habe  unmöglich  1524  so  dichten  können,  wie  die  Worte  lauten? 
Offenbar  war  er  in  der  Auffassung  der  Stelle  nicht  völlig  sicher. 
Das  sind  die  Stellen  des  Liedes,  aus  denen  Spitta  durch  Ver- 
gleichung  mit  Glosse  usw.  den  Beweis  erbringen  will,  daß  das  Lied: 
»Ach  Gott,  vom  Himmel  sieh  darein«  zwischen  1513  und  1519  ge- 
dichtet sein  müsse.  Unsere  Prüfung  der  einzelnen  Beweise  wird  ge- 
zeigt haben,  ob  Spitta  ein  Recht  hat,  mit  aller  Zuversicht  zu  be- 
haupten: »Aus  den  obigen  Untersuchungen  ergibt  sich,  daß  von 
einer  Abfassung  des  Liedes  im  Jahre  1523  keine  Rede  sein  kann. 
Es  wird  vielmehr  in  das  Jahr  1518  oder  1519  zu  setzen  sein«  (S.  64). 
Dieser  Beweis  ist  nicht  erbracht.  Im  Gegenteil  können  wir  nach  un- 
seren Untersuchungen  entschieden  behaupten:  zwischen  der  Glosse 
und  den  operationes  kann  das  Lied  unmöglich  entstanden  sein.  Zu- 
zugeben ist,  daß  das  Lied  in  manchen  Einzelheiten  den  operationes 
nahesteht.  Ich  wiederhole,  daß  die  Verse  Str.  1,6 f.: 

»Der  Glaub  ist  auch  verloschen  gar 

bei  allen  Menschenkindern« 

1)  W.A.V,  371,2eff. 

2)  Erl.A.  37,444. 

3)  Bindseil-Niemeyer,  a.  a.  0.  S.  78. 

4)  Erl.  A.  op.  ex.  17,103;  deutsch  38,117. 

Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  4.  20 


290  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

an  den  Satz  in  den  operationes  erinnert:   »inter  homines  non   est 
amplius  fides« ;  und  daß  Str.  2, 5  f.  : 

»Der  wählet  dies,  der  andre  das, 

sie  trennen  uns  ohn  alle  Maße 
der  Auffassung  der  operationes  entspricht.  Ich  füge  hinzu,  daß  sich 
in  den  operationes  zu  Psalm  12,9  der  deutsche  Satz  findet:  »Sie 
sammeln  sich  mit  hauffen  und  gehn  dahync,^)  was  an  den  Vers 
Str.  6,5  anklingt:  »der  gottlos  Hanf  sich  umher  findtc.  Aber  damit 
ist  auch  die  Verwandtschaft  zwischen  Lied  und  operationes,  die  hier 
in  Betracht  kommen  könnte,  erschöpft.  Diese  parallelen  Stellen 
kommen  aber  gegen  die  Verwandtschaft  des  Liedes  mit  der  Ueber- 
setzung  von  1524,  die  man,  noch  einmal  sei  es  gesagt,  nicht  mit  der 
Bemerkung  abtun  kann,  sie  beruhe  lediglich  auf  der  beide  Male  be- 
nutzten Vulgata,  und  mit  der  Auslegung  von  1530  gar  nicht  in  Be- 
tracht. Zieht  man  noch  die  allerdings  nicht  häufigen  Zitate  des 
12.  Psalmen  in  den  Jahren  1525  und  1526  in  Betracht,  so  findet  sich, 
daß  sich  hier  die  Auffassung  immer  mit  der  des  Liedes  deckt.  Von 
der  wichtigsten  Stelle  aus  dem  Habakukkommentar  von  1526  war 
schon  die  Rede.  In  der  Vorlesung  über  Sacharja  1525/26  führt 
Luther  Psalm  12,7  an,  um  daraus  zu  beweisen,  daß  unter  argentum 
das  ministerium  verbi  zu  verstehen  sei.^  Denselben  Vers  zitiert  er 
in  den  Predigten  über  das  2.  Buch  Mose  (1526),  um  damit  den  Satz 
zu  belegen:  > Argentum  praedicatio  Christiana  est<.^)  In  den  Vor- 
lesungen über  Maleachi  von  1526  zitiert  Luther  dieselbe  Stelle  und 
fügt  hinzu:  »Verbum  dei  in  se  quidem  purissimum  est,  at  in  nobis 
purgatur  de  die  in  diem,  quia  nos  purgamur  per  ipsum<.  Das 
stimmt  freilich  auch  mit  der  Auffassung  des  argentum  in  den  opera- 
tiones, aber  ebenso  mit  der  im  Lied.  So  kann  man  jedenfalls  daraus 
keinen  Grund  gegen  die  Abfassung  des  Liedes  im  Jahre  1524  ent- 
nehmen.^) 

Nun  hat  aber  Luther,  und  das  ist  wichtig,  den  12.  Psalm  schon 
in  der  Schrift:  »Wider  die  himmlischen  Propheten«  1524  angeführt, 
und  zwar  gleich  im  Eingang.  »Erstlich«,  so  sagt  Luther  da,  »daß 
jedermann  mit  ganzem  Ernst  Gott  bitte  um  rechten  Verstand  und 
um  sein  heiliges,  reines  Wort,  angesehen,  daß  unter  so  mächtigen 
Fürsten  und  Gott  dieser  Welt,  dem  Teufel,  gar  nicht  in  unsrer 
Macht  stehet,  weder  den  Glauben  noch  Gottes  Wort  zu  erhalten, 

1)  W.A.  V,88S,19. 

2)  W.A.  Xni, 609,  soff. 
8)  W.A.  XVI,  599,  29  f. 
4)  Dem  Zitat  Ps.  12,5  in  den  iVorlesangen  über  Zephania   1626,  W.A. 

Xni,  468,  ist  nichts  zu  entnehmen. 


Spitta,  Ein  feste  Borg  ist  unser  Gott  291 

sondern  es  muß  allein  göttliche  Gewalt  da  sein,  die  es  beschirme, 
wie  der  12.  Psalm  gar  fein  bet  und  spricht:  die  Wort  Ootts  sind 
rein,  durchläutert  siebenmal:  du  Herr  wolltest  sie  erhalten  und  be- 
hüten für  diesem  Geschlecht  ewiglich.  Denn  Gottlosen  herum  und 
um  sind,  wo  die  losen  Leute  aufkommen.  Vermessen  wir  uns,  daß 
wirs  haben  und  sorgen  nicht,  wie  wirs  behalten,  so  ists  bald  ver- 
loren«.^) Nicht  allein,  daß  auch  hier  die  Auffassung  des  Psalmen  mit 
der  im  Liede  sich  völlig  deckt,  diese  Stelle  legt  auch  die  Vermutung 
nahe,  weshalb  Luther  gerade  diesen  Psalm  zu  einem  Lied  umge- 
dichtet habe. 

Spitta  sagt,  auch  dieses  Lied  verdanke  seine  Entstehung  nicht 
dem  Wunsche  Luthers,  der  Gemeinde  Psalmenlieder  zu  verschaffen, 
sondern  seinem  rein  persönlichen  Bedürfnis.  >Aus  den  Operationen 
sehen  wir,  in  welchem  Maße  der  12.  Psalm  Luther  als  ein  Lied  aus 
seiner  eigenen  Lage  gedichtet  erschien.  Dieser  Empfindung  verdankt 
der  12.  Psalm  auch  seine  Aufnahme  in  das  Betbüchlein  von  1522 
unter  der  Ueberschrift :  ,Der  elft  Psalm,  zu  beten  um  Erhebung  des 
heiligen  Evangelien'.  Gegen  die  Annahme  einer  für  den  Gottes- 
dienst bestimmten  Psalmendichtung  spricht  auch,  daß  Luther  gleich 
in  der  ersten  Zeile  den  Wortlaut  des  Psalms  ,Hilf,  Herr'  verläßt 
und  Psalm  14,5  ,Der  Herr  schauet  vom  HimmeP  herübemimmt . . . 
Auch  sonst  geht  das  Lied  mannigfach  über  den  Rahmen  einer  bloßen 
Uebersetzung  hinaus.  Vor  allem  ist  es  eine  stark  leidenschaftliche 
Stimmung,  die  das  ganze  Lied  durchflutet  und  es  im  Verhältnis  zu 
dem  Psalmoriginale  nicht  kirchlich  stilisiert,  sondern  im  Gegenteil 
ihm  noch  einen  starken  Zusatz  persönlicher  Stimmung  gibt«  (S.  64  f.). 
In  diesen  Worten  ist  mit  Recht  der  stark  persönliche,  ja  leidenschaft- 
liche Charakter  des  Liedes  hervorgehoben.  Es  muß  aus  einer  sehr 
erregten  Stimmung  Luthers  hervorgegangen  sein.  Und  zwar  muß 
sich  diese  Stimmung  gegen  Verfälscher  des  Evangeliums  gerichtet 
haben,  die  er  nicht  nur  auf  selten  der  katholischen  Kirche  sucht. 
In  keiner  Zeit  aber  trat  ihm  die  neue  Irrlehre  so  erschreckend  ent- 
gegen, regte  sie  ihn  so  tief  auf,  als  in  den  Jahren  1523  und  1524. 
Karlstadt,  Münzer,  Strauß  forderten  damals  gerade  Luthers  ganze 
Gegenwirkung  heraus.  In  dieser  Stimmung  schrieb  er  seine  kraftvolle 
Schrift:  Wider  die  himmlischen  Propheten,  und  was  liegt  näher  als 
die  Annahme,  daß  er  damals  auch  die  Umdichtung  des  12.  Psalmen 
vornahm?  Denn  Zufall  ists  doch  nicht,  daß  er  gerade  diesen  Psalm 
und  daß  er  ihn  gerade  so  umdichtete.  Dann  ist,  wendet  freilich 
Spitta  ein,  das  Psalmlied  nicht  eine  Zweckdichtung,  nicht  aus  dem 

1)  Erl.  A.  29, 137. 

20* 


292  Gott  gel.  AnE.  1906.  Nr.  4. 

Wunsche  geboren,  der  Oemeinde  nur  Lieder  zn  geben;  das  aber  bat 
Luther  bei  seinem  Dichten  1524  bestimmt.  Also  kann  das  Lied  nicht 
in  diese  Zeit  gehören.  Hier  stoßen  wir  auf  eine  jener  vorgefaßten 
Meinungen  Spittas,  die  sich  durch  sein  ganzes  Buch  hindurchziehen 
(z.  B.  S.  77)  und  die  äußerst  yerhängnisvoU  sind.  Er  hat  sich  einen 
Begriff  von  >  gottesdienstlichen  c  Liedern  zurechtgemacht,  der  völlig 
verkehrt  ist.  Als  ob  eine  Dichtung,  die  offenbar  aus  starker  persön- 
licher Erregung  heraus  geschaffen  ist,  nicht  zugleich  zu  dem  Zweck 
gedichtet  sein  könnte,  der  Gemeinde  damit  zu  dienen!  War  die 
Schrift:  Wider  die  himmlischen  Propheten  eine  aus  persönlichster 
Erregung  heraus  geborene  Schrift?  Ganz  gewiß!  War  diese  Schrift 
nicht  eine  Zweckschrift  im  vollendetsten  Sinn  des  Wortes,  entstanden, 
um  die  Gemeinde  vor  Irrlehre  zu  warnen?  Ganz  gewiß!  So  gut 
nun  eine  Schrift  diese  Doppelseitigkeit  tragen  kann,  so  gut  auch 
eine  Dichtung,  zumal  Luther  ja,  noch  einmal  sei  es  wiederholt, 
keineswegs  eine  sklavisch  treue,  wörtliche  Uebersetzüng  bei  den 
Psalmdichtungen  im  Auge  hatte,  wie  Spitta  irrig  und  sich  selbst 
irreführend  annimmt.  Luther,  in  tiefer  Erregung  über  die  neuer- 
lichen Vorgänge,  will  mit  diesem  Lied  die  Gemeinde  zum  Gebet 
wider  die  Verwirrung  des  Wortes  Gottes  aufrufen,  ihr  dies  Gebet 
in  den  Mund  legen.  Man  vergleiche  nur  zu  diesem  Gedanken  die 
eben  angeführten  Worte  aus  Luthers  großer  Streitschrift.^) 

Also  auch  die  Vergegenwärtigung  der  Lage  Luthers  1524  kann 
uns  nur  in  der  Annahme  bestärken,  das  Lied  sei  1524  (oder  1523) 
entstanden.  Wenn  ich  im  vorstehenden  einen  Grund  Spittas,  den  er 
fUr  seine  Datierung  des  Liedes  noch  angeführt  hat,  unberücksichtigt 
gelassen  habe,  so  geschah  es  deshalb,  weil  er  einer  ernsten  Wider- 
legung nicht  wert  ist.  Der  Vollständigkeit  halber,  und  weil  eine 
dabei  vorgelegte  Konjektur  wohl  Beachtung  verdient,  sei  er  aber 
angeführt.  Spitta  schlägt  vor,  in  Str.  3, 1  zu  lesen :  Gott  wollt  aus- 
rotten alle  gar,  statt:  alle  Jahr.  Diese  Lesart  scheint  sich  um  der 
Beseitigung  einer  logischen  Verworrenheit  des  Textes  willen  tat- 
sächlich zu  empfehlen.  Lasen  doch  auch  einige  beachtenswerte  Drucke 
des  16.  Jahrhunderts  ebenso.^ 

b)  >Es  spricht  der  Unweisen  Mund  wohl.«    Ps.  14. 

Um  die  Entstehungszeit  dieses  Liedes  festzustellen,  schlägt  Spitta 
den  gleichen  Weg  wie  bei  dem  eben  untersuchten  Liede  ein.  Er 
prüft  zunächst  das  Verhältnis  zwischen  dem  Lied,  der  Uebersetzüng 

1)  Vgl.  auch  Luther  über  den  12.  Ps.  in  den  Summarien  (1638)  ErL  A. 
37, 278. 

2)  Vgl.  Zelle,  Das  älteste  lath.  Haus-Gesangbuch  S.  102,  Anm.  zu  Z.  7. 


Spitta,  Ein  feste  Barg  ist  unser  Gott.  298 

von  1524  und  der  Vulgata.  Dabei  kommt  er  zu  dem  Schluß,  daß 
das  Lded  keineswegs  die  Uebersetzung  von  1524  voraussetze,  und 
daraus  folgert  er:  > Somit  ist  die  Zeit  vor  1524  zunächst  frei  für 
das  Datum  der  Abfassung  des  Liedes  <  (S.  70).  Zugegeben,  er  hätte 
mit  der  ersten  Behauptung  recht,  so  folgt  daraus  keineswegs  schon 
die  zweite.  Spitta  tut  so,  als  wäre  die  Psalmenübersetzung  am 
1.  Januar  1524  fix  und  fertig  gewesen.  Wir  haben  oben  gesehen, 
daß  das  nicht  richtig  ist  und  daß  wir  vielleicht  gut  zwei,  drei  Monate 
des  Jahres  1524  offen  haben  für  die  Entstehung  eines  Psalmliedes 
Luthers. 

Aber  auch  die  erste  Behauptung  steht  auf  schwachen  Füßen. 
Wieder  muß  ich  sagen,  daß  Spitta  so  tut,  als  sei  die  Vulgata 
eine  alte  deutsche  Uebersetzung.  Wäre  sie  das,  dann  hätte  er 
wohl  ein  Recht  zu  sagen:  Klingen  Lied,  Uebersetzung  und  Vulgata 
zusammen,  so  ist  anzunehmen,  daß  jene  beiden  ersten  aus  der  Vulgata 
geschöpft  haben.  Aber  wenn  man  fest  im  Auge  behält,  daß  es  sich 
bei  der  Vulgata  um  eine  lateinische  Uebersetzung  handelt,  die 
sowohl  im  Lied  wie  in  der  Uebersetzung  verdeutscht  wird,  so 
muß  es  doch  ins  Gewicht  fallen,  wenn  Lied  und  Uebersetzung  für 
einen  lateinischen  Ausdruck  ein  und  denselben  deutschen  Ausdruck 
bringen.  Es  gibt  doch  für  ein  lateinisches  Wort  wahrlich  nicht  nur 
ein  einziges  entsprechendes  deutsches!  Wenn  z.  B.  die  Vulgata 
Ps.  14,  1  liest:  >corrupti  sunt«,  so  läßt  sich  das  Wort  doch  wahrlich 
noch  anders,  als  nur  durch  > verderbte  übersetzen.  Hätte  Luther 
dafür  nicht  ganz  gut  auch  > verkehrte  setzen  können?  In  der  Aus- 
gabe des  Psalters  von  1528  setzt  er  dafür:  > verdorbene;  seit  1531 
übersetzt  er  es  mit:  >sie  taugen  nichts <.^)  Im  Lied  und  in  der 
Uebersetzung  lesen  wir  aber  beidemale:  »verderbet«.  Oder  kann 
Spitta  nachweisen,  daß  Luther  überall  und  immer  das  lateinische 
>corrupti€  so  und  nicht  anders  wiedergibt?  Oder  das  folgende  Wort 
der  Vulgata:  >abominabiles<  übersetzt  Luther  in  der  Psalter- Ausgabe 
1524  und  1528  mit:  > greulich«;  im  Lied  sagt  er:  [ihr  Wesen]  ist 
für  Gott  ein  > Greuel«  gar.^  Beidemale  also  dasselbe  Wort.  Hätte 
er  nicht  auch  dafür  >abscheulich«  und  >ein  Abscheu«  setzen  können? 
Oder  läßt  es  sich  nachweisen,  daß  Luther  >abomiDabilis«  immer  mit 
>greulich«  übersetzt?  Den  Ausdruck  >prospexit«  in  Ps.  14,  2  übersetzt 
Luther  im  Lied  und  in  der  Uebersetzung  1524  und  1528  mit  >sah« 
(Praeteritum) ;  spätersetzter  dafür  > schauet«  (Praesens).  Also  läßt 
sich  jenes  Wort  doch  auch  noch  anders  als  durch  das  einfache  >8ah« 

1)  Bindseil-Niemeyer,  a.  a.  0.,  S.  80. 

2)  Diese  Wendung  hat  denn  auch  seit  1531  seine  Uebersetzung  bestimmt. 
Ebenda. 


294  Qött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

wiedergeben.  So  könnte  ich  fortfahren.  Was  ich  sage,  sind  ja 
Binsenwahrheiten.  Aber  sie  sind  eben  yon  Spitta  ignoriert  worden 
und  er  droht  damit  Verwirrung  anzurichten.  Deshalb  muß  ich  sie 
hier  aussprechen  und  energisch  hervorheben. 

So  fallen  in  der  Tat  die  wörtlichen  Uebereinstimmungen  zwischen 
Lied  und  Uebersetzung  von  1524  ins  Gewicht  und  sie  sind  nicht  mit 
der  Bemerkung  abzutun:  es  liegt  ihnen  die  Vulgata  zugrunde! 

Ferner  sagt  Spitta,  in  einer  Reihe  von  Stellen  stehe  das  Lied 
mit  der  Vulgata  der  Uebersetzung  von  1524  gegenüber.  Prüfen  wir 
diese  Stellen!  Zunächst  soll  in  Betracht  kommen  Str.  1,  1 :  >£s  spricht 
der  Un weisen  Mund  wohl«.  Das  soll  auf  der  Vulgata  beruhen: 
>Dixit  insipiens<,  während  die  Worte  der  Uebersetzung  von  1524: 
>die  Narren  sprechen c  für  sich  stehen  sollen.  Aber  das  ist  offen- 
bar fehlgegriffen.  Denn  erstens  steht  in  der  Vulgata  die  Einzahl 
(insipiens),  im  Lied  und  in  der  Uebersetzung  aber  die  Mehrzahl 
(die  Unweisen  —  die  Narren);  zweitens  steht  in  der  Vulgata  das 
Perfektum  (dixit),  dagegen  im  Lied  und  in  der  Uebersetzung  das 
Präsens.  Was  in  aller  Welt  berechtigt  also  zu  dem  Schluß:  Lied 
und  Vulgata  stehen  gegen  die  Uebersetzung?  Kann  > insipiens«  etwa 
nicht  ebenso  gut  mit  >Narr«  wie  mit  > Unweise«  übersetzt  werden? 
Also  scharf  zugesehen  gehört  Str.  1,  1  zu  den  Stellen,  in  denen  das 
Lied  gegen  die  Vulgata  zur  Uebersetzung  steht.  —  Ferner  soll 
Str.  5,  1 :  > Darum  ist  ihr  Herz  nimmer  still«  mit  der  Vulgata  über- 
einstimmen: >Illic  trepidaverunt  timore«,  während  wieder  die  Ueber- 
setzung für  sich  stehe:  >Daselbst  furchten  sie  sich«.  Wie  das  be- 
wiesen werden  soll,  kann  ich  nicht  einsehen.  Auch  hier  verdient  es 
Beachtung,  daß  das  Perfectum  der  Vulgata  in  Lied  wie  Uebersetzung 
ins  Präsens  verwandelt  ist.  »Ulic«  aber  heißt  nicht  »darum«,  sondern 
>  daselbst« ;  also  Uebersetzung  und  Vulgata,  die  beide  den  Grundtext 
richtig  wiedergeben,  gehen  hierin  zusammen.  —  Nicht  besser  steht's 
mit  den  Stellen  Str.  6, 1  und  6 f.:  >Wer  soll  Israel  dem  armen  zu 
Zion  Heil  erlangen?«  Vulgata  liest:  »Quis  dabit  ex  Sion  salutare 
Israel?«  Die  Uebersetzung:  >Wer  wird  Israel  zu  Zion  helfen?« 
Daß  das  »dare  salutare«  im  Lied  mit  »Heil  erlangen«  übersetzt  ist 
und  1524  mit:  »helfen«,  ist  das  ein  so  großer  Unterschied?  Viel 
mehr  kann  man  es  betonen,  daß  das  ex  8ion  in  Lied  und  Ueber- 
setzung (gegen  den  Grundtext)  mit  z  u  Zion  wiedergegeben  ist.  Also 
auch  hier  besteht  Spittas  Behauptung  nicht  zurecht.  —  Endlich  die 
letzte  Stelle:  Str.  6,  6 f.:  ^ Davon  wird  Jakob  Wonne  han  und  Israel 
sich  freuen«.  Auch  hier  begreife  ich  nicht,  warum  diese  Uebersetzung 
dem  Vulgatatext  entsprechen,  die  von  1524  ihr  aber  entgegen  sein 
soll.    Vulgata  liest:    »exsultabit  Jacob  et  laetabitur  Israel«;    1524: 


Spitta,  Ein  feste  Borg  ist  unser  Gott  296 

»SO  wird  Jakob  fröhlich  sein  and  Israel  sich  freuen <.  Umgekehrt 
scheint  mir  auch  hier  wieder  Lied  und  Uebersetzung  von  1524  zu- 
sammenzustehen, denn  beide  Male  findet  sich  das  Yerbum:  >sich 
freuen <,  und  1524  ;hat  ein  >80<  am  Anfang  des  Satzes,  dem  das 
> davon c  im  Liede  durchaus  entspricht,  während  die  Vulgata  kein 
entsprechendes  Wort  aufweist.  Also  kann  ich  nicht  begreifen,  ¥Fie 
Spitta  sagen  kann,  hier  stehe  Lied  und  Vulgata  der  Uebersetzung 
gegenüber.  Er  wird  doch  nicht  behaupten  wollen,  daß  »exsultare< 
nicht  ebenso  gut  mit  >fröhlich  sein«  wie  mit  >Wonne  haben«  über- 
setzt werden  kann? 

Endlich  soll  noch  die  Tatsache,  daß  eine  Reihe  von  Stellen  im 
Liede  ganz  selbständig  ist,  das  Recht  zu  der  Behauptung  begründen, 
das  Lied  ruhe  nicht  auf  der  Uebersetzung  von  1524.  Ich  gestehe, 
daß  mir  dieser  Grund  erst  recht  nicht  einleuchten  will.  Er  setzt 
voraus,  daß  Luther  eben  so  gedichtet  haben  müsse,  wie  sich  das 
Spitta  als  notwendig  denkt. 

Ziehe  ich  das  Ergebnis  aus  unsrer  Nachprüfung,  so  liegt  auf 
der  Hand,  daß  sich  das  Gegenteil  von  Spittas  Behauptung  ergibt: 
das  Lied  steht  offenbar  in  enger  Verwandtschaft  zur  Uebersetzung 
von  1524,  und  alles  spricht  dafür,  daß  sie  beide  auch  zeitlich  nahe 
beieinander  liegen. 

Indessen,  hören  wir  weiter,  was  Spitta  gegen  diese  These  vor- 
zubringen hat! 

Wieder  zieht  Spitta  die  Glosse  und  die  operationes  heran,  um 
aus  dem  Vergleich  mit  ihnen  und  dem  Lied  Schlüsse  auf  dessen 
Abfassungszeit  zu  ziehen.  Da  faßt  er  denn  hier  zuerst  Str.  1 ,  1 
ins  Auge,  einen  Vers,  den  er,  irrigerweise,  wie  wir  sahen,  an  die 
Vulgata  heranrückt.  In  den  operationes  soll  Luther  die  Vulgata 
verlassen  haben  und  außerdem  soll  eine  Auffassung  des  hebräischen 
Wortes  bia  vorliegen,  die  es  kaum  soll  begreifen  lassen,  wie  Luther 
darnach  noch  die  Wendung:  >Es  spricht  der  Un weisen  Mund<  habe 
brauchen  können.  Luther  erklärt  nämlich  das  Wort  mit:  >stultu8  et 
idolatra,  ignarus  dei<.^)  Dazu  passe  wohl  die  Uebersetzung  von 
1524:  >Die  Narren  (Toren)  sprechen«,  nicht  aber  die  >Unwei8en<. 
Hätte  Spitta  die  Behandlung  des  Psalmen  von  1530  zur  Hand  ge- 
nommen, so  würde  er  diese  Behauptung  kaum  gewagt  haben.  Dort 
erklärt  nämlich  Luther  auch  jenes  hebräische  Wort;  er  sagt,  man 
habe  es  mit  >insipiens<  wiedergegeben,  und  er  fährt  dann  fort:  >signi- 
ficat  omnem  hominem,  qui  est  sine  sapientia  Christi  et  sine  verbo. 

1)  W.  A.  V,  392,  35. 


396  Oött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Tarca,  papa  et  sapientissimi  in  mundo.. <^)  Hier  hält  also  Luther 
auch  an  dem  Begri£f  der  >Unweisen<  fest.  Wenn  er  das  aber  1530 
konnte,  so  doch  auch  1524  im  Lied.  Ein  Grund  also,  die  Dichtung 
vor  die  Operationen  zu  stellen,  liegt  in  Str.  1,  1  keineswegs  vor. 

Noch  eine  Reihe  andrer  Stellen  führt  Spitta  an,  in  denen  das 
Lied  sich  im  Gegensatz  zu  den  Glossen  und  in  Uebereinstimmung 
mit  den  operationes  befinden  soll,  und  daraus  folgert  er,  daß  das  Lied 
etwa  in  das  Jahr  1518  zu  setzen  sei.  Jene  Tatsache,  an  deren 
Richtigkeit  nicht  zu  zweifeln  ist,  drängt  aber  viel  eher  zu  dem 
Schluß,  daß  das  Lied  nach  den  operationes  entstanden  ist.  Zeigte 
sich,  daß  das  Lied  bald  mit  der  Glosse,  bald  mit  den  operationes 
eins  sei,  so  wäre  der  Schluß  Spittas  richtig.  Nun  kommt  aber  hinzu, 
daß  alle  die  Stellen  des  Liedes,  die  eine  deutliche  Verwandtschaft 
mit  den  operationes  zeigen,  auch  mit  der  Auslegung  von  1530  über- 
einstimmen. Daraus  folgt,  daß  wir  keinen  Grund  haben,  das  Lied 
zeitlich  den  operationes  möglichst  nahe  zu  legen.  Wüßten  wir  zu- 
fällig nicht,  daß  es  1524  veröffentlicht  ist,  so  könnte  ich  es  mit  dem- 
selben Grund,  mit  dem  Spitta  das  Lied  an  die  operationes  heran- 
rückt, ans  Jahr  1530  rücken. 

Also  auch  hier  das  gleiche  Ergebnis  wie  bisher:  Spittas  Datierungs- 
versuch  schwebt  in  der  Luft. 

Von  den  drei  weiteren  Psalmliedern  Luthers:  >Es  wollt 
uns  Gott  genädig  sein«  Ps.  67,  >Wohl  dem,  der  in  Gottes 
Furcht  steht«  Ps.  128  und  >Wär  Gott  nicht  mit  uns  diese 
Zeit«  Ps.  124  gibt  auch  Spitta  die  Verwandtschaft  mit  der  Ueber- 
setzung  Yon  1524  zu,  auch  will  er  sie  ihr  zeitlich  nahe  setzen;  nur 
setze  keines  der  Lieder  diese  Uebersetzung  voraus.  Ich  will  mit 
Spitta  darüber  nicht  rechten.  Die  Sache  ist  zu  wenig  wichtig,  als 
daß  es  sich  lohnte,  auf  Einzelheiten  einzugehen.  — 

Damit  bin  ich  am  Schluß  meiner  Nachprüfung.  Mit  dem  Ver- 
such Spittas,  vier  von  den  sieben  Psalmliedem  Luthers  vor  das 
Jahr  1523/24  und  zwar  in  die  Zeit  um  1518  bezw.  1521  zu  setzen, 
ist  es  also  nichts.  Gegen  ihn  spricht  schon  die  oben  erwähnte  Tat- 
sache, daß  Luther  in  seinen  Prosaübersetzungen  des  Psalters  immer 
freier  nicht  nur  von  der  Vulgata,  sondern  auch  von  dem  Grundtext 
wurde,  daß  er  den  einzelnen  Psalm  inmier  persönlicher,  gegenwärtiger 
faßte,  ihn  immer  entschiedener  aus  dem  Präteritum  ins  Präsens  um- 
setzte. Man  kann  nicht  annehmen,  daß  er  hierin  in  seinen  Dichtungen 
andre  Wege  eingeschlagen  haben  sollte. 

Ich  muß  es  andren  überlassen,   die  Datierungen   der  weiteren 

1)  Erl.  A.  op.  ex.  17,  108. 


Spitta,  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott.  297 

Lieder  Luthers  durch  Spitta  nachzuprüfen.  Sie  scheinen  mir  ebenso 
gewagt  und  unsicher,  wie  die  behandelten.  Doch  möchte  ich  nicht 
schließen ,  ohne  auszusprechen ,  daß  Spitta  in  Bezug  auf  das  Lied : 
»Wir  glauben  all  an  einen  Gott<  mir  etwas  Richtiges  gesehen 
zu  haben  scheint.  Er  scheint  mir  mit  vollem  Recht  der  traditionellen 
Anschauung,  das  Lied  sei  eine  Verdeutschung  des  Credo  in  der 
Messe,  also  des  Nicaeno-Constantinopolitanum,  die  andre  entgegen- 
zusetzen, daß  das  Lied  die  Erweiterung  einer  deutschen  und  lateini- 
schen Vorlage  eines  unbekannten  Verfassers  sei.  Wenn  auch  hier 
Spitta  oftmals  so  tut,  als  habe  er  Luther  bei  seiner  Arbeit  über  die 
Schulter,  ja  sogar  ins  Herz  gesehen  —  ein  einziger  literarischer 
Fund  kann  seine  Rekonstruktion  der  Entstehung  des  Liedes  völlig 
aber  den  Haufen  werfen  — ,  so  scheint  er  mir  doch  in  der  Haupt- 
sache völlig  recht  zu  haben.  Jedoch  kann  ich  auch  hier  nicht  um- 
hin, die  Datierung  des  Liedes  für  äußerst  gewagt  zu  erklären.  Wie 
er  behaupten  kann,  daß  bei  dieser  Dichtung  Luther  ein  Gedanke  an 
die  Gemeinde  ganz  fem  gelegen  habe,  ja  wie  er  die  Sätze  nieder- 
schreiben kann:  »In  diesen  Jahren  (1523  oder  1524)  der  Bemühungen 
Luthers  um  Eultuslieder  konnte  eine  solche  Dichtung  gar  nicht  ent- 
stehen. Wie  früh  sie  zu  setzen  ist,  läßt  sich  überhaupt  nicht  be- 
stimmen. Sie  kann  leicht  zehn  Jahre  älter  sein,  als  man  bisher  an- 
genommen hat«  (S.  186) ,  ist  schlechterdings  nicht  einzusehen.  Hier 
spukt  immer  wieder  seine  verkehrte  Auffassung  von  der  Eultuslieder- 
dichtung  Luthers.  Hätte  Luther  diese  Dichtung  bereits  lange  fix 
und  fertig  im  Kasten  liegen  gehabt,  so  begreift  es  sich  nicht,  warum 
er  nicht  schon  1523  damit  herausgerückt  ist.  Denn  in  der  formula 
missae  läßt  er  nur  wenige  der  gebräuchlichen  deutschen  Lieder 
gelten;  er  zählt  deren  nur  drei  auf,  unter  denen  die  Vorlage  seines 
Glaubensliedes  bemerkenswerter  Weise  fehlt.  ^)  Also  entweder  hat 
man  diesen  »deutschen  Glauben«  in  Wittenberg  nicht  gesungen,  oder 
Lother  hat  das  Lied  nicht  gebilligt.  Warum  er  aber  zu  einer  Um- 
diditnng  schritt,  ist  aus  den  Verhältnissen  von  1523  oder  1524  ganz 
gut  verständlich.  Was  sollte  ihn  denn  etwa  1515  zu  dieser  Um- 
dichtung  veranlaßt  haben?  — 

Wir  scheiden  von  Spittas  Buch  bei  allem  Dank  für  die  Förderung 
im  einzelnen  und  für  die  empfangene  Anregung  doch  mit  dem  leb- 
haften Bedauern,  daß  Spitta,  dem  wir  sonst  so  reiche  Förderung  auf 
hymnologischem  Gebiet  verdanken,  so  viel  Kraft  und  Geist  an  eine 
irrige  These  gewendet  hat.  Das  Gute  hat  aber  wohl  sein  Buch,  daß 
niemand  sobald  seine  These  wieder  aufnehmen  wird.    Denn  was  sich 


1)  Erl.  A.  op.  T.  a.  7,  17;  W.  A.  XII,  218. 


298  Gdtt  gfiL  Anz.  1906.  Nr.  4. 

for  sie  sagen  läßt,  das  hat  Spitta  gesagt.  Und  es  ist  immer  dankens- 
wert, wenn  jemand  eine  auch  falsche  Hypothese  mit  aller  Energie 
durchführt. 

Gießen.  Paul  Drews. 


J.  Tolkelt,  System  der  Aesthetik,   Bd.  I.    München  1905,  C.  H.  Becksclte 
Verlagsbachhandlung  (0.  Beck).    XYIII,  692  S.    Mk.  10.50,  geb.  Mk.  12.—. 

Seit  dem  Zusammenbruch  der  spekulativen  Aesthetik  mußte 
naturgemäß  einige  Zeit  vergehen,  bis  die  neue  psychologische  Rich- 
tung den  großen  Leistungen  der  alten  Schule  zusammenfassende 
und  in  ihrer  Art  abschließende  Werke  an  die  Seite  stellen  konnte. 
Nach  einer  Zeit  langer  sorgfältiger  Arbeit,  in  der  das  neue  psycho- 
logische Prinzip  nach  allen  Seiten  gewandt  und  die  einzelnen  Pro- 
bleme der  Aesthetik  von  ihm  aus  erhellt  und  gedeutet  worden  waren, 
scheint  nunmehr  der  Zeitpunkt  erreicht  zu  sein,  wo  die  neue  Methode 
ihrer  selbst  sicher  dazu  schreiten  kann,  die  gewonnenen  Bausteine 
zum  stattlichen  Ganzen  zusammenzufügen.  Binnen  weniger  Jahre 
sind  in  Deutschland  vier  große  zusammenfassende  Werke  erschienen 
oder  haben  wenigstens  zu  erscheinen  begonnen :  die  Werke  von  Groos, 
Lange,  Lipps  und  Roetteken;  denn  auch  die  Poetik  von  Roetteken  ist  in 
ihrem  ersten  Band  den  grundlegenden  Fragen  der  Aesthetik  gewidmet 
Nun  gesellt  sich  zu  ihnen  auch  Volkelt  mit  dem  ersten  Band  einer 
umfänglichen  auf  zwei  starke  Bände  angelegten  Aesthetik,  in  der  er 
die  Früchte  einer  fast  30jährigen  Beschäftigung  mit  den  Problemen 
der  Aesthetik  niedergelegt  hat. 

Und  in  der  Tat  ist  sein  Buch  ein  ausgereiftes  Werk.  Volkelt 
beherrscht  das  ganze  Gebiet  der  Aesthetik  mit  souveräner  Sicherheit. 
Ueber  alle  die  behandelten  Probleme  ist  er  zur  vollen  Klarheit 
durchgedrungen;  er  überrascht  durch  eine  Fülle  von  selbständigen 
Lösungen  der  einzelnen  strittigen  Fragen  und  wie  von  selbst  wächst 
aus  den  einzelnen  Ergebnissen  seine  Gesamtauffassung  des  Aestheti- 
schen  hervor.  Aber  auch  ohne  das  Neue,  das  er  bietet,  würde  sein 
Buch  doch  gegenüber  den  eben  erwähnten  Darstellungen  der  Aesthetik 
ein  Werk  eigenen  Gepräges  sein.  Während  die  andern  Aesthetiker 
im  wesentlichen  nur  ihre  eigene  Ansicht  begründen  und  auf  fremde 
Aufstellungen  nur  eingehen,  soweit  sich  an  ihnen  die  eigene  Ansicht 
deutlicher  aussprechen  läßt,  strebt  Volkelt  darnach,  einen  Ueberblick 
über  den  Gesamtstand  der  Aesthetik  zu  geben.  Mit  dankenswerter 
Knappheit  und  mit  erstaunlicher  Vollständigkeit  findet  die  gesamte 
ästhetische  Literatur  unserer  Tage  und  von   der  vergangenen  alles, 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.   I.  299 

was  inhaltlich  von  Bedeutung  geblieben  ist,  bei  ihm  Berücksichtigung 
und  Beurteilung.  Wie  seiner  Zeit  Vischer  die  ganze  spekulative 
Aesthetik  zusammengefaßt  und  seine  Auffassung  als  Abschluß  der 
ganzen  ästhetischen  Zeitbewegung  hat  erscheinen  lassen,  so  hat  es 
Volkelt  verstanden,  seine  eigene  Aesthetik  auf  dem  Untergrund  der 
ästhetischen  Arbeit  unserer  Tage  aufzubauen  und  so  ein  glänzendes 
Seitenstück  zur  Vischerschen  Aesthetik  zu  schaffen.  Uebertrifft  ihn 
Vischer  auch  an  stilistischer  Meisterschaft  und  in  der  feinen  halb- 
dichterischen Analyse  der  Kunstwerke,  so  ist  doch  auch  Volkelts 
Ueberblick  über  die  künstlerische  Produktion,  namentlich  über  die 
poetische  bewundernswert  und  auch  sein  Werk  ist  reich  an  feinen 
Bemerkungen,  die  seinem  Kunstverständnis  ein  rühmliches  Zeugnis 
ausstellen.  Und  in  einem  tut  er  es  dem  alten  Meister  der  Aesthetik 
zuvor:  die  Klarheit  seiner  Erkenntnisse  teilt  sich  seinem  Stil  mit 
und  gibt  seiner  Darstellung  eine  sichere  Bestimmtheit,  eine  wohl- 
tuende Ruhe  und  eine  Leichtigkeit  im  Ausdruck,  die  sich  von  dem 
Ringenden  und  Springenden  bei  Vischer  kräftig  abhebt  und  die 
Lektüre  seines  Werkes  zu  einem  relativ  mühelosen  Genuß  macht. 

Die  eigene  Ansicht  als  die  Frucht  der  ästhetischen  Entwicklung 
hervortreten  zu  lassen,  ist  Volkelt  nach  seiner  ganzen  Stellung  und 
geistigen  Eigenart  besonders  befähigt.  Volkelt  steht  noch  mit  der 
Zeit  der  spekulativen  Aesthetik  in  lebendiger  Fühlung  und  ist  dabei 
doch  einer  der  Bahnbrecher  der  modernen  psychologischen  Aesthetik 
geworden.  Er  ist  sich  dieser  Doppelstellung  wohl  bewußt:  >Wie 
ich  mich<,  sagt  er  (S.  290),  >in  den  grundlegenden  psychologischen 
Betrachtungen  den  Psychologen  unter  den  modernen  Aesthetikern 
nahe  verwandt  fühle,  so  bin  ich  mir  in  den  normativen  oder  teleo- 
logischen Erwägungen  der  Verwandtschaft  mit  Schiller  und  den 
spekulativen  deutschen  Aesthetikern  bewußt.  Es  steht  mir  in  der 
Aesthetik  das  Ziel  vor  Augen,  die  moderne  eindringende  psycho- 
logische Art  mit  der  älteren  durch  Wertbegriffe  bestimmten  Be- 
trachtungsweise zu  verbinden.«  In  besonnener  Prüfung  hat  Volkelt 
aus  dem  Alten  das  Wertvolle  herausgefunden  und  beibehalten  und 
hat  ohne  Bruch  das  Neue  ans  Alte  angeschlossen,  indem  er  das 
Alte  aus  seinen  spekulativen  Höhen  in  die  psychologische  Wirklich- 
keit herabgezogen  und  es  im  Wesen  der  Seele  verankert  hat.  Sein 
maßvoller  Sinn  ist  aller  Schroffheit  und  Ausschließlichkeit  feind;  er 
liebt  in  der  Wissenschaft  nicht  das  >  Entweder-Oder  <.  Eine  peinlich 
sorgfältige  Beobachtung  der  Wirklichkeit  hat  ihn  gelehrt,  wie  mannig- 
faltig die  Wirklichkeit  ist  und  wie  wenig  sie  sich  beugen  läßt  unter 
scharfe  logische  Alternativen;  er  sucht  ihr  durch  möglichste  Weite 
der  ästhetischen  Forderungen  gerecht  zu  werden.    In  dieser  Hinsicht 


300  Gott.  sei.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

ist  sein  Werk  auch  von  einem  nicht  unbeträchtlichen  methodologischen 
Wert  and  eine  wahre  Schule  der  Besonnenheit.  Referent  gesteht, 
daß  er  sich  in  manchen  Stücken,  in  denen  er  sich  mit  einem 
Entweder-Oder  abgemüht  hat,  befreit  gefühlt  hat  durch  Volkelts 
unbefangene  Anerkennung  zweier  Möglichkeiten.  Eine  Kehrseite  hat 
freilich  die  Fähigkeit  Volkelts,  an  den  verschiedensten  Standpunkten 
das  Berechtigte  herauszufinden  und  der  Vielseitigkeit  der  Wirklich- 
keit gerecht  zu  werden:  die  Analyse  glückt  ihm  besser  als  die 
Synthese  des  Analysierten;  die  strenge  innere  Einheit,  als  welche 
auch  nach  seiner  Ansicht  das  Aesthetische  erscheinen  soll  (S.  375), 
kommt  nicht  so  überzeugend  zum  Ausdruck,  als  er  es  wohl  selbst 
glaubt  und  als  es  auf  Grund  seiner  eigenen  Voraussetzungen  mög- 
lich wäre. 

Volkelt  stellt  vier  nicht  weiter  aus  einander  ableitbare  Grund- 
normen auf,  die  zusammenwirken  müssen,  wenn  das  Aesthetische  als 
ein  Reich  von  eigenartigem  und  unersetzlichem  Wert  begriffen  werden 
soll.  Volkelt  ist  ein  warmer  Verfechter  der  normativen  Aesthetik. 
Die  Psychologie,  so  lehrt  er,  kommt  mit  ihren  Mitteln  niemals  über 
die  Feststellung,  Zergliederung  und  Verknüpfung  des  Tatsächlichen 
hinaus.  Wenn  also  ein  seelisches  Gebiet  mit  dem  Anspruch  analysiert 
wird,  daß  es  einen  bestimmten  menschlichen  Wert  darstellt,  so  ist 
dieser  Beweis  neben  der  Analyse  noch  besonders  zu  führen.  In  den 
ästhetischen  Normen  wird  festgestellt,  welchen  Bedür&iissen  unserer 
Seele  durch  die  psychischen  Vorgänge,  die  als  die  ästhetischen  er- 
kannt sind,  Befriedigung  zu  teil  wird  (S.  367/8).  Volkelts  Werk  zer- 
fällt daher  außer  einem  vorbereitenden  Abschnitt,  der  sich  mit  der 
Methodologie  der  Aesthetik  befaßt,  in  eine  beschreibende  und  eine 
normative  Grundlegung  der  Aesthetik.  Beide  Teile  hängen  aufs 
engste  zusammen ;  die  Beschreibung  der  Vorgänge  beim  ästhetischen 
Verhalten  bildet  die  Grundlage,  auf  welcher  sich  die  Lehre  von  den 
Normen  erhebt.  Und  die  Entwicklung  der  ästhetischen  Normen  gibt 
die  Rechtfertigung  dafür,  daß  gerade  diese  bestimmten  seelischen 
Vorgänge  als  die  ästhetischen  abgegrenzt  und  zergliedert  worden 
sind  (S.  74).  Man  trifft  daher  das  Ganze  seiner  Aesthetik,  wenn  man 
sich  für  die  Kritik  an  seine  Lehre  von  den  ästhetischen  Normen  hält 

Die  erste  seiner  Normen  verlangt  die  Einheit  von  Form  und 
Gehalt.  Für  Volkelt  ist  alle  Form  sinnliche  Form,  sie  ist  die  für 
den  ästhetischen  Betrachter  vorhandene  Außenseite  der  Gegenstände, 
sie  ist  die  Oberflächenerscheinung  der  Gegenstände.  Das  Aesthetische 
kommt  bei  ihm  so  zustande,  daß  sich  der  Betrachter  der  Form 
gegenüber  einfühlend  verhält  und  ihm  also  der  Gegenstand  den  Ein- 
druck macht,  als  ob  die  Form,  die  sinnliche  Seite  des  Gegenstandes 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.   I.  801 

voll  Leben  und  Seele  sei  (S.  392/3).  In  der  Verschmelzung  von 
Schauen  und  Fühlen,  im  gefuhlbeseelten  Anschauen  tritt  eine  in  sich 
wertvolle  Richtung  des  menschlichen  Verhaltens  zutage,  die  weder 
in  der  wissenschaftlichen  noch  in  der  sittlichen  oder  religiösen  Be- 
tätigung vorhanden  ist,  sondern  ihnen  gegenüber  etwas  Eigenartiges 
zu  besagen  scheint  (S.  389). 

Volkelt  verhehlt  sich  selber  nicht,  daß  die  Poesie  dieser  Auf- 
fassung des  Aesthetischen  Schwierigkeiten  bereitet.  Anläßlich  der 
Frage,  ob  die  erwähnte  Norm  auch  für  die  Poesie  Gültigkeit  habe, 
befaßt  sich  Volkelt  auch  mit  meinem  Buch  über  das  Stilgesetz  der 
Poesie  (Leipzig  1901),  in  dem  ich  die  Definition  der  Kunst  als  gehalt- 
erfüllter Sinnenform  im  Hinblick  auf  die  Poesie  bestritten  habe,  die 
ihrem  Wesen  nach  als  Kunst  der  abstrakten  Sprache  überanschaulich 
sei.  Volkelt  findet  es  verdienstlich,  daß  ich  die  wesenhafte  Bedeutung 
der  Sprache  für  die  Dichtkunst  mit  starker  Betonung  dargelegt  habe, 
er  bedauert  aber  zugleich,  daß  ich  auf  einen  verhängnisvollen  Irrweg 
geraten  sei,  indem  ich  die  Phantasieanschaulichkeit  nicht  als  Aufgabe 
der  Dichtkunst  anerkannt  habe  (S.  88).  Nun  habe  ich  nicht  geleugnet, 
daß  den  Aufnahmeprozeß  des  dichterischen  Kunstwerks  allerlei 
Phantasieanschauungen,  optische,  akustische  und  motorische,  oder 
wie  ich  sie  nenne,  mimische  begleiten  (vgl.  Stilgesetz  S.  52).  Darüber 
kann  also  zwischen  uns  kein  Streit  sein.  Aber  ich  habe  bestritten, 
daß  das  Darstellungsmittel  der  Poesie  sinnliche  Formen  sind. 
Damit  ist  ausgesprochen,  daß  weder  der  Dichter  den  Gehalt,  den  er 
uns  übermitteln  will,  in  sinnlich-anschauliche  Formen  niederlegt,  noch 
daß  wir  den  Gehalt  aus  solchen  Formen  erheben,  wie  wir  dies  in 
den  übrigen  Künsten  tun.  Die  Phantasieanschauungen,  die  den  Auf- 
nahmeakt der  Poesie  begleiten,  haben  nicht  die  Bedeutung,  daß  sie 
uns  den  Gehalt  vermitteln,  der  vielmehr  restlos  ausgedrückt  ist 
in  den  gedanklichen  Vorstellungszusammenhängen,  die  durch  die 
Worte  der  Dichtungen  gebildet  werden.  Nicht  also,  ob  Phantasie- 
anschauungen sich  während  der  Lektüre  der  Dichtungen  einstellen, 
sondern  ob  sie  die  Form  der  Poesie  sind,  ist  die  Frage,  die  zwischen 
uns  schwebt.  Form  ist  in  allen  Künsten  das  vom  Künstler  Gegebene, 
in  das  der  Gehalt  niedergelegt  ist,  in  das  die  Einfühlung  zum  Zweck 
der  Gehaltsaneignung  stattfindet  —  anders  sieht  es  auch  Volkelt 
nicht  an:  In  was  findet  also  in  der  Poesie  die  Einfühlung  statt,  in 
die  sinnliche  Form,  in  die  > Oberflächenerscheinung  der  Gegenstände« 
oder  in  einen  überanschaulichen  Zusammenhang  sprachlicher  Vor- 
stellungen? Es  will  mir  als  der  eigentliche  Mangel  der  Volkeltschen 
Auffassung  erscheinen,  daß  er  diese  Fragstellung  nicht  als  den  Kern 
des  Streites  erkannt  hat.     Hätte  er  es  getan,  so  wäre  seine  Ent- 


302  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Scheidung  anders  ausgefallen  und  er  hätte  es  nicht  nötig  gehabt, 
seinem  sonst  klar  und  folgerichtig  ausgebildeten  Begriff  der  Form 
als  des  Objekts  der  Einfühlung  im  Abschnitt,  der  von  der  Poesie 
handelt,  eine  verschwommene  und  widerspruchsvolle  Verwendung  zu 
geben. 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  Gefühle  und  Stimmungen,  die  mit 
einiger  Lebendigkeit  durch  die  Worte  des  Dichters  in  uns  erregt 
werden,  die  Neigung  haben,  in  Bewegungsempfindungen,  in  vor- 
gestellte oder  in  wirkliche,  ja  selbst  in  eigentliche  Bewegungen 
auszumünden.  Bei  mimisch  veranlagten  Naturen  ist  der  6enn£ 
der  Poesie  vielfach  von  einem  heimlichen  inneren  Agieren  und 
Deklamieren  begleitet.  Volkelt  ist  der  Ansicht,  daß  diese  Be- 
wegungsempfindungen als  relativ  selbständige  vom  Leser  hinzugefügte 
Stimmungsverleiblichungen  eine  wesentliche  Seite  der  dichterischen 
Anschaulichkeit  ausmachen  und  er  macht  mir  den  Vorwurf  (S.  419), 
diese  Art  der  Verleiblichung ,  die  nicht  auf  direkte  Anregung  der 
Dichterworte,  sondern  selbständig  auf  Grund  der  in  den  Dichter- 
worten enthaltenen  Stimmungen  vorgenommen  werde,  sei  gar  nicht 
in  den  Umkreis  meiner  Erwägungen  getreten.  Ich  begreife  diesen 
Vorwurf  nicht;  ich  rede  mehrfach  von  diesem  Drang,  das  seelische 
Miterleben  sich  entladen  zu  lassen  ins  Körperliche  (vgl.  z.  B.  Stilgesetz 
S.  52,  108).  Aber  wenn  ich  auch  diese  Bewegungsempfindungen  als 
Begleiterscheinungen  der  Poesie  anerkenne,  so  kann  ich  doch  nicht 
zugeben,  daß  sie  zu  den  Darstellungsmitteln  der  Poesie  gehören,  daß 
sie  ein  Stück  ihrer  Form  seien.  Im  Gegenteil,  die  Einfühlung  muß 
vollzogen  sein,  wir  müssen  durch  die  Einfühlung  in  den  Besitz  der 
Stimmung  gelangt  sein,  dann  erst  kann  unter  dem  Einfluß  des 
mimischen  Triebes,  d.  h.  des  Verlangens,  das  empfundene  Seelische 
sich  entladen  zu  lassen  ins  Körperliche,  die  Bewegungsempfindung 
sich  einstellen.  Die  Lektüre  von  Goethes  Prometheus  soll  nach 
Volkelt  (S.  421)  die  Phantasiebewegungen  des  straffen  Sichempor- 
reckens und  kraftvollen  Sichzusammenfassens  begleiten.  Das  mag 
bei  vielen  Lesern  der  Fall  sein.  Aber  ehe  wir  uns  emporrecken, 
ehe  wir  uns  zusammenfassen  können,  müssen  wir  den  königlichen 
Trotz  des  Prometheus  gegen  die  Götter  und  seinen  entschlossenen 
Willen,  sich  die  eigene  Welt  zu  schaffen,  gefühlt  haben.  Die  Be- 
wegungsempfindungen sind  also  das  Produkt  der  Einfühlung,  statt 
ihr  Objekt  zu  sein.  Ist  dem  so,  dann  gehören  sie  nicht  zur  Form, 
unter  der  wir  doch  das  vom  Künstler  Gegebene  verstehen,  in  das 
die  Einfühlung  stattfindet.  Erzeugen  die  Worte  des  Dichters  nicht 
unmittelbar  das  Anschauliche,  aus  welchem  wir  durch  Einfühlung  den 
Gehalt  erheben,  haben  wir  vielmehr  den  Gehalt,  ehe  wir  im  Besitz 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.   I.  303 

des  Anschaulichen  sind,  so  liegt  die  Form  ganz  wo  anders  als  in 
diesem  Anschaulichen.  Sie  liegt  in  dem,  in  das  die  Einfühlung  statt- 
findet, in  den  überanschaulichen  Worten  des  Dichters,  in  denen  die 
Stimmung  ausgeprägt  und  dem  Leser  gegeben  ist.  Volkelt  verschiebt 
seinen  eigenen  Begriff  der  Form,  wenn  er  Anschauungselemente,  die 
er  selbst  als  selbständige  Verleiblichungen  der  vom  Dichter  erregten 
Stimmungen  durch  den  Leser  bezeichnet,  als  Bestandteile  der  poeti- 
schen Form  betrachtet  wissen  will. 

Daraus  folgt  aber  sofort  ein  weiteres.  Würden  diese  motorischen 
Entladungen  zur  Form  gehören,  ohne  die  uns  ja  der  Gehalt  vom 
Künstler  nicht  gegeben  ist,  so  wären  sie  notwendig  und  wo  wir  sie 
nicht  hätten,  hätten  wir  eben  den  Gehalt  auch  nicht.  So  aber  be- 
steht die  Form  in  überanschaulichen  sprachlichen  Vorstellungs- 
zusammenhängen und  der  Genießende  hat  hier,  wie  überall,  seine 
ästhetische  Aufgabe  erfüllt,  wenn  er  die  Form  mit  Gefühl  beseelt 
und  durchdrungen  hat.  Ist  er  einmal  im  Besitz  der  gefühlbeseelten 
Form,  dann  ist  es  ästhetisch  relativ  belanglos,  ob  das  Gefühl  sich  in 
Bewegungsempfindungen  verleiblicht  oder  nicht.  Persönlichkeiten  von 
starker  motorischer  Veranlagung  mag  die  Gewähr  dafür,  daß  sie  die 
vom  Dichter  ausgedrückte  Stinmiung  lebhaft  erfaßt  haben,  im  Auf- 
tauchen von  Bewegungsempfindungen  liegen,  die  bei  ihnen  eben  immer 
zutage  treten,  wo  sie  lebhafter  fühlen ;  sie  werden  sich  voll  in  ihrem 
Gefühl  erst  da  angesprochen  glauben,  wo  sich  zum  Seelischen  das 
Körperliche  gesellt.  Bei  andern  mit  schwächerer  motorischer  Phan- 
tasie werden  die  Bewegungsempfindungen  seltener  sein;  ihr  Eintreten 
wird  zudem  stark  abhängig  sein  von  der  Verfassung ,  in  der  sie  sich 
augenblicklich  befinden.  Auf  Grund  sorgfältiger  Selbstbeobachtung 
kann  ich  versichern,  daß  bei  mir  sich  an  derselben  Stelle  bald  Be- 
wegungsempfindungen einstellen,  bald  nicht,  ohne  daß  ich  im  ersten 
Fall  den  Eindruck  hätte,  einen  höheren  ästhetischen  Genuß  zu  haben 
oder  zu  einem  tieferen  Erfassen  des  Gehalts  gelangt  zu  sein,  als  im 
zweiten.  Der  Aesthetiker  hat  allen  Grund,  diese  Tatsachen  zu  be- 
tonen. Er  muß  kräftige  Einsprache  dagegen  erheben,  daß  den 
Personen  mit  starkem  motorischen  Vermögen  allein  der  Zutritt  zum 
Tempel  der  Poesie  verstattet  werde.  Es  wäre  in  der  Richtung  von 
Volkelts  sonstigem  Verfahren  gelegen,  wenn  er  auch  den  Bewegungs- 
empfindungen gegenüber  sein  besonnenes  >  Sowohl -Als  aucht  zur 
Geltung  gebracht  und  anerkannt  hätte,  daß  auch  motorisch  mäßig 
Veranlagten  ein  adäquates  Erfassen  der  Poesie  vergönnt  sei.  Das 
hätte  er  aber  nur  vermocht,  wenn  er  eingesehen  hätte,  daß  die  Be- 
wegungsempfindungen  als  die  Produkte  der  vom  Dichter  erregten 


304  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Stimmung  unmöglich  ein  Element  der  poetischen  Form  ausmachen 
können. 

Bewegungsempfindungen  sind  nicht  die  einzigen  sinnlichen  Be- 
gleiterscheinungen der  Poesie,  wenn  auch  vielleicht  die  häufigsten, 
dazu  kommen  optische  und  akustische  Bilder.  Bilder  dieser  Art  stellen 
sich  ein  teils  auf  Veranlassung  der  Anschauliches  wiedergebenden 
Worte  des  Dichters;  sie  mögen  aber  auch  ohne  direkte  Anregung 
durch  den  Dichter  selbsttätig  von  unserer  Anschauungsphantasie  ge- 
schaffen werden  als  Umsetzung  empfangener  seelischer  Eindrücke  in 
Anschauung.  Die  ältere  Aesthetik  wußte  nicht  genug  zu  erzählen 
von  der  Raschheit  und  plastischen  Bestimmtheit,  mit  der  unsere 
Anschauungsphantasie  selbsttätig  die  seelischen  Eindrücke  der  Poesie 
in  Anschauungsbilder  umsetzt.  Ich  begrüße  es  lebhaft,  daß  Volkelt 
diese  ganze  Selbsttätigkeit  der  Anschauungsphantasie  preisgegeben 
hat;  auch  er  muß  die  Ueberzeugung  gewonnen  haben,  daß  ihre 
Leistungen  beim  Durchschnittsleser  kaum  nennenswert  sind.  Es 
bleiben  also  nur  diejenigen  optischen  und  akustischen  Bilder,  die 
auf  Anlaß  der  sinnlichen  Worte  des  Dichters  entworfen  werden. 
Volkelt  räumt  ein,  daß  es  mit  ihnen  beim  gewöhnlichen  Leser 
schlimm  steht  (S.  416);  das  gewöhnliche  Lesen  sei  selten  von  der 
Art,  daß  dabei  eine  Annäherung  an  das  Ideal  künstlerischen 
Betrachtens  stattfinde.  Aber  meint  er,  wo  man  eindringlich,  hin- 
gebend, mit  Verweilen,  Wiederholen  und  Rückblicken  lese,  da  ent- 
spreche der  Leser  den  auf  Anschaulichkeit  angelegten  Worten  der 
Dichtung  weit  häufiger  und  deutlicher  mit  seinen  Phantasieanschau- 
ungen. Ein  solches  Lesen  entspreche  erst  den  höchsten  Ansprüchen, 
die  an  das  ästhetische  Betrachten  zu  stellen  seien.  Es  ist  kein 
Zweifel,  daß  bei  verweilendem  Lesen  öfter  Phantasieanschauungen 
auftauchen  als  beim  raschen,  und  wenn  es  feststeht,  daß  im  Aestheti- 
schen  Anschauen  und  fühlendes  Erleben  einen  innigen  Bund  mit- 
einander schließen  (S.  309),  so  ist  der  Vorzug  des  verweilenden 
Lesens  infolge  der  häufigeren  Phantasieanschauungen,  die  es  gewährt, 
selbstverständlich.  Aber  heißt  das  nicht  mit  vorgefaßtem  Maßstab 
messen?  Das  Ideal  ästhetischen  Betrachtens  ist  da  erreicht,  wo  in 
die  vom  Künstler  gegebene  Form  all  der  Gehalt  eingefühlt  ist,  der 
in  sie  eingefühlt  werden  kann  und  nach  den  Absichten  des  Künstlers 
eingefühlt  werden  soll.  Diesem  Ideal  vermag  sich  einer,  der  Uebung 
hat  im  poetischen  Genießen,  auch  beim  rascheren  Lesen  zu  nähern, 
zumal  bei  der  Lektüre  einer  Dichtung,  die  ihm  durch  mehrmaliges 
Lesen  bekannt  ist,  und  sein  Genuß  wird  nicht  beeinträchtigt  durch 
den  Umstand,  daß  ihm  die  sinnlichen  Bestandteile  der  Dichtung  nur 
selten  zu  optischen  und  akustischen  Bildern  aufquellen. 


Volkelt,,  System  der  Aesthetik.  L  806 

Im  übrigen  macht  ja  auch  Volkelt  den  Genuß  der  Poesie  nicht 
davon  abhängig,  daß  dies  überall  und  unter  allen  Umständen  geschehe. 
Er  gesteht  zu  (S.  417),  daß  die  Aufnahme  des  Dichtungswerks  auf 
weite  Strecken  ohne  wirkliche  Phantasieanschauungen  verläuft,  aber 
er  meint,  wir  empfinden  als  Phantasieanschaulichkeit  nicht  bloß  das 
ausdrückliche  Phantasiesehen  und  Phantasiehören,  sondern  auch  die 
betonte  Gewißheit  der  Phantasieanschauungsmöglichkeit.    Auch  wenn 
wir  die  Anschauungen,  auf  welche  die  Worte  und  Wendungen  des 
Dichters  angelegt  sind,  nicht  wirklich  vollziehen,  so  haben  wir  doch 
die  Gewißheit,  daß  die  Worte  und  Wendungen  auf  Anschauung  an- 
gelegt sind  und  daß  wir  fähig  sind,  diese  in  den  Worten  gleichsam 
eingewickelt    liegenden   Anschauungen    auch   wirklich    mit    unserer 
Phantasie  zu  vollziehen.    An  Stelle  der  wirklichen  innem  Anschauung 
tritt  die  Gewißheit  von  ihrer  Möglichkeit.    Das  ist  etwa,  was  auch 
ich  sage,   daß  nämlich   in   der  Poesie  an   Stelle  des  tatsächlichen 
Innern  Wahrnehmens  von   optischen    und   akustischen  Bildern  der 
Eindruck,   die  Illusion  trete,  als  nähmen  wir  innerlich  wahr  (Stil- 
gesetz S.  59,  156,  157,  und  Abschn.  X).    Ich  beschreibe  diesen  Ein- 
druck innerlich  wahrzunehmen  als  ein  starkes  Gefühl  davon,  daß  das 
Sinnliche  in  der  Poesie  unmittelbar  vor  uns  zu  stehen,  daß  es  uns 
greifbar  und  gegenwärtig  zu  werden  scheint«  während  es  in  der  Prosa 
uns  fern  bleibt,  und  ich  mühe  mich  redlich  ab,  die  psychologischen 
Ursachen  aufzudecken,  durch  welche  dieser  eigentümliche  Schein  der 
Gegenwärtigkeit  erzeugt  wird,  ein  Versuch,  den  ich  der  Beachtung 
ganz  besonders  empfehlen  möchte  (Stilgesetz,  Abschn.  X).    Der  Schein 
der  Gegenwärtigkeit  wird  —  und  darin  gehe  ich  sogar  über  Volkelt 
hinaus  —  bisweilen  so  lebhaft  und  stark,  daß  wir  ehrlich  überzeugt 
sind,  innere  optische  und  akustische  Bilder,  Geschmacks-  und  Geruchs- 
empfindungen zu  haben,  obwohl  wir  sie  nicht  haben,  und  jedenfalls 
verknüpft  sich  mit  ihm  leicht  der  Glaube,  daß  wir  das  Sinnliche,  das 
uns  gegenwärtig  geworden  zu  sein  scheint,  auch  wirklich  anschaulich 
vollziehen  können,  wenn  wir  nur   wollen.     Ich   sage   der   Glaube, 
Volkelt  die  Gewißheit.    Das  scheint  ein  kleiner  "Unterschied,  ist  aber 
ein  ganz  wesentlicher  und  geradezu  entscheidender.    Ich  bin  nämlich 
der  Ueberzeugung,  daß  dieser  Glaube  in  zahllosen  Fällen  trügt  und 
daß  es  aus  verschiedenen  Gründen  ein  wahres  Glück  ist,  daß  wir 
uns  statt   des  anschaulichen  Vollzugs  mit  der  Illusion  der  Gegen- 
wärtigkeit begnügen.    Mir  will  nichts  verkehrter  erscheinen  als  der 
Satz  Volkelts:  >es  bedarf  nur  eines  kleinen  Schrittes  und  die  Phantasie- 
anschaunng  ist  in  voller  Wirklichkeit  da<   (S.  418).     Dieser  Schritt 
kann  häufig  nicht  gemacht  werden  und  er  darf  häufig  nicht  gemacht 
werden.    Einmal  würde  uns  an  vielen  Stellen,  falls  wir  ihn  machten, 

0«tt.  gtü  Ans.  1906.  Nr.  4.  21 


806  Gatt.  s^l.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

das  Unbehagen  über  die  Mangelhaftigkeit  unserer  Anschauungs- 
phantasie  peinigen.  Ich  gestehe,  daß  meine  Anschanungsphantasie 
den  Versen  von  Heine: 

>Die  dankle  Lockenfülle  —  Wie  eine  selige  Nacht 
Von  dem  flechtengekrönten  Haupt  sich  ergießend 
Ringelt  sich  träumerisch  süß  um  das  süße  blasse  Antlitz« 

völlig  ratlos  gegenübersteht  und  daß  ich  froh  bin,  daß  bloß  die 
Aesthetiker  verlangen,  ich  müsse  den  Schritt  zur  innem  Anschauung 
machen  können,  nicht  aber  der  Dichter,  der  mir  ohne  innere  An- 
schauung alles  gibt,  was  er  zu  geben  hat.  Der  Umstand,  daß  der 
Dichter  seine  Aufgabe  vollständig  erfüllt  hat,  wenn  er  uns  die  Illusion 
der  Gegenwärtigkeit  erzeugt  hat,  befreit  uns  von  der  Qual,  unserer 
Anschauungsphantasie  Aufgaben  zumuten  zu  müssen,  der  sie  nicht 
gewachsen  ist;  er  befreit  aber  auch  den  Dichter  von  allen  Fesseln 
der  Anschauung  und  das  ist  noch  viel  wichtiger.  Der  Dichter  braucht 
bei  seiner  Verwendung  des  Sinnlichen  sich  nicht  darum  zu  kümmern, 
ob  der  Schritt  von  der  Gegenwartsillusion  des  Sinnlichen  zur  wirk- 
lichen Phantasieanschaulichkeit  gemacht  werden  kann;  so  kann  er 
sinnliche  Gebilde  schaffen,  die  den  Gesetzen  der  Anschauung  spotten, 
die  weder  innerlich  noch  äußerlich  besehen  werden  können;  er  malt 
Dinge,  die  für  die  innere  oder  äußere  Anschauung  zu  klein  sind,  als 
daß  man  sie  noch  deutlich  sehen  könnte,  mit  voller  Deutlichkeit;  er 
schildert  Dinge,  die  zu  groß  sind,  als  daß  sie  innerlich  oder  äußer- 
lich übersehen  werden  könnten;  er  entwirft  Bilder,  deren  Verhält- 
nisse für  die  Anschauung  häßlich  unproportioniert  sind,  ohne  daß  wir 
bei  ihm  etwas  von  dieser  Häßlichkeit  spüren;  er  schafft  lebensvolle 
Gemälde  von  einer  Allgemeinheit,  die  die  Anschauung,  die  immer 
individuell  ist,  unmöglich  macht;  er  geht  in  der  metaphorischen  Be- 
seelung und  Personifikation  des  Unterseelischen  über  alles  Anschau- 
bare hinaus,  u.  s.w.;  ich  müßte  die  betreffenden  Stellen  meines  Buches 
(S.  173—184,  188—193)  vollständig  ausschreiben,  wenn  ich  alle  Be- 
weise dafür  beibringen  wollte.  Wie  könnte  der  Dichter  das,  wenn 
der  Dichter  darauf  zu  achten  hätte,  daß  >die  Phantasieanschaunng 
im  Bereich  unseres  Könnens  liegtt  (S.  418)? 

Und  noch  in  einem  andern  Punkt  ist  der  Dichter  frei  von  den 
Bedingungen  der  Anschauung:  er  schafft  sinnliche  Gebilde,  die  den 
Charakter  dessen  nicht  tragen,  was  man  anschaulich  heißt  und  was 
auch  Volkelt  unter  diesem  Begriff  versteht.  Auch  Volkelt  versteht 
unter  Anschauung  gehalteHüUte  Sinnenform;  anschaulich  ist,  was 
uns  auffordert,  uns  einzufühlen  in  seine  sinnlichen  Formen.  Nun 
gehe  man  mit  dieser  Anweisung  an  den  Dichter  heran  und  man  wird 


Volkelt,   System  der  Aesthetik.   I.  807 

finden,  daß  viele  von  den  sinnlichen  Zügen,  die  er  gibt,  der  Ein- 
fühlung nichts  zu  tun  geben  oder  aber,  daß  die  Einfühlung  in  ihre 
sinnlichen  Formen  einen  ganz  andern  Gehalt  abgibt,  als  den,  den 
der  Dichter  erfaßt  wissen  will.  Es  hat  vielfach  gar  keinen  VT'ert, 
sich  einfühlend  zu  verhalten  zu  den  sinnlichen  Gegenständen,  die  der 
Dichter  berührt,  weil  die  Einfühlung  in  ihre  Sinnenformen  nichts- 
sagend oder  irreführend  wäre.  Der  Dichter  verfügt  über  eine  Ver- 
wendung des  Sinnlichen,  die  jenseits  der  Anschauung  liegt.  An 
vielen  Stellen  der  Poesie  dürfen  wir  uns  nicht  anschauend  verhalten 
wollen,  unter  Anschauung  immer  Einfühlung  in  die  sinnlichen  Formen 
der  Gegenstände  verstanden.  Der  Schritt  von  der  Illusion  der  Gegen- 
wart des  Sinnlichen  zur  innem  Phantasieanschauung  des  Sinnlichen 
darf  nicht  gemacht  werden,  weil  ihn  der  Dichter  nicht  gemacht 
wissen  will,  weil  er  das  Sinnliche  so  verwendet,  daß  seine  sinnlichen 
Formen  unserer  einfühlenden  Phantasie  nichts  zu  sagen  haben  (vgl. 
im  Stilgesetz  Abschnitt  VII,  S.  11 4  ff.  und  daraus  besonders  116/117, 
132—134,  140—142  und  außerdem  S.  65).  Weil  der  Dichter  keine 
Rücksicht  zu  nehmen  braucht  auf  die  Möglichkeit  der  Anschauung 
und  weil  er  über  eme  unanschauliche  Verwendung  des  Sinnlichen 
verfügt,  deshalb  steht  ihm  das  Reich  des  Sinnlichen  nach  allen  Seiten 
offen.  Die  ganze  ungeheure  Freiheit,  die  der  Dichter  in  der  Ver- 
wendung des  Sinnlichen  vor  dem  bildenden  Künstler  voraus  hat, 
wäre  dahin,  wenn  er  dafür  zu  sorgen  hätte,  daß  die  Phantasie- 
anschauung im  Bereich  unseres  Könnens  liegt.  Das  scheint  mir  einer 
der  entscheidenden  Punkte  in  der  Frage  nach  der  Anschaulichkeit 
der  Poesie  zu  sein.  Wer  meine  Auffassung  der  Poesie  bestreiten 
will,  müßte  mich,  wie  ich  meine,  an  diesem  Punkt  widerlegen  und 
ich  wundere  mich,  daß  Volkelt  ihn  auch  nicht  einmal  berührt  hat. 

Indes  gesetzt,  es  gelänge  Volkelt,  mich  darin  zu  widerlegen,  es 
gelänge  ihm,  nachzuweisen,  daß  der  Dichter  ängstlich  bestrebt  ist, 
seine  sinnlichen  Gebilde  so  zu  halten,  daß  die  Möglichkeit  der  innem 
Phantasieanschauung  erhalten  bleibt,  und  daß  er  keine  andere  Ver- 
wendung des  Sinnlichen  hat,  als  die,  die  die  Einfühlung  in  seine 
Oberflächenerscheinung  verlangt  und  gestattet,  was  wäre  damit  ge- 
wonnen? Es  bleibt  dann  eben  doch  dabei,  daß  wir  an  vielen  Stellen 
uns  mit  der  Gewißheit  begnügen,  innerlich  sehen  und  hören  zu 
können,  ohne  aber  in  Wirklichkeit  innerlich  zu  sehen  und  zu  hören, 
es  bleibt  dabei,  daß  in  unserem  Innem  keine  sinnlichen  Formen, 
keine  sinnlichen  Gebilde  vorhanden  sind.  Was  wird  dann  aber  aus 
der  sinnlichen  Frische  des  Schauens,  die  Volkelt  als  wesentliches 
Merkmal  des  ästhetischen  Aufnahmeaktes  rühmt  (S.  389)  und  was 
wird  aus  der  Einfühlung  in  die  sinnliche  Form?    Man  kann  sich 

21* 


308  Gdit  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

doch  in  sinnliche  Formen  nicht  einfühlen,  die  nicht  vorhanden  sind. 
Es  ist  klar,  die  Art  der  Gehaltsaneignnng  muß  in  der  Poesie  eine 
andere  sein  als  in  den  Künsten,  in  welchen  die  Sinnenform  gegeb^i 
ist.  Wo  die  Sinnenform  schauend  von  uns  wahrgenommen  wird,  da 
erarbeiten  wir  uns  den  Gehalt  durch  einfühlende  Versenkung  in  die 
Anschauung.  In  der  Poesie  wird  die  Sinnenform  nicht  (oder  häufig 
nicht)  wahrgenommen,  wir  werden  nur  an  sie  erinnert,  wir  können 
uns  also  auch  nur  erinnern,  daß  wir  an  ihr  einen  bestimmten  Gehalt 
erlebt  haben.  Dieses  Verhältnis  bedeutet  aber  eine  Herabsetzung 
des  Anschaulichen  aus  dem  Unmittelbaren  ins  Vermittelte  und  auch 
aus  diesem  Grund,  weil  sie  das  Anschauliche  nicht  in  seiner  Un- 
mittelbarkeit zu  schaffen  vermag,  muß  sie  ihre  Stärke  anderswo 
suchen  als  im  Anschaulichen  (vgl.  die  ausführliche  Darlegung  im 
IX.  Abschnitt  meines  »Stilgesetzt). 

Mit  dem  Beweis,  daß  die  Poesie  sinnliche  Form  ist,  ist  die  Auf- 
gabe, die  Volkelt  sich  stellen  muß,  nicht  erschöpft;  angenommen,  er 
wäre  ihm  geglückt,  so  müßte  dazu  noch  des  weiteren  gezeigt  werden, 
daß  in  dieser  Form  der  Gehalt  restlos  seinen  Ausdruck  findet  Ad- 
äquater Ausdruck  des  Gehalts  in  der  Form  ist  eine  selbstverständ- 
liche Forderung  der  Aesthetik.  Gehalt,  der  nicht  in  der  Form  ist, 
ist  nicht  vorhanden;  er  kann  dem  Kunstwerk  nicht  entnommen,  er 
kann  nur  erraten  werden.  Der  Gehalt  muß  also  vollständig  heraus 
in  die  Form.  Auch  Volkelt  sieht  dies  nicht  anders  an  und  da  für 
ihn  alle  Form  Sinnenform  ist,  so  muß  bei  ihm  der  Gehalt  auch  voll- 
ständig heraus  in  die  Sinnenform.  Man  kann  diesen  Grundsatz  nicht 
schärfer  formulieren,  als  Volkelt  es  getan.  Man  höre  ihn  selber 
(S.  394):  >in  der  Einheit  von  Form  und  Gehalt  liegt,  daß  im  ästhe- 
tischen Gegenstand  kein  Gehalt  vorkommt,  der  nicht  sinnlich  geformt 
wäre.  Der  ästhetische  Gegenstand  ist  durchweg  und  restlos  form- 
gewordener Gehalt,  sinnlich  gestaltetes  Innere,  verleiblichte  Seele<. 
>Es  ist  in  allen  Fällen  ein  ästhetischer  Mangel,  wenn  zum  ästhetischen 
Gegenstand,  und  wäre  es  selbst  nur  in  nebensächlicher  Weise,  Vor- 
stellungen und  Gefühle  gehören,  die  nicht  in  Wahrnehmung  oder 
Phantasie  ihre  Verleiblichung  gefunden  haben,  c  Es  erhebt  sich  also 
die  Frage,  vermag  die  Poesie,  auch  die  kräftigste  Anschauungs- 
phantasie in  der  Seele  des  Genießenden  vorausgesetzt,  diesem  Ideal 
irgendwie  zu  genügen.  Volkelt  hat  sich  merkwürdiger  Weise  mit 
dieser  Frage  nicht  genauer  befaßt.  Er  konstatiert  bloß  das  Vor- 
handensein sinnlicher  Elemente  beim  Aufnahmeakt  der  Poesie.  In- 
wieweit diese  Elemente  dem  Gehalt  anschaulich  gerecht  zu  werden 
vermögen,  hat  er  auch  nicht  in  einem  einzigen  Fall  untersucht.  Ich 
habe  der  Frage  im  Stilgesetz  (Abschn.  IV,  S.  60—65)  eine  ausfuhr- 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.  I.  309 

liebe  Behandlang  gewidmet.  Dieses  Unternehmen  hat  mir  von  Volkelt 
den  Vorwurf  eingetragen,  ich  nähme  den  Maßstab,  den  ich  an  die 
Phantasieanschauung  anlege,  einzig  von  der  sinnlichen  Wahmebmung 
und  fände  so  natürlich  nur  Kläglichkeit  in  ihr  (S.  414).  Das  triSt 
nicht  ganz  zu.  Ich  nehme  den  Maßstab  nicht  von  der  sinnlichen 
VT'abrnebmung ,  sondern  wie  es  natürlich  und  selbstverständlich  ist, 
von  der  Aufgabe  adäquater  Verkörperung,  restloser  Verleiblichung 
des  Gehalts  (Stilgesetz  S.  50)  und  da  finde  ich  allerdings  nur  Kläg- 
lichkeit in  ihr.  Habe  ich  so  gar  Unrecht  mit  diesem  Urteil?  Nach 
Volkelts  eigenen  Aeußerungen  kaum:  »das  Yeranschaulichungsmittel, 
das  der  Poesie  zur  Verfügung  steht«,  sagt  er  (S.  412),  >die  Phantasie, 
vermag  der  Forderung  der  Veranschaulichung  nur  in  stark  ermäßigtem 
und  vermindertem  Grade  nachzukommen.  Die  Phantasie  kann  nur  in 
bescheidener  Weise  Vorstellungen  und  Gefühle,  welcher  Art  sie  auch 
sein  mögen,  in  Anschauung  übersetzen.  <  Ja  Volkelt  geht  noch  einen 
Schritt  weiter;  er  erkennt  an,  daß  in  der  Poesie  geradezu  anschauungs- 
arme Stellen  begegnen;  so  namentlich  in  der  Gefühlslyrik,  in  der 
Gedankenlyrik  und  in  der  Schilderung  ursächlicher  Beziehungen 
(S.  425/426).  Goethes  >Herz,  mein  Herz,  was  soll  das  gebeut,  >Edel 
sei  der  Mensch,  hilfreich  und  gut<  (S.  395),  »Der  du  von  dem  Himmel 
bist<  und  der  Anfang  des  Faustmonologs  >Habe  nun  ach!  Philosophie < 
(S.  427)  > ragen  nicht  gerade  durch  sinnliche  Ausgestaltung  der  Ge- 
fühle und  Vorstellungen  hervor«.  Bei  solchen  Zugeständnissen  sollte 
man  meinen,  Volkelt  müßte  denselben  Schluß  machen  wie  ich;  er 
müßte  erklären,  der  Satz,  Kunst  ist  restlos  Sinnenform  gewordener 
Gehalt,  paßt  auf  die  Poesie  nicht  und  ist  deshalb  notwendig  falsch. 
Er  tut  es  nicht;  er  erklärt,  die  Forderung  des  formgewordenen  Ge- 
halts sei  ein  Ideal,  dessen  Verwirklichung  mit  Hindernissen,  die  aus 
der  Natur  einzelner  Künste  und  Kunstzweige  stammen,  zu  kämpfen 
habe.  Es  müsse  von  jener  Forderung  ein  gewisser  Abzug  gemacht 
werden,  wenn  es  überhaupt  diese  bestimmten  Gebiete  der  Kunst 
geben  solle.  Zwar  befriedigen  jene  Kunstzweige  die  ästhetischen 
Bedürfnisse  nicht  unbedingt  und  in  jeder  Hinsicht,  aber  doch  in  über- 
wiegender Weise ;  den  aus  jenem  Verstoß  entstehenden  ästhetischen 
Mangel  müsse  man  um  der  überwiegenden  ästhetischen  Vorzüge 
willen  ruhig  hinnehmen.  Daß  aber  jene  Forderung  auch  für  solche 
Künste  ihre  Giltigkeit  habe,  sei  aus  dem  Bestreben  der  betreffenden 
Kunstzweige  ersichtlich,  der  Forderung  adäquater  Verkörperung  so 
viel  als  möglich  gerecht  zu  werden  (S.  398/399).  In  der  Poesie,  in 
der  unter  allen  Künsten  die  Anschaulichkeit  den  stärksten  Be^* 
schränkungen  unterworfen  sei,  seien  die  echten  Dichter  aller  Zeiten 
und  Völker  bemüht  gewesen,  ihren  Worten  und  Sätzen  möglichst 


310  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  4. 

reiche  und  zwingende  Anschauungs werte  zu  geben  (S.  418).  Um  mit 
den  letzteren  zu  beginnen,  so  weiß  der  Leser,  daß  ich  die  Gleich- 
setzung von  sinnlich  und  Anschauungswert  in  der  Poesie  nicht  zu- 
geben kann  (vgl.  oben  S.  307);  aber  auch  wenn  ich  an  Stelle  der 
Yolkeltschen  Fassung  die  andere  angemessenere  setze,  alle  echten 
Dichter  haben  sich  um  möglichst  kräftige  Sinnlichkeit  gemüht,  so  ist 
der  Satz  auch  in  dieser  Fassung  zum  mindesten  mißverständlich. 
Um  was  sich  die  Dichter  gemüht  haben,  war  vielmehr  höchste  kraft- 
vollste Lebendigkeit.  Es  ist  ein  Fehler,  wenn  man,  wie  Volkelt  tut, 
abstrakt  und  anschaulich  als  Gegensätze  einander  gegenüberstellt. 
Die  Gegensätze  lauten  vielmehr  abstrakt  und  lebendig  und  das 
Lebendige  zerfällt  wieder  in  die  Unterabteilungen  des  anschaulich 
Lebendigen  und  des  unanschaulich  Lebendigen.  Die  echten  Dichter 
haben  nie  das  geringste  Bedenken  getragen,  den  unanschaulich 
lebendigen  Zug  oder  Ausdruck  dem  anschaulichen  Zug  da  vorzu- 
ziehen, wo  jener  der  lebensvollere  war.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  das 
Vorkommen  von  unsinnlichen  Bedeutungsvorstellungen  unter  den 
Gesichtspunkt  des  Notbehelfs,  des  unvermeidlichen  Uebels  fällt  (S.  137), 
falls  nämlich  nur  die  unsinnliche  Bedeutungsvorstellung  nicht  abstrakt, 
sondern  lebensvoll  ist.  Verse,  wie:  >Da  steh'  ich  nun  ich  armer  Tor! 
und  bin  so  klug  als  wie  zuvor <  sind  kein  Notbehelf,  sondern  voll 
und  echt.  Lessings  lyrische  Gedichte  sind  nicht  wegen  ihrer  An- 
schauungskahlheit  minderwertig  (S.  395),  sondern  wegen  ihrer  abstrakt 
unlebendigen  Formgebung  und  ihres  Mangels  an  Gefühlswärme.  Wenn 
kräftige  Sinnlichkeit  ein  Reiz  vieler  Dichtungen  ist,  so  rührt  dies  nicht 
daher,  daß  in  der  Dichtung  das  Prinzip  der  Anschauung  gilt,  sondern  da- 
her, daß  das  Sinnliche  vielfach  das  Lebensvollere,  Kraftvollere,  Unmittel- 
barere gegenüber  dem  Unsinnlichen  ist.  Wo  aber  umgekehrt  das  rein 
Seelische  den  Vorzug  höherer  Lebendigkeit  hat,  da  greifen  die  Dichter 
ohne  jedes  böse  Gewissen,  ohne  jedes  Gefühl,  unter  der  höchsten  Aufgabe 
der  Kunst  zu  bleiben,  zum  Unanschaulichen  (Stilgesetz  S.  73—75). 

Und  weil  das  auch  in  den  höchsten  Dichtungen  so  häufig  ge- 
schieht, deshalb  ist  die  Spannung  eine  so  gewaltige,  in  die  die  Poesie 
zur  Forderung  des  restlos  Anschauung  gewordenen  Gehalts  kommt 
Ist  es  in  allen  Fällen  ein  ästhetischer  Mangel,  wenn  zum  ästhetischen 
Gegenstand  Vorstellungen  und  Gefühle  gehören,  die  ihre  Verleib- 
lichung  nicht  gefunden  haben,  so  ist  dieser  Mangel  in  der  Poesie 
nach  Volkelts  eigenen  Zugeständnissen  beträchtlich,  am  beträcht- 
lichsten und,  sollte  man  meinen,  ganz  unerträglich  in  der  ansch&v- 
ungsarmen  Lyrik.  Und  doch,  wer  empfindet  diesen  Mangel?  Auc^ 
nicht  einmal  Volkelt  selber;  es  ist  merkwürdig,  wie  weit  seine  Nei- 
gung zur  Ermäßigung  der  Anschaulichkeitsforderung  geht,  sobald  er 


Volkelt,  System  der  Aesihetik.  I.  311 

an  die  Poesie  kommt.  Auch  in  der  Programmmusik  findet  Volkelt 
—  und  wie  ich  glaube  mit  Recht  —  einen  Ueberschuß  der  Vor- 
stellung Über  die  Anschauung  und  er  betrachtet  das  als  einen  spür- 
baren Mangel  dieser  Art  von  Musik.  Freilich  ist  der  Mangel  an 
Anschaulichkeit  bei  der  Programmmusik  verschwindend  gegenüber 
dem  Mangel  bei  der  Lyrik.  Die  Musik  vermag  uns  etwa  nicht  zu 
sagen,  woher  die  Melancholie  Tassos  stammt,  aber  diese  Melancholie 
selber  muß  sie  vollständig  mit  ihren  sinnlichen  Mitteln  zu  verleib- 
lichen vermögen,  sonst  taugt  eine  solche  Musik  überhaupt  nichts. 
Die  Programmmusik  vermag  Aeußerlichkeiten  nicht  mit  ihren  musi- 
kalischen Mitteln  zu  veranschaulichen ,  umso  peinlicher  sucht  sie 
dem  Innern,  dem  Empfindungsgemäßen  an  den  Dingen  gerecht  zu 
werden.  In  der  Lyrik  dagegen  ist  gerade  das  Innere,  die  Stimmung 
höchst  mangelhaft  verleiblicht.  Der  Lyriker  Göthe  vermag  nach 
Volkelt  z.  B.  die  Sehnsucht  nach  Frieden  nur  höchst  mangelhaft  zur 
sinnlichen  Form  werden  zu  lassen.  Hier  ist  also  ein  ganz  anderer 
Mangel  als  in  der  Programmmusik.  Hier  greift  die  Unfähigkeit  im 
Ausdruck  aufs  Innere  über.  Hier  greift  sie  bis  ins  Zentrum  der 
Kunst.  Wäre  Volkelt  konsequent,  so  müßte  die  Poesie  tief  unter 
der  Programmmusik  stehen;  sie  müßte  als  Kunst  höchst  zweifel- 
hafter Art  erscheinen  und  die  Lyrik,  in  der  der  Mangel  so  gewaltig 
ist,  könnte  höchstens  noch  unter  die  Grenzerscheinungen  der  Kunst 
wie  etwa  das  Lehrgedicht  gerechnet  werden. 

Indes  Volkelt  ist  weit  entfernt,  so  zu  urteilen.  Je  größer  der 
Mangel  wird,  desto  weniger  spürt  man  ihn  nach  Volkelts  Urteil.  Die 
sonstigen  künstlerischen  Vorzüge  der  Lyrik  sind  so  bedeutend  und 
eindrucksvoll,  daß  man  sich  jenen  Mangel  gerne  gefallen  läßt  oder 
ihn  vielleicht  überhaupt  nicht  bemerkt  (S.  426/7).  Zweifellos  ist 
dieses  Urteil  Volkelts  von  der  richtigen  Empfindung  eingegeben. 
Zweifellos  spürt  in  der  Poesie,  obwohl  ihr  die  Fähigkeit  restloser 
Verkörperung  des  Seelischen  abgeht,  kein  Mensch  einen  Mangel  und 
Produkte  wie  Goethes  >Der  du  von  dem  Himmel  bist<,  erscheinen, 
»trotzdem  man  nicht  gerade  starke  Anschauungswerte  in  ihnen 
findet«,  doch  als  schlechthin  vollkommene  Leistungen.  Was  ist  aber 
das  für  eine  Norm,  deren  Verletzung  in  allen  Fällen  ein  ästhetischer 
Mangel  ist,  nur  daß  dieser  Mangel  gerade  da,  wo  er  groß,  ja  riesen- 
groß ist,  nicht  gespürt  wird? 

Und  nun  bedenke  man  noch  eine  weitere  Konsequenz  von 
Volkelts  Standpunkt.  Die  Poesie  vermag  die  Veranschaulichung  nur 
mangelhaft  durchzuführen;  der  Gehalt  wird  nicht  restlos  zur  Form, 
die  Poesie  ist  also  —  das  ist  eine  notwendige  Folgerung  —  mangel- 
haft in  der  Form  und  insbesondere   Gedichte,  wie   >Der  du  von 


312  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

dein  Himmel  bistt,  sind  wegen  ihrer  anschaulichen  Schwäche,  mögen 
sie  auch  inhaltlich  noch  so  individuell  und  tief  sein,  in  Hinsicht  der 
Form  geradezu  ungenügend.  Die  Poesie  und  vor  allem  die  Lyrik 
erscheint  als  unfähig,  den  strengen  Anforderungen  der  Form  zu  ge- 
nügen. Uns  andern  will  das  anders  erscheinen!  Göthes  »Der  du  von 
dem  Himmel  bist«,  ist  uns  ein  unvergleichliches  Muster  höchster 
künstlerischer  Formvollendung.  Ob  nicht  auch  für  Volkelt  in  den 
Augenblicken,  in  denen  er  sich  von  der  Auffassung  frei  macht,  als 
müsse  Form  auch  in  der  Poesie  anschauliche  sinnliche  Form  sein? 
Man  kann  die  Poesie  eben  nicht  verstehen,  so  lange  man  nicht  er- 
kennt, daß  bei  ihr  die  Form  überanschaulich  ist.  Göthe  hat  in  dem 
erwähnten  Gedicht  den  Gehalt  restlos  in  überanschauliche,  sprach- 
liche Vorstellungszusammenhänge  niedergelegt  als  in  dasjenige  Mittel, 
das  der  Poesie  eigentümlich  ist  und  deshalb  ist  das  Gedicht  form- 
vollendet. 

Wie  stehen  nun  also  die  Dinge?  Volkelt  will  beweisen,  daß 
auch  die  Poesie  gehalterfüllte  sinnliche  Form  ist.  Dabei  muß  er  aber 
den  Begriff  der  Form  verschieben  und  sinnliche  Begleiterscheinungen 
zu  ihr  rechnen,  die  das  Produkt  der  Einfühlung  sind,  während  doch 
sonst  für  ihn  die  Form  das  Objekt  der  Einfühlung  ist.  Er  muß  zu- 
gestehen, daß  das  Sinnliche  in  der  Poesie  im  Bewußtsein  des  Ge- 
nießenden häufig  nicht  als  sinnliche  Form,  als  Anschauung  vorhanden 
ist,  sondern  nur  als  Gewißheit  der  Möglichkeit  der  Anschauung;  er 
muß  im  Widerstreit  mit  den  Tatsachen  dem  Dichter  eine  Verwen- 
dung des  Sinnlichen  vorschreiben,  die  jederzeit  die  Umsetzung  in  die 
anschauliche  Form  gestattet;  er  muß  der  Poesie  die  Fähigkeit  zur 
vollen  Verwirklichung  der  Norm  von  der  gehalterfüllten  Sinnenform 
absprechen  und  obendrein  erklären,  daß  man  diesen  Mangel  nicht 
spüre.  Er  macht  endlich  auch  nicht  einmal  den  Versuch  darzutun, 
daß  die  sinnlichen  Elemente,  die  er  für  die  Poesie  herausrechnet, 
auch  wirklich  sinnliche  Form  sind.  Denn  sinnliche  Form  ist  ohne  sinn- 
liche Ordnung  und  sinnliche  Einheit  nicht  denkbar.  Wo  ist  aber  in  dem 
Haufen  verschwommener  optischer  und  akustischer  Bilderchen,  An- 
schauungsmöglichkeiten und  Bewegungsempfindungen,  der  die  Vor- 
stellungszusammenhänge der  Poesie  begleitet,  irgend  welche  sinn- 
liche Ordnung  oder  sinnliche  Einheit?  Diese  ganze  Masse  sinnlicher 
Elemente  sind  keine  Form,  sondern  höchstens  die  elenden  Trümmer- 
stücke einer  solchen.  Wäre  es  unter  solchen  Umständen  nicht  besser, 
Volkelt  würde  einfach  zugestehen,  daß  die  Norm  der  gehalterfüUteo 
Sinnenform  nur  für  die  außerpoetischen  Künste  gilt,  auf  die  Poesie 
aber  nicht  anwendbar  ist?  Volkelt  hat  den  Feind  zu  weit  in  die 
Festung  eingelassen,  er  wird  sie  nicht  halten  können.    Hat  er  doch 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.   I.  318 

das  entscheidende  Wort  der  üebergabe  schon  ausgesprochen.  Die 
Unfähigkeit  der  Poesie,  dem  Ideal  der  gehalterfüllten  Sinnenform  zu 
genügen,  stört  auch  bei  ihm  nicht;  und  warum  und  inwieweit  stört 
sie  nicht?  sofern  dieser  Mangel  zum  Zurücktreten  gebracht  wird 
durch  die  Lebendigkeit,  Echtheit  und  individuelle  Prägung  im  Aus- 
druck der  Gefühle  (S.  427).  Was  heißt  das  anders,  als  daß  es  in 
der  Poesie  nicht  auf  Anschaulichkeit,  sondern  einzig  und  allein  auf 
Lebendigkeit  ankommt:  denn  Echtheit  und  Individualität  ist  im  Be- 
griff Lebendigkeit  schon  enthalten.  Ist  nur  volle  Lebendigkeit  da, 
die  nach  Volkels  Versicherung  auch  bei  starkem  Mangel  an  An- 
schaulichkeit vorhanden  sein  kann,  so  wird  >jener  Mangel  überhaupt 
nicht  mehr  bemerkt«.  Das  Gesetz  der  restlosen  Veranschaulichung 
mag  die  Poesie  verletzen,  wenn  nur  das  Gesetz  der  Lebendigkeit 
gewahrt  bleibt.  Nicht  anders  habe  ich  es  auch  gesagt. 

Es  ist  also  klar,  entweder  ist  die  Poesie  keine  Vollkunst  oder 
der  Satz,  die  Kunst  ist  restlose  Verleiblichung  eines  seelischen  Ge- 
halts ist  mit  Rücksicht  auf  die  Poesie  falsch.  Wie  ist  aber  Kunst 
dann  zu  definieren?  Ich  habe  vorgeschlagen:  Leben  in  seinen  wirk- 
lichen oder  scheinbaren  Aeußerungen  dargestellt.  Diese  Definition 
befaßt  die  Volkeltsche  Definition:  Kunst  =  durch  Einfühlung  mit 
Gehalt  erfüllte  Sinnenform  in  sich :  »In  jeder  Einfühlung«  sagt  Volkelt 
(S.  310)  >  erhalten  wir  den  Eindruck,  als  ob  das  Innere  des  Gegen- 
standes in  seiner  Oberfläche  zutage  träte,  als  ob  die  Seele  in  seiner 
Außenseite  lebte ;  in  der  Form  als  solcher  scheint  sich  uns  die  Seele 
der  Gegenstände  zu  offenbaren <.  Auch  bei  ihm  erscheint  die  Form 
als  die  Aeußerung,  als  die  Offenbarung  eines  in  ihr  waltenden  seeli- 
schen Lebens.  Einfühlung  ist  nach  ihm  nichts  anderes  als  der  Akt, 
in  dem  wir  die  Form  als  Lebensäußerung  eines  hinter  ihr  liegenden 
und  in  ihr  sich  bekundenden  seelischen  Lebens  verstehen  und  ge- 
nießen.  Aber  unsere  Definition  ist  in  vieler  Hinsicht  weiter. 

Volkelt  versteht  unter  Leben  immer  nur  seelisches  Leben.  Zwar 
erkennt  er  an,  daß  wir  auch  die  physischen  Körperbewegungen  nach- 
zuempfinden vermögen,  aber  er  will  dieses  Nachempfinden  der  phy- 
sischen Körperbewegung  nur  als  Erleichterung  und  Beförderungs- 
mittel der  seelischen  Einfühlung  gelten  lassen  und  er  spricht  dem 
Nachempfinden  der  dynamischen  Kraftbetätigung  jeden  selbständigen 
ästhetischen  Wert  ab,  das  Aesthetische  beginnt  bei  ihm  erst,  wo 
seelisch  nacherlebt  wird  (S.  231—236).  Ohne  mich  bei  diesem  Punkt 
länger  aufzuhalten,  möchte  ich  im  Vorübergehen  doch  bemerken,  daß 
mir  der  Ausschluß  der  dynamischen  Kraft  vom  eigentlich  Aestheti- 
schen  übertrieben  erscheinen  will.  Der  graziöse  Sprung  des  Rehs 
ist  als  eine  physische  Kraftbetätigung  von  höchster  Mühelosigkeit, 


814  Q6it  gel.  Ans.  1906.  Nr.  4. 

Leichtigkeit  und  Zweckmäßigkeit  für  sich  voll  Anmut,  er  ist  nicht 
blos  als  Unterlage  für  die  Einfühlung  eines  seelischen  Gehalts 
ästhetisch  bedeutsam.  Leichter  müheloser  Fluß  des  Lebens  besitzt 
auch  schon  im  Unterseelischen,  im  Gebiet  der  physischen  Kraft 
ästhetischen  Reiz.  Sodann  ist  bei  Yolkelt  das  Seelische,  das  sich  im 
Sinnlichen  äußert,  rein  aufs  Gefühl  beschränkt.  Er  haftet  zusehr  am 
Ausdruck  »einfühlent.  Seine  Aesthetik  hat  auf  dem  Gebiet  des 
ästhetischen  Miterlebens  nur  Raum  für  Gefühle  und  Stimmungen  und 
für  Strebungen,  die  in  ihrem  Gefolge  auftreten  (S.  204  ff.).  Deshalb 
machen  ihm  die  gefühlsarmen  Stellen,  die  sich  so  häufig  in  den 
vollendetsten  Dichtungen  finden,  Schwierigkeiten.  Aber  auch  in  der 
bildenden  Kunst,  in  der  Porträtmalerei  z.  B.  muß  unter  dieser  Vor- 
aussetzung manches  bedenklich  erscheinen.  Merkwürdigerweise  fehlt 
ihm  unter  den  ästhetisch  vollwertigen  Bestandteilen  der  Lebens- 
schilderung  die  Kategorie  des  Charakteristischen,  die  doch  für  die 
Kunst  so  bedeutsam  ist.  Das  Charakteristische  ist  eine  selbständige 
Seite  des  Seelenlebens  und  kann  nicht  auf  Gefühl  und  Stimmung 
zurückgeführt  werden.  Im  großen  Kurfürsten  von  Schlüter  ist  nicht 
blos  die  Stimmung  des  fürstlichen  Selbstgefühls,  sondern  auch  eine 
ungewöhnliche  Energie  des  WoUens  dargestellt;  das  ist  eine  Cha- 
raktereigentümlichkeit, also  eine  dauernde  Beschaffenheit  und  Ge- 
staltung der  Lebenskräfte,  die  nichts  mit  Stimmmungen  irgendwelcher 
Art  zu  tun  hat  Die  Kunst  und  die  Poesie  ist  überall  lebensvoll, 
wo  sie  Charaktereigentümlichkeiten  abmalt;  sie  braucht  nicht  not- 
wendig Gefühlsinhalt  zu  haben.  Denn  auch  das  Charakteristische  er- 
fassen wir  nicht  mit  dem  Verstand,  das  wäre  vollständig  unästhetisch, 
sondern  mit  unserer  eigenen  inneren  Lebendigkeit,  der  der  Zu- 
sammenhang zwischen  Lebensgrund  und  Lebensäußemng  aus  sich 
selbst  verständlich  ist  Aus  der  charakteristischen  Lebensäußemng 
machen  wir  den  nicht  verstandesmaßigen,  sondern  höchst  lebensvoDeQ 
Schluß  auf  die  Charaktereigentümlichkeit  als  auf  den  Lebensgrund, 
der  die  Aeußerung  hervorgetriebea.  Allerdings  kommt  die  Diditnng 
ohne  Gefühlserregungen  im  ganzen  nicht  aus  (vgl.  hinsichtlich  der 
Gründe  für  diese  Tatsache  mein  Stilgesetz  S.  204  ff.),  aber  fur  ein- 
zelne Stellen  in  ihren  größeren  Zusammenhängen  hat  sie  nur  die 
Aufgabe,  alles  mit  Leben  zu  durchdringen  und  zum  Leben  gehört 
auch  das  Charakteristische;  es  gehören  des  weiteren  dazu  die  Ur- 
sachen, die  die  Lebensprozesse  in  Bewegung  setzen,  auch  wenn  djeae 
Ursachen  selbst  nicht  gefuhliger  Natur  sind.  Aesthetisch  Cnssen  wir 
fiberall  auf,  wo  wir  aus  dem  uns  unmittelbar  gegebenen  Zusammoi- 
hang  von  Lebensäußemng  und  Lebensgnind,  von  lebenaerregender 
Unache  and  Lebenserregnng  heraus  die  Encheinungen  des  Leben 


Volkelt,  Syttem  der  Aesthetik.  I.  316 

verstehen.  Das  ästhetische  Erfassen  des  im  Kunstwerk  uns  entgegen- 
tretenden Lebens  ist  vielfach  nicht  geftthliger  Natur.  Der  Ausdruck 
Einfühlen,  den  man  sich  als  Bezeichnung  des  intuitiven  Charakters 
der  ästhetischen  Auffassung  gefallen  lassen  kann,  führt  leicht  zu 
Mißverständnissen.  Auch  Volkelt  hat  sich  in  seiner  Analyse  des  Be- 
griffs nicht  ganz  frei  davon  gehalten. 

Leben  als  Inhalt  der  Kunst  ist  also  weiter  als  Volkelts  >  gefühl- 
beseelte Sinnenform  <  hinsichtlich  des  Umfangs  des  Lebensgrundes,  dessen 
Schilderung  der  Kunst  offen  steht,  es  ist  aber  auch  weiter  in  Hinsicht 
der  Lebensäußerungen,  die  dem  Künstler  für  die  Schilderung  der  ver- 
schiedenen Lebensgestaltungen  zur  Verfügung  stehen.  Volkelts  De- 
finition gestattet  dem  Künstler  nur  die  Verwendung  der  wirklichen 
oder  scheinbaren  sinnlichen  Lebensäußerungen  der  Seele ;  neben  diesen 
gibt  es  aber,  so  eindrucksvoll  sie  immer  sind,  auch  rein  seelische 
Lebensäußerungen,  bestehend  in  den  Gedankenvorgängen,  in  denen 
sich  die  Gefühle  und  Strebungen  und  die  GharaktereigentUmlichkeiten 
der  Individuen  offenbaren.  In  diesen  seelischen,  sinnlich  unan- 
schaulichen Lebensäußerungen  tritt,  falls  sie  nur  in  einem  dazu  ge- 
eigneten Mittel  wiedergegeben  werden,  ebenfalls  Leben  in  die  Er- 
scheinung, sie  vermögen  ebenfalls  Form  zu  sein.  Die  Poesie  besitzt 
in  der  gedankenhaften  überanschaulichen  Sprache  dieses  Mittel  und 
der  Dichter  schildert  daher  entsprechend  der  Natur  seines  Mittels 
das  Leben  mit  Vorliebe  in  seinen  seelischen  Aeußerungen.  Seelische 
Lebensäußerungen  bilden  denn  auch  den  Inhalt  derjenigen  Göthe- 
schen  Gedichte,  die  Volkelt  als  wenig  anschauungshaltig  bezeichnet 
hat.  In  Göthes  >Der  du  von  dem  Himmel  bist<  treibt  die  Sehn- 
sucht nach  Frieden  eine  Folge  von  Gedanken  hervor;  in  ihr  findet 
das  Lebensmoment,  das  im  Gedicht  zur  Darstellung  gelangt,  seine 
vollendete  adäquate  Aeußerung  und  in  sie,  als  in  die  Form,  findet 
daher  die  Einfühlung  statt.  Die  Poesie  als  Vollkunst  macht  keine 
Ausnahme  und  darf  keine  machen  von  der  Regel,  daß  der  Gehalt 
restlos  Form  geworden  sein  muß,  weni\  er  voll  erfaßt  und  genossen 
werden  soll.  Form  ist  eben  überall  da,  wo  Leben  vollständig  in  die 
Erscheinung  tritt,  mag  diese  Erscheinung  nun  anschaulich  sein  oder 
nicht. 

Wenn  Volkelt  das  Aesthetische  als  gehalterfüllte  Form  be- 
zeichnet, so  leitet  ihn  dabei  zugleich  auch  die  Absicht,  jede  forma- 
listische Erklärung  aus  der  Kunst  auszuschließen.  Die  bloße  leere 
Form,  die  Form  an  sich  ist  unfähig  einen  ästhetischen  Eindruck 
hervorzurufen  (S.  429).  Ich  will  mich  auf  den  Streit  nicht  einlassen, 
ob  nicht  doch  auch  die  reine  gehalt-  und  inhaltlose  Form  einen 
ästhetischen  Reiz  haben  könne,  ich  glaube,  daß  das  nur  in  ganz 


316  Qött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

untergeordnetem  Maße  der  Fall  ist.  Trotzdem  bedaaere  ich  es,  daß 
Volkelt  von  einem  Formprinzip  in  der  Kunst  nichts  wissen  will.  Die 
Anerkennung  eines  solchen  scheint  mir  von  einem  doppelten  Ge- 
sichtspunkt aus  geboten,  sowohl  von  dem  des  schaffenden  Künstlers 
aus,  wie  von  dem  des  Genießenden.  Der  Künstler  will  den  Stoff, 
der  ihn  ergriffen  hat,  so  aus  sich  heraussetzen,  daß  er  von  anderen 
erfaßt  und  genossen  werden  kann;  er  will  ihn  darstellen.  Darstellen 
heißt,  einem  Inhalt  die  Gestaltung  geben,  die  für  seine  Erfassung 
die  zweckmäßigste  ist.  Jedes  Darstellen  besteht  darin,  daß  man  den 
Zwiespalt,  der  zwischen  den  Anforderungen  des  Stoffes  und  der  Ab- 
sicht der  zweckmäßigen  Darbietung  besteht,  auszugleichen  sucht. 
Wie  schwer  das  mitunter  werden  kann,  davon  weiß  jeder  Künstler 
zu  sagen.  Zweckmäßig  dargeboten  ist  aber  ein  Stoff  dann,  wenn  er 
so  gestaltet  ist,  daß  sein  Inhalt  sich  uns  mit  höchster  Klarheit  und 
Nachdrücklichkeit  und  doch  zugleich  mühelos  darbietet.  Der  Akt  des 
Erfassens  selbst  muß  zum  Vergnügen  und  Genuß  werden  und  das 
wird  er  nur,  wenn  das  Dargestellte  der  Natur  und  den  Funktions- 
gesetzen unserer  auffassenden  Organe  entgegenkommt.  Soll  ein  In- 
halt durchs  Auge  angeeignet  werden,  so  muß  er  in  einer  Gestaltung 
vorgeführt  werden,  in  der  der  Akt  des  Sehens  sich  kraftvoll  und 
doch  relativ  mühelos  vollzieht;  deshalb  erreicht  auch  der  Sehvor- 
gang am  malerischen  Kunstwerk  einen  Höhepunkt  seines  Funk- 
tionierens;  ebenso  ist  es  in  der  Musik  hinsichtlich  des  Gehörvorganges 
und  in  der  Poesie  hinsichtlich  der  sprachlichen  Vorstellungstätigkeit. 
Und  da  jedes  Kunstwerk  infolge  des  geistigen  Inhalts,  den  es  hat, 
sich  immer  zugleich  auch  an  unseren  Intellekt  wendet,  so  muß  es 
sich  auch  den  Bedingungen  fügen,  die  für  die  Auffassungstätigkeit 
unseres  Intellekts  gelten.  Es  muß  zum  Beispiel  Abwechslung  haben: 
denn  Einförmigkeit  stumpft  die  Aufnahmelust  und  Aufnahmefähig- 
keit ab;  und  es  muß  andererseits  Einheitlichkeit  besitzen,  denn  das 
Mannigfaltige  verwirrt  nur  dann  nicht,  wenn  es  sich  zugleich  als 
Einheit  darstellt. 

Der  Zweckmäßigkeit  der  Darstellung  durch  den  Künstler  ent- 
spricht auf  Seiten  des  Genießenden  die  Freude  an  dieser  Zweck- 
mäßigkeit. Wir  genießen  am  Kunstwerk  nicht  blos  die  Tiefe,  die 
Lebensfülle,  das  Bedeutungsvolle  seines  Gehalts,  sondern  auch  die 
Zweckmäßigkeit  seiner  Form.  Wenn  uns  das  Kunstwerk  den  Bnf 
abnötigt:  wie  herrlich  ist  das  gemacht,  wie  wunderbar  kommt  das 
alles  heraus,  so  ist  das  der  Ausdruck  nicht  eines  materiellen,  sondern 
eines  formellen  Wohlgefallens.  Zu  solchem  formellen  Wohlgefallen 
bietet  aber  jedes  Kunstwerk  und  auch  das  Schöne  der  Natur,  sofern 
eben  seine  Gestaltung  den  Gesetzen  unserer  auffassenden  Organe 


Volkelt,    System  der  Aesthetik.   I.  817 

entgegenkommt,  den  reichsten  Anlaß.  Volkelt  ist  diese  Seite  am 
Aesthetischen  fast  ganz  entgangen.  Nur  eines  der  wesentlichen 
Formelemente  behandelt  er,  ohne  jedoch  seinen  Formcharakter  be- 
sonders zu  betonen,  ausführlich  und  treffend  in  seiner  vierten  Norm, 
die  Einheit  des  Kunstwerks.  Aber  so  gewiß  die  Einheit  des  Kunst- 
werks eine  formelle  Forderung  ist,  so  gewiß  ist  sie  nicht  das  ein- 
zige Formgesetz  des  Kunstwerks.  Die  Absicht  des  Künstlers,  den 
Stoff  darzubieten  und  zwar  so,  wie  es  für  die  das  Kunstwerk  erfassen- 
den Organe  am  zweckmäßigsten  ist,  unterwirft  ihn  einer  Fülle  von 
Formbestimmungen,  deren  Durchführung  im  Kunstwerk  vom  Ge- 
nießenden mit  immer  neuem  formellen  Wohlgefallen  beantwortet 
wird.  —  Diese  Andeutungen  über  die  Form  in  der  Kunst  mögen 
genügen,  zumal  ich  die  Notwendigkeit  eines  so  gefaßten  Formprinzips 
näher  begründet  habe  in  einem  Aufsatz  im  Archiv  fur  systematische 
Philosophie  Bd.X  S.  330  ff.  1904  (Ueber  das  Formprinzip  des  Schönen), 
der  etwa  gleichzeitig  mit  Volkelts  Aesthetik  erschienen  ist. 

Wir  wenden  uns  von  der  ersten  zur  zweiten  Norm  Volkelts. 
Die  erste  Norm  genügt  nach  Volkelts  Ueberzeugung  nicht  für  sich 
allein,  das  Wesen  des  Aesthetischen  zu  beschreiben.  Wohl  ist  über- 
aU,  wo  wir  ästhetisch  wahrnehmen,  die  Forderung  der  gehaltbeseelten 
Form  erfüllt;  aber  bliebe  das  die  einzige  Forderung,  dann  könnten 
auch  langweilige,  törichte,  nichtige  Zustände,  sobald  sie  nur  ent- 
sprechende Sinnenform  gewonnen  haben,  den  Anspruch  auf  ästheti- 
schen Wert  erheben  — ,  dann  würde  das  Aesthetische  aus  der  Reihe 
der  großen  menschlichen  Güter  ausscheiden.  Im  ästhetischen  Gehalt 
muß  deshalb  etwas  zu  uns  sprechen,  was  für  menschliches  Dasein 
und  menschliche  Entwicklung  typisch  und  charakteristisch  ist.  Da- 
bei ist  zu  überlegen,  daß  unsere  gefühlsmäßige  Auffassung  von  der 
Natur  des  Menschlichen  schließlich  immer  in  einer  Ueberzeugung  von 
dem  Zweck  und  Wert  des  menschlichen  Daseins  mündet.  Volkelt 
schafft  für  dieses  Typische,  das  etwas  vom  Sinn  und  Wert  des 
Menschlichen  offenbart,  den  Namen  des  Menschlich-Bedeutungsvollen 
und  seine  zweite  Norm  besteht  daher  in  der  Forderung  des  Mensch- 
lich-Bedeutungsvollen für  die  Kunst.  Dieser  Begriff  ist  weiter  als 
das  Sittlich-Gute.  In  einer  feinen  Ausführung  und  mit  trefflichen 
Gründen  wird  die  vielgehörte  Behauptung  widerlegt,  das  Schöne  habe 
zu  seinem  einzigen  Inhalt  das  Gute.  Nicht  blos  nach  seinem  sitt- 
lichen Werte,  meint  Volkelt,  sondern  auch  nach  seinen  religiösen, 
künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Gütern,  sodann  nach  seiner 
metaphysischen  und  eudämonistischen  Bedeutung  kommt  das  Leben 
für  die  Kunst  in  Betracht  (S.  462/3).  Zunächst  erweckt  Volkelts 
Darlegung  den  Schein,  als  solle  das  nur  heißen:  der  Künstler  greift 


318  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

das  Typische  und  Charakteristische  aus  allen  Gebieten  des  Lebens, 
nicht  blos  aus  dem  sittlichen  heraus  und  zwar  insoweit,  als  es  von 
Bedeutsamkeit  und  Gewicht  fürs  Menschenleben  ist,  insoweit  als  sich 
darin  wesenhafte  Bestimmtheiten  des  Menschenlebens  aussprechen. 
Gegen  eine  solche  Fassung  des  Volkeltschen  Begriffs  des  Menschlich- 
Bedeutsamen  wüßte  ich  nichts  zu  erinnern.  Das  Typische  und  Cha- 
rakteristische in  diesem  Sinn  macht  die  ganze  eine  Seite  der  Kunst 
aus.  Der  erste  Eindruck,  den  wir  jedem  höheren  Kunstwerk  gegen- 
über haben,  ist  der:  so  ists!  Diese  Gebilde  sind  ewig,  denn  sie 
sind!  Was  wir  vom  Kunstwerk  zuerst  verlangen,  was  uns  zuerst  an 
ihm  entzückt,  ist  Wahrheit  und  ich  wundere  mich,  daß  dieser  Be- 
griff, der  in  der  Aesthetik  eine  so  grundlegende  Stellung  einnimmt 
und  eine  ausführliche  Behandlung  verdienen  würde,  bei  Volkelt  so 
wenig  hervortritt.  Ich  wäre  daher  auch  nicht  so  abgeneigt  wie 
Yolkelt  (S.  538),  unter  die  echt  ästhetischen  Wirkungen  der  Kunst 
das  zu  rechnen,  daß  sie  uns  das  Verständnis  für  alles  Menschliche 
erschließt.  Ich  sehe  nicht  ein,  wie  diese  Wirkung  ausbleiben  kann. 
Die  Kunst  erschließt  uns  die  charakteristischen  typischen  Formen 
und  Gestaltungen  der  menschlichen  Leidenschaften  und  Gefühle,  Zu- 
stände und  Geschicke,  Veranlagungen  und  Eigentümlichkeiten;  sie 
erschließt  diese  Gestaltungen  nicht  unserem  erkennenden  Verstand, 
sondern  unserer  nacherlebenden  Phantasie;  wie  sollte  sich  in  diesem 
Nacherleben  nicht  unsere  Lebenserfahrung  erweitern  und  warum  sollte 
diese  Wirkung  der  Kunst,  die  auf  schlechthin  ästhetischem  Weg  zu- 
stande kommt,  nicht  auch  ästhetisch  sein?  Aber  andererseits  spricht 
nun  Volkelt  doch  auch  wieder  so,  als  solle  der  Begriff  des  Mensch- 
lich-Bedeutungsvollen mit  dem  Typischen  und  Charakteristischen  in 
der  angegebenen  Fassung  nicht  erschöpft  sein,  als  solle  immer  zu- 
gleich eine  Gefühlswertung  Platz  greifen,  die  auf  Zweck  und  Ziel  des 
Menschenlebens  bezogen  ist.  Nun  leugne  ich  nicht,  daß  mit  dem 
Aesthetischen,  das  wir  nach  seiner  einen  Seite  als  das  Typische, 
Charakteristische  und  Wahre  empfinden,  auch  eine  Gefühlswertung 
verbunden  ist,  aber  sie  geht  meines  Erachtens  nicht  auf  Zweck  und 
Ziel  des  Lebens.  Man  vergegenwärtige  sich  unzählige  Eindrücke  von 
musikalischen  Kunstwerken,  von  lyrischen  Gedichten,  von  Gemälden, 
namentlich  von  Porträten;  ist  es  denn  wahr,  daß,  was  wir  an  ihnen 
erleben,  von  der  Wertung  begleitet  ist :  das  ist  wichtig  für  Sinn  und 
Ziel  des  Lebens  nach  seiner  eudämonistischen  oder  seiner  sittlichen 
oder  seiner  religiösen  oder  sonst  einer  Seite  oder  auch:  hier  haben 
wir  das  Gegenteil  eines  Wertes  und  dieser  Unwert  ist  wichtig  fiir 
die  Anschauung  von  Sinn  und  Ziel  des  Lebens  (S.  477/8)?  Wer  fragt 
sich  denn  beim  Schlußsatz  der  Cis-moll-(Mondschein-)Sonate  Beethovens, 


Volkelt,  System  der  Aesthetik.   I.  319 

ob  das  Aufwallen  wilder  Leidenschaft,  das  wir  vernehmen,  als  Wert 
oder  Unwert  wichtig  ist  für  Sinn  und  Ziel  des  Lebens;   genug,  daß 
dieser  Ausbruch  der  Leidenschaft  wahr  und  echt  und  zugleich  er- 
haben ist.    Ja,  selbst  bei  Gedichten,  wo  die  Wertung  nach  der  Be- 
deutung für  Sinn  und  Ziel  des  Lebens  möglich  wäre,  fehlt  sie  bei 
mir.    In  Mörikes  verlassenem  Mägdlein  könnte  man  die  treue  An- 
hänglichkeit der  Verlassenen  an  den  treulosen  Geliebten  als  sittlich 
wertvoll  beurteilen;  aber  ich  bilde  diese  Wertvorstellung  nicht,  noch 
weniger  kommt  mir  etwa  das  Urteil:   der  Schmerz  der  Verratenen 
stellt  das  Gegenteil  eines  eudämonistischen  Wertes  dar,  er  offenbart 
mir,  daß  der  Liebende  das  Verlassen  werden  mit  Leid  bezahlt;  wohl 
aber  fühle  ich  mich  getroffen  durch  die  unvergleichliche  Wahrheit 
der  Darstellung  des  herben  Liebesleids  und  zugleich  gerührt  von  der 
Tiefe  des  seelischen  Lebens,  das  sich  mir  hier  in  aller  Schlichtheit 
enthüllt.    Ueberall  gewahren  wir  neben  dem  Eindruck  der  Tatsäch- 
lichkeit, der  Wahrheit  ein  Wertungsgefühl,  aber  dieses  Wertungs- 
gefuhl  bleibt  ganz  im  Aesthetischen,  es  erstreckt  sich  nicht  auf  die 
sittliche,  religiöse  oder  eudämonistische  Bedeutung  des  Lebens.    Es 
geht  einzig  und  allein  auf  den  Lebendigkeitswert,  d.  h.  wir  werden 
im  Nacherleben  gefühlsmäßig  gewahr,  ob  das  Leben,  in  dessen  An- 
schauen wir  begriffen  sind,  sich  in  Fülle  oder  Aermlichkeit,  in  Kraft 
oder  Schwäche,  in  Tiefe  oder  Oberflächlichkeit  bekundet.    Je  nach- 
dem das  eine  oder  andere  uns  im  Aesthetischen  gegenübertritt,  fühlen 
wir  uns  in  unserem  eigenen  Lebensgefühl  emporgehoben  oder  ge- 
drückt.  Auch  das  Sittliche  wird  im  Aesthetischen  nicht  nach  seinem 
sittlichen  Wert  beurteilt,   sondern   nach  seiner  Kraft  oder  Anmut, 
also  nach  dem  Grad  und  der  Art  seiner  Lebendigkeit.  Die  Kategorie 
des  Lebensvollen  ist  weiter  als  die  des  Schönen  und  Erhabenen.   Sie 
befaßt  auch  das  Derbe  und  das  im  besonderen  Sinn  Charakteristische 
und  den  Humor  in  sich,  ja  auch  das  Schmerzliche  und  Wehmütige, 
sofern  es  nur  seelisch-tief  ist.    Im  Schmerzlichen  erscheint  die  seeli- 
sche Tiefe  gerade  im  Kontrast  zu  der  Lebenshemmnis,  aus  der  sie 
hervorgeht,  besonders  lebensvoll.    Wertung  nach  der  Wahrhaftigkeit 
und  Wertung  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Lebensvollen  sind  die 
beiden  zusammengehörigen  Seiten  am  Aesthetischen.    Sie  werden  an 
jedem  Kunstwerk  und  an  jedem  schönen  Gegenstand  der  Natur  wirk- 
sam, wobei  freilich  bald  die  eine,  bald  die  andere  Art  der  Wertung 
überwiegt  In  der  Architektur  und  Musik  und  im  Kunstgewerbe  tritt 
die  Wahrheit  und  Naturtreue  zurück,  sie  verlangen  desto  mehr  einen 
Gebalt,  der  durch  harmonische  oder  kraftvolle  Lebensgestaltung  der 
Forderung  des  Lebensvollen  zu  genügen  und  unser  Lebensgefühl  zu 
erhöhen  vermag.  Die  nachahmenden  Künste,  vornehmlich  die  Poesie, 


820  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

befriedigen  durch  die  naturgetreue  Wiedergabe  der  Wirklichkeit,  die 
sie  verlangen,  in  erster  Linie  unser  Bedürfnis  nach  Ausweitung  un- 
seres Lebensgefühls;  aber  da  das  Leben  überall,  wo  es  der  ächte 
Künstler  packt,  tief  ist,  so  vermögen  sie  auch  der  zweiten  Seite  des 
Aesthetischen,  dem  Verlangen  nach  dem  Lebensvollen  zu  entsprechen 
und  uns  in  einen  Zustand  erhöhten  Daseinsgefühls  zu  versetzen.  Ge- 
wiß ist  Volkelt  im  Recht,  wenn  ihm  nicht  jedes  Moment  des  sich 
äußernden  Lebens  als  Inhalt  eines  Kunstwerks  ausreichend  zu  sein 
scheint.  Der  Künstler  muß  vom  Wahren  weitergehen  zum  wahrhaft 
und  wesentlich  Wahren,  zum  Typischen  und  vom  Lebendigen  zu  dem, 
was  in  irgend  einer  Hinsicht  lebensvoll  ist.  Diese  Forderung  des 
Lebensvollen  ist  auch  dann  erfüllt,  wenn  etwa  die  Schilderung  des 
Trivialen  dem  Dichter  dazu  dient,  den  schwermütigen  Eindruck  her- 
vorzubringen, daß  das  menschliche  Leben  einen  ziel-  und  sinnlosen 
Verlauf  darstelle  (S.  466).  Denn  indem  die  Wiedergabe  des  Trivialen 
zu  ihrem  Untergrund  die  Schwermut  des  Dichters  über  die  Sinn- 
losigkeit des  Weltlaufs  erhält,  kommt  im  Gedicht  die  Persönlichkeit 
des  Dichters  mit  zur  Darstellung;  und  diese  Persönlichkeit  erscheint 
in  ihrem  tiefen  regen  Schmerz  über  die  Unvernunft  des  Lebens  als 
eine  Natur  von  tiefem  Gemüt  und  warmer  Empfindung,  sie  zeigt 
eine  Feinheit  der  seelischen  Organisation,  die  die  Dumpfheit,  mit 
der  andere  durchs  Leben  gehen,  weit  überragt  und  in  dieser  Fein- 
heit der  psychischen  Organisation,  in  ihrem  leidenschaftlichen,  durch 
die  Wirklichkeit  enttäuschten  Verlangen  nach  gehaltvoller  Existenz 
bekundet  sie  eine  das  Gewöhnliche  weit  hinter  sich  lassende  Lebendig- 
keit. In  solchen  Fällen  erreicht  der  Dichter  durch  die  Behandlung, 
was  er  durch  den  Stoff  nicht  zu  leisten  vermag. 

Sieht  man  in  diesen  beiden  Punkten  das  eigentliche  Ziel,  dem 
das  Aesthetische  zustrebt,  dann  ist  die  zweite  Norm  des  Aesthetischen, 
die  den  Charakter  des  im  eminenten  Sinn  Aesthetischen  ausspricht, 
von  der  ersten,  die  nur  die  allgemeinen  Grundzüge  alles  Aestheti- 
schen feststellt,  nicht  mehr  so  verschieden.  Die  zweite  Norm  ist 
dann  die  Entwickelung  der  ersten.  Lautet  die  erste,  das  Aesthetische 
ist  überall  da,  wo  Leben  in  seinen  Aeußerungen  erscheint  und  ist 
darin  schon  enthalten,  daß  das  Aesthetische  an  die  Wirklichkeit  ge- 
bunden ist,  daß  es  wahr  sein  muß,  so  erscheint  diese  Eigenschaft 
der  Wahrheit  gesteigert,  wenn  in  der  zweiten  Norm  verlangt  wird, 
daß  in  der  Kunst  nicht  zufälliges,  sondern  typisch  charakteristisches 
Leben  geschildert  werde;  wie  nach  der  anderen  Seite  die  Forderung 
der  Darstellung  von  Leben  gesteigert  ist,  wenn  als  das  im  eigent- 
lichen Sinn  Aesthetische  das  Lebensvolle  erscheint.  Aber  auch  zur 
dritten  Norm  Volkelts  ergeben  sich  von  der  ersten  und  zweiten  die 


Volkelt,  System  4er  Aeethetik.   I.  821 

ZusammenhäDge  leicht.  In  ihr  behandelt  Volkelt  die  Herabsetzung  des 
Wirklichkeitsgefühls  in  der  ästhetischen  Betrachtung.  Er  betrachtet 
diesen  Ausdruck  als  die  tre£fiende  Bezeichnung  für  diejenigen  Eigen- 
tümlichkeiten der  Kunst,  die  man  meint,  wenn  man  vom  Schönen  als 
einer  Welt  des  Scheines  oder  Bildes,  vom  Künstlerischen  als  einer 
Art  des  Spiels,  von  der  reinen  stofflosen  Form,  von  der  künstlerischen 
Kontemplation  oder  vom  interesselosen  Wohlgefallen  redet.  Diese 
Norm  gibt  nun  aber  —  und  damit  ist  ihre  Verbindung  mit  der  ersten 
und  zweiten  Norm  hergestellt  —  die  Bedingungen  an,  unter  denen 
ästhetische  Betrachtung  zustande  kommt.  Man  kann  den  Gehalt  aus 
der  Sinnenform  oder  wie  ich  lieber  sagen  möchte,  den  Lebensgrund 
aus  der  Lebensäußerung  auch  entbinden  aus  praktischen  Bücksichten 
oder  im  Interesse  der  theoretischen  Erkenntnis.  Mit  praktischer  Ab- 
zweckung  fühlt  man  sich  in  die  unwillkürlichen  sinnlichen  oder 
seelischen  Lebensäußerungen  einer  Persönlichkeit  ein,  wenn  man  ihre 
Stimmung  oder  ihren  Charakter  entziffern  möchte,  um  diese  Persön- 
lichkeit irgendwie  zu  bestimmen  und  zu  beeinflussen.  Ein  theoretisches 
Interesse  aber  waltet  ob,  wenn  man  sich  in  den  Charakter  von 
Persönlichkeiten  oder  Literaturwerken  einfühlt,  um  ihn  wissenschaft- 
lich festzusetzen  und  darzulegen.  Ein  solches  Einfühlen  im  Dienst 
von  praktischen  oder  theoretischen  Zwecken  ist  kein  ästhetisches 
Einfühlen.  A'esthetisches  Einfühlen  ist  nur  da,  wo  wir  das  Leben  um 
seiner  selbst  willen  betrachten,  also  da,  wo  wir  es  in  seiner  Wesen- 
heit erschauen  und  in  seinem  Lebendigkeitswert  genießen. 

Im  übrigen  ist  der  ganze  Abschnitt,  in  dem  sich  Volkelt  mit 
seiner  dritten  Norm  befaßt  —  von  der  vierten  ist  schon  oben  die 
Rede  gewesen  —  ein  deutlicher  Erweis  von  der  Meisterschaft  Volkelts 
in  der  Behandlung  ästhetischer  Fragen.  Seine  Ausführungen  über 
diese  Seite  am  Schönen  sind  besonders  edle  Früchte  der  maßvollen 
Besonnenheit,  der  klaren  Keife  und  eindringenden  Kraft  seines  Denkens, 
die  seinem  ganzen  Werk  den  Charakter  gegeben  und  es  zu  einer  so 
hervorragenden  und  fördernden  Leistung  auf  dem  Gebiet  der  mo- 
dernen Aesthetik  gemacht  haben. 

Stuttgart.  Theodor  A.  Meyer, 


06ii.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  4.  22 


S22  'Gatt  geL  Anz.  1906.  Nr.  4. 


Ito  BniDS,   Vorträge  und  Aufsätze.    München   1905.    C.  H.  Beck'sche 

Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck).   8,50  Mk. 

Am  16.  Mai  1901  erlag  Ivo  Bnins  der  Krankheit,  der  er  die 
letzten  sieben  Jahre  seines  kurzen  Lebens  hatte  abringen  mttssen. 
Th.  Birt,  den  eine  ungetrübte  Jugendfrenndschaft  bis  zuletzt  mit 
ihm  vereinigte,  hat  ihm  mit  dieser  Sammlung  ein  Denkmal  ge- 
setzt; daß  der  vornehme  Inhalt  eine  ungewöhnlich  geschmackvolle 
Form  gefunden  hat,  ohne  daß  der  Preis  die  bei  >0pu8cula<  übliche 
Höhe  erklimmt,  sei  der  Verlagsbuchhandlung  an  dieser  Stelle  noch 
besonders  gedankt. 

Die  Auswahl  aus  den  schon  gedruckten  Sachen  ist  der  Haupt- 
sache nach  eine  glückliche  zu  nennen.  Lateinische  Programme  und 
Abhandlungen  streng  wissenschaftlichen  Inhalts  sind  mit  Recht  aus- 
geschlossen; ich  hätte  die  Lucianea  Nr.  14.22.26  des  Schriftenver- 
zeichnisses zu  diesen  gerechnet,  um  so  mehr  als  die  Fortsetzung  von 
Nr.  14  doch  hat  weggelassen  werden  müssen.  Dagegen  würde  ich 
Nr.  39,  die  Anzeige  von  Schmekels  Philosophie  der  mittleren  Stoa 
aufgenommen,  und  lieber  gesehn  haben  daß  an  Stelle  des  Teildmcks 
von  Nr.  35  [Neueste  Darstellungen  der  griechischen  Geschichte]  Nr.  8, 
>  Wandlungen  innerhalb  der  klassischen  Archäologie« ,  eine  sichere  Unter- 
kunft gefunden  hätte.  Von  der  Meisterschaft,  die  Bruns  besaß, 
Lebensbilder  von  Zeitgenossen  zu  entwerfen,  legt  nur  die  Gedächtnis- 
rede auf  Peter  Forchhammer  Zeugnis  ab,  fireilich  ein  klassisches:  hier 
war  dem  Takt  des  Redners  eine  besonders  schwere  Aufgabe  ge- 
stellt, und  so  fein  hat  wohl  niemals  ein  Enkomion  das  Delikateste 
geleistet  was  es  gibt,  mit  schonender  Wahrheitsliebe  das  Lob  bis  an 
die  Grenze  zu  führen,  wo  es  umschlägt.  Aber  Bruns  entfaltete  sein 
pietätsvolles  Können  doch  anders,  wenn  er  mit  der  Seele  dabei  war; 
er  hat  es  auch  fertig  gebracht,  was  ihm  so  leicht  keiner  nachmacht, 
seines  Vaters  Leben  mit  plastischer  Anschaulichkeit  zu  erzählen. 
Im  Schriftenverzeichnis  fehlt  diese  Nummer;  und  wenn  es  nicht 
möglich  war,  sie  abzudrucken  —  sie  steht  in  den  Kleinen  Schriften 
von  C.  G.  Bruns  — ,  so  dünkt  mich,  wäre  es  wohl  angängig  ge- 
wesen, das  als  Manuskript  gedruckte  Lebensbild  von  Theodor  Bnuis 
einem  größeren  Kreise  zugänglich  zu  machen:  dem  Herausgeber 
hätte  das  schwerlich  jemand  als  Pietätlosigkeit  angerechnet. 

Indeß,  ich  will  nicht  rechten  und  nicht  mäkehi:  wer  die  Ent- 
sagung besitzt,  die  Aufsätze  Verstorbener  zu  sammeln,  kann  es  nie 
allen  recht  machen  und  hat  auf  zu  viel  Dank  Anspruch,  als  daß 
jeder   ihm    eigene   Wünsche   vorrechnen   dürfte.      Die   gefährliche 


Ivo  Brans,  Vorträge  and  Aafs&tze.  823 

Klippe,  an  der  so  oft  gerade  die  treuen  Freunde  scheitern,  daß  aus 
dem  Nachlaß  Unfertiges  und  Ungereiftes  veröffentlicht  wird,  ist  von 
Birt  vermieden;  was  er  aus  Manuskripten  hinzugefügt  hat,  kann 
alles  das  volle  Tageslicht  vertragen.  Nur  der  Titel  von  Nr.  1  >Eult 
historischer  Personen  c  hätte  wohl  geändert  werden  müssen,  um  we- 
nigstens einen  Teil  des  Widerspruchs  zu  beseitigen,  der  gegen  den 
Aufsatz,  soweit  er  von  der  Antike  handelt,  erhoben  werden  kann. 
Der  Philologe  kann  unter  dem  Kult  historischer  Personen  nur  die 
Heroisierung  oder  die  Apotheose  im  konkreten  Sinne  verstehen  und 
erwartet  eine  Auseinandersetzung  über  eins  der  allerwichtigsten  Ka- 
pitel aus  der  alten  Geschichte;  der  Ausdruck  ist  aber  im  abge- 
schwächten, modernen  Sinne  gebraucht,  wie  Carlyle  hero  worship 
und  die  Franzosen  la  legende  sagen,  und  wäre  besser  durch  >Das 
allgemeine  Urteil  über  historische  Personenc  ersetzt.  Erheblich  wert- 
voller, ja  in  mehr  als  einer  Hinsicht  das  reifste  Stück  der  Samm- 
lung ist  Nr.  5  >  Maske  und  Dichtung  < ;  es  ist  besonders  erfreulich, 
daß  es  dem  Herausgeber  gelungen  ist,*  hier  die  Schwierigkeiten  zu 
überwinden,  die  ein  mehrfach  redigiertes  Konzept  bereitet.  Und 
endlich  sollte  nur  eine  Stimme  des  Lobes  und  der  Anerkennung 
darüber  herrschen,  daß  die  > Musikalische  Plauderei«  der  Vergessen- 
heit entrissen  ist,  in  die  ihr  Schöpfer  sie  freiwillig  versteckt  hatte. 
Sie  ist  im  Winter  1877/78  entstanden,  als  Bruns  in  seiner  Jugend 
Höhe  stand  und,  sehr  verschieden  von  dem  jetzigen,  früh  mit  sich 
fertigen  Geschlecht,  bedrückt  das  wirkliche  Leben  auf  sich  zukommen 
sah,  das  während  der,  ungewöhnlich  glücklichen  Studentenjahre  im 
rosigen  Dämmerschein  vor  ihm  gelegen  hatte.  Er  hatte  das  Ma- 
nuskript schon  einer  Redaktion  angeboten,  und  diese  begierig  zuge- 
griffen, ihn  aufgefordert,  weiter  zu  schreiben:  da  zog  er  zurück,  um 
durch  solche  Allotria  den  noch  zarten  Schößling  seines  wissenschaft- 
lichen Rufes  nicht  zu  gefährden.  Die  Befürchtung  war  vielleicht 
nicht  ganz  grundlos;  als  er  bald  darauf,  im  Sommer  1878,  seine 
erste  wissenschaftliche  Reise  nach  Paris  antrat,  gab  ihm  ein  Kollege 
seines  Vaters  allen  Ernstes  den  wohlgemeinten  Rat,  seine  Geige  da- 
heim zu  lassen. 

Mich  mit  dem  wissenschaftlichen  Inhalt  des  Buches  auseinander- 
zusetzen ist  hier  nicht  der  Ort.  Ich  kann  an  dem  Todten  nicht 
Kritik  üben  und  noch  weniger  alles  bedingungslos  loben  ohne  Wider- 
spruch laut  werden  zu  lassen.  Aber  ich  will  doch  ausdrücklich  darauf 
hinweisen,  daß  die  Wissenschaft,  die  hier  entgegentritt,  eine  sehr  ernste 
und  fruchtbare  ist.  Es  muß  festgelegt  werden,  daß  die  Rede  über 
die  atticistischen  Bestrebungen  in  einer  Zeit  gegen  den  Klassicismus 
Front  machte  und  für  den  Hellenismus  eine  Lanze  brach,  in  der  das 

22* 


324  Gute,  gel  Anz.  1906.  Nr.  4. 

keineswegs,  wie  jetzt,  die  allgemeine  Parole  war.  Der  Aufsatz  fiber 
die  attischen  Liebestheorien  ist  das  geistvollste,  das  seit  langer  Zeit 
^äber  das  Verhältnis  von  Piaton  und  Xenophon  geschrieben  ist,  weil 
er  die  platonische  Auffassung  der  Liebe  von  einer,  meines  Wissens 
bis  jetzt  übersehenen  Seite  anfaßt.  Wandelt  Bruns  hier  auf  Bahnen, 
die  ihm  von  dem  ersten  Anfang  selbständiger  Arbeit  her  vertraut 
waren,  so  ist  die  eindringende  Beschäftigung  mit  der  Tragoedie  eine 
Eroberung  des  Mannesalters;  noch  als  junger  Doktor  sprach  er  von 
Euripides  im  Ton  der  Schlegel,  und  es  ist  ihm  sauer  geworden  zu 
ihm  in  ein  Verhältnis  zu  kommen.  Mit  um  so  tieferer  Wehmut  las 
ich  diese  schon  der  Krankheit  abgewonnenen  Aufsätze,  in  denen  mir 
der,  ich  möchte  sagen,  medizinische  Gesichtspunkt  am  meisten  ein- 
leuchtet, von  dem  aus  Euripides  dramatische  Darstellungen  der 
Leidenschaft  betrachtet  werden,  und  die  Aeschylos  Mythopoeie  sehr 
beachtenswerten,  künstlerisch -technischen  Erwägungen  unterwerfen: 
denn  diese  Früchte  sind  nur  der  erste  Anfang  einer  Ernte,  die 
Bruns  eine  eigenartige  Stellung  unter  den  Fachgenossen  anweisen 
sollte  und  angewiesen  hätte,  wenn  es  ihm  vergönnt  gewesen 
wäre  die  Aehren  von  den  Halmen  zu  schneiden,  die  er  gesät  Er 
ist  ein  ergreifendes  Beispiel  für  den  aristotelischen  Satz,  daß  zur 
ebSaijtovta  ein  Leben  gehört,  das  nicht  zu  früh  gekürzt  wird;  die 
Chans,  die  ihn  so  verschwenderisch  ausgestattet  hatte,  hat  ihn  eben 
durch  den  Reichtum  ihrer  Gaben  daran  gehindert  eine  so  konzen- 
triert und  ausschließlich  von  früh  an  auszubilden,  daß  er  bei  seinem 
frühen  Tod  ein  so  fertiges  Tagewerk  hinterließ,  wie  es  bei  geistigen 
Virtuosen  oft  der  Fall  ist.  Mit  seiner  musikalischen  Begabung 
konnte  er  ein  mehr  als  mittelmäßiger  Künstler  werden,  wenn  er  von 
der  Kunst  nicht  zu  hoch  gedacht  hätte.  Welch  glänzender  Schrift- 
steller in  ihm  steckte,  verrät  die  musikalische  Plauderei ;  mit  so  hin- 
reißendem und  originellem  Schwung  ist  seit  E.  T.  A.  Hoffmann  nicht 
über  Musik  geschrieben  und  die  in  der  Schwebe  gehaltene  Antinomie 
der  wissenschaftlichen  und  dilettantischen  Kritik  ist  eine  jugendlich 
kühne  Wiedergeburt  sokratisch-platonischer  Kunst,  die  in  unserer 
Literatur  ihresgleichen  sucht.  An  seinem  Können  lag  es  nicht,  wenn 
er  den  Sprung  ins  Literatentum  nicht  wagte:  er  wollte  nicht,  weil 
ihn  das  literarische  Treiben  der  Gegenwart  abstieß,  weil  er  fühlte, 
daß  jetzt  eine  vornehme  Literatur  aus  nichts  anderem  ihre  Nahrung 
holen  kann  als  aus  der  Wissenschaft.  Er  war  zur  Philologie  nicht, 
wie  viele,  gekommen  aus  Hang  zu  den  Büchern  und  zur  Gelehrsam- 
keit, oder  durch  angeborenes  kritisches  oder  sprachliches  Talent  ge- 
drängt, sondern  weil  er  für  seine  sehnende,  schwärmende,  SchönheR 
ahnende  Seele  einen  Inhalt  suchte.    Lange  wollte  dem  Suchen  das 


Ivo  Brans,  Vorträge  und  Aufsätze.  325 

Finden  nicht  folgen,  und  wer  weiß  ob  er  nicht  hungrig  und  durstig 
vor  der  halb  geöffneten  Tür  wieder  umgekehrt  wäre,  wenn  nicht 
Buechelers  strenge  Eleganz  ihn  immer  wieder  gebannt,  Useners^ 
wuchtiges  Menschentum  nicht  unter  seine  Schwingen  genommen  hätte. 
Und  auch  dann  kam  es  ihn  hart  an  mit  seinem  romantischen  Künstler- 
sinn, der  verlangte  ein  organisch  wachsendes  Ganze  wenn  nicht  zu 
schaffen,  so  doch  zu  betrachten,  sich  an  das  kritische  Zerren  und 
Zausen,  an  das  bewußte  Kombinieren,  an  die  secierende,  forschend 
zerstörende  Art,  kurz  an  all  das  zu  gewöhnen,  was  den  meisten  am 
philologischen  Handwerk  besonderen  Spaß  macht.  Von  den  zwei 
Seelen,  die  der  Philologe  nun  einmal  haben  muß,  war  die  künstlerische 
bei  ihm  zu  lebenswarm  gerathen  um  die  kühle  kritische  Schwester 
gerne  neben  sich  zu  sehen,  und  seine  Verbindung  mit  der  philo- 
logischen Wissenschaft  ist  lange  eine  Vemunftehe  geblieben,  der  er 
gern  für  einige  Stunden  entschlüpfte,  nicht  etwa  des  Müssiggangs  — 
er  war  einer  der  fleißigsten  Menschen,  die  ich  gekannt  habe  — , 
sondern  literarischer  Liebhabereien.  Bruns  kam  spät  nach  Italien, 
zuerst  zweimal  nach  Venedig  als  willkommene  Unterbrechung  seiner 
Göttinger  Privatdocentenzeit ,  die  für  ihn  in  jeder  Hinsicht  eine 
Leidenszeit  war,  dann,  schon  als  Kieler  Professor,  auch  nach  Florenz 
und  Rom.  Es  ist  bezeichnend,  daß  ihn  die  Renaissance  erheblich 
stärker  anzog  als  die  Antike;  leider  sind  nur  die  Skizzen  über 
Marullus,  Montaigne,  Erasmus  aus  diesen  Nebenbeschäftigungen 
hervorgewachsen:  er  hätte  das  Zeug  gehabt  eine  Geschichte  des 
Humanismus  zu  schreiben. 

Und  doch  ließ  er  sich  von  der  philologischen  Wissenschaft  nicht 
abdrängen;  die  er  als  Jüngling  so  manches  Mal  gemieden,  hat  er  als 
Mann  zäh  und  beharrlich  umworben.  Um  die  Sprache  wirklich  zu 
lernen,  nahm  er  sich  in  strenge  Zucht;  welch  Quantum  resignierter, 
gleichmäßig  energischer  Arbeit  in  den  Editionen  des  Alexander  von 
Aphrodisias  steckt,  kann  nur  der  ermessen,  der  Bogen  für  Bogen, 
wie  der  Schreiber  dieser  Zeilen,  nachgeprüft  hat.  Bruns  gehörte 
nicht  zu  den  Aesthetikern ,  die  auf  das  Handwerk  hochmütig  herab- 
sehen; so  sehr  es  seiner  Natur  zuwider  war,  er  zwang  sich  dazu, 
sich  mit  einer  Meisterarbeit  in  die  strenge  Zunft  einzuführen,  weil 
er  wußte,  daß  nur  der  ein  Philologe  wird,  der  einmal  einen  Text 
gemacht  hat.  Aufgehn  konnte  er  freilich  nicht  darin;  er  wollte 
mehr,  wollte  sich  seinen  eigenen  Weg  zu  *  den  Alten  bahnen, 
sich  von  gewandter  Apperception  fremder  Gedanken  und  Methoden 
mit  jener  Scheu  zurückhaltend,  wie  sie  echten  Künstlernaturen  eigen 
ist.  Es  konnte  nicht  ausbleiben,  daß  das  wissenschaftliche  Publikum 
sich  zunächst  etwas  spröde  zurückhielt;  es  fand  nicht  das,  was  es 


SX  G6ti.  ^1.  Ans.  1906.  Nr.  4. 

ZU  finden  gewohnt  war.  Wie  alles,  was  echt  und  von  innen  heraus 
gewachsen  ist  würde  seine  Weise  sich  durchgesetzt  haben :  aber  der 
Lohn  ist  seinem  Ringen  mit  sich  selbst  versagt  geblieben.  Die  Ge- 
danken, die  er  ausgesprochen,  werden  weiter  wirken,  aber  seine 
eigenen  werdens  nicht  mehr  sein ;  denn  diese  mit  sich  kämpfende  und 
sich  selbst  bezwingende  Charis  kann  nicht  wiederkommen. 

So  hat  dies  Leben,  auf  dessen  Beginn  die  Sonne  so  fröhlich 
schien«  mit  einer  Dissonanz  ohne  Auflösung  geschlossen.  Voll  und 
rein  dagegen  ist  die  Wirkung  seines  Stils,  die  hoffentlich  recht  viele 
empfinden:  Birt  stellt  ihn  mit  Recht  als  deutschen  Schrifsteller  vor. 
Diesel  ^1  hat  Bnns  nicht  gelernt;  das  ist  er  selbst.  Noch  immer 
ist  unter  uns  die  akademische  färb-  und  marklose  Schreibweise  nicht 
ausgestorben«  die  den  Ursprung  aus  dem  Latein  nicht  verleugnet, 
obgleich  das  Lateinschreiben  eine  tote  Kunst  geworden  ist;  und  daß 
der  im  Gegensatz  dazu  erwachsene  Philologenstil  mit  seiner  Auf- 
regung, dem  hastigen  Hin-  und  Herstoßen,  der  Streitbarkeit,  die 
sidi  auch  dann  einen  Feind  setzt,  wenn  keiner  da  ist,  uns  viel 
Freunde  machte,  wird  niemand  behaupten  wollen.  Dagegen  macht 
Rnias  nie  von  starken  Mitteln  Gebrauch  und  weiß  bei  ganz  einfacher 
Diktion  doch  zu  überraschen;  er  predigt  nicht  über  den  Kopf  des 
Le^i^HT^  hinweg  und  fahrt  ihn  auch  nicht  an,  sondern  unterhält  sich 
mit  ihm  wie  man  sich  mit  einem  gebildeten  Manne  unterhält,  ihn  so 
(Uhr^nd.  da£  er  es  nicht  merkt  und  eben  darum  mitgeht.  Schneller 
ixter  lan^^mer  taucht  das  Problem  auf,  deutlich,  aber  nicht  unter- 
strichen :  dann  füigt  sich  leicht  und  zwanglos  eine  Linie  an  die  andere, 
bis  die  l.v'^ung  sich  wie  spontan  heraushebt  Der  Fehler,  an  dem 
Uterar^r^^sv^hiohtliche  Aufeätze  fast  immer  leiden,  nur  über  das  Objekt 
und  nicht  vom  Objekt  zu  reden,  ist  sorgfältig  vermieden;  es  wird 
immer  klar  und  anschaulich  der  Gegenstand  der  Untersuchung  ge- 
schildert s\^  \la^  auch  für  den  zum  Lernen  und  Genießen  etwas  übrig 
bleibt,  der  die  Resultate  der  Untersuchung  ablehnt.  Ich  wüßte  in 
der  phiIokHi:ischen  Literatur  diesem  sublimierten  Plauderstil  nichts 
an  die  Seite  «u  stellen;  verwandt  ist  in  mancher  Hinsicht  P.  Heyses 
Schrtnhart  in  seinen  Essays,  deren  er  leider  viel  weniger  geschrieben 
hat  als  Novellen. 

Birt  hat  der  Sammlung  einen  Lebensabriß  vorausgeschickt,  für  den 
ihm  die  Fri'unde.  die  Bruns  in  ungewöhnlich  großer  Zahl  besaß, 
dankbar  sein  werden,  um  so  mehr,  je  schwerer  es  für  den  Zurück- 
gebliebenen ist,  das  Bild  des  Todten  ans  dem  Heiligtum  des  Herzens 
herauszunehmen  und  hinzustellen  vor  die  kalt  gaffende  Menge,  der 
koine  Erinnerung  die  schönen  Züge  belebt.  Die  Charis,  mit  der 
Bruns  dio  Herzen  zwang,  war  eine  seltene  Reinheit  und  Originalititt 


Ivo  Bnm0,  Vorträge  und  Aufsätze.  327 

des  Empfindens.  Er  war  ein  Romantiker  ohne  alles  Manierierte  und 
Gemachte;  ihm  strömten  die  Wunder  der  Schönheit  bis  zuletzt  so 
reichlich  zu,  verschmolzen  sich  so  mit  seinem  eigenen  Wesen,  daQ 
er  nicht  durch  Absperrung,  durch  künstliches  Sicheinspinnen  in  einen 
einmal  gewonnenen  geistigen  Besitz  seine  Individualität  zu  sichern 
brauchte.  So  leicht  und  sicher  wie  im  Reich  der  Künste,  bewegte 
er  sich  auch  zwischen  den  Menschen.  Sein  Urteil  konnte  streng  sein, 
alles  Falsche,  Protzenhafte  wies  er  bestimmt  ab,  ohne  je  aggressiv 
zu  werden;  aber  es  war  erstaunlich,  wie  er  überall  das  Echte  und 
Lebendige  zu  finden  wußte,  gerade  bei  einfachen  und  anspruchslosen 
Menschen.  Niemals  erzog  er  bewußt;  so  ernst  er  das  Leben  em- 
pfand, er  ließ  jedem  sein  Recht  und  war  ein  abgesagter  Feind  eines 
schellenlauten  Rigorismus.  Femerstehende  mochten  ihn  für  einen 
Epikureer  im  antiken  Sinne  nehmen;  wer  einmal  in  seine  Seele  ge- 
schaut hatte,  der  hatte  eine  Erinnerung,  die  das  Schlechte  in  ihm 
zurückdrängte,  und  so  viele  ihn  gekannt  zu  haben  glauben,  was  er 
war,  das  wissen  doch  nur  die,  denen  er  in  der  goldenen  Zeit  des 
Werdens  die  Wunder  seines  Inneren  erschloß,  die  schlummernde 
Flamme  ihres  Herzens  am  eigenen  Feuer  entzündend. 

Göttingen  E.  Schwartz 


Carl   Michael  Bellman,   der  schwedische  Anakreon.     Von  Felix 
Nledner.   Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlnng.    1905.  YlII,  398  S. 

Seit  Atterboms  erster  kritischer  Darstellung  der  Bellmanschen 
Dichtung  (1812)  sind  wohl  die  bedeutendsten  skandinavischen  Literar- 
historiker darüber  einig,  daß  Bellman  nicht  nur  als  der  ursprünglichste 
aller  schwedischen  Dichter,  sondern  auch  als  eine  der  bedeutsamsten 
Erscheinungen  der  Weltliteratur  betrachtet  werden  muß.  Freilich 
war  es  kaum  zu  erwarten,  daß  seine  Dichtergröße  auch  weltbekannt 
werden  könnte.  Die  Meisterwerke  der  Sprache  einer  kleinen  Nation 
dringen  natürlich  nur  mit  großen  Schwierigkeiten  durch  und  dies  gilt 
vor  allem  von  den  lyrischen  Gattungen,  bei  denen  es  weniger  auf 
Ideen  als  auf  das,  was  fast  unübersetzbar  ist,  ankommt:  auf  das 
Wort,  den  Klang,  das  ganze  innere  Leben  der  Sprache,  das  von 
einem  Fremden  nur  selten  verstanden  oder  genossen  werden  kann. 
Dazu  kommen  bei  Bellman  ganz  besondere  Schwierigkeiten.  Man 
merkt  nicht  selten,  daß  die  eigenen  Landsleute  des  Dichters,  wenn 
sie  auch  einen  ziemlich  richtigen  Gesamteindruck  seiner  Schöpfungen 
haben,  doch  viele  Einzelheiten  nicht  verstehen,  worüber  man  sich 


828  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

kaum  wundem  kann,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  daß  Bellmans 
Sprache  trotz  aller  Ungebundenheit  und  Leichtigkeit  doch  oft  ver- 
schieiert  ist  und  seine  Gredichte  voll  von  Anspielungen  und  Züg^ 
einer  Vergangenheit  sind,  die  nicht  einem  jeden  unmittelbar  vor 
Augen  steht.  Daß  Bellman  unübersetzbar  sei,  ist  ein  alter  Glaubens- 
artikel unter  den  Skandinaviern.  Die  Schwierigkeiten  scheinen  un- 
überwindlich. Bellmans  Virtuosität  der  Behandlung  von  Reimen  und 
Rhythmen  ist  etwas  Einziges.  Die  Kunst  ist  in  solch  wunderbarer 
Weise  in  Natur  umgewandelt,  daß  man  das  überaus  Kunstreiche 
ganz  übersehen  kann.  Man  nehme  z.  B.  folgende  erste  Strophe  der 
Fredmans  Epistel  9.  Auch  wer  die  Sprache  nicht  versteht,  kann  die 
Wirkung  der  Reimstellung  nachfühlen. 

Käraste  bröder,  systrar  och  vänner! 
Si  fader  Berg!  Hau  skrufvar  och  spänner 
strängama  pä  fielen, 
och  sträken  han  tar  i  hand. 
Ogat  är  borta,  näsan  är  klufven. 
Si,  hur  han  star  och  spottar  pä  skrufven! 
Ölkannan  star  pä  stolen. 
Nu  knapper  han  lite  grand, 
v:ccüo---  grinar 

mot  solen, 
v:ceUo---  piuar 

fielen. 
v:ceUo--  Hau  sig  förvillar, 

drillar 
ibland. 
Käraste  bröder,  dansa  pä  tä! 
Handskar  i  hand  och  hattama  pä! 
Si  pä  jungfru  Lona! 
Röda  band  i  skona, 
nya  strumpor,  himmelsblä! 

Man  bemerke  u.  a.,  daß  das  Wort  hand  (Z.  4)  mit  grand  (Z.  8) 
und  ibland  (Z.  15)  reimt,  und  daß  die  folgenden  Strophen  nicht  nur 
mit  Rücksicht  auf  den  Reim,  sondern  auch  metrisch  auf  jede  einzige 
Silbe  vollständig  korrespondieren.  Solche  Beispiele  sind  zahlreich. 
Man  könnte  geneigt  sein,  zu  glauben,  daß  solche  Verse  einen  ver- 
künstelten Eindruck  machen,  aber  das  ist  so  wenig  der  FaU,  daß 
man  sich  im  Gegenteil  keine  natürlichere,  keine  weniger  gezwungene 
poetische  Sprache  denken  kann.  Und  diese  Sprache  ist  gar  nicht 
trivial.   Die  Wortwahl  ist  oft  sehr  originell,  immer  poetisch  wirksam, 


Niedner,  Carl  Michael  Bellman.  829 

weshalb  Bellmans  Dichtung  auch  in  sprachlicher  Hinsicht  den  Kenner 
ansprechen  muß,  ebenso  wie  ihre  Natürlichkeit  sie  in  gewissen  Hin- 
sichten der  Volksdichtung  nähert. 

Und  das  ist  noch  nicht  alles,  was  eine  richtige  Würdigung  Bell- 
mans von  Seiten  eines  Fremden  hindert.  Der  Text,  pflegt  man  zu 
sagen,  ist  wenig  mehr  als  die  eine  Hälfte  der  Bellmanschen  Poesie. 
Er  war  ein  Sänger,  und  keiner,  der  nicht  Bellmans  Lieder  hat 
singen  hören,  kann  von  dem  vollen  Zauber  dieser  Lieder  gefangen 
werden,  was  freilich  nicht  ausschließt,  daß  auch  beim  bloßen  Lesen 
sich  die  Ursprünglichkeit  seiner  poetischen  Schöpfungen  kundgibt. 

Sollte  Bellmans  Dichterruhm  außerhalb  des  skandinavischen 
Nordens  allgemeiner  verbreitet  werden,  wäre  nichts  wünschenswerter 
als  eine  große  deutsche  Monographie,  worin  auch  gut  übersetzte 
Proben  seiner  Gedichte  in  erläuterndem  Zusammenhange  mitgeteilt 
werden  könnten.  Und  das  ist  was  Niedner  gegeben  hat.  Wie  weit 
es  ihm  gelingen  mag,  die  alte  Vorstellung  zuschanden  zu  machen, 
daß  »wo  Bellman  nicht  verstanden  werden  kann,  Skandinaviens  Grenze 
geht«  —  wird  sich  zeigen.  Daß  er  selbst  den  schwedischen  Dichter 
verstanden  hat,  soll  ohne  Rückhalt  anerkannt  werden. 

Lange  war  Bellman  eine  halb  mythische  Gestalt.  Sowohl  sein 
Leben  als  seine  Dichtungen  waren  von  einem  Helldunkel  umwoben, 
in  dem  man  nach  persönlichen  Neigungen  entweder  mehr  das  Dunkle 
(wie  Fryxell)  oder  mehr  das  Helle  (wie  Atterbom)  sah.  Die  For- 
schung hat  jedoch  während  der  letzten  Jahrzehnte  beträchtliche  An- 
strengungen gemacht,  den  Schleier  zu  heben,  was  auch  zum  großen 
Teil  gelungen  ist.  Das  Niedner  an  Tatsachen  nicht  mehr  als  die 
bahnbrechenden  schwedischen  Untersuchungen  darbietet,  ist  selbst- 
verständlich, aber  von  den  Resultaten  dieser  Forschungen  hat  er 
eine  sehr  gute  und  zuverlässige  Darstellung  gegeben,  so  wie  er  im 
allgemeinen  eine  vollständige  Kenntnis  der  ganzen,  freilich  auch 
nicht  allzu  umfangreichen  Bellmanliteratur  an  den  Tag  legt  Viel- 
leicht wäre  es  wünschenswert  gewesen,  daß  er  in  gewissen  Fällen 
einen  selbständigeren  Standpunkt  einzunehmen  gewagt  hätte.  So 
bringt  er,  wie  Nils  Erdmann  in  seiner  großen  Bellmanmonographie, 
einen  Abschnitt  >Bellman  in  Upsala«.  Darüber  weiß  er  freilich  nicht 
viel  zu  sagen.  Nach  Erdmanns  Vorgang  schildert  er  in  kurzen 
Zügen  das  wissenschaftliche  und  das  Studentenleben  der  kleinen 
Universitätsstadt  und  läßt  so  ohne  weiteres  Bellman  >in  den  Taumel 
sich  stürzen  <,  wobei  er  ein  paar  Lieder  heranzieht,  in  denen  die 
gelehrte  Pedanterie  und  die  akademischen  Zeremonien  bespottet 
werden.  Dabei  ist  aber  zu  bemerken,  daß  diese  Lieder  mit  Sicherheit 
aus  späteren  Jahren  herrühren.    Was  wissen  wir  aber  von  Bellman 


no  Gott.  pL  Ajtt.  1906.  Xr.  L 

ia  Uptak?  Ganz  ond  gar  nicbte:  ist  es  ja  sogar  bezweifelt  voriea, 
dafi  er  titb  j^nals  als  Stadent  in  Upsala  anfgehalten  hat  ADerdmgi 
ist  er  immatrikoliert  worden,  aber  darauf  kann  sich  auch 
akademische  Laufbahn  beschrankt  haben. 

Größere  Selbständigkeit  hat  Niedner  in  der  Giarakteristik : 
kennen,  die  anch  auf  voOes  Verständnis  and  einen  warmen  Ek- 
thnstasmos  gegrändet  ist.  Dies  ist  nicht  so  za  Terstehen,  als  ob  er 
eine  ganz  nene  and  amsturzende  Erklarang  der  Dichtung  BeüiiiaBS 
geliefert  hätte,  was  auch  nicht  ohne  irrefahrende  Konstmktiooai 
möglich  gewesen  wäre.  Was  er  aber  geleistet  hat,  ist,  daß  er  in 
ToUkommenster  Harmonie  mit  den  besten  schwedischen  Auslegon 
sich  in  den  Geist  der  Bellmanpoesie  eingelebt  hat;  das  ist  aneh 
wörtlich  zu  verstehen,  insofern  er  durch  wiederholte  Reisen  nach 
Stockholm  die  von  Bellman  so  unübertrefflich  besungenen  Lokalitäten 
kennen  und  mit  dem  Auge  des  Dichters  ansehen  gelernt  hat  & 
hat  dem  Bellmanfest  am  26.  Juli  beigewohnt,  wo  auch,  wie  er  sagt 
(S.  12),  »der  ganz  Phantasielose  mitten  in  dem  ganz  modernen 
Stockholm  in  das  gustavianische  Zeitalter  hineinversetzt  wird,  wo 
der  Dichter,  neugeboren  wie  der  Gott  des  Weines  und  der  Liebe 
selbst,  mitten  unter  seine  lieben  Stockholmer  trittc. 

Wer  eine  so  lebendige  Vertrautheit  mit  seinem  Gegenstande 
sich  erworben  hat  wie  Niedner,  kann  es  nicht  an  gewissen  Nuancen 
und  Ergänzungen  der  bisherigen  Auffassung  fehlen  lassen.  So  zeigt 
sich  bei  ihm  eine  viel  größere  Wertschätzung  von  Bellmans  >Bacdii 
Tempel,  geöffnet  bei  eines  Helden  Tod<  (1783),  als  man  im  Vatw- 
lande  des  Dichters  gewöhnt  ist.  Bei  aller  Anerkennung  einzelner 
schöner  Lieder  haben  die  schwedischen  Beurteiler  sich  über  diese 
Arbeit  als  einheitliches  Kunstwerk  ziemlich  geringschätzend  ausge- 
sprochen* Auch  Niedner  hat  gewisse  berechtigte  Einwürfe  vorzu- 
bringen. Aber,  sagt  er  (S.  276),  >wer  die  Mühe  nicht  scheut,  sich 
durch  den  Urwald  der  eintönigen  französischen  Verse,  in  denen  die 
burleske  Handlung  sich  abspielt,  hindurchzuarbeiten,  der  wird  über- 
rascht durch  den  unerschöpflichen  Reichtum  grotesker  und  anmutiger 
dichterischer  Bilder,  die  überall  zwischen  dem  konventionellen  Schling- 
pflanzengewächs der  Erzählung  auftauchen.  Wiederholt  schafft  die 
glühende  Phantasie  des  Dichters  ihre  Monotonie  mit  dem  blühenden 
Fleisch  junger  Mädchenleiber  und  dem  alten  Firnewein  zechender 
Greise  zu  dichterischen  Oasen  von  wunderbarer  Schönheit  um<.  Und 
von  einem  gewissen  Auftritt  desselben  Gedichts  beißt  es  (S.  279): 
>Das  nun  folgende  Bild  ...  ist  mit  einer  dichterischen  Anschaulichkeit 
und  Lebendigkeit  vorgeführt,  die  uns  ganz  wie  in  Aristophanes  Vogel- 
stadt,  wie  auf  Shakespeares  phantastischer  Insel,   wie  in  Goethes 


Niedner,  Carl  Michael  Bellman.  331 

hellenischer  Märchenebene  vergessen  läßt,  daß  wir  es  nicht  mit  wirk- 
lichen Vorgängen,  sondern  mit  den  ergötzlichsten  und  doch  sinn- 
vollsten Sprüngen  einer  großen  Dichterphantasie  zu  tun  haben <. 

So  etwas  zu  denken,  viel  weniger  zu  sagen  hätte  ein  schwedi- 
scher Kritiker  kaum  die  Kühnheit  gehabt.  Damit  ist  gar  nicht  be- 
hauptet, das  Niedner  völlig  im  Unrecht  ist.  Man  darf  vielmehr  an- 
nehmen, daß  Bellman  mit  dem  genannten  Werke  einem  anderen 
Geschmack  als  dem  nordischen  mehr  gefällt.  Eine  gewisse  Stimmungs- 
ähnlichkeit mit  der  älteren  attischen  Komödie  hat  freilich  schon 
Atterbom  in  den  hervorragendsten  Dichtungen  Bellmans,  wenn  auch 
nicht  gerade  im  >Bacchi  Tempel«,  gefunden.  Mit  wem  ist  übrigens 
Bellman  nicht  schon  verglichen  worden,  von  den  Eddadichtem,  von 
Anakreon,  Pindaros  und  Hafiz  bis  zu  Shakespeare,  Rabelais,  Geliert, 
Bums  und  B6ranger,  wobei,  wie  Niedner  auch  richtig  bemerkt,  doch 
der  ungeheure  Abstand,  der  ihn  besonders  von  den  letztgenannten 
trennt,  deutlich  hervortritt.  Auch  mit  einer  Reihe*  von  Malern  ist 
Bellman  verglichen  worden,  die  nicht  minder  bunt  zusammengesetzt 
ist,  z.B.  mit  Hogarth,  Teniers,  Bembrandt,  Correggio,  Watteau;  und 
Niedner  spricht  von  »satten  Böcklinschen  Farben«,  was  mindestens 
eben  so  gut  wenn  nicht  besser  paßt.  Daß  solche  Vergleichungen  aus 
ihrem  Zusammenhange  gerissen,  widerstreitend  und  unsinnig  scheinen 
müssen,  kann  nicht  verwundern.  Eine  jede  kann  freilich  ein  Köm- 
chen von  der  Wahrheit  haben:  was  sie  zusammen  beweisen,  ist 
eigentlich  nur,  wie  inkomparabel  jedes  ursprüngliche  Genie  ist. 

Mag  nun  auch  das  der  Dichtung  »Bacchi  Tempel  <  gespendete 
Lob  etwas  übertrieben  sein,  so  kann  es  doch  als  ein  Beweis  gelten, 
daß  Bellmans  Dichtung,  allen  nationalen  und  historischen  Eigentüm- 
lichkeiten zum  Trotz,  den  vertrauten  Fremden  jedenfalls  nicht  minder 
als  die  eigenen  Landsleute  Bellmans  ansprechen  kann.  Ein  weiteres 
Zeugnis  dafür  ist  auch  besonders  die  Charakteristik  von  Bellmans 
Hauptwerk  »Fredmans  Epistlar«,  die  sehr  gut  geschrieben  ist. 

Die  Grundzüge  dieser  Charakteristik  auch  in  den  äußersten  Um- 
rissen wiederzugeben,  wäre  ein  vergeblicher  Versuch.  Wer  könnte 
in  wenigen  Zeilen  die  Bestandteile  des  Fredmanbildes,  >den  schiff- 
brüchigen Uhrmacher,  den  göttlichen  Apoll,  den  spöttelnden  Loki« 
malen,  oder  der  Mollbergsgestalt,  worin  Bellman  >zu  geradezu  staunens- 
werter Harmonie  ein  urbuntes  Gewirr  idyllischer,  romantischer,  genre- 
artiger, komischer,  satirischer  und  patriotischer  dichterischer  Bilder 
und  Motive  zusammengewoben  hat<. 

Es  wäre  selbstverständlich  ein  leichtes,  bei  einem  ausführlichen 
Werke  über  Bellman,  wo  so  vieles  noch  näherer  Feststellung  bedarf, 
etliche  Einzelheiten  hervorzuziehen,  in  denen  man  anderer  Ansicht 


S82  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

ist  als  der  Verfasser.  Dasselbe  gilt  ja  auch  von  seinen  schwedischen 
Vorgängern.  Wie  Ljunggren  spricht  Niedner  z.  B.  von  »Fredmans 
wehmütiger  Todesbetrachtung  bei  Gharons  Herannahen  <  (Epistel  80). 
Aber  da  hat  nach  meiner  Ansicht  der  sonst  fein  beobachtende 
Ljunggren  nicht  das  Richtige  getrofifen.  Hier  ist  keine  Wehmut, 
sondern  die  tiefste  Verzweiflung!  Ist  doch  der  Inhalt  dieser  Epistel 
die  bald  cynische,  bald  grausig-schöne  Schilderung  der  Höllenfahrt 
Fredmans  und  der  elenden  letzten  Stunden  eines  Menschen,  der 
doch  bis  zum  Ende  sich  selbst  getreu  ist.  Und  hier  könnte  zu  allen 
übrigen  Vergleichen  noch  einer  hinzugefügt  werden:  der  mit  Don 
Juan ! 

Streng  hat  Niedner  über  Bellmans  > Verfall«  geurteilt.  Die 
Wahrheit  ist,  daß  Bellmans  letzte  Jahre  voller  Sorgen,  Armut,  Krank- 
heit waren,  daß  er  sogar  sich  selbst  mit  den  Kindern  seiner  Phan- 
tasie zuweilen  identifiziert  hat,  aber  daß  es  auch  ein  so  tiefer 
geistiger  Verfall  gewesen  sei,  wie  Niedner  annimmt,  ist  nicht  fest- 
gestellt. Als  Beweis  führt  Niedner  an,  daß  >BeIlman  sich  so  tief 
erniedrigen  konnte,  daß  er  jenen  trocken  moralisierenden  Künstler 
(Hogarth)  sich  als  Vorbild  aufstellte  . . .,  daß  er  Apollo  anflehte,  er 
möge  ihm  Hogarths  Auge,  Feuer  und  Geist  schenken  und  ihm  dessen 
Zeichenkunst  im  Liede  gelingen  lassen <  (S.  304).  »Und  dieser  so- 
zialen und  geistigen  Depression  entspricht  es  denn  auch,  wenn  er, 
der  an  Phantasie  Ueberreiche,  zuletzt  nicht  nur  an  eine  Ueber- 
setzung  Gellertscher  Fabeln  sich  macht,  sondern  sogar  diesen  nüch- 
ternen und  ihm  so  unebenbürtigen  Poeten,  dem  die  Lehrhaftigkeit 
genau  wie  Hogarth  in  allen  Poren  sitzt,  in  begeisterten  Versen 
feiert,  die  unglücklicherweise  nicht  einmal  verloren  sind<  (S.  305). 
>  Diese  Selbstverkennung  des  eigenen  dichterischen  Vermögens  wirkt 
im  höchsten  Grade  widerwärtig  <. 

Diese  Ansicht  kann  Referent  nicht  teilen,  wenigstens  nicht  in 
einer  so  kategorischen  Form.  Es  ist  doch  wohl  keine  so  ungewöhn- 
liche Erscheinung,  daß  ein  Dichter  sich  selbst  nicht  vollends  ver- 
standen hat.  Und  wie  könnte  man  voraussetzen,  daß  gerade  Bellman, 
diese  unreflektierte  Natur,  die  volle  Größe  seiner  dichterischen 
Schöpfungen  hätte  würdigen  müssen,  die  doch  auch  keiner  seiner 
Zeitgenossen  erkannte?  Berühmt  war  er  freilich  und  schon  im  Leben 
> unsterblich«  genannt,  seine  tiefe  Ursprünglichkeit  aber  konnte  man 
in  einer  Zeit,  wo  alles  Eigenartige  verdammt  wurde,  gewiß  nicht 
nach  ihrem  wahren  Werte  schätzen.  Kein  Wunder,  daß  er,  als  er 
zuletzt  über  die  Natur  seiner  Dichtung  zu  reflektieren  begann,  auch 
als  ein  > größere  moralischer  Dichter  zu  gelten  wünschte.  Man  kann 
es  nicht  einmal  eine  verblendete  Bescheidenheit  nennen,  mit  dem, 
was  die  Zeit  als  das  Höchste  schätzte,  wetteifern  zu  wollen. 


Kiedner,  Carl  Michael  Bellmann.  838 

Was  fur  den  nichtskandinayischen  Leser  der  BeHmanmoiiographie 
Niedners  einen  besonderen  Wert  gibt,  sind,  wie  schon  angedeutet 
ist,  die  eingestreuten  Uebersetzungen,  die  inbezug  auf  die  unge- 
heuren Schwierigkeiten  erstaunlich  gut  gelungen  sind  und  jedenfalls 
alles  was  Ton  früheren  Uebersetzem  geleistet  ist,  weit  übertreffen. 
Freilich  sind  es  oft  nur  einzelne  Strophen  und  keine  ganzen  Lieder; 
als  charakteristische  Beispiele  reichen  diese  Strophen  aus,  um  in 
die  Poesie  Bellmans  einzuführen.  Neben  dem  vielen  Lobenswerten 
findet  man  nur  selten  Gelegenheit  zu  Ausstellungen,  wie  bei  der 
Uebersetzung  des  Fredmanliedes  über  Haga  (S.  152).  Hier  glaubt 
Niedner,  daß  es  sich  um  »einen  satten  woIIustdurchglUhten  Sommer- 
mittag<  handle.  Die  vier  ersten  Zeilen  hat  Niedner  folgendermaßen 
übersetzt: 

In  des  Mittags  Dunst  und  Schwüle 

Schwebt  der  kleine  Schmetterling, 

Sucht  in  Hagas  Park  sich  Kühle, 

Küßt  die  Blütenkelche  flink. 

Das  ist  ganz  verfehlt.  Der  schwedische  Text  lautet  in  wörtlicher 
Uebersetzung: 

Fjäriln  vingad  syns  pä  Haga 

Der  Schmetterling  beflügelt  wird  geschaut  in  Haga 

Mellan  dimmors  frost  och  dun 

Zwischen  der  Nebel  Frost  und  Daune 

Sig  sitt  gröna  skjul  tillaga 

Sich  sein  grünes  Obdach  bereiten 

Och  i  blomman  sin  paulun. 

Und  in  der  Blume  sein  Zelt. 

>Zwischen  der  Nebel  Frost  und  Daunec  ist  hier  sprachlich  besonders 
originell  und  bedeutet  so  viel  als:  > Zwischen  den  frostigen,  weißen 
und  weichen  Nebeln  c  Wie  auch  die  Fortsetzung  deutlich  bezeugt, 
haben  wir  hier  gar  keine  Mittagsstimmung,  sondern  eine  frühe 
Morgenstunde  des  Frühlings.  Dagegen  kann  als  eine  Probe  der 
hohen  Uebersetzungskunst  Niedners  die  Strophe  angeführt  werden, 
die  auf  Bellman  selbst  angewendet,  immer  gesungen  wird: 

Wer  denkt  nicht  unsers  Bruders  gern, 
Ist  auch  sein  Schatten  ewig  fern? 
Schwieg  seines  Waldhorns  Klang  auch  gar, 
Im  Hain  noch  tönt  er  immerdar. 


884  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

Vöglein  mit  leichten  Schwingea 
Wird  leis  sein  Lied  noch  singen 
Und  Jäger  bei  den  Schlingen 
Soirn  jauchzend  Antwort  bringen, 
Wie  unter  Orpheus  Söhnen, 
Die  Bacchus  Gaben  krönen. 
Er  ohnegleichen  war. 

Von  dem  reichen  Inhalt  der  Schrift  Niedners,  die  verschiedene 
Seiten  des  skandinavischen  Geisteslebens  der  Vergangenheit  und  der 
Gegenwart  berührt,  eine  vollständige  Rechenschaft  zu  geben  ist  hier 
unmöglich.  Das  Gesamturteil  darf  man  dahin  zusammenfassen,  daß 
der  Verfasser,  der  mit  sichtbarer  Vorliebe  sich  seiner  Aufgabe  ge- 
widmet hat,  berechtigtes  Lob  und  sein  Werk  viele  Leser  verdient. 

Örebro.  Richard  Steffen. 


Die  Lyrik  des  Andreas  Gryphius.    Stadien  und  Materialien.   Von 
Yiktor  Manheimer.   Berlin,  Weidmannsche  Bachhandlang,  1904.   XYII,  886  S. 

Diese  umfangreiche  und  doch  noch  bei  weitem  nicht  das  Ganze 
angreifende  Vorarbeit  zu  einer  Biographie  des  schlesischen  Dichters 
rechtfertigt  ihre  Veröffentlichung  durch  eine  Reihe  von  eindringenden 
Untersuchungen  und  Ergebnissen  an  einem  durch  Originalität,  Tiefe 
und  Beziehungsreichtum  gleich  anziehenden  Stoffe.  Denn  daß  die 
Persönlichkeit  des  einzigen  Dichters  großen  Stiles  in  einer  fast 
zweihundertjährigen  Periode  der  deutschen  Literaturgeschichte  einen 
solchen  abgibt,  vermag  diese  philologisch  angewandte  psychobiologische 
Studie  recht  nahezubringen,  grade  indem  sie  von  der  landläufigen 
literarhistorischen  Rubrizierung  des  >  Dramatikers <  Andreas  Gryphius 
nicht  ausgeht.  Der  wahrhaft  Goethische  Gelegenheitsdichter  in- 
mitten der  Gelegenheitsreimerei  des  poetischen  Zeitalters  der  Hoch- 
zeits-,  Eindtaufs-  und  Leicheuschmäuse ;  der  Wolframisch  schwer- 
flüssig mit  dem  Ausdruck  ringende  Gehaltsmensch  unter  den  seelen- 
losen Formalisten  der  Schulpoetik;  Gnadensucher  aus  Logik  wie 
Pascal  und  Geisterseher  aus  Gewissen  wie  Shakespeare  inmitten  von 
ä-la-mode-Religion  und  Jesuitismus;  paradigmatisch  für  das  Element 
der  Melancholie,  das  dem  Dichtergenie  auch  in  besseren  Zeiten  und 
lichteren  Köpfen  behagt:  er  wird  uns  greifbar  in  den  metrischen 
Analysen,  textgeschichtlichen  und  literarhistorischen  Entwicklungen, 
biographischen  Illustrationen  dieser  an  sein  Leben  gewendeten  kleinen 
Lebensarbeit 

Was  jene  erste,  die  formale  Seite  anlangt,  so  erhellt  der  Gegen« 


Ma&heimer,  A.  Gryphius.  336 

satz  des  durchwegs  >  persönlichen  Tones  c  dieser  selbst  im  Yerstakt 
schweren  (die  Schwachtöne  belastenden),   »bewußt  archaisierenden <, 
rhetorisch,  ja  choralmäßig  accentuierenden,  gelegentlich  gradezu  pol- 
nisch konsonantenhäufenden  Solostimme  gegen  die  strikte  Observanz 
der    Schuldeklamation    seiner   Zeit.     Doch    kam    ihr    bedenklicher 
Normalvers,    der  Alexandriner,    G.'s    grüblerischer,    zur  Antithese 
neigender  Natur  entgegen.    Die  Spielregeln  und  Verbote  (Cäsurreim, 
Engambement,  Vers-  und  Sbrophenformen)  ihres  Kanons  beachtet  er 
gewissenhaft,  löst  lieber  binnenreimende  Alexandriner  in  selbständige 
Verse  auf,  reimt  auffallend  rein  grade  im  Sinne  der  Sprachst  a  mm-, 
richtigkeit.   Ihre  Klangspielereien  erweisen  sich  auch  dem  Biographen 
heute  wieder  so  suggestiv,  daß  er  in  den  Wirkungen  der  dichterischen 
Klangfarbe  (Gefühlsassoziationen  der  Vokale)  >  komplizierte  Probleme 
der  experimentellen  Psychologie  <  sehen  möchte,  die  reine  Empfindungs- 
lehre doch  auf  sehr  einfache  Richtungsbezüge  zurückführen  kann. 
Doch  rügt  M.  mit  Recht  die  Weichlichkeit  der  wieder  herrschenden 
Ausschweifung  nach  dieser  Richtung.    Spielerei  und  Künstelei  sind 
nicht  Sache  des  ernsten  Lebensdichters  im  poetischen  Gesellschafts- 
spiel jener  Zeit.    In  der  klanglichen  Unterstützung  seiner  pathetischen 
Pointen  greift  er  gern  zu   der  den  Echo-  lyid  Assonanzreimem  ab- 
handen gekommenen,  männlicheren  Alliteration.    Die  damaligen  Lehr- 
jahre der  neuen  deutschen  Dichtersprache  werden  an  der  Hand  der 
Textgeschichte  einer  so  ganz  anf  sich  selbst  gestellten,  gegen  sich 
selbst  strengen,  geistig  und  gesellschaftlich  hochstehenden  Erstlings- 
kraft trefifend  veranschaulicht.    In  der  Prosa  könnte  die  schleppende 
und  wirre  Unbehilflichkeit  der  Perioden  bei  einem  vielbegehrten  und 
gefeierten  Redner  seiner  Zeit  doppelt  befremden.    Allein  hier  scheint 
mir  weniger  eine  individuelle,   als  eine  Zeiterscheinung  vorzuliegen, 
deren  Untersuchung  der  deutschen  Syntaxforschung  eine  besondere 
Aufgabe  stellt.    Es  gilt  bei  diesen  ersten  Ansätzen  zum  vornehmen 
und  gelehrten  Prosastil  (im  Unterschied  von  der  volksmäßigen  Prosa 
der  Reformationspublizistik)  nicht  bloß  die  fremdsprachlichen  Muster 
(Lateinisch,  Italienisch,   Spanisch,   Französisch)  zu  berücksichtigen, 
sondern  auch  die  Mittel,  zunächst  die  ganz  elementaren  der  Inter- 
punktion,  dazu  ins  Verhältnis  zu  bringen,  mit  denen  die  junge 
moderne  Bildungssprache  an  die  ihr  neu  gestellten  Aufgaben  ging. 
Auf  manches  Hierhergehörige,  wie  die  in  größerer  Ausdehnung  schon 
verwirrende  lateinische   Enklave   des  Genitivs  (>in  der  letzten  des 
Opitzius  Odec  und  dergleichen)  habe  ich  schon  früher  hingewiesen 
(Poetik  der  Renaissance  in  Deutschland  S.  148  und  öfter).    Wie  aber 
der  lebendige  Atem  romanischer,  nicht  bloß  die  Schulform  lateinischer 
Periodisierung  mit  ihren  Partizipialkonstruktionen,  absoluten  Ablativen, 


836  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  4. 

selbständigen  Infinitiven  jetzt  wieder,  wie  in  der  althochdeutschen 
Zeit  ihres  ersten  Schulunterrichts,  auf  die  Sprache  eindrang,  davon 
vermögen  die  Prosaübersetzungen  eine  anschauliche  Vorstellung  zu 
geben.  Ein  Erzeugnis,  wie  die  Münchener  Uebersetzung  vom  Corte- 
giano  des  Castiglione  vom  Jahre  1565  wird  man  nur  an  der  Hand 
des  Originals  und  jedenfalls  viel  schwerer  als  dies  verstehen.  Die 
Perioden  reichen  da  gewöhnlich  über  Seiten.  Man  hat  den  Eindruck, 
daß  der  Uebersetzer  seine  völlige  Ratlosigkeit  über  ihre  Gliederung 
durch  ungewisse  (stetig  invertierende)  Wortstellung  und  Interpunktion 
.(das  Abstrichzeichen  |,  das,  oft  weit  stärker  als  ein  Komma,  doch 
nie  die  Bedeutung  des  Schlußpunkts  erreicht)  verdecken  wolle.  Er 
setzt  den  Schlußpunkt  beinahe  im  Sinne  unseres  Absatzes  im 
Druck.  Ohne  Zweifel  hat  der  weite  Periodenbau  lateinischer  und 
italienischer  Rede  den  bildungssüchtigen  Deutschen  damals  stark 
imponiert  und  sich  mit  dem  Tone  vornehmer  Ueberlegenheit  ver- 
bunden, den  sie  dann  auch  in  ihrer  Sprache  —  zunächst  mit  unzu« 
länglichen  Mitteln  und  übertrieben  —  anzuwenden  suchten.  Der 
deutsche  Amtsstil  noch  des  ganzen  achtzehnten  Jahrhunderts  krankt 
daran,  bis  die  Napoleonische  Zeit  hier  einen  heilsamen  Umschwung 
herbeiführte.  Begriffliche  Bestimmungen  und  Verklausulierungen,  wie 
sie  —  in  der  Sprache  Kants  und  im  Juristendeutsch  —  die  deutschen 
Perioden  übermäßig  beschweren  und  verdunkeln,  kommen  endlich 
bei  Andreas  Gryphius  von  Seiten  seiner  Natur  und  seines  Amtes 
auch  in  Betracht. 

Eine  Anzeige  des  Weltischen  Neudruckes  der  Sonn-  und  Feier- 
tagssonette, mit  der  Referent  sich  vor  nun  mehr  als  zwanzig  Jahren 
in  die  Literatur  einführte  (Beil.  z.  Allg.  Z.  v.  1883,  No.  41),  bezweckte 
wesentlich  den  Hinweis  auf  die  persönliche  und  biographische  Be* 
deutung  des  Lyrikers  in  dem  unterdrückten  deutschen  Shakespeare 
des  dreißigjährigen  Krieges.  Er  findet  nun  manches,  was  er  dort 
und  in  seiner  Literaturgeschichte  nur  eben  hinstellen  konnte,  bestätigt, 
breit  ausgeführt  und  belegt:  so  in  den  —  auch  durch  künstlerisdie 
Bezüge  —  bereicherten  Nachweisen  zu  den  niederländischen  Studien- 
verhältnissen des  Dichters,  seine  Abwendung  von  Daniel  Heinse  (dessen 
akademische  Geckenhaftigkeit  mit  der  A.  W.  Schlegels  verglichen 
wird)  und  seinen  Anschluß  an  Saumaise ;  den  auch  darin  wie  in  vielen 
kleinen  Zügen  (wie  dem  Protest  gegen  die  Opitzische  Zugabe  seines 
Frankfurter  Nachdruckers  Hüttner)  hervortretenden  Gegensatz  gegen 
Opitz,  der  durch  eine  treffliche  Gegenüberstellung  (S.  123 ff.)  der 
beiden  Charaktere  begründet  wird.  Dagegen  stellt  Manheimer  das 
wohl  grade  allgemein  bekannte  Faktum  der  Lebensgeschichte  des 
Pastorensohns  aus  dem  17.  Jahrhundert,  das  subjektiv  jedenfalls  vtm 


Manheimer,  A.  Gryphios.  337 

ihr  nicht  abzutrennen  ist,  nämlich  den  Verdacht  einer  Vergiftung 
seines  Vaters  durch  einen  Kollegen,  zu  den  Legenden  dieser  für  der- 
gleichen natürlich  sehr  empfänglichen,  düsteren  Zeit.    Ueberraschen 
mvd  den  näheren  Kenner  des  17.  Jahrhunderts  der  (durch  sprechende 
Parallelen   anaphorischer  Versbildungen)    gelungene   Abhängigkeits- 
nachT?ei8  von  dem  Thüringer  Plauen  (S.  129  ff.),  dem  stereotyp  be- 
spöttelten >Mag.  Playiusc  der  Poetiker.    Manheimer  erkennt  Plauen 
mit  Recht  als  (zu  seinem  Nachteil  verspäteten)  Ronsardianer.    Neu 
und  willkommen  als  Anbruch  einer  viel  zu  wenig  ausgenutzten  Haupt- 
ader im  Literaturgeschiebe  jener  Zeit,  wird  die  lateinische  Tages- 
poesie, besonders  Jakob  Baldes,  aber  auch  der  polnischen  Jesuiten 
(Sarbiewski,   >Baldes  Vorbilde,  Kochanowski),  des  Belgiers  Bauhuis, 
des  Schwaben  Biedermann  herangezogen  (I  3  Kap.  7.  8,  S.  138  ff.). 
Ueber  eine  andere  damalige  Stütze  der  lateinischen  Muse  auf  dem 
deutschen  Parnaß,   den  in  Danzig  zum  Nestor  der  Poeten  heran- 
wirkenden, von  Morhof  hochgehaltenen  Professor  J.  Peter  Titz  (Titius) 
wird  höchst  abschätzig  geurteilt  (S.  223:    >  dürftig  wie  der  ganze 
Mensch  wart).    Als  Poetiker  hat  ihn  Referent  —  auch  mit  dichte- 
rischen Proben,   falls  diese  von  ihm  sind  —  in  anderer  Erinnerung 
(vgl.  Poetik  der  Renaissance  in  Deutschland  S.  282  ff.).  Als  Dichter  hat 
hat  ihn  neuerdings  das  freilich  nicht  eben  frische  Buch  von  L.  H.  Fischer 
(Halle  1888)   aufgefrischt.     Da  kontrastiert   seine   spießbürgerliche 
Art  seltsam  mit  seinen  Motiven:  Lucretia,  die  dann  etwa  so  heraus- 
kommt,  wie  ein   gleichzeitiger   deutscher   Maler    diesen  Lieblings- 
gegenstand  des  italienischen  Barock    hausbacken    breit    mit  allem 
Familienumstand  behandelt  haben  könnte;  die  romantische  Philister- 
geschichte von  der  durch  Erweckung  aus  dem  Orabe  ihrem  Ehemanne 
abgewonnenen  Geliebten  nach  Boccaccios  (Decam.  10,  4)  Erzählung 
bei  Jacob  Cats  (Proefsteen  vun  den  Trouwring  het  derde  Deel) ;  und 
ebendaher  gar  eine  Heroide  (Knemon  an  Rhodope,  Liebesabschied 
eines  Dichters  an  eine  Dichterin  mit  angehängtem  poetischem  Liebes- 
tagebuch und  einer  romanhaften  Einleitung  in  Prosa)^  1647  die  Ein- 
führung dieser  Gattung  in  Deutschland  vor  Hofimannswaldau.    Als 
Uebersetzer  des  Owen  muß  Manheimer  (S.  170)  Titz  neben  seinem 
Helden  nennen:  obwohl  nicht  von  ihm  akademisch  bevorzugt,  so 
doch  (S.  205)  »beachtet<  und  (S.  223)  unter  seinem  poetischen  Trauer- 
gefolge.   Ich  möchte  durch  diese  Hinweise  verhüten,  daß  eine  literar- 
historisch  beachtenswerte  Stimme   dieser  Zeit  der  Nichtbeachtung 
anheimfiele.    Wenn  man  allen  bürgerlich   schmiegsamen   Geistern, 
namentlich  in  solch  trauriger  Zeit,  gleich  die  literarischen  Ehrenrechte 
absprechen  wollte,  würde   die  Literaturgeschichte  freilich  erheblich 
entlastet  werden. 

0«tt.  gtA.  Ant.  1906.  Nr.  4.  23 


388  Gott  gel  Am.  1906.  Nr.  4. 

Auch  den  italienischen  (römischen)  Beziehungen  Gryphius'  ist 
Manheimer,  hier  schon  einer  Fährte  L.  Parisers  (Z.  f.  vgl.  Lit.  N.  F. 
V,  212)  folgend,  nachgegangen.  Doch  sind  sie  nicht  so  vollständig 
und  zureichend  aufgefaßt,  wie  die  niederländischen.  Schon  die  Ein- 
führung Kirchers  (S.  243  f.)  scheint  der  >curiösen€  Bedeutung  dieses 
yielgewandten  Geistes,  dessen  Name,  noch  für  Goethe  ein  Schlagwort^), 
auch  heute  mindestens  in  seinem  Museum  zu  Rom  lebt,  nicht  ganz 
angemessen.  Für  die  Kirchhofsgedanken  hätte  Manheimer  (S.  157 
A.  f.)  nicht  den  >mittelalterlichen  Kultus  der  Gerippe<  und  ein  Titel- 
kupfer bei  Cats,  sondern  die  italienischen  Skelettkirchen  (wie  die 
Kapuzinerkirche  S.  Maria  della  Concezione  in  Rom)  und  Skelett- 
sarkophage (zu  dieser  Zeit  ein  formlicher  Unfug,  wie  man  sich  in 
italienischen  Kirchen  leicht  überzeugen  kann)  heranziehen  müssen. 
Auffallender  als  an  dieser  Stelle  wird  auf  S.  131  eine  wichtige 
Charakteristik  (Danzigs,  der  geistigen  Hauptstadt  des  damaligen 
Ostens  als  Spiegel  der  konfessionellen  Toleranz)  in  die  Anmerkung 
verwiesen.  Wir  heben  das  jedoch  nur  hervor,  um  auf  den  mannig- 
fachen Inhalt  des  Buches  aufmerksam  zu  machen.  Denn  es  wiU  ja 
eben  nur  Vorarbeiten  zu  einer  formal  abgerundeten  Biographie  geben 
und  beweist  nicht  blos  durch  seinen  Ertrag  für  die  Spezialforschung, 
daß  wir  eine  Bereicherung  der  Fachliteratur  in  ihr  erwarten  können. 
Der  Verfasser,  der  im  Vorwort  seinem  Lehrer  sein  Heranreifen  vom 
Dilettanten  zum  Philologen  dankt,  bekennt  (S.  XVH),  daß  >das  Er- 
staunen über  die  Modemität<  jener  unpoetischen  Zeit  ihn  zu  ihr 
hingefühlt  habe.  Wenn  er  nun  ihren  wahrhaften  Dichter  als  leben- 
digen Gewinn  aus  ihr  zurückbringt  und  diesen  >  selbstquälerischen 
und  scheuen  Geist,  der  der  Oeffentlichkeit  nicht  hold  ihr  viel  ver- 
bärge (S.  135)  in  der  Zeit  beschwört,  die  zu  der  damaligen  Poesie- 
fremdheit die  vollendete  Poesiereklame  gefügt  hat,  so  hat  er  —  nicht 
im  schlechtesten  modernen  Sinne!  —  auch  ein  gutes  Werk  getan. 

München.  Karl  Borinski. 

1)  »Wo  käme  denn  ein  Ding  sonst  her, 

Wenn  es  nicht  längst  schon  fertig  war*? 
So  ist  denn,  eh  man  sich's  versah. 
Der  Pater  Eircher  wieder  da.« 
Zahme  Xenien  VI  (zu  den  Hypothesen  über  das  Feuer  und  Wasser  im  Erdinnem). 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwarts  hi  GWingai 


Mai  1906  No.  5 


Fr.  PovlMi,  Die  Dipylongräber  and  die  Dipylonyasen.    Mit  8  Tafeln. 
Leipng,  B.  Q.  Teabner,  1905.    188  S. 

Das  Buch  ist  schon  im  vorigen  Jahre  zum  Zweck  der  Habilitation 
in  dänischer  Sprache  erschienen,  da  der  zweite  Teil  dort  jedoch  nur 
skizziert  war,  ist  die  deutsche  Ausgabe  eine  wesentliche  Bereicherung. 

Der  Verfasser  hat  einem  dringenden  BedUrftds  in  dankenswertester 
Weise  abgeholfen.  Wer  sich  bisher  nicht  damit  begnfigen  wollte, 
Ton  der  ersten  eigenartig  und  geschlossen  auftretenden  attischen 
Eulturepoche  nur  ein  entwicklungsloses  AUgemeinbild  zu  haben,  der 
mußte  sich  durch  mehrere,  z.  T.  sehr  weitschweifige  Ausgrabungs- 
berichte ohne  zusammenfassende  Abschnitte  hindurcharbeiten,  an  einem 
von  diesen  eine  umständliche  Kritik  üben  und  sich  schließlich  doch 
sagen,  daß  so  zwar  das  altattische  Sepulkralwesen  geschichtlich  be- 
griffen, die  so  wichtige  Entwickelung  des  Dipylonstiles  dagegen  nicht 
erkannt  werden  könne  ohne  eingehende  Studien  in  Athen  und  Eleusis; 
daß  auch  solche  nicht  jeden  zum  Ziele  führten,  hat  Wides  Mißerfolg 
gezeigt.  Erschwert  wurde  die  Arbeit  noch  dadurch,  daß  die  vor 
acht  Jahren  am  Westabhang  der  Akropolis  gemachten  wichtigen 
Orabfunde  noch  nicht  einmal  provisorisch  veröffentlicht  worden  sind 
—  eine  Unterlassung,  an  der  auch  Poulsens  Darstellung  natur- 
gemäß etwas  leidet.  Von  diesem  unverschuldeten  Mangel  abgesehen 
hat  der  Verfasser  seine  Aufgabe  vollkommen  gelöst,  und  zwar  nicht 
mit  jener  billigen  historischen  Methode,  die  sich  durch  den  Nachweis 
einer  Entwickelung  des  Eingehens  auf  das  Wesen  der  Dinge  ent- 
hoben glaubt,  sondern  mit  der  echten,  die  im  Werden  das  Wesen 
sucht. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei  Hauptabschnitte.  Der  erste  behandelt 
die  Gräber  im  Zusammenhange  des  antiken  Sepulkralwesens ,  selbst- 
verständlich im  Lichte  vergleichender  Volkskunde.  Den  Boden  fur 
die  Darstellung  bereitet  eine  Untersuchung  über  die  Leichenver- 
brennung, die  diese  Erscheinung  als  Glied  eines  großen  Ganzen  von 
Vorstellungen  und  Gebräuchen  zu  fassen  sucht.    Der  zweite  Teil  ist 

G«lt  gel  Au.  1906.  Nr.  6  24 


840  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

nicht  minder  großzügig  angelegt.  Als  Vorbedingung  für  ein  Ver- 
ständnis des  Dipylonstiles  wird  im  ersten  Abschnitt  der  geometrische 
Stil  an  Hand  der  Geschichte  seiner  Erforschung  ästhetisch  und  histo- 
risch besprochen.  Für  die  griechischen  geometrischen  Stile  ist  die 
Literatur  zusammengestellt.  Im  zweiten  und  dritten  Abschnitt  werden 
die  Dipylonvasen  behandelt,  und  zwar  im  zweiten  Abschnitt  die 
älteren,  am  Westabhang  der  Akropolis  und  in  Eleusis  gefundenen, 
im  dritten  die  jüngeren,  der  Hauptmasse  nach  aus  dem  Kerameikos 
stammenden  Gefäße.  Es  ist  der  Sorgfalt  und  dem  Stilgefühl  des 
Verfassers  gelungen,  eine  in  den  Grundzügen  durch  die  Fund- 
tatsachen gesicherte  Entwickelung  nachzuweisen.  Die  Darstellung 
hat  er  zu  einem  systematischen  Handbuch  der  Dipylonkeramik  aus- 
gestaltet. 

Der  Abschnitt  über  die  Leichenverbrennung  soll  angesichts  der 
religionsgeschichtlichen  Bedeutung  dieses  Brauches  ausführlich  be- 
sprochen werden.  Poulsen  geht  aus  von  der  Tatsache,  daß  die 
Leichenverbrennung  trotz  der  großen  Zähigkeit  der  animistischen 
Vorstellungen  bei  den  verschiedensten  Völkern  entstanden  ist,  und 
zwar  nicht  nur  innerhalb  des  asiatisch  -  europäischen  Kulturkreises, 
sondern  auch  da,  wo  Entlehnung  so  gut  wie  ausgeschlossen  ist,  z.  B. 
bei  den  nordamerikanischen  Indianern.  Einzige  Bestattungsweise  ist 
die  Verbrennung  bei  Homer,  in  Assarlik  bei  Halikamass  und  in 
Thera,  wo  auch  die  sonstigen  Bestattungsbräuche  den  homerischen 
sehr  ähneln.  Daß  der  Friedhof  von  Assarlik  von  griechischen  An- 
siedlern herrührt,  ist  wohl  jedem  Kenner  ältester  Keramik  eine  sub- 
jektive Gewißheit. 

Im  folgenden  werden  die  Spuren  »vorhomerischerc  Leichenver- 
brennung zusammengestellt.  Mit  Recht  abgewiesen  wird  im  Anschluß 
an  Tsuntas  und  Dragendorff  die  Auslegung,  die  Skias  seinen  ältesten 
eleusinischen  Funden  gegeben  hat:  es  handelt  sich  hier  sicher  nicht 
um  Brandgräber,  sondern  um  Hüttenböden. ^  Die  Aufzählung  der 
mykenischen  Leichenverbrennungen  ist  nicht  ganz  vollständig,  denn 
außer  den  argivischen  Gräbern  spätmykenischer  Zeit  wäre  das  erste 
Kuppelgrab  von  Dimini  zu  nennen  gewesen;  jetzt  kommt  noch  eine 
spätest  mykenische  kretische  Grabkammer  hinzu,  in  welcher  die  Ver- 
brennung vereinzelt  neben  der  Bestattung  erscheint  (Ef.  ipx-  1904, 
S.  22  ff.,  T.  3;  der  Herausgeber  nennt  die  noch  rein  mykenisch  ver- 
zierten Gefäße  freilich  geometrisch,  weil  er  gelernt  hat,  daß  es  in 

1)  Wenn  Poulsen  angibt,  daß  auch  in  Thorikos  Reste  von  Holzhütten  ge- 
funden seien,  so  ist  das  wohl  ein  Versehen.  Dagegen  kommen  jetzt  in  BOotlen 
Hüttenböden  zutage,  die  hoffentUch  mit  ähnlicher  Sorgfalt  wie  die  italischen  unter* 
sucht  werden. 


Ponlsen,  Die  Dipylongr&ber  841 

mykenischer  Zeit  keine  Leichenverbrennung  gibt ;  daneben  tritt  schon 
die  Bogenfibel  auf).  —  Allzu  kurz  macht  Penisen  die  trojanischen 
Funde  ab;  denn  außer  den  vereinzelten  Brandgräbern  der  sechsten 
Stadt  haben  wir  ja  doch  die  gleichzeitige  mächtige  Brandschicht  im 
Hanai-tepe.  Mir  scheint  hier  ein  wichtiges  ELriterium  vorzuliegen, 
das  freilich  der  Bekräftigung  durch  neue  Funde  bedarf:  zur  Zeit  der 
mykenischen  Expansion  hatte  die  in  Mesopotamien  schon  lange  ver- 
breitete Leichenverbrennung  an  der  kleinasiatischen  Küste  Fuß  gefaßt; 
von  dort  griff  sie  schon  vor  der  Kolonisation  nach  Hellas  über,  von 
den  Ansiedlem  aber  haben  dann  wenigstens  die  oberen  Schichten, 
losgerissen  von  heimischer  Ueberlieferung  und  in  engerer  Berührung 
mit  der  hohen  Kultur  der  Euphratländer,  den  neuen  Brauch  durch- 
weg angenommen  und  daraus  alsbald  die  Folgerungen  gezogen,  die 
wiederum  schon  die  Babylonier  gezogen  hatten :  nach  der  Beisetzung 
hörte  der  Kultus  auf.  Wie  sehr  die  Unterwelt  der  Chaldäer  dem 
homerischen  Hades  ähnelt,  hebt  Poulsen  hervor,  aber  er  läßt  die 
Frage  offen,  ob  die  Verbrennung  bei  den  Griechen  selbständig  ent- 
standen oder  aus  dem  Orient  entlehnt  ist.  Nach  Lage  der  Dinge 
scheint  mir  mehr  für  Entlehnung  zu  sprechen :  der  Strom  des  orien- 
talischen Einflusses  war  kontinuierlich.  Wäre  aber  auch  die  Her- 
leitung aus  Mesopotamien  erwiesen,  wir  müßten  doch,  wie  Poulsen 
es  tut,  allgemeine  Gründe  für  die  Entstehung  der  Verbrennung 
suchen. 

Poulsen  kritisiert  zunächst  Rohdes  Annahme,  die  Verbrennung 
folge  aus  dem  Schwinden  des  Seelenglaubens  und  bezwecke  geradezu 
eine  Bannung  der  Seelen,  in  Dragendorffs  Sinne;  aber  er  bleibt  nicht 
stehen  bei  dem  negativen  Ergebnis,  daß  solches  nur  in  den  Kreisen 
der  Aufgeklärten  denkbar  sei,  sondern  er  hat  mit  Hilfe  vergleichender 
Volkskunde  erkannt,  wo  weitere  Ueberlegung  anzusetzen  hat.  Kon- 
sequenter Animismus  verlangt  Erhaltung  des  Körpers  und  dauernde 
Speisung,  ferner  Beigabe  alles  dessen,  was  der  Tote  im  Leben 
brauchte.  An  die  beiden  Hauptpunkte,  Erhaltung  des  Körpers  und 
dauernde  Speisung,  knüpft  Poulsen  an.  Selbst  die  Aegypter  gestanden 
sich  die  Unmöglichkeit  ewiger  Ernährung  der  Toten  zu  und  hörten 
nach  einigen  Generationen  damit  auf  (aber  sie  suchten  doch  noch 
Auswege:  so  gaben  sie  den  Toten  Hohlformen  zur  Herstellung 
tönerner  oder  wächserner  Schlachttiere  und  andrer  nützlicher  Dinge 
bei).  Andere  Völker  beschränkten  sich  auf  Terminopfer,  d.  b.  auf 
eine  symbolische  Ernährung.  Die  Leiche  endlich  ließ  sich  nirgends 
so  erhalten,  wie  in  dem  trocknen  Niltale:  sie  zerfiel  und  selbst  das 
Skelett  erwies  sich  als  vergänglich.  Was  wurde  nun  aus  der  Seele? 
Viele  Völker  fanden  unabhängig  voneinander  die  Antwort:   sie  ging 

24* 


342  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

in  ein  Totenreich.  Das  war  die  beste  Lösung;  daneben  gab  6B 
andere,  so  den  Glauben  an  die  Seelenwanderung,  der  auch  in  der 
ägyptischen  VolksUberlieferung  Spuren  hinterlassen  hat  (Erman,  Aeg. 
Rel.  S.  192  f.).  Glaubte  man  an  das  Totenreich,  so  war  es  am  folge- 
richtigsten, den  Toten  für  die  Reise  dorthin  auszustatten  und  dann 
keinen  Kultus  mehr  zu  üben  (so  die  Radikalen  in  Babylon  und  im 
homerischen  Kreise).  Häufiger  war  natürlich  eine  Vermengung  der 
alten  und  der  neuen  Vorstellung:  auch  im  Totenreich  bedurfte  die 
Seele  noch  der  Gaben  oder  war  doch  dafür  empfänglich;  damit  war 
das  Gewonnene  eigentlich  wieder  preisgegeben.  Es  ist  das  ein  ?oIl- 
kommener  Parallelismus  zu  den  mit  der  LeicheuTerbrennung  ver- 
bundenen Vorstellungen,  den  Poulsen  jedoch  nicht  hervorhebt. 

Die  Vermengung  alter  und  neuer  Gedanken  führt  nun  zu  einer 
weiteren  Frage:  wann  wird  die  Reise  angetreten  bezw.  vollendet? 
Darauf  antwortet  man  entweder  mit  einem  runden  Zeitmaß,  oder  man 
denkt  ernstlich  nach,  und  zwar  sagen  die  einen:  wenn  die  Speisen 
zum  erstenmal  unberührt  auf  dem  Grabe  stehen  —  dafür,  dafi  dies 
nicht  stets  geschieht,  sorgen  natürlich  die  Tiere,  in  denen  man 
eventuell  die  Seele  erkennt  — ,  die  anderen:  wenn  das  Fleisch  von 
den  Knochen  gefallen  ist.  Dieser  letztere  Gedanke  bietet  den 
Schlüssel  zum  Verständnis  der  Leichenverbrennung.  Er  hat  die  ver- 
schiedensten Bräuche  nach  sich  gezogen:  die  sekundäre  Beisetzung, 
das  scamimento,  die  Aussetzung  der  Leiche  zur  Skelettierung  durch 
Raubtiere  und  Sonnenhitze,  endlich  zur  Verbrennung,  die  mit  den 
genannten  Bräuchen  durchaus  gleichwertig  ist;  die  Bräuche  kreuzen 
sich  sogar,  indem  die  beim  scamimento  abgeschabten  Fleischteile 
verbrannt  werden.  Von  diesen  Bräuchen  setzen  alle  die,  welche  eine 
künstliche  Beschleunigung  der  Verwesung  enthalten,  einen  Fortschritt 
des  Gedankens  voraus,  den  Poulsen  für  die  Verbrennung  sehr  richtig 
dahin  definiert,  daß  die  Befreiung  vom  Fleische  ein  Pietätsakt,  der 
Eintritt  ins  Totenreich  eine  Wohltat  für  die  Seele  geworden  sei,  wie 
das  z.  B.  Elpenor  ausspricht. 

Die  Vernichtung  der  vergänglichen  Leichenteile, 
meist  in  rationellster  Weise  durch  Feuer,  ist  also  eine 
Folge  der  Reflexion,  die  hervorgerufen  wurde  durch 
die  Beobachtung,  daß  der  Leichnam  mit  der  Zeit  doch 
von  selbst  zerfiel.  Dies  das  Hauptergebnis  der  Untersuchung, 
das  Poulsen  gut  getan  hätte,  selbst  kurz  zu  formulieren. 

Im  folgenden  weist  der  Verfasser  darauf  hin,  wie  der  alte  Ani- 
mismus  sich  nicht  nur  neben  den  neuen,  ihm  ungünstigen  Gedanken 
gehalten,  sondern  sich  ihnen  auch  angepaßt  und  sie  sogar  seinerseits 
dahin  beeinflußt  habe,  daß  das  Lebw  in  der  Unterwelt  bei  den  vw- 


Poulieii,  Die  Dipylongrftbtr  848 

Bchiedensten  Völkern  als  ein  sehr  schlechter  Ersatz  fur  das  diesseitige 
Leben  galt  Diesem  letzteren  Gedanken  kann  ich  ebenso  wenig  bei- 
stimmen wie  einem  anderen,  wesensverwandten:  dafi  sich  in  derVor- 
stellnng  von  den  vielfachen  Schwierigkeiten  und  Gefahren  der  Reise 
ins  Jenseits  die  Schwierigkeiten  wiederspiegelten,  die  der  neue 
Glaube  zu  überwinden  hatte.  Letzteres  möchte  ich  so  erklären:  die 
Unterwelt,  die  nie  ein  Lebender  betreten,  nie  ein  Toter  verlassen 
hat  (so  ursprünglich),  denkt  man  sich  naturgemäß  als  ein  sehr  schwer 
zugängliches  Land  oder  als  Festung,  womöglich  als  beides  zugleich. 
Für  die  Aegypter  lieferte  die  westliche  Wüste,  hinter  deren  Rande 
die  Sonne  versank,  für  die  nordamerikanischen  Indianer  die  Rocky 
Mountains  das  natürliche  Vorbild,  sei  es  für  die  Unterwelt  selbst,  sei 
es  für  die  Grenzzone,  die  Lebende  und  Tote  trennt.  Gegen  den 
erstgenannten  Gedanken  ist  einzuwenden,  daß  das  kräftige  Diesseits- 
gefühl homerischer  Ritter  und  nordischer  Helden  ebenso  wie  die 
reife  Kultur  eines  reichen  orientalischen  Volkes  an  sich  genügt,  um 
ein  tiefes  Mißtrauen  gegen  das  Jenseits  zu  erklären;  umgekehrt 
hoffen  grade  die  Armen  und  Elenden  am  meisten  auf  ein  besseres 
Jenseits.  In  solcher  Weltlichkeit  ist  aber  natürlich  ein  unbedingter 
Verzicht  auf  die  Seligkeit  nicht  enthalten ;  vielmehr  verschlingen  sich 
die  Fäden  in  der  Weise,  daß  man  schließlich  doch  wieder  grade  für 
die  Größten  eine  Ausnahme  macht:  Achill,  den  die  Nekyia  in  den 
Hades  bannt,  wird  im  Volksglauben  zum  typischen  Bewohner  der 
seligen  Insel.  Wie  diese  Insel  mit  der  wachsenden  geographischen 
Kenntnis  des  Volkes  immer  weiter  rückt,  sehen  wir  bei  den  Babyloniem 
besonders  deutlich:  vom  Euphratdelta  rückt  sie  bis  in  den  Himmel, 
wo  schon  die  Aegypter  sie  in  den  Flecken  der  Milchstraße,  des 
himmlischen  Nils,  erkannten.  So  geht  bei  den  Griechen  Herakles 
nicht  zu  Achill  und  Menelaos,  sondern  zu  den  himmlischen  Göttern 
ein.  Schließlich  weist  Penisen  auf  die  weitere  Differenzierung  des 
Jenseitsglaubens  hin,  die  zur  Verheißung  der  Seligkeit  für  die  An- 
gehörigen einer  kirchlichen  Organisation  oder  endlich  für  die  sittlich 
Guten  führt.  Das  Korrelat  des  Lohnes  ist  die  Strafe,  wie  sie  uns 
schon  vor  der  Nekyia  die  heiligen  Schriften  der  Babylonier  und 
Aegypter  zeigen.  Zu  wie  rein  sittlicher  Auffassung  bereits  die 
Aegypter  gekommen  sind,  ist  zu  wenig  bekannt,  und  es  sei  deshalb 
Ermans  Uebersetzung  der  entscheidenden  Stelle  des  Totenbuches 
hier  wiedergegeben:  >Ich  habe  getan,  was  die  Menschen  sagen  und 
worüber  die  Götter  zufrieden  sind.  —  Ich  habe  dem  Hungrigen  Brod 
gegeben  und  Wasser  dem  Durstigen  und  Kleider  dem  Nackten  und 
eine  Fähre  dem  SchiflGslosen.  Ich  habe  Opfer  den  Göttern  gegeben 
und  Totenspenden  den  Verklärten.«    (Aeg.  Bei.  S.  106), 


344  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Endlich  sei  noch  eine  einzehie  Aeußerung  besprochen,  weil  sie 
eine  Prinzipienfrage  berührt:  >In  Griechenland  könnte  die  Verbreitung 
des  olympischen  Götterglaubens  von  Thessalien  aus,  wie  der  Jahve- 
kult  im  alten  Palästina,  den  Ahnenkult  in  Schatten  gestellt  haben< 
(S.  8).  Ganz  abgesehen  davon,  ob  man  grade  dem  thessalischen 
Olympglauben  eine  solche  Rolle  zuweisen  mag,  möchte  ich  ebenso 
wie  vor  der  Herleitung  von  Götterkulten  aus  dem  Seelenkultus  warnen 
vor  dem  Gedanken,  daß  diese  beiden  Kultkreise  leicht  miteinander 
kollidierten.  Wenn  sich  die  Verehrung  eines  großen  Gottes  ver- 
breitet, pflegen  verwandte  Lokalgötter  aufgesogen,  d.  h.  zu  Dienern 
oder  gar  zu  Beinamen  des  neuen  Gottes  zu  werden;  der  Ahnenkultus 
aber  wird  meist  gar  nicht  berührt,  höchstens  mit  der  neuen  Religion 
so  verbunden  wie  die  Familienkulte  der  attischen  Adelsgeschlechter 
mit  den  Staatskulten. 

In  dem  Abschnitt  über  die  Dipylongräber  wird  zunächst  ein 
Ueberblick  an  Hand  der  Geschichte  ihrer  Erforschung  gegeben  (jetzt 
etwas  zu  vervollständigen:  Judeich,  Topographie  S.  356 f.),  wobei 
bereits  angedeutet  wird,  daß  die  eleusinischen  Gräber  von  älterem 
Typus  sind  als  die  Kerameikosgräber ;  noch  älter  scheinen  die  Gräber 
am  Westabhang  der  Akropolis  zu  sein.  Von  allgemeinem  Interesse 
ist  die  Feststellung ,  daß  die  von  Skias  als  Grabgehege  aufgefaßten 
Mauern  höchst  wahrscheinlich  von  Häusern  herrühren:  die  Gräber 
scheinen  also  ebenso  wie  vermutlich  die  am  Westabhang  der  Akropolis 
innerhalb  der  Ansiedlung  gelegen  zu  haben.  Penisen  erinnert  an  die 
bekannte  Stelle  des  pseudoplatonischen  Minos,  die  durch  die  Aus- 
grabungen in  Thorikos,  Aegina  und  Orchomenos  illustriert  wird:  ur- 
sprünglich begrub  man  die  Toten  im  Hause,  dann  wenigstens  inner- 
halb der  Stadt,  so  noch  später  in  dorischen  Städten,  endlich  legte 
man  Friedhöfe  außerhalb  der  Stadt  an.  Daß  letzteres,  wie  Penisen 
vermutet,  zur  Entstehung  der  Idee  vom  Totenreich  beigetragen  habe, 
ist  mir  bei  dem  Alter  dieser  Vorstellung  unwahrscheinlich;  man 
könnte  sich  den  Vorgang  mindestens  ebenso  gut  umgekehrt  denken. 
Im  einzelnen  ist  manches  nachzutragen,  zunächst  zur  Bestattung  im 
Hause.  Dieser  Brauch  hat  sich  als  Ausnahme  lange  gehalten :  so  in 
Griechenland  bei  Kindern  noch  auf  der  Burg  von  Mykenae  (über  das 
Archaisieren  im  Kinderritus  siehe  Penisen  S.  25,  45),  in  Mesopotamien 
bei  den  Königen,  die  man  in  alten  Palästen  beisetzte :  dies  der  erste 
Schritt  zur  Isolierung  der  Toten,  mit  denen  man  ursprünglich  die 
Familiengemeinschaft  aufrecht  erhalten  hatte.  Ein  weiterer  Schritt 
ist  die  Erbauung  einer  Grabhütte,  die  man  verschüttet  (so  in  Latium, 
Not.  sc.  1898  S.  170),  der  nächste  die  Anlage  eines  nur  mehr  haus- 
ähnlichen Grabes.     Als  Beispiel   hierfür  sind  die  vormykenischen 


Poolsen,  Die  Dipylongr&ber  845 

Gräber  von  Syros  wichtig:  ihre  Taren  liegen  öfters  derart  im  Ab- 
hang, daß  sie  nicht  benutzt  werden  konnten;  die  Hausform  ist  also 
rein  rituell.  Dem  entsprechen  die  mehrräumigen  Orabhäuser  der 
Babylonier,  bei  welchen  sogar  der  Brunnen  nicht  fehlt.  Die  dorische 
Beisetzung  in  der  Stadt  ist  dagegen  kein  Tollgültiges  Zeugnis,  da  z.  B. 
Sparta  nachweislich  xo>(i.if]8bv  bewohnt  war  wie  das  alte  Mykenae; 
ähnlich  scheinen  die  Dinge  in  Tarent  und  in  den  benachbarten  Italer- 
städten zu  liegen  (Not.  sc.  1898  S.  196).  Desto  wichtiger  sind  die 
Heroengräber  im  Buleuterion  von  Megara.  Auffällig  ist  die  Anlage 
von  Gräbern  in  der  Stadtmauer  selbst,  wie  sie  in  Kreta  beobachtet 
worden  ist  (Tsuntas-Manatt  S.  116,  1).  Vielleicht  sollten  die  Toten 
dort  als  Schutzgeister  dienen  (vgl.  Hock,  Griech.  Weihegebräuche 
S.  81 ,  und  ähnliches  bei  den  Festungsbauten  afrikanischer  Völker). 

Im  folgenden  weist  Penisen  Punkt  für  Punkt  den  älteren 
Charakter  des  eleusinischen  Friedhofs  gegenüber  dem  vom  Dipylon 
nach,  zunächst  an  den  äußeren  Zeichen  der  Gräber.  Solche  erkennt 
er  unter  Ausschaltung  der  von  Skias  vermuteten  Sandtumuli  in  einer 
rechteckigen  Steinsetzung  in  Eleusis,  einer  runden  in  Athen;  sein 
Vergleich  mit  Aphidna  trifft  jedoch  nicht  zu ,  denn  dort  handelt  es 
sich  um  Verstärkung  des  Grubenrandes,  auf  welchem  die  Deckplatten 
ruhten.  Vollgültige  Analogien  hätte  Penisen  bei  den  Eykladen- 
gräbem  finden  können,  wo  die  rechteckige  wie  die  runde  Form  be- 
gegnet CE(p.  ipx-  1898  S.  144,  146)  —  letztere  ein  >Vorläufer<  des 
mykenischen  Plattenringes. 

Nach  Erwähnung  der  einfachen  Stelen  geht  Poulsen  zu  den 
keramischen  Denkmälern  über.  Er  zeigt  den  jüngeren  Charakter  des 
Dipylonfriedhofs  daran,  daß  die  dort  als  Hohlaltäre  für  die  Spende 
in  den  Opfergruben  stehenden  Monumentalamphoren  mit  ihrem  vor- 
wiegend sepulkralen  Bilderschmuck  am  Areopag  gar  nicht,  in  Eleusis 
nur  in  den  oberen  Schichten  vereinzelt  nachzuweisen  sind,  während 
in  der  untersten  Schicht  Hohlaltäre  wie  über  dem  vierten  Burggrabe 
von  Mykenae  vorkommen,  und  dort  wie  am  Areopag  kleine  schmuck- 
lose Kannen  und  Amphoren  über  dem  Grabe  stehend  gefunden 
wurden.  Poulsen  kommt  noch  zweimal  hierauf  zurück  (S.  42 ,  45), 
weshalb  eine  Zusammenfassung  seiner  Ausführungen  nicht  unnütz 
sein  wird.  Wichtig  ist  die  Beobachtung,  daß  die  Urnen  mit  ver- 
brannten Gebeinen  in  sehr  flachen,  nie  mit  Platten  bedeckten  Gruben 
beigesetzt  wurden;  die  Schalen,  mit  welchen  ihre  Mündung  gewöhn- 
lich verschlossen  war,  lagen  also  wahrscheinlich  frei,  wie  das  ur- 
sprünglich auch  bei  den  Schalen  an  den  Pithoi  von  Aphidna  der 
Fall  gewesen  sein  wird.  Wenn  in  solchen  Schalen  einmal  ein 
Eännchen,  ein  andermal  Reste  des  Brandopfers  gefunden  wurden,  so 


846  Qdtt  gel.  Anz.  1906.  Nt.  5 

mne  das  zwar  nach  Ausweis  der  theräischen  und  anderer»  2.  K 
babylonischer  Gräber  kein  Beweis  dafiir,  daß  sie  dauernd  als  Opfer- 
grube dienten^);  aber  es  haben  sich  auch  Kannen  mit  einer  Schale 
in  der  Mündung  auf  dem  Grabe  gefunden.    Dieses  Eultgefaß  finden 
wir  auf  dem  Dipylonfriedhof  in  hieratisch  erstarrter  Form  wieder: 
Napf  oder  Kännchen  sind  mit  dem  Deckel  fest  yerbunden.     Die 
Kannen  haben  in  der  Regel  ursprünglich  auf  der  Bretterdecke  des 
Grabes,  nicht  im  Grabe  selbst  gestanden,  und  ihre  Mündung  hat 
herausgeragt;  sogar  Stierknochen   sind  darin  gefunden  worden,  ob- 
wohl sie  im  allgemeinen  gewiß  nur  der  Spende  dienten.    UeberdieB 
begegnen  die  Kannen  nur  in  solchen  Gräbern,  wo  die  großen  Denk- 
malvasen  fehlen.     Penisen  weist  also  mit  gutem  Recht  Brückners 
Vermutung  ab,  daß  diese  Gefäße  das  Heroenbad  enthalten  hätten. 
Die  ProthesisTase,  aus  der  zuletzt  die  Lutrophoros  wird,  knüpft  viel- 
mehr naturgemäß  an  die  spätere  Entwickelungsstufe,  die  große  Monu- 
mentalamphora ,  an;  von  dieser  entlehnt  sie  die  sepulkralen  Dar- 
stellungen.   Dies  Kultgefäß  hielt  sich  nun  wieder  bei  jungen  Leuten 
besonders  zäh,  und  die  besondere  Trauer  um  den  Tod  der  »untcdl- 
eudet<  Gestorbenen  legte  es  nahe,  ihm  jene  neue  Bedeutung  der 
Lutrophoros    unterzuschieben.      Diese   Auffassung    überzeugt    yoU- 
kommen;   es  bleibt  höchstens  zu  bemerken,   daß  Penisen  die  Ton 
Brückner  angeführte  Henkel-  und  Halsyerzierung  mit  Schlangen  gegen 
Brückner  selbst  hätte  geltend  machen  können ;  denn  daß  sie  ursprüng- 
lich sinnvoll  war,  ist  gewiß  und  wird  jetzt  durch  eine  Neuerwerbung 
des  Berliner  Museums  sehr  deutlich:   eine  altrhodische  Spenderöhre 
zeigt  jederseits  eine  plastische  Schlange  (vgl.  auch  Jahrb.  1905  S.  85). 
Femer  zeigt  Poulsen,  daß  auch  in  der  Anlage  der  Leichengräber 
der  jüngere  Charakter  des  Dipylonfriedhofs  hervortritt.    An  der  Bau- 
art des  Grabes  ist  der  Zusammenhang  von  den  Kykladengräbem  an 
(Etp.  1899  S.  74)  über  die  mykenischen  Burggräber  und  das  spät- 
mykenische  Familiengrab  von  Eleusis  herab  bis  zu  den  geometrischen 
Einzelgräbem  deutlich;  in  Eleusis  lockert  sich  die  Form  bereits;  in 
Athen  ist  das  Grab  nach  Einführung  des  Sarkophages  zur  einfachen 
Erdgrube  geworden  (Spuren  der  alten  Weise  in  klassischer  Zeit 
bei  Poulsen  S.  22,  völlige  Erneuerung  in  der  Spätzeit  'Ef.  1904 
S.  63-79). 

Poulsen  bespricht  dann  die  verschiedenen  Grabformen  im  An- 
schluß an  Skias:  Pithoi  und  andre  Gefäße  (für  Kinder),  Leichen- 

1)  Zeitschr.  f.  Assyriologie  1887,  S.  412.  Bemerkenswert  ist,  daß  noch  in 
rftmischen  Nekropolen,  so  bei  Garmona  in  Spanien,  die  Urnen  mit  dorchbofartMi, 
also  sicher  der  Spende  dienenden  Schalen  verschlossen  waren  (R6v.  arch.  1899, 
n,  8.  260). 


PoolBen,  Die  Dipylongr&ber  847 

gräber,  Brandgräber  und  Urnen.  Ich  gehe  nur  anf  einzelne  Punkte 
ein.  Die  Regel,  daß  man  den  Pithos  mit  der  unverbranaten  Leidie 
legte,  nicht  aufrecht  stellte,  erleidet  Ausnahmen,  wie  in  Thorikos 
und  in  Aegina  (auf  Anfrage  freundlichst  bestätigt  von  Herrn  Sta'is). 
Hinzuzuf&gen  ist  jetzt  der  eretrische  Einderfriedhof,  wo  die  Gefäße 
alle  mit  der  Mündung  nach  Osten  lagen  und  die  Toten  nach  Westen 
sahen  C%-  ^^^^  S-  ^^O-  ^  den  eleusinischen  LeichengriUbem  ist 
noch  oft  die  im  Kerameikos  schon  seltene  mykenische  Sitzbestattung 
nachzuweisen.  Wenn  die  Leichen  gelegentlich  auf  der  Seite  liegen, 
80  ist  das  schwerlich  mit  Penisen  so  zu  erklären,  daß  der  Tote  in 
nähere  Berührung  mit  den  Beigaben  gebracht  werden  sollte:  er  ist 
vielmehr  schlafend  gedacht  wie  in  allen  ältesten  Nekropolen  von 
Aegypten  bis  Deutschland.  Bemerkenswert  ist  übrigens,  daß  in  einer 
altbabylonischen  Brandnekropole  selbst  die  unvollkommen  (symbolisch?) 
verbrannte  Leiche  eines  Kindes  noch  in  dieser  Lage  gefunden  wurde 
(Koldewey,  Zeitschr.  f.  Assyriologie  1887  S.  411). 

Die  Beigaben  behandelt  Poulsen  ausführlich  in  sehr  ansprechen- 
der Darstellung;  der  Leser  erhält  ein  typisches  Bild  der  ursprüng- 
lich so  einfachen  und  klaren,  dann  immer  mehr  teils  abblassenden, 
teils  mit  einander  und  mit  neuen  Gedanken  verschlungenen  Vor- 
stellungen, die  zur  Beigabe  praktischer  und  symbolischer  Dinge  ver- 
schiedenster  Art  geführt  haben.  Auch  auf  die  Handelsgeschichte  fäDt 
gelegentliches  Licht.  So  findet  sich  in  dem  an  der  Heerstraße  ge* 
legenen  Mensis  viel  mehr  protokorinthische  Ware  als  in  Athen,  wo 
Poulsen  nur  ein  importiertes  Gefäß  kennt;  ein  zweites  bei  Collignon- 
Couve  Nr.  403.  Zu  Poulsens  Ausführungen  über  den  Bronzedreifuß 
vom  Dipylon  ist  jetzt  Furtwängler,  Sitzungsber.  d.  bayer.  Akademie 
1905  S.  269  f.  zu  vergleichen. 

Die  Beigabe  kleiner  Pferdchen  bringt  Poulsen  wieder,  wie  man 
das  früher  tat,  in  Verbindung  mit  der  Reise  ins  Jenseits.  Die  Ana- 
logie mit  den  tönernen  Schuhen  und  Füssen,  deren  ursprünglicher 
Sinn  klar  ist,  drängt  sich  allerdings  auf,  so  daß  dieser  Gedanke 
immerhin  mitgespielt  haben  mag.  Andrerseits  ist  aber  an  die  chtho- 
nischen  ffncot  zu  errinnem,  und  schließlich  ist  das  Pferd  audi  Standee- 
symbol  wie  später  bei  den  römischen  equites  singulares;  auf  diesem 
Wege  dürfte  es  zu  dem  allgemeinen  Heroensymbol  gewordm  sein, 
«Is  welches  wir  es  in  klassischer  Zeit  finden:  den  xpeittovec  gebührt 
^bu3  Roß  ebenso  wie  die  WafTenrüstung;  deshalb  heißt  auch  Hades, 
der  Herr  aller  Toten,  Khyz67cviko<;  (Stengel,  Archiv  f.  ReligionswisB. 
Vni  8.  208  ff.).  Hierher  gehört  auch  die  Beigabe  von  Waffen,  die 
in  Attika  noch  in  klassischer  Zeit  wenigstens  in  der  Form  der 
Weihung  am  Grabe  üblich  war.  Poulsen  geht  deshalb  zn  weit«  wenn 


348  Gott.  geL  Anz.  1906.  Nr.  5 

er  sagt,  die  Beerdigung  mit  Waffen  sei  sicher  nur  ein  Vorrecht  vor- 
nehmer  Herren  gewesen  (S.  40  f.).^ 

Granatapfel,  Hahn  (s.  jetzt  Weicker,  Ath.  Mitt.  1905  S.  207  ff.) 
und  Ei  stellt  Poulsen  richtig  in  eine  Reihe  mit  dem  Grabphallos, 
der  mitgegeben  oder  auf  dem  Grabe  als  Sema  aufgepflanzt  wurde. 
Das  entscheidende  Zeugnis  dafür,  daß  die  kleinasiatischen,  griechi- 
sehen,  etruskischen  Phalloide  mit  Recht  so  genannt  werden,  ist  mir 
bei  meiner  neulichen  Besprechung,  Jahrbuch  1905  S.  90  f.,  noch  ent- 
gangen: in  den  babylonischen  Brandnekropolen  von  Surghol  und  el 
Hibba  hat  Koldewey  viele  Phalloi  aus  Ton  gefunden,  alle  ohne 
Hoden,  teils  »kraß  naturalistische,  teils  stilisiert,  aber  noch  kennt- 
lich, endlich  bis  zu  völliger  Unkenntlichkeit  stilisiert  (»Nagel- 
zylinderc)^)  Diese  Phalloi  steckte  man  in  die  Luftziegelwände  der 
Grabbauten,  mit  der  Spitze  etwas  aufwärts  gerichtet;  sie  dienten 
sicherlich  zur  Faszinierung  der  zahllosen  Dämonen,  die  den  Babylonior 
im  Leben  und  im  Tode  bedrohten.  Uebrigens  gab  man  dort  auch 
tönerne  Eier  mit  ins  Grab. 

Schließlich  bedarf  es  einiger  Worte  über  die  elfenbeinemod 
Frauenfiguren  vom  Dipylon,  die  Poulsen  für  attische  Arbeiten  hält 
—  gewiß  mit  Recht  —  und  als  Göttinnen  ansieht.  Die  Frage :  Göttin 
oder  Frau,  ist  im  Einzelfalle  selten  zu  entscheiden,  so  auch  hier 
nicht,  so  lange  weder  feststeht,  von  wann  ab  der  Polos  im  Allgemeinen 
nur  noch  von  Göttinnen  getragen  wird,  noch  ausgeschlossen  ist,  daß  er 
als  Brautkrone  dient.  Das  ^pcotov  ^eöSo^  der  meisten  Erklärungen  liegt 
darin,  daß  sie  alle  weiblichen  Figuren  als  gleichwertig  betrachten 
ohne  zu  fragen,  ob  deren  äußere  Gleichartigkeit  nicht  etwa  nur  auf 
mangelndem  Differenzierungsvermögen  der  primitiven  Künstler  be- 
ruht. In  archaischer  Zeit,  als  die  Sprache  der  Kunst  deutlich  ge- 
worden ist,  finden  sich  Göttinnen  und  Sterbliche  in  den  mannig- 
fachsten Funktionen  neben  einander  —  warum  nicht  auch  früher? 
Sehr  lehrreich  ist  eine  ägyptische  Grabbeigabe  N.  R.  (Erman,  Aeg. 
Rel.  S.  146):  eine  nackte  Frau  auf  einem  Bette,  neben  ihr  fein 
säuberlich  ihre  Sandalen  und  ein  kleines  Kind.  Hierdurch  wird  klar, 
erstens,  daß  die  Nacktheit  nicht  immer  nur  scheinbar  zu  sein  braudit 
wie  Poulsen  annimmt;  sie  kennzeichnet  die  Frau  als  Genußmittel  des 
Mannes,  als  welches  sie  von  den  steatopygen  oder  ganz  im  Fett  er- 
stickenden Figuren  des  vorzeitlichen  Aegypten,  Frankreich,  Malta, 
Sparta  bis  zu  den  Gefährtinnen  auf  den  TotenmahlreliefB  zu  be- 
trachten ist;  zweitens,  daß  die  Kurotrophos  sehr  wohl  auch  eine 
Sterbliche  sein  kann  —  nicht  muß,  denn  grade  hier  ist  sicher  oft 

1)  Zdtschr.  f.  Assyriologie  1887  S.  416  S. 


Poolsen,  Die  Dipylongr&ber  849 

genug  eine  Gottin  gemeint;  man  erinnere  sich  nur  der  eigenartigen 
Nekropole  von  Capua  (Annali  1876  S.  126  ff.).  Neben  Göttin  and 
Beischläferin  erscheint  spätestens  in  mykenischer  Zeit  die  Vertreterin 
des  Totenkultus,  sei  es  Klageweib,  sei  es  Adorantin.  Auf  den  Kultus 
darf  man  wohl  schon  die  Musiker  der  Kykladenkultur  beziehen  (vgl. 
den  bemalten  Sarkophag  von  Phästos);  Klageweiber  sind  dort  nicht 
kenntlich,  denn  es  ist  ein  Anachronismus,  wenn  man  in  der  roten 
Tätowierung  des  Gesichtes  naturalistisch  dargestellte  Kratzwunden 
findet  (vergl.  die  spartanische  Figur  mit  Rhombus  und  Zickzack, 
sowie  den  mykenischen  Kopf  mit  den  roten  Punktrosetten).  Daß  man 
dem  Toten  den  im  Leben  verehrten  Fetisch  beigab,  ist  mir  unwahr- 
scheinlich; das  Zerbrechen  großer  Idole  hat  andere  Gründe  und  die 
Sitte  läßt  sich  ja  bis  zu  den  Terrakotten  von  Myrina  verfolgen. 
Auch  die  speziell  ägyptische  Idee  des  Reserveleibes  möchte  ich  fern- 
halten; wenn  man  später  (schwerlich  schon  zur  Zeit  der  Kykladen- 
kultur, wie  Dragendorff,  Thera  II  S.  122,  will)  Porträtstelen  und 
-Statuen  der  Toten  errichtete,  so  beabsichtigte  man  gewiß  nicht,  damit 
der  Seele  ein  SSoc  im  fetischistischen  Sinne  darzubieten;  dieser  Ge- 
danke lebte  nur  noch  im  Unterbewußtsein  des  Volkes.  Alle  anderen 
Vorstellungen  aber  kann  man  sehr  wohl  schon  in  ältester  Zeit  neben 
einander  mit  den  Figuren  verbunden  haben. ^) 

Penisen  schließt  den  Abschnitt  über  die  Gräber  mit  der  Be- 
merkung, daß  an  ihnen  der  Uebergang  aus  der  mykenischen  in  die 
Zeit  des  geometrischen  Stiles  sich  deutlich  verfolgen  lasse.  Man  ver- 
mißt hier  einen  Hinweis  darauf,  daß  dieser  Uebergang  sich  in  Kreta 
trotz  des  dorischen  Einfalls  noch  viel  organischer,  sozusagen  vor 
unseren  Augen  vollzieht. 

In  dem  Abschnitt  über  den  geometrischen  Stil  gibt  Penisen  zu- 
nächst die  Geschichte  der  Erforschung.  In  kurzen  Strichen  ist  hier 
ein  lebensvolles  Bild  eines  Menschenalters  wissenschaftlicher  Arbeit 
entworfen.  Mit  wenigen  Worten  nimmt  Penisen  zu  den  vorgeführten 
Meinungen  Stellung.  So  spricht  er  sich  mehrfach,  wie  das  schon 
Conze  getan  hatte,  gegen  den  beliebten  Schluß  von  der  Kultur  auf 
die  Rasse  aus.  In  der  Tat  kann  man  auf  diesem  Wege  gut  und 
gern  nachweisen,  daß  die  Buschmänner  Nachkommen  der  Mykenäer 
seien;  wenn  Penisen  freilich  auch  den  loniern  dies  Verwandtschafts- 
verhältnis nicht  recht  zugestehen  mag,  so  geht  das  doch  zu  weit; 
denn  hier  beruht  der  Schluß  in  erster  Linie  auf  historischen  Erwä- 
gungen. 

1)  In  der  Korrektur  kann  noch  hingewiesen  werden  anf  das  Bach  von 
Walter  A.  Müller,  Nacktheit  and  EntblöBang  in  der  altorientalischen  and  älteren 
griechischen  Eanst 


S60  Gott  gel  Anz.  1906.  Xr.  5 

Poul86DS  eigene  Meinung  über  Entstehung  und  Wesen  des  geome- 
trischen Stils  ist  enthalten  in  seinen  Ausfuhrungen  über  die  Dorar- 
hypotbese.  An  sich  brauchte  die  Frage,  ob  die  Derer  den  geometii« 
sehen  Stil  nach  Griechenland  gebracht  haben  oder  nicht,  mit  der 
Frage  nach  der  Entstehung  des  Stiles  nicht  verquickt  zu  werden. 
Das  geschieht  erst  dadurch,  daß  man  sich  den  Stil  in  Sempera  Sinn 
an  Webereien  und  anderen  Arbeiten  der  >arischen  Urkultnr<,  welche 
die  Derer  angeblich  mitbrachten,  spontan  entstanden  dachte.  Poulsou 
Standpunkt  ist  imgrunde  nicht  allzu  verschieden  von  dem,  welchen 
Conze  einnahm,  nachdem  Riegl  die  Unhaltbarkeit  der  Semperschen 
Theorie  gezeigt  hatte.  Mit  Recht  betont  Poulsen,  daß  Ornamente 
auf  die  allerverschiedenste  Weise  entstehen  können  und  daß  es  meist 
ganz  vergeblich  ist,  nach  dem  Woher  zu  fragen.  Von  diesem  rich- 
tigen Prinzip  weicht  er  aber  selbst  ein  wenig  ab,  wenn  er  im  Biegl- 
sehen  Sinn  bei  entwickelten  geometrischen  Stilen  die  Möglichkeit  der 
Uebemahme  von  Einzelheiten  aus  einer  Technik  in  die  andere  gani 
von  der  Hand  weist.  Da  das  Tongefäß  oft  genug  bewußte  Nach- 
ahmung eines  Metallgefäßes  ist,  so  werden  auch  der  Treibtechnik» 
wenn  nicht  entstammende,  so  doch  angepaßte  Ornamente  gelegentlich 
einfach  kopiert,  nachweislich  z.  B.  in  Thera  (Ath.  Mitt.  1903  S.  134  f.). 
Das  steht  ja  doch  nicht  im  Widerspruch  mit  dem  von  Penisen  ge- 
schilderten freien  Verfahren  der  Dipylontöpfer,  die  alles  mögliche  in 
Ton  nachahmten,  sondern  stimmt  gerade  dazu. 

Mit  der  Abweisung  der  Semperschen  Theorie  entzieht  Penisen 
der  Dorerhypothese  eine  wesentliche  Stütze.  Zwei  weitere  Gegen- 
argumente kommen  hinzu :  auf  Kreta,  wo  Furtwängler  und  Löschcke 
sich  seiner  Zeit  die  Hauptblüte  des  geometrischen  Stiles  gedacht 
hatten,  spielt  er  eine  ganz  geringe  Rolle;  noch  ist  die  übermächtige 
mykenische  Ueberlieferung  nicht  überwunden,  als  bereits  wieder 
orientalisierende  Motive  auftreten.  Diese  Erscheinung  ist  ganz  na- 
türlich angesichts  der  Tatsache,  daß  rohe  Sieger  die  Kultur  der 
Besiegten  mehr  oder  minder  anzunehmen  pflegen,  nicht  aber  umge- 
kehrt. Penisen  sieht  also  in  den  Dorern  höchstens  Zerstörer  der 
mykenischen  »Herrenkunst«  und  erklärt  das  Aufkommen  des  geome- 
trischen Stils  mit  Wolters,  Böhlau,  Wide  dadurch,  daß  eine  ans 
ältester  Zeit  stammende  Unterströmung  volkstümlicher  Ornamentik 
jetzt  hervortrat.  Dem  gegenüber  scheint  mir  Furtwänglers  bedingtes 
Festhalten  an  der  Dorerhypothese  doch  sehr  berechtigt;  es  enthält 
eine  Warnung  davor,  von  einem  Extrem  ins  andere  zu  fall^i. 
Penisen  selbst  sagt  an  anderer  Stelle,  die  neu  entdeckte  altthessali- 
sche  Keramik  würde  der  Dorerhypothese  neuen  Glanz  verleihen,  >and 
zwar  mit  Recht  <.    Das  widerspricht  eigentlich  seiner  sonstigen  Auf- 


Poulsen,  Die  Dipylongr&ber  8SI 

fusiing,  scheint  mir  aber  den  Weg  zu  weisen.  Die  Derer  haben 
sicher  einen  geometrischen  Stil  mitgebracht,  wahrscheinlich  roh  und 
systemlos,  aber  nicht  weniger  reich  als  an  jenen  thessalischen  Ge- 
fifien.  Das  war  ein  starker  Zufluß  zu  dem  alten  Strome  bäuerlicher 
Ornamentik,  der  nun  wenigstens  in  Hellas  die  letzten  Reste  des 
Mykenischen  mit  sich  fortriß. 

Daß  dieser  Strom  wirklich  von  ältester  Zeit  an  kontinuierlich 

gewesen  ist,  sucht  Poulsen  an  Beispielen  zu  zeigen,  besonders  aus- 

fBhrHch  an  der  trojanischen  Keramik.    Die  Elemente  der  Entwicke- 

tamg,  einfache  Linearomamente  und  Ansätze  zu   anthropomorpher 

Gestaltung  der  Gefäße,  bietet  die  erste  Stadt.    Wenn  Poulsen  diese 

imt  >Troja  und  Ilionc  für  steinzeitlich  hält,  so  ist  daran  zu  er- 

imem,  daß  dem  neuerdings  mehrfach  widersprochen  worden  ist,  zu- 

tet  Ton  Vollgra£f,  B.C.H.  1905  S.  40 ff.;  mir  ist  das  Vorkommen 

baoalter  Yasen  besonders  verdächtig,  da  diese  im  allgemeinen  später 

alB  das  Kupfer  auftreten.    An  der  Menschenvase  bildet  sich  zur  Zeit 

dsr  zweiten  Stadt  das  erste,  zunächst  noch  rein  naturalistische  Deko- 

ntioBBsystem  aus;  aber  schon  dort  beginnt  der  Sinn  f&r  Symmetrie 

dm  Naturalismus  entgegen  zu  wirken.    Mit  der  Einflihrung  der 

Scheibe  wird  die  >Pntzdekoration<  immer  omamentaler,  so  wird  aus 

tai  Halsband  mit  Anhängern  ein  Metopenstreifen :  die  Horizontal- 

ÜBie  setzt  sich  durch  und  tötet  allmählich  das  lebendige  Empfinden. 

Bttte  aber  halten  sich  bis  in  den  nachmykenischen  geometrischen 

BfflvonTroja:  die  alte  Oesichtsvase  ist  unvergessen  und  manche 

BiseDimt  erinnert  an  die  Ornamentik  der  zweiten  Stadt.  —  Daß 

te  kjprische  geometrische  Stil  seine  Eigenart  von  der  Kupferzeit 

Ui  in  die  Eisenzeit  nicht  verändert  hat,  hebt  Poulsen  an  anderer 

KflBe  herror.    Die  gleiche  Kontinuität  an   den  Kykladenvasen  zu 

Mitoi  vermag  er  nicht,  zumal  er  die  Excavations  atPhylakopi 

Mt  mehr  benutzen  konnte.  Ohne  darauf  eingehen  zu  wollen,  möchte 

vk  doch  hervorheben,   daß  ein  einfacher  geometrischer  Stil  sich  in 

UoB  stets  gehalten  hat,  selbst  neben  dem  starken  Naturalismus  der 

htiriereaden  Vasen.     Der  zweite  Band   des  Argive  Heraeum 

^PMsen  auch  noch  unzugänglich;  immerhin  kann  er  die  Heraion- 

fade  ab  Zeugen  der  Tradition  auf  dem  griechischen  Festlande  an- 

tkn.  Wenn  er  auch  VoUgraffs  Funde  von  der  Aspis  hierher  zieht, 

'^lit  er  damit  gewiß  Recht;  Vollgraff  selbst  will  freilich  nichts 

^  wissen    (a.  a.  0.  S.  29  f.).    Schließlich   geht  Poulsen  auf  die 

IhdeQ  geometrischen  Vasen  der  Bronzezeit  ein.    Bei  denen  von 

'  ^imha  deutet  er  mit  Recht  an,  daß  sie  den  mykenischen  gleich- 

^imiL   Er  würdigt  das  Auftreten  des  Mäanderhakens  auf  einem 

t^  Q^ßtße    und  gibt  zwei  Erklärungsversuche  dieser  zuknnfts« 


j 


S60  Gott  gel  Anz.  1906.  Xr.  5 

Poulsens  eigene  Meinung  über  Entstehung  und  Wesen  des  geome- 
trischen Stils  ist  enthalten  in  seinen  Ausführungen  über  die  Derer* 
hypotbese.  An  sich  brauchte  die  Frage,  ob  die  Dorer  den  geometri- 
sehen  Stil  nach  Griechenland  gebracht  haben  oder  nicht,  nüt  der 
Frage  nach  der  Entstehung  des  Stiles  nicht  verquickt  zu  werden. 
Das  geschieht  erst  dadurch,  daß  man  sich  den  Stil  in  Sempers  Sinn 
an  Webereien  und  anderen  Arbeiten  der  >arischen  Urkultur<,  welche 
die  Dorer  angeblich  mitbrachten,  spontan  entstanden  dachte.  Poulsens 
Standpunkt  ist  imgrunde  nicht  allzu  yerschieden  von  dem,  welchen 
Cionze  einnahm,  nachdem  Riegl  die  Unhaltbarkeit  der  Semperschen 
Theorie  gezeigt  hatte.  Mit  Recht  betont  Poulsen,  daß  Ornamente 
auf  die  allerverschiedenste  Weise  entstehen  können  und  daß  es  meist 
ganz  vergeblich  ist,  nach  dem  Woher  zu  fragen.  Von  diesem  rich- 
tigen Prinzip  weicht  er  aber  selbst  ein  wenig  ab,  wenn  er  im  Biegt 
sehen  Sinn  bei  entwickelten  geometrischen  Stilen  die  Möglichkeit  der 
Uebemahme  von  Einzelheiten  aus  einer  Technik  in  die  andere  gani 
von  der  Hand  weist  Da  das  Tongefäß  oft  genug  bewußte  Nach- 
ahmung eines  Metallgefäßes  ist,  so  werden  auch  der  Treibtechnik, 
wenn  nicht  entstammende,  so  doch  angepaßte  Ornamente  gelegentlich 
einfach  kopiert,  nachweislich  z.  B.  in  Thera  (Ath.  Mitt.  1903  S.  134  f.). 
Das  steht  ja  doch  nicht  im  Widerspruch  mit  dem  von  Poulsen  ge- 
schilderten freien  Verfahren  der  Dipylontöpfer,  die  alles  mögliche  in 
Ton  nachahmten,  sondern  stimmt  gerade  dazu. 

Mit  der  Abweisung  der  Semperschen  Theorie  entzieht  Poulsen 
der  Dorerhypothese  eine  wesentliche  Stütze.  Zwei  weitere  Gegeiir 
argumente  kommen  hinzu :  auf  Kreta,  wo  Furtwängler  und  Löschcke 
sich  seiner  Zeit  die  Hauptblüte  des  geometrischen  Stiles  gedacht 
hatten,  spielt  er  eine  ganz  geringe  Rolle;  noch  ist  die  übermächtige 
mykenische  Ueberlieferung  nicht  überwunden,  als  bereits  wieder 
orientalisierende  Motive  auftreten.  Diese  Erscheinung  ist  ganz  na- 
türlich angesichts  der  Tatsache,  daß  rohe  Sieger  die  Enltnr  der 
Besiegten  mehr  oder  minder  anzunehmen  pflegen,  nicht  aber  umge- 
kehrt. Poulsen  sieht  also  in  den  Dorern  höchstens  Zerstörer  der 
mykenischen  »Herrenkunstc  und  erklärt  das  Aufkommen  des  geome- 
trischen Stils  mit  Wolters,  Böhlau,  Wide  dadurch,  daß  eine  ass 
ältester  Zeit  stammende  Unterströmung  volkstümlicher  Omamentik 
jetzt  hervortrat.  Dem  gegenüber  scheint  mir  Furtw'änglers  bedingtsi 
Festhalten  an  der  Dorerhypothese  doch  sehr  berechtigt;  es  enthiK 
eine  Warnung  davor,  von  einem  Extrem  ins  andere  zn  lallflii 
Poulsen  selbst  sagt  an  anderer  Stelle,  die  neu  entdeckte  altthessali- 
sehe  Keramik  würde  der  Dorerhypothese  neuen  Glanz  verleihen,  >iind 
zwar  mit  Rechte.    Das  widerspricht  eigentlich  seiner  sonstigen  Anf- 


Ponlsen,  Die  Dipylongr&ber  8SI 

fassimg,  scheint  mir  aber  den  Weg  zu  weisen.  Die  Derer  haben 
sicher  einen  geometrischen  Stil  mitgebracht,  wahrscheinlich  roh  und 
systemlos,  aber  nicht  weniger  reich  als  an  jenen  thessalischen  Ge- 
fäßen. Das  war  ein  starker  Zufluß  zu  dem  alten  Strome  bäuerlicher 
Ornamentik,  der  nun  wenigstens  in  Hellas  die  letzten  Reste  des 
Mykenischen  mit  sich  fortriß. 

Daß  dieser  Strom  wirklich  von  ältester  Zeit  an  kontinuierlich 
gewesen  ist,  sucht  Poulsen  an  Beispielen  zu  zeigen,  besonders  aus- 
ftthrlich  an  der  trojanischen  Keramik.  Die  Elemente  der  Entwicke- 
hmg,  einfache  Linearomamente  und  Ansätze  zu  anthropomorpher 
Gestaltung  der  Gefäße,  bietet  die  erste  Stadt.  Wenn  Poulsen  diese 
mit  >Troja  und  Ilionc  für  steinzeitlich  hält,  so  ist  daran  zu  er- 
imiem,  daß  dem  neuerdings  mehrfach  widersprochen  worden  ist,  zu- 
letzt Ton  VoUgraff,  B.  G.H.  1905  S.  40ff.;  mir  ist  das  Vorkommen 
bemalter  Yasen  besonders  verdächtig,  da  diese  im  allgemeinen  später 
als  das  Kupfer  auftreten.  An  der  Menschenvase  bildet  sich  zur  Zeit 
der  zweiten  Stadt  das  erste,  zunächst  noch  rein  naturalistische  Deko- 
rationssystem aus;  aber  schon  dort  beginnt  der  Sinn  f&r  Symmetrie 
dem  Naturalismus  entgegen  zu  wirken.  Mit  der  Einflihrung  der 
Sdieibe  wird  die  >Pntzdekoration<  immer  omamentaler,  so  wird  aus 
dem  Halsband  mit  Anhängern  ein  Metopenstreifen :  die  Horizontal- 
linie setzt  sich  durch  und  tötet  allmählich  das  lebendige  Empfinden. 
Reste  aber  halten  sich  bis  in  den  nachmykenischen  geometrischen 
Stil  von  Troja:  die  alte  Gesichtsvase  ist  unvergessen  und  manche 
Einzelhdt  erinnert  an  die  Ornamentik  der  zweiten  Stadt.  —  Daß 
der  kyprische  geometrische  Stil  seine  Eigenart  von  der  Kupferzeit 
bis  in  die  Eisenzeit  nicht  verändert  hat,  hebt  Poulsen  an  anderer 
Stelle  hervor.  Die  gleiche  Kontinuität  an  den  Kykladenvasen  zu 
zeigen  vermag  er  nicht,  zumal  er  die  Excavations  atPhylakopi 
nicht  mehr  benutzen  konnte.  Ohne  darauf  eingehen  zu  wollen,  möchte 
ich  doch  hervorheben,  daß  ein  einfacher  geometrischer  Stil  sich  in 
Melos  stets  gehalten  hat,  selbst  neben  dem  starken  Naturalismus  der 
kretisierenden  Vasen.  Der  zweite  Band  des  Argive  Heraeum 
war  Poulsen  auch  noch  unzugänglich ;  immerhin  kann  er  die  Heraion- 
funde als  Zeugen  der  Tradition  auf  dem  griechischen  Festlande  an- 
fahren. Wenn  er  auch  VoUgrafiFs  Funde  von  der  Aspis  hierher  zieht, 
so  hat  er  damit  gewiß  Recht;  Vollgraff  selbst  will  freilich  nichts 
davon  wissen  (a.  a.  0.  S.  29  f.).  Schließlich  geht  Poulsen  auf  die 
attischen  geometrischen  Vasen  der  Bronzezeit  ein.  Bei  denen  von 
Aphidna  deutet  er  mit  Recht  an,  daß  sie  den  mykenischen  gleich- 
zeitig sind.  Er  würdigt  das  Auftreten  des  Mäanderhakens  auf  einem 
dieser  Gefäße  und  gibt  zwei  Erklärungsversuche  dieser  zuknnfts« 


362  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

reichen  Form.  Alsdann  zeigt  er  das  sehr  augenfällige  Weiterleben 
des  Alten  in  der  monochromen  Miniaturware  der  Eisenzeit.  Hier 
knüpft  der  folgende  Abschnitt  an;  wir  wollen  jedoch  noch  einige 
Einzelheiten  besprechen 

In  der  Darstellung  der  Erforschungsgeschichte  stellt  Poulsen  die 
Hauptliteratur  für  die  verschiedenen  geometrischen  Stile  zusammen 
(bis  1903)  und  gibt  eine  kurze  Charakteristik  jedes  Stiles.  Dem 
böotischen  Stil  scheint  mir  dabei  zu  viel  Ehre  angetan  zu  sein.  Von 
Reichtum  und  Vielseitigkeit,  sowie  von  starkem  Export  böotischer 
Vasen  (S.  60)  kann  Poulsen  nur  sprechen,  weil  er  jene  von  Dragen- 
dorff  und  mir  Euböa  zugewiesene  Gattung  als  böotisch  betrachtet  ^) 
Ich  habe  aber  die  Zuverlässigkeit  mehrerer  zusammentrefifender  tech- 
nischer Kriterien  zu  oft  erprobt,  als  daß  ich  jene  Vasen  ohne  weiteres 
für  böotisch  halten  könnte,  um  so  weniger,  als  wir  ja  böotische  Nach- 
ahmungen haben.  Mir  stellt  sich  die  Sache  so  dar:  alle  in  Böotien 
gefundenen  und  nicht  offenbar  importierten  geometrischen  Vasen 
bilden  technisch  eine  leicht  kenntliche  Einheit  trotz  der  großen  Ver- 
schiedenheit der  lokalen  Stile.  Poulsen  spricht  mit  Recht  von  der 
armseligen  geometrischen  Ornamentik  der  Böoter;  die  Folge  dieser 
Armut  ist  Aufnahme  von  allerlei  Fremdem.  So  scheinen  die  Vogel- 
schalen durch  argivisch-korinthische  Metallarbeiten  beeinflußt,  so  haben 
wir  Nachahmungen  der  Dipylonvasen  und  eben  unserer  >euböischen< 
Gefäße.  Soll  man  nun  annehmen,  daß  nur  eine  von  allen  uns  be- 
kannten böotischen  Werkstätten  —  man  könnte  dabei  an  Anus 
denken  —  eine  ganz  andere,  überlegene  Technik  besaß,  und  daß 
ihre  Erzeugnisse  den  Stil,  nicht  aber  die  Technik  anderer  Werk- 
stätten beeinflußten?  Unmöglich  ist  das  ja  nicht,  aber  es  liegt  doch 
näher,  jene  Werkstatt  in  einem  Nachbarlande  von  höherer  Kultur 
zu  suchen,  entsprechend  dem  nachgewiesenen  Verhältnis  Böotiens  zu 
Attika  und  zu  Argos-Korinth.  In  Eretria  haben  wir  nun  technisch 
unserer  Gattung  ganz  gleichartige,  wenn  auch  künstlerisch  minder- 
wertige, wohl  lokale  Ware.  Aus  diesen  Data  scheint  sich  mir  Dragen- 
dorffs  Annahme  als  wohllegitimierte  Hypothese  zu  ergeben.  —  Wenn 
Poulsen  beim  theräischen  Stil  bemerkt,  daß  Pflanzenformen  nie  vor- 
kämen, so  trifft  das  nicht  ganz  zu:  wir  haben  das  Vierblatt,  imd 
davon  sind  die  Blattsteme  nicht  zu  trennen.  Daß  die  theräischen 
Vasen  ihres  allzu  strengen  Stiles  wegen  anderwärts  nicht  gekauft 
worden  seien,  glaubt  Poulsen  wohl  selbst  nicht  ernstlich.^) 

In  der  Auffiassung  der  thessalischen  Keramik  herrscht  in  dem 

1)  Die  Publikatioii  der  eretrischen  Gef&ße  in  der  '£<p.  1908  8. 1  ff.  konnte 
Poulsen  nicht  mehr  benatzen;  sie  ersetzt  überdies  in  keiner  Weise  die  Autopsie. 

2)  Eine  ther&ische  »Hydriac  aus  Rheneia?  J.  hell.  stud.  1902  S.  48. 


Poolsen,  Die  Dipylongräber  353 

Boche  ein  Widerspruch.  S.  66  heüSt  sie  eine  Barbarenkeramik,  ähn- 
lich der  italisch-geometrischen,  >mit  tollen  Nachahmungen  von  Dipylon- 
mustem,  besonders  der  schwierigsten  Mäanderformen  <,  S.  93  wird  sie 
prämykenisch  genannt,  S.  76  wird  die  Fundschicht  richtig  als  neo- 
lithisch  bezeichnet  (so  die  untersten  Schichten;  die  oberen  äneolithisch). 
Letztere  Tatsache  könnte  man  im  Sinne  Sophus  Müllers  als  >  peri- 
pherischen Archaismus  <  auffassen,  aber  tiefer  als  bis  in  frühmykeni- 
sche  Zeit  wird  man  mit  der  Datierung  schwerlich  herabgehen  dürfen. 
Neue  Ausgrabungen,  auch  in  Böotien,  werden  darüber  bald  ent- 
scheiden. 

In  dem  Abschnitt  über  die  älteren  Dipylonvasen  geht  Penisen 
im  Gegensatz  zu  seinen  Vorgängern  aus  von  dem  richtigen  Grund- 
sätze, daß  man  sich  die  Entwickelung  nicht  schematisch  einfach  und 
gradlinig  denken  dürfe.  Wer  das  voraussetzt,  steht  dann  den  Fund- 
tatsachen ratlos  gegenüber.  Wo  eine  solche  Eontrole  fehlt,  wird  ja 
freilich  oft  genug  das  Schema  zur  Grundlage  weiterer  Untersuchungen 
gemacht,  ohne  daß  man  sich  bewußt  bliebe,  wie  problematisch  der 
Wert  so  luftiger  Bauten  ist.  —  Penisen  behandelt  zunächst  die 
Akropolisvasen.  Die  Gattung  hat  nur  wenige  primitive  Formen 
und  einen  sehr  beschränkten  Omamentvorrat.  Wichtig  ist,  daß  zwar 
die  Kannen  und  Näpfe  bis  auf  einige  Streifen  und  ein  kleines  Bild- 
feld gefimist  sind  (T.  II),  wodurch  sie  die  Verbindung  zwischen  dem 
Monochromen  und  dem  Schwarzdipylon  herstellen  (Penisen  vergleicht 
die  älteste  Eamaresware),  die  Büchsen  dagegen  ganz  von  Ornament- 
streifen umzogen  werden.  Daß  die  Verzierung  mit  Streifen  nicht 
jünger  ist  als  die  mit  Feldern,  lehrt  übrigens  schon  ein  Blick  auf 
die  älteste  monochrome  Keramik.  Einige  Kannen  gleichen  in  Form 
und  Verzierung  noch  völlig  denen  aus  dem  spätest  mykenischen 
Friedhof  von  Salamis:  ein  hochwichtiges  Zeugnis  für  das  Alter  der 
Gattung.  Aehnliche  Gefäße,  zumal  Kannen,  finden  sich  vielerorts,  bis 
nach  Kreta.  Penisen  sieht  hierin  Export  und  Nachahmung.  Daß  zum 
Nachweise  einer  starken  Ausfuhr  genügende  technische  Kriterien  vor- 
liegen, bezweifle  ich;  und  Form  und  Ornament  sind  zu  einfach,  als 
daß  Einfluß  der  einen  Landschaft  auf  die  andere  angenommen  werden 
müßte:  bei  dem  Verfall  des  Spätmykenischen  blieben  hier  wie  dort 
die  selben  einfachen  Formen  übrig.  Wenn  sich  dagegen  in  Eleusis, 
und  zwar  besonders  in  den  unteren  Schichten,  Akropolisvasen  finden, 
so  ist  das  natürlich  ein  wertvolles  Zeugnis  für  den  Zusammenhang. 
Auf  einem  solchen  eleusinischen  Gefäß  ältester  Art  treten  nun  zum 
ersten  Mal  die  einander  entgegengestellten  Mäanderhaken  auf,  die 
Penisen  sich  gewiß  mit  Recht  aus  den  einfachen  Haken,  welche  schon 
in  Aphidna  und  noch  im  Schwarzdipylon  vorkommen ,  durch  den 


854  Gfött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Trieb  ZU  symmetrischer  Ausgestaltung  entstanden  denkt  Der  bei 
bleibende  Qrund  stellt  nun  einen  fortlaufenden  linksläufigen  Mäander 
dar  (T.  in*).  Der  älteste  Dipylonmäander  ist  aber  regelmäßig  links- 
läufig;  die  Entstehung  aus  den  Haken  durch  Vertauschung  Ton  hell 
und  dunkel  hat  also  sehr  viel  fär  sich.  Penisen  weist  daher  unmittelr 
bare  Abhängigkeit  vom  ägyptischen  Mäander  mit  Recht  ab;  der 
Mäander  findet  sich  ja  auch  bei  den  alten  Amerikanern;  mittelbare 
Abhängigkeit  über  Ereta-Mykenae  wird  man  aber  doch  erwägen 
müssen :  der  Mäander  tritt  in  Kreta  sogar  in  der  dekoratiyen  Wand- 
malerei auf  (6.  S.  A.  Vin  104).  Auch  die  Entstehung  aus  der  Spirale 
weist  Poulsen  ab;  daß  der  Mäander,  einmal  geschaffen,  hier  und  da 
bewußt  an  Stelle  der  Spirale  gesetzt  wurde,  wird  er  dabei  gewifi 
nicht  bestreiten  wollen  (s.  Thera  II  8.  158).  In  Eleusis  verschwinden 
die  Vasen  der  Akropolisgattung  in  den  oberen  Schichten,  weil  die 
Entwickelung  weitergeht.  Wie  Poulsen  diese  Entwickelung  in  Technik, 
Formen  und  Ornamentik  aufweist,  ist  in  der  Hauptsache  durchaus 
äberzeugend.  Poulsen  stellt  ein  Gesetz  fest,  daß  sich  übrigens  anoh 
in  anderen  Stilen,  wie  dem  theräischen,  belegen  läßt:  den  engen 
Zusammenhang  zwischen  Gefäßform  und  Dekorationsprinzip.  Finrmen 
und  Ornamente  werden  in  diesem  wie  im  folgenden  Abschnitt  einz^ 
ausführlich  besprochen.  Wir  erhalten  dadurch  zum  ersten  Mal  einen 
systematischen  Ueberblick,  der  um  so  wertvoller  ist,  als  die  eleusini- 
schen  Vasen  schwerlich  je  in  extenso  veröffentlicht  werden.  Die 
Masse  der  eleusinischen  Vasen  zusammen  mit  denen  aus  zwei  be- 
sonders altertümlich  ausgestatteten  Kerameikosgräbem  erweist  sich 
als  geschlossene,  aus  der  primitiven  Akropolisgattung  entwickelte 
Gruppe,  deren  Ornamentik  in  der  Hauptsache  nur  geometrisches  All- 
gemeingut neben  vielen  mykenischen  Reminiszenzen  enthält;  nur  der 
Mäander  beginnt  schon  auffällig  hervorzutreten.  Daneben  erscheint 
bereits  Tier-  und  Menschendarstellung,  letztere  noch  ziemlich  un- 
sicher und  stillos,  aber  dadurch  wichtig,  daß  an  Stelle  der  alten 
Umrifizeichnung  Silhouettenmalerei  tritt.  Mit  Recht  sagt  Poulam, 
daß  man  hier  noch  von  einer  Bauemkeramik  sprechen  könne.') 

Ein  ganz  anderes  Bild  gewähren  die  Vasen  vom  Eerameikos. 
Zwar  wahren  die  Gefäße  aus  den  beiden  genannten  altertümlichen 
Gräbern  und  noch  manches  andere  den  Zusammenhang  —  umgekehrt 
finden  sich  ja  auch  Vasen  der  Kerameikosgattung  schon  in  den  oberen 
Schichten  in  Eleusis  — ,  aber  die  Hauptmasse  der  Gefässe  zeigt  jenen 
reich  entwickelten  Stil,  der  das  erste  großartige  Zeugnis  des  grieehi- 
sehen  Sinnes  für  Rhythmus  und  Symmetrie  ist.  Poulsen  unterscheidet 

1)  Zur  N^u^theit  der  FigoreB  vgl  jetet  Walter  A.  Müller  a.  a.  0. 


Poolflen^  Die  Dipylongräber  866 

vier  (Jattungen,  deren  zeitliches  Verhältnis  zu  einander  klar  scheint. 
Jene  großen  Kannen,  die  sich  im  ersten  Teil  als  Vorläafer  der  monu- 
mentalen Amphoren  erwiesen,  sowie  fast  alle  Gefäße  aus  den  selben 
Gräbern  zeigen  einen  reifen  strengen  Stil,  der  die  grade  Linie  liebt, 
leere  Flächen  vermeidet  und  sich  durch  wohlerwogene  Verteilung  der 
das  ganze  Gtefäß  bedeckenden  Ornamente  auszeichnet.  Figürliche  Dar- 
stellungen kommen  vor,  ordnen  sich  jedoch  unter.  Als  gleichzeitig 
sieht  Penisen  mit  Recht  die  entwickelte  Schwarzdipylongattung  an, 
obwohl  die  Fundumstände  keinen  Anhalt  dafür  bieten;  denn  in  den 
Monumentalamphoren  findet  er  Eigentümlichkeiten  des  strengen  Stils 
und  des  Schwarzdipylon  vereint.  Noch  schwerer  scheint  mir  der  alte 
Parallelismus  beider  Gattungen  zu  wiegen:  schon  im  Akropolisstil 
haben  wir  ja  ein  primitives  Schwarzdipylon  und  daneben  die  ganz 
mit  Omamentstreifen  bedeckten  Büchsen,  und  in  Eleusis  sehen  wir 
wieder  beides  neben  einander.  —  Nicht  glücklich  gewählt  ist  übrigens 
der  Name  >  Krateramphoren  c  statt  des  bisher  üblichen  >  Amphoren 
mit  Doppelhenkel  < ;  denn  das  Gefäß  ähnelt  ohne  Hals  nicht  einem 
Krater,  sondern  den  Pithoi,  wie  wir  sie  in  Kreta  in  allen  Größen 
besitzen  (Ath.  Mitt.  1903  S.  156). 

Die  großen  Grabamphoren  endlich  fassen  alle  früheren  Errungen- 
schaften zusammen  und  es  entstehen  ganz  hervorragende  Schöpfungen. 
Wenn  Penisen  geneigt  ist,  die  &x|tij  im  strengen  Stil  zu  sehen,  so 
ist  das  jener  Geschmack,  der  das  spätere  Quattrocento  bevorzugt; 
mir  scheint  die  Höhe  des  altattischen  Schaffens  in  den  Monumental- 
amphoren zu  liegen.  Die  figürlichen  Bilder  treten  hier  mehr  hervor, 
aber  die  strenge  Stilisierung  läßt  sie  nicht  störend  wirken.  Gefäße 
wie  Wide,  Abb.  69  sind  in  ihrer  Art  wahrhaft  klassische  Werke. 
Naturgemäß  folgt  der  Höchstleistung  unmittelbar  die  Ermüdung,  über 
die  man  sich  auch  hier,  wie  so  oft,  durch  Unruhe  hinweg  zu 
täuschen  sucht.  So  fällt  man  einerseits  in  alte  Formen  zurück,  an- 
dererseits häuft  man  figürliche  Darstellungen  und  überladet  sie  mit 
Füllomamenten ;  der  feste  Stil  des  Figürlichen  artet  aus.  An  den 
gleichzeitigen  kleinen  Gefäßen  ist  die  Zersetzung  noch  auffälliger; 
der  Sinn  für  die  grade  Linie  verliert  sich  immer  mehr,  so  daß 
Penisen  gradezu  von  einem  Kreisstil  sprechen  kann.  ^)  Damit  ist 
fremdem  Einfluß  Tür  und  Tor  geöffnet.  Spuren  zeigt  bereits  die 
Schale  mit  den  geflügelten  >  Kentauren  <,  anderes  findet  sich  auf  den 

1)  Poulsen  schließt  hier  die  groBe  Vase  aus  Koriam  an ;  diese  ist  aber  nach 
Fnrtwängler,  Sitzungsber.  d.  bayer.  Akad.  1905  S.  279,  aus  technischen  Gründen 
sicher  kein  Dipylonge^,  sondern  »hängt  mit  der  protokorinthisch-geometrischen 
Klasse  zosammenc  —  etwa  auf  die  Weise,  daß  sie  eine  attische  Nachahmung 
protokorinthischer  Ware  ist,  wie  solche  in  Eleusis  vorkommt? 

Göii.  ffel.  Ans.  1906.  Nr.  5.  25 


356  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Fibeln,  die  Poulsen  für  Attika  in  Anspruch  nimmt,  und  die  breiten 
Goldbänder  endlich  gehören  zu  den  Vorbildern  des  Frühattischen, 
soweit  sie  nicht  etwa  selbst  frühattische  Arbeiten  sind:  die  erste 
Epoche  selbständigen  attischen  Schaffens  ist  vorüber.  Daß  wir  sie 
jetzt  ganz  anders  verstehen  können  als  früher,  verdanken  wir  Poulsen; 
er  zeigt  uns  nicht  nur  die  Entwickelung  des  Dipylonstiles,  sondern 
weiß  uns  auch  sein  inneres  Wesen  nah  zu  bringen.  Damit  hat  er 
sich  ein  bleibendes  Verdienst  um  das  vielverkannte  Jugendwerk  der 
attischen  Kunst  erworben. 

Göttingen  Ernst  Pfuhl 


Berliner  KUssikertexte,  hrs.  von  der  Generalverwaltung  der  Egl.  Museen  zu 
Berlin.  Heft  I.  Didymos*  Kommentar  zu  Demosthenes  (Pap.  9780) 
nebst  Wörterbuch  zu  Demosthenes'  Aristokratea  (Pap.  5008),  be- 
arbeitet Ton  H.  Di  eis  und  W.  Schubart.  Mit  zwei  Lichtdrucktafeln.  Berlin, 
Weidmann  1904.  gr.  8.  LIII  und  95  8.  —  Dazu  ebenda  Lichtdrucke  des  Didy- 
mos-Papyms,  vier  Tafeln. 

TolumlD»  Aegyptiftca.  Ordinis  IV,  grammaticorum  pars  L  Didymi  De  De- 
mosthene  commenta  cum  anonymi  in  Aristocrateam  lexico  post 
editionem  Berolinensem  rec.  H.  Diels  etW.  Schubart.  Lipsiae  1904.  Bibl. 
Teubn.  VIII  und  56  8. 

Die  Veröffentlichung  der  Museen,  deren  zweiter  und  dritter  Teil, 
der  Theätetkommentar  und  höchst  interessante  Stücke  medizinischen 
und  naturwissenschaftlichen  Inhalts,  im  Herbst  1905  bereits  er- 
schienen sind,  ist  ebenso  erfreulich  wie  die  Teubnersche  Sammlung, 
die  in  die  Serien  Dichter,  Redner  und  Historiker,  Philosophen  und 
Aerzte,  Grammatiker,  Varia  zerfallen  soll  und  deren  Ausdehnung 
auch  auf  andere  als  die  Berliner  Publikationen  in  Aussicht  genommen 
ist.  Der  Wissenschaft  könnte  nicht  besser  gedient  werden,  als  wenn 
unter  den  Varia  dieser  Sammlung  die  Urkunden  der  Ptolemäerzeit 
erschienen.  Der  größeren  Ausgabe  ist  rasch  die  kleine  gefolgt,  und 
doch  gibt  sie  auf  Grund  der  SeoTspat  fpovTlds^  der  Editoren,  der 
Beiträge  anderer,  besonders  einiger  glänzender  Herstellungen  von 
Blass  einen  erheblich  gebesserten  Text.  Man  kann  sich  einmal 
wieder  ganz  dem  lehrreichen  Genüsse  hingeben,  einen  Text  schritt- 
weise zu  immer  größerer  Vollkommenheit  geführt  zu  sehen.  Ueber 
die  Aeußerlichkeiten  des  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts 
angehörenden  Papyrus  (auf  der  Rückseite  steht  das  Pflichtenbuch  des 
nach  Diels  der  zweiten  Hälfte^)  angehörenden  Stoikers  Hierokles) 
verweise  ich  auf  die  vortrefflichen  Vorreden  und  auf  das  Referat  von 

1)  Frachter,  der  Stoiker  Hierokles  S.  106,  setzt  ihn  in  die  erste  H&lfte. 
YieUeicht  erhalten  wir  aus  dem  Papyrus  neue  Aufklärungen. 


Berliner  Klassikertexte.   I  367 

Blass.  ^)     Die  Rolle  ist  wie  der  Theätetkommentar  Ende  1901   yen 

Borchardt  in  Kairo  gekauft  und  stammt  nach  der  Aussage  des  Händlers 

aus  den  Trümmern  eines  Hauses  in  Eschmunto.    Die  Subskription 

lautet 

At5&(Loo 

ffSpl   A7](L00^iV00( 

Und  dann  folgen  noch  unter  ^,  f,  lä,  iß  die  Anfänge  der  IH.  und 
IV.  Phil.,  der  Rede  gegen  Philipps  Brief  und  der  Rede  Hspl  oov- 
td^ecoc.  Unsere  Rolle,  die  am  Anfang  verstümmelt  ist  und  daher  nur 
den  Schluß  des  Kommentars  zur  III.  Phil,  enthält,  enthielt  also  den 
Kommentar  zu  diesen  vier  Reden,  wie  die  beiden  vorhergehenden 
Rollen  den  zu  I— IV,  V—VIH  unseres  Korpus.  Darum  ^iXiiwcixcbv 
7.  Diels  bezieht  nun  die  Zahl  28  nicht  auf  die  Rollen  des  Didymos, 
sondern  auf  die  Reden  des  Demosthenes  oder  die  Unterabteilungen 
der  Rollen,  die  bico^vfi^aza  zu  den  einzelnen  Reden,  und  nimmt  an, 
daß  dem  Kommentar  zu  den  28  Reden,  die  er  S.  XXV  festzustellen 
sucht,  eine  zweite  Serie  des  Demostheneskommentars  gegenüberstand. 
Blass  und  Fuhr  geben  unabhängig  von  einander  die  einfachere  Deu- 
tung, daß  das  Werk  des  Didymos  28  Rollen  umfaßte,  eine  Abteilung 
des  Werkes  den  Sondertitel  4^iXticicixd  trug  und  von  dieser  Abteilung 
unsere  Rolle  die  dritte  ist.  Ihre  Erklärung  hat  den  Vorzug,  daß 
beide  Zahlen  auf  einen  Begriff  bezogen  werden.  Ich  gebe  dieser 
natürlichen  Deutung  auch  den  Vorzug  vor  der  Leos.')  Er  bekämpft 
wie  Blass  und  Fuhr  Diels'  Annahme,  daß  die  tetralogische  Ordnung 
aller  Reden  bei  Didymos  durchgeführt  sei.  Aber  er  übersetzt  die 
Unterschrift:  > Didymos'  28.  Buch  über  Demosthenes,  gleich  dem 
dritten  über  die  philippischen  Reden«  und  vergleicht  die  Art,  wie 
Athenäus  VII 281  Apollodors  Buch  zitiert:  iv  T(p  f  ^spl  Iib^povoc  t(p 
elc  tooc  avSpeiooc  |ti(ioog,  d.  h.  >im  dritten  Buche  über  Sophron,  das 
von  den  Männermimen  handelt«.  Mit  Recht  bat  Wilcken  (bei  Blass 
S.  285  Anmerkung  und  unabhängig  von  ihm  Fuhr)  gegen  den  ersten 
Teil  dieser  Deutung  der  Unterschrift  eingewandt,  »daß,  wenn  wie 
hier  fünf  Zahlen,  die  sicher  Ordinalzahlen  sind,  mit  einem  Strich 
darüber  geschrieben  sind,  die  sechste  (28)  ohne  Strich  geschriebene, 
kaum  Ordinalzahl  sein  kann,  sondern  Kardinalzahl  sein  wird«.  — 
Wenigstens  einige  Anhaltspunkte  haben  wir  um  zu  bestimmen,  welche 

1)  Archiv  für  Papyrusforschung  III 2  S.  284  ff.    Eine  inhaltreicbe  Anzeige 
gibt  auch  Fuhr,  Berl.  phüol.  Woch.  1905  Sp.  1121  ff. 

2)  Didymos  IIcpl  A7)(Aood<vouc,  Nachrichten  der  Göttinger  QesellBchaft  1904 
S.  264—261. 

25* 


358  Gdtt  gel  Ans.  1906.  Nr.  5 

SteUiing  nnsere  und  die  beiden  yorhergehenden  Rollen  im  Gesamt- 
werke eingenommen  haben.  Ans  dem  Hinweise  auf  die  Besprechung 
der  Kranzrede  Kol.  XII 36. 41  haben  Leo  nnd  Blass  mit  Wahrschein- 
lichkeit geschlossen,  daß  diese  vorher  behandelt  war.  Und  die  Notiz 
zur  Rede  Ilepi  oovtd^ecoc»  Kol.  XTTT  62  Cviteitau  S*  h  tcp  Xöfcp  o62^ 
8  Tt  (Li)  Xö^oo  Tivöc  h  toic  «pö  too  t^teo^ev.  Z\fM^  «epi  rijc  öp^dSoc  sfc 
ßpoxo  87]XiDtdov  zielt,  wie  Blass  gesehen  hat,  auf  die  Behandlung  you 
Rede  XXITI  und  den  olynthischen,  in  denen  ein  gutes  Stück  von 
Xm  enthalten  ist.  So  kommt  auch  Blass  zu  demselben  Schlüsse 
wie  Leo,  obgleich  er  die  28  nicht  als  Ordinalzahl  faßt,  daß  die 
philippischen  Reden  wohl  erst  am  Ende  des  Gesamtwerkes  zur 
Sprache  kamen.  Und  wenn  auch  Diels  (Kl.  Ausgabe  S.  VI)  den 
Schluß  aus  dem  Hinweise  auf  die  Besprechung  der  Kranzrede  mit 
dem  Argumente  entkräften  kann,  daß  solche  Folgerungen  aus  dem 
Gebrauch  des  Perfektum  bei  Didymos  (SeSiQXcoxaiiev,  eljpijtai)  für  Schul- 
schriften nicht  beweiskräftig  sind  —  das  läßt  sich  ja  bekanntlich  an 
Aristoteles  und  vielen  späteren  Beispielen  in  der  Tat  beweisen^) 
— ,  so  scheint  mir  doch  der  Wortlaut  der  zweiten  Stelle  gegen  die 
von  Diels  für  Didymos  angenommene  Folge  zu  sprechen. 

Eine  höchst  angenehme  Enttäuschung  hat  uns  dies  Werk  des 
Didymos  bereitet.  Wir  schätzten  ihn  bisher  wesentlich  als  Wort- 
philologen. Und  nun  gibt  dies  Werk  das  erlesenste  Material  zur 
Sacherklärung,  eine  wahre  Schatzgrube  von  Historikerfragmenten,  die 
schon  die  ältere  alexandrinische  Erudition,  wie  Diels  gezeigt  hat,  zur 
Exegese  zusammengebracht  haben  muß;  es  hat  auch  ein  Urteil  über 
den  Stil  des  Didymos  ermöglicht  (Diels  S.  XXIX.  XXX).  Daß  die 
Gelehrsamkeit  erborgt  ist,  macht  uns  das  Buch  nur  um  so  wert- 
voller. Bei  Didymos  selbst  hat  der  Ballast  der  Gelehrsamkeit  das 
gesunde  Urteil  erstickt.  Das  Sprachliche  wird  nun  auffallenderweise 
nur  ganz  gelegentlich,  zum  Teil  zur  Entscheidung  von  Echtheits- 
fragen, berücksichtigt.  Diels  hat  denn  auch  sofort  die  Konsequenzen 
der  neuen  Erkenntnis  für  den  Kommentar  zum  Oedipus  Koloneus 
gezogen,  dessen  grundgelehrte  Sacherklärung  auf  Didymos  zurück- 
zuführen man  immer  noch  eine  gewisse  Scheu  trug.  Aber  das 
Fehlen  der  Spracherklärung  in  der  Behandlung  des  Demosthenes 
stellt  ein  Problem,  das  man  bereits  sehr  verschieden  zu  lösen  ver- 
sucht hat.  Diels  ist  geneigt,  die  Erklärung  in  der  Hypothese  zu 
suchen,  daß  die  Schrift  durch  die  Hand  eines  Exzerptors  gegangen 
sei,  der  die  Erklärungen  des  Didymos  nur  in  einer  durch  historisches 
Interesse  bestimmten  Auswahl  mitgeteilt  habe,   wenn  er  auch  glück- 

1)  Für  Proklos  ist  die  Frage  zuletzt  behandelt  von  Frachter  in  diesen  An- 
zeigen 1906  S.  531. 632. 


Berliner  Klassikertexte.   I  859 

licherweise  die  von  ihm  ausgewählten  nicht  gekürzt  habe.  So  soll 
sich  die  willkürliche  Auswahl  der  Lemmata,  das  Fehlen  mancher 
sicher  zu  erwartenden  Scholien,  so  soll  sich  vor  allem  die  auffallende 
Erscheinung  erklären,  daß  der  Kommentar  zur  letzten  Rede  der 
Rolle  im  stärksten  Mißverhältnis  zum  Umfange  des  Kommentars  der 
beiden  voraufgehenden  Reden  steht.  Aber  für  die  Kürze  der  Be- 
handlung der  letzten  Rede  gibt  uns  Didymos  in  der  schon  ange- 
führten Note  eine  authentische  Erklärung:  Er  hat  vieles,  was  schon 
in  der  Erklärung  der  früheren  Reden  zur  Sprache  gekommen  war, 
hier  übergehen  können.  So  hat  denn  Blass  diese  Exzerptenhypo- 
these bekämpft  und  in  ihr  nur  insofern  einen  richtigen  Kern  ge- 
funden, als  manche  Inkonvenienzen  auf  die  Exzerpiermethode  des 
Didymos  selbst  zurückzuführen  sind.  Leo  schließt  aus  eben  jener 
Notiz,  daß  Didymos  selbst  in  unserer  Schrift  nur  die  historischen 
CT]t^|tata  habe  behandeln  wollen,  und  findet  in  der  Unterschrift  Ilepl 
AiQiLoodivooc  eine  Bestätigung  dieser  Annahme.  Nach  Leo  gehört  das 
neugefnndene  Buch  gar  nicht  zu  den  offO(Lvij|Lata  zm  AiQitoo^ävooc 
X6y(ov,  auf  die  einige  zu  den  hier  kommentierten  Reden  gehörige 
Artikel  Harpokrations  zurückgehen.  Es  gehört  zu  den  Schriften 
üepl  too  Selva,  die,  wie  an  lehrreichen  Beispielen  gezeigt  wird,  viel- 
fach die  Form  eines  Kommentars  hatten,  aber  auf  die  sprachlichen 
Einzelheiten  nicht  eingingen.^)  Als  unterscheidendes  Merkmal  be- 
zeichnet Leo,  daß  solche  Bücher  unabhängig  vom  Text  gelesen 
werden  können,  während  das  bn6^yyi^a  als  Teil  der  kommentierten 
Ausgabe  mit  dem  Texte  in  engster  Verbindung  steht. 

Die  nächste  Analogie  zum  Werke  des  Didymos  gibt  Asconius' 
Kommentar  zu  Ciceros  Reden.  Leo  hat  auf  die  Gleichartigkeit  der 
Anlage  hingewiesen.  Wilamowitz^)  stimmt  ihm  mit  den  Worten  bei: 
>das  hat  der  neuentdeckte  Demostheneskommentar  doch  gelehrt,  daß 
wieder  ein  lateinisches  Buch,  dem  man  es  nicht  zutraute,  in  der 
Form  ganz  von  dem  griechischen  Vorbilde  abhängt;  der  Gicero- 
kommentar  des  Asconius  ist  nach  diesem  Demostheneskommentar  ge- 
arbeitet. Das  nimmt  dem  Asconius  nichts  von  seinem  Werte,  denn 
er  arbeitet  aus  den  Quellen,  während  Didymos  kompilierte.  Wir  be- 
dürfen dringend  einer  Untersuchung  der  Technik  und  der  Formen 

1)  Ein  neues  Beispiel  bieten  jetzt  die  Berliner  Klassikertexte  in  S.  28 
'AicoXXcuvtoc  V  6  *P6lioi  [iv  Ttjj  Ttepl  *A]vTip.cExoü  TrpodeU  [t6  >inicu)]  TcainoX^T]  .  .  .c 
Schöne  S.  27  hebt  schon  hervor,  daß  auch  diese  Schrift  wohl  in  den  Kreis  der 
Ton  Leo  besprochenen  gehört. 

2)  Kultur  der  Gegenwart  IBS.  155,  vgl.  KroU,  Die  Altertumswissenschaft 
im  letzten  Vierteljahrhundert  S.  45.  Nur  muß  man  naturlich  mit  der  Möglichkeit 
rechnen,  daß  dem  Asconius  auch  andere  Didymos  verwandte  Schriften  als  Vor- 
büd  dienten. 


360  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

der  antiken  Exegese,  die  die  Gesichtspunkte  Leos  in  erweiterter 
Fassung  durch  die  Literatur  verfolgen  muß.  Die  Untersuchung  wird 
am  besten  ausgehen  von  der  reichen  uns  erhaltenen  späteren  Lite- 
ratur, den  Kommentaren  zu  Plato  und  Aristoteles,  der  gesamten 
christlichen  Exegese,  fortschreiten  zu  den  uns  erhaltenen  Scholien- 
kompilationen,  ihrer  Grundlage,  dem  Trümmerfelde  der  alexandrbi- 
sehen  Exegese.  Zu  der  »Üepl-Literatur«  ist  vor  allem  hinzuzunehmen 
die  reiche  Literatur  der  C^ti^itata,  an  die  die  S.  358  angeführte  Didy- 
mos-Stelle  und  die  Fassung  der  Kolumnenüberschriften  erinnert, 
icpoßXi)|iata,  iicopCai.  Ich  beschränke  mich  darauf,  aus  der  späteren 
Literatur  einige  sichere  Beispiele  eines  ähnlichen  Nebeneinander 
zweier  konmientierender  Werke,  wie  es  Leo  für  Didymos  postuliert, 
anzuführen.  Alexander  hat  zu  Aristoteles  Ilepl  ala^aecoc  xocl  alo^ 
t&v  außer  dem  uns  erhaltenen  Kommentare  noch  gegeben  Ai^ecbv 
ttv(0V  ix  too  Elepl  alodii]oea>c  xai  alo^toö  i^i^YTjoic  xal  imSpofii),  viel- 
leicht eine  nachgeschriebene  Vorlesung,  und  einzelne  iicopCai  oder 
Cigti^ocic*  0  Augustin  hat  dem  Heptateuch  je  sieben  Bücher  Locu- 
tionum  und  (ausgewählter  sachlicher)  Quaestionum  gewidmet.  Für 
das  Verhältnis  beider  Werke  ist  sehr  lehrreich,  was  er  in  der  Vor- 
rede der  Quaest.  (vergl.  Retract.  1154.55)  ausführt.^)  Daß  dies 
Verfahren  parallel  laufender,  nur  durch  die  Tendenz  geschiedener 
Arbeiten  zu  einem  Text  selbständig  von  den  Späteren  erfunden  sei, 
ist  unwahrscheinlich.  Wo  es  uns  auch  begegnet,  dürfen  wir  es  ge- 
wiß aus  der  auf  diesem  Gebiete  besonders  starken  Kontinuität  der 
Tradition  erklären.  Und  so  meine  ich  auch  Diels'  Bedenken  heben 
zu  können,  daß  vielleicht  die  Vergleichung  des  Didymos  mit  Asconius 
voreilig  die  römische  Art  auf  den  griechischen  Grammatiker  übertrage. 
Den  Ertrag  für  die  Textkritik  des  Demosthenes  haben  nach  den 
Herausgebern  Fuhr  und  Blass  besprochen.  Neues  hat  sich  nicht  er- 
geben, aber  daß  das  eklektische  Verfahren  der  Textkonstitution 
durch  Didymos  wie  durch  andere  Papyrusstücke  bestätigt  ist,  ist 

1)  Commentaria  in  Aristotelem  III 1  S.  V,  SnppL  112  S.  Vff. 

2)  Ueber  die  Titel  der  exegetisch  biblischen  Arbeiten  des  Origenes  kann 
man  sich  bei  Bardenhewer,  Gesch.  der  altkirchlicben  Lit.  II 89  ff.  orientieren.  Meine 
Bemerkung  über  den  Zusammenhang  der  Textkritik  des  Origenes  mit  der  alexan- 
drinischen,  über  den  inzwischen  Schwartz  und  Wilamowitz  sich  ähnlich  geäußert 
haben,  halte  ich  gegen  Bardenhewer  (S.  85^)  aufrecht.  —  Ich  verweise  noch  auf 
Quint  I  2, 14  grammaticus  quoque  si  de  loquendi  ratione  disserat,  si  quaestiones 
explicet.  Das  lose  Nebeneinander  zwischen  Darlegung  des  Gedankenzusammen- 
hanges, dcu>p(a  genannt,  und  der  sprachlichen  Einzelerklärung  in  den  Kommen- 
taren Olympiodors  hat  Frachter  G.  G.  A.  1904  S.  382  ff.  vortrefflich  erläutert.  Die 
ganz  äußerliche  Verbindung  beider  regelmäßig  wechselnden  Teile  erklärt  sich 
vielleicht  daraus,  daß  Olympiodor  zwei  Methoden  der  Auslegung,  die  er  in  ver- 
schiedenen parallel  laufenden  Kommentaren  getrennt  fand,  verbunden  hat 


Berliner  Klassikertexte.   I  361 

auch  ein  Oewinn.  »Damals  also,  sagen  wir  im  ersten  Jahrhundert, 
scheint  in  diesen  Reden  der  Text  unserer  Handschriften  schon  dage- 
wesen zu  sein<  sagt  Blass  und  setzt  dabei  voraus,  daß  die  von  ihm 
angenommenen  schweren  Korruptelen  schon  vorher  eingedrungen  sind. 
Wir  werden  durch  Didymos  in  dem  Vertrauen  bestärkt  werden,  daß 
die  konservative  Richtung  der  Textbehandlung,  die  Butcher  im  Gegen- 
satz zu  Blass  eingeschlagen  hat,  einen  Fortschritt  bedeutet. 

Eine  Uebersicht  über  den  reichen  Ertrag  der  aus  den  neuen 
Bruchstücken  der  Historiker  gewonnenen  Erkenntnis  gibt  Blass,  und 
das  meiste  hat  Stähelin^)  gründlich  behandelt.  Ich  beschränke  mich 
daher  darauf,  auf  einzelne  Probleme  genauer  einzugehen.  Kol.  XI 10  ff. 
wird  berichtet,  manche  hätten  die  Rede  gegen  Philipps  Brief  dem 
Anaximenes  zugeschrieben,  vöv  Sk  (Blass  ta6(ry]v),  S[i6],  s.  dagegen 
die  kleine  Ausgabe)  stehe  sie  im  siebenten  Buch  der  ^tXiinrixd  des 
Anaximenes.  Abweichend  von  den  Versuchen,  die  Diels  und  ich  ge- 
macht haben,  die  befremdende  Antithese  zu  erklären,  legt  sich  Blass 
die  Sache  so  zurecht:  Didymos  (und  ähnlich  Dionysios,  Libanios) 
habe  sich  in  seinem  Gewissen  beruhigt  mit  der  Annahme,  daß  die 
Rede  doch  dem  Demosthenes  angehöre.  > Warum  sollte  nicht  Anaxi- 
menes die  echte  Rede  genommen  haben?«  Ob  Didymos  wirklich  so 
wenig  die  antike  Praxis  kannte?  Aber  darin  trifft  Blass  mit  mir 
zusammen,  daß  er  die  Autorschaft  des  Anaximenes  für  sicher  hält. 
Im  Urteil  über  den  Brief  des  Philipp  gehen  wir  wieder  auseinander. 
Blass  hält  die  in  der  Demosthenischen  Sammlung  uns  erhaltene 
Fassung  des  Briefes  für  echt  —  er  ist  auch  nach  brieflicher  Mit- 
teilung durch  meine  Beweisführung^  nicht  vom  Gegenteil  überzeugt 
worden  — ,  schreibt  dagegen  die  abweichende  Fassung,  aus  der 
Didymos  den  Schlußsatz  zitiert  und  in  der  nach  seinem  Zeugnis 
Aristomedes  erwähnt  war,  dem  Anaximenes  zu.  Ich  vertraue  auf  die 

1)  Die  griechischen  Historikerfragmente  bei  Didymos,  Beiträge  zur  alten 
Geschichte  V  S.  55— 71. 141— 154.  Daß  dem  Anax.  S.  151  nur  acht  Zeilen  ge- 
widmet werden,  daB  das  yon  Didymos  gesteUte  Problem  verschwiegen  wird,  kann 
mit  dem  Termin  der  Einlief erung  des  Aufsatzes  nicht  entschuldigt  werden.  ^ 
Ebenda  S.  280—282  behandelt  A.  Körte  das  Orakel  über  die  Upa  opydfc.  —  Das 
Eol.  11, 28  ff.  zitierte  Hafenwerk  des  Rhodiers  Timosthenes,  des  Admirals  des 
Ptolemaios  Philadelphos,  behandelt  V^Tachsmuth,  Rh.  M.  LIX  471—473,  den  Text  des 
aristotelischen  Päan  Gereke,  Hermes  XXXYII 424. 

2)  Anaximenes  von  Lampsakos,  Berlin  1905  (zum  Teil  schon  im  Hermes 
1904  veröffentlicht).  Zugestimmt  haben  mir  Gercke  in  KroUs  Sammelwerk  S.  477, 
Körte  Rh.M.  LX393,  Wilamowitz,  Kultur  der  Gegenwart  18  S.  70.  —  Warum 
Blass  S.  288  meint,  nur  Caecilius  könne  die  undemosthemschen  V\rendungen  der 
Rede  XI  besprochen  haben,  verstehe  ich  nicht.  Die  Bemerkung  ebenda,  daß  der 
Brief  in  der  uns  überlieferten  Form  als  echt  anerkannt  sei,  ist  nach  meinem 
Anaximenes  S.  14^  zu  berichtigen. 


362  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

Kraft  meiner  guten  Gründe  (vergL  Diels  große  Ausgabe  S.  L)  und 
führe  hier  nur  noch  ein  von  mir  S.  14  nur  angedeutetes  Argument 
genauer  aus:  Wir  sehen,  daß  Anaximenes  in  der  Rede  den  Text 
seiner  Vorlagen  zu  verfeinern  und  zu  glätten  versucht  hat.  Ist  es 
denkbar,  daß  derselbe  Rhetor  den  Text  des  Briefes  vergröbert  hat? 
Denn  daß  die  Fassung  des  Schlußsatzes  bei  Didymos  die  rauhere 
und  ungeschicktere  ist,  kann  niemand  leugnen. 

Eol.  10,53  berichten  mehrere  Historikerfragmente  über  die  von 
Philipp  340  in  großem  Maßstabe  bei  Hieron  getriebene  Kaperei.  Auf 
die  Bedeutung  der  bisher  nur  durch  dunkle  Anspielungen  bekannten 
Tatsache  ist  von  verschiedenen  Seiten  hingewiesen  worden;  ich 
möchte  daran  erinnern,  daß  schon  1839  Droysen  (s.  jetzt  Kleine 
Schriften  I  168. 171. 192)  die  Tatsache  ziemlich  richtig  eingereiht 
hat  (vergl.  Schäfers  Demosthenes  U  ^  S.  504)  und  S.  183  sogar  nahe 
daran  war,  Hieron  am  Eingange  des  Bosporus  als  den  Ort  der 
Kaperei  zu  erschließen. 

Die  Schlüsse,  die  sich  aus  dem  von  Didymos  mitgeteilten  histo- 
rischen Material  für  die  Frage  nach  der  Zeit  und  Echtheit  der 
vierten  philippischen  Rede  ergeben,  hat  A.  Körte,  Rh.M.LX  S.  388  ff. 
scharfsinnig  gezogen.  Didymos  setzt  sie  341/0  an,  kennt  aber  einen 
anderen  Ansatz  342/1,  dessen  Begründung  leider  aus  den  geringen 
Kol.  2, 2  ff.  erhaltenen  Resten  sich  nicht  wiederherstellen  läßt,  der 
sich  aber  durchaus  bestätigt.  Spätestens  Anfang  Juni  341  muß  die 
Rede  fallen.  Das  von  Philochoros  342/1  bei  Didymos  berichtete  Vor- 
gehen der  Athener  in  Oreos  und  Eretria  ist  der  IV.  Philippika  (§  9) 
noch  unbekannt.  Femer  ermöglichen  die  Angaben  der  Historiker  bei 
Didymos,  wie  Körte  gezeigt  hat,  den  sichern  Schluß,  daß  der  Sturz 
des  Hermias  342/1  (wohl  im  Winter)  erfolgt  ist;  die  IV.  Philippika 
(§  32)  weiß  aber  nur  von  seiner  Verhaftung,  nicht  von  seinem  Tode. 
Daß  der  Abschnitt  über  die  Theorika  und  die  Verleugnung  der 
früheren  Politik  durch  die  frisch  geweckte  Hoffnung  auf  das  persi- 
sche Oold  sich  erklärt^),  hat  Kör^e  gezeigt,  und  ich  kann  jetzt  eine 
Beobachtung  mitteilen,  die  ich  in  meinem  Anaximenes  zurückgehalten 
habe,  weil  ich  mir  über  die  vierte  Philippika  noch  nicht  klar  ge- 
worden war.  Anaximenes  sagt  in  der  Rhetorik  S.  22, 4,  die  Demo- 
kratie müsse  darauf  achten,  Sicok  ol  vd|ioi  zb  (liv  icXf^d'oc  aicotpd4Moot 
tote  t&c  o6oiac  l/oootv  lictßooXebeiv,   toic  Sh  icXotycoöoiv  sie  tac  xoiva^ 

1)  Die  Ereignisse  mdssen  sich  rasch  gefolgt  sein.  In  der  m.  PhiL  71  wird 
zwar  eine  Gesandtschaft  an  den  Perserkönig  gefordert,  aber  die  Episode  aber 
Arthmios  von  Zeleia  schließt  den  Gedanken  an  persisches  Gold  noch  aus.  Bafi 
dies  in  der  fingierten  Demosthenesrede  des  Anaximenes  erwähnt  wird  (§  6),  ist  zn 
beachten.  Ich  vermute,  daß  Anax.  hier  wie  in  der  Rhetorik  die  4.  PhiL  be- 
nutzt hat. 


Berliner  Klaeeikertezte.   I  863 

XscfODpYloc  ixoodav  Sicaoay  (Sicaoiv?)  fiXott|iCav  i|i9coii)ooioi ,  vergl. 
Z.  12.13,  S.  23, 10.  102, 25.  Er  wiederholt  damit  einige  Grundge- 
danken des  Demosthenischen  Abschnittes,  dessen  Echtheit  mir  übrigens 
auch  durch  die  Berührung  mit  der  Leptinea  §  24  gesichert  scheint 
Ich  zähle  die  Stelle  zu  den  aktuellen  Beziehungen  auf  die  Rede- 
kämpfe der  Gegenwart,  die  ich  auch  sonst  in  der  Rhetorik  des 
Anaximenes  nachgewiesen  habe.  Die  Angabe  des  Demosthenischen 
Abschnittes  §  38,  die  athenischen  Einnahmen  betrügen  in  der  Gegen- 
wart 400  Talente,  hatte  Bedenken  erregt;  jetzt  wird  sie  durch  das 
Zitat  aus  einer  Rede  des  Demagogen  Aristophon  bei  Theopomp  be- 
stätigt ;  vergl.  auch  Demosthenes  IK  40. 70.  IV  40.  ^)  Besondere  Schwierig- 
keiten bereitete  endlich  die  Invektive  gegen  Aristomedes.  Blass 
(in  1  S.  391)  hielt  sie  für  eine  (leXitn].  Er  muß  es,  da  er  die  Moral 
des  Staatsredners  wenigstens  durchaus  retten  will,  der  in  Volksreden 
persönliche  Schmähungen  nicht  vorbringen  soll.  So  soll  Aristomedes 
eine  fingierte  Person  sein.  Ihre  Realität  und  die  Echtheit  der  In- 
vektive ist  jetzt  durch  das  reiche  Material  bei  Didymos  erwiesen. 

Nicht  so  zuversichtlich  wie  Körte  S.  403  möchte  ich  der  Hypo- 
these zustimmen,  die  die  etwas  lockere  Komposition  der  Rede  und 
ihr  Verhältnis  zur  chersonitischen  erklären  soll,  der  Hypothese,  daß 
sie  eine  politische  Flugschrift  sei.  >  Zuzugeben  ist,<  sagt  Körte 
S.  402,  >daß  die  Rede  unmöglich  in  der  Volksversammlung  gehalten 
sein  kann,  denn  es  ist  undenkbar,  daß  Demosthenes  zwei  Monate 
nach  der  Chersones-Rede  vor  dem  Volke  so  große  Partien  aus  ihr 
mit  geringen  Aenderungen  zu  wiederholen  wagte«.  »Natürlich  kann 
Demosthenes  VIU  damals  noch  nicht  veröffentlicht  haben«. 

Die  Frage  der  Doubletten  und  der  öfter  nur  aus  inneren  Gründen 
zu  erschließenden  Uebemahme  früher  ausgearbeiteter  Stücke  in  einen 
nicht  ganz  passenden  Zusammenhang  bedarf  dringend  einer  neuen 
umfassenden  Untersuchung.  Jedes  nur  auf  subjektivem  Geschmack 
beruhende  Urteil  scheint  mir  auf  diesem  Gebiete  verfrüht.  Der  Ge- 
schmack des  Demosthenes  muß  erst  festgestellt  werden.  Moderne 
Beispiele  können  zur  Vorsicht  mahnen.  Wem  begegnete  es  nicht, 
daß  er  bewußt  oder  auch  unbewußt  Gedanken  oder  auch  den  Wort- 
laut von  Sätzen  einer  früheren  Darstellung  in  einem  anderen  Zu- 
sammenhang übernimmt?^)  >Ueber  die  Fähigkeit  eines  Menschen, 
abhängig  von  sich  selber  zu  sein,  sind  die  Untersuchungen  noch 
nicht  abgeschlossen«   heißt  es  in  Jülichers  Einleitung  in  das  N.  T. 

1)  Die  Rede  bei  Theopomp,  dessen  Verhältnis  zu  Demosthenes  endlich  ein- 
mal gründlich  untersucht  werden  sollte,  bietet  manche  Anklänge  an  Demosthenes 
(▼gl.  auch  Demosthenes  IV  42  dvavSp{av). 

2)  YgL  Gercke,  Nene  Jahrb.  Vn  &  12. 18. 


364  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

1906  S.  56.  Auch  bei  modernen  Gelehrten  läßt  sich  gar  nicht  selten 
das  Verfahren  nachweisen  oder  erschließen,  daß  sie  früher  gedruckte 
oder  ausgearbeitete  Stücke  in  einen  neuen  Zusammenhang  aufge- 
nommen haben  und  daß  mitunter  die  Komposition  des  Ganzen  darunter 
gelitten  hat.  Auch  die  Doubletten  bei  Xenophon  und  bei  Eusebius  kann 
man  zum  Vergleich  des  Demosthenischen  Verfahrens  heranziehen.  Eörtes 
Schluß  scheint  mir  auch  darum  nicht  zwingend,  weil  wir  überhaupt  nicht 
wissen,  welches  Aussehen  die  wirklich  gehaltenen  Volksreden  des 
Demosthenes  gehabt  haben,  ^)  weil  wir  nicht  wissen,  wie  weit  die 
wirkliche  Chersonesrede  von  unserer  Buchform  abwich.  Ich  wüßte 
nicht,  was  man  mir  entgegenhalten  könnte,  wenn  ich  die  Vermutung 
ausspreche,  daß  gerade  die  IV.  philippische  Rede  uns  wohl  den  Ton 
einer  wirklich  gehaltenen  Rede  kennen  lehrt.  Die  Breite  mancher 
Ausführungen,  die  zu  der  Prägnanz  und  Gedrängtheit  der  demosthe- 
nischen Sprache  in  Widerspruch  steht,  manche  drastische  Ausdrückei  ^ 
endlich  die  lose  Aneinanderreihung  der  Teile,  die  freilich  in  dem 
Ziele,  das  sie  alle  verfolgen,  die  innere  Einheit  haben,  könnte  dafür 
angeführt  werden.  Die  lose  Komposition  ist  ja  eigentlich  für  die 
Staatsrede  natürlich,  da  der  Redner  einige  Gedanken  von  Hause  mit- 
bringt, andere  ihm  durch  die  Debatte  und  die  Reden  der  Gegner  an 
die  Hand  gegeben  werden.  —  Jedenfalls  wäre,  wenn  die  IV.  Philippika 
eine  Brochure  wäre,  die  Fiktion  der  wirklichen  Rede  durch  das 
Ganze  durchgeführt  worden. 

Doch  auch  meine  Vermutung  ist  nichts  als  eine  Möglichkeit, 
und  Zweck  dieser  Ausführung  ist  nur,  darauf  hinzuweisen,  wie 
schwierig  die  Beurteilung  der  IV.  Philippika  ist,  da  sie  von  der  Ant- 
wort auf  Probleme  abhängt,  die  vielleicht  mit  unseren  Mitteln  über- 
haupt nicht  sicher  gelöst  werden  können.  Viel  ist  schon  damit  ge- 
wonnen, daß  die  Echtheit  jetzt  feststeht.  Und  ganz  ähnlich  steht  es 
mit  der  dreizehnten  Rede  Hspi  ooytdSecDc*  Auch  hier  ist  der  Haupt- 
stein des  Anstoßes  die  nicht  immer  geschickte  Einarbeitung  der 
Doubletten.  Auch  hier  ist  der  Redaktor  der  Sündenbock,  der  aber 
durch  Körte  für  die  IV.  Philippika  beseitigt  ist.  Für  die  Echtheit 
auch  dieser  Rede  ist  Wilamowitz  eingetreten,  ^)  und  wir  wissen  jetzt, 
dank  Didymos   und  trotz  seiner  unglaublichen  Konfusion,    daß  die 

1)  Vgl.  Diels'  Anmerkong  zu  Eol.  13, 59,  Wilamowitz  a.  a.  0.  S.  73. 

2)  §  6  {xavSpajfipav  Tztnuix6<sis  lo(xa{jt.ev,  §  1 1  itpooOi^CFco  hk  xal  toI«  ht  x^  icAn 
dcolc,  o?7rcp  a&Tov  i^okiatia^/  (VIII 40  nicht  so  grob),  §  19  Siaondoaodai  icapapoXiitt, 
§  49  TouToi«  xcxi^Xrjafte,  §  54  xexrjXTjfiivoi  (xtjXcTv  nur  in  dieser  Rede),  §  63  diTcotu|&i»- 
v{(jai  (wie  in  der  Chers.)  und  to6tou  (die  inneren  Feinde)  woTccp  irpoß<iXou  npooictaf- 
oavrac.  Wir  wissen  ja,  daß  Demosthenes  in  der  wirklichen  Rede  stärkere  Ans- 
drücke  als  in  den  Schriften  zu  gebrauchen  liebte. 

3)  Aristoteles  und  Athen  II  215. 216. 


Berliner  Elassikertexte.  I  365 

Rede,  wenn  sie  echt  ist,  bald  nach  350/49  fallt.  Denn  auf  dies  Jahr 
ist  jetzt  durch  die  neuen  Bruchstücke  des  Philochoros  und  des  An- 
drotion  der  Auszug  nach  Megara  festgelegt.  Böhnecke,  der  die  Rede 
nach  der  olynthischen  ansetzte,  wird  diesmal  der  Wahrheit  nahe  ge- 
kommen sein ;  vgl.  auch  Droysen  a.  a.  0.  S.  225  ff.  Blass  (und  zum 
Teil  ähnlich  Diels  zu  EoL  13,  59)  setzen  sie  früher  an.  Aber  Blass' 
Erwägungen  (Att.  Ber.  lU  1  S.  399)  sind  keineswegs  zwingend.  Er- 
halten ist  uns  noch,  wie  Körte  gezeigt  hat,  das  Kol.  13, 57.  14, 47 
erwähnte  <|>i^io|jLa  des  Philokrates  (Dittenberger,  Syll.  789).  Es  fällt 
ins  Jahr  352/1.  Ganz  unwahrscheinlich  setzt  nun  Blass  noch  früher 
den  Xin32  von  Demosthenes  erwähnten  Beschluß  an:  otov  &  icpöc 
tooc  xatapdtooc  Me^apiac  i^yfpiaaa^^  iicot6|iyo(i^vot>c  r))y  ipfd^Sa, 
i^iivat,  xtf>X6ciy,  it*^  imtpdiceiv . . .  Diese  Beschlüsse  sind  ja  ganz  schön, 
T&  SpYa  Sk  tducb  zobxm  o&Sa|ioö.  Also,  meint  Blass  im  Archiv  S.  289, 
weiß  Rede  XIII  noch  nichts  von  dem  III  Ol.  20  (nicht  30)  erwähnten 
Feldzuge  nach  Megara.  Er  wurde  etwa  353/2  beschlossen,  aber  aus- 
geführt erst  350/49.  Und  Rede  XIII  wird  also  nach  diesem  Beschluß 
und  vor  seiner  Ausführung  angesetzt.  Ich  glaube,  die  Worte  des 
Demosthenes  gestatten  durchaus,  die  Rede  nach  dem  Feldzuge  an- 
zusetzen. Nach  dem  Zitate  des  Philochoros  bei  Didymos  gaben  die 
Megarer  beim  Anrücken  der  Athener  sofort  nach,  und  im  Einver- 
ständnis wurden  die  Grenzen  geregelt.  Daraus  und  wohl  nicht  nur,  wie 
Bruno  Keil  vermutet  (Suppl.  S.  66),  aus  der  den  Megarem  freundlichen 
Gesinnung  wird  es  sich  erklären,  daß  Androtion  den  Feldzug  nicht  ein- 
mal erwähnt.  Und  bei  solchem  Sachverhalt  konnte  Demosthenes  auch 
nach  dem  Auszuge  sagen.  Taten  seien  aus  diesem  Beschlüsse  nicht 
herausgekommen.  Jedenfalls  ist  jetzt  die  Ansicht,  diese  Stelle  der  Rede 
Xm  beruhe  auf  grobem  Mißverständnis  der  III.  Ol.,  endgiltig  widerlegt. 
Endlich  gebe  ich  noch  einige  Erklärungen  und  Vermutungen 
zum  Text  einzelner  Stellen,  die  freilich  meist  nur  Möglichkeiten 
bezeichnen;  denn  die  sichere  Ausfüllung  von  Lücken  ist,  wo  sie 
überhaupt  möglich  ist,  wohl  meist  schon  gefunden.  Kol.  4,13 
xai  [ß6ßaio6|ieyoc  toörja  ^Apiotot^XTjc-  5,  4  [&|iio<;]  oder  [ßapdax;], 
vergl.  das  Supplement.  5, 18  iCGtpaoxtt>v.  [ivd'  &v]  ivdairaoto<;.  Stähelin 
und  Blass  sind  in  der  richtigen  Beobachtung  zusammengetroffen,  daß 
in  der  Lücke  5,35 — 43  das  Zitat  aus  Theopomp  abgeschlossen,  ein 
neues  Zitat  eines  dem  Hermias  freundlich  gesinnten  Autors  einge- 
führt war,  dessen  Schluß  wir  Z.  57—63  lesen.  6a  oTcspßdltoo  ^pdoecoc 
xatdotaoic«  vergl.  7,1,  ist  offenbar  grammatischer  terminus  technicus, 
ich  finde  gerade  nur  einen  ganz  späten  Beleg  bei  Michael,  Comm. 
in  Aristotelem  XXII 1  S.  23, 1.    6,12  «apA8oS[oc  «apa  rJjv  oovij*6ta]v  *) 

1)  Aehnliche  Aasdrücke  s.  z.  B.  in  Dittenbergers  Indez  zur  Sylloge  S.  411. 


866  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

tÄv  ßapßApcüV  Tpöffwv,  15  [ip]eox[ö|ievoc],  6,55  i[xövta  *av(€tv)]  oder 
mit  Wilamowitz  ootöv  ifafaYeiv.  7, 16  to6v[ayTiov  icpioßeoiv]  a&totc 
iweÄoavto  «ap'  [ä]vo[tav,  &c]  ^tXöxopoc  iyigifei'cat.  8, 15  8c  xal  tot*  sIks 
wird  wohl  ohne  Grund  in  dem  Supplement  wieder  in  Zweifel  ge- 
zogen, »der  damals  auch  den  Antrag  8tellte<  (vergl  14,49).  8,41 
spielt  wohl  an  auf  das  die  Theorika  betreffende  Gesetz  des  Eubulos 
(Schäfer  1208),  8,43  ßXao77](ieiv  auf  Demosthenes  X36  8,64  [«a- 
[petoi  XiY<^]v  taöta.  9, 32  ff.  wohl  Demosthenes  IX  55  benutzt  Den 
Schluß  des  Briefes  Philipps  Kol.  10, 27  glaube  ich  jetzt  ziemlich 
sicher  herstellen  zu  können:  xal  [ivox]X[o&]vt[(oy]  l(ii  9co[XXa  &|u]v 
icpötspov  o[in]peti)oayTa].  ^)  Philipp  selbst  sagt  im  Brief  §  10  l|ii  S' 
IvoxXeits  (vergl.  Demosthenes  X 14).  12,42  ist  kaum  eine  Lttcke 
anzunehmen.  Den  Hinweis  auf  seinen  Kommentar  zur  Eranzrede 
(§  67)  hat  Didymos  wohl  ausgelassen,  weil  dieser  Kommentar  un- 
mittelbar vorher  zitiert  ist.  9,34  wird  vielleicht  noch  der  auf* 
fallende  Anklang  an  5,15  zur  Ausfüllung  helfen.  10,2  haben  wu* 
in  den  Versen  des  Timokles  xataß^ßijxev  Soiievoc»  x^P^C^P*^^  T^ 
ein  neues  Beispiel  des  oft  behandelten  pleonastischen  y^^p«  das  Blass 
hier  mit  Unrecht  in  f  wandeln  möchte.  —  Beigegeben  sind  die  bei 
Harpokration  erhaltenen  Bruchstücke  der  Kommentare  des  Didymos 
zu  Demosthenes.  An  einigen  lehrreichen  Beispielen  läßt  sich  jetzt 
wieder  der  Uebergang  alexandrinischer  Gelehrsamkeit  in  die  Lexika 
verfolgen.  Diesen  Prozeß  der  Kürzung  und  Verdünnung,  der  die 
ganze  gelehrte  Literatur,  seit  sie  sich  kn  das  römische  Publiknm 
wendet,  beherrscht,  stellt  das  Lexikon  zur  Aristokratea  dar  (Berliner 
Pap.  5008),  von  dem  hier  eine  neue  Ausgabe  gegeben  wird.  In  der 
ersten  Ausgabe  hat  Blass  erheblich  mehr  gelesen.  Zum  Teil  muß 
damals  manches  wirklich  lesbarer  gewesen  sein,  zum  Teil  scheint 
Blass  wie  mehr  oder  weniger  jeder,  der  sich  mit  der  ersten  Lesung 
schwer  zu  entziffernder  Texte  beschäftigt,  der  Suggestion  erlegen  zu 
sein,  die  der  Verstand  auf  das  Auge  ausübt.  Neben  das  Lexikon 
zur  Aristokratea  sind  dann  neuerdings  die  spärlichen,  aber  wertvollen 
Reste  eines  Lexikons  zur  Midiana  getreten,  die  Crönert  in  Wesselys 
Studien  zur  Paläographie  und  Papyruskunde  IV  bearbeitet  hat  — 
Die  größere  Ausgabe  gibt  auch  ein  Wortregister  von  Schubart. 

Kiel  Paul  Wendland 

1)  Aehnliche  Ausdrücke  z.  B.  bei  Dittenberger  8.  425. 


Nachschrift:  Nach  Autopsie  des  Originals,  bei  der  Dr.  Scbubait 
mich  unterstützte,  bemerke  ich,  daß  5,18  äXX'  die  Lücke  füllt,  10,27 
lvoxXo6vt(ov  ganz  unsicher  ist. 


noXfn)c,  IlapaS^otic.   I.  11  867 


N.  r.  noX{Ti]c,  MtX^xai  lit  pi  TOÜ  p{ou  xa\  xijc  yXciiooTjc  toü  4XXi]vixou 
Xaoü.  (Untertitel:)  FlapaS^oeic  M^poc  A'  xal  B'.  (BißXio^xi]  MapaoX^, 
napdpxTifM  dp.  5).    h  'Ad^vaic,  t6uo(c  II.  A.  £axcXXap{ou.    1904.    1348  S.,  6  Tafeln. 

Der  auch  in  Deutschland  durch  seine  religionsgeschichtlichen 
und  auf  die  Kunde  vom  neugriechischen  Volkstum  gerichteten 
Forschungen  seit  langer  Zeit  bekannte  und  geschätzte  Verfasser  er- 
zählt uns  in  der  Einleitung  kurz,  daß  ihm  der  Umzug  der  athenischen 
Bibliothek  in  ihr  neues  prächtiges  Heim  für  längere  Zeit  die  vier 
bis  fünf  BUcher  geraubt  hat,  die  ihm  für  die  Vollendung  seiner 
Sprichwörtersammlung  unentbehrlich  waren.  Statt  zu  klagen  nahm 
er  frisch  ein  anderes  Werk  vor,  an  dem  er  auch  schon  lange  ge- 
arbeitet   Dem  verdanken  wir  diese  üapaSöcsic. 

Der  erste  Band  umfaßt  die  Texte  der  >Ueberlieferungen<,  977 
an  der  Zahl,  der  zweite  den  Kommentar  zu  Nr.  1 — 644.  Der  dritte 
wird  also  den  Schluß  des  Kommentars  und  die  Einleitung,  sowie 
hoffentlich  die  nötigen  Indices  geben.  Für  den  Beurteilenden  wäre 
es  also  besser,  das  Erscheinen  dieses  Bandes  abzuwarten,  der  zu 
manchem  erst  den  Schlüssel  enthalten  wird.  Aber  das  Werk  verdient 
es,  daß  man  schon  jetzt  darauf  aufmerksam  wird,  was  sich  in  ihm 
an  wissenschaftlichen  Schätzen  findet. 

Die  Geschichten  sind  auf  38  Kapitel  von  sehr  ungleichem  Um- 
fange verteilt.  »Alte  Geschichten<  stehen  zuerst,  und  die  beiden 
ersten  Nummern  erhält  Homer,  nach  chiotischer  Ueberlieferung.  Der 
Kommentar  gibt  dazu  ausführliche  Literaturnachweise.  Es  zeigt  sich 
schon  hier  der  Vorzug  des  ganzen  Buches:  überall  genaue  Angabe 
des  oder  der  Orte,  an  denen  die  Geschichte  erzählt  wird.  Wenn  es 
mehrere  sind,  spricht  dies  manchmal  für  engere  Volkszusammenhänge; 
so  haben  Syros  und  die  kleine,  wenig  bekannte  Insel  Psara  bei  Chios 
mehrere  Ueberlieferungen  gemein,  weil  Hermupolis,  die  Hauptstadt 
von  Syros,  ihre  neueren  Stadtviertel  einer  Besiedlung  von  Flücht- 
lingen aus  Psara  verdankt.  Wo  es  möglich  war,  ist  der  Dialekt  des 
Fundortes  treu  wiedergegeben,  wodurch  auch  der  Linguist  wert- 
volles Material  erhält.  Auf  die  »alten  Geschichten«  folgen  >die 
Stadt«,  d.h.  Konstantinopel,  und  »die  heilige  Sophia<,  zu  der  man 
gern  auch  die  anderen  an  die  christliche  Kirche  anknüpfenden  Ab- 
schnitte: > Christus  und  seine  Leiden«,  »Heilige«,  > Kirchen«  und 
den  davon  unzertrennlichen  >Teufel<  hinzugefügt  sähe,  die  jetzt 
zum  Teil  in  weitem  Abstände  folgen.  So  würde  auch  der  Altertums- 
forscher nicht  ungern  alle  die  hübschen  Erzählungen  zusammenfinden, 
die  sich  an  Personen  und  Ueberreste  aus  dem  klassischen  Altertum 


368  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

finden.  Jetzt  steht  > Homere  im  ersten,  der  Ableger  der  Sappho- 
geschichte  vom  leukadischen  Felsen  im  dritten  Abschnitte,  in  dem 
freilich  aus  der  Dichterin  eine  Königin  gemacht  ist  —  so  wie  der 
parische  Volksmund  aus  Archilochos,  dem  armen  Kerl,  der  aus» 
wanderte  und  oft  ein  recht  kümmerliches  Dasein  fristete,  einen 
icXo6otoc  Syd'po»coc  macht,  dem  das  ganze  Land  gehörte;  beiläufig 
eine  Geschichte,  die  es,  nachdem  Ref.  (Ath.  Mitt.  XXV  1900,  15)  und 
J.  Svoronos  AteO-v^c  i^TfiJieplc  rjjc  vo|tto|tattx^c  ipxatoXoifCac  IH  1900, 
59 ff.,  besonders  S.  65,  darüber  in  verschiedenem  Sinne  gehandelt 
haben  —  der  Berliner  aus  Autopsie,  sein  in  Mykonos  geborener  ge- 
lehrter Freund  wunderbarer  Weise  nur  vom  grünen  Tische  aus  — 
wohl  verdiente,  noch  einmal  von  einem  Unparteiischen,  der  die 
Sprache  des  Volkes  genau  kennt,  an  Ort  und  Stelle  nachgeprüft  zu 
werden.  VI  > Hellenen,  tapfere  Männer  (avSpsKoiiivot,  Giganten)«  und 
VII  > Antike  Gebäude  und  Marmore <  enthalten  auch  viel  für  den 
Archäologen;  besonders  hebe  ich  die  Märchen  von  den  alten  Wart- 
türmen auf  Naxos  (166/167)  hervor,  die  auch  mir  beim  Besuche  des 
wundervollen  7c6p7o<;  too  X6t|idppot)  von  Michael  Erispi  erzählt  wurden; 
ähnliche  Geschichten  knüpfen  sich  an  andere  solcher  Warttürme,  wie 
den  runden  Turm  von  Seriphos.  Gern  sähe  man  mehr  von  diesen 
schönen,  wenig  gekannten  Denkmälern  auch  im  Bilde  vor  sich.  Dies 
hat  der  Verfasser  empfunden  und  was  er  konnte  getan:  der  Löwe 
vom  Hymettos,  der  Schneider  von  Porto  Raphti,  das  delphische  Logari 
und  manche  andere  Denkmäler  und  Oertlichkeiten  sind  abgebildet; 
für  andere  sind  zum  Teil  vorzügliche  Photographien  vom  Institut 
und  von  Privaten,  z.  B.  von  Alfred  Schiff,  aufgenommen,  aber  leider 
noch  nicht  veröffentlicht.  Vielleicht  könnten  hier  die  Prolegomena 
noch  nachhelfen;  >die  Personen  und  Denkmäler  des  klassischen  Alter- 
tums im  heutigen  Volksmunde  der  Griechen<  wäre  ein  schöner  Ab- 
schnitt. 

Es  folgt  die  Natur:  >Himmel,  Gestirne,  Erde<,  >Wetter<  (xaipol 
sind  meist  die  Winde,  aber  auch  Blitz  und  Donner  finden  hier  Platz 
—  es  greifen  hier  schon  die  Neraiden  ein,  denen  ein  späterer  Ab- 
schnitt gewidmet  ist),  >  Versteinerungen  <.  Hier  wäre  den  Erzählungen 
vom  versteinerten  Schiff  passend  das  xapdßt  toö  Köoto  hinzuzufügen, 
an  das  sich  der  Volks witz  knüpft  >|iä  tö  xapdßi  toö  Köoto  ^ä  ird'{|c<, 
den  0.  Rubensohn  in  Paros  gehört  hat.  Nach  den  Pflanzen  kommen 
die  Tiere,  die  mannigfach  abgestuft  immer  schrecklicher  werden: 
C^a,  ^pia,  Spdxovtec  xal  6(pBi<;,  Spdxot.  Es  könnte  mutatis  mutandis 
bei  Diodor  im  Inselbuche  (V)  gestanden  haben,  was  man  Nr.  389 
von  Andres  liest:  yUpG^xa  -^tav  'c  tö  vtjoI  ol  Apdxoi,  oottpa  ol  TlXXijvec, 
xatöici  -Jitav  ol  Btvetoävot,  xal  teXtotaioi  ot  Toöpxot«    —   nur  daß  dort 


rioX^TT^c,  flapa5^0£u.    I.  II  369 

beispielshalber  von  Schlangen,  Telchinen,  Karern  und  Hellenen  die 
Rede  gewesen  wäre. 

Diese  Fabelwesen  leiten  schon  über  zu  den  lebendigen  über- 
irdischen Mächten  der  Volksreligion  und  Mythologie,  dem  sogenannten 
Aberglauben.  Damit  betritt  man  das  Lieblingsgebiet  des  Verfassers. 
Schon  die  >vergrabenen  Schätze  und  Mohren«  gehören  dahin.  Spielen 
sie  doch  eine  große  Rolle  allerorten  (43  Nummern).  In  Astypalaia 
zeigte  man  mir  eine  Kirchenruine;  dorthin  mußte  man  mit  einem 
Mohren  kommen  und  einen  schwarzen  Hahn  schlachten,  um  den 
Schatz  zu  heben.  Nr.  412  knüpft  an  ein  antikes  Denkmal,  die  Porta 
von  Paläopolis  auf  Andres,  an;  dort  sind  zwei  Gruben  unter  den 
Pfosten,  eine  voll  Schätze,  die  andere  voll  Schlangen  —  so  wagt  es 
keiner,  nachzugraben.  Dann  die  Gespenster  (atoixeta)  von  Land  und 
Meer,  über  hundert  Geschichten;  die  Xa(toSpdxia,  KoXXixdvtCapot  (65), 
'AvaoxeXddec ,  welche  die  Eselgestalt  anzunehmen  belieben,  um  die 
Menschen  zu  plagen,  NepdiSec  (155  Nummern;  der  größte  Abschnitt), 
AA|iiaic,  StpiYT^C,  *H|iipatc  —  nur  die  Freitagsheilige  napaoxeoij  und 
das  Donnerstagsweib,  die  U&pxap'^d  (von  der  Ui^icxii  so  genannt). 
Dann  Zauberer;  der  Teufel;  eine  andere  Art  Gespenster,  die  $av- 
tdoitaxa;  der  Alp,  die  Krankheiten,  die  Moiren,  Tote  und  Seelen,  die 
BpixdXaxsc  (mit  145  Nummern).  Es  ist  für  diese  letzte  weitver- 
breitete Gattung  bezeichnend,  daß  unter  den  sechs  Geschichten  aus 
Thera  fünf  den  BpixöXaxec  gewidmet  sind.  Wurde  doch  einmal  in 
der  politischen  Debatte,  ob  Naxos  oder  Thera  die  Hauptstadt  einer 
neuen  von  den  Kykladen  loszutrennenden  Provinz  werden  sollte, 
durch  den  naxischen  Abgeordneten  der  Umstand  geltend  gemacht, 
daß  Thera  der  Wohnort  aller  von  den  übrigen  Inseln  vertriebenen 
BptxöXax6c  sei.  Ein  Theräer,  der  dagegen  schrieb,  hatte  den  Humor 
und  den  Mut,  diese  gefährlichen  Geister  herauszufordern  und  sich 
sie  iictxivSovoc  BpixöXaS  zu  unterzeichnen.  Die  Terminologie  dieser 
Wesen  findet  der  Deutsche  unter  anderem  in  B.  Schmidts  bekanntem 
> Volksleben  der  Neugriechen«. 

Auf  Einzelheiten  weiter  einzugehen  würde  zu  weit  führen.  Wohl 
aber  interessiert  ein  allgemeiner  Gesichtspunkt.  Woher  stammen  die 
Geschichten?  Darüber  ist  mit  großer  Gewissenhaftigkeit  Buch  geführt; 
wir  wünschen  aber  in  der  Einleitung  eine  Bibliographie  und  ein 
Ortsregister.  Zahlen  sind  zunächst  trocken,  doch  lehren  sie  manches, 
wie  schon  eine  Betrachtung  der  Inseln  zeigt.  Von  den  ionischen 
Inseln  hat  Zakynthos  den  Löwenanteil,  61  (ich  lege  keinen  W^ert 
darauf,  daß  diese  Zahlen  genau  stimmen) ;  Kepballenia  5,  Leukas  3, 
Ithaka  1 ,  das  viel  besuchte  Korfu  nur  2.  Kommt  das  wirklich  nur 
von  der  nivellierenden  italienisch- englischen  Kultur,  oder  hängt  es 


870  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

an  mangelnder  Beobachtung?  Kythera  scheint  nnvertreten.  Von 
den  Inseln  bei  Attika  und  der  Argolis  haben  Salamis  2,  Aigiiia, 
Hydra,  Spetsai  und  Porös  je  1 ;  wer  von  Porös  in  angenehmer  Weise 
mehr  erfahren  will,  möge  das  hübsche  Buch  >In  ArgoUsc  von  Greorge 
Horton  (London  1903)  in  die  Hand  nehmen.  Dann  die  Eykladen  im 
modernen  Sinne,  d.  h.  die  griechische  Provinz :  Syra,  die  Hauptstadt^ 
19;  Naxos,  wo  einige  tüchtige  Lokalforscher,  Markopolis  und  Erispi, 
wohnen,  9;  Kythnos  8;  Melos  7;  Thera  6;  Andres,  Mykonos,  Amorgos  5; 
Tenos  4;  los  3;  Siphnos  2;  Sikinos,  Seriphos  und  das  große  Paroe  1; 
Eeos,  Pholegandros ,  Kimolos  0.  Hier  sieht  man,  daß  Eeos  und 
Paros,  beide  so  bequem  zu  erreichen,  in  nicht  zu  rechtfertigender 
Weise  vernachlässigt  sind,  ein  Vorwurf,  der  nicht  den  gelehrten 
Verfasser,  sondern  in  erster  Linie  die  Bewohner  selbst  tri£ft.  bt 
keiner  unter  ihnen,  der  hier  sammelt,  bevor  es  zu  spät  ist?  Für 
Pholegandros  findet  sich,  freilich  sehr  wenig,  in  den  kleinen  Mono- 
graphien von  Gabalas  (1886)  und  Charilaos  (1887);  für  Thera  hat 
P.  Eretschmer  einige  Märchen  als  Dialektproben  aufgezeichnet  (1896X 
aber  noch  nicht  veröffentlicht.  —  Von  den  türkischen  Inseln  hat  das 
kleine  Syme,  reich  durch  Schwammfischerei,  aber  auch  auf  geistige 
Eultur  bedacht,  19;  Earpathos  2  (die  Bücher  von  Manolakakis  würden 
mehr  ergeben);  das  große  Rhodos  nur  eine!  Hier  ist  also  noch 
überreiche  Arbeit  zu  tun!  Biliotti  et  Cottret  L'ile  de  Rhodes  629 ff. 
geben  nur  einige  Andeutungen.  Gerade  die  von  der  Hauptstadt  ent- 
fernten Dörfer  von  Rhodos  sind  infolge  des  Druckes  der  Türken- 
herrschaft,  die  nirgends  schwerer  lastet  als  auf  dieser  einst  so 
gesegneten  Insel,  noch  weit  zurück  —  um  so  besser  für  den  Folklo- 
risten. Vielleicht  ist  von  Earl  Dieterich,  der  dort  gewesen  ist,  mehr 
zu  erhoffen.  Ganz  zurückgeblieben  und  deshalb  besonders  zu 
empfehlen  ist  auch  Astypalaia  undEasos  (je  l)',  Easos  ist  nur  durch 
L.  Roß  vertreten,  aber  gerade  dort  wuchert  noch  fröhlich  die  Sage; 
1892  hatte  dort  ein  Weib  von  einem  Ereuze  geträumt  und  Aus- 
grabungen veranstalten  lassen,  an  einem  Platze,  der  t6  ""Ap^oc  hieß. 
Noch  war  das  Ereuz  nicht  da,  aber  die  Arbeiter,  die  zurückkehrten, 
fanden,  daß  die  Erde,  die  an  ihren  Hacken  geblieben,  sich  in  Mehl 
verwandelt  hatte.  Ich  sollte  aus  meinen  Büchern  den  genauen  Plats 
bestimmen  und  dadurch  der  Wohltäter  der  Insel  werden,  habe  aber 
diese  Rolle  abgelehnt.  Der  türkische  Eaimakam,  der  aus  Adrianopel 
strafversetzt  war,  spottete  natürlich  darüber,  als  aufgeklärter  Mann. 
Und  doch  hat  die  Insel,  so  hafenarm  sie  ist,  eine  beträchtliche  Zahl 
Schiffe  und  regen  Handelsverkehr  mit  Aegypten  und  Frankreich.  — 
Das  reiche  Ealymnos  ist  nnvertreten ;  für  Eos  würde  R.  Herzog  mehr 
liefern  können,  so  die  hübsche  Geschichte  von  dem  Drachenkampfe 


noXfn)c»  Ua^h^an^.  I.  n  S71 

—  der  Drache  war  die  verwandelte  Tochter  des  Hippokrates!  Da- 
gegen haben  Samos  39,  Chios  13,  Lesbos  6,  Psara  4,  Patmos,  Ikaria  2, 
und  auch  die  nördlichen  Insehi  sind  vertreten,  nicht  nur  durch  Conzes 
Aufzeichnungen,  sondern  auch  durch  griechische  Forscher :  Imbros  8, 
Thasos  und  Samothrake  3,  Lemnos  dagegen  0.  Daß  schließlich  Kreta 
durch  46  und  Kypros  durch  22  vertreten  sind,  ist  kein  Wunder. 

Oewiß  würde  eine  weitere  Erforschung  in  hundert  Fällen  nur 
ergeben,  daß  eine  Geschichte  nicht  an  einem  oder  zwei  Orten,  sondern 
>coXXaxoö«  vorkommt.  Aber  es  würden  sich  sicher  noch  viele 
originelle  Züge  feststellen  lassen,  und  mit  den  Geschichten  würde 
die  Sprache  genauer  bekannt  werden.  Es  ist  schon  viel  geleistet, 
durch  Griechen  und  durch  Ausländer,  Engländer,  Franzosen,  Deutsche 

—  aber  es  kann  noch  mehr  getan  werden,  und  nicht  zum  wenigsten 
durch  Griechen,  welche  die  Lebensweise  und  die  Sprache  kennen 
und  dadurch  so  viel  leichter  und  billiger  reisen  als  der  Fremde. 
Natürlich  gehört  scharfe  Schulung  dazu,  die  Laute  und  Wendungen 
richtig  aufzufassen.  Das  sind  Betrachtungen,  die  man  bei  der 
Durchsicht  eines  solchen  Sammelwerkes  anstellt,  die  aber  unseren 
Dank  und  unsere  Anerkennung  nicht  mindern.  Diese  gelten  auch 
der  äußeren  Ausstattung,  dem  Papier  und  dem  Drucke  —  man  denke 
daran,  daß  die  Brauchbarkeit  der  Sammlungen  des  braven  Manola- 
kakis  durch  die  Unmasse  von  Druckfehlem  in  seinen  Kapicadiaxdc 
fast  gänzlich  illusorisch  gemacht  ist,  um  den  Abstand  nach  oben  zu 
begreifen.  Die  weiteren  Veröffentlichungen  des  Verfassers  werden 
überall  Anerkennung  und,  was  mehr  ist,  Benutzung  finden. 

Berlin  F.  Hiller  von  Gaertringen 


GeoTfli  Monaehl  Chronicon  edidit  Carolas  de  Boor.  Vol.  I:  Textum 
genainum  usque  ad  Yespasiani  imperiam  continens.  Vol.  II: 
Teztum  genainum  inde  a  Vespasian!  imperio  continens.  Leipzig, 
B.  G.  Tenbner,  1904.    LXXXUI,  804  S. 

Die  Chronik  des  Mönches  Georgios,  des  Sünders,  wie  er  sich 
nach  dem  Brauch  der  Zeit  in  der  Ueberschrift  genannt  hat,  in  der 
Schätzung  des  Verfassers  ein  (tixpöv  xal  icaveoteXlc  ßtßXiSApiov  —  es 
umfaßt  nicht  weniger  als  800  enggedruckte  Oktavseiten!  —  ist  ein 
sonderbares  Buch.  Es  soll  die  Weltgeschichte  geben  von  der  Er- 
schaffung Adams  bis  zu  des  Georgios  eigener  Zeit.  Allerdings  mag 
man  dazu  800  und  mehr  Seiten  brauchen.  Das  Kuriose  ist  aber, 
dafi  von  der  Weltgeschichte  ^  tt  {)  o&^iv  in  der  Chronik  zu  finden 

0«ti  fd.  Ani.  1906.  Nr.  5  26 


372  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

ist.  Wenigstens  von  Weltgeschichte  in  unserem  Sinne.  Die  biblische 
Geschichte,  später  auch  die  kirchliche  wird  ziemlich  ausführlich  er- 
zählt; alles  was  außerhalb  dieser  Gebiete  liegt,  hat  für  den  byzan- 
tinischen Mönch  so  gut  wie  gar  kein  Interesse.  Sogar  bei  der  Be- 
schreibung der  von  ihm  selbst  erlebten  Zeit  wird  dies  nicht  anders. 
Xpovtxbv  o6vto|ioy  ix  Sia^ (ipoiv  xpovo^pd^ (ov  te  xal  iSTjYTjtdöv  ooXXrriv 
xal  oovted'^y  bjtb  FecDpYtoo  i^apxiäikob  (tovaxoö:  so  der  Titel.  Der 
Nachdruck  muß  gelegt  werden  auf  die  iiifcrizaL  In  der  Tat  iat  das 
Erbauliche  die  Hauptsache  in  dem  Buche  des  Georgios.  Behalten 
wir  das  im  Auge  und  verlangen  wir  nicht  von  dem  Mönch,  was  er 
weder  geben  wollte  noch  konnte,  so  werden  wir  gerechter  über  die 
Chronik  urteilen,  und  auch  besser  verstehen  können  wie  das  Buch 
so  viel  gelesen  worden  ist  und  so  große  Nachwirkung  hat  henror- 
rufen  können. 

Allerdings  wird  auch  dem  modernen  Leser,  der  in  diesem  Sinne 
an  Georgs  Chronik  herantritt,  eine  schwere  Zumutung  gestellt  durch 
den  ebenso  schwülstigen  und  gekünstelten  wie  ungelenken  und  un- 
gefügigen Stil  und  die  pretenziöse  Art  und  Weise  des  Georgios,  das 
wenige  was  er  zu  sagen  hatte,  in  einem  entsetzlichen  Wortschwall 
zu  ertränken.  Da  er  aber  in  der  Regel  nur  Exzerpte  an  Exzerpte 
reiht,  so  hat  man  es  meistens. nicht  mit  ihm  selbst,  sondern  mit  den 
von  ihm  ausgezogenen  Autoren  zu  tun,  und  wenn  ein  Athanasios, 
ein  Johannes  Chrysostomos ,  einer  der  drei  großen  Kappadoker  das 
Wort  hat,  lauscht  man  gerne  dem  mächtigen  Geist,  der  in  den 
Vätern  der  werdenden  Kirche  wohnte. 

Was  den  Georgios  am  meisten  interessiert  hat,  lehren  die  von 
ihm  selbst  in  der  Vorrede  namhaft  gemachten  Stücke  seines  Werkes: 
Eopotc  Toivov  5  YS  «totöc  xal  voi>V6X«c  te  xal  i^övcoc  S|jLa  xal  duct- 
pt^PYCDc  xal  ÄdoTfjc  SticXÖTfjc  xal  ^ofStoopifiac  4Xet)*§p<oc  IvtoYX^vcov  ivraö^ 
8t'  iXquDV  [1]  tac  twv  elScoXwv  eop^oetc  xal  avatpoicac  Jvt^xvwc  xal  im- 
tsteoY(iiva>c  9  '^^C  tcbv  cpiXoaö'fCDV  'EXXi^vcov  ip^tr/Bkia^  xal  (todoicXaoTiac 
xal  *p7)oxs[ac  Stt  xal  iooii^covooc  tepatoXoiftac,  tac  Stayöpwv  i^vAv 
8ö£ac  xal  «oXod-etac  ^  [idXXov  ekeiv  a*6tac  xal  xaxovoiac,  [2]  icöc  tt 
■^  xm  [lovaxöv  ^pfiato  StaYtoT*^  xal  tASt?  i«6  too  vö|toi>  xal  dti  vffi 
XptoToö  ^avapioToi)  «oXttslac  xal  StSaoxaXCac  o(|^7)Xotdpa  xal  f  aiSpotipa 
xal  «Xatotdpa  (tdXa  elxötcoc  ivaic^yijvev,  xal  äXXa  «Xtlota  xal  Stdfopa 
oa>T7]p[av  (|)0X(2»y  6&7vai|iöva>y  xal  ipO-oSöScov  a>Stvovta  xal  StSdoxovta  «ol 
fcotiCovta,  [3]  o&  li^jv  8ä  iXXa  xal  rijv  IxyoXov  xal  dsoowrij  x%  xal 
«ajtß^ßYjXov  TÄv  Mavixatwv  X&ooav,  iy'  t^^  ßoTcep  Ix  tivoc  Xoooävtoc 
xovöc  rJ]V  aloxioTYjv  te  xal  xdxtotov  ^ZBikrfpma  vöoov  avsf 6y]  i^  t6v 
aXtnjpicüv  xal  xaxooxöXwv  slxovoftdxwv  litßpövnjtoc  afpsotc,  xal  8*tv 
iTc^pfiato  xal  «oö  xat^XYjEev,  ^ttc  y^  "^oöC  «pooidiac  aitijc  xal  ooviotopac 


Oeorgii  Monachi  chronicon  ed.  de  Boor  373 

iXXotpiooc  4x  «sptoooCac  t^c  opS-oSöSoo  ictoteoi^  xataamjoaoa  oov  tote 
6(idf  pooiv  a&t(ov  äxSi^Xcoc  S|ta  xal  td  tootcov  X7]pii^|iaTa  xal  ßX7]X'V](iata 
tijc  i&xAotoo  SCxTfjc  ojcsod-ovooc  xal  IvStxooc  (&  tfjc  iicdnjc  xal  «apa- 
icXi]£Cac  t&v  7r6f  6vaxio|isva>y  xal  (lataiof pövcov)  &)c^f yjvs  xo(itS^  xal  tcp 
ala>y(c|>  icopl  icap^:r6|i(|^sv,  [4]  n^v  ts  Tiby  itaoddXcov  xal  xaxofpövcDV 
SapaxTjvfibv  xataY^Xaotov  8ö£av  xal  rJiv  xtifjvwSi)  Cw'Jlv  xal  (t^vtci  xal 
rJjv  SiSaoxaXtav  toö  XaoTcXdvoo  (l^eoSoicpo^i^too  ahxm  xal  Sd-ev  xaxcoc 
ivaStösixtat,  [5]  xal  Tcpbc  to&toic  tr^v  toö  ^dpovtoc  Oa>(id  vecoteptodeioav 
icaiSoicpsici)  (tataiof  poGÖVYjy  t£  xal  icapdvoiav  xal  t:f]v  ap^oiX^av  Tgata- 
otpof -ijv  toö  icavad-Xloo  xal  toiXaiica>poo  (S.  2,  24  bis  3,  29). 

Es  sind  in  dieser,  als  Probe  von  Georgios'  Redeweise  in  extenso 
mitgeteilten,  Aufzählung  die  folgenden  Stücke,  die  ungefähr  ein 
Siebentel  des  ganzen  Werkes  umfassen,  gemeint : 

1  =  p.  57—92  ......  35 

2  =  p.  327—364 37 

3  =  p.  467—476,  737—744    .  16 

4  =  p.  697—717 20 

5  =  p.  793-797 4 

112  Seiten. 

Aus  alter  Zeit  also  der  Ursprung  des  Götzendienstes  und  die 
Mythologeme  der  Griechen,  aus  späterer  Zeit  die  Entstehung  des 
Mönchtums  und  der  Manichäismus ,  aus  den  letzten  Jahrhunderten 
der  große  Bilderstreit  und  das  Auftreten  des  Mohammed  und  des 
Isl&ms,  aus  der  jüngsten  Vergangenheit  endlich  die  Empörung  des 
alten  Generals  Thomas  gegen  Michael  IL,  mit  vielen  Bibelzitaten  als 
ein  Ansturm  gegen  die  Gottstadt  (Theopolis)  Konstantinopel  geschildert, 
dem  Ansturm  Senacheribs  gegen  Jerusalem  vergleichbar:  man  sieht, 
nur  für  das  Geistliche  hat  er  ein  Auge.  Und  dies  gilt  nicht  nur  für 
diese  Partien ;  in  der  ganzen  Chronik  mrd  das  Weltliche,  wie  gesagt, 
vollkommen  vernachlässigt. 

Das  Ganze  ist  in  neun  Bücher  geteilt.  Mit  vollem  Recht  hat 
de  Boor  die  von  de  Muralt  eingeführte  Buchteilung  verworfen,  welche 
der  handschriftlichen  Grundlage  entbehrt  und  der  von  Georgios  selbst 
in  der  Vorrede  deutlich  angegebenen  und  in  der  bessern  Ueber- 
lieferung  gewahrten  Einteilung  widerspricht. 

Tfjc  8fe  xP^v^*^^  7cpaY(iat6ia<;,  sagt  er  (S.  4,  1),  ttjv  o«ö*60tv  &<;  4v 
tifist  T|iif]iLdta>v  8ta  tö  eüoovoictov  xal  e&|iVTfijiöv60T0V  ^reicomjxaiLev. 


26* 


BU 


Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 


iffö  |t4v  if4p  TOO  'A84|i  ipSA- 
|i6V0i  xal  |i.^pt  njc  'AXeSAvSpoo 
teXsoryJ^  IXd'ovrec  ^v  at)Vtö|JL(|) 

icdXiv  &yd:roiXiv  diTcb  toö  'ASa|i 
xata  rJjv  a&riiv  inv/Biptiav^  xal  Iv- 
votav  Si'  iiravoiXi^tl^ecoc  tooc  xpdvooc 

£et(;  &c  otöv  te  8ta  ßpax^cov  aice- 
(tV7](iove6oa(tey  Scoc  'I'vjooo  toö  Nao*}], 

eita  ffdXiv  Sia  oovTO)itac  toöc 
xpitac  (i^i  too  :rpof  Tjtoo  Xa|iooiijX, 

xal  6t*'  oStcDc  a6t(xa  tobe 
ßaoiXslc  t(bv  'looSatfiov  anb  SaooX 
1(0^  SeSexiot)  xal  t^c  aXa>oea><;  "Is- 
poDoaXujIi,  Iv  oU  'tal  xata  'looSatov 
Ix  «apöSoo  8ta  ßpa^oXo^ta?. 

[nicht  erwähnt]^) 

iTTEita  8^  toöc  Tü)(iat(DV  t^y^" 
(iövac,  &os8p  8y]  xal  touc  ^aXai 
uspGioy  xal  MaxsSöviov  HeXe&xcov 
ts  xal  'Avtiöxcov  xal  IltoXsiiaUttv 
iv  ^rapexßdoet  SiefsXd'övtsc  ip^ac 
xal  8t)vaotstac  ODtw  xal  too?  *Pö>- 
(lalcov  14  'EXXi^vcov  xataYO(i.^yooc 
xaöoXixoö^  ßaoiX^a^  S|ia  xal  tac 
ip^aola^  xal  toö^  ^avdtoo^  anb 
'looXtoo  Kaioapoc  V^^i  AioxXnjtia- 
voö  xal  Ma£i|iiavoö  tä)V  avoouov  xal 


Buch  I  (S.  6— 43)0 :  AD- 
gemeine  Uebersicht  bis  zum  Tode 
Alexanders.  —  Grundlage  Malalas. 

Buchn(S.  43— 145):  BiWi- 
sehe  Geschichte  bis  Josua. 


Buch  m  (S.145— 166):  Bibl 
Geschichte,  Richterzeit  bis  Samuel 

Buch  IV  (S.  166—251): 
Biblische  Geschichte,  Saul,  David, 
Salomo  und  die  Könige  Judas  bis 
Zedekia. 

Buch  V  (S.  251—264):  Bib- 
lische Geschichte,  Könige  Israels. 

Buch  VI  (S.  264—285): 
Könige  Babylons,  Persiens. 

Buch  Vn  (S.  286-293): 
Seleuciden  (nur  Antiochus  Epi- 
phanes  und  Antiochus  Eupator, 
aus  Daniel  und  den  Makkabäer- 
büchem). 

Buch  Vm  (S.  293—489): 
Römische  Kaiser  von  Augustus  bis 
Diokletian. 


Xptoto|iÄx^^> 

1)  Eigentlich  nur  bis  S.  39,  10,  wo  wir  lesen :  (icxd  Si  t^v  'AXti^pou  ttXtuxijpi 
tii  TzoXkäi  dpjoLi  ii  ßaatXc(a  aOxou  Si^p^Or),  xal  'ApivSaloc  [itt  6  dStX^c  'AXcfdvipott,  6 
xal  <I>{Xi777roc ,  MaxcSov{ac  dcpT^yciTai  x.  t.  X.  xal  o6  Si^ticov  diel  xax'  dXXi^Xcnv  iicovtoirf* 
fxevoi,  lu)c  o\)  ii  *Pu>fjLa{u)v  dp^^  xd;  Toicap^{ac  Tzdaai  xaT^uoiv.  Es  folgt  dann:  To&mv 
hk  o5tu)  xal  inX  ToaoÜTOv  e{p7]|Aivu)v  ScTv  ({>i^8T)fUv  Jiiav^i]^tv  iröti^aao^i  xal  died  'AW[|ft 
TtdXiv  dp^dfovoi  xal  ixdaxou  tu>v  finoi^|i.Q)v  xal  dvayxa^iov  dvSpAv  xouc  x^c  C«»^  jf&io^c 
hiä  ßpax^cov  fmcnijpiTjvdfuvoc  xal  f&ivToi  xal  xouc  xa^t^jc  dfpxovrdc  xt  »al  (ktoiXdc  tti 
'lopai^X  dv  iic(TOfJi{  dTTopLVYjpiovcuoavTcc  ouTU)C  audic  T^v  dxoXoudfov  T^c  ^vcx^  icp«||M- 
Tt(ac  JTuauvd^aL  S.  40,  8  bis  8.  43  setzt  er  dann  auseinander ,  weshalb  er  die 
Mosaische  Chronologie  befolgt  habe.  Dies  Stück  gehört  also  in  der  Tat  eigent- 
lich zu  Buch  II— y.  —  Auf  die  zuletzt  zitierten  Worte  nimmt  er  Bezug  8.  285, 9: 
xal  Taura  (Uv  ^l  xoaouTov  *  tt^c  hk  irporipac  dxoXoudfac  (i>c  &m9x^fa9a  icdXiv  i^pOE<|NSi|ult. 

2)  Vgl.  aber  in  der  Anmerkung  1  die  Worte  touc  xadeE^c  dfp^ovtdc  tt  «d 
ßaotXttc  Toü  'lopa^X,  welche  das  Ganze  umfassen. 


GeorgH  Monachl  chronicon  ed.  de  Boor  875 

8&Mc  ts  KfldVotavTivov  tbv  e&ae-  B  u  c  h  IX  (S.  489-803) :  Rö- 

ßtotatov  xal  icpAtov  ßaaiXda  tc^v  mische    und    oströmische    Kaiser 

Xptottav&v  Tcal  toöc  xa^eSijc  Scoc  von  Konstantin  bis  Michael  III. 
T0&  ttXeotatoo  Mix^'^jX  otoö  Oeof  (Xoo. 

Daß  Buch  2 — 5  nur  biblische  Oeschichte  enthalten,  ist  an  sich 
klar,  dasselbe  gilt  von  den  Bttchem  6  und  7.  Und  ebenso  bieten 
Buch  8  und  9  in  der  Hauptsache  nur  Christliches,  Märtyrergeschichten 
und  dergleichen.  Als  Probe  mag  der  Inhalt  der  Kapitel  August  bis 
Nero  (S.  293—382)  kurz  angegeben  werden : 

Augustus  (S.  293,20  bis  311, 13):  16  ZeUen  (293,20  bis  294, 14) 
über  Augustus;  alles  andere  handelt  von  der  Geburt  Christi  und 
darauf  bezfiglichem. 

Tiberius  (S.  311, 15  bis  323, 4) :  7  +  22  + 19  Zeilen  (311, 15  bis  21; 
318,21  bis  319,18;  322,  11  bis  323,4)  über  Tiberius;  sonst  Jesu 
Tod  und  damit  zusammenhangendes,  die  Abgarlegende. 

Gaius  (S.  323,  6  bis  326, 17):  26  Zeilen  (323,  6  bis  324,  11) 
über  Gaius;  weiter,  außer  einigen  kleineren  Notizen,  über  Johannes 
den  Täufer. 

Claudius  (S.  326,  19  bis  364,  11):  zwei  Zeilen  (326,  19—21) 
über  Claudius;  sonst,  außer  einigen  kleineren  Notizen,  die  Entstehung 
des  Mönchtums  (Essener,  Therapeuten  u.  s.  w.). 

Nero  (S.  364, 13  bis  382,  9):  16  Zeilen  (381, 19  bis  382,  9)  über 
Nero;  übrigens  weitläuftig  über  Simon  Magus;  sonst  noch  Tod  des 
Petrus,  Paulus,  Jakobus  und  Anfang  des  jüdischen  Krieges. 

Der  im  Mittelalter  nicht  ganz  mit  Unrecht  viel  benutzten  und 
viel  gelesenen,  in  der  Neuzeit  nicht  ganz  mit  Recht  viel  geschmähten 
Chronik  des  Georgios  ist,  obwohl  sie  seit  der  Renaissance  bekannt 
war,  erst  im  Jahre  1859  eine  Ausgabe  zuteil  geworden,  die  des 
rassischen  Gelehrten  E.  de  Muralt. 

An  Eifer  und  gutem  Willen  hat  es  de  Muralt  nicht  gefehlt. 
Nicht  weniger  als  27  Handschriften  hat  er  untersucht  oder  unter- 
suchen lassen;  dabei  ist  er  aber  so  unsystematisch  vorgegangen,  daß 
er  nicht  einmal  die  gleichen  Stücke  in  den  verschiedenen  Hand- 
schriften hat  kollationieren  lassen.  Auf  diese  Manier  würde  er,  auch 
bei  größerer  kritischer  Befähigung  als  er  hatte,  von  der  Beschaffen- 
heit der  handschriftlichen  Ueberlieferung  schwerlich  eine  richtige 
Vorstellung  haben  gewinnen  können.  Daß  man  es  bei  Georgios,  wie 
bei  so  vielen  byzantinischen  Chronisten,  nicht  nur  mit  Abschriften, 
sondern  auch  mit  Rezensionen  des  Textes  zu  tun  hat,  ist  ihm  völlig 
entgangen.  Schreibt  er  doch  in  der  Vorrede  S.  X:  ^Codicum  XXV 
qui  hucusque  innotuerunt  huius  chronographi  variae  lecHanes  nee  plures 


376  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

nec  graviores  sunt  nee  inter  sese  magis  discrepant  quam  ceteris  in 
scriptoribus  saepius  descriptis  evenire  solet,  vel  librariarum  incuria  vd 
eorundem  augendi  et  emendandi  studio,  qui  nunc  lineas  integras  ex 
homoiotdeuto  omittunt  — ,  nunc  glossas  marginales  in  textum  recipiimt. 

Da  er  nun  Überdies  das  Unglttck  gehabt  bat  in  dem  ihm  leicht 
zugänglichen  und  deshalb  als  Basis  genommenen  Codex  Mosquensis 
die  wohl  mit  am  stärksten  interpolierte  Handschrift  seiner  Ausgabe 
zugrunde  zu  legen,  so  hat,  wie  der  neue  Herausgeber  mit  Recht  be- 
merkt, die  Muraltsche  Ausgabe  den  byzantinischen  Studien  nicht  nur 
nicht  genutzt,  sondern  erheblich  geschadet. 

Karl  de  Boor,  dem  schon  mancher  der  byzantinischen  Chronisten 
und  Historiker  eine  zugleich  grundlegende  und  abschließende  Aus- 
gabe verdankt,  wurde  durch  die  Vorarbeiten  für  seinen  Theophanes 
auch  auf  dessen  Ausschreiber  Georgios  geführt,  und  hat  sich,  obgleich 
er  anfänglich  nicht  beabsichtigte  den  Georgios  neu  heranszugebeo, 
nachträglich,  als  ihm  die  Unzulänglichkeit  der  Petersburger  Ausgabe 
immer  deutlicher  geworden  war,  doch  dazu  entschlossen,  sich  auch 
dieser  mühe-  und  entsagungsvollen  Arbeit  zu  unterziehen,  ut  obseurae 
cJiTonographarum  Byzantinorum  historiae  aiiquid  lucis  afferatur  (Praef. 
S.  XII). 

Denn  die  Chronik  des  Georgios  hat  die  Grundlage  gebildet  ffir 
eine  ganze  Reihe  späterer  Kompendien  der  Weltgeschichte,  deren 
Verhältnis  untereinander  und  zu  ihm  endgültig  nur  klargelegt  werden 
kann,  wenn  der  ursprüngliche  Text  des  Georgios  festgestellt  ist 

Dies  getan  zu  haben  ist  das  Verdienst  de  Boors.  Die  27  von 
de  Muralt  ausgewählten  Handschriften  und  etliche  mehr,  welche  znm 
Teil  den  Georgios  allein,  zum  größeren  Teil  aber  die  Chronik  mit 
Fortsetzungen  enthalten,  und  den  Text,  wie  schon  erwähnt,  in  viel- 
fach variierter  Gestalt  bieten,  sind  alle  von  ihm  genau  untersucht 
worden,  und  werden  in  der  Vorrede  ausführlich  und  umständlich  be- 
schrieben und  auf  ihren  Wert  geprüft.  Hätte  auch  meines  Erachtens 
in  dieser  Praefatio  durch  Einteilung  in  Paragraphen,  durch  Lemmata 
am  Rande,  vor  allem  durch  eine  klarere  Disposition,  die  Schärfe  und 
Uebersichtlichkeit  wesentlich  gewinnen  können,  dem  Ergebnis  der 
Untersuchungen  wird  man  sich  in  der  Hauptsache  gerne  anschließen 
wollen. 

In  den  seinem  Text  zugrunde  gelegten  Handschriften  unter- 
scheidet de  Boor  zwei  Familien,  beide  von  einem  verlorenen  Arche- 
typus abgeleitet.  Der  beste  Vertreter  der  ersten  Familie  ist  ein 
Coislinianus  310(A);  außer  diesem  gehören  zu  ihr  nur  der  Parisinus 
1705  (B),  etwa  vqn  S.  419  an,  und  der  Vindobonensis  83  (G)  ffir 
S.  4—237.    Alle  übrigen  Handschriften,  sowie  der  erste  Teil  von  B» 


Georgii  Monachi  chronicon  ed.  de  Boor  877 

der  zweite  von  G  bilden  die  zweite  Familie.  In  der  Regel  verdient 
die  Lesung  der  ersten  Familie  den  Vorzug. 

Es  ist  schwer,  ohne  die  Handschriften  selbst  gesehen  oder  den 
ganzen  Apparat  durchgearbeitet  zu  haben,  über  die  Richtigkeit  dieser 
Einteilung  zu  urteilen,  da  ihre  ausführliche  Begründung  noch  aus- 
steht. Es  ist  aber,  wenn  sie  richtig  sein  sollte,  befremdlich  zu  sehen, 
wie  oft  wo  A  und  6^  voneinander  abweichen,  die  schlechte  Lesart 
von  A  oder  G^  in  einem  oder  mehreren  der  der  zweiten  Familie  zu- 
geteilten Handschriften  vorkommt,  und  umgekehrt  schlechte  Les- 
arten, die  von  einigen  Codices  der  zweiten  Familie,  in  Abweichung 
von  den  übrigen  Handschriften  dieser  Familie,  geboten  werden,  auch 
in  der  ersten  Familie  sich  finden.  Ich  möchte  daher  bezweifeln  ob 
man  sich  bei  dieser  Einteilung  beruhigen  darf.^) 

Uebrigens  hat  diese  Frage  für  die  Texteskonstitution  nur  geringe 
Bedeutung:  die  ursprüngliche  Lesart  des  Georgios  läßt  sich,  da  so 
viele  Zeugen  vorhanden  sind,  fast  immer  mit  annähernder  Sicherheit 
feststellen,  besonders  deshalb,  weil  neben  den  schon  erwähnten,  noch 
ein  sehr  alter  Codex,  in  der  Tat  der  älteste  von  allen,  existiert, 
über  dessen  Eigenart  und  Wert  de  Boor  S.  LXff.  ausführlich  berichtet. 
Es  ist  der  Codex  Coislinianus  305,  von  de  Boor  P  genannt,  saec. 
X/XL«) 

1)  Uebrigens  sagt  de  Boor  S.  LXIT :  constcU  proxime  ,  ,  ab  hoc  (den  ver- 
lorenen Archetypus)  ACDE  abesse y  BFGLBV  mültifariam  esse  räractatos  et 
auetoi. 

2)  Die  Handschrift,  welche  mir  vorgelegen  hat,  ist  von  de  Boor  S.  LX  f.  be- 
schrieben. Es  mag  vieUeicht  nicht  gar''?  ohne  Nutzen  sein  einige  Kleinigkeiten 
der  Beschreibung  hinzuzufügen.  Die  Zeilenzahl  ist  auf  den  verschiedenen  Folien 
ungleichmäßig:  ich  zählte  29.  30.  31.  32.  33.  34.  35.  36.  37  Zeilen.  Das  nach- 
träglich am  Anfang  zugefügte  Stück  beginnt  auf  fol.  1  verso.  Nicht  nach  fol.  43, 
sondern  zwischen  42  und  43  ist  ein  Blatt  ausgeschnitten,  das  dritte  von  Quatemio  ^. 
Der  vor  dem  zweiten  Buch  (S.  43,  13)  freigelassene  Raum  umfaßt  drei  Zeilen. 

Wichtiger  ist  die  Frage  ob  die  Handschrift  am  Ende  vollständig  erhalten  ist. 
De  Boor  läßt  sie  unentschieden :  huius  narrationis  clausulam  cum  ultimum  qua- 
temUmis  folium  contineat  usque  ad  finem  completum ,  incertum  est  utrum  librarius 
hie  scribendi  finem  fecerit,  an  plures  quatemiones  olim  adiecti  hodie  perditi  sint. 
Ich  glaube  aber,  daß  sie  unbedingt  zu  verneinen  ist.  Die  letzten  Zeilen  der 
letzten  Seite  (f.  340^)  sehen  in  der  Handschrift  so  aus : 

80  nctit 

81  liyt  xaxaxf^pcua  pvatxofjiavfa  xai  divSpo 

88  fiav{a  fiETif^vTsa  tua  Iwofxov  ol  d^vofiot  xäo 

88  aiayu^oMpytiao  xal  dxoXaafaa  ^f^youvrar 

So,  mit  hohem  Punkt,  ohne  jedwedes  Zeichen  des  Schlusses  (+  oder  •:•  oder  ähn- 
liches) endet  kein  griechischer  Codex.  Vollständig  ist  die  Handschrift  jedenfalls 
nicht,  da  Georgios  selber  in  der  Vorrede  angibt,  daß  seine  Chronik  bis  Michael  III, 


378  Gott  gel  Ans.  1906.  Nr.  5 

Diese  Handschrift  hat  die  Eigentümlichkeit,  dafi  sie  in  aUge- 
meinen  mit  dem  Archetypus  der  übrigen  übereinstimmt  bis  xom  To4e 
Julians  (S.  548),  von  da  an  aber  so  mannigfach  Ton  diesein  abweicht 
—  in  ihm  Vorhandenes  nicht  hat,  ganze  Studie  einfugt,  andere  Ter- 
schiebt,  in  den  gleichen  Partien  ganz  yerschiedene  Lesartoi  gibt  — , 
daß  unbedingt  anzunehmen  ist,  daß  wir  es  hier  mit  einer  andern 
Rezension  zu  tun  haben. 

Es  fragt  sich,  wie  man  sich  zu  diesem  in  der  ältesten  Hand- 
schrift überlieferten  Text  zu  stellen  hat 

Früher  hat  de  Boor  angenommen,  daß  in  P  eine  Umarbeitang 
der  Chronik  vorliege,  deren  ursprügliche  Gestalt  in  der  Vorlage  der 
sonstigen  Ueberlieferung  bewahrt  sei.  Jetzt  glaubt  er  omgekehrti 
daß  der  in  P  erhaltene  Text  der  ursprüngliche,  der  andere  dagegen 
eine  Bearbeitung  desselben  ist  und  zwar  von  Georgios'  eigener  Hand 
Auch  von  dieser  Meinung  soll  die  ausfuhrliche  Begründung  eist  im 
dritten  Bande  gegeben  werden,  aber  ihre  Hauptstützen  findet  man 
jetzt  schon  in  der  Vorrede. 

Es  sind  die  folgenden: 

a)  Wo  dasselbe  in  P  und  X  vorliegt  (X  nenne  ich  den  Arche- 
typus der  übrigen  Ueberlieferung),  ist  der  Text,  speziell  in  den  Ex- 
zerpten aus  den  kirchlichen  Schriftstellern,  in  P  besser,  dem  Wort- 
laut der  ausgezogenen  Autoren  näher.  Diese  Auszüge  sind  in  der 
ganzen  Chronik  ausführlicher  in  P  als  in  X. 

Böte  X  den  ursprünglichen  Text,  so  müßte  man  annehmen,  daß 
der  Redaktor  von  P  die  öfters  nicht  einmal  namhaft  gemachten 
Quellen  verglichen  und  so  die  bessere  resp.  ausführlichere  Fassung 
der  Exzerpte  hergestellt  hätte.  Es  ist  dies  im  höchsten  Maße  un- 
wahrscheinlich. 

b)  Der  lange  Exkurs  über  den  Götzendienst  der  Griechen 
(S.  58—92),  eine  Exzerptenmasse  aus   Athanasios  und  Theodoret, 

gehe,  während  sie  fol.  340^  mich  dem  Tode  des  Konstantiiios  Kopronymos  abbricht 
AUerdings  wäre  es  möglich  anzunehmen,  der  Schreiber  hätte  zwair  bis  zum  Ende 
weiterschreiben  woUen,  sei  aber  dnrch  irgend  einen  ZnfaU  Terhindert  worden  den 
noch  übrigen  Tefl  hinzozofngen.  Wie  viel  wahrscheinlicher  es  aber  ist,  daa  der 
Codex  wie  vorne,  so  anch  am  Ende  einige  Blätter  verloren  hat,  springt  in  die 
Augen. 

Auf  dem  letzten  Blatt,  das  ich  nachverglich,  fand  ich  folgende  Abweichuiigai 
Ton  den  Angaben  de  Boors: 

S.  721  adn.  Z.  12:  ^m  fx«  sUtt  &m  V  Ijtu 

S.  722  adn.  Z.  15—17:  -rik  %tTa  statt  cic  ta  tea. 

S.  723  adn.  Z.  12 :  SuDpcaiOvoc  statt  ScvpiaHivaK  (rieUdcht  als  orthogn^hiKlMr 
Fehler  nicht  notiert,  wie  de  Boor  auch  in  der  Setzung  oder  Weglaasug  des 
V  i^xuTcaiov  der  Handschrift  nicht  immer  gefolgt  ist). 


Georgii  Monachi  chronicon  ed.  de  Boor  379 

findet  sich  gleichmäßig  in  P  und  X.  P  hat  aber  überdies  noch  ein 
großes  Stück  desselben  Inhaltes  aus  Cyrill  ganz  in  der  Weise  des 
Georgios  exzerpiert.  Es  ist  begreiflich,  sagt  de  Boor,  daß  der 
Redaktor  des  X  die  Cyrillusexzerpte  als  überflüssig  ausgelassen,  nicht 
umgekehrt,  daß  der  Redaktor  des  P  diesen  Ueberschuß  dem  ur- 
sprünglichen Text  zugefügt  hat. 

c)  S.  132, 10  lesen  wir  in  einem  Exzerpt,  wo  von  der  Trübsal 
des  Moses  die  Rede  ist,  diese  Worte :  ob  ifAp  äv,  sl  ji-J]  oyöSpa  a&töv 
ioxÖTo>oe  xai  äx  ßd^pcov  a&toö  t^v  ^^ox^jv  SoTpe^l^ev  6  ti]c  aOi>|jLiac  ixslvoc 
tdpaxoCf  t&c  ^eoYpdfooc  ^Xdxa^  Sppif|)cv  kicb  tddv  x'^^P^'^  ^^^  aov§Tpif|)6V. 
lvvÖ7)oov  a  78  itpöc  TOOTOtc  olov  icop  rJ]v  a&Toö  ^l^ox'Jlv  Ävfj^pe  x.  t.  X. 
Mitten  in  diesem  Passus  hat  X  nach  oovdtpc^psv  die  Worte  äv  alc 
5irf)pXov  767pa{i{idva  taöta  und  darauf  den  ganzen  Dekalog.  Wie  un- 
passend dieses  Einschiebsel  hier  ist,  sieht  man  auf  den  ersten  Blick. 
P  hat  es  nicht,  es  rührt  von  dem  Redaktor  des  X  her. 

d)  In  der  Darstellung  endlich  der  Konzilien  ist  X  ausführlicher 
als  P.  Bietet  P  nur  die  Zahl  der  Bischöfe,  den  Namen  der  Stadt, 
wo  das  Konzil  gehalten  worden  ist,  und  die  Namen  der  Häretiker, 
so  hat  X  daneben  die  Namen  der  Patriarchen,  das  Regierungsjahr 
der  Kaiser,  dann  einen  kürzeren  oder  längeren  Abriß  der  von  dem 
Konzil  verdammten  ketzerischen  Lehre.  Anzunehmen,  daß  diese 
nicht  sehr  großen  Stücke,  welche  einem  der  in  verschiedener  Fassung 
vorhandenen  Bücher  über  die  sieben  Konzilien  entlehnt  zu  sein 
scheinen,  von  P  ausgemerzt  worden  seien,  liegt  gar  keine  Veran- 
lassung vor.  Dagegen  konnte  es  wünschenswert  erscheinen,  die 
mageren  Notizen  von  P  ausführlicher  zu  gestalten. 

Auch  in  dem  späteren  Teil  der  Chronik  ist  das  Verhältnis 
zwischen  P  und  X  analog  und  derartig,  daß  es  für  die  Priorität  von 
P  spricht,  wie  noch  an  einem  Beispiel  illustriert  wird. 

Indes  auch  für  das  umgekehrte  Verhältnis  sind  Argumente  bei- 
zubringen. Diese  Argumente  hatten  de  Boor  früher  bewogen  für  die 
Priorität  von  X  einzutreten.  In  X  sind  verschiedene  Exzerpte  aus 
einer  Epitome  von  Theodorus  Lectors  Kirchengeschichte  besser  über- 
liefert als  in  P;  die  Excerpte  aus  den  andern  kirchlichen  Schrift- 
stellern sind  zwar  in  der  Regel  in  P  dem  ursprünglichen  Wortlaut 
näher,  aber  doch  auch  öfters  in  X,  endlich  sind  in  P  in  diesen  Ex- 
zerpten häufig  auf  sonderbare  Weise  Bibelzitate  eingemischt  worden. 

Diese  Schwierigkeit  glaubt  de  Boor  durch  die  Annahme  lösen  zu 
können,  daß  in  P  der  ursprüngliche  Entwurf  der  Chronik  bewahrt  ist, 
den  Georgios  nachträglich  mit  Randnotizen  versah,  daß  hingegen  X  den 
von  ihm  selbst  revidierten  und  erweiterten  Text  enthält,  der  als  der  end- 
gültige anzusehen  ist.  Er  stützt  sich  für  diese  Hypothese  auch  auf  zwei 


380  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

merkwürdige,  die  eine  ganz,  die  andere  halb  in  den  Text  eingefügte, 
Randnotizen  ^),  welche  sich  in  dem  Coisl.  305  f.  7V  v.  23  nnd  fol.  7V 
V.  24  vorfinden :  1.  icoXXoi  totYapoöv  iroXXdxK;  o«'  avoloc  xal  fucOucayjfa^^ 
f  epöjievot  xal  stts  siel  icXoot(|>  xai  Sovaotsto^  eirs  Isl  (^\)  ocAfiatoc  ettt 

i«'  iXX^j  tivl  ßoTjdeiof  xal  Sv   eic  tö  ßtßXtov  tö  «ateptxöv,  and  2.  fijot 

S^  xal  OscoScopijtoc  ttv^c  (liv  Spaootv  v  elc  tö  jjiaopov  ßißXCov.  Die  Vor- 
lage von  P  qit^i  primam  quandam  et  rudern  chranici,  qnod  scribendum 
sibi  praposuerat  chronographus  ^  descriptionem  continens  wnrde  von 
Georgios  mit  Lesefrüchten,  meist  aus  der  Bibel,  zur  Illustrierang  des 
im  Texte  gesagten  am  Rande  versehen.  Dieses  Exemplar  schrieb 
der  Librarius  von  P  ab,  wobei  die  Randnotizen  von  ihm  in  den  Text 
eingeschoben  wurden. 

Indes  hat  Georgios  selber  rudern  excerptarum  meiern  besser  redi- 
gieren und  eine  zweite  verbesserte  Ausgabe  seiner  Chronik  geben 
wollen.  Inceptum  opus  ita  absolvä^  ut  magnum  eottectaneorum  d 
twtarum  marginalium  numemm  tolleret,  hoc  retractaret,  iUud  adderel. 
In  quo  quod  excerpserat  non  ad  verbum  repraesentavit ,  sed  ut  lümü 
mutavit  vel  eontraxit,  nonnvXlos  denique  fontes  vduti  Theodari  Leetoris 
historiae  ecdesiastieae  epitomam  denuo  inspexit^  alios  ante  neglectos 
adhibuit.    Das  ist  der  Archetypus  von  X. 

Obgleich  mir  de  Boor,  was  den  wichtigsten  Teil  seiner  Hypothese, 
die  Priorität  von  P,  betrifft,  durchaus  im  Rechte  zn  sein  scheint, 
will  es  mir  noch  nicht  einleuchten,  daß  die  Redaktion  des  X  von 
Georgios  selbst  herrühren  soll.  Ist  die  Redaktion  P  in  ihrer  nr- 
sprünglichen  Gestalt  gegenüber  der  Redaktion  X  als  eine  prima  et 
rudis  chronici  descriptio  zu  charakterisieren?  Ist  es  wahrscheinlich, 
daß  Georgios  selbst  den  Wortlaut  der  von  ihm  früher  ausgeschriebenen 
Exzerpte  nachträglich  so  vielfach  änderte?  Ist  es  nicht  sonderbar, 
daß  er  den  Auszug  aus  Cyrillus  erst  gemacht,  nachher  wieder  fort- 
gelassen hat?  Ist  es  glaublich,  daß  er  selbst  den  Dekalog  an  so 
unpassender  Stelle  eingefügt  hat?  Ich  sage  nicht,  daß  dies  anzn- 
nehmen  unmöglich  ist,  aber  dieser  Teil  der  de  Boorschen  Hypothese 
hat  für  mich  etwas  Gekünsteltes,  und  ich  möchte  es  für  wahrschein- 
licher halten,  daß  die  Redaktion  P  von  Georgios  ist,  X  dagegen  die 
Ueberarbeitung  eines  Unbekannten  gibt. 

1)  De  Boor  bemerkt  mit  Recht,  daS  diese  Randnotizen  vom  Schreiber  dei 
Codex  P  aus  seiner  Vorlage  übernommen  sind ,  und  sagt  weiter :  sunt  hae  natae 
scriptoris  cuiusdam  qui,  cum  in  compilando  opere  muUa  ex  müMs  libris  excerptO» 
hie  illie  adnotasst  satis  hahuit  locorum  inäia,  guos  postea  integros  reprauetdart 
animum  induxit. 

2)  So,  wie  S.  170  angegeben  ist,  nicht  fAcXo^x^^^»  ^^  ^-  L^^HI  irrt&mlich 
steht,  liest  P. 


Georgii  Monachi  chromcon  ed.  de  Boor  381 

Uebrigens  ist  auch  diese  Frage  im  Grunde  von  geringer  Be- 
deutung, da  ja  Georgios  uns  eigentlich  ebenso  unbekannt  ist  wie  der 
Redaktor,  der  meiner  Meinung  nach  vorauszusetzen  wäre,  und  die 
Redaktion  X,  auch  wenn  sie  nicht  von  Georgios  selbst  verfaßt  ist, 
doch  seinen  Namen  mit  mehr  Recht  tragen  würde,  wie  den  des 
Redaktors.  Worauf  es  aber  ankam  war  dies:  die  Entscheidung  zu 
treffen,  welche  von  den  beiden  Redaktionen  als  der  Haupttext  zu 
edieren,  welcher  von  beiden  nur  subsidiär  zu  verwenden  war.  Und 
da  hat  de  Boor  ohne  jeden  Zweifel  recht  daran  getan,  sich  für  die 
Redaktion  X  zu  entscheiden,  da  diese  und  nicht  jene  auf  die  spätere 
historische  Literatur  eingewirkt  hat,  und  der  Hauptzweck  der  Aus- 
gabe gerade  dieser  ist,  den  Zusammenhang  der  byzantinischen  Chrono- 
graphie mit  dem  Buche  des  Georgios  erkennen  zu  lassen.  Von  der 
Fassung  P  ist,  so  weit  bis  jetzt  bekannt,  nur  einmal  eine  Stelle 
zitiert  bei  Constantinos  Porphyrogennetos  in  seinem  Werke  de  ad- 
mtmVfr.  imp.  p.  90,  13  Bonn. 

Unter  dem  Text  gibt  de  Boor  in  der  adnotatio  critica  die  haupt- 
sächlichsten Lesarten  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  und  über- 
dies in  einem  besondem  Teil  die  Eigenheiten  von  P.  Die  in  diesem 
gänzlich  abweichenden  Stücke  und  die  größeren  Zusätze  werden  im 
dritten  Band  abgedruckt  werden. 

Die  Recensio  machte,  nachdem  einmal  das  Fundament  gelegt 
war,  keine  Schwierigkeit  mehr:  die  richtige  Lesart  war  in  der  hand- 
schriftlichen Ueberlieferung  leicht  zu  finden.  Von  Emendatio  kann  bei 
einem  Werk  des  9.  Jahrhunderts,  von  welchem  Handschriften  saec.  X/XI 
voriiegen,  kaum  die  Rede  sein. 

Sehr  dankenswert  ist  die  Angabe  der  Quellen,  aus  denen  Georgios 
geschöpft  hat.  Hierin  war  de  Muralt  zwar  vorgegangen,  aber  in 
durchaus  ungenügender  Weise.  Und  wenn  auch  an  ziemlich  vielen 
Stellen  die  Lappen  des  Cento  ihr  Ursprungszeugnis  noch  nicht  be- 
kommen haben,  so  ist  doch  das  größte  Stück  der  Arbeit  geleistet 
und  mit  Recht  darf  de  Boor  für  das  noch  nicht  Ermittelte  die  Hülfe 
der  Theologen  anrufen.  Uebrigens  wäre  es  vielleicht  zweckmäßig 
gewesen,  die  von  Georg  aus  seinen  Quellen  übernommenen  Bibelzitate, 
etwa  durch  Einklammerung  oder  kursiven  Satz,  von  denen  zu  unter- 
scheiden, die  er  selbst  anführt. 

Gerne  hätte  man  unter  dem  Texte  neben  den  Quellennachweisen 
auch  die  Ausschreiber  gefunden.  Statt  aber  von  dem  Herausgeber 
mehr  zu  verlangen ,  als  er  bereits  gegeben  hat  und  dazu  etwas,  was 
er  beim  besten  Willen  kaum  hätte  geben  können,  da  die  Texte  dieser 
Ausschreiber  noch  sehr  im  Argen  liegen,  steht  uns  vielmehr  zu  der 


382  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Ausdruck  des  aufrichtigen  Dankes  für  seine  aufopfernde  Tätigkeit 
und  ein  Wort  der  Freude ,  daß  er  seine  Aufgabe  in  so  Yorzüglicher 
Weise  gelöst  hat. 

Groningen  U.  Ph,  Boissevain 


Proeopü  Caesarlensis  opera  omnia,  recognovit  Jacobus  Haary,  toI.  1,11, 
De  bellis  libri  I— VIU.    Lipsiae,  B.  G.  Teubner,  1905.   LXHI,  552,  678  S.    24  M. 

Die  aus  einer  Preisaufgabe  der  Münchener  Akademie  hervor- 
gegangene Ausgabe  ist  die  erste,  die  von  der  bis  dahin  zum  größten 
Teile  unbekannt  gebliebenen  Ueberlieferung  genauere  Kunde  gibt 
Ueber  die  Handschriften  hatte  der  Herausgeber  bereits  in  den 
Sitzungsberichten  der  genannten  Akademie  (1895)  in  ziemlicher  Aus- 
führlichkeit gehandelt.  Nachdem  dann  der  russische  Gelehrte 
KraSeninnikov  mancherlei  Ausstellungen  gemacht  und  besonders  die 
Vernachlässigung  der  konstantinischen  Exzerpte  gerügt  hatte  (Vizant. 
Vremennik  Bd.  V,  1898),  ist  von  Haury  in  der  Vorrede  zum  ersten 
Bande  ein  kürzerer,  aber  in  vielem  umgearbeiteter  Ueberblick  über 
die  Ueberlieferung  der  Geschichtsbücher  gegeben  worden.  Ehe  ich 
an  die  Prüfung  der  Textunterlagen  herantrete,  muß  ich  eine  kurze 
Anmerkung  über  die  Zeichen  machen.  Gomparetti  (in  der  Ausgabe 
des  Gothenkrieges),  Kraäeninnikov  und  Haury  bezeichnen  ihre  Hand- 
schriften auf  verschiedene  Weise,  der  letzte  hat  sogar  seine  in  dem 
Münchener  Aufsatz  angenommenen  Buchstaben  wieder  etwas  geändert. 
Da  muß  nun  ein  fester  Brauch  gewählt  werden,  und  das  kann  nur 
der  sein,  den  Haury  in  seiner  Ausgabe  befolgt.  Ingleichen  muß  nun 
auch  die  von  ihm  gegebene  Einteilung  der  langen  Kapitel  (er  hätte 
besser  die  ganzen  Bücher  durchlaufend  in  kleine  Abschnitte  zerlegt, 
wie  man  es  jetzt  oft  mit  Vorteil  tut)  maßgebend  werden,  wenngleich 
er  selbst  nach  den  Seiten  und  Zeilen  seiner  Ausgabe  rechnet. 

Es  ist  nun  zunächst  von  den  Prokopauszügen  der  kon- 
stantinischen Sammlung  (e)  zu  reden,  da  sie  einen  festen 
Angelpunkt  für  die  Behandlung  der  vollständigen  Ueberlieferung 
bieten.  Haury  hat  zwei  Handschriften  herangezogen,  den  Monacensis 
267  (M  bei  d.  B.,  H  bei  H.)  und  den  Ambrosianus  N  135  sup.  (A  bei 
d.  B.,  W  bei  H.),  jenen  für  die  Römergesandtschaften,  diesen  für  die 
andern.  Bei  dem  zweiten  Teile  nun  hat  er  sich  in  der  Tat  die  beste 
Ueberlieferung  verschafft,  denn  aus  der  Mailänder  Handschrift  sind 
alle  übrigen  abgeschrieben,  wie  schon  Kraäeninnikov  fand,  aber  erst 
de  Boor  methodisch  erwies  (Berl.  Sitz.-Ber.  1902,  S.  163).  Der  ge- 
hässige Angriff,  den  dann  jener  gegen  diesen  richtete,  indem  er  ihn 


Procopios  rec.  Haury.   I,  II  388 

der  Aneignang  und  Verschweigung  fremder  Verdienste  bezichtigte, 
ein.  Unrecht ,  an  dem  auch  der  teilnimmt ,  der  die  Schmähworte  un- 
besehen und  ohne  die  andere  Seite  zu  berücksichtigen  wiedergibt 
(E.  Kurtz  in  der  Byz.  Zeitschr.  XIII  583) ,  ist  vielen  bekannt  (vgl. 
de  Boors  Abwehr,  Byz.  Zeitschr.  XIV  402—406).  Es  stimmen  aber 
nicht  alle  Angaben,  die  Haury  über  den  Ambrosianus  macht,  mit  dem 
Text  de  Boors  überein,  vgl.  z.  B.  I9s  rjj  iß^Sij  H.,  rj  'AjiiSiQ  B., 
Ibtxpoircov  H.,  Ixpoictov  B. ,  4  ^ivovtat  oov  iv  ijiyotdpotc  X6700C  H.,  — 
Xd^oi  B.,  XCtpac  XP^^Q^^  X^^^^^  H.,  X.  xpoo^oo  x-  B.,  21  jnjxovooji^voo 
H,,  {tTjxovojilvoo  B.,  10  9  Äpoiövtec  too  xp^voo  H.,  icpoiövtoc  t.  x-  B-i 
o&voc  H.,  oowoc  B.,  11  f  IfisXXe  H.,  g{ieXXev  B.,  7  etta  IXaoooftjievot  H., 
efce  B.,  8  xataotiijoaodat  H.,  -eodat  B.,  9  sIotcoitjtöv  H.,  eloTcoiijtov  B., 
16  o«iLV(ü  H.,  06{iV(^  B.  u.  s.  w.  Ein  Teil  der  Verschiedenheiten  mag 
sich  daraus  erklären,  daß  de  Boor  auf  Kleinigkeiten,  wie  zum  Bei- 
spiel das  stumme  Jota ,  wenig  geachtet  hat  (s.  praef.  S.  XX) ,  an 
anderen  Orten  aber  wird  Haury  sich  versehen  haben,  wie  es  sich 
1 11  i  ganz  sicher  feststellen  läßt.  Denn  hier  führt  er  C<&ilt]v  als  Lesart 
des  Ambrosianus  an,  während  es  sich  aus  der  Ausgabe  de  Boors  (S.  490) 
ergibt,  daß  die  betreffende  Stelle  beiseite  gelassen  wurde,  die  Zurecht- 
stutzung der  angrenzenden  Teile  aber  bestätigt  die  Lücke.  So  ist 
denn  die  Leipziger  Ausgabe  in  diesen  Stücken  nicht  frei  von  Fehlern. 

Schlechter  ist  es  um  die  Römergesandtschaften  bestellt,  weil  hier 
eine  solche  Handschrift  von  Haury  benutzt  wurde,  die  unter  denen 
de  Boors  (EVRBMP ;  e  =  de  Boor)  geringen  Wert  hat ,  der  Mona- 
censis.  Ich  gehe  ein  größeres  Stück  durch:  I  21 27  Iltta  x]  aittav  E, 
oCt«  MP,  oitav  B;  22  5  Iv  ic6Xat^  Kaoiciaic  z]  xaoTcCac  y,  xaicoCatc 
e  nach  d.  B.,  xaicoiac  M  nach  H.;  s  inif('{slXE'^  xE]  -eiXev  BMP; 
9  ^eXXsv  xe]  ijnsXev  M  nach  H.;  10  ahxoi  ts  xE]  ahzoi  n  PMB; 
12  ivvoia  xe]  Svva  M;  le  iv  T(|)Se  t(j>  TcoX^iicp  xE]  iv  t^Se  t«^  itoi^in 
mki^if  BMP;  iSdSoxto  xE]  ivSdSoxto  BMP;  19  Siafspdvtox;  i^a^öc  xE] 
i'fa^b^  8iaf  epövTox;  BMP.  Also  hat  überall  dort,  wo  die  beste  Hand- 
schrift (E)  mit  der  vollständigen  Ueberlieferung  (x)  zusammengeht, 
der  andere  Zweig  (BMP)  keinen  Wert  und  führt,  wenn  er  allein  er- 
wähnt wird,  unnötig  in  die  Irre.  Während  des  Druckes  der  Leipziger 
Ausgabe  erschien  die  de  Boors  (s.  Band  I ,  S.  LIII) ,  gleichwohl  hat 
Haury  von  einer  Vergleichung  der  nun  bequem  vorgelegten,  voll- 
ständigeren Ueberlieferung  abgesehen. 

Er  gibt  ferner  keine  Kunde  davon,  obwohl  er  es  bei  EraSeninnikov 
hätte  finden  können,  daß  Prokop  auch  noch  für  andere  Abteilungen 
der  konstantinischen  Sammlungen  ausgezogen  wurde.  Zwar  sind  in 
den  nur  zum  Teile  erhaltenen  Auszügen  üspl  licißooXdöv  xata  ßaotXIcov 
yt^ovotAv  (jetzt  von  de  Boor  herausgegeben,  Berlin  1905)  und  Utpl 


384  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

aperäv  (hier  bediene  ich  mich  einer  freundlichen  Mitteilung  desselben 
Gelehrten)  die  Prokopstücke  verloren  gegangen,  aber  in  Ilepl  ^yt^my 
liegen  sie  noch  zu  einem  beträchtlichen  Teile  vor.  Durch  die  große 
Güte  des  Bearbeiters,  U.  Ph.  Boissevains,  besitze  ich  eine  genaue, 
nach  der  Bonner  Ausgabe  angefertigte  Uebersicht  über  die  Lesarten 
des  Vatikanischen  Palimpsestes  (Vat.  gr.  73),  in  dem  schon  Mai 
(Script,  vet.  nov.  coli.  II  464)  den  Prokop  angezeigt  hatte.  Nur  der 
mittlere  Teil  des  den  Prokop  enthaltenden  Abschnittes  ist  erhalten 
(in  der  Hs.  S.  117f.,  153  f.,  165 f.,  199 f.,  225 f.,  335 f.),  er  umfaßt  Bell. 
III  10 12  (lici']fsvo]|idv7)  icdvia  xaXbicrsi  tot  zob  9coX^{ioo  icddi],  Ende  eines 
Stückes)  —  VII  2521  (icXfjdoc  8^  ävapxov  £XXo)c  ts  xal  töv  ivapuilmv 
OÄOoicaviCov  ivSpa^a^iCeo^ai  rpLiaxa  [ic^oxev).  Die  Blätter  haben  die 
langwierige,  mühsame  Entzifferung  besonders  durch  einen  glücklichen 
Gewinn  belohnt.  VII  25 16  liest  Haury  nach  yz  paiov  ^ap  ol  ^aocic 
sStoXiioi  xdxXTjvtai  r^  ol  icpo{i7]deic  äafpoLksX^.  6  {liv  ^ap  icapa  t&  xa^- 
oxmoL  ToX{iii^oac  ivvolai  too  Soxoövto^  Spaoryjpioo  T6tC{iT]Tat,  6  8k  icpo- 
{iiQ^et  fvwjiTji  iÄ0Xvii5^a<;  töv  xivSovov  iicotoxwv  ts  rJ)v  altCav  imcncäxai 
ToÄv  £o{i9Ci9CTÖVTa>v  xttl  icpd^a^  xata  voöv  o&S^v  s&tbc  toic  7^  &|fcadioiv 
Ip^doaodai  Soxei.  Man  merkt  leicht,  daß  hier  etwas  fehlen  müsse, 
denn  ein  sorgfältiger  Stilist  wie  Prokop  hätte  die  überschießenden  Teile 
der  zweiten  Hälfte  nicht  ohne  Gegenstück  gelassen.  Und  nun  sehreibt 
der  Palimpsest:  6  {i^v  ^ap  icapa  ra  xadeotcoTa  toX{iii^aac  e&7)iL8pcbv  fe  (1.  t«) 
t^v  inb  TOD  gp7oo  Söfav  (pdperai  £6(i7caaav  (dies  Wort  hat  Boissevain 
zuerst  vermutet,  dann  aber  später  ganz  sicher  gelesen)  xal  a^oXelc  6&vo(ai 
TOO  SoxouvToc  Spaoryjpioo  ieTi{iY]Tai.  Nun  ist  das  Gleichgewicht  wieder 
hergestellt,  und  auch  die  Quelle  des  Verderbnisses  ist  offenbar:  der 
Schreiber  war  von  s&ir]{i6p(öv  zu  e&voCai  übergesprungen,  dann  wurde 
auch  dies  noch  entstellt.  Aus  dem  übrigen,  das  der  Vaticanus  bietet, 
greife  ich  folgendes  heraus.  III  21  u  hat  Haury  ox;  xh  ^d^^  Siģst 
Tb  ßfjTa,  xal  icAXiv  ahzb  ßfjTa  (so  zP,  a&Toic  0)  im^i  xb  7^(141^  und 
teilt  als  Vermutung  Christs  ndXiy  ao[Tb]  ß.  mit.  Aber  hier  liegt  wohl 
ein  Mißverständnis  vor,  da  der  Artikel  gar  nicht  entbehrt  werden 
kann;  auch  der  Vaticanus  (e)  hat  a&Tö,  also,  wie  schon  Boissevain 
richtig  sah,  ao  x6.  Ein  größeres  Stück  ist  in  III  22i-i2  ausgezogen, 
doch  ohne  neues  zu  bringen,  nur  daß  n  die  Umstellung  imnii^mothLi 
&icpdxTooc  mit  0  und  e  vorzunehmen  ist.  IV  1 17  ergänzt  e  alox6vi] 
Yap  Toic  TS  voöv  Sx^^^^  ^^  <oäö>  oyöv  aÖTwv  f^oodtodat.  hs  wird  eine 
Vermutung  Haurys  (a&TÖv  statt  ahxm)  bestätigt.  1622  aS  8k  irpd^stc 
.  .  ^[Xooc,  äv  ooTCö  xbxoii  t)  icoXejitooc  <^«>  iXXnj^ooc  äoioöoiv  (iXXi^Xooc 
y,  was  nun  durch  e  ergänzt  wird,  olXXh^Xok;  z,  eine  falsche  Verbesserung 
des  Fehlers).  V  10  «i  wird  ebenso  ein  Notbehelf  der  Abschreiber  auf- 
gedeckt: 6iTa  el  |iiv  (pnb)  toic  ßapßdpoic  iifeTÖvsi  TdiicpdY(iaTa  (6&  i^f - 


Procopius  rec  Haury.    I,  JI  385 

fövety,  aber  ifSY^vei  in  z  bestätigt  den  Ausfall  von  bn6).  1621  1.  mit 
e  xp'^oeo^at,  das  dem  folgenden  iJieveiv  entspricht.  VI  3 17  ist  aus  e 
icdvtcov  ifap  elxÖTCdc  avtapöxaTO?  eivat  80X61  jiTfjxovöjievoc  tote  o6x  e&f  pai- 
vo(iivoic  6  ßCoc  zu  lesen  (o&x  so  fspoiidvoi^  x).  3  26  ist  das  ebne  Be- 
ziehung stehende  oTad(La>(Lsvoc  durch  0Tad{ia>{idv7)t  (aTad(Loo|jLdvT]  e)  zu 
ersetzen.  625  wird  durch  eine  überzeugende  Lesart  von  e  die  Ueber- 
lieferungsgescbichte  aufgehellt:  man  lese  nach  e  oifiai  Sk  g-foi^s  tbv 
t6  ßiaad(Levov  xal  8^  £v  za  too  icdXac  Ixoooico^  (dies  fehlt  in  e,  ist 
aber  nicht  zu  entbehren)  {i-i]  &9co8i8üi)i  Iv  Ibcoi  sivat  (ibov  73  elvai  z,  tbv 
a&töv  ixiov  7e  etvai  y,  worin  £K<a)N  aus  QG^\  entstand,  dann  durch 
das  ans  dem  Inhalt  sich  ergebende  rbv  a&röv  verbessert,  aber  irrtüm- 
lich daneben  weitergeführt  wurde,  während  z  kürzer  toov  schrieb). 
18  2  1.  Sstvfidc  mit  e  (86ivöv  x).  18  5  wird  wieder  eine  Verbesserung 
Haurys  bestätigt:  icoXXcoi  a{isivot>c  (oov)  tote  ipxoooiv  S(|^eadai.  I816 
entspricht  8det  8i  tb  Xoiicbv  xal  7povti8t  icoXX^i  nicht  dem  folgenden 
irdvoc  8^  4&V  |jLspC{jivir]i  und  (isX^ry],  man  lese  also  mit  e  i^  Sk  tb  XoiTcbv 
f povtlSi  icoXXfji  (äv  9povt.  e,  aber  äv  entstand  aus  ON  von  Xoiicöv  durch 
Doppelschreibung).  29si  gibt  e  eine  richtige  Umstellung  und  Er- 
gänzung :  äii6i8')]  Sicavtac  inl  tt}^  ic6X7)c  (so  besser  statt  TcöXecdc)  xadi]- 
|iivooc  8180V,  (5c  t6>  ti  Tcpöowita  twv  avSpwv  icätoat  iicdAtoov  xal  taic 
X^palv  xtX.  Vn  48  1.  mit  e  xatafp6vir]|jLd  ttocv  oh%  h  8dovTi  i^YeveSiievov, 
vgl.  J^Y'^^P-svov  y.  4  4  hat  e  töxt]  7 ap  ic  iitö'fvwotv  a^a^wv  iXic[8a>v  i^ 
6&toX{iiac  ifopfi'^v  (o^spßoX-Jiv  x)  iceptiaiatai ,  woraus  ich  unter  Be- 
nutzung der  Besserung  Haurys ,  der  nach  iXici8Q>v  das  Wort  iX^ooaa 
einsetzt,  folgenden  Text  gewinne :  —  iX^i8o)v  io^eXdaaaa  Ic)  shzok\Lia^ 
iufop\ii{^  icspiiotatac  (daß  die  toxt]  zu  einer  s&toX(Lia<;  oicspßoXi^  um- 
schlägt, ist  falsch  gesagt,  da  tox?]  und  s^ToXfiia  sich  nicht  entsprechen). 
820  wird  abermals  die  Verderbnis  der  handschriftlichen  Ueberlieferung 
und  die  falsche  Verbesserung  aufgedeckt:  -^v  (dies  fehlt  in  e  irrtüm- 
lich) fjjiiv  xat '  apxa^  toöSe  toö  7coX^|ioo  .  .  Tcdvia  Soa  Iv  fs  'ItaXtcotatc 
^Xopd^iiatd  iotiv,  sX  tcoc  xal  taura  o^x  axpeia  icavidicaoiv  slvai  8oxel  roic 
ic  fföX8|i.ov  xadiata|i^voic  i^68ia  (ootco  xal  tauia  oh%  axpsia  z,  xal 
taöta  Y«?  0^^  axpeta  y  Haury).  Ebenso  13 10  xal  jtoi  SSofisv  t)  BsXt- 
o^lptov  iXdadai  ta  x^-P^'  ^^^'^  XP^^  '^^''^^  Twjialotc  ^svdodat  xaxd^c*  t^ 
ßeßooXsöo^ai  |iiv  a&tbv  ta  ßeXticd,  l[i7Cö8tov  85  0&6'  &^  zm  dsÄt  ^sfo- 
vlvai,  wo  068'  2)<;  sehr  am  Platze  ist,  da  doch  auch  die  andre  Mög- 
lichkeit auf  den  Ratschluß  Gottes  zurückgeführt  wird,  man  ändere 
nur  i{i9cö8iov  in  ivdöiicov  (ä{iicö8iov  8i  xal  &<;  y,  liiicö8iov  ii  z);  auch 
ist  bald  hernach  ]3i6  die  von  e  bestätigte  Stellung  äiicaviidoei  o&86v 
ans  y  aufzunehmen  und  n  e&ßooXla  ({i^v)  o&8aiif2  mit  e  zu  lesen. 
20  28  hat  e  taÖTKji  ts  statt  icavtC  ts  tp6ico)c  (so  y),  was  in  Verbindung 
mit  icavtl   te   (z)  auf  9cdvnr]i  ts   hinweist.    25 19  liest  e  tb  Iv  o&Sevl 


386  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

o^pdXXeo^t  ^00  {i6vov  TScov  7^cto,  worans  sieb  die  Bestätiguog  der 
Lesart  von  y  ergibt :  .  .  o^dXXeodat  )y)6va>c  d«oö  äv  {lövoo  l8iov  f  ivato. 

Es  erübrigt  noch,  das  Verhältnis  zd  berühren,  in  dem  die  Aus- 
züge zu  den  beiden  Hauptzweigen  (yz)  der  vollständigen  Ueberliefernng 
(x)  stehen.  Wenn,  wie  es  ganz  gewiß  ist,  e  nicht  auf  x  zurückgeht,  so 
muß  ey  gegen  z  und  ez  gegen  y  die  Ueberliefernng  ergeben.  Dieser 
Satz  wird  durch  einige  Ausnahmen  nicht  erschüttert,  vgl.  z.B.  Illio 
8c  St]  ahxm  xal  r^v  ßaotXecav  IxS^^eodai  iiciioio^  ipf  G]  IxS^faadat  ze, 
kxSiyBabaLi  P ;  1 1 28  ootüo  toCvov  too?  icpdoßeic  'loootfvoc  ßaoiXe&c  i«- 
^^|i.4)ato  .  .  7pd{i{iaai  te  KaßA8T)v  xata  taotö  -^(teC^^ato  zG]  xati  taöt« 
Pe ;  1 1 26  Sicpaooov,  2ica>c  ta  .  .  Scd^opa  StaXooooot  z]  X&ooom  QSuid., 
SiaXboa>oi  P,  ^oaxjtv  e;  V  10  43  olc  8^  eßvoiav  .  .  JvstSCCst^  y]  81'  eSvocücv 
ze  (Ilepl  YV«)|i.Äv);  VI  18  4  twt  twv  iicoppi^tflov  ßaotXsi  xotvcovoovti  y]  tÄv 
&.  ß.  X.  ze  (Tl.  Y.);  5  ßooXo{idv(oi  8d  ot  y]  ßooXo|iiva>i  ol  z,  ßooXojUvtti 
e  (ü.  7.).  Denn  man  muß  erwägen,  daß  nicht  selten  auch  die  Ab- 
schreiber etwas  richtig  verbessern  können  und  femer,  daß  in  der 
Urhandschrift,  auf  die  x  und  e  zurückgehen,  durch  eine  Verbessemog 
die  Ueberliefernng  undeutlich  geworden  sein  kann,  so  daß  auch  die 
Fortpflanzung  nicht  einheitlich  wurde.  Um  ein  Beispiel  zu  geben, 
so  kann  VI  18*  TOON  mit  darübergeschriebenem  T<ü>l  in  der  Urhand- 
schrift gestanden  haben.  Diese  Schreibung  übernahm  auch  x,  worauf 
z  das  TW|  fallen  ließ,  da  TCON  besser  zu  passen  schien,  während  y 
richtig  erkannte,  daß  TO)!  nicht  verbessern,  sondern  ergänzen  sollte, 
e  hingegen  wählt  wiederum  die  andere  Auflösung.  Auch  Lesarten, 
die  am  Rande  standen,  konnten  zu  einer  falschen  Uebereinstimmung 
von  ye  oder  ze  führen,  der  rein  orthographischen  Abweichungen,  die 
nichts  beweisen  (vgl.  VIO48),  ganz  zu  geschweigen.  Immer  handelt 
es  sich  um  unbedeutende  Dinge,  und  so  bleibt  in  der  Hauptsache 
der  schon  von  Haury  erkannte  und  recht  angewendete  Grundsatz 
bestehen. 

Die  nächste  Untersuchung  gilt  den  Stücken,  die  Suidas  (S) 
aus  Prokop  ausgezogen  hat.  Die  Wiedergabe  seiner  Lesarten  ist 
nicht  ganz  genau ,  indem  manchmal  bei  einem  Zwiespalt  zwischen  J 
und  z  die  Lesart  von  £  fehlt,  meist  auch  der  kritische  Apparat 
Bemhardys,  dessen  man  in  Ermangelung  eines  besseren  nicht  eat- 
raten  kann,  nicht  eingesehen  wird.  Ich  ziehe  aus  dem  großen  Stück 
unt.  'A{iaXaoobvda  (V  23-12)  einige  Auslassungen  und  Fehler  zum 
Vergleiche  heran:  25  t'fjv  Ic  Ixelvooc  aSixCav  zl  (AB,  das  ist  die  beste 
Ueberliefernng)]  t.  IxeCvwv  i8.  y  und  die  Vulgata  von  S;  8  t1}c  T^>] 
ti]i  fdp  y£;  n  ohSi  iji  6o(i^^p6t  töv  ßadtXda  TcaiSeösa^t  z]  o&8iti  ttv 
ß.  i.  K.  y,  o6846i  töv  ßaoi  TcaiSdodai  SA,  ohBk  ot  töv  ßaoiXSa  taiStbtota 
£  VHlgo;   12  8i8aoxaX{ac  z£  vulgo]  -Xiav  £A,  X(a  y;   n  ip^i^nnoi  jC 


Procopius  rec.  Haary.  I.   II  387 

vulgo]  -ooKst  z£A.  Daraus  ist  von  Wichtigkeit,  daß  £  durch  ti^i  fop 
•  io  einem  kleinen  Fehler  mit  y  übereinstimmt,  ferner  n  durch  OYA€€l 
statt  0YA6H  (ebenfalls  itazistische  Verschreibung)  und  daß  es  end- 
lich 12  mit  y  den  Singular  bezeugt,  den  man  in  den  Text  setze, 
w&hrend  an  anderen,  schon  von  Haury  erwähnten  Stellen  £  mit  z 
gegen  y  das  Richtige  zeigt.  Kleine  Fehler,  die  £  mit  einem  der 
beiden  Zweige  teilt,  sind  z.  B.  auch  I II12  oSte  — -  oSie  ti  y]  oKte  — 
Mi  u  z£,  VI27  Sovtescoc  t6  y]  i>  ts  ^dp  z£,  29  tb  ii  ^PX'Q^  ^1  ^^ 
ipxtjc  y£i  und  man  macht  somit  die  nämliche  Beobachtung,  die 
schon  vorhin  aus  den  konstantinischen  Auszügen  gewonnen  wurde, 
dafi  die  außenstehende  Ueberlieferung  mit  y  oder  z  vereint  im  all- 
gemeinen die  Ueberlieferung  ergibt,  in  Kleinigkeiten  aber  hin  und 
wieder  fehlgeht. 

Das  Verhältnis  von  £  zu  e  wird  verschieden  beurteilt.  KraSe- 
ninnikov  läßt  £  und  e  unabhängig,  wie  auch  x,  aus  einer  Urhand- 
schrift  gewonnen  sein,  nach  de  Boor  hingegen  ist  £  aus  e  abgeleitet 
Nui  ist  für  diese  Frage  I  lln  herangezogen  worden:  xp^|id^a>v  Sta- 
favöc  iSttpötatoc  (vgl.  Thuk.  II  658  xp'^lP'^'^^v  ts  Sia^ avwc  dScbpötaioc 
YCmS^lsvoc)  yz  £  vulgo]  yiptiifAza^'^  Sia^avAdv  iScüpötaroc  £A,  xpijiidtcov 
Sutfov^  iSo^ötatoc  e.  Es  ist  gar  nicht  nötig,  mit  de  Boor  anzu- 
ndunen,  daß  Suidas  hier  nicht  aus  Ilepl  icpsaßsicdv,  sondern  aus  Ilepl 
äpetAv  auszog,  denn  &So£ötatoc  ist  gewiß  erst  ein  späterer  Schreiber- 
fehler,  im  übrigen  aber  stimmt  die  gute  Ueberlieferung  von  £  mit  e 
in  einem  auffiUligen  Fehler  überein.  Die  Abhängigkeit  wird  aber 
noch  mehr  durch  Il4ii  bewiesen:  i^vlxa  Xoopöoo  9coXe{i7)oeCovtO(;  'loo- 
otivtavöc  ßoioiXe&c  ijo^sto  yz]  Xoopöoo  8k  Jt.  a>c  ^o^sto  'loootiviavöc  e£, 
wo  der  Verfertiger  der  Auszüge  eine  etwas  gefälligere  Fassung  ge- 
wählt hat.  Femer  durch  VI  28?  ^vovtec  8k  ol  4>pdn<AV  ipxovtec  ta 
«Oio6|Uva  irpooicoisio^aC  ts  d]V  ^ItaXiav  i^^Xovtec  yz]  Sti  yvövtsc  ol 
^pirffmv  Spxovtec  ta  icoto&{i6va,  a>c  BsXiodpcov  s&toxeiv,  ic.  t.  t.  'I.  i. 
e,  Tfvdvtec  ol  ^pA^Y^^  ^C  BeXiodptoc  eötoxei,  ic,  t.  t.  'I.  i.  £,  wo  die 
Besetzung  von  ta  icoio&iteva  durch  (Sx;  BeXtadpio;  e&toxsi  wieder  den 
Enerptor  verrät.  VI  2824  xal  BiidXiov  (tiv  h  BsvetCooc  lövta  . . .  i^d- 
7i9dat  ...  ixiXeoev  yze  (E  und  B  nach  der  Verbesserung,  PM)] 
Umoc  6  (E  und  B  vor  der  Verbess.)  £  zeigt,  daß  ehedem  in  einer  Hand- 
Behrift  der  Exzerpte  die  Lesung  lövtac  war,  deren  Verbesserung  sich 
Ifar  cto  denkenden  Abschreiber  sofort  ergab.  Es  wäre  weiter  sehr 
renmnderlich,  daß  Suidas  unter  ""AXicsiov  (aus  VI  2828)  den  wichtigen 
ZuaCx  Prokops  Soicep  ""AXiceK;  Kot>t(a<;  nLokobai  Ta>(Laroi  ausgelassen 
lOtte,  wenn  er  nicht  aus  begreiflichen  Gründen  in  e  fehlte.  Sehr  be- 
lehreod  ist  wieder  VI  294  si  (tu)  tc<;  ahzby  i&i-q  icapbv  o&Sevl  ic6va>t  tö 
ti  «pdcoc  toD  fcoX^pioo  icavtöc  f  dpeo^ai  y  z]  el  {ii^  ti^  a&iöv  vscov  (so  AV, 
t^  die  YolgaU)  «opöv  £,  si  (t'!)  ttg  a&t6v  ixioti]  icapöv  e,  denn  man 
em.  fri.  iB.  IMS.  ii.  s  27 


388  Gott.  gel.  Änz.  1906.  Nr.  6 

sieht  daraus,  daß  in  der  Urhandschrift  von  e  £CdH  in  €G)N  Terderbt 
war,  was  sich  in  der  guten  Ueberlieferung  von  £  ziemlich  erhielt 
(die  Vulgata  ist  hier  wie  an  manchen  anderen  Stellen  aus  Prokop 
interpoliert),  während  ein  späterer  Abschreiber  von  e,  um  ein  rich- 
tiges Satzgefüge  herzustellen,  iniozri  einsetzte.  So  geht  es  fort. 
Sehr  oft  treten  e  S  gegen  x  auf,  wo  sie  aber  bei  einer  Spaltung  von 
yz  auch  selbst  auseinandergehen  und  teils  zu  y,  teils  zu  z  stehen, 
wie  I2O9  (Zitiü^  ...  91011^00)01  y£,  xocu^ooooi  ze),  handelt  es  sich  tun 
geringfügige  Dinge. 

Weder  Haury  noch  Erageninnikov  haben  sich  des  Photios  (^) 
erinnert,  der  cod.  63  die  acht  Geschichtsbücher  beschreibt  Es 
folgen  ziemlich  umfängliche  Auszüge  aus  den  beiden  Büchern  der 
Perserkriege,  und  Photios  hatte  wohl  die  Absicht,  das  ganze  Werk 
in  seinem  Hauptinhalt  mitzuteilen,  aber  mit  dem  19.  Kapitel  des 
zweiten  Buches  bricht  er  ab,  nachdem  er  schon  vorher  einige  Lacken 
gelassen  hatte  (116,19—20,119).  Da  Photios  vor  der  konstantini- 
schen  Sammlung  liegt  (die  Bibliothek  ist  im  Jahre  857  geschrieben, 
vgl.  G.  Wentzel,  Die  griechische  üebersetzung  der  Viri  illustres  des 
Hieronymus  S.  57),  so  stellt  seine  Handschrift  die  älteste  von  denen  dar, 
die  wir  genauer  erkennen  können.  Man  wird  nun  zunächst  darnach 
fragen,  wie  sich  <>  zu  x  und  e  stellt:  I2i2  töv  lijc  Sco  (ycparff(6^  x] 
T.  ti)<;  l(«)ta(;  otp.  4>e,  9«*  'AoicsßÄSoo  yG]  'AoiceoÄSoo  4>e,  IO9  Oowoc 
jjL^v  fdvoi;  x]  Oowoc  {täv  zh  ^dvoc  4>e,  ii  tote  ic6Xac  So^ev  x^]  fa^e 
tac  TcoXac  e,  11 10  ixSdfaodat  ^e]  -eodai  G,  i%iiyto^^i  y,  25  Ms- 
ßöSY]<;  y  e  nach  de  Boor  (aber  (leoöSiQc  si  e)]  ßeßöSTjc  G ,  |uß<il8t]c  e 
(nach  Haury  aus  dem  Monac),  ßsöSijc  ^  (ßecbS-yjc  die  Vulgata  von  $), 
22i8  4>apA7Ytov  x4>]  OaXd^Tiov  e,  BäXov  y],  BöXcov  4>e,  BöXov  z,  11  10m 
{i7)8dv  y  Oe]  |iY]8d  z.  Es  zeigt  sich  also,  daß  4>  und  e  einander  recht  nahe 
stehen  und  wenn  einer  gar  behauptete,  e  sei  aus  der  Vorlage  von  $ 
geflossen,  so  ließe  sich  nichts  entgegnen,  denn  ^^aXd^fiov  ist  ein  leicht 
erklärlicher  Schreibfehler  und  auch  die  Umstellung  Soxs  tac  «6Xac 
beweist  nichts.  Doch  ist  diese  Frage  bei  der  Spärlichkeit  der  ein- 
schlägigen Stellen  nicht  von  großer  Bedeutung.  Aber  wichtiger  ist 
wieder  die  Vergleichung  mit  yz:  18*  Ta>|iaiot(;  z4>]  ToijiaCooc  y,  lOi 
T(üv  üspoapiisvUov  xaXot>(L§vo)y  z]  xaX.  om.  y4^,  *AXßavo&c  te  xallßijpac 
y]  TS  om.  z4>,  4  aSnj  Si  z]  aSn]  te  y4>,  icXiijv  y«  S^  5ti  yO]  äXiJv  ft 
S-fi  z,  Ttva  xetpoÄofiQtov  «oXtSa  y  0]  ...  TcokdSa,  z,  7  4c  ti  Hepcdv  tt 
xal  Ta)[iai(i)v  ^dt]  z]  te  om.  y4>,  axpat(pvdoi  te  tolc  tiwcotc  z]  tt  om. 
y4>,  oloTcep  z]  olTcsp  y4>,  to6c  'IßTjptooc  2potK  y]  t.  'IßTjptac  8.  O,  t, 
'Ißnjpooc  2.  z,  18  JäsiStj  Vy]  ^^^^  CrO,  frjfdvovTo  a^tSi  ...  at  oicovSal  z] 
a&Töt  om.  yO,  ^x^pdv  z]  4x-  ^»  ^C-  7»  12?  1^  7^)«  ti)c  Tcojtatwv  iox^ti] 
eoTtv  z4>]  ^)  Y-  Tjjc  4c  'P.  4.  4.  y,  t«  töts  S-J)  aköt  g&pißooXoc  i^i^ 
z$]  t.  8.  a&toö  €•  i^ip.  y,   15i  t6  8^  otp&tsoita  to6to  IIfpoo(p{itvh»y  tt 


Procopios  rec.  Hacu^.  I.  11  889 

xfltl  £ot)vit&v  ^oav  y V]  ...  -JJv  G4>,  22i8  ta  AaCixfjc  ypoftpia  yG]  ... 
X<op^  V,  . . .  8pta  4>,  OÖX  if  avfj  SvSpa  z  4>]  SvSpa  oix  iy.  y,  23$  Soooc 
tcAV  iz*  ahzm  ßsßooXsoitdvcov  t)  £p£ai  iq  (letaXa^slv  tpöTccoi  S-)]  Stcoi  T6t6- 
X>]X6v  y6]  {letaoxeiv  V,  (LetaoxövTflov  Ö.  Läßt  man  die  Auslassungen 
fort,  die  darum  nichts  beweisen  dürfen,  weil  doch  in  ^  sehr  stark 
gekürzt  ist,  so  geht  ^  sechsmal  mit  y  gegen  z,  dreimal  mit  z  gejgen 
y,  außerdem  noch  einmal  an  einer  lehrreichen  Stelle  mit  V  gegen 
yG  (1236).  Nun  wird  man  folgende  Wahl  vorschlagen:  entweder  ist 
Oy  (oder  $z)  die  üeberlieferung ,  das  andere  aber  spätere  Ver- 
mutung, oder  aber  es  bestanden  schon  zur  Zeit  des  Photios  zwei 
Aeste  der  erhaltenen  Prokopüberiieferung.  Im  letzteren  Falle  würde  ^ 
mit  y  zusammengestellt  werden  können  und  das  wäre  nichts  unmögliches, 
denn  I84  und  12?  (ic  T.)  liegen  in  y  Schreibfehler  vor,  I22i8  zeigt 
eine  Veränderung  der  Wortstellung  am  Satzende,  wie  sie  in  y  öfter 
beobachtet  wird  und  236  ließe  sich  dadurch  erklären,  daß  V  und  ^ 
in  gleicher  Weise  zu  dem  sehr  nahe  liegenden  (istaoxstv  überge- 
sprungen sind. 

Wie  man  aber  auch  urteilen  mag,  so  verdient  doch  Photios  in 
jedem  Falle  eine  aufmerksame  Beachtung,  wobei  man  jedoch  auch 
dies  in  Betracht  ziehe,  daß  Photios  beim  Kürzen  mitunter  sogar  pro- 
kopische  Ausdrücke  gebraucht,  da  sie  ihm  doch  geläufig  waren. 
Kleine  Besserungen  ergeben  sich  hin  und  wieder,  so  ?evtai  1 10?  für 
das  blassere  laai,  das  aus  dem  vorhergehenden  Icooi  genommen  ist. 
An  zwei  Stellen  finden  sich  wichtige  Zusätze,  näiJulich  I3i  üepöCiQC 
6  Hepafi^v  ßaoiXeoc  'loSi^dpSYjv  £XXov  töv  O&apapdvoo  icalSa 
SiaSe^^lievoc  irpbc  tb  Ot>vvo)v  ...  S^og  ...  9cöXs(lov  ...  Steeps  und 
I4i2  (üepöC'vic)  Sie^ddpT]  td^poc^  ti3l  xal  Si(opo£i  9cepiir8od)v  8i£0X60- 
ao(iivotC9  titaptov  8h  xal  elxootöv  tf^c  ßaotXsiac  a6toö  IXa&- 
vwv  ivtaotöv.  Sie  sind  indessen  nicht  ohne  weiteres  in  den  Prokop- 
text  aufzunehmen,  da  sie  auch  aus  Randbemerkungen  stammen  können. 
Hier  muß  noch  die  Sachforschung  entscheiden. 

Wenn  man  von  Suidas  absieht,  sind  die  Zeugnisse  der  Lexiko- 
graphen und  Grammatiker  nur  gering.  Ohne  Bedeutung  sind 
diejenigen,  die  aus  Suidas  schöpfen,  nämlich  Zonaras,  bei  dem  unter 
iic(8ooiv  fälschlich  Prokop  angeführt  wird  (der  Fehler  entstand  aus 
dem  Worte  icpoxom^  des  Suidas)  und  das  Lexikon  Vindobonense. 
Nicht  einmal  als  Ausschreiber  des  Suidas  hat  Schol.  Aristoph.  Acharn. 
519  (s. Ill 818)  Wert,  da  es  sich,  was  Haury  entgangen  ist,  um  einen 
Zusatz  aus  humanistischer  Zeit  handelt.  Aus  ziemlich  früher  Zeit 
stammen  die  Auszüge,  die  der  Verfasser  des  AlfKoSeiv-Lexikons  machte 
und  von  denen  einiges  in  die  beiden  Hauptetymologika  wanderte. 
Darüber  hat  de  Stefani,  der  dies  entdeckte  (vgl.  Byz.  Zeitschr.  XIV  639), 
elQe  eindringliche  Uiitersuehung  in  Aussicht  gestellt;  wer  etwa  von 

27* 


890  Gott  gd.  Anz.  1906.  Nr.  5 

dem  cod.  Darmstad.  2773,  der  die  Hauptmasse  enthält,  eine  Nach- 
prüfung wünscht,  wird  gut  tun,  sich  an  Herrn  Bibliothekar  Dr.  L. 
Yoltz  in  Darmstadt  zu  wenden.  Aus  der  Einleitung  der  Geschichta- 
werke  hat  sich  Eustathios  eine  Angabe  über  das  Bogenschießen  (I  li^) 
gemerkt  und  zweimal  erwähnt  (zu  A  118  und  zu  9  33);  die  merk* 
würdige  Titelangabe  Iv  toic  Aißoxoic  beweist,  daß  der  Bischof  ans 
dem  Kopfe  zitiert.  Bei  Tzetzes  Chil.  1358  und  Schol.  ad  Lyc.  688 
ist  der  Geschichtsschreiber  mit  dem  Rhetor  von  Gaza  verwechselt 
(Chr.  Harder,  De  Tzetzae  historiarum  fontibus  quaest.  sei.  S.  62), 
Chil.  HI  317—338  ist  das  tragische  Ende  des  Gelimer,  vielleicht  nach 
Prokop  IV  6—9,  geschildert.  Andere  kennen  den  Prokop  gamicht, 
SQ  das  dritte  Bekkersche  Lexikon,  das  z.  B.  den  Prokop  von  (Jasa 
häufig  ausschreibt,  Thomas  Magister,  Moschopulos  und  das  Lexikon 
Hermanni  (De  emend,  gramm.  I). 

Hier  muß  eine  Untersuchung  über  die  Satzschlüsse  einge* 
schoben  werden.  Da  wir  wissen,  daß  zu  Prokops  Zeit  der  akzen- 
tuierte Satzschluß  sehr  in  Uebung  gewesen  ist,  so  wird  es  uns  nicht 
erstaunen,  auch  bei  Prokop  einige  Spuren  zu  finden.  So  ist  gleich 
die  große  Periode,  mit  der  die  Einleitung  der  Geschichten  beginnt, 
ganz  fehlerlos  nach  dem  herrschenden  Brauche  gebaut:  die  Schlüsse 
sind  7coXd|ioog  (ovd^patl^ev ,  ßapßdpooc  Sii^ve^xe,  l(otooc  xal  ioxtplooct 
SovTiv^X^T]  76V^odat,  lpY)|JLa  x^^pcix'^P-svoc,  aita  xataicpöiitai,  &€(n]Xa 
^i^tai,  (li^a  ti  loso^ai,  S^reita  Ysvif]oo|i^oi^,  av&YX'viv  St&^otto.  Aber 
im  nächsten  Satze  folgt  auf  lotoplac  liclSetSic  und  ir((A)fla^  &x^P^^^* 
a>c  tö  elxöc  S£et.  Und  nun  beobachtet  man,  wie  sich  Prokop  während 
des  Schreibens  immer  mehr  von  dem  Satzschlußgesetz  befreit  nnd 
zwar  meist  dadurch,  daß  er  an  den  Enden  gerne  die  Akzente  zu- 
sammenstoßen läßt.  Die  ersten  20  Satzschlüsse  des  zweiten  Baches 
der  Geschichten  sind:  XoopÖ7]c  (i«ad(oy,  icpooicoieiv  ijpSato,  istvociv 
^deXev,  tag  o^rovSag  X6osi6V,  xoivoXo^iijoiiievog  'AXafioovSdpcDt,  icoXi|MiD 
akCag,  6p[(i>v  ßiiCoito,  Iv  OTTOvSaic  '^Xds,  xata^siv  ^pSato,  Tctt|La(i»v 
OTCovSdc,  o&8^T8pot  loe7p(i(|)ovto,  xal  -J^v  8h  (1.  8*)  oStcoc,  iv  o«ov8aic  ^i- 
Y0V6V,  To>|iaCo>v  övö|iatt,  £apaxY]V(öv  avczk^^xoj  Htp&ta  \kkv  xixXi]t«t, 
Sv6|iov  xitpanzai,  o^Saitf]  f  ^poooa,  o^repf ook  Ioti,  &V6t|iivt]  voiiak,  die 
ersten  20  von  HI  8:  SieSi^ato  rf]v  ipx^v,  &vdp(biCQ>v  afavio^ivtoc«  Q&* 
S^va  3iv^p(lbiC(ov,  Maopoooiooc  l^^eto,  Tcpö  too  ol  Maopo6oioi,  ixeivoc 
I76YÖV8I,  xal  a&Tol  Sicadov,  iv^pco^rcDV  diTcdvtcov,  itstarldeodai  SöCav,  otb- 
td^i  sYxovtag,  ISiaic  Si^^sips,  aic'  a^f^c  ?ipo770c,  ixpoi^el  ti)t  ^vljt, 
l9raio^avö|isvoi,  TcXijoiÄCetv  i'f'^iüoa)^,  tö  Xomcöv  loyooav,  itsXeonjoe  vöottc, 
Äpsi  d)ix7i|iiv<ov,  a&tovöp)v  Ävtwv,  KapxT^Sövog  8t^ov,  von  VH  11:  y** 
v^odai  SovdTceoe,  Ic  Tdßevvav  oif  txö|isvoc,  ^s£e  toidSe,  Sieppoijxivai  &)|i-> 
ßdß7]X£v,  &T6xv(bc  icpdYiiaot,  &ifad(ov  icpdSsic,  Ixavcac  Ibxooey,  xpdx|Lata 
So^ii]Xey,  iiravopdoöv  (liXei,  xo&tttv  icoto6|Lsvoc  sie  &|i^  ifyMXty,  ftim^ 


ProcopioB  rec.  Haary.  I.  n  391 

xal  Üoctt|iai,  eic  Fördooc  etp^aotai,  ötoooov  dcjiaptdveo^ai,  f  ooecoc 
iSoy  Siapxfldc  icp^TTOv,  ixavo^g  ££ioy,  aTraXXa^'^vai  £o(ißii)o6tai,  a&tixa 
irpooiotaiy  tAv  icdvrcov  XPW^'^^'^'  Cf^setze  und  Regeln  lassen  sich 
nicht  aufstellen,  da  nicht  selten  auch  Satzschlüsse  vorkommen,  bei 
denen  zwischen  den  beiden  letzten  betonten  Silben  nur  eine  unbe- 
tonte ist,  aber  man  wird  soviel  sagen,  daß  auf  Prokop  zwar  der 
Schriftgebrauch  seiner  Zeit  nicht  ohne  Einwirkung  gewesen  ist,  daß 
sich  aber  der  Mann  durch  häufige  Verstöße  eine  selbständige  Stellung 
sicherte.  Dabei  ist  wiederum  das  Zusammentreffen  der  letzten  be- 
tonten Silben  bevorzugt,  offenbar  darum,  weil  es  am  deutlichsten 
dem  herrschenden  Stile  widersprach.  Und  diese  Wirkung  war  darum 
beabsichtigt,  weil  Prokop  altertümlich  schreiben  wollte;  was  er  von 
Thukydides  vernachlässigt  sah,  durfte  er  selbst  nicht  befolgen.  Es 
ist  merkwürdig,  daß  schon  Philostratos  und  Aelianus,  vornehmlich 
aber  der  erstere,  die  Akzente  gern  im  Satzschlusse  zusammenstoßen 
lassen,  sicher  aus  demselben  Grunde.  Denn  auch  ihre  Sprache  soll 
archaisch  sein,  schon  zu  jener  Zeit  aber  läßt  sich  das  Vordringen 
der  Meyerschen  Satzschlüsse  beobachten,  so  z.  B.  bei  Clemens  von 
Alexandreia. 

Nun  wird  man  auch  nicht  mehr  gutheißen,  was  Th.  Preger 
sagte  (Berl.  phil.  Wochenschr.  1901,  S.  1481):  »Da  Prokop  sich  an 
das  Meyersche  Satzschlußgesetz  nicht  gehalten  zu  haben  scheint,  so 
ist  es  beispielsweise  fraglich,  ob  wir  t&v  tc&vtcdv  äv^pcoTccov  Ixavög  eliQ 
oder  Ixavöc  etr]  t&v  ic&vtcov  &v&p(i>7co>v  schreiben  müssen.  In  diesen 
and  ähnlichen  Fällen  wird  eine  Entscheidung  mit  diesen  Hilfsmitteln 
nicht  möglich  seine.  Gewiß  ist  sie  möglich,  wenn  man  verfolgen 
kann,  daß  in  einem  Zweige  der  Ueberlieferung  eine  Umstellung  der 
Satzenden  zur  Bildung  eines  gefälligeren  Schlusses  öfter  vorgenommen 
wird.  Ich  nehme  nun  die  Lesarten  des  ersten  Buches  der  Ge- 
schichten vor. 

Die  Handschrift  G  macht  oft  die  Satzschlüsse  auf  eigene  Faust 
flüssiger :  Sie  tö  Xoitcöv  Sx^vtsg]  S/ovteg  tö  Xoitcöv  G,  6?  IvoxXsiv  Iy^ö^" 
oav]  ly^woav  ivoxXsiv  G,  llii  apx'^iv  fx^^]  ^X^^  <^PX^^  ^»  ^6^-  ^^^^ 
166,  ITso;  172  Ildpoai  Tcpötepov]  Tcpötepov  Il^poai  G,  34  to^x^vei  000a] 
oSoa  tt>7x4vei  G;  Ss  ponX-^t  Iäoisito]  ßooXiJt  iTceicoirjto  G,  26?  riQvtxaöta 
Jov^pYj]  njvtxaöta  oov4;teoev  G ;  in  ätciotoc  6  XÖ70C  Söjetev  eivat]  6  Xö^oc 
£iriOTOc  SöSeiev  eivai  G,  ISss  t&i  tcövcoi  toutcoi  iicd^avov]  x&i  Se  tcöi 
icövttt  iirfdavov  G,  47  öirfocü  aodtg  imJXaovov]  JtcLoü)  dTci^Xaovov  aS^t^  G, 
1927  1^  'EXeyavrivT)  xoiXoo[iiv7]  olxsttat]  t^  IXe^avttv?]  (so)  xaXooiiivi] 
olxeltai  G.  Doch  liegt  solchen  Aenderungen  nicht  immer  ein  fester 
Plan  zugrunde,  vgl.  626  töv  Trsptjraxov  8Xov]  tooc  TceptTcitoog  8Xooc  G, 
7t  ofCoiv  StLetvov  etvat]  $|i6ivov  of  (oiv  elvat  G,  15i6  ic  iXXijXoog  Ix&tspoi] 
ix&T8poi  ic  iXXi^Xooc  6)  26»  Sovißir]  Y^vdodai]  ^ev^odat  SovdßY]  G  u.  a., 


392  Gdtt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  5 

nur  soviel  ist  sicher,  daß  6  nie  einen  Zusammenstoß  von  Akzenten 
neu  in  den  Text  bringt. 

Ein  ähnliches  Urteil  ist  über  P  abzugeben:  11 26  so  ^oovtat]  A 
8tadTiJo<ovtat  P,  12io  Xö^oo  icoXXoö  äStov]  Xd^oo  ä^tov  icoXXod  P,  vgl 
1746,  22i8,  23i;  lOi  taonQt  ätXYjvtat]  JdiXYjvtat  taonjt  P,  vgl.  13i;  Ö6 
TcavtdÄaotv  oSoav]  oooav  icavtdicaotv  P,  llsi  xal  äXXa  xan^TOpoövnc] 
xaryjYopouvteg  xal  £XXa  P,  19x8  iTrlTcpoodev  686v  i^fiepcov]  i^|t6p&v  it^pciv 
l3c[3cpoo^£V  P,    21x4  Sidfop«  SiaX&ooooi]   Siöüfopa  X6oooot  P,   25s4  eö^ 

tÖV    ÄV^pCüÄOV     llCaVTjSoOOt]     TÖV     ÄV*p<OÄOV     $&Mc     ^ÄaVTjSoOOt  P;     79     TOO 

IpYoo  6  KaßdSijg  lßo6X£to]  6  KaßdSyjc  toö  Ip^oo  IßooXeto  P,  15to  tot 
Ix8ivif]t  IdvT]  8i7]x<i)v]  ta  J*vTf]  lxeCvY)<;  Smjxcöv  P.  Weniger  verstehen  wir 

10l6  T(OV  af£T^pü>V  6pC(0v]  6p((l>V  tCOV  OfST^pCOV  P,    12l5  icoXX'^t  t^o^jtwiQ] 

ixop'^votc  ÄoXXfJiP,  17*  otaStotc  Siiyo"^]  8t^ov  otaSlotc  P,  ig  o684v  tö  icopi* 
9cav  |i6taßaXövT8c]  tö  Tcap&icav  o&S&v  [istaßaXövtec  P,  2458  ij^Y]  too  8i^|iOO 
iroXoc]  too  Si^(too  fjSY]  7coX6c  P.  Aber  nicht  nur  an  Satzschlüssen,  sondern 
auch  im  Innern  sind  wie  bei  6  öftere  Umstellungen  vorgenommen. 

Während  nun  in  allen  vorher  erwähnten  Fällen  entweder  6 
gegen  PV  oder  P  gegen  6V'  steht,  so  daß  die  Entscheidung  gar 
nicht  zweifelhaft  ist,  kommt  es  nur  selten  vor,  daß  sich  OP  gegen 
V  vereinigen:  Ih  ^  äv  (olüxv  G,  xäv  e)  . . .  Ixavat  tX-q  PG]  -ij . . .  Ixov^ 
Sv  £l7]  V,  wo  die  ausgelassene  Partikel  Sv  an  falscher  Stelle  nachge- 
tragen ist,  128  Jicsl  a&TÄi  ivavti(i>|ia  totövSs  Sovtjv^^y]  Yevdodoi  GP], 
ItcsI  lvavT((0|ia  totövSe  Sovijv^dY]  aätöt  ^ev^o^at  V,  ISse  6  ßaoiXsoc  t^ 
vixTjv  GP]  T^jv  vixTjv  6  ßa3tX66c  V,  23?  a&töv  ßidCeo^ai  el^sv]  ßiiCeoto 
a^tbv  eixsv  V.  Man  sieht,  daß  das  Maß  der  Umstellungen  gering  ist 
und  daß  der  beliebte  Tonfall  U***^t>^  gar  nicht  vorkommt,  so  da6 
wir  die  wichtige  Beobachtung  gewinnen,  daß  V  im  allgemeinen  die 
ursprüngliche  Stellung  bietet.  Auch  23?  ist  mit  V  ßtdCe<J^ai  aitiv 
si/ev  zu  schreiben,  es  ist  die  einzige  Stelle,  an  der  GP  in  einer 
Aenderung  zusammenstoßen  und  wir  erkennen  nun  zwei  Abschreiber, 
die  dem  akzentuierten  Satzschlusse  deutlich  zuneigen,  einen  des 
Zweiges  P  und  einen  anderen  des  Zweiges  G. 

Ein  dritter  ist  der  Verfertiger  der  Auszüge,  vgl.  1 2is  sivai  otpa- 
ryj^bv  IfaoavJ  0Tpary]7Öv  sivai  S^aoav  e,  lOis  toc  n6Xac  So^cv]  fop 
T&c  TCoXac  e,  lU  9capa3cd|i(|)ai  t-^jv  apx'i]v  SfieXXe]  r))v  &px^  TeapaaifJ^ti 
gfieXXE  e,  10  'loootivog  ßaoiXsoc  eiSev]  ßaoiXe&c  'loootlvoc  elScv  e, 
12  gXege  toiaSs]  SXege  &S8  e.  Dazu  aus  späteren  Teilen,  z.  B. 
VIII  18i9  yupii^aza  ^or^dka  xofiiCojisvot  ava  ääv  Itoc]  avd  icfty  fcoc 
Xpi^liata  [is^iXa  xo|iiCö|i£vot  e,  24x2  Ic  o{Lac  iivai]  eivai  ic  ^t^ftc  6.  Di 
doch  bei  dem  Ausziehen  oft  die  Worte  gekürzt  oder  nmgestaltit 
werden  mußten,  so  ist  es  ganz  erklärlich,  daß  sich  dabei  die  Siti^ 
Schlüsse  ein  wenig  dem  herrschenden  Gebrauche  anpaßten. 

Es  ist  jetzt  an  der  Zeit,  über  die  Bewertung  und  AuswaU 


Procopios  rec.  Haury.  I.  n  S93 

der  Prokopfaandschriften  zu  reden.  In  der  ersten  Tetrade  ist 
es  ganz  richtig,  daß  Haury  die  Grundlage  aus  den  beiden  Haupt- 
stämmen y  und  z  gewinnt.  Bei  dem  Stamm  y  wird  P  und  außerdem 
im  dritten  und  vierten  Buche  0,  bei  dem  Stamm  z  Y  und  dazu  im 
ersten  und  zweiten  Buche  G  herangezogen.  Der  Grundsatz,  daß  GP 
gegen  V,  PV  gegen  G,  VO  gegen  P,  VP  gegen  0  den  Vorzug  ver- 
dienen, ist  ganz  verständig,  nur  bei  Kleinigkeiten  und  bei  Satz- 
scfaliissen  (wie  123?)  kann  hin  und  wieder  eine  Ausnahme  eintreten. 
In  der  Folge  wird  man  darnach  trachten  müssen,  die  Ueberlieferung 
der  einzelnen  Zweige,  virenn  sie  nicht  durch  einen  deutlich  herzu- 
stellenden Stammbaum  auf  eine  einzelne  Handschrift  beschränkt  wird, 
durch  eine  Reihe  von  Zeugen  wiederzugeben,  was  besonders  für  y 
zu  bemerken  ist,  das  z.  B.  in  den  beiden  ersten  Büchern  nur  durch 
P  dargestellt  wird.  Doch  läßt  sich,  da  reichere  Handschriftenproben 
mangeln,  noch  nichts  genaueres  angeben. 

Etwas  unklarer  liegen  die  Verhältnisse  in  der  zweiten  Tetrade. 
Hier  ist  y  nun  nach  L,  z  aber  nach  E(V)  und  auf  eine  kleine  Strecke 
noch  nach  A  aufgezeichnet.  Aber  Haury  ist  mit  sich  selbst  uneins, 
wenn  er  für  den  Text  nur  die  Stämme  y  und  z  benutzt,  in  der  Vor- 
rede aber  außer  z  und  y  noch  einen  dritten  Stamm,  yi,  unmittelbar 
aus  X  ableitet.  Denn  dann  müßte  doch  yi  einen  großen  Wert  haben, 
wenigstens  in  den  Fällen,  in  denen  y  und  z  auseinandergehen.  Eine 
Nachprüfung  von  yi  ist  nun,  da  Haury  nirgends  eine  Lesart  mitteilt, 
zunächst  auf  das  wenige  angewiesen,  was  Rostagno  in  der  Com- 
parettischen  Ausgabe  aus  Vi  (cod.  Vat.  152,  fol.  222,229,309—312, 
316  ff.)  macht.  VHI 256  liest  Haury  nach  e  o&x  Ix^v  tö  Xoitcöv  Sätj 
Koth  a&to&c  ivaoT^XXot  Siaßaivovtac  7COTa|i6v  ""lotpov  if^  &i  XYjioovtat 
rJjv  T<o{ia((öv  ipx^Jv,  y)  Sov  zalq  a)f8Xtaic  r?]v  Aroicopeiav  (iicopiav  e) 
9coioo|iiyooc  iv^^Ss,  in  z  fehlen  die  Worte  nach  ipx^^v,  L  hat  .  .  . 
ipX'Jlv  alyvt8[av  (xal  alyv.?)  fjjv  inonopiay  7coioo(i.§vooc  Iv^^vSe,  Vi  ip- 
Xijv  xal  alyvi8tav  &z  rfiv  aicopeiav  n.  i,  die  Vulgata  Apx^^v,  xal  alyvt- 
Slav  d)v  &9coirop£(av  n.  i.  Es  ist  klar,  daß  hier  x  sehr  schlecht  zu  lesen 
war.  Die  Handschrift  y,  die  nach  Haurys  gegründeter  Vermutung 
zuerst  geschrieben  wurde  (Münchn.  Sitz.-Ber.  1895,  128),  las  von  ^  5öv 
talc  gar  nichts  mehr  und  setzte  statt  cof  eXiaic,  mit  dem  nun  nichts 
mehr  anzufangen  war,  alfviSiav  ein,  als  z  entstand,  war  die  Zer- 
rüttung noch  weiter  fortgeschritten,  so  daß  eine  viel  größere  Lücke 
gelassen  werden  mußte.  Man  sieht  also,  daß  Vi  von  y  nicht  zu 
trennen  ist,  wenn  die  Handschrift  auch  von  L  unabhängig  ist  (&c 
ist  vielleicht  der  Rest  einer  Verbesserung).  Aber  hier  sind  noch 
langwierige  Untersuchungen  notwendig. 

Eine  Vermischung  der  beiden  Stämme,  die  dadurch  entstanden 
ist,  daß  in  eine  Handschrift  des  einen  Stammes  Lesarten  des  andern 


994  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

eingetragen  wurden,  hat  Haury  in  dem  ersten  Teile  des  Paris.  1699 
(ci)  gefunden,  sie  kommt  auch  für  die  Lesarten  des  von  DanuarioB 
geschriebenen  Ambros.  52—55  sup.  (e  bei  Haury,  D  bei  Comparetti) 
in  Frage.  Man  vergleiche  z.  B.  Y  6i8  toGtoiv  y^P  V*oi  o&Sitepov  iv 
i^Sov^i  loTiv  zc]  obSkv  Stepov  L,  9i9  icpbc  ^ö  Ip^ov  licirvjSeCoc  icdcyn]t 
l/ovrag  zc]  iTTiryjSsboc  L,  IO34  ic  neipav  IX^övta  zc]  äXMvtac  L« 
VI 52  ivejtlYVovTO  zc]  ivefiC^voto  L,  Hz  xadtoavtec  L  richtig]  xadt- 
oTdvtsc  zc  u.  a.  Doch  scheint  es  geratener,  c  einem  besonderen  Zweige 
von  y  zu  geben  (bei  Haury  ist  c  auf  L  zuriickgeleitet),  wofür  auch 
diejenigen  Stellen  sprechen,  an  denen  c  zwischen  z  und  L  steht: 
Y  58  icpoo7)Sixii)xaoiv  z]  TcpooYjSixujoaoiv  c,  TcpoTjSixi^xaotv  L,  619  ftv  t6i 
BoCaviioo  ßooXsonjpCcDi  Haury  nach  L]  Iv  t.  BoCavti(i>i  ß.  z,  ftv  c6 
ßuCavtio)  c,  YI  li7  ivaßa[v7]i  z]  Imßaivei  c,  iTcißaCvot  L,  82  Xopodc|iavTK 
L  (und  so  heißt  der  Mann  sonst  immer)]  Xopoofidv  z,  x^P^P^^^  ^ 
29  tä>v  ßapßdpcov  ta  x^P^'^^V'^'^^  z]  mv  ß.  x*  c,  tot  tcbv  ß.  x-  L  Q-  &• 
Besonders  überzeugend  müssen  Lesarten  sein,  die  die  Verderbnis  in 
L  verständlich  machen :  V  ls4  Sie  v£(i>tdpoic  7cpdY|taotv  iifx^V^^^^  ^ 
ävSpe  tooTO)  Ixt£iv8  Comparetti]  i^x'^ipob'^zat  richtig  c  (ai  =  s),  was 
in  X  gestanden  zu  haben  scheint,  woraus  dann  z  Iyx^^P^^^*^'  ^  ^7X^* 
poövTac  machte,  62  Iv  o^ioiv  z]  Ic  T^oiv  c,  ic  (s^Coiv  L  (also  war  y  in 
SoftoLv  verderbt,  ein  Fehler,  der  öfter  vorkommt);  21i6  ircepotc  (livta 
oh  Toig  ela>^öoiv  Iv^x^*^^^  ^1  Iv^PX^''^^^  c>  avipxstat  L ;  VI  4s  Ic  ta  Kocpr 
Ttaviac  usw. 

Diese  Stellen  werden  dazu  auffordern,  die  Verzweigungen  in 
dem  Stamme  y  genauer  zu  untersuchen.  Der  Monacensis  87  (m  bei 
Comparetti,  n  bei  Haury)  steht  dem  eben  behandelten  Ambrosianns 
ziemlich  nahe.  Die  zweite  Hand  des  Monac.  513  (f  bei  C,  d  bei  H.) 
ist  mit  z  verwandt,  vgl.  V4i8  Sovobeiv,  21  A6X(bvi. 

In  den  Fragen  der  Rechtschreibung  schließt  sich  Haoiy 
gewöhnlich  den  Handschriften  an,  und  dies  ist  durchaus  zu  billigen. 
Genauere  Untersuchungen  hat  er  nicht  angestellt,  er  hätte  auch  nur 
etwas  sehr  Unvollkommenes  erreicht,  während  man  jetzt  die  Aufgabe 
stellen  muß,  den  Schreibgebrauch  des  Prokop  mit  dem  seiner  stilisti* 
sehen  Vorbilder,  seiner  Zeitgenossen  und  der  späteren  byzantinischen 
Schriftsteller  zu  vergleichen.  ^)  Es  ist  sehr  löblich,  daß  Haury  jede 
Buchstabenverschiedenheit  der  von  ihm  herangezogenen  Handschriften 

1)  Es  tut  mir  leid,  daß  K.  Krambacher  in  der  Anzeige  meiner  Memoria 
Graeca  Herculanensis  (Byz.  Zeitschr.  Xin595)  gar  nicht  erwähnt,  was  doch  f&r 
ihn  das  Wichtigste  waf,  dafi  ich  mich  bemüht  habe,  wo  es  nur  anging,  die  Ge- 
schichte der  Rechtschreibung  bis  zu  der  ausgehenden  byzantinischen  Zeit  zu  ▼er- 
folgen. Das  tat  ich  vornehmlich  darum,  damit  man  bei  den  Lesarten  der  mitt^ 
alterlichen  Handschriften  antiker  Werke  herausfinden  könne,  was  aus  byzaatiiiischer 
Scbrdbersitte  entstanden  sei  und  was  auf  älterer  UeberUeferung  beruhe.  la  eia* 


Procopins  rec.  Haary.  I.   n  896 

wiedergegeben  hat,  und  ich  will  an  zwei  Beispielen  zeigen,  was  man 
daraus  lernen  kann.  I  325  schreibt  V,  die  beste  Handschrift,  iccoppon 
tdToi.  Wir  wissen  schon,  daß  ic(opp(o  statt  TröpptD  in  hellenistischer 
Zeit,  besonders  in  den  herkulanensischen  Rollen,  in  Gebrauch  war, 
während  es  später  wieder  unterging.  Wenn  nun  Herodianos  im 
Philetairos  icöppo)  xal  icd>pp«>  &|jLf  otdpcoc  schreibt,  so  muß  man  damals 
in  den  Handschriften  der  Attiker  auch  die  seltenere  Form  gelesen 
haben,  und  dies  bestätigt  Prokop,  der  vielleicht  in  seinem  Thuky- 
dides  das  «o  vorfand,  wo  es  heute  nirgends  mehr  überliefert  ist. 
Assimilation  am  Wortende  kleiner  Partikeln  wie  h,  und  S&v,  ist  nicht 
selten  und  wo  sie  vorkommt,  in  den  Text  zu  setzen.  So  ist  auch 
immer  ^  «]f6itöv(i>v  zu  schreiben,  denn  in  dieser  von  Prokop  oft  ge- 
brauchten Redensart  ist  iv  ysitövcov  trotz  Sauppes  Verteidigung  (El. 
Sehr.  S.  148)  eine  schlechte  Auflösung  der  assimilierten  Form,  die 
mit  dem  falschen  Sv^ovoc  (statt  Ix^ovoc,  aus  Iy^ovoc)  auf  gleicher 
Stufe  steht.  Die  Redensart  ist  wie  Ix  Se^idtc,  ii  aptotspäg  u.  a.  zu 
verstehen  und  ganz  richtig  findet  sich  nun  auf  einem  ägyptischen 
Papyrus:  ifovTj  E&8at(iovlg  tö  Avofia  ix  Yß^'^^^vcov  i^fiÄv  olxoöaa  Pap. 
Erzh.  Rain.  12329  aus  der  Zeit  des  Severus. 

Mit  eigenen  Text  Verbesserungen  hatte  Haury  in  dem  Münchner 
Programm  (Procopiana  II.  Teil,  Kgl.  Realgymnasium  1893)  einen 
guten  Anfang  gemacht.  Manche  seiner  Vermutungen  sind  inzwischen 
von  den  besseren  Handschriften  bestätigt  worden,  so  149  Sv  für  &v 
(von  G),  7i8  tö  ÄoXaitfv  für  töv  iraXaiöv  (VG),  si  (tot  für  \ii  (VG), 
Iha  Sei  für  8t^  (P),  I486  Iv  icepitpoTr^t  für  Iv  icpotpoicijt  (VG)  usw., 
andere  wurden  durch  bessere  Lesungen  hinfällig,  andere  wieder  hat 
Haury  nach  neuen  Erwägungen  zurückgezogen,  so  die  zu  I9i,  wo 
er  in  icoXXd  das  Adverbium  verkannte,  16«  too  (liv  —  too  8i  für  t6 
piiv  —  tö  Si,  1781  xal  toö  für  xal  a&toö  usw.  Ebenso  hätte  er  die 
Procopiana  II  S.  11  vorgeschlagene  Aenderung  Illss  Sti  Sei,  &<;  ßap- 
ßdpcoi  icpooi^xoi  fallen  lassen  sollen,  denn  es  ist  schlechterdings  in 
den  Worten  oug  S*})  Sei^aei  icovdavoiiivcot  zm  KaßdSifjt  xad'  Zu  Set  d]v 
ianoltfliv  Y^v^odai  SiappiJSYjv  iTcoxplvaodai,  8tt  8-}j  xäc  ßappipwi  wpoo- 
i[Mi<  alles  in  Ordnung.  Nach  jener  Zeit  nun  kam  Haury  in  den 
Besitz  eines  reichen  Schatzes  guter  Lesarten,  aber  er  hat  sich  doch 
meist  darauf  beschränkt,  die  auswählende  Kritik  zu  betreiben,  während 
er  die  suchende  vemacbrässigte.  Richtig  ist  von  den  neuen  Aende- 
Hingen  im  ersten  Buche  der  Geschichten  a^tc&v  1 1 124,  toö  'Oopöoo  1784,  ^v 
und  ol  £XXot  ISss,  2t(oi  Sy)  236,  an  den  übrigen  Stellen  (es  sind  etwa 

seinen  werde  ich  wohl  öfter,  wie  es  bei  diesen  noch  kaum  begonnenen  Unter- 
suchimgen  unvermeidlich  ist,  in  die  Irre  gegangen  sein,  aber  es  wäre  nun  zu 
wünschen,  daß  einer,  von  den  byzantinischen  Scbriftstellem  ausgehend,  die  aus 
der  Antike  hinübergezogenen  Fäden  aufgreift,  ordnet  und  vermehrt. 


896  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  5 

ein  Datzend)  war  die  Ueberlieferung  beizubehalteD.  Der  Text  selbst 
ist  noch  ein  ziemlich  jungfräuliches  Feld  für  die  Kritik  (die  Holländer 
z.  B.  haben  sich  bis  auf  van  Herwerden  von  Prokop  femgefaalteD), 
und  eben  die  vielen  neuen  Lesungen,  die  aus  z  und  e  gewonnen  sind, 
müssen  beweisen,  daß  die  Ueberlieferung  gar  nicht  sehr  rein  ist^) 
Eine  Prüfung  der  teils  unabhängigen,  teils  aus  Prokop  ge- 
flossenen geschichtlichen  Nebenüberlieferung,  die  von  Haury  sorg- 
fältig eingesehen  worden  ist,  war  nicht  beabsichtigt.  Wir  sind  ihm 
für  seinen  Eifer  und  seine  Hingabe  recht  dankbar  und  wünschen  der 
Ausgabe  den  besten  Erfolg,  den  sie  haben  kann,  daß  nun  die  Prokop- 
untersuchungen  einen  neuen  Aufschwung  nehmen.  Viele  Fragen,  wie 
z.  B.  die  Quellen  des  Prokop  in  der  Geographie  und  der  Mythologie, 
sind  noch  kaum  beantwortet.  Aber  eine  zukünftige  wissenschaftliche 
Ausgabe  wird  die  Unterlagen  des  Textes  von  Grund  auf  nenbe- 
arbeiten  müssen. 

Oöttingen  Wilhelm  Crönert 


Paal  Sokolowskl,  Dr.,  ord.  Professor  an  der  Universität  Moskau,  Die  Philosophie 
im  Privatrecht:  Sachbegriff  und  Körper  in  der  klassi- 
schen Jurisprudenz  und  der  modernenGesetzgebung.  Halle 
a  S.   Max  Niemeyer  1902.   XV  u.  616  S. 

Verfasser  ist  vielleicht  der  bedeutendste  unter  der  stattlichen 
Reihe  romanistischer  Dozenten,  die  das  von  Dernburg,  Eck  and 
Pernice  geleitete,  kaiserlich  russische  Seminar  in  Berlin  um  1890 
während  seines  kaum  fünfjährigen  Bestehens  ausbildete.')  Sein 
moralisch,    ästhetisch    und    intellektuell    zum    Höchsten   strebender 

1)  Van  Herwerden  hat  denn  auch  nicht  verfehlt,  die  neue  Aasgabe  in  der 
Mnemosyne  mit  einem  reichen  Bündel  Ton  VerbesserungSTorschlägen  zu  be- 
grüBen.  Sie  bringen  yiel  Richtiges  und  Brauchbares,  manches  aber  erweist  sidi 
bei  genauerem  Zusehen  als  hinfäUig.  So  gleich  die  erste,  zu  I2is  ausgesprocheM 
Vermutung,  daß  tJL<$voc  hinter  Titttoc  zu  streichen  sei.  Denn  das  Wort  ist  not- 
wendig, damit  der  Leser  den  Gegensatz  scharf  erfasse:  der  römische  Feldherr 
tritt  ohne  Truppen  und  ohne  Begleiter  dem  Feinde  keck  entgegen,  der  Perserkönig 
wendet  sich  mit  seinem  ganzen  Heere  und  kehrt  um.  Der  Fehler  steckt  an  einer 
anderen  Stelle:  xaxaTrXayeU  ouv  täi  uTrepßaXXovn  xffi  xtfi^;  6  ßaacXtiK  aCrro«  orptf^ 
Tov  TzTTOv  ird^to  dTr/^Xouve,  1.  t^c  xoXfjiTjc. 

2)  Vergleiche  über  diese  interessante  Episode  der  Geschichte  der  Bechts- 
wissenschaft  im  vorigen  Jahrhundert  die  offenbar  sachkundige,  tief  aber  kaum  in 
tief  pessimistische  anonyme  Skizze  über  »das  römische  Recht  in  Bnßlandc  ia 
Leonhard,  Stimmen  des  Auslandes  über  die  Zukunft  der  Rechtswissensdiaft 
(Breslau,  Marcos  1906,  S.  72—77). 


p.  Sokolowski,  Die  Phflosopbie  im  Privatrecht  397 

Idealismus  bat  sich  otfenbar  noch  verschärft  inmitten  der  radikal 
materialistischen  und  kollektivistischen  russischen  Gesellschaft  und 
so  fühlt  er  sich,  wie  viele  ernste  Denker  heute,  wesensverwandt  den 
letzten  Philosophen  der  christlichen  Eaiserzeit,  die  inmitten  der  neuen 
bildungsfeindiichen  und  unduldsamen  Massenreligion  einsam  und  stolz 
für  sich  standen.  So  geht  ein  sehnsüchtiger,  romantischer  Grundzug 
durch  sein  Buch  und  läßt  ihn  die  einstige  Herrscherstellung  der 
Philosophie  grösser  und  schöner  sehen,  als  sie  der  nüchternen  Kritik 
erscheint.  Aber  ohne  diesen  begeisterten  Glauben  wäre  sein  Werk 
kaum  entstanden  und  da  es  trotz  mancher  Uebertreibungen  und  Fehl- 
griffe wegweisend  und  bahnbrechend  auf  lange  wirken  wird,  wollen 
wir  mit  dem  Verfasser  nicht  wegen  dieser  Illusionen  rechten.  Nur 
schreiben  wir  daneben  ein  Wort  von  Moramsen,  dem  Sokolowski 
dieses  Buch  gewidmet  bat:  »So  wurden  denn  die  Römer  in  der 
Philosophie  nichts  als  schlechter  Lehrer  schlechtere  Schüler t. 

Sokolowski  macht  allenthalben  Front  gegen  den  positivistisch- 
nur  praktischen  Zug,  der  die  jüngstvergangene  deutsche  Zivilistik 
beherrschte  und  der  sie  auch  die  klassische  Jurisprudenz  der  Römer 
als  ausschließlich  praktisch  und  kasuistisch-positiv  einschätzen  ließ. 
Die  heutige  Jurisprudenz  soll  zur  wahren  ^divinarum  atque  hutna* 
narum  rerum  notitia<,  zur  Trägerin  und  Gewährleisterin  aller  höchsten 
Bildungsideale  werden  und  gerade  dadurch'  den  römischen  Eaiser- 
juristen  nacheifern,  in  denen  er  die  rechten  Söhne  ihrer  bildungs- 
frohen und  bildungsstolzen  Zeit  sieht,  überzeugte  und  energische 
Vertreter  der  griechischen  Philosophie,  die  ihnen  den  Schlüssel  für 
alle  Probleme  des  Erkennens  und  der  praktischen  Lebensführung  zu 
bieten  schien.  Dieser  Einfluß  der  Philosophie  auf  die  klassische 
Jurisprudenz  ist  von  Sokolowski  nicht  zuerst,  aber  doch  am  zu- 
sammenhängendsten und  energischsten  betont  worden,  und  vollends 
ganz  ihm  allein  gehört  die  höchst  plausible  Vermutung,  daß  dieser 
philosophische  Einschlag  der  klassischen  Rechtslehre  der  beschränkten 
und  unduldsamen  Orthodoxie  Kaiser  Justinians  als  törichte  und  ge- 
fährlich heidnische  Afterweisheit  erscheinen  mußte  (S.  183).  Wer 
aus  Haß  gegen  die  griechische,  in  ihrem  innersten  Wesen  heidnische 
Philosophie  die  altehrwürdige  Schule  von  Athen  aufhob,  der  wird  in 
der  .  Tat  die  philosophischen  Anschauungen  nach  Möglichkeit  auch 
von  seinen  Pandekten  fem  gehalten  haben,  als  dem  »Li  nomine  Do- 
mini Dei  nostri  Ihesu  Christi«  zu  errichtenden  Templum  lustitiae. 

Diese  philosophische  Beeinflussung  der  klassischen  Rechtswissen- 
schaft wäre  also  ein  für  deren  eigenes  Sein  und  Denken  allerwich- 
tigster,  wesengebender  Faktor  und  zugleich  ein  Punkt,  in  dem  die 
Eürzungstätigkeit  von  Justinians  Kompilatoren  aufs  stärkste  ein- 
setzen mußte.     Sokolowskis   These   verspricht   mithin,   unsere   An- 


898  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

schauung  vom  römischen  Recht  nach  den  beiden  Richtungen  hin  zn 
bereichern,  in  denen  sich  heute  die  Hauptarbeit  der  romanistiscfaen 
Forschung  bewegt :  Klarstellung  des  Wesens  und  Wirkens  der  klassi- 
schen Jurisprudenz  und  als  Mittel  hierzu  Feststellung  dessen,  was 
an  Verstümmelung  und  Entstellung  der  klassischen  Rechtstexte  den 
byzantinischen  Juristen  mit  Wahrscheinlichkeit  zugeschrieben  werden 
kann.  Nach  beiden  Richtungen  hin  hat  man  seit  der  Auffindung 
des  Gaius  (1816)  den  Formularprozeß  und  seine  Eigentümlichkeiten 
umfassend  gewürdigt.  Dazu  träte  nun  als  weiteres,  von  den  Byzan- 
tinern systematisch  weginterpoliertes,  für  die  Klassiker  entscheidend 
wichtiges  Moment  die  griechische  Philosophie. 

Die  >Bildung<  in  der  Kaiserzeit  war  nach  Sokolowski  die  Zugehörig- 
keit zu  einem  der,  allerdings  stark  eklektisch  getrübten,  griechischen 
Philosophensysteme.  Dieses  System,  welches  seinen  Anhängern  die 
Wahrheit  zu  geben  versprach  und  zu  geben  schien,  habe  auch  den 
Juristen  jener  philosophischen  Jahrhunderte  die  Auskunft  geboten 
über  alle  die  Vorfragen  und  Voraussetzungen  ihrer  Berufswissen- 
schaft, für  die  der  moderne  Jurist  die  Naturwissenschaften  und  die 
Beobachtung  von  Leben  und  Wirtschaft  heranzieht.  Gleichzeitig  aber 
habe  die  philosophisch-begri£fliche  Schulung  und  Gewöhnung  ihrem 
ganzen  Denken  eine  systematisch-deduktive  Richtung  gegeben,  die  es 
scharf  unterscheide  von  dem  empirisch-induktiven  Verfahren  der  mo- 
dernen Jurisprudenz.  Allerdings  sei  diese  systematische  Art  des 
klassischen  Rechtsdenkens  vielfach  verwischt  durch  die  Byzantiner, 
die  von  jeher  nur  die  unmittelbar  verwendbaren,  positiven  Ent- 
scheidungen geschätzt  und  gesammelt  hätten,  nicht  ihre  Begrün- 
dungen und  deren  systematische  Zusammenhänge.  >Der  sogenannte 
juridische  Geist  gelangt  hier  zu  einem  zentralisierten  Ausdruck,  hinter 
welchem  alle  philosophischen  Erwägungen  absterben«  (S.  183).  So 
biete  Justinians  Chrestomathie  ein  schiefes  und  ungenaues  Bild  von 
Denkart  und  Tätigkeit  der  klassischen  Juristen  und  überdies  dnrch 
die  verständnislose  Häufung  des  kasuistischen  Materials  (S.  131) 
unter  Weglassung  der  begründenden  Begriifszusammenhänge,  massen- 
hafte heillose  Dunkelheiten  und  Widersprüche,  deren  Klärung  nor 
zu  gewinnen  sei  durch  hypothetische  Feststellung  der  für  jede  dieser 
auseinandergehenden  Entscheidungen  maßgebenden  juristisch -philo- 
sophischen Motivierung. 

Daß  das  Denken  der  Kaiserjuristen  im  weiten  Maß  philosophisch 
beeinflußt  war,  das  ist  an  der  Hand  des  in  diesem  Buch  zusammen- 
gestellten massenhaften  Materials  in  der  Tat  nicht  zu  verkennen, 
auch  ohne  das  Wort  Ulpians  von  der  Rechtslehre  als  >vera  philo- 
sophia«  (D.  1, 1. 1  §  1).  Anleihen  bei  den  griechischen  Denkern  finden 
sich  z.  B.  in  der  allgemeinen  Rechtslehre :  fUr  das  ins  naturale,  fBr 


p.  Sokolowski,  Die  Philosophie  im  Privatrecht  999 

die  Behandlung  und  Auslegung  des  Positivrechts  (die  Theophrast- 
zitate  im  Titel  de  legibus),  femer  für  die  Schuld-  und  Zurechnungs- 
lehre, endlich  und  vor  allem  für  den  Begriff  der  Sache  und  des 
Körpers,  für  ihren  Fortbestand  trotz  Wechsels  von  Bestandteilen 
oder  Form  und  für  das  Problem  der  Identität  oder  Nichtidentität 
der  Sachen,  die  als  Gegenstand  von  Geschäften  in  Frage  kommen. 

Gerade  in  diesen  Problemen  des  Sach-  und  Körperbegriffs  treten 
philosophische  Ausdrücke  und  Anschauungen  am  auffallendsten  her- 
vor. Hier  versuchten  daher  schon  Göppert  und  Fischer  philosophische 
Einflüsse  auf  die  Gestaltung  der  römischen  Rechtsdogmen  nachzu- 
weisen und  so  untersucht  denn  auch  Sokolowski  >die  Philosophie  im 
Privatrecht <  zunächst  nur  für  >  Sachbegriff  und  Körper  in  der  klassi- 
schen Jurisprudenz  und  der  modernen  Gesetzgebung <,  wie  der  Unter- 
titel seines  Buches  lautet. 

Nach  einer  Einleitung  über  die  Bedeutung  der  Philosophie  für 
die  Rechtswissenschaft  in  Rom  und  heut  (S.  1 — 27),  erörtert  Kap.  I: 
Begriff  und  Einteilung  der  Sachen  und  Körper  (S.  28—68),  Kap.  II: 
Entstehung,  Untergang  und  Veränderung  der  Körper  (S.,  69— 232), 
Kap.  Ill:  die  Lehre  von  der  Identität  der  Körper  (Irrtumsprobleme) 
(S.  233—330),  Kap.  IV:  Sachbegriff  und  Sachbestandteile  (S.  331—404), 
Kap.  V:  Teilbarkeit  der  Sachbegriffe  und  Körper  (S.  405—442),  Kap. 
VI:  den  Zuwachs  der  Körper  und  Sachbegriffe  (S.  443—498).  Dann 
folgen  nach  der  modernen,  geschmackvolleren,  aber  schwerlich  zweck- 
mäßigeren Art  die  vom  Fuß  der  Seiten  verbannten  > Anmerkungen c: 
S.  499-616. 

Für  alle  jene  Rechtsdogmen  glaubt  nun  Sokolowski  die  Beein- 
flussung durch  ganz  bestimmte  philosophische  Systeme  zu  erkennen, 
besonders  das  peripatetische  und  das  stoische.  Seine  Kenntnis  der 
antiken  Systeme  entnimmt  er  neben  Zellers  Geschichte  der  griechi- 
schen Philosophie  besonders  einem  Buch  von  Bäumker  über  das 
Problem  der  Materie.  '  Während  nach  Göppert  die  Stoa  für  die 
Juristen  von  Anfang  an  fast  ausschließlich  maßgebend  war,  scheint 
sie  ihm  erst  in  der  Kaiserzeit  bei  den  Juristen  Bedeutung  erlangt 
zu  haben,  als  Dogma  der  sabinianischen  Schule  und  weiterhin  der 
sämtlichen  spätklassischen  Juristen,  von  denen  Paulus  »vielleicht 
mehr  stoischer  Philosoph  als  Juristc  gewesen  sei.  Dagegen  seien 
Servius,  Alfenus,  Trebatins  sowie  dessen  Schüler  Labeo  und  mit 
diesem  die  ganze  prokulianische  Schule  Peripatetiker  gewesen.  Labeo, 
bei  dem  man  wiederholt  stoische  Schulangehörigkeit  suchte  und  zu 
finden  glaubte,  hat  nach  Sokolowski  >für  den  Eklektizismus  jener  Zeit« 
auffallend  wenig  stoisches  (S.  11),  während  die  Grammatik  und  die 
anderen  von  Gellius  ihm  zugeschriebenen  Studiengegenstände  durch- 
weg Aristoteles  zugehörten.    Ueberdies  setzt  ein  Brief  Ciceros  den 


400  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

Lehrer  des  Labeo,  Trebatius,  in  ein  unzweifelhaftes  Abhängigkeits- 
verhältnis zu  Aristoteles  und  seinen  Lehren.  Sollte  nun  Sokolowskis 
These  sich  bewahrheiten,  so  wäre  in  diesem  philosophischen  Gegen- 
satz zwar  natürlich  nicht  >die<  Ursache,  aber  doch  eine  der  Ur- 
sachen des  vielerörterten  Schulgegensatzes  gewonnen. 

Daß  Labeos  Schule  wirklich  peripatetisch  war,  ist  nach  den 
vom  Verfasser  beigebrachten  Indizien  in  der  Tat  wahrscheinlich.  Vor 
endgültiger  Entscheidung  möchte  aber  Referent,  als  Laie  in  philo- 
sophicis,  Nachprüfung  und  motiviertes  Urteil  Sachkundiger  abwarten. 
Was  die  Frage  besonders  erschwert,  ist  der  ziemlich  wilde  Eklek- 
tizismus der  kaiserzeitlichen  Philosophie.  So  erkennt  Verfasser  wieder- 
holt >peripatetische  Lehren  in  stoischer  Terminologie <  oder  »stoische 
Lehren  mit  peripatetischen  Entlehnungen«,  z.B.  S.  116:  der  >Erz- 
stoiker«  Paulus  gibt  eine  peripatetische  Lehre  mit  ihren  peripateti- 
schen Beispielen  (daß  in  den  Beispielen  viel  mehr  als  in  den  Lehr- 
sätzen die  Eigenart  und  Kraft  der  antiken  Systeme  lag,  macht  Ver- 
fasser sehr  plausibel!),  aber  er  gibt  sie  in  stoischer  Terminologie: 
statt  elSoc:  S^g  =  propria  qualitas.  Dazu  kommt,  daß  dasselbe  Wort 
species  bald  das  peripatetische  elSoc,  bald  die  stoische  ISic  zu  be- 
zeichnen scheint. 

Da  liegt  die  Gefahr  der  petitio  principii  denn  überaus  nahe. 
Dazu  kommt,  daß  Verfasser  anscheinend  mitunter  die  philosophischen 
Dogmen  mißverständlich  auffaßt  und  handhabt,  meist  im  Sinne  allzn 
großer  Vereinfachung.  Wenigstens  wurden  die  in  Rabeis  Kritik  gegen 
einige  Aufstellungen  Sokolowskis  erhobenen  Bedenken  mir  von  fach- 
männischer Seite  als  in  der  Tat  zutreffend  bezeichnet. 

Daß  es  auch  bei  der  Auslegung  und  Ausbeutung  der  juristischen 
Quellen  nicht  an  gelegentlichen  Mißgriffen  fehlt,  ist  bei  der  Behand- 
lung so  vieler,  oft  widerspruchsvollster  Probleme  kein  Wunder. 

In  der  Akzessionsfrage  z.  B.  nimmt  Verfasser  S.  127  ff.  eine  von 
Gassius  (unter  Nero)  vertretene,  recht  beschränkte,  ältere  sabinianisch- 
stoische  Theorie  an,  der  »spätere,  streng  stoisch  gesinnte  Juristen«, 
insbesondere  Paulus  (unter  den  Severen)  entgegengetreten  seien,  die 
zwar  >vom  älteren  Stoizismus  des  Gassius <  ausgingen,  aber  genau 
wie  in  der  spätstoischen  Spezifikationstheorie  den  Untergang  des 
Eigentums  und  die  Entstehung  neuer  Rechte  >  nicht  nur  auf  einer 
Verschmelzung  der  o&o(a,  sondern  auch  auf  der  sieghaften  Kraft  der 
neuen  iiu;<  beruhen  ließen.  >Accessioni  esse,  heißt  nach  dieser 
neuesten  Theorie  nicht  allein  im  Stoff,  sondern  vor  allem  in  der 
Igte  —  dem  Spiritus  —  der  maior  species  einer  anderen  Sache  auf- 
gehen <.  Und  bei  der  >  maior  species <  gibt  Note  328  die  Ulpianstelle' 
D.  (34,2)  19  §  13:  >Perveniamus  et  ad  gemmaa  inclusas  argento  aurO' 


p.  Sokolowski,  Die  Philosophie  im  Privatrecht  40^ 

que.  Et  ait  SabinuSj  auro  ai-gentove  cedere:  ei  enim  cedit,  cuius 
maior  est  species.  Quod  rede  expressit*.  Danach  stammt 
also  der  für  jene  (angebliche !)  Theorie  mit  Recht  als  charakteristisch 
angeführte  Begriff  der  >  maior  species  <  schon  von  Sabinus  (unter 
Tiber)!  Wie  soll  sie  da  eine  nachkassianische,  neueste,  hauptsächlich 
durch  Paulus  zur  Geltung  gebrachte  Reform  sein? 

Fehl  geht  femer  z.  B.  die  Ausführung  über  den  Grenzbaum.  Er 
werde  streng  nach  aristotelischen  Lehren  behandelt:  »da  der  Baum 
stofflich  von  den  beiden  an  einander  grenzenden  Schollen  erzeugt 
ist,  80  hat  natürlich  jede  . . .  nach  Maßgabe  ihrer  Größe  und  Er- 
giebigkeit zur  Entstehung  und  zum  Wachstum  der  Pflanze  beige- 
tragene und  so  richte  sich  das  Miteigentum  an  dem  durch  Fällung 
zum  Rechtsobjekt  gewordenen  Baum  >nach  dem  Größen  Verhältnis 
der  benachbarten  Parzellen  <  (S.  149, 151  f.),  >der  benachbarten  Grund- 
stücke« (S.  152, 154).  Wenn  also  eine  Grenzeiche  mit  neun  Zehntel 
des  Stammes  auf  einer  Bauernstelle  steht,  mit  einem  Zehntel  auf 
einem  vielleicht  hundertmal  so  großem  Rittergut,  so  wäre  sie  wie 
eins  zu  neunundneunzig  zu  teilen,  statt  wie  neun  zu  eins  nach  der 
bisherigen  Deutung  der  einschlägigen  Stellen,  besonders  D.  (17,2)83 
Paulus:  >sed  naturali  convenit  rcUioni,  et  postea  tantam  partem 
utrumque  habere  tarn  in  lapide  quam  in  arbore,  quantam  et  in  terra 
habd)at€.  —  Wir  bleiben  bei  der  bisherigen  Deutung  (auch  schon 
wegen  des  >habebat«  —  das  Grundstück  hat  er  ja  noch!)  und  halten 
jene  praktische  Monstrosität  selbst  bei  Paulus  für  undenkbar,  so 
stark  philosophisch  >belastet<  er  auch  erscheinen  mag  (u.  S.  406). 

Auch  die  tatsächlichen  römischen  Verhältnisse  werden  nicht 
immer  genügend  gewürdigt.  So  erscheint  S.  358  das  S.  C.  Aviolanum 
(122  n.  Chr.),  welches  verbot,  >ea  quae  aedibus  iuncta  sunt,  legari*^ 
als  »in  erster  Linie  den  Schutz  der  Kunstt  bezweckend,  während  es 
tatsächlich  hineingehört  in  die  durch  die  ganze  Kaiserzeit  sich  hin- 
ziehenden »Fassaden- «Gesetze,  die  nach  dem  Rezept  der  Potemkin- 
schen  Dörfer  den  Schein  allgemeiner  Blüte  auch  in  den  zurück- 
gehenden Teilen  des  Reiches  vortäuschen  sollten,  vgl.  die  S.  C.  unter 
Claudius  und  Nero  bei  Bruns  fontes  VI  Ed.  p.  190  mit  Mommsens 
Note  über  eine  gleichartige  epistula  Hadriani.  S.  C.  von  44 :  die 
>felicitas  saeculi  instantis€  verbietet  >ininiicissimam  pace  faqiem 
inducere  ruinis  domum  villarufnque< ;  S.  C.  von  56 :  yhoc  praecipue 
8aeeulo€  bei  der  neuen  yfelicitas  orbis  ierrarutn<  dürfen  keine  Häuser 
mehr  auf  Abbruch  verkauft  werden,  wie  während  des  Gehenlassens 
ypriorum  temporum<  (eben  unter  Claudius)  >tVa  ut  diceretur  senectute 
ae  tumfulo  iam  rem  Romanam  perirej.  Dazu  die  späteren  Verord- 
nungen von  Alexander  bis  Valens  im  Cod.  8,10  (de  aedif.  priv.) 


402  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

2,  3,  6,  7, 8  mit  ihrer  Sorge  für  die  facies  civitatis  und  den  publicus 
adspectus. 

Wenn  es  ferner  S.  357  (vgl.  S.  363)  beißt:  >das  sogenannte  in* 
strumentum'  verdankt  seine  Entstehung  ohne  Zweifel  dem  Erb- 
recht und  gelangte  in  ihm  vorzugsweise  zur  Anwendung<,  so  wird 
hier  nicht  beachtet  oder  wenigstens  nicht  betont  das  das  ganze  römi- 
sche Leben  beherrschende  Buchungswesen.  Die  Inventare  (libellus 
patrimonii  u.  s.  w.)  bestimmten  und  ergaben  für  die  tagtägliche  Ver- 
waltung, was  an  Sklaven  und  anderen  res  zum  instrumentum  dieses 
oder  jenes  fundus  instructus  u.  s.  w.  gehörte:  vgl.  z.  B.  D.  (32)  99  pr.; 
D.  (33, 10)  1, 10.  Wenn  diese  Aufzeichnungen  für  den  Erbfall  nütz- 
lich waren,  so  waren  sie  doch  ganz  und  gar  nicht  dafür  bestimmt 

Die  allgemeine  Entwickelung  des  römischen  Rechts  denkt  sich  Soko- 
lowski  so,  daß  bis  gegen  Ende  der  Republik  die  Juristen  das  Recht 
fast  nur  prozessualisch  au&ßten  und  behandelten,  dann  aber  auch  be- 
grifflich >im  Zustand  der  ruhigen  Wirksamkeit,  unabhängig  von  An- 
griff und  Verteidigung,  in  seinen  Beziehungen  zum  Verkehr  und  zur 
Natur.  Der  klassische  Jurist  erhebt  das  Recht  zu  einem  Zweige  der 
allgemeinen  Erkenntnistheorie«  (S.  351).  >In  der  Verbindung  der 
philosophischen  Begrifßslehre  mit  den  gegebenen  Formen  des  alt- 
römischen Zivilprozesses  liegt  die  reformatorische  Bedeutung  der 
klassischen  Rechtswissenschaft«  (S.  339). 

Diese  klare  und  plausible  Orundauffassung  führt  Sokolowski  fttr 
die  sämtlichen,  meist  bestbestrittenen  Gegenstände  seiner  Unter- 
suchung (oben  S.  399)  durch,  mit  umfassenden  Kenntnissen,  Scharf- 
sinn und  vorsichtiger  Methode  (vgl.  z.  B.  S.  241  gegen  »unhistorische 
Verstümmelung  der  Quellenzeugnisse  ...  von  einem  vorgefaßten 
Standpunkt  aus<).  Trotzdem  bleiben  natürlich  mancherlei  Zweifel  und 
Bedenken.  Darunter  das  allgemeine,  daß  er  wieder  und  wieder  die 
Entwickelung  so  auffaßt  oder  wenigstens  so  darstellt,  als  ob  vor  den 
Eindringen  der  griechischen  Philosophie  für  zahlreiche  Rechtsfiragen 
volle  tabula  rasa  bestanden  hätte.  Ein  Beispiel  unter  vielen:  sollte 
eine  altrömische  Bauern  jury  wirklich  wegen  »arbores<  furtim  caesae 
den  verurteilt  haben,  der  seines  Nachbarn  eben  eingesteckte  Weiden- 
ruten abschnitt,  weil  sie  noch  nicht  von  Aristoteles  gelernt  hatten, 
>daß  Gewächse,  welche  noch  keine  Wurzel  getrieben  haben,  un- 
möglich Bäume  genannt  werden  können«  (S.  149).  Das  dürften  sie 
von  sich  aus  gerade  so  empfunden  haben,  wie  ihre  heutigen  von 
Aristoteles  auch  nichts  ahnenden  Kollegen! 

Aber  trotz  dieser  Beanstandungen  gibt  Referent  bereitwillig  za, 
daß  nach  den  von  Sokolowski  aus  den  Pandekten  zusammengestellten 
technisch-philosophischen  Ausdrücken  und  Gedankengängen  der 


p.  Sokolowski,  Die  Philosophie  im  Privatrecht  403 

floß  philosophischer  Systeme  auf  das  Denken  und  Schlußfolgern  der 
klassischen  Juristen  sehr  viel  stärker  war,  als  man  bisher  anzunehmen 
pflegte.  »Praktiker  war  der  Römer,  aber  nicht  Philosoph«,  sagt 
z.  B.  eine  neueste  tüchtige  Schrift  von  den  Pandektenjuristen,  und 
Referent  selbst  bezweifelte  die  von  Sokolowski  behauptete  philo- 
sophische Orientierung  der  klassischen  Jurisprudenz,  als  er  1897 
einen  ersten  Abschnitt  des  jetzigen  Buches  anzeigte.  Die  jetzigen 
§§  4  und  8  über  die  Spezifikation  erschienen  nämlich  schon  1896  in 
der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung.  Doch  hat  Verfasser  seine  Auf- 
stellungen in  wichtigen  Punkten  ergänzt  und  Referent  benutzt  seiner- 
seits gern  die  Gelegenheit,  auf  Grund  des  vollständigeren  Materials 
noch  einmal  zu  diesen  interessanten  Problemen  Stellung  zu  nehmen. 

Sokolowski  hat  zunächst  seine  Ausfuhrungen  de  lege  ferenda  stark 
verändert.  Er  macht  nach  wie  vor,  und  in  noch  schärferer  Tonart, 
Front  gegen  den  §950  BGB.,  der  selbst  an  gestohlenem  Material 
dem  verarbeitenden  Diebe  oder  Hehler  Eigentum  zuspricht,  und 
empfiehlt  statt  dieses  >  manchesterlichen  < ,  das  Eigentum  >mit  einem 
Judasküsse  verratenden  Spezifikationsrechts,  daß  der  Stoffeigentümer 
Herr  der  Situation  bleiben  und  entscheiden  soll,  ob  er  das  Produkt 
anter  Zahlung  der  Werterhöhung  nehmen  oder  es  dem  Vorarbeiter 
gegen  Leistung  des  Stoffwerts  lassen  (und  aufzwingen)  will.  Dies 
um  so  mehr,  als  wir  mit  den  naturphilosophischen  Systemen  auch 
jede  Möglichkeit  aufgegeben  haben,  die  Frage  der  Wesen sänderung 
(nova  species)  sicher  zu  lösen.  —  Aber  wenn  er  so  nach  wie  vor 
meine  Arbeit  gegen  fremdes  Eigentum  zurücktreten  läßt,  so  er- 
kennt Sokolowski  jetzt  das  Spezifikationsprinzip  doch  an  zu  Gunsten 
der  Idee,  als  > Funktion  ihres  Urhebers.  Was  sie  verschlang,  führt 
sie  ihrem  Autor  zu.<  Hier  handle  es  sich  in  der  Tat  um  Höheres 
als  das  Eigentum,  nämlich  >um  die  Stellung  der  Person  im  Privat- 
recht und  um  den  Schutz  ihrer  rechtmäßigen  Handlungen<.  Daher 
wünscht  er  statt  des  §  950  folgende  sehr  beachtenswerte  Bestimmung: 
>Wer  durch  Verarbeitung  u.  s.w.  ein  Werk  der  bildenden  Kunst  her- 
stellt, erwirbt  das  Eigentum  an  dieser  neuen  Sache.  Die  gleiche 
rechtliche  Wirkung  hat  die  Abfassung  eines  originalen  Schriftwerkes 
auf  fremdem  Material.« 

Für  die  Geschichte  der  Spezifikation  in  Rom  läßt  er  auf  die 
ursprüngliche,  rein  prozessuale  Behandlung,  in  der  Kaiserzeit  eine 
vorwiegend  begrifflich  philosophische  folgen.  Da  bei  strenger  Formel- 
auslegung der  verarbeitete  Stoff  nicht  mehr  als  solcher  vindiziert  werden 
konnte,  so  habe  ursprünglich  mit  der  Eigentumsklage  auch  das  Eigentum 
als  erloschen  gegolten.  So  sei  das  Produkt  (z.  B.  aus  fremdem  Mehl 
gebackenes  Brod)  herrenlos  gewesen  und  Eigentumsklage  und  Eigen- 

GMi  f  «1.  Am.  1906.  Nr.  6  28 


404  Göü  gd.  Anz.  1906.  Nr.  5 

tumsrecht  daran  dem  Spezifikanten  zugesprochen  worden,  nicht  erst 
nach  »Okkupationsrechtc,  sondern  schon  weil  Eigenbesitz  an  res 
nullius  (nach  römischem  Recht)  Eigentum  sei.  Letzteres  wird  sich 
halten  lassen :  dominium  verum  a  possessione  coepit.  Daß  an  herren- 
losen Dingen  regelmäßig  nur  die  Ergreifung  des  Eigenbesitzes 
(Okkupation)  Eigentum  verschaffte,  war  wohl  kein  grundsätzliches 
Erfordernis,  sondern  nur  ein  tatsächliches.  Ich  muß  Besitz  der  res 
nullius  erlangen,  um  ihn  zu  haben,  dann  aber  bin  ich  Eigent&mer, 
nicht  weil  ich  Besitz  erlangte,  sondern  weil  ich  Besitz  habe! 

War  diese  vorwiegend  prozessualische  Auffassung  der  Frage 
wirklich  die  ursprängliche ,  so  wäre  von  den  beiden  kaiserzeitlichen 
Spezifikationslehren  die  durchgehend  als  die  neuere,  fortschrittliche 
aufgefaßte  der  Prokulianer,  wonach  das  aus  fremdem  Mehl  gebackene 
Brot  dem  Bäcker  gehört,  im  Gegenteil  die  altrömische;  die  sabinia- 
nische  dagegen,  die  das  Brot  dem  Mehleigentümer  zuspricht,  eine 
den  Eigentumsbegriff  folgerechter  durchführende  Reform.  Und  zwar 
läßt  Sokolowski  sie  die  Stoff  Vindikation  (farinam  meam  esse)  für 
zulässig  erklären  (mit  freierer,  ausdehnender  Auslegung  von  farina), 
genau  wie  schon  republikanische  Juristen  die  actio  arhorum  furtim 
caesarum  auch  für  vites,  die  actio  de  tigno  iuncto  auch  für  eae- 
menta  zugelassen  hätten  (S.  96).  Die  Prokulianer  dagegen  hätten 
sich  durch  den  Formelwortlaut  (farinam  meam  esse)  für  gebunden 
gehalten,  genau  wie  in  der  Frage  der  >iudicia  absolutaria< ,  wo  sie 
gleichfalls  der  formalen  Logik  der  Formel  sich  unterwarfen,  während 
die  Sabianer  mit  freierer  Auslegung  die  materielle  Gerechtigkeit  zur 
Durchführung  brachten.  Auch  die  von  den  Sabinianern  vertretene, 
von  den  Prokulianem  verworfene  Ausdehnung  der  Kauf  klagen  auf 
den  Tausch  (weite  Auslegung  der  Worte  quod  emit,  quod  vendidif) 
ließe  sich  wohl  daneben  stellen. 

Sehr  hübsch  ist,  was  Sokolowski  hier  und  in  anderen  Originir- 
erwerbsfällen  über  die  praktische  Bedeutung  der  condemnatio  pecuniaiia 
ausführt;  wie  dank  ihrer  die  oft  schroffe  Regelung  der  Eigentnms- 
frage  doch  zu  durchaus  billigen  Vermögens-  und  Entschädigungsfolgen 
führte. 

Als  treibendes  Motiv  für  die  Schultheorien  in  den  Spezifikations*, 
Accessions-  u.  s.w.  Fragen  vermutet  er  philosophische  Theoreme,  da- 
gegen verwirft  er  völlig  das  Motiv  des  Arbeitsschutzes.  Für  die 
klassischen  Juristen  gewiß  mit  Recht.  Sie  waren  ja  keine  Gesetz- 
geber, die  Willensentscheidungen  durch  Zweckmäßigkeitserwägongoi 
hätten  begründen  können,  sondern  eben  Juristen,  also  darauf  be- 
schränkt, aus  anerkannten  Obersätzen  mit  (wirklichen  oder  schein- 
baren) logischen  Gründen  Folgerungen  abzuleiten.     Zudem  tritt  die 


p.  Sokolowflki,  Die  Philosophie  im  Priyatrecht  405 

Arbeitsschutztheorie  in  keiner  klassischen  Stelle  auf  und  Labeos  be- 
kannte Entscheidung  über  das  Wollefarben  (nach  Verfasser  S.  80  ein 
peripatetiscbes  Schulbeispiel)  widerspricht  ihr  aufs  schärfste. 

Aber  ob  nicht  die  Kompilatoren  die  Arbeitsschutzidee  hatten? 
Sie  waren  ja  Gesetzgeber  und  in  der  byzantinischen  j  wirtschaftlich 
und  sozial  der  klassischen  entgegengesetzten  Gesellschaft  (vgl.  z.  B. 
die  Gestalt  des  Johannes  Lydus),  mit  dem  ausgesprochen  arbeiter- 
freundlichen Christentum  ist  diese  Tendenz  der  Gesetzgebung  sogar 
a  priori  zu  vermuten.  Nur  ist  mit  der  doppelten  Schwierigkeit  zu 
rechnen,  die  sich  hier  wie  allenthalben  den  Kompilatoren  für  das 
Kundgeben  etwaiger  eigener,  byzantinischer  Rechtsanschauungen  bot. 
Sie  sollten  möglichst  viel  klassisches  Material  erhalten  und  mußten 
durchgehend  in  einem  Mosaik  klassischer  Aussprüche  sich  ausdrücken. 
So  schließen  denn  arbeitsfeindliche  klassische  Rechtssätze  (das  Wolle- 
färben, die  media  sententia)  die  Arbeitsschutzidee  bei  den  Byzan- 
tinern nicht  aus,  während  die  vereinzelten  arbeitsfreundlichen  Wen- 
dungen der  Institutionen  in  der  Tat  für  diese  Tendenz  sprechen. 

Sokolowskis  philosophische  Herleitung  der  drei  Spezifikations- 
systeme, die  1897  dem  Referenten  als*  in  der  Luft  stehend  erschien 
(o.  S.  403),  findet  in  dem  jetzt  auch  für  zahlreiche  andere  Fragen 
vorgelegten  Quellenmaterial  durchaus  genügende  Anhaltspunkte.  Es 
wird  also  als  wahrscheinlich  anzunehmen  sein,  daß  die  Prokulianer 
ihre  (wohl  römisch-hergebrachte)  Lehre  vom  Eigentumserwerb  des 
formgebenden  Spezifikanten  philosophisch  motivierten  mit  den  aristo- 
telischen Lehrsätzen  von  der  alleinigen  Bedeutung  des  siSoc,  während 
die  Sabinianer  ihre  (neue)  Theorie  vom  Fortbestand  des  Stoffeigen- 
tums auf  die  stoische  Idee  der  alleinigen  Bedeutung  der  o&a[a  ge- 
stützt haben  werden. 

Die  media  sententia  sieht  Sokolowski  als  Weiterbildung  nicht 
der  prokulianischen,  sondern  der  sabinianischen  Theorie  an,  als  raffi- 
niertere Durchführung  des  stoischen  Gedankens,  daß  nur  materielles 
existiere,  alles  existierende  daher  materiell  sei.  So  auch  die  Form, 
die  formgebende  Seele  (i€tc:  species,  format  ffV6ö(ia:  Spiritus).  Von 
hier  aus  habe  man  die  Spezifikation  als  Verbindung  des  Formkörpers 
mit  dem  Stoffkörper  aufgefaßt  und  sie  den  stoischen  Lehrsätzen  über 
die  Körperverbindungen  unterstellt.  Nach  diesen  zerstörte  nun  nur 
die  die  Körper  unwiderruflich  vernichtende  Verschmelzung  (o&rx^^^^ 
nach  manchen  auch  schon  die  xpaotc)  Sache  und  Eigentum.  So  denn 
auch  bei  der  Spezifikation,  falls  die  Verbindung  von  Formkörper  und 
Stoff körper  unwiderruflich  war:  die  unrückführbare  Spezifikation  der 
media  sententia. 

Daß  jede  Formgebung  als  solche  eine  Körper  Verbindung  sei, 

28* 


406  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

sagen  nun  die  angeführten  Philosophenstellen  nicht,  sondern  nar  — 
ebenso  wie  die  Juristen  —  daß  ooyxooic  (bezw.  xpdatc)  flüssiger  Stoffe 
zur  Herstellung  von  Arzneien  u.  s.  w.  Schaffung  einer  neuen  Sache, 
also  Spezifikation  ist.  So  könnte  nun  das  Ganze  immer  noch  als 
geistvolle,  aber  luftige  Kombination  erscheinen,  wenn  nicht  Paolos 
D.  (32)  78  §  4  diese  Vorstellungen  so  gut  wie  sicher  bezeugte. 

Eine  höchst  wertvolle  Stelle !  1896  würdigte  Sokolowski  sie  noch 
nicht ;  er  führte  sie  an  (a.  a.  0.  S.  282  A.  2),  aber  nur  für  den  Recbts- 
satz,  daß  ein  Silber -Vermächtnis  auch  > factum  argentum«  omfafit, 
während  das  Marmor -Vermächtnis  nur  auf  Unverarbeitetes  gebt, 
nicht  aber  für  die  von  Paulus  dazu  gegebene,  technisch  philosophische 
Begründung:  >cutu5  haec  ratio  tradituTy  quippe  ea^  quae  talis  naturae 
sint,  ut  saepiiis  in  8ua  redigi  possint  initia,  ea  materiae  potentia  viäa 
numquam  vires  eius  effugiani.t  Hier  scheint  in  der  Tat  die  Form- 
gebung als  Verbindung  zweier  Körper  aufgefaßt  zu  werden. 

Aber  auch  über  die  Spezifikationsfrage  hinaus  scheint  mir  die 
Stelle  nach  doppelter  Richtung  lehrreich. 

Einmal  für  das  Verhalten  der  Kompilatoren.  Diese  ausführlichste 
und  prinzipiellste  philosophische  Ausführung  zur  Eigentumslehre  steht 
im  Vermächtnisrecht  versteckt ;  sollten  in  den  für  die  Eigentomstitel 
(D.  6,1;  D.  41,  1}  ausgebeuteten  klassischen  Büchern  nicht  ähnlich 
ausführliche  Darlegungen  gestanden  haben?  Dann  sind  sie  eben 
dort  als  superflua,  frivola,  ridicula,  wie  Justinian  zu  sagen  liebt, 
gestrichen  worden,  während  hier  im  Vermächtnisrecht  ond  in 
einem  überlangen  (B.  30—32:  de  legatis)  und  nach  mancherlei 
Spuren  auch  überhasteten  Titel  diese  Ausführung  durchschlüpfte. 
Dies  berechtigt  zu  der  Vermutung,  daß  die  Kompilatoren  gerade  von 
solchen  grundsätzlichen,  philosophischen  Darlegungen  viel  gestrichen 
haben  werden,  die  philosophischen  Einflüsse  also  bei  den  SJassikem 
selbst  (oder  doch  bei  manchen  Klassikern)  noch  viel  ausgedehnter 
und  bedeutungsvoller  waren,  als  die  Pandekten  sie  jetzt  zeigen. 

Sodann  wirft  diese  philosophisch-technische  Darlegung  ein  neoes 
und  helles  Licht  auf  ihren  Verfasser  Paulus,  den  Jhering  als  >wü8ten 
Fanatiker  im  Konstruieren«,  als  Begriffisijuristen  und  >Pnchta  des 
Altertums«  verspottete.  Jhering  konstatierte  mit  Recht  seine  auf- 
fallende Abneigung  gegen  das  positive  Moment  im  Recht,  die  ihn 
z.  B.  gesetzliche  Neuerungen  unter  Totschweigung  des  Gesetzes  (lex 
Scribonia)  als  begrifflich  notwendig  darlegen  läßt.  Dies  erscheint 
nun  nicht  mehr  als  Folge  bloß  persönlicher  Anlage,  sondern  als  das 
Ergebnis  intensiver  philosophischer  Schulung  und  Betätigung. 

Genau  so  untersteht  er  dem  Einfluß  »philosophischer  Zwangs- 
vorstellungen«, wenn  er  den  Satz  ytabtdam  picturae  cedere*  verwirft» 


p.  Sokolowski,  Die  Philosophie  im  Privatrecht  407 

weil  > streng  stoisch  gedacht«  dem  Bilde  als  solchem  keine  Realität 
zukommt  (S.  168—174).  Hier  findet  Sokolowski  scharfe  Worte  gegen 
die  in  der  Tat  fast  kindlichen  Ausführungen  Neuerer:  »daß  schon 
die  klassischen  Juristen  eine  gewisse  Vorstellung  vom  Werte  jeder 
produktiven  Kunst  gehabt  hätten  —  wie  wenn  es  gälte  die  ersten 
Anfänge  der  Civilisation  bei  Zulukaffern  und  Buschmännern  festzu- 
stellen«. —  Und  sehr  richtig,  gegenüber  manchen  neueren  Aus- 
fährungen geradezu  erlösend,  betont  er,  daO  >der  klassische  Jurist 
weit  mehr  als  universeller  Denker,  denn  als  Rechtspraktiker«  »künst- 
lich Tatbestände  konstruierte,  die  in  der  Praxis  der  Gerichte  vielleicht 
gar  keine  Rolle  spielten,  um  nach  dem  Vorgange  der  Philosophen 
an  der  Hand  jener  Schulbeispiele  leitende  prinzipielle  Sätze  zu  er- 
örtern«. —  Auch  daß  sie  die  typischen  Schulbeispiele  der  Philosophen 
unverändert  beibehalten,  selbst  wenn  sie  juristisch  gar  nicht  passen, 
ist  eine  vielsagende  und  durchaus  zutreffende  Wahrnehmung  (S.  118f.: 
als  Beispiel  der  Sach Verbindung  die  caementa,  ungeachtet  des  für 
sie  bestehenden  positiven  Sonderrechts  des  tignum  iunctum ;  als  Bei- 
spiel für  das  corpus  ex  distantibus  in  der  Us  ukap ions  lehre:  po- 
pulns,  legio!). 

Paulus  war  also  wirklich  >  vielleicht  mehr  stoischer  Philosoph, 
als  Jurist«,  aber  Philosophen  (oder  Philosophen  schule  r)  waren  doch 
auch  seine  mehr  juristischen  Kollegen.  So  z.  B.  sein  Zeitgenosse, 
der  »Deipnosophist«  Ulpian,  der  auch  mehrfach  technisch-philosophische 
Erörterungen  bietet,  vor  allem  in  D.  (18,  1)  9  §  2  —  Kauf  von  Essig 
statt  Wein  —  die  berühmte  o&oia- Erörterung.  Gegen  Sokolowskis 
Erklärung  der  Stelle  (S.  239  ff.)  beruft  sich  Ehrlich  (studi  in  onore 
di  V.  Scialoja  1904)  auf  D.  (33,  6)  9  pr.  etc.  über  das  Vermächtnis 
von  Wein ;  aber  mit  Unrecht ,  da  nach  der  hier  geübten  Auslegung 
des  Testator -Willens  das  legatum  vini  alles  von  ihm  >vini  numero< 
gehabte  umfassen  soll,  also  außer  Essig,  auch  Bier.  Dies  aber  fällt 
natürlich  nicht  unter  die  eadem  prope  ohoia  jener  Ulpianstelle.  Ana- 
logien vom  Vermächtnisrecht  für  andere  Rechtsgebiete  sind  eben 
immer  bedenklich  und  trügerisch.  So  wohl  auch  bei  Sokolowski 
selbst  die  Verquickung  von  eigentumsrechtlichem  »rei  cederet  und 
erbrechtlichem  >legato  cedere«,  auf  der  seine  Accessionstheorie 
(S.  114  ff.)  im  wesentlichen  beruht. 

Sokolowskis  Buch  ist  im  Verhältnis  zu  seiner  Bedeutung  bisher 
wenig  besprochen  worden,  das  scheint  die  resignierte  Voraussage  des 
Vorworts  zu  bestätigen,  welches  >in  erster  Linie  auf  das  Interesse 
philosophischer  Spezialistenc  hoffte,  auf  >die  Teilnahme  der  Juristen« 
dagegen  >nur  ausnahmsweise,  oder  doch  erst  in  späteren  Zeiten  . . ., 
wenn  wieder  einmal  jenes  Mistrauen  gegen  die  Macht  der  Ideenwelt, 


408  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

welches  unsere  Tage  als  vorübergehende  Erscheinung  kennzeichnet, 
überwunden  sein  wird«. 

Indes  jenes  Versagen  vieler  Rezensenten  erklärt  sich  genügend 
durch  das  Zurückhalten  mit  kritischem  Urteil  bei  einem  fortgesetzt 
über  die  Fach-  und  Fakultätsgrenzen  hinausgreifenden  Thema,  denn 
mehrfache  Stellungnahmen  zu  dem  Buche  zeigten,  daß  es  schon  jetzt 
gewürdigt  wird.  Und  bei  der  unverkennbaren  Neubelebung  der 
romanistischen  und  gleichzeitig  der  rechtsphilosophischen  Studien 
ist  zu  hoffen,  das  diese  für  die  Entwickelung  des  Rechts  und  der 
Philosophie  gleich  bedeutenden  Probleme  auf  Sokolowskis  Sparen  zahl- 
reiche Bearbeiter  finden  werden.  Für  das  moderne  Recht  wird  da- 
durch immer  deutlicher  die  absolute  Verschiedenheit  in  Voraussetzungen 
und  Mitteln  hervortreten  zwischen  unserer  naturwissenschaftlich- 
empirischen  Rechtsbehandlung  und  der  naturphilosophisch-spekulativen 
der  Römer.  Die  vielfach  noch  im  BGB.  fortwirkenden  Reste  jener  an- 
tiken Auffassung  (die  wesentlichen  Bestandteile,  Eigenschaften 
U.S.W.)  sind  leere  Gespenster,  die  um  so  gefährlicher  sind,  als  uns 
die  geschmeidige,  römische  condemnatio  pecuniaria  abgeht.  Welch 
verhängnisvolle,  gradezu  ungeheuerliche  Wirkung  diese  toten,  natur- 
philosophischen Dogmen  ausüben,  das  wurde  neuestens  für  eines 
davon  unter  teilweiser  Anlehnung  an  Sokolowskis  Buch  zahlenmäßig 
dargelegt.  ^) 

Münster  i.  W.  H.  Erman 


Theodor  Mommsen,  Gesammelte  SchrifteD.  I.  Abteüang:  Juristische 
SchriftBD.  I.  Band  mit  Mommsens  Bildnis  und  zwei  Tafeln.  VI,  479  S. 
II.  Band  mit  zwei  Tafeln.  VIII,  459  S.  Berlin,  Weidmannsche  Bachhandlong, 
1905. 

Der  Wunsch  nach  einer  Sammlung  von  Mommsens  in  so  vielen 
Zeitschriften  verstreuten  kleineren  Schriften  war  wohl  schon  bei 
manchem  wach  geworden,  ehe  der  Meister  der  Altertumsforschung 
selbst  ihn  empfunden.  Otto  Hirschfeld  berichtet  uns  über  die  Ent- 
stehungsgeschichte der  anzuzeigenden  Sammlung  im  Vorworte  des 
ersten  Bandes,  daß  Mommsen  bereits  mehrere  Jahre  vor  seinem  Tode 
mit  der  Absicht  umging,  >die  ungeheure  Masse  seiner  weitzerstreuten 
Abhandlungen  gesammelt  und  gesichtet  herauszugebenc.  1902  hatte 
er  selbst  mit  der  Sammlung  der  Juristischen  Schriften  begonnen  und 
Bernhard  Kubier  als  Mitarbeiter  für  diese  Sammlung  gewonnen.  In 
seinem  aus  demselben  Jahre  datierten  Testamente  bat  er  Otto  Hirschfeld 
und  Karl  Zangemeister  für  den  Fall,   das  ihm  die  Arbeit  selbst  zu 

1)  Von  Krückmann,  Wesentlicher  Bestandteil  a.8.w.  1906,  S.  64f. 


Mommsen,  Juristische  Schriften.   I.  11  409 

tan  nicht  mehr  vergönnt  sei,  sie  nach  seinem  Tode  zu  verrichten. 
Zangemeister  starb  vor  Mommsen,  so  blieb  Hirschfeld  allein  die 
Aufgabe  fQr  die  Vollstreckung  des  letzten  Willens  zu  sorgen.  Wenn 
die  Herausgabe  der  Schriften  Bernhard  Kubier  übernahm,  so  ist 
damit  nicht  bloß  vom  objektiv  wissenschaftlichen  Standpunkte  die 
Arbeit  in  die  besten  Hände  gelegt,  sondern  auch  der  subjektive 
Wille  des  Testators  erfüllt,  wie  er  denselben  in  der  Annahme  von 
Kühlers  Mitarbeit  zum  Ausdrucke  gebracht.  Hirschfeld,  Dessau,  Mitteis 
und  Wilcken  haben  bei  der  Drucklegung  unterstützend  mitgewirkt: 
Namen,  die  den  Fortbestand  von  Mommsens  schönstem  Vermächtnis 
bezeugen,  der  Vereinigung  von  Philologie  und  Jurisprudenz,  die  der 
Tote  in  seiner  Person  verkörpert  hatte. 

Die  Juristischen  Schriften  sind  schon  von  Mommsen  auf  drei 
Bände  berechnet  worden.  Der  erste  sollte  die  von  Mommsen  be- 
handelten antiken  Oesetzestexte  mit  den  Kommentaren  enthalten,  der 
zweite  »die  Abhandlungen  über  römische  Juristen  und  römische 
Gesetzbücher«,  der  dritte  die  > sonstigen  Beiträge  zur  römischen 
Rechtsgeschichte«.  Mit  dem  Drucke  des  ersten  Bandes  war  im 
November  1902  begonnen  worden,  aber  körperliche  Schwäche  und 
die  Mommsen  dringender  scheinende  Fertigstellung  des  Theodosianus, 
die  er  ja  auch  nicht  mehr  erleben  sollte ,  brachten  den  Druck  bald 
ins  Stocken.  Nach  seinem  Tode  hat  Kubier  das  Werk  so  rasch  ge- 
fördert, daß  schon  im  November  1904,  ein  Jahr  nach  Mommsens 
Tod,  Hirschfeld  die  Vorrede  zum  ersten  Bande  unterzeichnen  konnte 
und  wiederum  ein  Jahr  später,  Oktober  1905,  Kubier  selbst  das 
Vorwort  des  zweiten  Bandes.  Es  ist  nicht  alles  unverändert  zum 
Abdrucke  gekommen,  so  wie  es  Mommsen  beim  ersten  Erscheinen 
der  Abhandlungen  geschrieben  hatte.  Er  selbst  hatte  die  Absicht 
ausgesprochen.  Fehlerhaftes  und  Beseitigtes  zu  korrigieren,  sowie  die 
Literatur,  soweit  sie  von  Bedeutung  sei,  bei  den  einzelnen  Abhand- 
lungen zu  registrieren.  Dies  sowie  die  Nachprüfung  und  Umschrift 
der  Quellen  nach  den  kritischen  Ausgaben  neuesten  Standes  war  für 
den  Herausgeber  keine  kleine  Aufgabe.  Aber  schon  Mommsen  selbst 
hatte  zahlreiche  Zusätze  in  späteren  Jahren  seinen  Aufsätzen  bei- 
gefügt. Auch  diese  muüten  Berücksichtigung  finden.  So  sind  die 
Abhandlungen  denn  alle  in  dem  uns  gewohnten  neuesten  Gewände 
erschienen  und  so  tritt  zu  dem  großen  Vorteil,  den  die  Form  der 
Sammlung  fur  die  Benutzung  überhaupt  bietet,  noch  der  Vorteil 
hinzu,  überall  über  den  neuesten  Quellen-  und  Literaturstand  unter- 
richtet zu  sein. 

Die  Inhaltsverzeichnisse  der  vorliegenden  zwei  Bände  zeigen, 
dafl  der  Herausgeber  Mommsens   Absicht,  von  wenigen  notwendig 


410  Göti  gel  Anz.  1906.  Nr.  5 

gewordenen  Ergänzungen  abgesehen,  genau  entsprochen  und  daß  er 
den  Tendenzen  des  Toten  überall  treu  geblieben  ist.  Die  Aufgabe, 
ein  solches  Sammelwerk  anzuzeigen,  ist  keine  ganz  einfache.  Der 
Referent  befindet  sich  da  in  einer  eigentümlichen  Lage.  Wieviel 
lernt  man  doch  aus  dem  erneuten  Studium  von  Mommsens  Aufsätzen 
und  wie  wenig  hat  man  dazu  zu  sagen.  Wer  eine  Monographie  zu 
besprechen  hat,  wird  vielleicht  durch  großzügige  oder  detaillierte 
Inhaltsangabe,  je  nachdem  es  der  Zweck  erfordert,  eine  dankenswerte 
Aufgabe  erfüllen.  Er  kann  damit  jenem  einen  Dienst  erweisen ,  der 
sich  über  den  Inhalt  eines  seinem  Studiengebiete  nicht  unmittelbar 
naheliegenden  Buches  informieren  will,  damit  er  wisse,  was  dort  zu 
finden  ist,  was  nicht.  Er  kann  schlimmstenfalls  jenen  einen  Gefallen 
tun,  die  nach  der  Lektüre  des  Referats  nicht  mehr  zur  Lektüre  des 
Buches  greifen.  Aber  welcher  Altertumsforscher  kennt  und  benutzt 
nicht  tagtäglich  Mommsens  Werke  von  den  großen  Gesamtdarstellungen 
an  bis  zu  den  kleinsten,  wenige  Seiten  umfassenden  Aufsätzen  ?  Und 
wer  vermöchte  es,  den  alten  Meister  an  knapper  Darstellung  zu  über- 
treffen und  aus  seinen  Schriften  Auszüge  zu  machen,  da  doch  darin 
so  oft  der  reiche  Inhalt  die  enge  Form  zu  sprengen  scheint?  So 
bleibt  nicht  viel  anderes  übrig,  als  das  Inhaltsverzeichnis  wiederzu- 
geben und  hier  und  da  eine  Randglosse  zu  verzeichnen,  die  man 
sich  beim  Studium  gemacht  hat. 

Der  erste  Band  enthält  Mommsens  Kommentare  zur  lex  repe- 
tundarum,  zur  lex  agraria,  zur  lex  municipii  Tarentini  in  lateinischer 
Sprache,  Abdrücke  aus  dem  Corpus  und  der  Ephemeris,  dann  den 
Kommentar  zum  rubrischen  Gesetzesfragment  aus  Bekker  und  Muthers 
Jahrbüchern  des  gemeinen  Rechts  (1858),  einer  Zeitschrift,  die  auch 
sonst  wiederholt  mit  Mommsens  Aufsätzen  geschmückt  ward,  femer 
den  Kommentar  zum  atestinischen  Fragment  (Hermes  1881),  einer 
Bronzetafel,  die  Mommsen  bekanntlich  als  Bruchstück  des  rubrischen 
Gesetzes  angesprochen  hat.  Auf  Bedenken  gegen  diese  Annahme 
haben  verschiedene  Gelehrte  hingewiesen:  Kariowa,  Rom.  Rechta- 
geschichte I  442,  in  besonderen  Abhandlungen  Esmein,  Melanges 
d'histoire  et  du  droit  et  de  critique  (1886)  p.  269  ss.  und  Appleton, 
Revue  gön^rale  du  droit  (1900)  p,  193  ss.,  Krüger,  Gesch.  d.  Quellen  73, 
Kipp,  Quellenkunde^  39  und  Girard,  Textes'  76  s.  haben  sich  diesen 
Bedenken  angeschlossen.  Kühler  hat  es  unterlassen,  seine  eigene 
Rezension  über  Appletons  Schrift  in  der  Z.  Sav.  Stift.  22,  200—204 
im  Literaturzitate  bei  Mommsen  S.  175  zu  erwähnen.  Ich  möchte 
diesen  Hinweis  hier  nachtragen,  weil  Kubier  nicht  bloß  Appletons 
Arbeit  gewürdigt  hat  und  ihr  in  alle  feinen  Details  gefolgt  ist,  sondern 
weil  er  auch  selbst  manche  wertvolle  Bemerkung  in  anspruchloser 


Mommsen,  Jaristische  Schriften.  I.  n  411 

Form  eingefügt  hat.  Mommsen  bat  an  seiner  Ansicht  fiber  die 
> wahrscheinliche«  Zusammengehörigkeit  des  atestinischen  mit  dem 
veleiatischen  Fragment  der  vierten  Tafel  des  rubrischen  Gesetzes 
festgehalten,  woffir  die  kurze  Abhandlung  im  Bormannheft  der  Wiener 
Studien  zeugt,  die  nunmehr  S.  192 f.  abgedruckt  ist.  Es  folgt  die 
zuerst  in  der  Ephemeris  erschienene,  mit  ausführlichem  sprachlichen 
und  sachlichen  Kommentare  in  lateinischer  Sprache  versehene  Aus- 
gabe der  lex  Coloniae  Juliae  Genetivae  (Ursonensis) ,  sowie  aus  den 
Abh.  d.  Sachs.  Akad.  (1855)  die  bekannte  Abhandlung  über  die 
Stadtrechte  der  latinischen  Gemeinden  Salpensa  und  Malaca  in  der 
Provinz  Baetica.  Das  Wichtigere  der  seither  zu  diesen  Munizipal- 
gesetzen erschienenen  Literatur  ist  S.  267  in  der  Note  *  zusammen- 
gestellt. Mommsen  selbst  hat  gerade  hier  durch  eine  zahlreiche 
Anzahl  von  Zusätzen  den  Aufsatz  erweitert  (S.  282^).  S.  327  f.  N.  129 
polemisiert  er  in  einer  seine  frühere  Anmerkung  vervollständigenden 
neu  hinzugefügten  Ausführung  gegen  die  »Behauptung,  daß  die  legis 
actio  ausschließlich  dem  römischen  Bürger  zugestanden  habe  und  den 
Peregrinen  ausschließe«.  Mommsen  vertritt,  wie  auch  schon  früher, 
die  Ansicht,  daß  die  Legisaktionen  durch  magistratisches  Imperium 
auf  die  Peregrinen  erstreckt  worden  seien.  Er  führt  für  sich  an, 
daß  beim  Diebstahl  der  Bestoblene  wie  der  Dieb  vor  demselben 
Praetor  erschienen,  ob  sie  nun  Römer  oder  Peregrinen  gewesen,  und 
daß  >die  beiden  ältesten  und  hauptsächlichsten  Formen  der  Legis- 
aktionen, die  Prozeßbuße  wie  der  Handgriff,  nicht  spezifisch  nationalen 
Charakter  an  sich  tragen,  sondern  allgemein  anwendbar  sind.«  Daraus 
folgert  er,  daß  die  Nichterstreckung  der  Legisaktionen  auf  die  Pere- 
grinen »geradezu  undenkbar«  sei.  Aber  weder  dieses  noch  eine 
Reihe  anderer  Argumente,  die  Mommsen  anfuhrt,  scheinen  mir  gegen 
das  von  Wlassak  über  die  rein  bürgerliche  Natur  der  Legisaktionen 
wiederholt  Ausgeführte  den  Ausschlag  geben  zu  können  (vgl.  Wlassak, 
Prozeßges.  II,  86  ff.,  Pauly-Wissowa  I,  303),  und  wenn  Mommsen  in 
derselben  Note  die  Frage  dahingestellt  läßt,  ob  die  nach  seiner  An- 
schauung zulässige  Uebertragung  der  Legisaktionen  auf  Peregrinen 
einfach  dadurch  geschah,  >daß  der  Praetor  die  an  sich  auf  den 
Bürger  gestellte  Formel  kraft  seines  Imperiums  auch  von  dem  Pere- 
grinen vorbringen  ließ,  oder  ob  man,  wie  es  später  im  Formular- 
prozeß geschah,  in  einer  diesen  Ordnungen  entsprechenden  Weise  den 
Peregrinen  durch  eine  Fiktion  des  Bürgerrechts  prozeßfähig  machte 
(Gai.  4,  37)<,  so  würde  die  letztere  Alternative  ja  für  die  zivile 
Natur  der  Legisaktion  sprechen.  —  Durch  die  gelegentlich  in  papy- 
rologischen  Aufsätzen  angeregten  Fragen  über  das  Vormundschafts- 
recht  im  römischen  Aegypten  sind  die  über  die  Vormundsemennung 


412  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

nach  den  Stadtrechten  von  Salpensa  nnd  Malaca  (S.  330  ff.)  gegebenen 
Ausführungen  vom  neuen  in  den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt 
worden.  Die  für  Aegypten  zwischen  H.  Erman  und  anderen  strittige 
Frage  ist  die,  ob  der  Strateg  im  eigenen  Wirkungskreise  die  Vor- 
mundsemennung  veranlassen  konnte.  Erman  hat  in  einem  bei 
Mommsen  (N.  137  a.  E.)  zitierten  Aufsatze  diese  Frage  bejaht  und 
ist  für  die  munizipale  Vormundsbestellung  und  infolgedessen  für  die 
analoge  Kompetenz  des  Strategen  hierzu  eingetreten.  Aber  schon 
Mommsen  hat  bemerkt,  daß  die  Quellen  sich  nicht  genau  ausdrücken, 
sondern  bald  von  statthalterlicher,  dann  aber  auch  von  munizipaler 
Vormundsernennung  sprechen.  Zu  letzteren  Quellen  gehört  vor  allem 
die  Hauptbeweisstelle  für  Erman,  Ulp.,  Dig.  26,  5,  3 :  ius  dandi  tutores 
datum  est  omnibus  magistratibus  municipalibus  eoque  mre 
utimur.  Mommsen  löst  die  anscheinende  Zwiespältigkeit  der  Quellen 
dadurch,  daß  >nach  dem  julisch-titischen  Gesetz  in  den  Provinzen 
die  Statthalter  jeden  Vormund  ernannten,  natürlich  gewöhnlich  nach 
Vorschlag  (nominatio)  der  betreffenden  Gemeindebeamten<,  daß  femer 
»zur  Abkürzung  der  Sache  nachher  den  Gemeindebeamten  bei  ge- 
ringeren Sachen  die  Ernennung  geradezu  überlassen  wird  (Inst  1, 
20,  4.  5),  daß  aber  die  formelle  datio  dennoch  virtuell  als  eine  nomi- 
natio betrachtet  ward.«  Und  gerade  diese  Lösung  des  Problems 
bestätigen,  glaube  ich,  nunmehr  die  Papyri.  Die  beiden  hier  haupt- 
sächlich in  Betracht  kommenden  Quellenstellen  sind  ein  Genfer  Papyms 
Nicoles,  den  Wilcken  (Arch.  f.  Pap.-Forsch.  III,  368  ff.)  neupnbliziert 
hat  und  der  von  Grenfell  -  Hunt  (Arch.  Ill,  61  ff.)  ebenfalls  nen- 
publizierte,  von  P.  M.  Meyer  eingehend  besprochene  Pap.  Cattacoi 
Verso.  In  beiden  Texten  übt  der  Strateg  eine  Ingerenz  auf  die 
Vormundschaftsernennung  aus  und  der  Zusammenhalt  beider  Texte 
zeigt,  daß  geradeso  wie  die  römischen  Quellen  auch  die  Papyri  sich 
nicht  ganz  präziser  Ausdrucksweise  für  diese  Ingerenz  bedienen. 
Der  Pap.  Nicole  ist  von  Wilcken  auch  in  sachkundiger  Weise  inter- 
pretiert worden.  Danach  hatte  die  Mutter  Petronilla  >nach  dem 
Tode  ihres  Mannes  zwei  Männer  zur  Tutel  für  ihren  unmündigen 
Sohn  L.  Herennius  zur  Auswahl  vorgeschlagen  (II,  18  t<o6>c  &[«4] 
—  üetpcövlXXTfjc  —  av[a]8[o]*^VTa(;  sie  rJiv  lictTpoTnJv)«  (Wilcken  S.  376). 
Dieser  Vorschlag  war  an  den  Juridicus  gerichtet,  der  nun  seinerseits 
beim  Strategen  des  Domizils  der  Petronilla  anfragen  ließ,  welcher 
von  beiden  der  äiSiomoTÖTspoc  sei.  Vergleiche  dazu  die  causae  cognitio 
über  die  Tauglichkeit  des  vorgeschlagenen  Vormunds  bei  Mommsen 
S.  334.  Der  beauftragte  Strateg  ersuchte  nun  seinerseits  den  Strategen 
des  Domizils  der  beiden  Vorgeschlagenen  um  die  Auskunft,  welche 
dieser  an   den  Stadtschreiber  zur  Beantwortung  weiterleitete.    Im 


Mommsen,  Juristische  Schriften.   I.  II  418 

umgekehrten  Weg  gelangt  die  Antwort  an  den  Juridicus  zurück. 
Hier  hat  also  der  Strateg  bei  der  Vormundsbestellung  nur  ganz  in- 
direkt mitgewirkt.  Anders  im  Pap.  Gatt.  Da  ist  seine  Tätigkeit 
eine  weitergehende.  Der  Juridicus  erklärt  (II,  17flf.):  Tpd^tA  tip  too 
vo|i[oo  atpaxiQ'jfjcp  iva  toig  iraiSioig  Sbo  inl[xponoi]  diroxataoTad'iooi  und 
weiter  (III,  9 ff.)  heißt  es:  Xsipotovyjd'ifioovTai  8h  Ivt&c  x  il)|i6p(bv  oici 
too  otpanjifoö  (too)  vo(ioö  xal  (teta  rijv  xsipotoviav  xtX.  Der  Strateg 
hat  hier  also  allerdings  den  Tutor  zu  erwählen  (xsipotoveiv),  aber  er 
tut  dies  nur  auf  Befehl  des  Juridicus  hin  als  dessen  Delegat,  wie 
denn  der  Juridicus  wiederum  als  Delegatar  des  Praefekten  handelt. 
Zum  Terminus  xsipotovsiv  vgl,  P.  M.  Meyer,  a.  a.  0.  105.  Also  wohl 
auch  in  den  Papyri  die  Inkompetenz  der  Lokalmagistratur  zur  Vor- 
mundsernennung  trotz  faktischer  Einflußnahme  auf  dieselbe :  ein  ganz 
ähnliches  Ergebnis  wie  für  Rom.  Und  so  trifft  das  von  Erman  an 
einer  anderen  Stelle  (Z.  S.-St.  22,  248  f.)  über  die  Analogie  der  Tätig- 
keit der  Strategen  zu  der  der  Duovirn  in  diesem  Punkte  Gesagte,  aller- 
dings in  einem  anderen  Sinne,  als  es  Erman  meinte,  doch  zu.  Datio  und 
nominatio  sind  eben  nicht  genügend  genau  auseinandergehalten  worden 
(Mommsen  S.  335  N.  148.  331  N.  137)  und  es  mögen  wohl  in  der 
Tat  Schwankungen  vorgekommen  sein.  —  Daß  durch  staatsrechtliche 
Mandierung  der  Gewalt  nicht  Stellvertretung  im  juristisch  -  privat- 
rechtlichen Sinne  erzeugt  wird,  sondern  Ersatz  für  den  nichthandelnden 
Beamten  durch  einen  anderen  ohne  die  Merkmale  der  Stellvertretung 
—  Wirkung  der  Vertreterhandlung,  als  ob  sie  der  Vertretene  selbst 
vollzogen  hätte,  Berechtigung  und  Haftung  dieses  letzteren  — , 
darüber  wird  ausführlich  im  ersten  Abschnitte  eines  bald  erscheinenden 
Buches  über  die  Stellvertretung  im  Rechte  der  Papyri  gehandelt 
werden.  Dasselbe  gilt  auch  für  die  Mandierung  der  Gewalt  nach 
den  Kapiteln  25  und  26  des  salpensanischen  Gesetzes  (Mommsen 
S.  336)  und  für  die  Stellung  des  praefectus  duoviri  (S.  339  ff.).  Aus 
dem  privatrechtlichen  mandare  darf  darum  meines  Erachtens  auf  das 
staatsrechtliche  kein  Analogieschluß  gezogen  werden  (näher  ausge- 
führt a.  a.  0.).  Als  Organ  der  Gemeinde  in  vermögensrechtlichen 
Angelegenheiten  derselben  erscheinen  die  actores  municipum,  die 
Illviri  ad  publicam  causam  agendam  oder  auch  patroni  causae 
(S.  343f.),  die  Prozeßführung  übernimmt  aber  stets  ein  einzelner.  So 
gewiil  richtig  Mommsen  S.  344  N.  178.  Einen  Beleg  für  die  Tätig- 
keit der  Aktoren  in  einem  Grenzprozesse  zwischen  der  Commune 
Histonium  und  einem  Privatmanne,  wobei  denn  der  Einzelne, 
M.  Paqulus  Aulanius  als  actor  municipi  Histoniensium  die  Gemeinde 
als  Prozeßpartei  vertritt,  bringt  eine  Inschrift  aus  dem  Gebiete  dieser 
Stadt,  die  Mommsen  im  Anhang  an  die  Abhandlung  über  die  Stadt- 


414  Gott,  gel  Anz.  1906.   Nr.  5 

rechte  wieder  publiziert  und  kommentiert  hat  (S.  374 — 378).    Vgl 
auch  S.  344  N.  180.  —  Das  große  Material,  das  sich  nunmehr  aus 
den  Papyri  zur  Eutwickelung  der  römischen  Eidesformel  (lex  Salp. 
25.  26,  Mal.  59,  Mommsen  S.  351  f.)  ergeben  hat  und  das  die  Beein- 
flussung Roms   durch  den  Hellenismus  in  diesem  Punkte   deutlich 
macht,  habe  ich,  soweit  es  damals  bekannt  war,   Z.  S.-St.  23,  239 ff. 
zusammengestellt.   Seither  ist  auch  hier  manch  Neues  hinzugekommen, 
ohne  indes  die  dort  (S.  244  f.)  gegebenen  Grundlinien  der  Entwickelang 
zu  verändern.  —  Die  Ausführungen  über  die  Popularklagen  (S.  352  ff.) 
haben  nur  eine  Erweiterung  und  Bestätigung  in  dem  Aufsatze  über 
dieses  Thema  gefunden,  der  kurz  nach  Mommsens  Tode  als  posthumes 
Werk  in  der  Z.  S.-St.  24,  1  ff.  erschienen  ist.  —  Die  Frage  des  domi- 
nium litis   des  prozessualen  Stellvertreters  (S.  356 ,  N.  26)  ist  jetzt 
von  Koschaker,  Translatio  iudicii   119  ff.  einer  genauen  Durchsicht 
unterzogen  worden.  —  Der  Praes  steht  in  neuester  Zeit  wieder  im 
Vordergründe  rechtshistorischer  Diskussion.    Das  letzte  Wort  hat  zor 
Zeit  Schloßmann,  Praes,  vas,  vindex  (Z.  S.-St.  26,  285 ff.).    Ich  will 
hier  nur  auf  einen  Punkt  hinweisen,   den  Mommsen  in  der  Behand* 
lung  der  Kautionen  praedibus  praediisque  (S.  357  ff.)  deutlich  hervor- 
gekehrt hat.    Wenn  die  Schuld,  für  die  der  Praes  die  Bärgschaft 
übernommen,  nicht  eifüllt  wird,  so  geht  >die  Gemeinde  nicht  an  den 
Hauptschuldner,  sondern  unmittelbar  an  den  Praes  <  (S.  361).    N.  41 
verweist  Mommsen  hierzu  auf  den  > Eigentumsprozeß,  wo  der  ob- 
siegende Teil,  wenn  er  die  Sache  nicht  zurückerhält,  gar  gegen  den 
Unterliegenden  nicht  klagen  konnte,  sondern  nur  gegen  die  praedes 
litis  et  vindiciarum  (Gai.  4,  16.  94)  c    Ferner  sind  dort  andere  Quellm 
zitiert,  die  beweisen,  »daß  das  praedes  dare  der  Zahlung  vollständig 
gleichsteht  und  den  Schuldner  befreit<.    Ja  es  ist  gerade  >die 
ältere  Ordnung,  welche  den  eigentlichen  Schuldner  nur  auf  einem 
Umwege  der  Verpflichtung  unterwarft  (S.  369).     Darauf  sei  zu  und 
gegen  Schloßmanns  Bemerkung  (a.  a.  0.  S.  296,   Anm.  1   ex  294) 
verwiesen,  welcher  Gelehrte  meint,  >daß  aber  in  irgend  einem  Rechte 
die  Haftung  des  Bürgen  jemals  die  prinzipale,  die  des  Hauptschuldners 
die  subsidiäre  gewesen  wäre,  dafür  läßt  sich  schwerlich  ein  Beispiel 
anführen«.     Sachlich  ist  also   die  Deutung  des  praes  als  des   >in 
erster  Linie   vor  dem  Schuldner   haftenden  Bürgen«   (a.  a.  0.  295) 
gewiß  nicht  a  priori  abzulehnen.   Auf  das  schwierige  auch  die  Schuld- 
und  Haftungsfrage  im   römischen  Recht  betreffende  Problem  selbst 
kann  hier  im  Vorbeigehen  natürlich  nicht  eingegangen  werden.   Auf 
die   sprachliche    und    sachliche  Analogie   der  in    den   Papyri  vor- 
kommenden YvcAGtfjpsc  zu  den  cognitores  praediorum  hat  Mitteis  bei 
Mommsen  S.  368  N.  54  b  aufmerksam  gemacht.    Die  Vermutung,  daß 


Mommflen,  Jnristische  Schriften.   I.   11  415 

das  Verschwinden  der  praedes  sich  vielleicht  einfach  daraus  erkläre, 
daß  in  der  Kaiserzeit  an  Stelle  des  aerarium  allmählich  der  fiscus 
getreten  ist  und  dieser,  »der  bekanntlich  dem  Privatrecht  und  dem 
Privatprozeß  unterlag,  dementsprechend  stets  die  Bürgschaft  in  privat- 
rechtlicher  Form  sich  hat  stellen  lassen  c,  ist  von  Mommsen  neu  ein- 
gefügt (S.  369).  Es  wäre  dies  eine  interessante  Parallelerscheinung  zur 
Ersetzung  des  vindex  der  klassischen  Rechtssprache  durch  den  fide- 
iussor  iudicio  sistendi  causa  datus  in  Justinians  Digesten,  also  gleich- 
falls der  Ueberleitung  eines  besonders  gearteten  Bärgschaftsverhält- 
nisses  in  das  der  gewöhnlichen  Stipulationsbürgschaft.  Allerdings 
ganz  trifft  auch  dieser  Vergleich  nicht  zu.  Der  praes  wird  nach 
Mommsens  Hypothese  ein  gewöhnlicher  Bürge,  der  vindex  dagegen 
wird  nur  darum  später  als  fideiussor  bezeichnet,  weil  sein  Ver- 
sprechen in  die  Form  einer  (entarteten)  Stipulation  gekleidet  wurde. 
Mommsen  hat  allerdings  diese  (Rechtsh.  Papyrusstud.  38  ff.)  aus  der 
juristischen  Struktur  einiger  Gestellungspapyri  gewonnene  Hypothese 
für  unwahrscheinlich  erklärt  (Z.  S.-St.  23, 353^  ex  352),  aber  gerade 
durch  diese  seine  eigene  Hypothese  über  die  Ersetzung  des  praes 
durch  den  einfachen  Bürgen  scheint  sie  mir  eher  eine  Stütze  er- 
halten zu  haben. 

In  einem  Anhange  zu  den  Stadtrechten  ist  der  Schiedsspruch 
von  Histonium  publiziert  (S.  374  ff.),  eine  Inschrift,  auf  die  bereits  oben 
verwiesen  wurde ;  dann  ist  aus  dem  Inschriftenkorpus  die  Publikation 
und  der  Kommentar  zur  Sententia  Q.  M.  Minuciorum  inter  Genuates 
et  Viturios  wiederholt  (S.  383  ff.),  ein  von  Senatskommissären  zwischen 
Qenua  und  dem  Dorf  derViturier  gefällter  Schiedsspruch.  Es  folgen 
die  in  den  Abb.  Bert.  Akad.  1863  erschienenen  zwei  Sepulkralreden 
aus  der  Zeit  Augusts  und  Hadrians.  Gegen  die  Beziehung  der 
ersteren  auf  Turia,  die  Gemahlin  des  Konsuls  Q.  Lucretius  Vespillo 
haben  Vaglieri  und  Hirschfeld  in  den  S.  395'*'  angeführten  Abhand- 
lungen sich  ausgesprochen. 

Den  Beschluß  des  ersten  Bandes  machen  die  dem  Papyrologen 
wohlbekannten  Kommentare  ägyptischer  Papyri  vornehmlich  erbrecht- 
lichen Inhalts.  Zunächst  das  ägyptische  Testament  vom  Jahre  189 
n.  Chr.  (BGU  1 326)  aus  den  Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.  1894  und  mit 
korrigierter  Lesung  aus  Z.  S.-St.  16, 198  ff.  Hierzu  nur  die  eine  Be- 
merkung, daß  der  x6pioc  doch  auch  für  den  Geschlechtstutor  der 
Bömerinnen  wiederholt  in  den  Papyri  belegt  ist,  was  Mommsen  S.  434 
bezweifelt.  Ich  erinnere  nur  an  den  unzweifelhaften  Fall  aus  der 
Zeit  nach  der  Constitutio  Antonina  Grenf.  II  69  (anno  265  n.  Chr.), 
wo  die  Schuldnerin  Aurelia  Senosiris  aeta  xopCoo  handelt.  Aber  es 
fehlt  nicht  an  anderen  Quellenbelegen,  die  in  meinem  Buche  über 


416  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

die  Stellvertretung  zur  Erörterung  kommen  werden.  Demselben 
Sprachgebrauche  entspricht  übrigens  auch  das  xpiQC^'^^Cetv  x^P^^  xopfa» 
xata  ta  Ta>|ia(o>v  S^y]  t§xva>v  Sixaicp  z.  B.  B6U  IQ  920  (anno  180/1 
n.  Chr.).  Es  fogt  der  ägyptische  Erbschaftsprozeß  aus  dem  Jahre 
124  n.  Chr.  (CPR  1 18)  aus  der  Z.  S.-St.  12, 284  ff.  und  der  ägyptische 
Erbschaftsprozeß  vom  Jahre  135  n.  Chr.  (BOU  119)  aus  derselben 
Z.  S.-St.  14, 1  ff.,  sowie  der  Aufsatz  »Aegyptische  Papyric  (Z.  S.-St 
16, 181  ff.)  mit  den  beiden  Abteilungen  I.  der  ägyptische  icpoooSo- 
iroiöc  und  IL  die  zehn-  und  zwanzigjährige  Verjährung.  Der  Au&ats 
über  den  irpoooSonoi&c  knüpft  an  B6U II 338  (Ende  des  zweiten  Jahr- 
hunderts) an.  Zu  den  in  dieser  Urkunde  genannten  Freilassungen 
bemerkt  Mommsen  (S.  474^)  mit  Recht,  daß  die  Akte,  da  der  Frei- 
lasser Römer  war,  nach  römischem  Recht  beurteilt  werden  müssen. 
Wenn  Mommsen  aber  weiter  die  im  Papyrus  genannte  Urkunde  auf 
ein  Beweisdokument  über  Vindicta-Freilassung  beziehen  zu  müssen 
glaubt,  und  dies  damit  motiviert,  daß  »soviel  wir  wissen,  wenigstens 
um  diese  Zeit  die  bloße  Ausstellung  einer  Urkunde  für  die  Frei- 
lassung nicht  genügen  konnte«,  so  hat  demgegenüber  Wlassak  in 
seiner  Untersuchung  über  die  prätorischen  Freilassungen  (Z.  S.-St 
26,420^)  auf  ein  zuverlässiges  Zeugnis  über  die  Zulässigkeit  der 
prätorischen  Freilassung  per  epistulam  aus  dem  zweiten  Jahrhundert 
im  Ps.  Dosith.  15  hingewiesen  und  darum  mit  Recht  gefolgert,  daß 
die  Manumissionen  des  Papyrus  nicht  notwendig  Stabfreilassnngen 
und  die  erwähnten  Urkunden  nicht  notwendig  bloße  Beweisdokn- 
mente  gewesen  sein  müssen.  Der  Aufsatz  über  die  Veijährong  be- 
trifft BGU  1 267,  einen  Erlaß  der  Kaiser  Severus  und  Antoninus  vom 
29.  Dezember  199. 

Der  zweite  Band  umfaßt  »die  Arbeiten  über  Juristenschriften 
und  Gesetzbücher c.  Die  Entstehungszeit  der  einzelnen  Aufsätze  liegt 
auch  hier  weit  auseinander.  Der  Aufsatz  über  die  Wiener  Frag- 
mente von  Ulpians  Institutionen  (Nr.  VIII)  ist  1850  im  15.  Bd.  der 
Zschr.  f.  gesch.  Rechtswiss.  erschienen,  der  Aufsatz  über  die  Sanctio 
pragmatica  (Nr.  XXXIV)  fand  sich  in  Mommsens  binterlassenen  Pa- 
pieren vor  »und  ist,  wie  die  Schrift  zeigt,  wohl  erst  kurz  vor  seinem 
Ende  geschrieben  wordene  Von  den  biographischen  Arbeiten  zu 
den  römischen  Juristen  Salvius  Julianus,  Sextus  Pomponius,  Gains, 
Papinian  ist  die  bekannteste  und  am  meisten  erörterte  die  über 
Gains  (S.  26  ff.),  zuerst  in  Bekker  und  Muthers  Jahrb.  1859, 1  ff.  er- 
schienen. Mommsen  kommt  in  seinem  Aufsatze  über  Julians  Digesten 
(Zschr.  f.  Rechtsgesch.  9, 82  ff.)  noch  einmal  auf  die  Frage  zurück, 
besonders  um  seine  These  gegen  Huschke  zu  verteidigen  (S.  19^. 
Er  ist  auch  durch  den  seither  von  vielen  und  gewichtigen  Stimmen 


Ucmamtn^  Juristische  Schriften.    I.   II  417 

verstärkten  Widerspruch  (S.  26*)  in  seiner  Ansicht  nicht  wankend 
geworden,  wie  der  unveränderte  Abdruck  des  Aufsatzes  sowie  der 
Bemerirang  S.  20  zeigt,  daß  er  diese  Behauptung  >  soweit  aufrecht  zu 
hüten  sich  getraue,  wie  überhaupt  ein  Indizienbeweis  sich  aufrecht 
erhalten  lißt«.  Unter  den  Aufsätzen  über  die  Juristenschriften  und 
deren  Verarbeitung  im  Digestenwerke  Justinians  nimmt  der  bekannte 
vor  nicht  langer  Zeit  erschienene  Aufsatz  (Nr.  XIII  S.  97  fif.)  Hof- 
mann  versus  Blume  (Z.  S.-St.  22, 1  ff.)  ein  hervorragendes  Interesse 
f&r  sich  in  Anspruch. 

Die  Zusammenstellung  führt  deutlich  die  große  Anzahl  von  Auf- 
s&tien  vor  Augen,  die  Mommsen  über  das  kaiserliche  Recht 
geschrieben  hat.  Schon  1859  ist  eine  kleine  Abhandlung  über  eine 
fränkische  Interpolation  im  Theodosischen  Kodex  erschienen  (Bekker 
und  Huthers  Jahrb.  1859,  454  ff.)  (S.  408  f.),  1862  hat  sie  Mommsen 
in  derselben  Zeitschrift  (V,  129  ff.)  verteidigt  (S.  410  f.)  und  1900  er- 
schienen in  der  Zeitschrift  S.-St.  21, 149  ff.  unter  dem  Titel  >Das 
Theodorische  Gesetzbuch«  (S.  371  ff.)  jene  Prolegomena  zur  kritischen 
Ausgabe  des  Theodosianus,  die  Mommsens  letzte  Arbeits-  und  Lebens- 
zeit in  Anspruch  genommen  und  die  selbst  erscheinen  zu  lassen  ihm 
nicht  mehr  vergönnt  war.  —  Eine  der  umfangreichsten  Abhand- 
lungen ist  die  über  die  Zeitfolge  der  Verordnungen  Diokletians  und 
seiner  Mitregenten  (Abh.  Beri.  Akad.  1860,  349  ff.)  (S.  195—291).  Mit 
Recht  hat  Kubier  schon  im  Vorwort  (S.  VI)  auf  diese  Abhandlung 
verwiesen,  nicht  bloß  als  ein  Zeugnis  größter  Gelehrsamkeit,  sondern 
auch  vor  keiner  Schwierigkeit  und  Mühe  zurückschreckenden  Forscher- 
triebs. —  Wie  wenig  Mommsen  sich  mit  der  einmaligen  Bearbeitung 
einer  Frage  zufrieden  gab  oder  etwa,  selbstgefällig  davon  Abschied 
nehmend,  auf  dem  einmal  Gesagten  beharrte,  zeigt  unter  anderem 
die  wiederholte  Behandlung  von  Diokletians  Edikt  über  die  Waren- 
preise: Nr.  XXII  (S.  292  ff.)  aus  den  Ben  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  1851, 1  ff., 
Nr.  XXII^  (S.  312  ff.)  aus  demselben  Jahrgange  dieser  Zeitschrift 
383 ff.,  Nr.  XXIP  (S.  323  ff.)  aus  Hermes  25, 17  ff.  (1890).  Aber 
Mommsen  hat  sich,  wie  die  Literatur  über  diese  Frage  S.  323*  aus- 
weist, noch  an  zwei  anderen  Orten  damit  befaßt. 

Gordians  Dekret  von  Skaptoparene  (Z.  S.-St.  12, 244  ff.)  (S.  172  ff.) 
gibt  den  Anlaß  zu  den  bekannten  und  wertvollen  Erläuterungen  über 
die  Ausfertigung  kaiserlicher  Reskripte  mit  der  Rektifikation  in  dem 
oben  genannten  Aufsatze  über  die  Verjährung  (Bd.  1, 478  f.).  Zu 
dieser  Frage  ist  auch  Mitteis,  Hermes  30, 612  ff.  zu  vergleichen. 
Mommsen  hat  hier  bekanntlich  auf  die  Bedeutung  der  offiziellen 
Promulgation  hingewiesen,  die  in  der  Zeit  zwischen  etwa  Hadrian 
und  Konstantin  den  Eaiserreskripten  gleich  kaiserlichen  Konstitutionen 


418  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Überhaupt  legis  vicem  verschaffen  konnte.  Es  sind  dies  Ausführungen, 
die  sich  auch  die  moderne  staatsrechtliche  Literatur  zunutze  machen 
kann. 

Auch  in  diesem  Bande  spielt  der  Papyrus  eine  Rolle.  Schon 
1863  (Bekker  und  Muthers  Jahrb.  398  ff.)  hat  Mommsen  die  Frag- 
mente zweier  lateinischer  Kaiserreskripte  auf  Papyrus  (S.  342  ff.) 
kritisch  behandelt,  1879  bandelt  er  (Abb.  Berl.  Akad.  501  ff.)  über  zwei 
vom  königlichen  Museum  erworbene  Pergamentblätter  aus  Aegypten 
de  iudiciis  (S.  68  ff.)  und  Nr.  XVI  bringt  den  Separatabdruck  aus 
der  Berliner  Festgabe  für  Dernburg  >Das  ägyptische  Gesetzbuch« 
(S.  144  ff.),  einen  Aufsatz,  der  durch  die  Petition  of  Dionysia  (Pap. 
Oxy.  II 237,  anno  186  n.  Chr.)  veranlaßt  ist. 

Fähren  die  meisten  dieser  Aufsätze  uns  in  die  Zeit  des  Prinzi- 
pats und  der  Monarchie,  so  fehlt  es  auch  nicht  an  Arbeiten,  die 
Mommsens  Forschungen  auf  frühmittelalterlichem  Boden  bezeugen. 
In  dem  bereits  mehrfach  genannten  Aufsatze  über  die  Veijährung 
berichtigt  er  seine  früher  geäußerte  Meinung  über  die  den  amtlichen 
Erlassen  häufig  beigefügten  Formehi  rescripsi,  recognovi  dahin,  daß 
der  Beamte  selbst  diese  Formeln  beigefügt.  Mommsen  kommt  zo 
diesem  Ergebnis  auf  Grund  zweier  Papsturkunden  aus  dem  sechsten 
Jahrhundert  (Bd.  1, 479).  Andere  Arbeiten,  die  ins  Mittelalter  hinein- 
führen, sind  am  Schlüsse  des  II.  Bandes  zusammengestellt.  Sie  sind 
meist  polemischer  Art,  gegen  Fittings  »Juristische  Schriften  des 
früheren  Mittelalters«  (1876)  gerichtet. 

Ein  Aufsatz  in  französischer  Sprache  in  den  Melanges  Boisder 
1903  erschienen  (S.  141/3)  betrifft  die  lex,  d.L  die  zwölf  Tafeln  xat' 
Hox^"^'  In  diesem  Aufsatze  haben  wir  auch  eine  wertvolle  Aeußerung 
Mommsens  über  die  in  neuester  Zeit  von  italienischen  und  franzSsi- 
schen  Gelehrten  aufgeworfene  und  viel  verhandelte  Frage  über  die 
Echtheit  der  Zwölftafelgesetzgebung.  Mommsen  läßt  über  seine 
Stellungnahme  zu  diesem  Problem  keinen  Zweifel,  wenn  er  mit  Be- 
zug auf  Girards  Verteidigungsschrift  (L'histoire  des  Xn  tables;  Noov. 
r^v.  bist.  1902)  die  Worte  spricht:  par  M.  P.  Fr.  Girard  dans  am 
excellent  sauvetage  des  Douees  Tables^  comhattues  et  malmenees  par 
notre  chere  jeunesse,  plus  eeUe  que  rifl&chie.  In  fast  monographischer 
Breite  hat  Lenel  diese  Frage  in  der  Z.  S.-St.  26, 498^-524  in  einer 
Rezension  von  Lamberts  Schriften  eben  erst  besprochen.  Auch  er 
ablehnend.  Aber  wenn  Lenel  sich  dagegen  verwahrt,  daß  es  eine 
6cole  allemande  oder  6cole  de  Mommsen  in  dem  Sinne  gebe,  daß 
diese  die  rechtsvergleichende  Methode  etwa  a  priori  ablehne,  so  hat 
er  damit  Mommsens  wissenschaftliches  Testament  gewiß  im  Sinne  des 
Verstorbenen  erfaßt. 


MonmneD,  Juristische  Schriften.   I.    II  419 

Und  so  dürfen  wir,  an  diese  Einzelheit  anknüpfend,  von  Mommsens 
Schriften  Abschied  nehmen,  nicht  um  sie  nach  eingehendem  Studium 
beiseite  zu  legen,  auch  nicht,  um  in  verba  magistri  zu  schwören, 
sondern  um  sie  wieder  und  wieder  zu  lesen,  Einzelheiten  zu  er- 
gänzen und  zu  verbessern  und  aus  der  Fülle  von  Mommsens  Ge- 
dankenwelt stets  neue  Anregungen  zu  schöpfen,  neue  Quellen  im 
Sinne  des  Dahingegangenen  zu  verarbeiten  und  der  antiken  Forschung 
im  gleich  lebendigen  Sinne  fort  zu  dienen,  wie  es  Mommsen  getan. 
So  werden  wir  die  Zinsen  der  Dankesschuld  abtragen,  sie  selbst  je- 
mals zn  tilgen  vermögen  wir  nicht,  wir  wollen  es  aber  auch  nicht, 
denn  sie  ist  uns  eine  liebe  Schuld  und  ein  teures  Vermächtnis. 

Qraz  Leopold  Wenger 


Albert  Thuik,  Handbuch  des  Sanskrit.  Mit  Texten  und  Glossar.  Teil  1: 
Grammatik.  Heidelberg  1905,  Carl  Winter.  XVIII,605S.  14  M.  (Sammlon« 
indogermanischer  Lehrbücher,  hrs.  von  H.  Hirt.   1.  Reihe:  Grammatiken  1). 

Dafi  die  >Sprache  der  Götter«  nicht  gerade  leicht  genannt 
werden  kann,  ist  eine  bekannte  Tatsache,  die  treffend  durch  das 
den  Sanskritisten  geläufige  Scherzwort  illustriert  wird,  dem  zufolge 
es  keine  Sanskritgrammatik  geben  soll,  die  nicht  die  eine  oder  an- 
dere falsche  Form  enthielte.  Das  ist  nun  gewiß  übertrieben;  aber 
ebenso  sicher  ist  es  auch,  daß  keines  der  bisher  veröffentlichten  Hand- 
bücher des  Altindischen  so  wie  das  von  Thumb  den  Vorwurf  verdient, 
von  Fehlem  und  Ungenauigkeiten  geradezu  zu  wimmeln.  In  beson- 
derem Maße  gilt  dies  von  den  Uebungsstücken,  die  57  Seiten  füllen : 
kaum  ein  Fünftel  davon  ist  ganz  einwandfrei!  Mit  Recht  ist  daher 
aus  den  Reihen  der  Sanskritisten  lauter  Widerspruch  gegen  Thumb 
erhoben  worden;  und  wer  das  Buch  durchgelesen  bat,  wird  dem 
harten  Urteile  beistimmen  müssen,  welches  Pischel  kürzlich  darüber 
gefiült  hat.  Man  weiß  nicht,  hat  Thumb  seine  Arbeit  überhastet  oder 
ist  er  noch  nicht  hinreichend  mit  der  Grammatik  des  Sanskrit  ver- 
traut, um  den  Stoff  ohne  so  grobe  Schnitzer  darstellen  zu  können? 
Wir  Sanskritisten  sind  denn  doch  durch  vorzügliche  ältere  Arbeiten 
zu  sehr  verwöhnt,  und  so  lebhaft  wir  eine  Darstellung  des  Altindi- 
schen vom  Standpunkte  vernünftiger  Linguistik  aus  stets  begrüßen 
werden,  so  sehr  wäre  es  zu  wünschen  gewesen,  wenn  sich  Thumb 
Bat  und  Beistand  eines  Sanskritisten  von  Fach  gesichert  hätte;  es 
wären  ihm  dann  die  vielen,  zum  Teil  elementaren  Fehler  erspart  ge- 
blieben. Um  mit  Aeußerlichkeiten  zu  beginnen,  so  betrübt  es  den 
Kenner,  daß  Thumb  in  der  Umschreibung  des  gutturalen  n  (n),  des 

09tt.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  §.  29 


420  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

Palatalen  und  lingualen  s  (&  und  9),  des  Anusvära)  (m),  sowie  der 
von  e,  ai,  0  und  au  linguistische  Sonderpfade  wandelt.  Ungebräuch- 
lich ist  die  Umschreibung  von  Sanskrit- Wortgefügen  ohne  Trennung 
des  zu  Trennenden.  Thumb  umschreibt  z.  B.  ityuväca,  devyftha, 
madhviva,  pibatväufiadham  (p.  126),  statt  zu  trennen  ity  uväca  etc. 
Jenes  ist  die  Art  des  Anfängers,  der,  jeglicher  Wortkenntnis  er- 
mangelnd, froh  ist,  wenn  er  die  Nägari-Buchstaben  lesen  und  um- 
schreiben kann,  und  nun  im  Glossar  sich  hilfesuchend  umschaut.  Das 
sollten  wir  aber  doch  nicht  mehr  nötig  haben!  Mein  Sprachgefühl 
sträubt  sich  auch  gegen  Schreibungen  wie  ätma-näm  p.  179. 186, 
während  wir  doch  p.  185  ein  balin-ä  finden.    Thumb  eigentümlich 

sind  ferner  Zusammensetzungen  wie  ^I^T^mTH  (transkribiert  aber 

na  äaknomü),  r|[ct)pqrl  (nakjcitü)  p.  473;  ?^FfSf^?FT  i^^  kevalam), 

^rf  (naca!)  p.  474,  worin  ich  kein  Prinzip  entdecken  kann.    Häufig 

sind   diese   Fälle    in    den   Uebungsstücken :    'qi]>$^Q||«ii«i    (p.  1), 

fft^  (p.  2),  ^*jyHH^  (p.  4),  fe  (p.  5, 21).  gnrf^  (p.  8), 

rl)&||T|  (p.  11),   lOi^i^HTi  (p.  33).    Dazu  seien  die  merkwürdigen 

bezw. falschen  Schreibungen S|7rFr  EpT  (p.  9)  und  M«^H!^|H  1^5515 

(p.  10)  gestellt. 

Zusätze  erklärender  oder  einschränkender  Art  wären  nötig  ge- 
wesen zu  p.  131  tarn  daridram  > diesen  Armen <:  »Acc.  Sing.«.  Bei 
der  Bemerkung  über  den  Gebrauch  des  Pronomens  sab  fehlt  die 
Angabe,  daß  diese  Form  stets  am  Ende  des  Satzes  verwendet  wird 
(p.  247).  Nomina  darf  man  durchaus  nicht  in  >  beliebiger  Variation 
mit  einander  zu  Composita<  vereinigen,  wie  Thumb  p.  447  behauptet: 
die  indischen  Grammatiker  würden  damit  ganz  gewiß  nicht  einver- 
standen sein!  Im  zweiten  Teile  wäre  eine  Erläuterung  der  Strophe 
svämimülä®  p.  21  manchem  Leser  sicherlich  erwünscht;  ebenso  zu  dem 

Satze  FTrfl'Fr^nSRfn^J^^JJ^ 

auf  derselben  Seite,  Z.  8/9  v.  o.,  dessen  Subjekt  nicht  ohne  weiteres 
klar  ist.  Im  Glossar  fehlt  bei  ^rf^  der  Zusatz  >Gott  des  Reich- 
tums<;  bei  CTQCr  die  Bedeutung  >religiöses  Verdienst«;  bei  L|i  |ij| 

>  Titel  von  Werken <;  bei  CTITIJT  >  Zwischengegend  (Nordosten  etc.)«, 

weil  der  Gegensatz  zu  |?OT  sonst  nicht  zur  Geltung  kommt. 

Nun  aber  die  wirklichen  Fehler!  Auf  p.  25  steht  »das  Kum&- 
rasambhava  'die  Geburt  des  Eumära  (d.  h.  Liebesgottes)'«.  Zwei 
Versehen  auf  einmal !  Erstens  muß  es  heißen  der  Kum&rasambhava, 


Thumb,  Handbuch  des  Sanskrit.   I  421 

da  sambhava  masculini  generis  ist,  und  zweitens  ist  Eumära  nur 
insofern  dem  Liebesgotte  gleich,  als  auch  er  wie  dieser  Streit  und 
Kampf  liebt;  im  übrigen  aber  ist  er  der  Eriegsgott.  Der  indische 
Amor  wird  im  Eumärasambhava  nicht  sowohl  geboren,  als  vielmehr 
zu  Asche  verbrannt.  Einen  zweiten  mythologischen  Irrtum  begeht 
Thumb  im  Glossar,  indem  er  p.  86/87  Stab  und  Strick  »Attribute 
Vis^usc  sein  läßt.  Was  soll  dieser  welterhaltende  Gott  mit  solch 
mörderischen  Werkzeugen?  Sie  gehören  vielmehr  dem  Herrn  der 
Unterwelt,  Yama.  räjendrab  >=  räja-indraU  *Eönig  Indra'<?  Nein; 
aber,  »ein  Indra  unter  den  Eönigen<  (p.  125).  Satsaritaf^  (p.  128)  sind 
nicht  > sieben  Flüsse«,  sondern  bloß  sechs,  paropakäraf^  pu^ySiya 
muß  man  unbedenklich  übersetzen  mit  >  Dienstleistung  gegenüber 
dem  Nächsten  bedeutet  ein  religiöses  Verdienst«,  wie  sich  aus  dem 
Gegensatz  päpäya  parapidanam  >  Schädigung  des  Nächsten  bedeutet 
Sünde«  (Teil  II,  7,  Z.  10  v.  o.)  klar  ergibt;  nicht  aber,  wie  Thumb 
p.  163  will,  >höchster  Lohn  (gebührt)  dem  Frommen«.  Die  lieber- 
Setzung  von  akrtyei^u  niyojyante  mit  >sie  hängen  an  Dingen,  die  un- 
tunlich sind«  (p.  165)  ist  besonders  deshalb  unverständlich,  weil  im 
Glossar  ganz  richtig  bei  niyojayati  die  Bedeutung  >anhalten,  zwingen 
zu  etwas  (Loc.)«  angegeben  wird.  Da  nun  niyojyante  das  Passivum 
vom  Eausativum  ist,  kann  man  doch  nur  übersetzen  »sie  werden  an- 
gehalten« oder  mit  Böhtlingk,  I.  Spr.  5884,  »lassen  sich  gebrauchen 
zu  .  .  .«.  Auf  p.  173  finden  wir  das  falsche  Wort  vähava  n.  > Zug- 
tier«, welches  im  Glossar  als  >Zugtier;  das  Fahren«  wiederkehrt;  es 
verdankt  seine  Existenz  also  nicht  etwa  einem  Versehen  des  Setzers. 
Ebenso  wenig  kann  dies  mit  dem  Worte  sena  >Dieb«  auf  p.  174  der 
Fall  sein:  denn  sowohl  im  Nägari-  als  auch  im  Transkriptionssatz 
fehlt  das  t  hinter  dem  s,  welches  unbedingt  nötig  ist,  wenn  aus  dem 
sena  etwas  richtiges  werden  soll.  Die  Bedeutung  > Gegenstand«  von 
västu  p.  190  ist  durch  die  Verwechslung  mit  vastu  geschaffen  worden, 
p.  299  steht:  >tyaj6t  k§udhärtö  mahiläsvaputram  'der  von  Hunger 
gequälte  verläßt  wohl  Weib  und  Eind'«.  In  §  658  b,  Anm.  werden 
wir  dann  belehrt,  daß  >mahilä-svaputram  'Weib  und  Eind'  =  'Fa- 
milie'€  sei.  Thumb  scheint  aber  dieser  Deutung  doch  nicht  recht 
getraut  zu  haben,   denn  in  den  Uebungsstücken  p.  20  erscheint  die 

Stelle  in  dieser  Form :  rMJlr^I^IFtt  •ll^rif  ^SPTST,  was  sich  schon 
eher  hören  läßt,  da  man  ja  zur  Not  ein  ^  ergänzen  kann.  Die  richtige  Les- 
art hat  bereits  Böhtlingk,  I.  Spr.  2628 :  FTsIr^MHI  Hf^HlfM  J^f- 
—  Das  Eompositum  am  Ende  von  p.  449  wird  man  für  gewöhnlich 
nur  mit  >Brahmanen  . . .«  statt  mit  >ein  Brahmane  .. .«  wiedergeben 
müssen.    Besonders  böse  ist  der   »kavi-vira  'Mann,  Held,  der  ein 

29* 


422  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  5 

Dichter  istW  p.  452.  Zunächst  möchte  ich  bezweifeln,  daß  es  gutes 
Sanskrit  ist,  wenn  man  sich  so  ausdrückt.  Der  Fall  bekommt  aber 
eine  erhöhte  Bedeutung  dadurch,  daß  dies  kavi^ira  sein  Dasein  —  proh 
dolor  —  einem  Druckfehler  verdankt !    In  den  Uebungsstücken  p.  52, 

Z.  1  V.  0.  steht  nämlich:  ?T?Tf%  H"  ^fo|q)^|   icm|lr|<Ml^Cr  ... 

Wie  man  sich  auf  einen  Blick  überzeugt,  ist  c^joioii^i  metrisch 

unmöglich,   da  hier  statt  uu vielmehr  uuu.  stehen  muß,   was 

man  sofort  erhält,  wenn  man  die  einzig  richtige  Form  cf)|Q|c|i| 
xlie  trefflichsten  unter  den  Weisen  <  einsetzt.  Von  dichtenden  Helden 
ist  keine  Rede:  die  Ueberschrift  des  betreifenden  Gedichtes  »Die 
>Stärke  des  Weibes«  hat  Thumb  wohl  verführt,  dieser  weiblichen 
Kraft  gegenüber  auch  die  männliche  zur  Geltung  zu  bringen,  p.  478 
übersetzt  der  Verfasser  das  päkarasäsvädanapräyam  sukham  mit 
>ein  Glück,  dessen  Hauptsache  das  Kosten  des  schlichten  Genusses 
ist«  =  »ein  Glück,  das  nur  während  des  Genusses  süß  ist<.  Wie  er 
zu  dieser  Interpretation  kommt,  ist  mir  völlig  dunkel.  Der  Zu- 
sammenhang, in  welchem  die  Stelle  steht,  hätte  ohne  weiteres  den 
Sinn  aufhellen  müssen,  wenn  er  nicht  an  und  für  sich  schon  klar 
wäre.  Es  handelt  sich  um  die  Affen,  die  am  Hofe  des  Königs  yen 
dessen  Söhnen  mit  mancherlei  Speisen  fettgefüttert  werden,  die  jene 
selber  als  nektargleich  empfinden  (Teil  11,12).  Der  Afife,  der  an 
ihrer    Spitze   steht,    warnt   nun  seine   Genossen   mit  den  Worten: 

f^  ?T  qi*{HIMI<HUIMHHriJisl  t|F(UIIH   RlNolifamiH 

>Wird  nicht  am  Ende  dieses  Glück,  welches  hauptsächlich  im  Ge- 
nüsse auserlesener  Gerichte  besteht,  wie  Gift  wirken?«  Der  Gegen- 
satz ist  p&karasa,  dem  das  bhaksyaviäesa  (p.  12  Z.  1  v.o.)  entspricht, 

und  die  ch^m*^(Hrhyi(lTrf*hHl[H  (Z.  3):  die  Affen  ziehen 
eben  die  Delikatessen  der  Hof  küche  den  zusammenziehenden,  scharfen, 
bittern,  ätzenden  und  rauhen  Früchten  des  Waldes  vor.  Wäre 
Thumb  nicht  bei  dem  ersten  m^  im  pw  stehen  geblieben,  welches 
freilich  auch  »schlicht«  bedeuten  kann,  sondern  hätte  auch  das  zweite 
besehen,  so  hätte  sich  ihm  das  richtige  sogleich  ergeben.  Aber 
außerdem  kann  man  doch  die  Schlemmerei  der  Affen  keinen  >  schlichten 
Genuß«  nennen,  auch  wenn  man  noch  so  verwöhnt  ist:  sie  werden 

ja  fett  davon,  was  ihnen  später  (C4UUIIH)  ^^  verhängnisvoll  wird! 
Zu  den  Uebungsstücken  wäre  etwa  folgendes  zu  bemerken:  p.  1, 
Anmerkung  vajralepa  bedeutet  nie  > Schminke«,  sondern,  wie  das 
Glossar  richtig  angibt,  >eine  Art  Mörtel«.  Wollte  man  sich  genau 
an  das  Wort  halten,  so  könnte  man  etwa  »Diamantkitt«  übersetaen. 


Thumb,  Handbuch  des  Sanskrit.   I  42S 

Begierig  wäre  ich,  mir  von  Thumb  die  Zeile  11,  p.  22  erklären  zu 
lassen.  Dort  steht  chägalo,  im  Glossar  kehrt  das  Wort  wieder  und 
wird  richtig  als  >  Ziege  c  gedeutet.  Da  ich  nun  die  Texte  sehr  genau 
durchgenommen  habe  und  mit  Bestimmtheit  sagen  zu  können  glaube, 
das  Wort  sonst  nicht  gefunden  zu  haben,  muß  Thumb  also  annehmen, 
daß  diese  Form  an  unserer  Stelle  richtig  ist.  Und  doch  ist  sie 
falsch;  es  muß  natürlich  chägato  heißen:  >. . .  der  wird  betrogen, 
wie  der  Brahmane  von  den  Schelmen  um  die  Ziege  (geprellt 
wurde)«,  p.  26,  Strophe  43  findet  sich  ein  chandobhaiiga :  man  lese 
^  lSl4^tr1Tr  ST^FT*  Ebenso  auf  der  nächsten  Seite  in  Strophe  44, 
wo  im  Gegensatz  zur  vorigen  Stelle  eine  Silbe  zu  wenig  ist.  Lies 
MIMIHm  ^  ^T^rTf  WJ^IT.  Eine  Silbe  fehlt  auch  in  der  Strophe 
kalahäntäni  p.  11;  man  fuge  ^  ein  hinter  kuväkyäntam;  und  in 
Strophe  45,  p.  48 :  hinter  yajnasya  ergänze  man  ca.  Zu  Strophe  37 
(p.  26)  reicht  das  Glossar  nicht  aus,  indem  es  zu  mj^ä  nur  die  Be- 
deutungen > umsonst,  vergeblich«  bedeutet,  die  hier  nicht  passen.  Es 
fehlt  die  Bedeutung   > fälschlich«   oder   > vorgeblich«,    p.  93  ist  die 

Angabe  bei  STtFT^TtfT  >blaufarbig«  für  die  Stelle  p.  1,  Z.  4  v.  u. 
falsch.  Es  kann  nur  heißen  >blaue  Farbe«,  p.  102  begegnet  das  in 
den  Texten  nicht  vorkommende  Wort  beäa  »Bordell«.  Ich  weiß 
nicht,  wie  das  Wort  dahin  geraten  ist;  jedenfalls  aber  vermißt  man 
diese  Bedeutung  unter  veäa,  wo  nur  >Tracht,  Gewand«  steht.  Da- 
für schreibt  man  aber  richtig  ve^al  mayükha  p.  106  kann  auch 
> Pflock«  heißen;  es  kommt  aber  in  unseren  Texten  nur  in  der  Ver- 
bindung tuhinamayükha  vor,  deren  Bedeutung  (>Ealtstrahler«  = 
Mond)  Thumb  nicht  erkannt  zu  haben  scheint.  Der  gröbste  Schnitzer 

aber  ist  wohl  auf  p.  132  im  Glossar:  »i^iTCn  (hari-)  m.  Gazelle«. 
Natürlich  ist  cj^u  gi  gemeint.  Der  Kenner  des  Nägari-Alphabets 
weiß  ja,  daß  bei  einer  gewissen  Schreibung  des  TJT  die  Verwechs- 
lung mit  Cn  sehr  leicht  gemacht  wird.  Aber  höchst  bedenklich  ist 
die  Tatsache,  daß  Thumb  dabei  das  Geschlecht  angibt.  Er  sagt  aus- 
drücklich am  Anfang  des  Glossars,  p.  61 :  >Das  grammatische  Ge- 
schlecht (m.  f.  n.)  ist  nur  da  angegeben,  wo  es  nicht  durch  die 
Stammform  eindeutig  bestimmt  ist . . .  bei  a-Stämmen  ist  femer  nur 
das  neutrale  Geschlecht  bezeichnet«.  Setzt  also  Thumb  hinter 
A  Jim  ein  >m.«,  so  tut  er  es  doch  nur,  weil  ein  Unkundiger  das 
Wort  für  einen  Femininstamm  halten  könnte,  was  eben  vermieden 

werden  soll.  Thumb  sieht  also  offenbar  in  f^i^m  eine  Bildung  wie 
z.  B.  in  viÄvapä. 


424  Gott  gel.  Anz.  1906.   Nr.  5 

Nicht  im  Glossar  erwähnt  ist  parärtha  p.  7,  Z.  6  v.  o.,  hier  == 
Coitus.  Zu  narakapätaka  p.  8,  Z.  3  y.  o.  yermißt  man  unter  pfttaka 
die  Bedeutung  »Sturz  (in  die  Hölle)  verursachend«.  Es  fehlt  sva^^stri 
(p.  31,  Strophe  87)  ==  > Himmelsfrau,  Apsarase<.  Ebenso  animisa 
>Fisch<  (p.  36,  Strophe  50).  Andere  Mängel  des  Glossars  sind  be- 
reits oben  erwähnt  worden. 

Dazu  eine  Menge  Druckfehler,  von  denen  übrigens  Thumb  selbst 
schon  eine  ganze  Reihe  verbessert  hat.  Ich  nenne  aus  dem  ersten 
Teile:  p.  129  zweimal  chatracchayä ;  aus  dem  zweiten:  p.  6  Vcn^^q" 

undqR|ir4;p7RjUM^I°;  p  9HHI|Q>H|>sM1;p  i4H«lljf«H; 
P  16 IMHHM*  HlHtH" ;  p  i7  WTt^,  ^^«^n' und  ^:^ ; 

p.  21  iflcJH;  P-  22  sfcOfH  ohne  Interpunktion  und  <V^;  P-  23 
"FJfT;  p. 24  gl^TOTT;  p.  25  HNNI%I|[hHI;  p-  27  ^Hg*  und 
sr^TpTR^";  P-  30  ^r^IW  und  JTT^;  P-  32  ^;  p.  38 
MIHHIWT:  und  «Hli^HH;  p-  39  gn^itlMlPd  und  HH»|ilH"; 
p.  24  vr^TTFT;  P.  43  sraHT»;  p-  44  q[o|r^H  und  cn^ft^; 
p.  45  |lslHJl?>J<Hl(M;  p  46  MHIHIHIHH^IH;  p-  « 
^TFTJ^n^;  p.  50  H5iHMH*lflHIH;  p  56  mrmi  p.  93 
rH(iq*H;  p.  101  jftS:. 

Doch  genug.  Ich  habe  durch  die  zahlreichen  von  mir  beige- 
brachten Ausstellungen  bewiesen,  daß  ich  Thumbs  Arbeit  gründlich 
geprüft  habe,  wie  es  sich  geziemt,  wenn  man  sich  ein  richtiges  Ur- 
teil bilden  will.  Ich  brauche  Thumb  nicht  zu  versichern,  daß  ich 
diese  Prüfung  nicht  etwa  do^adr^tyä  vorgenommen  habe;  im  Gegen- 
teil bewundere  ich  den  Fleiß,  den  er  auf  den  so  schwierigen  Stoflf  ver- 
wendet hat,  und  wünsche,  daß  sein  Buch,  als  linguistische  Leistung 
angesehen,  höher  bewertet  werden  möge  denn  als  indologische.  Trotz- 
dem bleiben  uns  Sanskritisten  immer  noch  die  Grammatik  von  Pischel 
und  für  eingehenderes  Studium  die  von  Kielhorn  die  beste  Hilfe. 

Halle  Richard  Schmidt 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwarti  in  QWingeB 


Juni  1906  No.  6 


Liido  Moritz  Hartmann,  Geschichte  Italiens  im  Mittelalter,  Bd.  11,  2. 
Die  LoslOsung  Italiens  yom  Orient  Mit  einem  Personen-  and 
Sachregister  üher  den  L  und  II.  Bd.  Gotha,  Fr.  A.  Perthes,  1903.  IX,  887  S. 
10  M. 

Der  nene  Band  des  großartigen  Werkes  beginnt  mit  einer  Dar- 
stellung der  langobardischen  Verfassung.  Der  Grundgedanke,  den 
der  Verfasser  im  ersten  Teil  des  zweiten  Bandes  angeschlagen  hat, 
die  fast  durchgängige  Beseitigung  der  römischen  Verfassungselemente, 
die  Ausbildung  des  langobardischen  Staates  zu  einem  vollständigen 
Nationalstaat,  ist  hier  in  das  einzelne  durchgeführt.  Der  Referent 
ist  nun  hier  in  einer  üblen  Lage:  er  arbeitet  selber  an  einer  italie- 
nischen Verfassungsgeschichte  und  hält  den  Gedanken  von  der  Be- 
seitigung der  römischen  Elemente  für  ganz  unzutreifend :  nach  seiner 
Meinung  hat  sich  die  römische  civitas  mit  allen  ihren  Elementen,  mit 
dem  kommunalen  Großgrundbesitz  der  curiales,  der  Mittelklasse  der 
negotiatores,  den  zünftigen  Handwerkern,  dann  den  halb-  und  un- 
fi*eien  Bauern  in  die  langobardische  Zeit  herein  erhalten  und  es  ist 
selbst  in  den  langobardischen  Provinzialämtem  durchaus  nicht  alles 
langobardisch,  wenn  auch  hier  das  langobardische  Element  überwiegt. 
Natürlich  ist  es  aber  unmöglich,  diese  Meinung  jetzt  im  Detail  zu 
begründen  und  es  sei  erlaubt  nur  einige  besonders  auffällige  Momente 
hervorzuheben.  Immer  wird  aber  auch  der  Gegner  an  der  klaren 
und  minutiösen  Durcharbeitung  der  in  Deutschland  herrschenden 
Lehre,  so  wie  sie  Hartmann  gibt,  lernen  können.  — 

I.  Es  soll  nun  gefragt  werden,  worauf  denn  überhaupt  der  Satz 
Yon  der  Rechtlosigkeit  der  Romanen  in  der  früheren  langobardischen 
Zeit  sich  gründet. 

1.  Zunächst  werden  dafür  die  beiden  bekannten  Stellen  bei 
Paulus  II 32,  m  16  herangezogen.  Vor  allem  kommt  hier  zunächst  eine 
allgemeine  Bemerkung  in  Betracht:  II  32  schildert  den  Unfrieden, 
die  Unsicherheit,  welche  durch  die  Vielherrschaft  der  Herzöge  herbei- 
geführt wurde,  m  16  den  in  allen  Germanenstaaten  widerkehrenden 

Mtt.  ftl.  Abs.  190«.  Nr.  6  30 


426  Q6it  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

legendarischen  Frieden,  welchen  die  Durchführung  der  Eonigshen^ 
Schaft  mit  sich  brachte.  In  1132  liegt  die  üble  Romanenbehand- 
lung  deutlich  in  der  Linie  der  Schilderung  überhaupt.  In  ini6 
kann  der  Satz  populi  tarnen  adgravati  per  Longobardos  hospUa 
partiuntur  nicht  eine  Einschränkung  zu  dem  vorausgehenden  und 
nachfolgenden  bedeuten,  sondern  muß  damit  in  Einklang  stehen. 
Anders  Hegel  Städteverfassung  I  S.  354.  Allerdings  steckt  in  tarnen 
ein  Gegensatz,  aber  keiner  zur  Schilderung  im  ganzen,  sondern  nur 
zum  Yorausgehenden  Satz,  weil  dieser  unvollständig  ist  und  nor  einen 
Teil  der  Friedensarbeit  schildert.  Von  den  beiden  Unfrieden  stiftenden 
Elementen  ist  das  eine  die  starke  Beteiligung  der  duces  an  der 
Staatsgewalt,  welcher  durch  eine  Abteilung  zwischen  König  und  dnees 
das  Ende  gemacht  ward.  Der  zweite  Streitpunkt  >aber€,  die  un- 
klaren Verhältnisse  zwischen  Langobarden  und  den  populi  worden  eben- 
falls durch  eine  Abteilung  gelöst.  Es  war  das  »eben«  (sane)  wunder- 
bar im  Langobardenreich:  es  herrschte  allgemeiner  Frieden.  Dieser 
letzte  Gedanke  nimmt  mit  sane  deutlich  das  vorausgehende  anf:* 
dann  aber  muß  in  dem  populi  tarnen  yadgravatU  per  Langobariot 
hospites  partiuntur  eine  Friedenstat  stecken.  Es  scheiden  damit 
alle  Meinungen  aus,  welche  in  III 16  nur  den  Fortgang  des  in  1132 
geschilderten  sehen:  also  namentlich  das,  was  Hegel  I  S.  353  ausführt. 
Betrachtet  man  die  einzelnen  Stellen  für  sich,  so  kann  ledig- 
lich der  grammatischen  Interpretation  nach  1132  zweifach  ausge- 
legt werden:  a)  viele  nobiles  Romani  werden  getötet:  die  Romanit 
welche  nicht  nobiles  sind ,  werden  tributarii  der  Langobarden ,  denen 
sie  ein  Drittel  der  Früchte  zu  zahlen  haben,  b)  Viele  nobiles  Romani 
werden  getötet,  die  andern  nobiles  Romani  werden  tributarii.  Eine 
kurze  Ueberlegung  zeigt,  daß  nur  die  zweite  Deutung  denkbar  ist. 
Denn  sonst  würde  Paulus  über  die  Lage  der  nobiles  Romani,  welche 
überlebten,  nichts  aussagen  und  das  ist  undenkbar.  Redet  dann  aber 
einmal  die  Stelle  von  den  nobiles  Romani,  so  kann  sie  unmöglich 
sagen,  daß  diese  nobiles  Romani  Unfreie,  aldiones,  wie  Hartmann 
annimmt,  geworden  sind.  Dem  steht  nicht  nur  die  allgemeine  Er- 
wägung entgegen,  daß  eine  solche  Veränderung  sozial  einfach  unmög- 
lich ist;  man  kann  eine  herrschende  Klasse,  die  bisher  nicht  mit 
eigener  Hand  gearbeitet  hat,  zerstören;  aber  man  kann  ihr  nicht  den 
Pflug  in  die  Hand  zwingen.  Vielmehr  ist  so  etwas  auch  rechtlich 
unmöglich:  sind  die  Romani  wirklich  aldiones  und  damit  Unfreie 
eines  Herrn  geworden,  so  lag  die  Bestimmung  der  Abgaben  in  der 
Hand  des  einzelnen  Herrn  und  es  war  ganz  unmöglich  die  Höhe  der 
Abgaben  allgemein  und  mit  rechtlichem  Zwang  zu  begrenzen.  Die 
Last  der  tertia  setzt  mit  juristischer  Notwendigkeit  die   FreOmt 


Hartmann,  Geschichte  Italiens  U,  2  427 

der  Romani  voraus  (so  schon  Schupfer  istit.  pol.  S.  71).  Wie  dann 
im  Detail  diese  Abgabe  zu  deuten  ist,  wurde  schon  früher  (G.  6.  A. 
(1903  S.  207)  besprochen  und  berührt  unser  Problem  nicht  unmittel- 
bar. Ich  will  meine  Meinung  nur  dahin  zusammenfassen,  daß  in  der 
Longobardenzeit  neben  die  alten  Abgaben,  welche  die  Romanen- 
bevölkerung an  die  civitas  zu  zahlen  hat,  die  Last  der  tertia  trat, 
welche  gerade  die  römischen  possessores  den  Longobarden  gegen- 
über* zu  tragen  haben.  —  III 16  ist  dann  die  Lösung  der  entstan- 
denen Communion.  Sprachlich  ganz  unmöglich  ist  die  Deutung 
Hegels  (I  S.  353)  und  anderer:  >in  der  Lage  des  bedrückten  Volkes 
änderte  sich  dennoch  nichts:  sie  waren  und  blieben  verteilt«.  Paulus 
ist  sprachlich  sehr  korrekt  und  die  Fehler,  die  sich  in  den  einzelnen 
Handschriften  da  und  dort  finden,  fallen  nur  den  Abschreibern  zur 
Last.  Von  da  aus  muß  man  unter  dem  partiuntur  einen  einmaligen 
Vorgang  verstehen,  der  jetzt  stattfindet  und  im  Gegensatz  steht  zu 
adgravatij  was  in  der  Vergangenheit  liegt.  Damit  stimmt  dann  auch 
der  Zusammenhang  von  IH 16,  der,  wie  gezeigt,  einen  Gegensatz 
zu  II 32  enthält.  Ob  dann  partiuntur  passivisch  oder  medial  ist 
—  sprachlich  beides  möglich  —  steht  dahin,  und  ebenso  ist  nicht 
sicher,  ob  man  unter  den  popuH  die  romanischen  Leute  als  einzelne 
oder  (cf.  Rothari  176;  Memorie  di  Lucca  V.  2.3  700;  auch  1.  Visi- 
goth. XII.  1. 2)  als  die  zusammengefaßte  Einwohnerschaft  der  einzelnen 
dvitates  (dafür  vielleicht  gerade  Paulus  H.  32)  ansehen  soll.  Hier 
kann  das  dahingestellt  bleiben.  Für  die  Frage,  um  welche  es  sich 
jetzt  handelt,  ergibt  sich  dann  das  Resultat,  daß  die  Ansiedelung 
der  Langobarden  im  wesentlichen  nicht  weiter  eingrifif,  als  die  der 
Gothen.  Damit  stehen  die  Nachrichten  über  die  > Wildheit«  der 
Langobarden  nicht  in  Widerspruch.  Mir  scheint,  daß  man  damit  viel 
zu  ungezwungen  operiert  hat.  Denn  was  Paulus  Diaconus  darüber 
berichtet,  ist  eigentlich  nur  die  Stelle  II.  32 :  was  sie  sagt,  geht  z.  B. 
nicht  über  die  Schilderung  bei  Gregor  Tur.  IL  27  hinaus.  Dann 
bleiben  noch  die  Nachrichten  Gregors  des  Großen,  der  in  einer  Zeit 
des  offenen  erbitterten  Krieges  zwischen  Römern  und  Langobarden 
lebte:  natürlich  haben  hier  die  Römer  fliehen  müssen,  und  es  sind 
eine  Menge  von  Gewalttätigkeiten  vorgekommen.  Allein  es  wider- 
streitet allen  Regeln,  wenn  man  aus  den  Lamentationen  über  solche 
Vorgänge  irgend  welche  Rechtssätze  für  die  Lage  der  Römer  ab- 
leiten würde. 

Mir  scheint,  daß  die  spätem  geschichtlichen  Nachrichten  auf  eine 
ganz  andere  Stellung  der  Langobarden  zum  Römertum  hinweisen, 
als  sie  Hartmann  mit  der  herrschenden  Lehre  annimmt.  Man  weiß, 
welche  Bedeutung  in  dieser  Uebergangszeit  das  Porträt  und  die  In- 

30* 


Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

-v:ULit  JLiii  der  Münze  haben,  daß  der  als  SouTeritn  betrachtet  wird, 
A^!<!<u  Bildnis  und  Name  auf  den  Münzen  erscheint:  das  zeigt  sich 
u  ^ieicher  Zeit  im  Westen,  später  im  Süden  von  Italien  selber.  Bei 
;cu  Ldugobarden  aber  wird  die  byzantinische  Münze  bis  herein  in  die 
Hicce  des  siebenten  Jahrhunderts  beibehalten  (Engel  et  Serrure  I 
S^  J2 ;   Hartmann  U.  2  S.  33),   viel   länger   als   bei  den  Franken.  — 
Die  katholische  Hierarchie  dauert  neben  der  arianischen  fort.    Paulas 
IV.  42  hat  ganz  allgemein  davon  geredet,   daß  in  den  arianischen 
Zeiten   der  Langobarden   in  jeder   Stadt    ein    orthodoxer   und   ein 
arianischer  Bischof  einander  gegenüberstanden.     Diese   Stelle  hat 
Uartmann  (IL  1  S.  278)  für  unzuverlässig  angesehen,  während  er  mit 
der  herrschenden  Lehre  auf  IL  32  und  lU.  16,  die  doch  ihrem  Inhalt 
nach  der  Zeit  und  dem  Gesichtskreis  des  Paulus  viel  femer  liegen, 
als  jene  Mitteilung  über  die  Bischöfe,  allen  Wert  legt    Hartmann 
ist  zu   seiner   Meinung    offenbar    gekommen,    weil    er    mit  Hegel 
(I  S.  359  ff.)  aus  den  Briefen  Gregor  H.  herausliest,  daß  der  Bischof 
und  die  Geistlichkeit  von  Mailand  zur  Zeit  Gregors  in  Genua  resi- 
dierte (Hartmann  IL  1  S.  87,  S.  264;  ähnlich  Lumbroso  stdla  storia  dd 
Genovesi  S.  11;   so  jetzt  auch  Duchesne  in  melanges  iVarehiologie  d 
d'histoire  XXIII  S.  83  f.)  Das  ist  nun  aber  direkt  falsch.  Die  meistea 
Stellen,   welche  von   der  Mailänder  Kirche  handeln,   sind  fur  die 
Frage,  wo  sich   der  Bischof  aufgehalten  hat,  neutral.    Zu  den  neo- 
tralen   Stellen   mag    selbst    noch    (gegen   Ewald)  lU.  26    gerechnet 
werden,  wenn  es  auch  Schwierigkeiten  macht  sich   zu  denken,  daB 
die  in  Genua  weilenden  Laien  aus  Mailand  als  populus  bezeichnet 
sein   sollen.     Zwingend  spricht   aber  XL  6   für   den  Aufenhalt  des 
Mailändischen  Bischofs.    Der  bisherige  Bischof  hatte  sich  nicht  nur 
ausgezeichnet    in    Beachtung    der    ecclesiasticae   regulae   discifüiioei 
sondern  auch  in  der  iuüio  civitatis  vestrae.    Es  handelte  sich  also 
um  Betätigung  im   geistlichen  und  im  weltlichen  Gebiete  und  zwar 
im  letzteren  um  ein  Eintreten  für  die  civitas  Mailand.  Wie  man  dtf 
machen  soll,  ohne  am  Ort  zu  sein,  scheint  mir  undenkbar.    Daio 
kommt  aber  die  Nachricht,  daß  Agilulf  einen  Kandidaten  als  Bischof 
vorgeschlagen  hat  und  seine  Designation   damit  zu  stärken  snAU 
daß  er  die  Entziehung  der  Eirchengüter  innerhalb   des  langobardi' 
sehen  Reiches  droht.  Zunächst  setzt  das  voraus,  daß  der  mailändischei^ 
Kirche  bisher  ihr  Kirchengut  innerhalb  des  langobardischen  Beich«* 
geblieben  ist.     Ist  es  nun  denkbar,   daß  einem  Bischof,  der  üb^^ 
die  Reichsgrenze   geflohen   ist  und   dort   residiert,   doch  noch  d^ 
Kirchengut   innerhalb    des   Reiches    zur  Verfügung    stehen   wDt^ 
Und  ist  es  glaublich,  daß  der  Langobardenkönig  den  Versuch  S^ 
macht  haben  sollte,  einem  in  Genua  residierenden  Bischof  von  Vail^ 


i 


Hartmann,  Geschichte  Italiens  11,2  429 

einen  Nachfolger  zu  setzen;  daß  es  sich  dabei  nicht  allenfalls  um 
den  arianischen  Bischof  handelt,  ist  klar,  und  wird  auch  nirgends 
behauptet.  —  Weist  XL  8  mit  Sicherheit  auf  die  Residenz  eines  Bischofs 
in  Mailand,  so  auch  wohlverstanden  diejenigen  Stellen,  welche  man  ge- 
wöhnlich für  den  Aufenthalt  in  Genua  anführt.  So  vor  allem  lU.  30. 
Hier  ist  zunächst  nur  gesagt,  daß  viele  Mailänder  in  Genua  sich 
aufhalten,  coacti  barbarica  feritcUe.  Gregor  erklärt  nun,  ihm  sei  ein 
Bericht  des  Klerus  von  Mailand  zugekommen,  daß  sie  einmütig  den 
Bischof  Constantius  gewählt  hätten.  Da  es  aber  an  der  kanonischen 
Wahlform  —  der  einmütigen  Subscriptio  —  fehlt,  so  soll  der  Kom- 
missar doch  noch  prüfen :  er  soll  zunächst  die  genuesischen  Emigranten 
befragen  und  die  Vornahme  der  Ordination  anordnen,  ^t  nulla  eos 
diversitas  ah  electionis  unüate  determinat.  Der  Sinn  ist  also  doch 
der:  der  Papst  ist  zweifelhaft,  ob  denn  die  Genuesischen  Emigranten 
der  gleichen  Meinung  sind,  die  in  den  übermittelten  Wahldekreten 
zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Er  hält  die  Meinung  der  genuesischen 
Emigraoten  und  die  angeblich  einheitliche  Wahl  für  mögliche  Gegen- 
sätze. Dann  kann  natürlich  die  einheitliche  Wahl  nicht  in  Genua 
zustande  gekommen  sein,  und  es  bleibt  nichts  übrig,  als  dieselbe 
nach  Mailand  zu  setzen.  Die  Situation  ist  eben  einfach  die,  daß  zwei 
Parteien  bei  der  Wahl  konkurrieren,  die  in  Mailand  gebliebene  Masse 
des  Klerus  und  die  Emigranten-Gruppe,  die  politisch  und  kirchlich 
ganz  verschieden  beeinflußt  waren;  der  Papst  traute  naturgemäß 
den  Emigranten  mehr,  als  den  Zurückgebliebenen.  Auf  das  gleiche 
fuhrt  IX.  235.  Hier  wird  ein  Blinder  gezwungen  collata  inter  alios  civi- 
tcUis  Genuensis  habitatores  et  ipse  dcire.  Der  Bischof  von  Mailand  soll 
das  nicht  erlauben,  ab  eo  per  quem  libet  exiyi  vestra  sanctitas  non  per- 
mittat.  Die  Stelle  setzt  also  voraus,  daß  der  Bischof  von  Mailand 
irgendwelches  Gebotsrecht  in  bezug  auf  die  collatio  hat.  Mag  es 
sich  nun  um  eine  kirchliche  oder,  wie  ich  glaube,  ohne  es  hier 
weiter  zu  begründen,  um  eine  weltliche  Abgabe  handeln,  das  ist 
beide  Male  sicher,  daß  der  Bischof  von  Mailand  nicht  über  eine 
Steuer  von  Genua  zu  bestimmen  hat.  Sondern  es  muß  sich 
ein  Emigrant,  der  sich  in  Genua  aufhält,  mit  seinem  in  Mailand 
belegenen  Vermögen  (er  hat  nach  dem  Brief  auch  an  anderen 
Orten  Vermögen)  zur  Steuer  herangezogen  worden  sein  und  hier  soll 
der  Bischof  helfen.  —  Daß  in  XI.  14,  das  zu  XI.  6  gehört,  der  Notar 
des  Papstes  nach  Genua  geschickt  war,  um  dort  (Hegel  I  S.  360 if.) 
den  Bischof  ordinieren  zu  lassen,  steht  nicht  im  Text.  Es  steht 
nur  darin,  daß  der  Notar  nach  Genua  reisen  sollte  und  dann 
nach  Untersuchung  der  Wahl  die  Ordination  anordnen  soll.  Wo 
die  Ordination  erfolgen  soll,  ist  nicht  gesagt,  so  wenig  als  in  III.  30. 


480  Oött  gfü.  Am.  1906.  Nr.  6 

Es  ist  eigentlich  nicht  einmal  gesagt,  daß  der  päpstliche  Gresandte 
das  Ermittelungsverfahren  in  Genua  vornehmen  soll,  wiewohl  das  im 
Hinblick  auf  III.  30  und  die  Territorialverhältnisse  sehr  wahrschein- 
lich ist.   Freilich  ist  der  Bischof  von  Mailand  zu  Beginn  der  Lango- 
bardenzeit nach  Genua  geflohen  (Paulus  II.  25),   die  mailändischen 
Bischöfe  wurden  fast  ein  Jahrhundert  lang  in  Genua  begraben  (Muratori 
S.  S.  1. 2  S.  229)  und  haben  in  Genua  später  ein  palatium  ( Atti  Liguri  II.  1 
S.  11.700;  Lumbroso  S.  59  N.  2).    Daß  aber  daraus  kein  dauernder 
Aufenthalt  in  Genua  folgen  muß,  zeigt  das  Fragment  von  700  (Atti 
Liiguri  II.  1  S.  11):   der  Bischof  von  Mailand,   der  jetzt  doch  längst 
wieder  in  Mailand  ist,  amtet  doch  in  Genua.    Er  hat  eben  dort  und 
auch  in  Luna  (IX.  22)   Metropolitangewalt ,   wie  ja  zu   Beginn   des 
achten  Jahrhunderts  die  Intensität  seiner  Metropolitangewalt  stark 
betont  wird  (Muratori  S.  S.  U.  2  S.  989  ingens  permanet  ipsitAS  dignitas 
potentiae  —  ad   quam   cundi   venientes  praesules  Atisoniae  —  iuxla 
normam  insiruuntur  synodaii  canone).    Es  ist  so  wohl  möglich,   daß 
sich  der  Bischof  von  Mailand  in  den  Fällen,  wo  mit  dem  Papst  ver- 
handelt werden  muß,  nach  Genua  begibt,  und  so  gerade  zum  Zweck 
der  Ordination.    Zwingende  Belege  dafür  fehlen  freilich  und  jeden- 
falls folgt  daraus  noch  nicht  ein  dauernder  Aufenthalt  des  Biachofa 
in  Genua.    Daß  aber  der  Bischof  noch  länger  in  Genua   begraben 
wird,  erklärt  sich  doch  einfach  daraus,   daß  allerdings  der  geflohene 
Honoratus  dort  begraben  wurde  und  man  dann  aus  allen  möglichen 
Gründen  an  dem  Grab  im  Reichsboden  festhielt.  —  Sicher  bezeugt 
ist  die  bischöfliche  Kirche  von  Como,  die  zur  Zeit  des  Gregor  schis- 
matisch ist  (IX.  186),  und  weiter  die  Kirche   von  Tortona  (DL  235); 
die  Bischöfe  von  Nordostitalien  (Clausen,  Zuglio,  Belluno,  Concordia, 
Trient,  Asolo,  Verona,  Feltre,  Treviso,  Vicenza)  handeln  591  (Gregor 
1. 16.a].    Vom  Bischof  von  Mailand  haben  sich  wegen  des  Dreiapostel- 
streites drei  Bischöfe  losgelöst,  die  nur  von  Oberitalien  sein  können: 
IV.  2;  einer  (IX.  37)  ist  der  Bischof  von  Brescia.   IX.  214  erwähnt  die 
Aufstellung  eines  Bischofs  von  Turin.    In  Fiesole  wird   die  Kirche 
nach  dem   Friedensschluß  wieder  hergestellt  (IX.  143).  —  Daß  sich 
keine  Korrespondenz  der  langobardischen  Bischöfe  und  der  Päpste  findet 
—  ein  Argument,   auf  das   Duchesne   so   großes   Gewicht   legt  — 
braucht  nicht  aus  der  blos  fragmentarischen  Ueberlieferung  des  Re- 
gistrum erklärt  zu  werden;   sie   war   einfach   durch  langobardisches 
Beichsrecht  verboten  (Rachis  9)  und  kommt  deshalb  im  siebenten  und 
achten  Jahrhundert  genau   so   wenig  vor.  —  Anderwärts   wird   der 
Besitzstand  der  Kirche  von  Arezzo  von  der  Zeit   des  Narses    bis 
650  in  vielen  Kirchen  festgehalten  (c.  Aretino  1.1.650).  —  Endlich 
kommen  die  kremonesischen  Bischöfe  in  betracht,  deren  Existenz  mir 


Hftrtmann,  Geschichte  Italiens  11, 2  431 

festzustehen  scheint  (darüber  meine  Abhandlung:  die  angeblichen 
Fälschungen  des  Dragoni).  —  Für  die  Behauptung,  daß  die  katho- 
lische Hierarchie  zerstört  worden  wäre,  fehlt  es  also  an  jedem  Beleg. 
Daß  der  italienische  Episkopat  —  infolge  des  Dreikapitelstreites  häre- 
tisch und  im  Gegensatz  zu  Born  und  Byzanz  —  sich  erhielt,  scheint 
mir  ein  Hauptelement  der  frühen  Langobardenzeit 

2.  Eine  andere  Nachrichtenreihe  will  ich  zusammen  mit  dem 
behandeln»  was  die  Rechtsquellen  in  die  Hand  geben.  Bekanntlich 
enthält  das  Edikt  des  Rothari  gar  nichts  über  die  Römer;  das  Ge- 
setz schweigt,  von  einer  Stelle  abgesehen,  über  die  Römer  genau, 
wie  über  die  zahlreichen  anderen  Völkersplitter,  welche  im  lango- 
bardischen  Staatsverband  lebten.  Wenn  Hegel  I  S.  286  mit  einer 
bösen  Rhetorik  aus  Rothari  195  argumentiert,  so  genügt  ein  ein- 
facher Blick  auf  die  1.  Salica,  wo  auch  die  römischen  Unfreien, 
oder  die  Unfreien  der  Römer  (?)  im  Wergeid  niederer  stehen;  im 
übrigen  aber  kann  man  auf  die  1.  Burgundionum  verweisen,  wo  eben- 
falls von  Römern  nicht  die  Rede  ist.  Es  ist  ja  allerdings  wahrschein- 
lich, daß  das  Edikt  des  Rothari  da  und  dort  von  der  ganzen  Be- 
völkerung redet;  es  werden  vor  allem  die  exercitales  in  c.  23,28  die 
freie  Bevölkerung  überhaupt,  also  nach  meiner  Meinung  die  Romanen, 
befassen  müssen  (anders  Hartmann  H.  2  S.  5).  Das  ist  aber  auch 
vollkommen  möglich:  in  der  zweiten  Hälfte  des  siebenten  Jahr- 
hunderts kommt  der  Ausdruck  exercitalis  auch  bei  den  Westgothen 
vor  und  bezeichnete  hier  alle  Werpflichtigen,  zu  denen  die  Römer 
gerade  so  zählen  wie  die  Gothen  (1.  Visig.  IX.  2.  9).  Man  muß  sich 
deshalb  vor  allen  voreiligen  Schlüssen  aus  Arimannus  hüten.  Liut- 
prand  aber  setzte  in  c.  91  für  die  Rechtsgeschäfte,  welche  der  Be- 
urkundung bedürfen,  also  vor  allem  und  zuerst  gerade  für  das  Immo- 
biliensachenrecht, ebenso  das  römische  wie  das  langobardische  Recht 
voraus.  Das  Gonnubium  ferner  zwischen  Römern  und  Langobarden 
(c.  127)  erfordert  vollständige  Freiheit  des  Römers.  Wäre  der  Ro- 
mane aldio,  so  würde  die  Frau,  welche  einen  solchen  geheiratet  hat 
and  sich  zum  zweiten  Mal  verheiraten  will,  nach  Rothari  216  und 
Liutprand  127  zu  beurteilen  sein,  eine  Bestimmung,  die  mit  c.  127 
ganz  unverträglich  ist.  Wenn  aber  irgendwo  durch  Gesetzgebung  den 
Romanen  die  Freiheit  verliehen  sein  würde,  so  wäre  das  in  den  so 
reichhaltigen  und  auf  so  engen  Zeitraum  zusammengedrängten  lango- 
bardischen  Gesetzgebungen  zu  erkennen  gewesen:  ohne  deutliche 
Spuren  in  den  erhaltenen  Gesetzen  könnte  eine  solche  radikale 
Aenderung  nicht  vorübergegangen  sein.  Bei  alledem  ist  dann  noch 
gar  nicht  in  Anschlag  gebracht,  daß  nach  der  Meinung,  welche  ich  für 
richtig  halte,  die  lex  Udinensis  das  Recht  der  Römer  in  Italien  ist,  -^ 


432  Gott  gel.  Anjs.  1906.  Nr.  6 

Geht  man  nun  noch  einmal  auf  die  geschichüichen  Nachrichten 
zurttck,  80  ergeben  sie  ein  weiteres  Moment.  Neben  der  Frei- 
lassung Unfreier  zu  Vollfreien,  die  ja  in  der  Stammessage  als  ein 
Mittel  erwähnt  wird,  das  Volk  zu  verstärken  (Paulus  1. 13),  steht  die 
Aufnahme  ganzer  Völker  in  den  langobardischen  Staats-  und  Heeres- 
verband  (Paulus  I.  20) :  im  Licht  der  Geschichte  vollzieht  sich  in  der 
zweiten  Hälfte  des  siebenten  Jahrhunderts  die  Aufnahme  der  Bul- 
garen (Paulus  IV.  29).  Die  langobardische  Form  für  diese  Aufiiahme 
muß  nun  aber  darin  bestanden  haben,  daß  man  Haar-  und  Kleider- 
tracht der  Langobarden  annahm.  Liutprand,  welcher  die  römische 
Campagna  annektieren  will:  multos  nobiles  de  Roftumis  more  LcmgO' 
bardorum  totondü  atque  vestivü  (vit.  Greg.  HI  c.  14).  Dieselbe  Form 
gebrauchen  umgekehrt  die  Spoletiner,  welche  sich  773  in  Auflehnung 
gegen  Desiderius  dem  römischen  Staatsverband  anschließen:  vita 
Hadr.  c.  33  omnes  more  Romanorum  tonsurati  sunt.  Als  sich  der 
Fürst  von  Benevent  in  eine  sehr  lose  Abhängigheit  von  den  Frankei 
begibt,  versprach  er,  ut  Langobardorum  rnentum  tonderi  faceret  (Er- 
chempert.  c.  4).  Man  sieht  aus  den  beiden  letzten  Beispielen,  wie 
falsch  es  ist,  wenn  Hegel  I  S.  423  in  lebhafter  Rhetorik  diese  Ver- 
änderung der  Tracht  als  ein  Zeichen  der  Knechtung  ansieht  Da  die 
Form  aber  im  römischen  und  byzantinischen  Recht  nirgends  eine 
Grundlage  hat,  und  deshalb  langobardisch  sein  muß,  so  ergibt  sich 
folgendes:  es  bestand  bei  den  Langobarden  eine  Rechtsform,  durch 
welche  ein  ganzes  Volk  ohne  Verlust  der  persönlichen  Freiheit  in 
den  Staatsverband  aufgenommen  werden  konnte,  und  diese  Form  wird 
nun  gerade  auch  den  Römern  gegenüber  angewendet.  Da  anderer- 
seits in  der  Zeit  Liutprands  Freiheit  und  das  besondere  Recht  der 
Romanen  feststeht,  so  sieht  man,  wie  der  ganze  Vorgang  aoeh 
nicht  bedeutet,  daß  das  römische  Recht  aufgegeben  wird.  Es  ist 
mehr  als  unwahrscheinlich,  daß  die  Rechtsform  der  Trachtenverände- 
rung  erst  unter  Liutprand  aufgekommen  sein  sollte:  die  Vita  Gre- 
gorii  III.  c.  14  setzt  jene  als  etwas  bekanntes  voraus.  Ist  die  Form 
aber  älter,  so  sagt  sie  nichts  anderes,  als  daß  die  römische  Bevölke- 
rung in  ihrer  äußern  Tracht  unter  die  Langobarden  trat,  daß  sie  in 
den  Langobardischen  Staat  aufgenommen  wurde.  In  der  Tat  rechnen 
sich  bald  nachher  alle  Bischöfe  des  Langobardenreichs  zur  gens  Lango* 
bardorum  (lib.  diurn.  76).  Vielleicht  hängt  damit  auch  noch  eiae 
andere  Erscheinung  zusammen:  es  ist  mit  Recht  von  Hartmann  ana* 
geführt,  daß  die  Römer  weitaus  die  Ueberzahl  über  die  Langobarden 
hatten:  dagegen  sind  in  den  Urkunden  die  römischen  Namen  wenig- 
stens unter  den  freien  Leuten  rar.  Soll  man  daraus  nicht  schließen, 
daß  der  Freie,  wie  er  Langobardische  Tracht  annehmen  mußte,  so 


Hartmaim,  Geschichte  Italiem  n,  2  498 

auch  einen  Langobardischen  Namen  erhielt  —  ein  Vorgang,  wie  er 
gleichzeitig  überall  in  den  islamitischen  Staaten  spielt?  — 

Geht  man  auf  die  Urkunden  über,  so  treten  sich  in  diesen 
regelmäßig  die  Nationalitäten  innerhalb  des  Langobardischen  Reichs 
nicht  gegenüber.  Nur  bei  Troya  683,  einer  der  dragonischen  Ur- 
kunden, werden  für  754  Langobardi  und  Römer  nebeneinander  er- 
wähnt. Wie  an  einem  anderen  Orte  ausgeführt  ist  (M.  öst.  Inst. 
XXVII  m.  Heft)  halte  ich  gegen  Hartmann  (M.  öst.  Inst.  XXVI 
Su  659  f.)  unbedingt  an  der  Echtheit  der  dragonischen  Urkunden  fest. 
So  hätte  man  hier  den  ersten  urkundlichen  Beleg  für  die  Unter- 
scheidung von  Langobarden  und  Römern  innerhalb  der  Freien,  wäh- 
rend dieselbe  in  dem  Gesetze  Liutprands  schon  etwas  früher  auf- 
tritt. In  den  fränkischen  und  nachfränkischen  Zeiten  begegnet  der 
Gegensatz  massenhaft. 

3.  Fasse  ich  zusammen,  so  spricht  nichts  dafür,  daß  die  Römer 
unfrei  geworden  wären:  es  gibt  dafür  schlechterdings  keinen  Beleg 
und  noch  nie  ist  ein  so  folgereiches  System  so  sehr  lediglich  auf 
Vermutungen  aufgebaut  worden. 

Vielmehr  ist  es  sicher,  daß  die  römische  Eirchenverfassung  fort- 
gedauert hat,  daß  im  achten  Jahrhundert  die  Römer  als  freie  Staats- 
angehörige gelten,  daß  sie  aber  als  Langobardische  Staatsangehörige 
die  Abzeichen  der  Langobardischen  Staatsangehörigen  überhaupt 
tragen.  Nimmt  man  noch  dazu  die  Nachrichten  des  Paulus  Diakonus, 
nach  denen  die  Langobarden  nicht  anders  als  die  Gothen  bei  der 
Ansiedelung  gehandelt  haben,  die  Schüchternheit  mit  der  man  zu 
einer  nationalen  Münzprägung  kommt,  so  gelangt  man  eben  zum 
Schluß,  daß  die  Römer,  soweit  sie  nicht  Kolonen  waren,  als  exerci- 
tales  in  den  Langobardischen  Staatsverband  übergegangen  sind. 
Deshalb  braucht  man  auch  nicht  daran  zu  denken,  daß  im  zweiten 
Jahrhundert  die  beispiellose  Entwickelung  stattgefunden  hatte,  welche 
Hartmann^(IL2  S.  21)  annimmt,  nämlich  daß  die  Langobarden  jetzt 
Eaufleute  in  ihrer  Mitte  haben,  welche  gepanzert  ausziehen  können; 
gerade  die  schon  einmal  erwähnte  1.  Vis.  IX.  2.  9,  wo  Römer  und 
Germanen  unter  der  exercitales  sind,  zeigt,  wie  wenig  man  bei  Ani- 
atulf  2, 3,  die  vielleicht  in  Anlehnung  an  1.  Vis.  IX.  2. 9  entstanden 
sind,  gerade  nur  an  die  Langobarden  von  Geburt  zu  denken  braucht 
—  Ebenso  wenig  macht  es  dann  eine  Mühe,  die  magistri  commacini 
als  freie  Römer  zu  denken.  Hier  sei  eine  beiläufige  Bemerkung  ge- 
stattet: wenn  Hartmann  (II.  2  S.  20)  offenbar  nicht  recht  an  die 
Ableitung  des  commacinus  von  Como  glaubt,  möchte  ich  ihm  voll- 
kommen zustimmen;  mir  scheint  doch,  daß  das  bei  Isidor  etym. 
19. 8. 2.  bezeugte  Wort  machio,  das  im  Italienischen  häufig  als  Eigen- 


434  Oött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

namen  vorkommt  und  offenbar  die  Wurzel  des  französischen  ma^on 
(Diez  W.  B.  II  S.  354)  ist,  mit  commacini  zusammentrifft;  weil  die 
commacini  stets  ein  Verband  sind  (Rothari  144),  so  wird  das  Wort 
macinus  (macio)  mit  cum  verbunden.  Woher  dann  machio  stammt, 
mag  auf  sich  beruhen. 

Es  ist  im  vorausgehenden  nicht  weiter  ausgeführt  worden,  was  von 
den  römischen  Einrichtungen  verblieben  ist.  Aber  schon  das  bisher  vor- 
gebrachte zeigt,  daß  das  romanische  Element  im  Langobardenreich 
nicht  unfrei  gewesen  ist,  daß  ihm  jedenfalls  seine  kirchliche  Organi- 
sation verblieb.  Daß  dabei  die  norditalienische  Kirche  Überhaupt, 
nicht  nur  die  istrische,  in  der  zweiten  Hälfte  des  sechsten  Jahrhun- 
derts sich  dogmatisch  von  der  Beichskirche  ablöste,  hat  gewiß  ihre 
Stellung  im  Langobardenreich  noch  erleichtert. 

II.  S.  64—121  schildert  Hartmann  die  Geschichte  des  byzanti- 
nischen Italiens  vom  Ende  des  siebenten  Jahrhunderts  bis  zu  dem 
Wiederauflodem  des  Kampfes  mit  den  Langobarden.  Es  wird  diese 
Periode  als  die  der  italienischen  Revolution  bezeichnet.  In  der  Tat 
handelt  es  sich  um  die  Zeit,  in  welcher  sich  die  schließliche  Ab- 
lösung Mittelitaliens  vom  byzantinischen  Reich  vorbereitet  hat.  Es 
handelt  sich  dabei  nicht  um  eine  einheitliche  Bewegung,  sondern  zn- 
meist  um  lokale  Explosionen,  die  aber  die  Zusammenhänge  immermehr 
zerrissen.  Als  dann  der  Bilderstreit  die  Einzelfeuer  zu  einer  großen 
Flamme  zusammenschlagen  ließ,  ist  die  Reichsgewalt  zunächst  schließlich 
doch  der  Herr  geblieben.  Die  Schilderung  all  dieser  Vorgänge  bei  Hart- 
mann gehört  zum  glänzendsten,  was  der  Verfasser  geschrieben  hat,  hier 
freilich  noch  mehr  als  irgend  wo  anders  gestützt  durch  eigene  frühere 
Untersuchungen.  Es  ist  eine  hohe  Kunst,  mit  der  er  sich  von  einer 
rhetorischen  Kolorierung  des  geringen  Materials  ebenso  femgehalten 
hat,  wie  von  einer  dürftigen,  langweiligen  Aneinanderreihung.  Ein 
feiner  Gedanke  folgt  dem  andern ;  betonen  möchte  ich  besonders  die 
zutreffende  Einschätzung  des  Bildersturms  (H.  2  S.  91  f.),  dessen 
Bedeutung  gewöhnlich  nicht  richtig  geschätzt  wird.  —  Den  breitesten 
Raum  nehmen  auch  hier  naturgemäß  die  Erörterungen  über  die 
Verfassungsentwicklung  ein :  Hartmanns  Grundgedanke,  der  ja  bereits 
in  seinen  Untersuchungen  zum  Ausdruck  kam,  ist  der,  daß  im  by- 
zantinischen Italien  die  militärische  Organisation  die  zivile  voll- 
kommen verdrängt  hat,  daß  um  das  Schlagwort  zu  gebrauchen,  die 
Themenverfassung  durchgedrungen  ist.  Trotz  aller  Genauigkeit  der 
Forschung  scheint  mir  der  Nachweis  nicht  gelungen.  Wie  im  byzan- 
tinischen Osten  die  Themenverfassung  ausgesehen  hat,  wissen  wir 
viel  zu  wenig,  um  daraus  Rückschlüsse  für  den  Westen  machen  zu 
können;  die  dalmatischen  und  istrischen  Verhältnisse  sprechen  nicht 


Hartmann,  Geschichte  Italiens  II,  2  435 

für  eine  Eliminierung  des  zivilen  Elements.  Das  Gleiche  gilt  aber 
nach  meiner  Meinung  für  Italien.  Das  ist  ja  gewiß  richtig,  daß  die 
regulären  Truppen  sich  in  eine  Miliz  verwandelt  haben  und  zur  herr- 
schenden Klasse  gehören:  das  ergibt  sich  aus  dem  Bericht  des  Ag- 
nellus  c.  140  über  die  Organisation  des  Georgius  in  Ravenna;  das 
folgt  aus  dem  numerus  von  Triest  im  placitum  von  Risano,  das 
aus  der  Stellung  der  milites  zu  Comachio  als  Führer  der  Poschiflfe, 
das  in  Rom  aus  der  Gegenüberstellung  des  exercitus  und  des  Clerus 
bei  der  Papstwahl,  das  aus  den  venezianischen  Verhältnissen,  wo  die 
tribuni  identisch  sind  mit  der  herrschenden  Schicht,  das  endlich  aus 
der  Rechtslage  in  Neapel  und  Sorrent.  Allein  die  andere  Frage  ist, 
ob  wirklich  die  militärische  Organisation  die  zivile  verdrängt  hat 
und  der  numerus  gebunden  an  ein  Castell  die  Einheit  bildete.  Daß 
der  numerus  als  solcher  mit  dem  öflFentlichen  Verband  zusammentrifft, 
ist  außer  in  Triest  überhaupt  nicht  bezeugt;  noch  weniger  aber  kann 
ich  finden,  daß  die  Castelle  die  Einheit  abgegeben  hätten:  auch  in 
den  byzantinischen  Teilen  sind  die  civitates  die  entscheidende  Einheit 
geblieben :  das  zeigt  das  placitum  von  Risano  für  Istrien,  die  verwischten 
Nachrichten  über  die  venezianischen  Städte,  dann  für  Mittelitalien  der 
Teilungsvertrag  von  760  (Troya  741),  der  nach  den  verschiedensten 
Richtungen  grundlegend  ist.  Umgekehrt  scheint  mir,  daß  wir  für 
diese  älteste  italienische  Zeit  genau  so  wie  im  späteren  Recht  die 
Stellung  der  Castelle  zwar  nur  sehr  undeutlich  ermitteln  können,  aber 
immerhin  sehen,  daß  es  sich  höchstens  um  ziemlich  willkürliche  ünter- 
bezirke  der  civitas  handelt.  Die  zivilen  Aemter  aber  haben  fortge- 
dauert; z.T.  gilt  das  sogar  für  die  Aemter  der  Provinzialverwaltung : 
nichts  anderes  als  das  Amt  des  alten  praeses  provinciae  ist  in  Ra- 
venna bezeugt,  wenn  hier  zu  Ausgang  des  achten  Jahrhunderts  der 
Consularis  die  Kriminalgerichtsbarkeit  übt  (v.  Hadr.  c.  14,  c.  16),  und 
wenn  in  Perugia  nach  einer  überaus  merkwürdigen  Urkunde  noch 
1034  neben  den  4  judices  provinciae  Perusinae  der  proconsul  civitatis 
steht  (Bonazzi  storia  di  Perugia  I  S.  219).  Es  entspricht  das  voll- 
kommen dem  oströmischen  Recht,  wo  noch  viel  länger  als  man  nach 
der  augenblicklich  herrschenden  Lehre  annimmt,  der  iTtapxoc  neben 
dem  atpatYjYöc  vorkommt.  Oft  hat  freilich  der  dux  die  oberste 
Gewalt  seines  Gebiets  in  die  Hand  bekommen:  Venedig  und  Neapel 
lehren  das.  Allein,  wie  steht  es  mit  den  Aemtern  der  civitas?  Wäre 
die  Hartmannsche  Lehre  richtig,  so  müßte  überall  der  tribunus  und 
die  unter  ihm  stehenden  Offiziere  die  richterliche  Gewalt  in  die  Hand 
bekommen  haben:  allein  überall  zeigt  sich,  daß  der  Tribunat  dem 
Richteramt  gegenübersteht  und  lediglich  eine  Vollstreckungsgewalt 
in  sich  befaßt.    Die  richtige  Lösung  ist  vielmehr  die,  daß  wie  im 


436  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6. 

« 
langobardischen  Gebiet  die  Eroberer,  so  im  byzantinischen  Gebiet 
die  römischen  milites  in  den  Kreis  der  possessores,  d.  h.  der  curiales 
aufgegangen  sind   und   die   ganze  Verfassungsentwicklung   hier  wie 
dort  an  die  Behörden  der  römischen  civitas  gebunden  ist. 

III.  Die  folgende  Darstellung  schildert  den  nunmehr  aus- 
brechenden Kampf  des  römischen  Italiens  und  des  Papstes  mit  der 
Langobardei,  das  Eindringen  der  Franken  und  die  Entwicklung  bis 
zur  Kaiserkrönung  Karl  des  Großen.  Es  handelt  sich  hier  ja  um 
Vorgänge,  welche  von  unzähligen  Gelehrten  immer  wieder  untersucht 
worden  sind  und  ich  wüßte  für  Hartmanns  Buch  kein  höheres 
Lob,  als  daß  auch  hier  seine  Darstellung  stets  anziehend  und  inter- 
essant ist.  Vor  allen  gilt  dies  für  jene  verworrenen  Vorgänge  in 
Rom,  welche  der  Niederlage  des  Desiderius  vorangehen.  Eine  Reihe 
von  Punkten,  in  denen  ich  von  Hartmann  abweichen  zu  sollen  glaube, 
habe  ich  in  meiner  Untersuchung  über  die  Schenkungen  Constantins 
und  Pipins  (Zeitschrift  f.  Kirchenrecht  III.  Bd.  14,  S.  1  f.)  besprochen 
und  brauche  deshalb  hier,  wo  ich  ohnedies  übergroßen  Raum  bean- 
sprucht habe,  darauf  nicht  weiter  einzugehen. 

Die  Anzeige  des  vorliegenden  Bandes  hat  überwiegend  zur 
Darlegung  dessen  geführt,  worin  ich  mit  Hartmann  nicht  überein- 
stimme. In  einem  Gebiet,  das  so  dunkel  ist,  wie  das  siebente  und 
achte  Jahrhundert  italienischer  Geschichte,  wird  sich  ja  eine  voll- 
ständige Einheit  der  Anschauungen  nie  durchsetzen.  Aber  was  auf 
einem  so  schwankenden  Boden  erreicht  werden  konnte,  hat  Hart- 
mann erreicht:  eine  Darstellung,  die  uns  weit  über  das  bisher  Er- 
kannte hinausbringt  und  die  in  ihrer  sachlichen  Einfachheit  und  Fein- 
heit auch  immer  wieder  ein  ästhetischer  Genuß  ist.  Jeder  Kenner  der 
italienischen  Geschichte  wird  mit  Spannung  auf  den  dritten  Band 
warten. 

Würzburg  Ernst  Mayer 


K«A.Kelir,  Die  Urkunden  der  Norm  a  nnisch-Sicilis  eben  Könige.  Eine 
diplomatische  Untersuchung.  Mit  Urkundenanhang  und  einer  Kartenskizze. 
Innsbruck  1902,  Wagnersche  Universitatsbuchhandlung.    XIV,  512  S.   Mk.  20. 

Das  vorliegende  Buch  verdankt  dem  Zusammenwirken  verschie- 
dener wissenschaftlicher  Richtungen  seine  Entstehung.  Von  Schefifer- 
Boichorst,  dessen  Andenken  es  gewidmet  ist,  erhielt  der  Verfasser 
den  Hinweis  auf  den  Gegenstand.  Die  Neigung  des  Lehrers  nach 
dem  Süden,  die  Bedeutung,  die  dem  normannischen  Staatswesen  für 
die  spätere  Stauferzeit  zukommt,  die  eigenartigen  Einrichtungen  der 


Kehr,  Die  Urkunden  der  normannisch-sizUischen  Könige  487 

normannischen  Herrschaft,  all  das  traf  zusammen,  um  eine  durch- 
greifende Erforschung  der  normannischen  Geschichte,  die  L.  v.  Heine- 
mann zum  Gegenstande  einer  zusammenfassenden  Darstellung  gemacht 
hatte,  als  eine  dankbare  und  notwendige  Aufgabe  erscheinen  zu 
lassen.  Der  methodischen  Art  des  Lehrers  entsprach  es,  durch  eine 
allseitige  und  erschöpfende  Vorarbeit  die  Grundlage  für  die  Aus- 
fuhrung dieses  Planes  zu  beschaffen,  und  hierfür  war  eines  der  ersten 
Erfordernisse,  die  Einrichtung  der  normannischen  Kanzlei,  die  Art 
der  Urkundenausfertigung  kennen  zu  lernen,  dadurch  den  festen 
Boden  für  die  Kenntnis  und  Beurteilung  der  anderen  Verwaltungs- 
einrichtungen, sowie  des  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  Lebens  zu 
gewinnen.  An  diesem  Punkte  hatte  der  Einfluß  diplomatischer  For- 
schung einzusetzen,  in  die  der  Verfasser  durch  seinen  älteren  Bruder, 
Paul  Kehr,  eingeführt  wurde.  Es  ist  bekannt  und  braucht  ja  gerade 
an  dieser  Stelle  nicht  nochmals  hervorgehoben  zu  werden,  mit  welch' 
glücklichem  Erfolge  dieser  die  von  Th.  v.  Sickel  erdachte,  an  den 
Urkunden  der  Karolinger  und  Ottonen  erprobte  und  ausgebildete 
Methode  der  Stoffsammlung  in  großem  Maßstabe  auf  die  Papstur- 
kunden angewendet  hat.  Sein  Beispiel  hat  den  Bruder  angeregt  und 
geführt,  seine  Vertrautheit  mit  den  italienischen  Archivbestanden  und 
sein  Geschick  haben  diesem  mehrfach  die  Wege  geebnet,  allem  An- 
schein nach  ist  aber  auch  eine  gewisse  Einseitigkeit  auf  dieses  Vor- 
bild zurückzuführen. 

Man  kann  tatsächlich  zwischen  einer  auf  die  formellen,  äußeren 
und  inneren  Merkmale  der  Urkunde  gerichteten  und  einer  vornehm- 
lich dem  Inhalte  sich  zuwendenden  Urkundenlehre  unterscheiden,  und 
diese  Unterscheidung  ist  schon  früh  selbst  von  unmittelbaren  Schü- 
lern Sickels,  wie  z.B.  Eduard  Richter,  gemacht,  gerne  auch  an  die 
Namen  Th.  Sickels  und  Julius  Fickers  geknüpft  worden.  Namentlich 
Scheffer-Boichorst  hat  diese  Auffassung  lange  und  in  scharfer  Form 
vertreten,  er  liebte  es,  sich  den  Diplomatikern  strenger  Observanz, 
in  denen  er  »eine  Art  Byzantiner <  entdeckt  zu  haben  glaubte,  gegen- 
überzustellen (Gesammelte  Schriften  1*,  40).  Nicht  ganz  mit  Recht 
und  jedenfalls  nicht  zum  Vorteil  seiner  eigenen  Arbeit.  Es  ist  ja 
erklärlich  und  durchaus  in  der  Sache  begründet,  daß  bei  den  Vor- 
arbeiten für  die  Verzeichnung  oder  VeröflFentlichung  von  Urkunden 
die  formalen  Merkmale,  denen  die  ersten  und  wichtigsten  Kennzeichen 
der  Echtheit,  beziehungsweise  der  kanzleigemäßen  Ausfertigung  zu 
entnehmen  sind,  in  erster  Linie  stehen,  wie  sie  überhaupt  den  eigent- 
lichen Inhalt  der  Lehre  von  den  Urkunden  als  eines  selbständigen 
Teiles  der  Quellenkunde  bilden.  Das  schließt  aber  die  eingehende 
Beschäftigung  mit  dem  Inhalte  nicht  aus.    Gerade  Th.  v.  Sickel  hat 


488  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6. 

auch  ihm  stets  volle  Aufmerksamkeit  gewidmet,  die  Mittel  innerer 
Kritik  niemals  vernachlässigt,  unmittelbar  und  mittelbar  vor  allem 
die  rechtsgeschichtliche  Forschung  gefördert,  wie  es  überhaupt  nicht 
angeht,  Inhalt  und  Form  strenge  von  einander  zu  trennen.  Wohl 
aber  ist  der  Unterschied  zwischen  der  Aufgabe  des  Urkundenforschers 
und  der  des  Rechts-  oder  Wirtschaftshistorikers,  zwischen  dem  mit 
der  Methode  und  den  Ergebnissen  der  Rechts-  und  Wirtschaftsge- 
schichte vertrauten  Diplomatiker  und  dem  an  der  Methode  der  Ur- 
kundenlehre geschulten  Rechts-  oder  Wirtschaftshistoriker  festzuhalten, 
es  ist  daran  zu  mahnen,  daß  auch  die  Urkundenlehre  ihren  ihr  eigen- 
tümlichen Stoff  besitzt,  sich  auf  diesen  zu  beschränken  hat.  Nur 
scheint  mir  E.,  worauf  ich  noch  zurückkomme,  in  dieser  Beschrän- 
kung etwas  zu  weit  gegangen  zu  sein. 

In  der  Anordnung  des  Stoffes  hält  sich  Kehr  hauptsächlich  an 
Sickels  Lehre  von  den  Urkunden  der  ersten  Karolinger,  wie  dieser 
teilt  er  ihn  in  die  Abschnitte:  Kanzlei,  Aeußere,  Innere  Merkmale, 
Fälschungen,  weicht  von  dem  Vorbilde  nur  darin  ab,  daß  er  die 
äußeren  den  inneren  Merkmalen  vorangehen  läßt,  nicht  eben  zum 
Vorteile  der  Uebersichtlichkeit,  da  dadurch  mehrfach  Wiederholungen 
notwendig  geworden  sind,  die  andernfalls  vermieden  werden  konnten. 

Als  Einleitung  schickt  er  eine  Uebersicht  über  den  Bestand  und 
die  Ueberlieferung  voraus,  die  uns  seine  Sammelarbeit  veranschaulicht 
Zur  Ergänzung  sind  jetzt  anzuführen:  Ueber  Patti  (S.  15)  die  aas 
Kehrs  Nachlaß  von  Erich  Caspar  veröffentlichten  Mitteilungen  (Quellen 
und  Forsch,  aus  italienischen  Archiven  VII  (1904),  171  ff.),  über  das 
Archiv  zu  Monreale  (S.  10)  G.  Millunzi,  II  tesoro,  la  biblioteca  ed  il 
tabulario  della  chiesa  di  Santa  Maria  Nuova  a  Monreale  (Archivio 
storico'^Siciliano  N.  S.  XXVIII  (1903),  279—294  u.  387  ff.)  über  Gir- 
genti  (S.  12)  G.  A.  Garufi,  L'archivio  capitolare  di  Girgenti  (ebenda 
S.  123 — 156).  Für  den  ganzen  Abschnitt  kommen  die  Bemerkungen 
Chalandons  (Le  Moyen  Age  2«  serie,  VII  (1903),  303)  in  Betracht. 

Das  Hauptgewicht  liegt  auf  der  Geschichte  der  Kanzlei  und  auf 
der  Darstellung  der  äußeren  Merkmale.  Der  Verfasser  ist  selbst- 
verständlich in  der  Lage,  viel  mehr  zu  bieten  als  Bresslau  (Hdb.  der 
Urkundenlehre  I,  426—430)  und  Chalandon  (La  diplomatique  des  Nor- 
mands  de  Sicile  et  de  Tltalie  meridionale  in  den  Melanges  d'arch^ 
logie  et  d'histoire  XX  (1900),  155—197),  deren  Mitteilungen  auch  in 
wichtigen  Einzelheiten  zu  berichtigen. 

Während  der  normannische  Eroberer  Englands  und  seine  Nach- 
folger bis  auf  Heinrich  U.  der  Kanzlei  entbehrten,  haben  die  nach  dem 
Süden  Italiens  gezogenen  Normannen  sofort  Kanzleien  eingerichtet, 
und    dementsprechend  haben   auch   die  normannischen   Könige   von 


Kehr,  Die  Urkunden  der  nonnannisch-sizilischen  Könige  489 

Sizilien  und  Neapel  von  Anfang  an  eine  Kanzlei  gehabt,  aus  welcher 
die  lateinischen  und  griechischen  Urkunden  hervorgingen,  wogegen 
die  arabischen  von  den  Beamten  der  aus  der  Zeit  der  Sarazenen- 
herrschaft übernommenen  Doana  regia  ausgefertigt  wurden.  Die 
griechischen  Notare,  welche  keine  eigene  Kanzlei,  sondern  nur  eine 
Abteilung  bildeten,  überließen  die  Ausfertigung  der  Urkunden  zumteil 
auch  den  Empfängern  (S.  68).  Neben  der  Kanzlei,  in  engem  Zu- 
sammenhang mit  ihr,  bestand  die  königliche  Kapelle. 

An  der  Spitze  der  Kanzlei  stand  der  Kanzler,  ein  Großwürden- 
träger des  Reiches,  der  in  der  inneren  und  äußeren  Politik  eine  große 
Rolle  spielte,  sich  aber  an  der  Ausfertigung  der  Urkunden  nicht  be- 
teiligte, überhaupt  auf  die  Führung  der  Kanzleigeschäfte  keinen  un- 
mittelbaren Einfluß  übte.  Die  Kanzler  mußten  nicht  notwendig  geist- 
lichen Standes  sein,  es  begegnen  uns  unter  ihnen  auch  zwei  Laien 
bürgerlicher  Herkunft,  die  in  der  Kanzlei  bis  zur  höchsten  Würde 
emporgestiegen  waren  (S.  94).  Unter  dem  Kanzler  stand  der  vice- 
cancellarius ,  der  jenen  im  Falle  seiner  Abwesenheit  vertrat,  und 
dem  die  eigentliche  Leitung  zukam.  Vereinzelt  kommt  ein  si- 
gillarius  vor;  der  in  den  Urkunden  der  normannischen  Grafen  und 
Herzöge  übliche  Titel  protonotarius  wird  nur  in  wenigen  Urkunden 
Rogers  II.  noch  verwendet.  Die  Logotheten,  die  mehrfach  erwähnt 
werden,  hält  Kehr  am  ehesten  für  Sekretäre  des  Königs.  Als  Vor- 
stand des  Kanzleipersonales  erscheint  der  magister  notarius.  Die 
Notare  sind  sehr  zahlreich,  unter  Wilhelm  II.  lassen  sich  ihrer  23 
nachweisen,  es  waren  mehrere  neben  einander  angestellt,  unter  die 
aber  die  Arbeit  keineswegs  gleichmäßig  verteilt  war.  Jeweils  hatte  einer 
einen  größeren  Wirkungskreis,  standen  ihm  andere  als  Hilfskräfte 
zur  Seite,  man  kann  also,  wie  Kehr  hervorhebt,  eine  ähnliche  Arbeits- 
teilung annehmen,  wie  sie  in  der  kaiserlichen  Kanzlei  üblich  war. 
Zum  größten  Teile  stammten  die  Notare  aus  Unteritalien,  doch 
kommen  auch  Sizilianer  und  Franzosen,  zur  Zeit  Heinrichs  VI.  auch 
Deutsche  vor,  die  nach  seinem  Tode  allerdings  verschwinden.  Die 
Notare  sind  vorwiegend  Laien,  die  ihre  Schulung  wahrscheinlich  in 
dem  öffentlichen  Notariat  erhalten  hatten.  Ihre  Hauptaufgabe  war, 
die  königlichen  Urkunden  abzufassen  und  zu  schreiben ;  der  in  der 
Bekräftigungsformel  genannte  scriptor  hat  die  Urkunde  tatsächlich 
geschrieben,  dadurch  wird  die  Schriftvergleichung  das  wichtigste  und 
sicherste  Mittel  für  die  Feststellung  der  Echtheit.  Doch  waren  die 
Notare  auf  diese  Verpflichtung  nicht  beschränkt,  sie  hatten  auch  die 
Gerichtsurkunden,  ja  selbst  deren  Beilagen  zu  schreiben,  und  waren 
auch  außeramtlich  tätig  (S.  113). 

In  Verbindung  mit  der  Kanzlei  stand  das  königliche  Archiv  zu 


440  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

Palermo  (scrinea  regia)  unter  der  Leitung  eines  zur  Kandei  gehS- 
rigen  scriniarius.  Gegen  die  von  Bresslau  (a.  a.  O.  S.  136)  YertreteM 
Annahme,  daß  schon  die  normannische  Kanzlei  Urkundenregister  ge- 
führt habe,  spricht  sich  Kehr  aus,  er  meint,  daß  höchstens  die  Er- 
lässe an  die  Verwaltungsämter  gebucht  worden  seien  (S.  132). 

Das  Aeußere  der  Urkunden  weist  in   wichtigen   £iii2elkeite&» 
namentlich  in  der  Schrift,  dem  Linienschema  und  der  Rota  den  Ai- 
schluß  an  die  Gebräuche  der  päpstlichen  Kanzlei  auf.    Die  Rota 
wurde  schon  von  den  Vorgängern  gebraucht,  sie  wird  aber  niemals 
zur  eigenhändigen  Vollziehung  benutzt,  für  diese  dient  in  wiehtigomi 
Urkunden  unter  Roger  IL  die  königliche  Unterschrift,  die  unter  der 
Datierung  ihren  Platz  findet,  in  welchem  Falle  die  Rota  wegbleibt 
Die  Urkunden  sind  regelmäßig  auf  dem  landesüblichen  Pergamente 
mit  weißer  Innenseite  (album)  geschrieben,   Papier  (x^ptoc  ^ofJ^ 
xtvoc  carta  cuttunea)  wurde   in   der  Kanzlei  jedenfieills   verwendet, 
doch  haben  sich  Papierurkunden  nicht  erhalten.    Rote  Tinte  wurde 
nur  für  die  Rota,  niemals   zur  Unterschrift  gebraucht.    Goldsclnrift 
findet  sich  in  den  beiden  Purpururkunden  Rogers  II.  von   1139  nid 
1140.    Die  in  Holzkapseln  eingegossenen  roten  Wachssiegel  haben, 
wohl  entsprechend  dem  Gebrauche  in  der  französischen  Heimat,  spits- 
ovale  Form,  sie  werden  allmählich  von  den  Metallsiegeln  (Blei-  und 
Goldbullen)   verdrängt,   kommen  aber  unter  Konstanze   wieder  zn 
Ehren.    Zuerst  waren  Gemmensiegel  üblich,   die  Könige  aber  ver- 
wenden nur  Porträtsiegel,  das  Rogers  IL  zeigt  den  König  stehend, 
seine  Nachfolger  bedienen  sich  der  Thronsiegel.    Die  Bullen  bieten 
auf  der  einen  Seite  das  Ghristusbild,  auf  der  anderen  das  Bild  des 
Königs  in  ganzer  Figur,  stehend  in  byzantinischer  Tracht.    Die  auf- 
gedrückten Wachssiegel  sind  in  besonderer  Art  eingehängt,   Qbenso 
sind  die  Holzkapseln  eigenartig  befestigt,  ohne  daß  jedoch  eine  ohne 
Beschädigung  der  Urkunde  nicht  lösbare  Verbindung  mit  dem  Perga- 
ment hergestellt  worden  wäre  (S.  210).    Unter  Konstanze  geht  man 
zu  dem  gewöhnlichen  Anhängen  mittelst  zusammengedrehter  Seiden- 
fäden, vorwiegend  von  roter  Farbe,  über,  für  welche  in  die  Pliea  in 
der  Regel  vier  rautenförmig  gestellte  Löcher  eingeschnitten  werden. 
Das  gleiche  Verfahren  befolgte  man  bei  dem  Anhängen  der  Bullen. 
Chirographierung  wurde  nur  vereinzelt  bei  Verträgen  beliebt  (S.  18S). 
Zeugenunterschriften  sind  selten,  und  in  den  wenigen  Fallen  haben 
öfters  nur  die  Zeugen  geistlichen  Standes  eigenhändig  unterschrieb«! 
(S.  180). 

Wenden  wir  uns  den  inneren  Merkmalen  der  Urkunden  (carta, 
sigillum)  zu.  Ausgeschieden  hat  Kehr  die  Briefe,  die  kaum  aus  der 
Kanzlei  hervorgegangen  und  in  der  Hauptsache  den  Forderungen 


Kehr,  Die  Urkunden  der  nonnannisch-sidÜBchen  Könige  441 

fürstlicher  Etikette  angepaßt  sind,  die  auf  dauernde  Geltung  berech- 
neten Konstitutionen  und  die  als  Plateae  bezeichneten  besiegelten 
Pergamentrollen  urbarialen  Charakters,  die  von  den  Beamten  der 
Doana  geschrieben  wurden.  Verträge  und  Gerichtsurkunden  haben 
die  Form  gewöhnlicher,  in  der  Kanzlei  ausgefertigter  Urkunden,  es 
bleiben  also  nur  die  beiden  großen  Gruppen  der  Privilegien  und 
Mandate,  Vergabungen  und  Anordnungen,  übrig.  Im  äußern  unter- 
scheiden sich  die  Mandate  von  den  Privilegien  durch  den  Mangel 
des  Chrismon  (eines  Kreuzes)  und  dadurch,  daß  sie  in  einem  Ab- 
sätze geschrieben  sind,  bei  den  Privilegien  die  Datierung  abgetrennt 
ist,  im  Formular  durch  die  Inscriptio,  durch  das  Fehlen  des  Re- 
gierungs-  und  Inkamationsjahres  in  der  Datierung,  seit  dem  Jahre 
1145  auch  durch  die  Tagesangabe.  Die  Privilegien  wurden  in  ver- 
schiedener Ausstattung  ausgefertigt,  doch  läßt  sich  eine  feste  Schei- 
dung unter  diesem  Gesichtspunkte  nicht  durchfuhren. 

Wie  schon  früher  bemerkt,  wurden  Urkunden  in  lateinischer, 
griechischer  und  arabischer  Sprache  ausgestellt,  doch  verdrängt  die 
mit  großer  Sorgfalt  behandelte  lateinische  Sprache  allmählich  die 
beiden  anderen.  Was  Kehr  über  die  in  dieser  Dreisprachigkeit  der 
normannischen  Kanzlei  berücksichtigten  persönlichen  Rechte  sagt 
(S.  239),  kann  jetzt  durch  die  Ausführungen  Karl  Neumeyers  (Die 
gemeinrechtliche  Entwickelung  des  internationalen  Privat-  und  Straf- 
rechtes bis  Bartolus  I  (1901),  203,  246,  247)  erweitert  und  vertieft 
werden. 

Das  streng  selbstherrliche  Wesen  des  normannischen  Königtums 
übte  seine  Wirkung  auch  auf  die  Geschäftsführung  der  Kanzlei.  Für- 
bitter werden  nur  selten  erwähnt,  die  von  dem  Bewerber  um  eine 
königliche  Vergabung  gestellte  Bitte  wurde  von  dem  Kanzler,  be- 
ziehungsweise dem  Vizekanzler  oder  dem  magister  notarius  über- 
nommen, geprüft  und  an  den  König  geleitet,  der  sie  entweder  sofort 
genehmigte  oder  die  notwendigen  Erhebungen,  die  Prüfung  der  vor- 
gelegten Urkunden  anordnete.  Da  die  Könige  eine  ständige  Residenz 
hatten,  die  Kanzlei  in  guter  Ordnung  gehalten  wurde,  ging  das  Be- 
arkundungsgeschäft  glatt  und  rasch  vor  sich.  Der  Empfänger  hatte 
eine  Taxe  zu  entrichten,  welche  durch  die  im  Jahre  1167  erlassene 
Taxordnung,  deren  Inhalt  uns  leider  nicht  bekannt  ist,  geregelt 
worden  war.  Die  Notare  entwarfen  Konzepte,  haben  aller  Wrfir- 
scheinlichkeit  nach  auch  Formeln  und  Formelbücher  zur  Hand 
gehabt. 

Das  Formular  der  Urkunden  verrät  eine  Vereinigung  verschie- 
dener, bunt  durcheinanderlaufender  Einflüsse.  Der  Anschluß  an  die 
Urkunden   der   normannischen   Grafen   und   Herzöge  Apuliens    und 

06ti.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  6  31 


442  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

Siziliens  äußert  sich  am  stärksten  in  dem  Protokoll,  so  wird  z.  B. 
die  sizilische  Invocatio  (In  nomine  Dei  aetemi  et  salvatoris  nostri 
Jesu  Christi)  gebraucht,  unter  Konstanze  tritt  zu  Lebzeiten  Hein- 
richs VI.  an  ihre  Stelle  die  den  Eaiserurkunden  eigentümliche,  seit 
jeher  auch  in  Apulien  verwendete  Dreieinigkeitsformel,  die  nach  des 
Kaisers  Tod  wieder  aufgegeben  wird.  Der  Titel  wird  znerst  durch 
eine  Verbindung  der  sizilischen  und  der  apulischen  Form  gebildet, 
gegen  die  Annahme,  daß  im  Jahre  1136  nach  der  Eroberung  Capnas 
ein  neuer  festgestellt  worden  sei,  den  man  für  die  Folgezeit  beibe- 
hält, spricht  sich  Chalandon  (a.  a.  0.  S.  304)  mit  triftigen  Gründen 
aus,  der  annimmt,  daß  die  Bildung  des  neuen  Titels  erst  im  Jahre 
1139  nach  der  Bestätigung  der  königlichen  Würde  Rogers  IL  durch 
Innozenz  II.  vorgenommen  worden  sei.  Die  Datierung  steht  zuerst 
nach  sizilischem  Brauche  am  Anfange,  seit  1137  nach  apulischer  Art 
am  Schlüsse,  zu  Ende  des  Jahres  1144  wird  ein  festes  Schema  aus- 
gebildet :  Data,  Ort,  per  manum  . . .,  Inkamationsjahr,  Tagesangabe» 
Indiktion  und  Regierungsjahre.  Wie  für  die  Schrift,  hat  auch  für  die 
Fassung  die  Papsturkunde  mehrfach  als  Muster  gedient,  so.  hinsicht- 
lich der  seit  1142  regelmäßig  gebrauchten  Apprecatio,  der  Arenga 
in  den  lateinischen  Urkunden,  der  Promulgatio,  der  Pönformel,  deren 
Gebrauch  wechselt,  und  der  Aushändigungsformel.  Der  byzantinische 
Einfluß  erstreckt  sich  auf  die  Fassung  der  königlichen  Unterschrift 
und  auf  die  Arenga  in  den  griechischen  Urkunden.  Unter  Konstanze 
übte  die  Kaiserurkunde  ihren  Einfluß  auf  einzelne  Formeln,  so  die 
Gruß-  und  Bekräftigungsformel. 

Die  gute  Ordnung  in  der  Kanzlei  mußte  auch  auf  die  Datierung 
einwirken,  deren  Angaben  sich  nur  auf  einen  Zeitpunkt,  den  der 
Beurkundung,  beziehen.  Beide  Arten  von  Urkunden  sind  datiert, 
darin  liegt  ein  wesentlicher  Unterschied  von  denen  der  englischen 
Könige  normannischen  Stammes,  die  bis  auf  Richard  Löwenherz  der 
Datierung  entbehren.  Hinsichtlich  der  einzelnen  Angaben  aber  unter- 
scheiden sich  Mandate  und  Privilegien.  Die  Tagesbezeichnung  findet 
sich  nur  bis  zum  Jahre  1144  in  beiden,  seit  1145  wird  in  den  Privi- 
legien nur  mehr  der  Monat  genannt,  ein  Verfahren,  das  durch  die 
sizilische  Kanzlei  Friedrichs  II.  in  die  Reichskanzlei  eindrang.  Seit 
dem  Jahre  1144  wurde  auch  die  bis  dahin  übliche  Tagesbezeichnnng 
nach  dem  römischen  Kalender  durch  die  fortlaufende  Zählung  er- 
setzt. Neben  den  Monaten  oder  Monatstagen  kommt  hie  und  da  die 
Festangabe  vor.  Die  Indiktion  (griechische  vom  1.  September)  wird 
sowohl  in  Mandaten  wie  in  Privilegien  eingesetzt,  dazu  tritt  in  den 
lateinischen  Privilegien  das  Jahr  der  christlichen,  in  den  griechischen 
das  der  byzantinischen  Aera,  in  den  arabischen  das  der  Hedacbii. 


Kehr,  Die  Urkunden  der  normannisch-sizilischen  Könige  443 

Der  in  Apulien  übliche  Jahresanfang  am  1.  September  wird  in  könig- 
lichen Urkunden  nur  ausnahmsweise  gebraucht,  Regel  ist  nach  Kehrs 
Behauptung  (S.  304)  nicht,  wie  man  früher  annahm,  der  calculus 
Florentinus,  sondern  der  Umsatz  zu  Weihnachten.  Die  von  ihm  ange- 
führten Beispiele  scheinen  das  allerdings,  wenn  sie  nicht  etwa  durch 
Anwendung  der  Septemberepoche  zu  erklären  sind,  zu  bekräftigen, 
aber  ebenso  sicher  ist  nach  etlichen  Stücken,  auf  die  Ghalandon  auf- 
merksam gemacht  hat  (a.  a.  0.  S.  307),  der  Gebrauch  der  Florentiner 
Rechnung.  Regierungsjahre,  die  sich  schon  in  den  Urkunden  der 
apulischen  Herzöge  finden,  werden  in  den  königlichen  Privilegien 
eingesetzt,  neben  den  Regierungsjahren  des  Vaters  werden  auch  die 
Herzogs-  oder  Königsjahre  des  Sohnes  angemerkt,  in  welchem  Falle 
eine  doppelte  Apprecatio  zweifacher  Fassung  (feliciter  amen,  prospere 
amen)  mit  der  Datierung  verbunden  ist.  Die  Berechnung  ist  durch- 
aus zuverlässig,  erst  als  unter  Konstanze  noch  die  drei  Arten  von 
Regierungsjahren  Heinrichs  VI.  zu  zählen  waren,  riß  Verwirrung  ein. 
Wenn  ich  früher  eine  gewisse  Einseitigkeit  des  besprochenen 
Buches  andeutete,  so  habe  ich  dabei  eben  den  Abschnitt  über  die 
inneren  Merkmale  im  Sinne,  der  gegen  die  beiden  Kapitel  über  die 
Kanzlei  und  die  äußeren  Merkmale  entschieden  abfällt.  Allerdings 
ist  sich  Kehr  über  den  Wert  der  vergleichenden  Urkundenlehre  klar 
geworden,  und  ganz  zutreffend  hebt  er  in  dem  Vorworte  (S.  IX)  die 
Bedeutung  hervor,  die  gerade  den  Urkunden  der  unteritalienischen 
Normannen  in  dieser  Richtung  zukommt.  Die  Ausführung  aber  bleibt 
hinter  den  Erwartungen,  die  er  durch  diese  Worte  erregt  hat,  zu- 
rück. Zumeist  begnügt  sich  der  Verfasser  damit,  die  Aehnlichkeiten 
nur  anzudeuten,  wo  doch,  wie  z.  B.  bei  der  Arenga,  eingehende 
Gegenüberstellung  und  Vergleichung  von  großem  Nutzen  gewesen 
wäre.  Ueber  die  Umgestaltung  der  Narratio  und  Dispositio,  gerade 
der  sachlich  wichtigsten  Teile,  geht  er  »als  zu  weit  führende  einfach 
hinweg  (S.  277).  Eingehender  hätten  auch  die  Urkunden  der  Nor- 
mandie  und  der  englischen  Normannenkönige  berücksichtigt  werden 
sollen.  Die  vergleichende  Forschung  hat  ja  nicht  allein  die  Ueberein- 
stimmung,  sondern  auch  die  Unterschiede  herauszuarbeiten,  und  es 
ist  jedenfalls  ein  sehr  beachtenswerter  Vorgang,  daß  Fürsten  gleichen 
Stammes  und  gleicher  Herkunft  unter  dem  Einflüsse  der  Verhält- 
nisse, die  sie  in  der  neuen  Heimat  vorfanden,  einen  so  wichtigen 
Zweig  der  Verwaltung  in  ganz  verschiedener  Weise  behandelten,  um 
so  merkwürdiger,  als  die  Normannen  ihre  Sprache  und  ihr  Recht 
mit  nach  Italien  nahmen  (Neumeyer  a.  a,  0.  S.  235).  Solche  Auf- 
gaben können  ja  doch  nur  von  der  Spezialdiplomatik  behandelt 
werden.    Raum  hierfür  und  vielleicht  auch  für  die  Beigabe  einer 

31* 


444  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

schwer  vermißten  Schrifttafel  wäre  gewonnen  worden,  wenn  Kehr 
das  Kapitel  über  die  Fälschungen  (S.  312—406)  und  die  als  Anhang 
beigegebenen  Urkunden  (S.  409 — 506)  weggelassen  hätte.  Die  in  dem 
fünften  Kapitel  vereinigten  Exkurse  sind  ja  von  Bedeutung  als  Vor* 
arbeiten,  aber  an  allgemein  wichtigen  Ergebnissen  doch  nicht  sehr 
reich,  sie  hätten  wohl  am  besten  in  einer  Zeitschrift  Platz  ge- 
funden. Die  im  Anhange  abgedruckten  Urkunden  werden  aber  an 
Wert  verlieren,  sobald  die  von  C.  A.  Garufi  vorbereitete  Sammlung 
vorliegt.  Bei  geringerem  Umfange  wäre  wohl  auch  der  für  ein  der^ 
artiges  Buch  allzu  hohe  Preis  ermäßigt  worden.  Im  einzelnen  be- 
merke ich  noch,  daß  die  Urkunde  für  den  Erzbischof  v.  Palermo 
(Kehr  S.  307)  neuerdings  bei  La  Mantia,  Antiche  consuetudini  delle 
cittä  di  Sicilia  225  n^  1  gedruckt  ist.  Die  Gründungsurkunden  der 
sizilischen  Bistümer  hat  gleichfalls  auf  Anregung  Schefifer-BoichorsU 
im  Anschluß  an  eine  Arbeit  Starabbas  Erich  Caspar  zum  Gegen- 
stände einer  Dissertation  (Innsbruck  1902)  gemacht,  die  er  in  sein 
Buch  (Roger  II.  und  die  Gründung  der  neuen  sicilischen  Monarchie. 
Innsbruck  1905)  aufgenommen  hat.  In  diesem  bietet  Caspar  aneh 
ein  Regest  Rogers  IL  (S.  481—579). 

Dankenswerte  Beigaben  sind  das  von  Kehr  zusammengestellte 
Literaturverzeichnis  (S.  507 — 510)  und  eine  allerdings  etwas  unvoll- 
ständige Kartenskizze. 

Alles  in  allem  ein  Buch,  das  eine  wertvolle  Bereicherung  ni- 
serer  Kenntnisse  darstellt  und  die  Größe  des  Verlustes  ermesseii 
läßt,  welchen  die  Wissenschaft  durch  den  Hingang  des  so  bedentesd 
veranlagten  jungen  Gelehrten  erlitten  hat.  Schmerzlich  genug,  daß 
diese  Zeilen,  die  der  Auseinandersetzung  mit  dem  Lebenden  dienen 
sollten,  ein  Blatt  der  Erinnerung  werden  mußten. 

Graz  Karl  Uhlirz 


Arthur  Haseloff,  Die  Eaiserinnengräber  in  Andria.  Ein  Beifang 
zur  apulischen  Kunstgeschichte  unter  Friedrich  II.  Bibliothek  desKgL 
Preußischen  Historischen  Instituts  in  Rom.  Bd.  L  Kernt 
Loescher  &  Co.,  1905.  YIII,  61  S.  mit  nenn  Tafeln  und  25  TextabbOdnBg» 
6Mk. 

Der  Vorstand  des  Historischen  Instituts  in  Rom,  P.  Kehr,  leitel 
die  vorliegende  Arbeit  mit  folgendem  Vorwort  ein: 

>Mit  diesem  Hefte  erö£fhen  wir  eine  neue  Serie  ?on  Institnta- 
publikationen,  die  in  freier  Folge  erscheinen  werden.  Die  ,BibIioth6l 
des  Kgl.  Preußischen  Historischen  Instituts  in  Rom'  soll  diejeiigei 


Haseloff,  Die  Kaiserinneogräber  in  Andria  445 

Abhandlungen  von  größerem  Umfang  enthalten,  welche  den  Rahmen 
unserer  Zeitschrift,  der  ^Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen 
Archiven  und  Bibliotheken'  überschreiten  und  welche  keinen  Platz 
finden  können  in  den  großen  Editionen  des  Instituts.  Sie  soll  vor- 
nehmlich »Monumenta  varia<  aus  allen  Gebieten  der  mittleren  und 
neueren  Geschichte  darbieten,  größere  Arbeiten  und  Abhandlungen 
früherer  und  gegenwärtiger  Mitglieder  und  solcher  Gelehrter,  welche 
mit  Hülfe  und  Unterstützung  des  Instituts  in  Rom  und  in  Italien 
arbeiten  <. 

>Die  Abhandlung  von  A.  Haseloff  über  die  Eaiserinnengräber 
in  Andria  ist  aus  einem  Bericht  hervorgegangen,  den  der  genannte 
Gelehrte  dem  Preußischen  Kultusministerium  zu  erstatten  beauftragt 
war.  Der  Besuch  unseres  Kaisers  in  Süditalien  belebte  die  alten 
staufischen  Erinnerungen  in  diesen  Landen,  vornehmlich  in  Apulien; 
aus  dem  Dunkel  tauchten  die  Gestalten  der  beiden  Kaiserinnen  auf, 
deren  Gräber  man  in  der  Krypta  von  Andria  entdeckt  zu  haben 
glaubte.  Ist  nun  auch  der  Beweis  nicht  gelungen,  so  sind  doch 
Reste  an  den  Tag  gekommen,  welche  für  die  Geschichte  der  staufi- 
schen Kunst  in  Apulien  nicht  unwichtige  Beiträge  liefern.  Von 
ihnen  handelt  die  vorliegende  Untersuchung  c. 

>Sie  ist  angeregt  durch  die  lebhafte  Teilnahme,  welche  unser 
kaiserlicher  Herr  der  Geschichte  und  den  Denkmälern  des  staufi- 
schen Hauses  und  vorzüglich  Friedrichs  IL  entgegenbringt,  dessen 
Urkunden  herauszugeben  und  dessen  Bauten  zu  beschreiben  nun  eine 
der  vornehmsten  Aufgaben  des  Historischen  Instituts  sein  wird.  Sie 
ist  ermöglicht  durch  die  Munifizenz  des  Herrn  Ministers  der  geist- 
lichen, Unterrichts-  und  Medizinalangelegenheiten,  welcher  auf  den 
Antrag  des  unterzeichneten  Direktors  des  Instituts  dem  Verfasser 
ein  Reisestipendium  und  dem  Institut  einen  Beitrag  zu  den  Druck- 
kosten gewährtet. 

Haseloff  ist  inzwischen  zum  kunsthistorischen  Assistenten  am 
Historischen  Institut  in  Rom  ernannt  worden.  Somit  ist  das  Interesse 
des  Kaisers  der  Anlaß  zur  Erfüllung  einer  alten  gerechten  Forde- 
rung der  aufstrebenden  Kunstwissenschaft  geworden,  dahin  gehend, 
es  möge  ihr  wie  den  Archäologen  und  Historikern  ein  Plätzchen  in- 
mitten der  Denkmäler  Italiens  gegönnt  werden.  Die  Bewilligung 
einer  Assistentenstelle  beim  Historischen  Institut  ist  freilich  ein 
Tropfen  auf  den  heißen  Stein.  Haseloff  wird  sich  mit  dem  Mittel- 
alter zu  befassen  haben.  Am  Archäologischen  Institute  sollte  längst 
ein  christlicher  Archäologe  angestellt  sein.  Immerhin  ist  anzuer- 
kennen, daß  sich  allmählich  auch  für  das  Kunsthistorische  Institut 


446  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

in  Florenz  einige  Kapitalien  zusammenfinden.  Seine  Studien  richten 
sich  vornehmlich  auf  das  Gebiet  der  Renaissancekunst. 

Die  Arbeit  Haselofüs,  eines  auf  dem  Gebiete  der  mittelalterlichen 
Kunstfprschung  bewährten  Gelehrten,  ist  frei  von  jedem  Chauvinis- 
mus; nüchtern  zeigt  er,  was  an  der  Mähr  von  den  Gräbern  der 
beiden  Kaiserinnen  wahres  ist:  zunächst  die  historische  Unterlage, 
dann  die  bei  den  Ausgrabungen  gemachten  Funde  und  vor  allem  den 
Ort  dieser  Arbeiten  selbst,  den  alten  Dom  von  Andria.  Das  Er- 
gebnis der  Untersuchung  ist  ein  negatives.  Man  hatte  zum  Spaten 
gegriffen,  um  die  Gräber  zweier  Kaiserinnen  zu  finden  und  deutete 
nun  alles  in  diesem  Sinne.  Haseloif  hat  ganz  recht,  wenn  er  daran 
erinnert,  daß  man  hätte  darauf  gefaßt  sein  müssen,  zunächst  auf  Reste 
des  mittelalterlichen  Mobiliars  der  Kirche,  d.  i.  Stücke  von  Ciborien, 
Ambonen,  Leuchtern,  Schranken  und  dergleichen  zu  stoßen.  Haseloff 
stellt  zusammen,  was  sich  mit  den  Fundstücken  von  Andria  Ver- 
wandtes in  Apulien  und  sonst  nachweisen  läßt.  Zwei  Marmorkapitelle 
würden  ihrer  Entstehungszeit  und  der  Güte  ihrer  Arbeit  nach  zwar 
für  das  Grabmal  der  Kaiserinnen  passen,  taugen  aber  in  den  Maßen 
eher  für  ein  Tabernakel.  Ebenso  gehören  in  die  Zeit  Friedrichs  IL 
die  Fragmente  eines  Baldachins  und  Kapitelle,  die  zu  diesen  gehören 
dürften,  wenn  auch  ihre  Arbeit  von  jener  der  Ornamente  des  Bogens 
abweicht.  Die  Rekonstruktion  führt  aber  darauf,  daß  auch  diese 
Fundgruppe  sich  kaum  zu  einem  Grabmal  ergänzen  läßt.  Die 
Untersuchung  des  gleichzeitigen  Grabmaltypus  nämlich  lehrt,  daß 
die  Bodengräber  der  Unterkirche  von  Andria  sich  nicht  damit  ver- 
einigen lassen:  der  geläufige  Typus  weist  immer  einen  Sarkophag 
auf.  Und  wenn  man  auch  annähme,  daß  an  anderer  Stelle  noch 
ein  Kenotaph  errichtet  worden  sei,  so  steht  einer  solchen  Deutung 
doch  die  quadratische  Grundform  des  im  übrigen  allerdings  ent- 
sprechenden Baldachins  entgegen.  Haseloif  prüft  zum  Schluß  die 
Möglichkeit,  ob  vielleicht  alle  gefundenen  Stücke  zu  einer  Kanzel 
gehört  haben  könnten.  Der  Vergleich  mit  erhaltenen  Beispielen 
macht  auch  das  unwahrscheinlich,  so  daß  im  allgemeinen  gesagt 
werden  muß:  zu  den  Gräbern  der  Kaiserinnen  gehören  die  Fnnd- 
stücke  nicht;  es  läßt  sich  aber  ebensowenig  mit  Sicherheit  be- 
stimmen, zu  welcher  Art  von  Kirchenmöbel  oder  dergleichen  sie  sonst 
verarbeitet  waren. 

Haseloff  hat  in  vorliegender  Arbeit  auch  einige  omamentge- 
schichtliche  Studien  angestellt,  auf  die  ich  hier  nicht  eingehe,  weil 
sie  in  einem  größeren  Zusammenhange  zugleich  mit  den  von  Bertaux, 
in  seinem  Werke  L'art  dans  Tltalie  m^ridionale,  geäußerten  An- 
sichten geprüft  werden  müssen.    Darauf  wird  in  einer  Arbeit  Über 


Haseloffy  Die  Eaiserinnens^räber  in  Andria  447 

eine  Gruppe  von  Grabdenkmälern  zurückzukommen  sein,  die  für  ver- 
loren gelten,  denen  aber  mit  mehr  Aussicht  auf  Erfolg  nachgeforscht 
werden  kann,  als  den  Gräbern  von  Andria. 

Graz  Josef  Strzygowski 


A«  Hanek,  Kirchengeschichte  Deutschlands.    Vierter  Teil.    Erste 
und  zweite  (Doppel-) Auflage.   Leipzig  1903,  J.  C.  Hinrichs.    1015  S.   Mk.  17.50. 

Die  Vorzüge,  die  anläßlich  der  Besprechung  des  dritten  Teiles 
zu  rühmen  waren  (GGA.  1897,  99 — 115),  sind  auch  dem  neuen  Bande 
zu  eigen.  Auch  in  diesem  hat  der  Verfasser  den  gewaltigen  Stoff 
mit  starker  Hand  gemeistert.  Wie  er  es  verstanden  hat,  sich  in  die 
Quellen  zu  vertiefen,  uns  überall  selbständig  erworbene  Kenntnis  zu 
vermitteln,  muß  bei  dem  zunehmenden  Reichtum  der  Quellenzeug- 
nisse aufs  höchste  eingeschätzt  werden.  Möglich  war  diese  Leistung 
nur  dadurch,  daß  Hauck,  ohne  in  eine  tendenziöse  Richtung  zu  ver- 
fallen, einen  Standpunkt  gewählt  hat,  der  ihm  die  Ordnung  des  aus- 
gebreiteten Stoffes,  die  Scheidung  des  Wichtigen  von  dem  Neben- 
sächlichen gestattete,  einen  Grundgedanken,  der  ihn  über  die  bloße 
Kompilation  zu  wahrhaft  wissenschaftlicher  Auffassung  erhob:  die 
Trenniing  der  weltlichen  von  der  kirchlichen  Kultur.  Es  ist  dies  ein 
Vorgang  von  höchster  Bedeutung,  dessen  Anfänge  schon  in  der  vor- 
hergegangenen Zeit  zu  erkennen  waren,  der  in  dem  Zeiträume,  dem 
der  vorliegende  Band  gewidmet  ist,  der  Staufischen  Periode,  schon 
auf  allen  Gebieten  des  politischen,  kirchlichen,  gesellschaftlichen  und 
geistigen  Lebens  seine  Wirkung  äußert.  Auf  diesem  Wege  konnte 
der  Verfasser,  ohne  sich  mit  so  kläglichen  Auskunftsmitteln,  wie 
etwa  der  potestas  directa  et  indirecta,  abquälen  zu  müssen,  zu  einer 
gerechten  historischen  Würdigung  der  Ereignisse  und  der  führenden 
Personen  gelangen.  Es  ist  nun  eines  der  lehrreichsten  Schauspiele, 
zu  verfolgen,  wie  mit  den  ersten  offenen  Wirkungen  dieses  Vor- 
ganges, der  ja  heute  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  und  der  gerade 
in  unseren  Tagen  mit  dem  unbestrittenen  Vorrange  nicht-konfessio- 
neller Wissenschaft,  dem  kirchenpolitischen  Kampfe  in  Frankreich 
und  dem  Zusammenbruche  der  autokratisch-konfessionellen  Staatsform 
in  Rußland  an  Wendepunkten  von  unermeßlicher  Bedeutung  ange- 
langt ist,  der  Sieg  des  Papsttums  über  die  in  der  deutschen  Kirche 
vorhandenen  Ansätze  zu  einer  Sonderstellung  zusammenfällt. 

Unaufhaltsam  drang  die  Macht  des  Papsttums  in  die  obersten 
Kreise  der  Hierarchie  ein,  das  erzbischöfliche  und  bischöfliche  Amt 
wurde  ihm  völlig  Untertan,  die  Zurückdrängung  des  weltlichen  Ein- 
flusses bei  den  Bischofswahlen,  die  Einschränkung   des  Wahlrechtes 


448  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

auf  die  Domkapitel,  die  Palliumsverleihungen,  all  das  kam  der  Kurie 
zugute  und  sicherte  ihr  einen  maßgebenden  Einfluß  auf  die  Besetzung 
der  obersten  hierarchischen  Stellen,  deren  kirchliche  Machtbefugnis 
indessen  vielfach  von  unten  und  von  oben  her  eingeschränkt  worden 
war.  Infolge  ihrer  in  dem  vorhergehenden  Zeitraum  begründeten 
politischen  Stellung  waren  die  Bischöfe  des  unmittelbaren  seelsorge- 
rischen Einflusses  auf  die  Bevölkerung  zu  nicht  geringem  Teile  ver- 
lustig gegangen,  das  seit  dem  zehnten  Jahrhundert  von  Lothringen 
her  vordringende  Archidiakonat  hatte  wichtige,  früher  von  den  Bi- 
schöfen selbst  geübte  Befugnisse  übernommen,  die  stete  Vermehrung 
dei:  Bevölkerung,  das  Aufblühen  der  Städte  hatten  die  Bedeutung 
des  Pfarramtes  gehoben.  Die  von  den  großen  Päpsten  der  staufischen 
Zeit  angestrebte  und  auch  durchgeführte  unmittelbare  Regierung,  die 
Zentralisierung  der  Rechtsprechung  an  der  Kurie  mußten  nicht  we- 
niger dazu  beitragen,  die  Stellung  der  Erzbischöfe  und  Bischöfe  za 
schwächen,  wogegen  sie  für  die  mannigfache  Einbuße  an  geistlicber 
Gewalt  einen  recht  ungleichartigen  und  ihrer  eigentlichen  Aufgabe 
keineswegs  förderlichen  Ersatz  nur  in  der  Ausbildung  ihrer  Stellung 
als  Landesherren,  also  auf  rein  weltlichem  Gebiete,  fanden. 

Die  universale  Richtung  des  Papsttums  machte  sich  auch  in  dem 
Verhältnisse  zur  weltlichen  Gewalt,  vor  allem  zum  Kaisertum  geltend, 
dem  es  Anfangs  mit  sachlicher  und  persönlicher  Ueberlegenheit  ent- 
gegentrat. Der  Kampf  wurde  nicht  von  der  Kurie  selbst,  sondern 
von  den  Führern  des  deutschen  Episkopats  eröffnet,  die  den  Tod 
Heinrichs  V.  benutzen  wollten,  um  die  Freiheit  der  Bischofs-  und 
Abtswahlen,  die  Unabhängigkeit  von  der  königlichen  Gewalt  zu  sichern, 
die  Fortdauer  der  in  dem  Wormser  Konkordate  gemachten  Zugeständ- 
nisse zu  verhindern.  König  Lothar  war  ihnen  darin  zu  Willen;  daß 
er  sich,  wenigstens  soweit  nicht  sein  persönlicher  Vorteil  in  Betracht 
kam,  der  Einmengung  in  geistliche  Angelegenheiten  enthielt,  genügte 
jedpch  der  streng  kirchlichen  Partei  nicht,  es  zeigte  sich  sofort,  daß 
sie  nicht  die  Erhaltung  des  durch  Lothars  Nachgiebigkeit  hergestellten 
friedlichen  Zustandes,  sondern  die  Unterordnung  der  weltlichen  unter 
die  geistliche  Gewalt  anstrebte.  Noch  einmal  wäre  der  deutsche 
König  in  der  Lage  gewesen,  bei  der  nach  dem  Tode  Honorius  II. 
erfolgten  Doppelwahl  das  entscheidende  Wort  zu  sprechen.  Lothar 
ließ  die  Gelegenheit  ungenützt  vorübergehen,  er  vermochte  von 
Innozenz  II.  nur  zu  erreichen,  daß  den  Bischöfen  und  Aebten  ver- 
boten wurde,  von  den  Regalien  ohne  vorhergehende  Belehnung  Besitz 
zu  ergreifen. 

Wenn  die  päpstliche  Gewalt,  die  zu  jener  Zeit  auch  die  theore- 
tische Grundlage  ihres  Machtanspruches  abgeschlossen  und  gefestigt 


Hauck,  Kirchengeschicfate  Deutschlands.   IV  448 

hatte,  in  der  Hauptsache  siegreich  geblieben  war,  mußte  sie  doch 
noch  einen  schweren  Angriff  bestehen.  Der  Staufer  Eonrad  III.  hatte 
sich  zwar  anfangs  gleich  seinem  Vorgänger  durchaus  fügsam  gegen 
die  päpstlichen  Forderungen  erwiesen,  allmählich  aber  hatte  er  sich 
zur  Umkehr  gewandt,  wobei  er  durch  den  Wechsel,  der  sich  in  der 
öfifentlichen  Meinung  zu  Ungunsten  der  hierarchischen  Bestrebungen 
vollzogen  hatte,  unterstützt  wurde.  Bei  der  Neuwahl  nach  seinem 
Tode  wurde  der  Papst '  übergangen,  Friedrich  I.  nahm  hinsichtlich 
der  Bischofswahlen  eine  andere  Haltung  als  seine  nächsten  Vorgänger 
ein  und  griff  auf  die  Eirchenpolitik  der  fränkischen  Kaiser  zurück. 
Der  Kampf,  der  sich  von  neuem  entspann  und  fast  ein  Jahrhundert 
währte,  endete  insofern  mit  dem  Siege  des  Papsttums,  als  am  Ende 
der  deutsche  Episkopat,  die  gesamte  Ordens-  und  Weltgeistlichkeit 
seinem  Willen  unterworfen  waren,  während  in  dem  Streite  zwischen 
sacerdotium  und  Imperium  dem  Kaiser  gegenüber  die  Machtmittel 
des  Papsttums  versagt  hatten,  die  Entscheidung  zu  dessen  Gunsten 
nur  durch  einen  Zufall,  den  Tod  Friedrichs  IL,  gefallen  war. 

Als  ein  wesentliches  Mittel,  um  jenen  inneren  Erfolg  herbeizu- 
führen, sind  die  neuen  Orden  zu  betrachten,  denen  Hauck  den  neben 
dem  Kapitel  Theologie  wohl  gelungensten  Abschnitt  seines  Buches 
gewidmet  hat.  Trotz  der  Kluniazenser-  und  Hirschauer-Reform  waren 
die  Benediktinerklöster  in  Verfall  geraten,  dem  wirtschaftlichen  Nie- 
dergange, der  in  dem  Zusammenhang  der  allgemeinen  Verhältnisse 
nicht  zu  vermeiden  war,  gesellten  sich  Mißstände  im  Innern  zu,  der 
Orden  sah  sich  außer  Stande,  das  ihm  von  seinem  Stifter  gesteckte 
Ziel  unter  völlig  geänderten  Verhältnissen  zu  erreichen;  hatte  Karl 
der  Große  ihm  die  Pflege  der  geistigen  Kultur  als  höchste  Aufgabe 
gestellt,  damit  seiner  Tätigkeit  neuen  belebenden  Inhalt  zugeführt, 
80  war  jetzt  diese  Arbeit  von  den  Universitäten  übernommen  worden, 
die  Arbeit  in  der  Seelsorge  aber  löste  den  mönchischen  Gedanken 
auf,  näherte  den  Begularkleriker  dem  Weltgeistlichen.  Zudem  waren 
die  Benediktinerklöster  zu  enge  mit  dem  Boden,  auf  dem  sie  standen, 
mit  dem  Volke,  dem  sie  angehörten,  verwachsen,  als  daß  sie  hätten 
brauchbare  Werkzeuge  päpstlich-zentralistischer  Politik  werden  können. 
Da  war  also  Raum  und  Anlaß  zur  Bildung  neuer  kirchlicher  Gemein- 
schaften gegeben,  die  denn  auch  nach  einander  auf  den  Schauplatz 
treten,  zuerst  Zisterzienser,  Augustiner  und  Prämonstratenser,  alle 
drei  romanischen  Ursprungs,  der  erste  und  der  dritte  Orden  mit 
internationaler  Leitung,  deren  Schwerpunkt  in  Frankreich  lag.  Der 
große  Erfolg,  den  diese  neuen  Orden  hatten,  legte  dem  Papste  den 
Gedanken  nahe,  ihre  Verfassung  auf  die  älteren  Körperschaften  zu 
übertragen;  ein  Versuch  aber,  den  Innozenz  lU.  in  dieser  Richtung 


450  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

machte,  mißlang.  Ergänzt  wurden  die  in  der  Hauptsache  doch  auf 
dem  Lande  wirkenden  Zisterzienser  und  Prämonstratenser  durch  die 
Bettelorden,  Minoriten  (Minderbrüder,  Franziskaner)  und  Prediger 
(Dominikaner),  die  sich  vornehmlich  in  den  Städten  festsetzten.  In 
beiden  überwog  von  Anfang  an  ebenfalls  das  romanische  Wesen,  beide 
befolgten  eine  streng  kurialistische  Haltung. 

In  den  neuen  Orden  war  der  Gedanke  der  Askese  in  den  Hinter- 
grund gedrängt,  er  wurde  vorerst  von  den  Frauenklöstern  über- 
nommen, Hauptsache  war  die  Arbeit  in  verschiedener  Form  und  auf 
mannigfachen  Gebieten.  Namentlich  die  Bettelorden  gewannen  in 
diesem  Betracht  die  größte  Bedeutung.  Während  die  drei  erstge- 
nannten Orden  sich  mehr  und  mehr  den  Benediktinern  näherten, 
wurden  Minoriten  und  Dominikaner  die  eigentlichen  Diener  und  För- 
derer der  neuen  kirchlichen  Richtung.  Sie  nahmen  eine  wichtige 
Stellung  in  dem  Verwaltungsorganismus  der  Kirche  ein,  sie  pflegten 
in  Weiterbildung  früherer  Anfänge  die  Predigt,  betätigten  sich  auf 
wissenschaftlichem  Gebiete,  gewannen  namentlich  für  das  Deutsche 
Reich,  das  der  Universitäten  noch  entbehrte,  große  Bedeutung,  indem 
sie  die  Aufnahme  der  romanischen  Theologie,  der  Scholastik,  ver- 
mittelten. Sie  haben  sich  auch  an  der  Bekehrung  der  noch  heid- 
nischen Gebiete  an  der  Nordostgrenze  des  Reiches  beteiligt  und  mit 
dazu  beigetragen,  daß  diese  Bekehrungstätigkeit,  obwohl  sie  erst 
durch  die  deutsche  Kolonisation  ermöglicht  wurde,  doch  nicht  zur 
Ausbreitung  deutscher  Macht  führte,  da  die  kirchliche  Einrichtung 
Pommerns  und  Livlands  außerhalb  der  deutschen  Kirche  unter  un- 
mittelbarer Leitung  der  Kurie  durchgeführt  wurde.  Hatte  sich  die 
deutsche  Kirche  unfähig  erwiesen,  die  einzige  große  nationale  Auf- 
gabe, die  ihr  damals  noch  gestellt  werden  konnte,  in  der  Hand  zu 
behalten  und  selbständig  zu  lösen,  war  damit  die  Uebermacht  der 
Kurie  auch  in  diesen  Fragen  zum  deutlichen  Ausdruck  gelangt,  so 
bereitete  sich  doch  von  unten  her  eine  Wendung  von  weltgeschicht- 
licher Bedeutung  vor. 

Neben  der  geschlossenen,  anscheinend  alles  beherrschenden  Kirche 
erhebt  sich  eine  neue,  jeder  sichtbaren  Einrichtung  entbehrende 
Macht.  Manche  Aufgabe,  die  bisher  allein  der  Geistlichkeit  zuge- 
fallen war,  begannen  Laien  zu  übernehmen,  insbesondere  die  Bürger 
der  Städte.  Neben  der  kirchlichen  Wohlfahrtspflege  entstand  die 
städtische,  neben  den  in  ihren  Aufgaben  immer  mehr  eingeengten 
Klosterschulen  wurden  städtische  Schulen  errichtet,  neben  der  Theo- 
logie, die  nach  manchen  Ansätzen  zu  selbständiger  Entwicklung  durch 
die  Scholastik  Einheit  und  Methode  erhalten  hatte,  begannen  die 
andern  Wissenschaften  sich  zu  entfalten,  in  der  Dichtkunst  gewann 


Haack,  Kirchengeschichte  Deutschlands.   lY  461 

das  Weltliche  mehr  und  mehr  Platz,  und  in  der  Baukunst  drangen 
neben  kirchlichen  rein  technisch-ästhetische  Forderungen  durch.  Nicht 
daß  dies  Nebeneinander  notwendigerweise  einen  Gegensatz,  die  voll- 
ständige Loslösung  von  der  Kirche  bedeutet  hätte,  aber  die  Mög- 
lichkeit einer  Entwicklung  in  dieser  Richtung  war  vorhanden,  und  sie 
herbeizuführen,  war  der  Streit  der  beiden  höchsten  Gewalten  des 
abendländischen  Christentums  durchaus  geeignet,  da  er  die  Erörterung 
der  einschlägigen  Fragen  wach  erhielt.  Das  Unbehagen,  das  man 
aber  die  Einmengung  der  Hierarchie  in  alle  Verhältnisse  empfand, 
die  wirtschaftliclie  Spaltung,  die  Verbreitung  der  Bildung  trugen 
viel  dazu  bei,  einen  Gegensatz  der  Laienwelt  gegen  die  Hierarchie 
hervorzurufen,  wie  er  in  der  Dichtkunst  der  Staufischen  Zeit  zu 
glänzendstem  Ausdruck  gelangt  ist.  Hielt  sich  dieser  Widerspruch 
innerhalb  dei  Kirche,  war  er  nicht  gegen  sie,  sondern  nur  gegen  un- 
läugbare  Misbräuclie,  gegen  die  Uebergriife  der  Geistlichkeit  gerichtet, 
so  begünstigte  er  doch  die  außerhalb  der  Kirche  sich  vollziehende 
religiöse  Entwicklung,  die  in  diesem  Zeiträume  zum  erstenmal  ihre 
Wirkung  übt,  die  Häresie  der  Katharer  und  Waldenser.  Und  da 
diese  Häresien  ihren  Nährboden  vor  allem  in  der  Frömmigkeit  jener 
Zeit,  die  einen  stark  persönlichen  Charakter  trug,  fanden,  erhielten 
sie  eine  innere  Festigkeit,  der  gegenüber  sich  die  zu  ihrer  Vertilgung 
eingeleitete  Tätigkeit  um  so  unzureichender  erweisen  mußte,  als  das 
Papsttum  selbst,  indem  es  die  zentrale  Reichsgewalt  hemmte  und 
zerstörte,  die  Kirche  einer  mächtigen  Hilfe  beraubt  hatte,  für  die 
das  eben  aufkommende  Landesfürstentum  noch  keinen  genügenden 
Ersatz  bieten  konnte.  Ungleich  wertvoller  erwies  sich  die  Ausbil- 
dung der  Bußsakramente,  wenn  auch  darin,  namentlich  in  der  mis- 
verständlichen  Auffassung  des  Ablasses,  ebenso  wie  in  der  Duldsam- 
keit gegen  die  Wucherungen  der  Heiligenverehrung,  gegen  Hexen- 
und  Aberglauben  die  Anfänge  einer  für  die  folgenden  Zeiten  ver- 
hängnisvollen, in  ihren  Aeusserungen  höchst  widerwärtigen  Entwick- 
lung sich  sehr  bald  geltend  machten. 

Dies  in  kurzem  Umriß  der  Standpunkt,  von  dem  aus  der  Ver- 
fasser eine  Ansicht  der  kirchlichen  und  politischen,  literarischen, 
künstlerischen  und  gesellschaftlichen  Entwicklung  gibt,  die  ein  Ge- 
samtbild von  stärkster  Wirkung  hervorbringt. 

Gegenüber  einem  Werke,  bei  dem  die  geschichtliche  AuflFassung 
die  Hauptsache  ist,  und  das  an  jeder  Stelle  das  ernste  Bemühen  des 
Verfassers  zeigt,  durch  eigene  Forschung  zu  selbständigem,  wissen- 
schaftlich begründetem  Urteil  vorzudringen,  geziemt  es  sich,  mit 
Ausstellungen  im  einzelnen  zurückzuhalten ;  es  seien  daher  nur  etliche 


462  GGtt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

Punkte  berührt,  gegen  die  ein  Einwand  zu  erheben  wäre,  oder  an 
denen  die  neueste  Forschung  manches  zur  Ergänzung  beigetragen  hat. 
Mit  Recht  ist  die  große  Bedeutung  hervorgehoben,  die  dem 
Bürgerstande  fur  die  Verweltlichung  der  Kultur  zukommt,  er  ist  ja 
der  erste  und  lange  Zeit  auch  einzige  Stand,  der  aus  dem  Kreise 
der  rein  kirchlichen  Kultur  heraustrat,  während  Ritter  und  Bauern 
sich  durchaus  innerhalb  dieser  hielten.  Was  aber  Hauck  über  die 
Entstehung  der  städtischen  Pfarreien  ausführt  (S.  28  ff.),  gewährt  kein 
richtiges  Bild  von  dem  Verhältnisse  der  Städte  zur  Kirchenverfassung. 
Es  war  ein  einschneidender  Fehler,  daß  Hauck  die  Vielgestaltigkeit 
der  städtischen  Entwicklung  zu  wenig  gewürdigt,  das  Verhältnis  der 
Bürgerschaft  zum  Stadtherrn,  den  Einfluß  des  Sprengelbischofs  nicht 
genügend  beachtet  hat.  Vgl.  Werminghoff,  Gesch.  der  Kirchenver- 
fassung Deutschlands  im  Ma.  1,269  ff.  und  H.  K.  Schäfer,  Früh- 
mittelalterliche Pfarrkirchen,  in  der  Rom.  Quartalschrift  19  (1905), 
25—54.  —  Durch  den  stetig  zunehmenden  Uebergang  von  Pfarren 
an  die  Klöster  wurde  doch  nicht  so  sehr  die  Bedeutung  des  Pfarr- 
amtes für  das  kirchliche  Leben  (S.  49)  geschmälert,  als  vielmehr  die 
Stellung  der  Weltgeistlichen  beeinträchtigt.  —  lieber  die  Frage,  ob 
das  Wormser  Konkordat  ein  beide  Teile  für  die  Dauer  bindender 
Vertrag,  oder  ob  die  von  der  römischen  Partei  vielleicht  schon  bei 
der  Wahl  Lothars  vertretene,  auch  in  der  Chronik  Ekkehards 
V.  Aura  (SS.  VI,  260)  zum  Ausdruck  gebrachte  Ansicht,  daß  die 
päpstliche  Urkunde  nur  als  ein  Heinrich  V.  für  seine  Person  ver- 
liehenes Privileg  betrachtet  werden  dürfe  (Ottonis  Frising.  Ghron. 
VII,  16),  richtig  sei,  spricht  Hauck  sich  nicht  bestimmt  aus,  doch 
kann  man  aus  etlichen  Aeußerungen  (S.  112,  119,  150,  187)  schließen, 
daß  er  der  ersten  Auffassung  zuneigt.  Während  Werminghoff  (a.a.O. 
S.  198)  die  Frage  unentschieden  läßt,  hat  Dietrich  Schäfer  sie  zum 
Gegenstande  einer  ausführlichen  Untersuchung  gemacht,  in  der  er  die 
römische  Auffassung  als  die  gültige  zu  erweisen  versucht  und  damit 
den  rechten  Standpunkt  für  die  Beurteilung  der  von  den  Nachfolgern 
Heinrichs  V.  eingeschlagenen  Kirchenpolitik  gefunden  zu  haben  meint. 
(Zur  Beurteilung  des  Wormser  Konkordates.  Berlin  1905.  Aus  den 
Abh.  der  k.  preuß.  Akademie  der  Wissensch.  4^  95  SS.).  Mit  Recht 
geht  Seh.  von  der  Tatsache  aus,  daß  die  Fassung  der  päpstlichen 
Urkunde  nur  mit  der  kurialen  Anschauung  zu  vereinen,  demnach 
mit  dem  Tode  Heinrichs  V.  die  päpstliche  Verleihung  hinfällig  ge- 
worden sei,  dagegen  die  kaiserliche  Ausfertigung  ihrem  Wortlaute 
nach  allein  zu  Recht  bestanden,  also  nur  die  Kurie  über  eine  ver- 
tragsmäßige Grundlage  verfügt  habe,  während  das  Königtum  sich 
allein  auf  das  Herkommen  und  die  staatliche  Notwendigkeit  berufen 


Hanck,  Kirchengeschichte  Deutschlands.   IV  458 

konnte.  An  diesen  formell  unanfechtbaren  Tatbestand  wird  man  sich 
halten  müssen,  da  es  an  Berichten  über  die  dem  Konkordat  voran- 
gehenden Verhandlungen  fehlt,  niemand  zu  sagen  vermag,  ob  und 
inwieweit  durch  sie  der  Wert  des  kaiserlichen  Verzichtes  einge- 
schränkt, der  der  päpstlichen  Zugeständnisse  erhöht  worden  ist,  ob 
die  beiden  Ausfertigungen  nicht  nur  in  einen  formalen,  sondern  auch 
in  einen  sachlichen,  festen,  ihre  Rechtsgültigkeit  gegenseitig  bedin- 
genden Zusammenhang  gebracht  worden  waren.  Alles  was  in  diesem 
Betracht  gesagt  werden  könnte,  läuft  auf  schwer  beweisbare  Vermu- 
tungen hinaus.  Mit  dieser  Frage  hängt  nun  die  andere  zusammen,  wie 
sich  der  königliche  Hof  zu  dem  Konkordate  verhalten,  ob  er  sich  der 
römischen  Auffassung  anbequemt  oder  ob  er  von  den  Bestimmungen 
des  Konkordats  bei  der  Behandlung  der  Abts-  und  Bischofswahlen 
Gebrauch  gemacht  hat.  In  der  Darstellung  der  königlichen  Kirchen- 
politik, die  zur  Lösung  hauptsächlich  herangezogen  werden  muß, 
stimmen  Hauck  und  Schäfer  im  wesentlichen  überein,  obwohl  sie  in 
der  Hauptfrage  uneins  sind,  der  erstere  sich  für  die  Geltung  des 
Konkordats  und  seine  neuerliche  Anerkennung  durch  Friedrich  I. 
ausspricht,  Schäfer  es  aber  als  tot  und  abgetan  betrachtet.  Ich 
glaube,  daß  man  keinem  von  beiden  ganz  Recht  geben,  namentlich 
nicht  Schäfers  Ansicht  in  aller  Strenge  aufrechthalten  kann.  Daß 
weder  Lothar  noch  Konrad  III.  von  den  ihrem  Vorgänger  verbrieften 
Zugeständnissen  folgerichtigen  Gebrauch  gemacht  haben,  ist  schon 
von  früheren  Forschern  dargelegt  und  auch  von  Hauck  angenommen 
worden,  aber  ganz  unbeachtet  ist  die  Urkunde  von  1122  nicht  ge- 
blieben. Die  oft  berufene  Stelle  über  die  Halberstädter  Wahl 
(Schäfer  S.  26)  bezeugt  einen  Vorgang,  der  ebenso  wie  der  bei  der 
Magdeburger  Wahl  (Hauck  S.  118)  dem  Konkordat  entspricht,  und 
Schäfer  vermag  auch  nur  dadurch,  daß  er  auf  dem  unbedingten 
Gleichlaut  der  Worte  besteht,  sie  zu  beseitigen.  Daß  Lothar  die 
Anwendung  des  ihm  bekannten  Konkordatsrechtes  an  die  Genehmi- 
gung des  Papstes  knüpft,  ist  für  das  Wesen  seiner  Kirchenpolitik 
bezeichnend,  in  der  Hauptsache  aber  belanglos.  Sein  Verhalten  findet 
sein  Widerspiel  in  der  Auffassung,  die  sich  am  Hofe  Friedrichs  I. 
herausgebildet  hatte  (Ottonis  Frising.  Gesta  Frid.  II,  6).  Mag  Otto 
V.  Freismg,  der  sie  uns  überliefert,  dafür  Tadel  verdienen,  daß  er 
es  unterlassen  hat,  sich  über  den  Inhalt  der  päpstlichen  Urkunde 
selbständig  und  zuverlässig  zu  unterrichten  (Bresslau,  Aufgaben  ma. 
Quellenforschung  S.  29,  Anm.  20;  Schäfer  S.  65,  80),  aus  seinem 
Berichte  geht  mit  Bestimmtheit  hervor,  daß  man  am  Hofe  des  Stau- 
fers die  päpstliche  Urkunde  nicht  als  ein  Privileg  von  bloß  vorüber- 
gebender Geltung  betrachtet  hat.    Allerdings  hatte  man  in  sie  viel 


454  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

mehr  hineingelegt,  als  Kalixt  II.  zu  bewilligen  gedacht  hat,  das  aber 
ist  nicht  befremdlich,  sondern  entspricht  der  Art,  wie  man  während 
des  Mittelalters  in  allen  Lagern  Urkunden  auszudeuten  und  zu  ver- 
werten pflegte.  Es  handelte  sich  dabei  jedenfalls  nicht  um  >eine 
Art  Qerede<,  sondern  um  eine  ganz  feststehende  Anschauung  und 
politische  Ueberlieferung,  (Tradit  curia,  autumat  nicht  > meint  (wähnt)c, 
wie  Schäfer  übersetzt,  sondern  > behauptete).  Und  man  wird  sagen 
dürfen,  daß  diese  Auffassung  nicht  so  ganz  unberechtigt  war.  Dem 
rein  formalen  Standpunkte  tritt  der  moralische  gegenüber,  die  An- 
schauung, daß  was  dem  einen  recht,  dem  andern  billig  sei.  Zudem 
ist  die  Ansicht,  daß  päpstliche  Privilegien  von  vornherein  keine 
dauernde  Geltung  besitzen  (Schäfer  S.  94),  zur  Zeit  Heinrichs  V. 
und  Lothars  wenigstens  noch  nicht  allgemein  verbreitet  gewesen,  erst 
durch  das  Decretum  Gratiani  festgelegt  worden  (Hinschius,  Kirchen- 
recht 3,  732  Anm.  4).  Vermag  ich  also  Schäfers  Annahme  nicht  in 
ihrer  Gänze  zu  teilen,  so  kann  ich  auch  dem  durch  sie  begründeten 
günstigen  Urteil  über  Lothars  Kirchenpolitik  nicht  voll  zustimmen. 
Schäfer  will  den  Abschluß  des  Konkordats  dadurch  erklären,  daß 
Heinrich  V.  darauf  gerechnet  habe  und  rechnen  konnte,  es  werde 
seinem  Nachfolger  gelingen,  die  ihm  gemachten  Zugeständnisse  tat- 
sächlich zu  behaupten.  Diese  Voraussetzung  ist  schon  von  Lothar 
nicht  erfüllt  worden.  Allerdings  hat  er  den  Fehler,  der  bei  seiner 
Wahl  begangen  worden  war,  erkannt  und  auch  versucht,  ihn  gut  zu 
machen,  sich  einen  »besseren  Rechtsboden <  zu  verschaffen.  Gelung^ 
ist  ihm  das  aber  trotz  der  Gunst  der  Umstände  nicht.  Er  erreichte 
nur,  daß  der  Papst  im  Jahre  1133  den  Bischöfen  und  Aebten  vor- 
schrieb, das  zu  tun,  was  einfach  ihre  Pflicht  als  Reichsfürsten,  als 
Inhaber  von  Reichsgut  war,  wie  wir  aus  der  Gegenwart  wissen,  ein 
recht  bedenklicher  Erfolg  opportunistischer  Politik.  So  schränkt  sich 
in  historischem  Betrachte  der  Unterschied  zwischen  der  Auffassung 
Haucks  und  der  Schäfers  auf  die  Frage  ein,  ob  Lothar  dem  deutschen 
Könige  verbriefte  Rechte  aufgegeben  oder  ob  er  es  nicht  verstanden 
hat,  die  seinem  Vorgänger  bewilligten  Zugeständnisse  auch  für  sich 
in  vollem  Umfange  zu  erwerben.  —  Ueber  Honorius  v,  Auton 
(S.  425)  hat  J.  v.  Kelle  jüngst  die  Ansicht  geäußert,  daß  es  sich  um 
einen  unbekannten  Autor  handle,  dem  Werke  verschiedener  Verfasser 
zugeschrieben  worden  seien,  vgl.  Anzeigeblatt  der  kais.  Akad.  der 
Wiss.  52  (1905),  76  und  die  Bemerkungen  von  J.  A.  Endres  im  Hist. 
Jahrb.  26  (1905),  783—785.  —  Das  Prämonstratenserstift  Geras  (S.  361, 
Anm.  4)  liegt  nicht  in  der  Diözese  Olmütz,  sondern  im  Lande  unter 
der  Enns,  es  ist  auch  im  Klosterverzeichnis  (S.  974)  unter  der  Diö- 
zese Passau,  allerdings  hier  wie  im  Register  mit  der  unrichtigen 


Hauck,  Kircheogeschichte  Deutschlands.   lY  455 

Schreibung  > Gerras <  angeführt.  —  Ueber  den  Kölner  Streit  und  den 
Erzbischof  Adolf  ist  jetzt  die  ausführliche  Darstellung  Wolfschlägers 
(Erzb.  Adolf  I.  v.  Köln,  Münster  1905),  durch  die  Haucks  Auffassung 
in  der  Hauptsache  bestätigt  wird,  zu  vergleichen.  —  Zur  Ergänzung 
sind  auch  zwei  Schriften  Haucks  anzuführen,  seine  meisterhafte  Rede 
über  den  >6edanken  der  päpstlichen  Weltherrschaft  bis  auf  Bonifaz  VIU«. 
(Leipzig  1904)  und  seine  Abhandlung  »Ueber  die  Exkommunikation 
Philipps  von  Schwaben«  in  den  Berichten  der  k.  sächs.  Gesellsch. 
der  Wiss.  Hist.-philol.  Kl.  56  (1904),  137—150,  vgl.  dazu  die  Aus- 
führung K.  Wencks  in  der  Hist.  Ztschr.  95,  155. 

Wie  in  den  früheren  Bänden  übt  auch  in  diesem  der  Verfasser 
die  ihm  eigene  Kunst  der  Charakterisierung  hervorragender  geschicht- 
licher Persönlichkeiten,  noch  reicher  als  seine  Vorgänger  ist  der  vor- 
liegende Band  an  scharfumrissenen  Charakterbildern.  Stärker  aber 
als  in  den  früheren  Bänden  macht  sich  der  universale  Zug  der  Ent- 
wicklung geltend,  so  daß  es  ungleich  schwerer  ist,  die  führenden 
Geister  in  dem  Rahmen  der  deutschen  Kirchengeschichte  darzustellen. 
Das  kann  man  schon  in  den  Zeiten  Friedrichs  I.  (S.  683  ff.)  be- 
merken (vgl.  K.  Hampe  in  der  Hist.  Ztsch.  93,  385),  vollends  aber 
gilt  es  für  Innozenz  HL  (S.  741  ff.)  und  Friedrich  U.  (S.  783  ff.). 
Wenn  der  Verfasser  auch  an  den  allgemeinen  Verhältnissen  und  Be- 
ziehungen durchaus  nicht  achtlos  vorübergegangen  ist,  so  war  es  ihm 
doch  nicht  möglich,  sie  so  herauszuarbeiten  und  vor  allem  auf  die 
Stellung  des  Papstes  in  Rom  und  Italien  so  genau  einzugehen,  als 
es  notwendig  gewesen  wäre,  um  ein  zutreffendes  Bild  des  gewaltigen 
Mannes  zu  gewinnen,  auch  die  Schwäche  seines  Wesens  und  seiner 
Stellung  zu  erkennen,  man  wird  für  diesen  Zweck  eine  wichtige  Er- 
gänzung in  den  Versuchen  und  Abhandlungen  finden,  die  A.  Luchaire 
in  einem  anziehenden  Bande  (Innocent  111.,  Rome  et  Lltalie.  Paris 
1904)  vereinigt  hat.  Und  Aehnliches  gilt  für  den  Zögling  des  großen 
Papstes.  Auch  ihm  tritt  Hauck  mit  durchaus  selbständiger  Betrach- 
tung gegenüber,  was  er  sagt,  ist  sehr  zu  beachten,  aber  es  wäre  doch 
notwendig  gewesen,  den  Einflüssen,  die  Friedrich  IL  auf  sich  wirken 
lassen  konnte  und  wirken  ließ,  etwas  näher  nachzugehen.  Schon  was 
Dehio  (Die  Kunst  Unteritaliens  in  der  Zeit  K.  Fr.  IL  Hist.  Ztschr. 
95,  193 ff.)  mitteilen  konnte,  ist  von  nicht  geringem  Belange;  noch 
wichtiger  wäre  es,  über  das  Verhältnis  des  Staufers  zum  Mohammeda- 
nismus ins  Reine  zu  kommen,  dessen  Bedeutung  für  die  Ausbildung 
einer  Kritik  der  Ueberlieferung  jüngst  Goldziher  hervorgehoben  hat 
(Preuß.  Jahrb.  121,  281). 

Von  hervorragendem  Werte  sind  die  dem  Bande  angeschlossenen 
Beilagen:  Bischoflisten,  ein  Klosterverzeichnis,  eine  Uebersicht  über 


456  Gott.  gel.  Änz.  1906.  Nr.  6 

die  benutzten  Quellenschriften  und  Bücher,  ein  Register.  Die  biblio- 
graphischen und  zeitlichen  Angaben,  die  Quellenzitate  im  Kloster- 
Verzeichnisse  würden  allerdings  mancher  Vervollständigung  und  Be- 
richtigung bedürfen,  namentlich  die  österreichischen  Landschaften  sind 
etwas  flüchtig  behandelt.  Für  sie  wären  die  kirchliche  Topographie 
von  Niederösterreich  (so  und  nicht  Unterösterreich  lautet  die  übliche 
Bezeichnung),  die  betreflfenden  Artikel  in  der  von  dem  Verein  für 
Landeskunde  von  Niederösterreich  herausgegebenen  Topographie  (Li- 
lienfeld, Melk),  endlich  neuere  Monographien  (PröU,  Gesch.  des  Klo- 
sters Schlägl  1877;  Eigner,  Gesch.  von  Klein-Mariazell  1900),  für 
Wien  insbesondere  die  vom  Altertumsvereine  herausgegebene  Ge- 
schichte der  Stadt  mit  Nutzen  verwertet  worden.  Kloster  Altenburg 
(S.  974)  wurde  allerdings  zuerst  dem  h.  Stephan  geweiht,  nahm  aber 
schon  bald  die  Benennung  domus  s.  Lamberti  an.  Das  von  Hauck 
als  in  Oberösterreich  gelegen  angeführte  Chorherrenstift  S.  Andra 
(ÜB.  des  Landes  ob  der  Enns  I,  309  no.  66)  wird  wohl  das  Chor- 
herrenstift gleichen  Titels  in  Freising  sein,  doch  gab  es  ein  um  das 
Jahr  1150  im  Lande  unter  der  Enns  errichtetes  Chorherrenstift  S. 
Andrä  an  der  Traisen  bei  Herzogenburg  (Duellii  Miscellan.  III,  368). 
Es  braucht  nach  dem  Gesagten  nicht  nochmals  hervorgehoben 
zu  werden,  daß  Hauck  auch  in  diesem  Bande  einen  rein  wissenschaft- 
lichen Ton  festgehalten  hat,  konfessioneller  Polemik  mit  Glück  aus 
dem  Wege  gegangen  ist.  Nur  an  zwei  Stellen  (S.  336,  884)  hat  er 
seine  Eigenschaft  als  Protestant  hervorgehoben,  an  der  zweiten,  wie 
ich  meine,  in  nicht  ganz  zutreffender  Weise.  >Es  gibt  kein  gemein- 
sames Urteil  über  Recht  oder  Unrecht  der  Ketzerverfolgungen.  Aber 
soweit  auch  die  protestantische  und  die  katholische  Ansicht  sich  von 
einander  entfernen,  daran  zweifelt  niemand,  daß  die  Inquisition  zu 
den  Einrichtungen  gehört,  in  denen  die  Eigenart  des  mittelalterlichen 
Kirchentums  besonders  deutlich  in  die  Erscheinung  tritt«.  Der  Nach- 
satz kann  ohneweiters  zugegeben  werden,  sollte  aber  der  erste  Satz 
in  der  Tat  richtig  sein?  Sollte  es  über  dem  Streite  der  Bekenntnisse 
nicht  doch  etwas  Höheres  geben,  das  allgemein  Menschliche?  SoUte 
dieser  höhere  Standpunkt  dem  Katholiken  verschlossen,  eine  gemein- 
same Verurteilung  Grauen  erregender  Einrichtungen  und  Vorgänge 
unmöglich  sein?  Mag  auch  der  Blick  auf  manche  Erscheinungen 
unserer  Zeit  sehr  trübe  stimmen,  so  tief  sind  die  sittlichen  Anschau- 
ungen der  Gegenwart  nicht  gesunken,  daß  man  sich  durch  ein  viel- 
gestaltiges, aber  immer  höchst  unerfreuliches  Demagogentum,  durch 
das  anscheinend  wissenschaftliche  Gerede  von  dem  Rechtsbewußtsein 
der  Vergangenheit,  von  der  Beurteilung  einer  Zeit  aus  sich  selbst 
heraus,  von  theologischen  und  juristischen  Spitzfindigkeiten  verwirren 


Hauck,  Eirchengeschicbte  Deatschlands.   IV  457 

lassen  müßte,  in  Eetzeirerfolgung  nnd  Inquisition  nicht  eine  der 
traurigsten  Verirrungen  menschlichen  Geistes,  die  unglückseligen 
Mittel  einer  dem  Untergange  geweihten  Gesellschaftsordnung  erblicken 
dürfte. 

Graz  Karl  Uhlirz 


Nachtrag.  Gegen  Dietrich  Schäfers  Abhandlung  über  das 
Wormser  Konkordat  hat  sich  Hauck  (Kirchengesch.  Deutschlands  IIP, 
1047 — 1049)  ausgesprochen,  ohne  jedoch  seinen  Gegner  überzeugt  zu 
haben,  vgl.  Neues  Archiv  XXXI  (1906),  481.  Die  Entscheidung  in 
der  Hauptfrage  scheint  mir  die  bisher  von  allen  übersehene  Stelle 
in  Gerhohs  Libellus  de  ordine  donorum  s.  Spiritus  (Mon.  Germ.  bist. 
Libelli  de  Ute  III;  280)  zu  bringen,  welche  Schäfer,  von  H.  Bloch 
auf  sie  hingewiesen,  mitteilt.  Aus  ihr  geht  zunächst  hervor,  daß  auf 
der  Lateransynode  vom  27.  März  1123  nicht,  wie  Schäfer  (S.  31)  be- 
hauptete, nur  die  kaiserliche,  sondern  auch  die  päpstliche  Urkunde 
verlesen  wurde.  Während  die  erste  mit  großer  Freude  angenommen 
wurde,  erhob  sich  gegen  die  zweite  heftiger  Widerspruch,  endlich 
wurde  die  Sache  dahin  entschieden,  quod  propter  pacem  reformandam 
talia  essent  non  approbanda,  sed  toleranda.  Schäfer  meint  allerdings, 
daß  seine  >  Auffassung  vom  Konkordat  durch  diese  Richtigstellung  nur 
eine  weitere  Bestätigung <  erfährt,  nach  meinem  Dafürhalten  ergibt 
sich  aber  daraus,  daß  bei  der  Ausfertigung  beide  Urkunden  als  in 
engstem  Zusammenhange  stehend,  als  ganz  gleichartig  betrachtet 
wurden.  Das  ist  auch  Gerhohs  Auffassung  gewesen:  Qui  (sc.  Kalixtus) 
cum  eidem  regi  pro  facienda  pace  per  suos  legates . . .  dedisset  quoddam 
scriptum  de  pontificum  electione  in  praesentia  ipsius  facienda  et  de 
regalium  concessione  ab  ipso  requirenda,  multa  comparuerunt  capita 
ydrae  pridem  iugulatae,  quasi  revixisset  ex  apostolicae  sedis  aucto- 
ritate,  und  fur  gleich  gefährlich  hat  man  das  päpstliche  Zugeständnis 
auf  dem  Laterankonzil  gehalten,  man  hat  trotz  der  vorsichtigen  Form 
es  als  für  die  Dauer  geltend  betrachtet,  denn  nur  so  läßt  sich  die 
große  Aufregung  erklären.  Hätte  man  gemeint,  daß  der  Kaiser  ein- 
fach zum  besten  gehalten  worden  sei,  man  hätte  fein  still  geschwiegen. 
Ob  die  Legaten  und  der  Papst  das  Konkordat  schon  mit  dem  Hinter- 
gedanken geschlossen  haben,  sich  mit  Hilfe  des  Konzils  von  der  ein- 
gegangenen Verpflichtung  zu  befreien,  läßt  sich  nicht  beweisen, 
sicher  aber  ist,  daß  der  Papst  als  verfassungsmäßig  regierender  Mon- 
arch manches  vor  dem  absoluten  Monarchen  voraus  hatte.  Der  von 
Papst  und  Kaiser  beurkundete  Vertrag  wurde  dem  Konzil  zur  6e- 

0«ti.  gtl.  Abi.  1906.  Hr.  0  32 


458  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

nehmiguDg  vorgelegt,  die  Ausfertigung  in  zwei  sich  ergänzenden 
Gegenurkunden  gestattete  es  dem  verfassungsmäßigen  Vertretungs- 
körper,  die  der  Kirche  günstige  anzunehmen,  gegen  die  andere  Wider- 
spruch zu  erheben.  Mit  Rücksicht  auf  die  von  dem  Kaiser  ge- 
machten, in  vollkommen  rechtsverbindlicher  Form  beurkundeten  Zu- 
geständnisse konnte  man  aber  nicht,  wie  im  Jahre  1112  (s.  Libelli 
de  Ute  III,  279,  335, 405),  den  Papst  zur  Kassierung  seiner  Urkunde 
zwingen,  da  man  dann  auch  dem  Kaiser  Anlaß  zur  Zurücknahme 
geboten  hätte,  man  begnügte  sich  daher  zunächst  mit  dem  üblidien 
Auskunftsmittel  der  Duldung,  und  des  weiteren  rechnete  man  damit, 
daß  von  dem  zugestandenen  Rechte  in  der  Praxis  kein  Gebrauch 
gemacht  werde,  wie  Gerhoh  fortfährt:  Sicut  autem  aecclesia  in  suo 
primordio  crescebat  et  confortabatur  ambulans  in  timorem  Dei,  sic 
et  nunc  per  Dei  gratiam,  ecclesia  crescente  atque  confortata,  illa 
propter  pacem  obtinendam  extorta  concessio  partim  est  annichi- 
lata,  quia  Deo  gratias  absque  regis  presentia  fiunt  electiones  episco- 
porum.  In  proximum  futurum  speramus,  ut  et  illud  malum  de  medio 
fiat,  ne  pro  regalibus,  immo  iam  non  regalibus,  sed  ecciesiasticis  di- 
cendis  facultatibus  ab  episcopis  hominium  fiat  vel  sacramentum  etc. 
Hinsichtlich  des  einen  Punktes  wa^-  pigo  die  nicht  getilgte,  sondern 
geduldete  päpstliche  Verleihung  nicht  zur  Ausführung  gelangt,  hin- 
sichtlich des  anderen  erwartete  man  gleiches  von  der  Zukunft.  Da- 
mit ist  uns  der  Schlüssel  zum  Verständnisse  des  geschichtlichen 
Verlaufes  nach  dem  Konkordat  in  die  Hand  gegeben. 

Graz  Karl  Uhlirz 


Thomas  Hodgkin,  D.  C.  L.,  Litt.  D.,  Fellow  of  University  College,  London; 
FeUow  of  the  British  Academy.  The  history  of  England  from  the 
earliest  times  to  the  Norman  conquest  [A.  a.  d.  T.  The  poli- 
tical history  of  England  in  12  volomes  edited  by  WiUiam  Hunt  and  Reginald 
L.  Poole;  vol.  I].  London  (Longmans,  Green  &  Go.)  1906.  XXII  und  528  p. 

Der  Verfasser  des  großen  Werkes  Italy  and  her  invaders  hat 
von  Britanniens  Frühzeit  bisher  nur  die  Römische  Periode  forschend 
behandelt.  Wenn  er  nunmehr  hier  die  Geschichte  seiner  Insel  bis 
1066  darstellt,  so  brmgt  er  für  frühestes  Mittelalter  eine  weite 
universalhistorische  Kenntnis  mit.  Oefters  bietet  er  zu  synchronisti- 
scher Orientierung  lange  Stücke  daraus,  deren  Einfluß  auf  England 
nicht  überall  erhellt.  In  neuester  Literatur,  auch  Deutschlands, 
wohlbewandert,  wagt  er,  wo  sie  uneins  ist,  wie  über  Arthurs  Heimat 
oder  die  Schlacht  bei  Hastings,  keine  eigene  Entscheidung.  Auch 
seinem  Freunde  Freeman  gegenüber  übt  er  unbefangen  Kritik,  ob- 


Hodgkin,  Political  History  of  England  to  the  Norman  conquest         459 

wohl  er  ihn  nachahmt,  wenn  er  die  Oertlichkeiten  aus  eigener  An- 
schauung lebendig  zu  beschreiben  und  mit  Notizen  auch  späterer 
Lokalgeschichte  zu  verbinden  liebt,  die  doch  auf  den  früheren  Punkt 
kein  Licht  werfen  können.  Allein  er  dringt  auch  in  die  Quellen 
selbständig  ein.  Ja,  er  übersetzt  sie  nur  zu  oft,  wodurch  freilich 
dem  Publikum  die  Bilder  der  Literatur  ersetzt  werden,  die  ebenso 
wie  die  mancher  anderen  Kulturzweige  wohl  durch  den  Plan  des 
Reihenwerkes,  zu  dem  er  den  ersten  Band  hier  liefert,  ausge- 
schlossen waren.  Ueber  den  Ursprung  der  Angelsächsischen  Annalen 
bewahre  ich  meine  abweichende  Meinung  und  stimme  gegen  ihn 
Ewald  zu,  daß  Beda  dem  Gregorbiographen  folgt.  Wie  man  die 
Nordische  Saga  benutzen  dürfe,  wird  p.  504  glücklich  gesagt.  Da 
stehen  im  Anhang  kurz  Quellen  und  Literatur,  überall  verständig 
und  treffend  beurteilt. 

Wie  von  einem  so  erfahrenen  Schriftsteller  zu  erwarten,  wird 
der  Stoff  dem  Raum  im  allgemeinen  gut  angepaßt.  Nur  erscheinen, 
während  den  Römern  70  Seiten  zugemessen  sind,  mit  einem  Exkurs 
über  die  von  Cäsar  benutzten  Häfen,  die  Kelten  zu  kurz  gekommen. 
Von  Wichtigem  fehlt  z.  B.  Gnuts  Erlaß  von  1020  ganz.  Und  viel 
zu  viel  Mirakel  werden  den  Chronisten  nacherzählt,  manche  mit 
dem  Streben,  sie  natürlich  zu  erklären,  z.  B.  durch  Telepathie  und 
Hysterie.  Oder  wenn  ein  Seesturm  schweigt,  da  Wunderöl  darein 
träufelt,  soll  das  als  eine  laut  Erfahrung  moderner  Schiffahrt  mög- 
liche Kausalverbindung  gelten.  Glaublich  wie  die  Wundmale  des 
heiligen  Franz  seien  auch  die  Striemen,  die  Laurentius  empfing,  als 
er  im  Traum  vom  heiligen  Petrus  gegeißelt  ward. 

Monographische  Durchforschung  von  Einzelheiten  hätte  in  diesen 
Rahmen,  der  auch  Anmerkungen  verbietet,  nicht  gepaßt:  auf  500 
Seiten  sollte  vom  paläolithischen  Menschen  bis  zu  Wilhelm  L  geeilt 
und  dabei  manch  farbiges  Bild  geschildert  werden.  Aber  das  Auge 
eines  echten  Historikers,  der  viele  Jahrhunderte  warm  mitdurchlebt, 
erschaut  auch  bei  bekannten  Einzelheiten  Beziehungen  oder  Ursachen, 
welche  die  Wissenschaft  zu  vermerken  haben  wird.  —  Wenn  das 
Zusammenwirken  von  Picten  und  Scoten  meist  als  Ursache  des  Unter- 
gangs römischer  Macht  in  Britannien  gilt,  so  macht  Verfasser  zum 
Beweise  gelegentlicher  Feindschaft  jener  Völker  aufmerksam  auf  die 
Nachricht,  Cunedag  aus  Pictenland  habe  um  380  die  Scoten  aus 
Nordwales  vertrieben.  —  Orosius  lasse  aus  christlich-apologetischer 
Tendenz  die  Kulturfortschritte  des  Altertums  fort.  —  Vortigem, 
höchstens  ein  Häuptling  lokaler  Macht,  diene  zum  Sündenbock  für 
die  Brythonen,  die  sich  gern  verraten  glaubten,  wie  alle  Besiegten, 
auch  die  Angelsachsen  unter  Aethelred  U.  —  Die  Germanen  zogen 

32* 


460  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

nach  Britaimien,  zum  Teil  aus  Furcht  vor  den  Hunnen  [?].  —  Nir- 
gends [?]  rotteten  sie  die  Briten  ganz  aus;  denn  daß  bei  Anderidas 
Zerstörung  dies  berichtet  wird,  beweist,  daß  es  Ausnahme  war;  und 
in  staatlichen  Einrichtungen  finde  man  Spuren  der  Römer  und  Kelten 
[welche?],  sodaß  sich  der  heutige  Engländer  lieber  Anglokelte  ak 
Angelsachse  nennen  solle.  [Mir  scheint  dabei  der  Franconormanne  mit 
seiner  mächtigsten  Einwirkung  aufs  Recht  Englands  vergessen].  — 
Da  die  Stammbäume  der  Germanenfürsten  vom  Ende  des  fänften 
Jahrhunderts  mit  etwa  acht  Vorfahren  nur  ins  zweite  hinaufreichen, 
mußte  der  Römerstaat  unvordenklich  alt  und  ehrwürdig  erscheinen. 
—  Wenn  Prokop  schreibt,  Belisar  habe  Britannien  den  Goten  sar- 
kastisch angeboten,  und  es  als  Toteninsel  darstellt,  so  muß  es  um 
537  der  Römerwelt  völlig  verloren  gegolten  haben.  —  Der  Tiefstand 
lateinischer  Bildung  unter  den  Brythonen  um  500  ist  zu  verglichen 
dem  unter  den  Northumbrern  seit  dem  Däneneinfall.  —  Spanien  und 
Gallien  waren  von  Großstädten  aus  bekehrt  worden;  diesem  Master 
folgten  Canterbury  und  York ;  bei  den  Scoten  dagegen  übten  einsame 
ländliche  Stätten  die  Mission;  und  diese  letztere  war  echter  [?]  ond 
dauerhafter  [?].  —  Augustins  Sendung  nach  Kent  war  ziemlich  ge- 
fahrlos. Gregors  I.  Befehl  an  ihn,  unter  Laub  um  die  Kirche  heros 
Feste  feiern  zu  lassen,  birgt  vielleicht  eine  Erinnerung  ans  Laub- 
hüttenfest  der  Juden.  —  Als  die  Scotenkirche  der  Römischen  erlag, 
siegte  auch  hierarchische  Weltlichkeit  über  kindliches,  armutfreund- 
liches  Christentum,  und  Beda  fühlte  diese  Wandlung  nicht  ohne  Be- 
dauern. —  Theodor  von  Tarsus  erhielt  durch  den  Papst  einen  romi- 
schen Begleiter,  vielleicht  zum  Schutz  gegen  monotheletische  Neir- 
gungen.  Indem  er  die  großen  Sprengel  zerteilte,  hob  er  auch 
Canterburys  Macht;  in  Wilfrid  bekämpfte  er  zum  Teil  den  mögliehen 
Vertreter  erzbischöflicher  Ansprüche  Yorks.  Dieser  hatte  einen  Zug 
ins  Pomphafte  und  zur  ästhetisch  schönen  Zeremonie.  Zu  seiner 
Krypta  in  Hexham  entnahm  er  Steine  dem  Römerwall.  —  Indem 
die  christliche  Askese  sich  der  Reinlichkeit  entschlug,  beförderte  sie 
die  Ansteckung  durch  die  Pest  664.  —  Noch  im  achten  Jahrhundert 
bevorzugten  Northumbriens  Könige  Plätze  alter  Römerkultur.  —  Zu 
den  Rätseln  der  Angelsachsen  vergleicht  Verfasser,  der  auch  Karl 
den  Großen  volkstümlich  dargestellt  hat,  die  des  Paulus  diaconus 
und  Peter  von  Pisa.  —  Aus  den  Wikingerzügen  folgte  im  Franken- 
reiche  Zersplitterung,  in  England  Staatseinung  [doch  nicht  in  jeder 
Beziehung].  Ueber  ihre  Seetüchtigkeit  staunte  Alcuin  so  sehr,  weil 
England  dem  Meer  entfremdet  war.  Die  mit  Pallisaden  ge^ 
krönten  Erdwerke  der  Nordleute  lehrt  Regino  kennen.  —  Oft 
lockte   Chester    die  Dänen   als  Ziel:    vielleicht   wegen   der   nahen 


Hodgkiii,  History  of  England  to  the  Norman  conquest  461 

Irlandkäste  unter  nordischer  Herrschaft.  —  Der  Aufstand  gegen 
König  Aethelwulf  stützte  sich  vielleicht  auf  dessen  Regierungs- 
unfähigkeit.  —  Zu  Aelfreds  Boethius-Uebersetzung  steuert  Verfasser 
eigene  Beobachtungen  bei.  —  Eadmund  I.  nennt  sich  in  Urkunden 
industrius,  wohl  das  lobende  dcedfruma  aus  der  Hofpoesie  übertragend, 
den  Gegensatz  zum  faineant.  —  Die  Zange,  womit  Dunstan  den 
Teufel  zwickte,  zeigt  man  noch  in  Mayfield.  —  Die  Briccius-Messe 
war  ein  Staatsstreich  gegen  die  Dänen  nur  des  königlichen  Hofes 
und  Heeres.  —  Die  damalige  Zersetzung  Englands  vergleicht  Ver- 
fasser der  Wirkung  des  dreißigjährigen  Krieges  in  Deutschland.  — 
Der  frühe  Tod  mehrerer  Könige  deute  auf  einen  erblichen  körper- 
lichen Verfall  der  Dynastie.  [Dazu  wäre  die  Vaterschaft  Unreifer  zu 
beachten].  —  Gnut  der  Reiche  verdankte  manchen  politischen  und 
persönlichen  Vorteil  der  Bestechung.  Er  wurde  mit  dem  Erfolge  ein 
besserer  Mensch,  wozu  die  Geschichte  selten  eine  Parallele  bietet, 
die  nächste  in  Octavian-Augustus.  —  Der  Schottensieg  bei  Carham 
kostete  England  Lothian;  ein  Trost,  daß  dadurch  die  Schotten  in 
Sprache,  Verfassung,  Charakter  mehr  Angeln  als  Gaelen  wurden. 

Ueber  Institutionen  lehrt  Verfasser  nicht  viel  Neues.  Indem  die 
Eideskraft  nach  Hufenzahl  bewertet  wurde,  bekam  vielleicht  das  Ge- 
richt einen  konventionellen  Anhalt,  wie  weit  der  Schwörende  zu 
blicken,  also  öflFentliche  Meinung  zu  vertreten  fähig  schien  [V]  —  Nach 
der  nützlichen  Geldwertberechnung  p.  234  f.  enthielt  ein  damaliges 
Pfund  Silber  fast  dreimal  soviel  Metallwert  und  16— 44  mal  so  viel 
Kaufkraft  wie  heute.  Im  allgemeinen  sei  also  eine  damalige  Summe 
etwa  mit  20  zu  multiplizieren,  um  sich  heutigen  Wert  vorzustellen. 
fSo  die  herrschende  Meinung.  Mir  erscheint  das  Dreißigfache  rich- 
tiger]. —  Die  Ausdrücke  der  Angelsachsen  für  > Viehspur«  und 
>schuldig<,  trod  und  fül,  überlebten  das  Mittelalter  im  Recht  der 
englisch-schottischen  Mark. 

Manche  Vergleiche  scheinen  mir  unzutreffend,  so  der  Golumbas 
mit  Wesley,  des  Glaubenseifers  in  Ostanglien  im  siebenten  Jahr- 
hundert mit  den  dortigen  Puritanern,  des  Ealdorman  mit  dem  Lord- 
leutnant und  des  Bretwalda  mit  Preußens  Stellung  in  Deutschland. 
—  Auch  gegen  manche  Urteile  möchte  ich  Einspruch  erheben.  Ein 
Gefühl  der  Blutsverwandtschaft  fehlte  den  Inselgermanen  nicht,  ob- 
wohl sie  sich  gegen  Vettern  mit  Rassefremden  verbanden.  —  Das 
Fortbestehen  des  Namens  York  beweist  nicht  die  Fortdauer  des  Stadt- 
lebens seit  Römerzeit.  —  Verstümmelung  am  Feinde  widerspricht 
nicht  allgemein  dem  Kulturfortschritt  Merciens  im  achten  Jahr- 
hundert, den  unter  anderem  die  Münze  vor  Augen  legt.  —  Die 
Englische  Kirche  half  nicht  in  allen  Stücken  zur  Staatsfestigung;  so 


462  Gott  gel.  Ani.  1906.  Nr.  6 

trat  der  Hierarch  Northumbriens  für  die  Nordleute  gegen  Wessex 
auf;  80  untergrub  Habgier  und  staatsfremde  Lehre  der  Geistlichen 
die  nationale  Wehrkraft  und  ließ  die  Gesetze  zu  Predigten  entarten. 

—  Die  seit  dem  zehnten  Jahrhundert  erbliche  Fehde  zwischen  Aqoa 
und  Blois  spielt  keine  Rolle  im  Thronstreite  Stephans.  —  Das 
Wiedererstehen  eines  unabhängigen  Northumbriens  war  nach  940 
keineswegs  ausgeschlossen.  —  Die  Anerkennung  des  Westsachsen- 
königs als  »Herrc  durch  die  nördlichen  Nachbarfürsten  ist  begriff- 
lich nicht  trennbar  von  deren  Vasallität;  die  tatsächlich  baldige 
Lösung  des  Verhältnisses  widerlegt  nicht  dessen  rechtlichen  Gehalt 

—  Englands  Vierteilung  durch  Gnut  darf  schwerlich  weise  beißen: 
wenn  beständig,  hätte  sie  das  Reich  zersplittert.  ~  »Schweinische 
Fleischsttndec  ist  nicht  erkennbar  als  Ursache  der  Niederlage  der 
Angelsachsen  gegenüber  Nordleuten  und  Normannen. 

Namentlich  Recht  und  Wirtschaft  sind  Gebiete,  die  der  Ver- 
fasser nicht  sorgfältig  genug  beackert  hat.  An  mehr  als  dreißig 
Stellen  weicht  er  von  meiner  Uebersetzung  der  Gesetze  der 
Angelsachsen  ab  (obwohl  er  das  Buch  schmeichelhaft  erwähnt): 
vielleicht  stets  ohne  Absicht,  nirgends  mit  Angabe  eines  Grundes, 
weshalb  ich  hier  Zitate  fortlasse.  Wie  der  Verfasser  früher  sein 
großes  Werk  in  neuer  Auflage  fleißig  verbessert  hat,  so  wird  er  bei 
der  zweiten  Ausgabe,  wie  sie  sich  bei' diesem  anregenden,  lesbaren 
Buche  sicher  erhoffen  läßt,  leicht  manche  Einzelheit  berichtigen 
können.  Daß  sich  Mönche  aus  Not  verknechteten,  folgt  nicht  ans 
Alfreds  Gesetz  20.  —  Compurgator  heißt  der  Eidhelfer  nur  des  Be- 
klagten. —  Dreifachem  Feuerordal  unterzog  sich  nicht  nur  wer  des 
Attentats  auf  den  König  angeklagt  war.  —  Buße  für  den  Verletzten 
ist  stets  zu  trennen  vom  Strafgeld  für  den  Richter.  —  Dieses  stellt 
Alfred  nicht  als  allein  von  der  Kirche  eingeführt  hin.  —  Nicht  bloß 
Strafgeld  des  hingerichteten  Diebes,  sondern  sein  Vermögen  verteilt 
die  Stelle  Hundred  2, 1.  —  Aus  des  Missetäters  höherem  Wergeid 
folgte  höhere  Strafe  keineswegs  immer,  höhere  Buße  nie.  —  Die 
Versäumnis  staatsbürgerlicher  Polizeipflicht  fällt  nicht  zusammen  mit 
der  der  prozessualen  UrteilserfüUung.  —  Der  Gewährsmann  beim 
Erwerb  von  Fahrhabe,  keineswegs  ständig  ein  Mann  hoher  Stellung, 
ist  nicht  die  Wurzel  des  Bürgenverbandes.  —  Wenn  Beda  die  Insel 
lona  auf  fünf  Hufen  schätzt,  so  folgt  daraus  kein  Durchschnittsmaß 
der  Hufe;  vielleicht  wollte  er  sie  nur  etwa  einem  adligen  Oroßgut 
gleichsetzen.  —  Ochsengang  und  Rute  sind  vielleicht  Flächenmaße 
verschiedener  Meßsysteme.  —  Dreifelderwirtschaft  um  690  steht  nicht 
allgemein  fest.  —  Die  Angelsachsen  zeigen  Verwandtsdiaft  mit  den 
Langobarden  nicht  bloß  im  Kostüm,  während  die  vom  Verfasser  an- 


Hodgkin,  History  of  England  to  the  Norman  conquest  463 

geführten  identischen  Eigennamen  den  Westgermanen  überhaupt 
eignen.  —  Die  Goten  zählen  nicht  zu  den  Niederdeutschen.  —  Echte 
Urkunden  Aethelberhts  von  Kent  fehlen.  —  Eddi  ist  nicht  der  frü- 
heste Anglolateiner.  —  Cynewulf  blieb  nicht  bis  1857  vergessen,  und 
sein  Name  in  Runen  ward  nicht  von  Leo  zuerst  entdeckt.  —  Kaiser 
Heinrich  II.  gilt  nicht  mehr  als  Asket,  und  nicht  das  ganze  Franken 
mit  dem  Königswahlort  gehört  heute  Bayern.  —  Auch  nach  Rußland 
wanderten  die  verbannten  Sprossen  Eadmunds  II.  —  Der  Titel  Be- 
kenner  bedeutet  nicht  eine  nur  halbe  Heiligsprechung. 

Wer  so  anregend  zu  erzählen  versteht,  wird  nur  ungern  trümmer- 
hafte Bausteine  reinigen  wollen,  aus  denen  ein  sicheres  Haus  sich 
doch  nicht  errichten  läßt;  lieber  fügt  er  Anekdote  und  Romantisches 
in  kraftvolle,  oft  poetische  Sprache,  die  bisweilen  leise  an  alte 
Chroniken  anklingt,  doch  auch  scharf  zuzuspitzen  weiß:  >Für  Ehen 
Nordischer  Fürsten  bestand  als  Regel  nur  die  Unregelmäßigkeit <. 
Dem  populären  Zwecke  mag  die  häufige  direkte  Rede  dienen.  Hi- 
storische Dichtung  wird  reichlich  eingeflochten,  so  der  Sang  von 
Brunanburh,  das  er  mit  Brunswark  identifiziert,  in  Tennysons  Ueber- 
tragung,  manches  andere  in  wohl  gelungenen  eigenen  Versen,  zum 
Teil  gereimt.  Ein  trefflicher  Index  und  zwei  Karten  des  römischen 
und  angelsächsischen  Britanniens  sind  beigegeben. 

Berlin  F.  Liebermann 


WlUlAm  HttBt,  The  History  of  England  from  the  accession  of  George  III.  to 
the  close  of  Pitt's  first  Administration  (1760—1801)  London,  Longmans,  Green 
and  Co.  1905.  ^VIII,495  S.  —  (The  political  History  of  England  in  12 
yolomes  ed.  hy  Wil^'am  Hunt  and  Reginald  L.  Poole.   Vol.  X). 

Das  vorliegende  Buch  bildet  den  selbständigen  Teil  eines  groß 
angelegten  Werkes  über  die  politische  Geschichte  Englands,  zu 
dessen  Abfassung  sich  eine  Reihe  tüchtiger  Historiker  zusammen- 
getan haben.  Ueber  die  Zweckmäßigkeit  eines  solchen  Unternehmens, 
einer  solchen  Arbeitsteilung  mögen  die  Ansichten  auseinandergehen. 
Manche  Nachteile  werden  sich  nicht  ableugnen  lassen,  namentlich 
der,  daß  das  Werk  keine  einheitliche  Auffassung  der  Gesamtent- 
wicklung aufzuweisen  vermag,  daß  der  Standpunkt,  von  dem  die 
Ereignisse  betrachtet  werden,  ein  wechselnder  sein  muß.  Hingegen 
ist  es  doch  zweifellos,  daß  damit  der  gebildeten  Leserwelt  alles 
Wissenswerte  aus  der  Staatsgeschichte  in  bequemer  Form  geboten, 
den  Studierenden  eine  treffliche  Grundlage  für  weiteres  Arbeiten, 
den  Geschichtslehrern  ein  willkommenes  Hülfsmittel  für  ihre  Vor- 
träge an  die  Hand  gegeben  wird.     Selbstredend   haben   nur  (Ue 


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auf  eigene  Spezialforschung  gegründeten  darstellenden  Werke  über 
bestimmte  Perioden,  Entwicklungen,  Zustände,  Personen  einen  grund- 
legenden Wert,  und  sie  gerade  bilden  die  Vorbedingung  für  dieses 
Unternehmen.  Ihr  reichliches  Vorhandensein  erst  macht  eine  solche 
dem  praktischen  Bedttrfhis  dienende  Schöpfung  möglich,  da  den 
Verfassern  der  letzteren  nicht  eine  ausgiebige  Durchforschung  des 
ganzen  Quellenmaterials  zugemutet  werden  kann.  Und  doch  haben 
wir,  wie  an  dem  vorliegenden  Teil  zu  sehen,  nicht  eine  bloße  Kom- 
pilation vor  uns.  Die  wissenschaftliche  Bedeutung  der  Autoren  bietet 
uns  die  Garantie,  daß  auch  die  Forschungsresultate  Anderer  immer 
wieder  an  den  Quellen  geprüft  und  wo  nötig  mittels  der  Quellen  er- 
gänzt werden. 

William  Hunt,  der  Präsident  der  Royal  Historical  Society,  ein 
Gelehrter,  der  schon  verschiedene  Bücher  über  englische  Geschichte 
(speziell  Eirchengeschichte)  geschrieben,  dem  wir  eine  Reihe  treff- 
icher  Artikel  in  dem  Diction,  of  nation.  Biography  (u.  A.  William 
Pitt  d.  J.,  Charles  J.  Fox,  Georg  HI.)  verdanken,  hat  mit  dem  ge- 
wählten Abschnitt  keine  leichte  Aufgabe  übernommen.  Gerade  für 
das  18.  Jahrhundert  und  besonders  für  die  Regierungszeit  Georgs  UL 
fehlt  es  noch  gar  sehr  an  guten,  die  vielen  neuen  Quellen  ver- 
wertenden Geschichtswerken,  sodaß  der  Verfasser  einen  sehr  wenig 
günstigen  Baugrund  vorfand.  Die  alten  Werke  von  Adolphus,  Massey, 
Brosch  konnten,  trotz  ihres  Umfanges  und  mancher  Vorzüge  keines- 
wegs ausreichen,  Leckys  Meisterwerk  aber  bringt  für  die  politische 
Geschichte  kein  genügendes  Tatsachenmaterial.  So  war  Hunt  in  viel 
höherem  Maße  auf  eigene  Forschung  angewiesen,  als  es  der  Idee 
der  ganzen  Unternehmung  entsprach,  und  das  hat,  so  sehr  man  den 
Scharfsinn,  den  Forschungseifer  und  die  Quellenkenntnis  des  Ver- 
fassers anerkennen  muß,  dem  Buche  nicht  immer  zum  Vorteil  ge- 
reicht. Es  war  bei  den  zeitlichen  Grenzen,  die  jedenfalls  der  Ab- 
fassung gesetzt  waren,  unmöglich,  alle  Quellen  kritisch  durchzu- 
arbeiten und  überall  die  innersten  Zusammenhänge  festzustellen.  So 
ist  manche  Darlegung,  manche  Begründung,  manches  Urteil  als  ver- 
fehlt zu  bezeichnen,  wie  noch  an  einzelnen  Fällen  nachgewiesen 
werden  soll.  Die  Zitate  aus  Akten  und  Korrespondenzen  besitzen 
nicht  ohne  weiteres  Beweiskraft.  Es  muß  in  sorgfältigster  Unter- 
suchung ihre  wahre  Bedeutung  erkundet  werden,  die  oft  eine  wesent- 
lich andere  ist  als  die  aus  isolierter  Betrachtung  sich  ergebende. 
Derartige  Untersuchungen  aber,  überall  durchgeführt,  hätten,  wie  ge- 
sagt, die  Arbeitslast  über  das  zulässige  Maß  gesteigert. 

Dieser  Mangel,  der  der  ungenügenden  Vorarbeit,  nicht  dem  Ver- 
fasser schuldgegeben  werden  muß,  ist  nun  zum  guten  Teil  ausge- 


Hont,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  465 

glichen  durch  den  klaren  und  weiten  Blick,  den  dieser  fiir  die  Ent- 
Wickelung  des  englischen  Staates,  namentlich  der  inneren  Verhält- 
nisse zeigt.  Daraus  ist  ihm  manches  Verständnis  der  Vorgänge 
erwachsen,  das  sich  aus  den  Quellen  allein  nicht  hätte  gewinnen 
lassen,  und  viele  feine  Bemerkungen  geben  von  diesem  Verständnis 
Kunde.  Dazu  gehören  namentlich  die  Auslassungen  über  die  sozialen 
Zustände,  die  Zusammensetzung  der  herrschenden  Klassen  in  Eng- 
land und  den  Kolonien,  Dinge  die  für  den  Verlauf  der  Ereignisse 
von  ausschlaggebender  Bedeutung  wurden.  Dazu  gehören  auch  die 
verschiedenen  trefflichen  Charakteristiken,  z.  B.  Burkes  (S.  70), 
Washingtons  (S.  146  f.),  W.  Pitts  d.  J.  (S.  282).  Weiter  ist  als  Vor- 
zug zu  nennen  die  geschickte  Art,  wie  oft  mit  wenigen  Worten  alles 
zum  rechten  Verständnis  Notwendige  gesagt  worden  ist.  So  z.  B.  die 
zutreffende  Schilderung  von  Friedrichs  des  Großen  Politik  gegenüber 
den  Truppenwerbungen  Englands  in  Deutschland  mittels  vier  Zeilen 
(S.  182).  Hingegen  wäre  es  wünschenswert  gewesen,  daß  auch  die 
zeitlich  weiter  getrennten  Ereignisse  durch  Vergleiche  und  Gegen- 
überstellungen mehr  mit  einander  verknüpft  worden  wären.  Es 
hätte  sich  dadurch  eine  noch  tiefere  Erkenntnis  der  ganzen  Periode 
gewinnen  lassen,  wie  ich  an  Beispielen  zu  zeigen  beabsichtige. 
Ueberhaupt  brauchte  die  chronologische  Folge  nicht  so  streng  inne- 
gehalten, konnte  das  Zusammengehörige  in  besserer  Geschlossenheit 
vorgeführt  werden.  Besonders  bei  den  etwas  verzettelten  irischen 
Partien  ist  mir  dieser  Wunsch  aufgestiegen.  Dadurch  hätte  das 
Buch  den  annalistischen  Charakter  mehr  verloren,  der  ihp  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  anhaftet.  Ich  weiß  ja  nicht,  wie  weit  der 
Plan  des  Unternehmens  dem  einzelnen  Verfasser  in  der  inneren  Aus- 
gestaltung freie  Hand  ließ,  und  es  läßt  sich  ja  auch  manches  für 
eine  annalistische  Stoffgruppierung  gerade  bei  solchem  Werke  an- 
führen. Die  Darstellung  ist  jedenfalls  klar  und  präzise  ohne  zweck- 
lose Weitschweifigkeiten  und  doch  der  Anschaulichkeit,  des  redne- 
rischen Schmuckes  nicht  ermangelnd. 

Es  ist  zu  bedauern,  daß  sich  dieses  Werk  mit  meinem  >  William 
Pitt«  ^)  gewissermaßen  gekreuzt  hat  ~  Verfasser  hat  letzteren  ün 
Quellenbericht  noch  nachträglich  angeführt  — ,  daß  weder  ich  in  der 
Lage  war,  die  Arbeit  Hunts,  noch  er,  die  meine  zu  benutzen.  So 
war  ich  genötigt,  den  äußeren  Rahmen  meiner  Biographie  älteren 
Werken  resp.  den  Quellen  selbst  zu  entnehmen,  ohne  von  dieser 
Zusammenfassung  neuester  Erkenntnis  zu  profitieren,  er  aber  konnte 
nicht   die  zum  Teil   recht  bedeutsamen  Ergebnisse  meiner  Unter- 

1)  V.  Ruvme,  WiUlam  Pitt  Graf  von  Chatham.  Stuttgart  und  Berlin  1906. 
3  Bde. 


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suchuDgen  verwerten,  sodaO  sein  Buch  nun  doch  hinter  dem  gegen- 
wärtigen Stand  der  Forschung  in  mancher  Hinsicht  zurücksteht.  Ich 
halte  es  deshalb  fUr  meine  Pflicht,  an  dieser  Stelle  die  Hauptsachen 
von  dem  in  kurzer  Fassung  anzuführen,  worin  mein  Werk  über  die 
hier  niedergelegte  Kenntnis  und  Auffassung  der  Ereignisse  hinaus- 
geschritten ist,  um  so  den  Schaden  ein  wenig  auszugleichen.  Glück- 
licherweise ist  es  ja  nur  der  kleinere  und  nicht  gerade  wichtigste 
Teil  des  Pittschen  Lebens,  der  mit  dem  hier  behandelten  Abschnitt 
englischer  Geschichte  zusammenfällt. 

Da  ist  zunächst  zu  erwähnen  die  Idee,  aus  der  der  Eintritt 
Butes  in  das  Ministerium  Pitt  im  März  1761  erwuchs,  eine  Idee,  die, 
sorglich  verhüllt,  sich  nicht  aus  den  Worten,  sondern  nur  mittels 
genauester  Prüfung  der  Handlungen  dieses  Staatsmannes  erkennen 
läßt.  Er  strebte  nicht  die  Pläne  Pitts  zu  stören,  im  Gegensatz  zu 
ihm  auf  den  Frieden  hinzuarbeiten,  sondern  nur  für  den  Fall,  d&O 
es  zu  Friedensverhandlungen  kam,  sich  selbst  als  dem  Vertrauten 
des  jungen  Königs  einen  wesentlichen  Anteil  daran  zu  sichern,  da- 
mit die  aus  dem  Abschluß  des  Friedens  erwachsende  Popularität 
dem  Herrscher  und  nicht  nur  Pitt  zugute  kam.  So  ließ  er  sich  erst 
vom  König  und  vom  Herzog  von  Newcastle  zur  Uebernahme  des 
einen  Staatssekretariats  bewegen,  als  die  Einleitung  von  Verhand- 
lungen gesichert  war. 

Bei  diesen  Verhandlungen  des  Jahres  1761  hat  dann  Verfttsser 
nicht  den  wichtigen  und  radikalen  Umschlag  in  der  Haltung  des 
französischen  Ministers  Choiseul  erkannt,  den  dieser  am  13.  Juli 
vollzog.  Er  hatte  bis  dahin  im  Gegensatz  zu  der  Kriegspartei 
an  seinem  Hofe  und  im  Gegensatz  zu  den  österreichischen  und 
spanischen  Freunden  hauptsächlich  überseeische  Konzessionen  von 
Seiten  Englands  erstrebt,  die  österreichischen  und  spanischen  Wünsche 
hingegen  wenig  begünstigt.  Sobald  er  indes  merkte,  daß  Pitt  schlecht- 
hin nichts  dort  gewähren  wollte,  wo  er  es  vornehmlich  wünschte, 
nahm  er  die  Fortsetzung  des  Krieges  in  Aussicht  und  trat,  um  sich 
hierfür  die  Hülfe  Oesterreichs  und  Spaniens  zu  sichern,  energisch 
für  deren  Interessen  ein.  Daher  plötzlich  die  von  Pitt  so  sehr  übel 
vermerkte  Vorlegung  der  spanischen  Gravamina  durch  den  französi- 
schen Abgesandten.  Die  Verhandlungen  waren  nun  von  Choiseul 
kaum  noch  aufrichtig  gemeint,  da  er  auf  Gewährung  des  Geforderten 
nicht  rechnen  konnte.  Sie  dienten  um  Zeit  zu  gewinnen.  Pitt  hin- 
gegen suchte,  da  er  seinen  Fehler  erkannte,  noch  einzulenken,  nicht 
durch  wesentliche  Herabsetzung  seiner  Forderungen,  aber  dadurch, 
daß  er  trotz  mehrerer  Siegesnachrichten  keine  Steigerung  der  Forde- 
rungen eintreten  ließ.    Das  genügte  natürlich  nicht. 


Hont,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  467 

Den  Riiktritt  Pitts  im  Oktober  1761  hat  Verfasser  noch  nicht 
ausreichend  zu  erklären  vermocht,  wenn  er  auch  der  Wahrheit  in 
mancher  Hinsicht  näher  kommt  als  die  bisherigen  Darsteller.  Die 
Diflferenz  zwischen  ihm  und  dem  Gros  der  Minister  war  nicht,  ob 
Krieg  ob  Friede  mit  Spanien,  sondern  ob  sofortiger  formloser  Los- 
bruch oder  Einhalten  der  völkerrechtlichen  Formen.  Nun  fragt  es 
sich,  warum  Pitt  soviel  an  Überstürztem  Vorgehen  gelegen  war,  daß 
er  sein  Amt  dafür  opferte.  Er  sah  darin  meines  Erachtens  die  ein- 
zige Möglichkeit,  mit  Spanien  fertig  zu  werden,  ohne  Friedrich  dem 
Großen  die  englische  Hülfe  zu  entziehen.  Wartete  man,  so  mußte 
letzteres  geschehen,  da  sich  der  Krieg  zu  lange  ausspann,  dann  aber 
konnte  Pitt  nicht  Minister  bleiben.  Die  Abkehr  von  Preußen  mußte 
er  Andere  vollziehen  lassen. 

Es  ist  unrichtig,  daß  der  Ausbruch  des  spanischen  Krieges  Pitts 
Nachfolger  ins  Unrecht  setzte.  Der  Krieg  hätte  sich  möglicherweise 
vermeiden  lassen,  aber  Bute  provozierte  absichtlich  die  spanische 
Regierung,  sodaß  ihr  kein  friedlicher  Ausweg  blieb.  Er  stellte  die 
Alternative:  Vorlegung  des  Familienpakts  oder  Krieg,  und  da  gab 
es  für  das  stolze  Spanien  keine  Wahl.  So  trieb  er  Pittsche  Politik, 
nur  ohne  durch  Rücksicht  auf  Preußen  gebunden  zu  sein.  Erst 
einige  Monate  später  wandte  er  das  Steuer  dem  Frieden  zu,  als  sich 
durch  verschiedene  wichtige  Ereignisse,  unter  anderem  die  Thron- 
besteigung Peters  HL,  die  ganze  Weltlage  gründlich  verändert 
hatte. 

Den  Sturz  des  Herzogs  von  Newcastle  hat  Verfasser  etwas  ein- 
leuchtender motiviert  als  es  mir  gelungen  ist,  namentlich  durch 
bessere  Charakterisierung  der  parlamentarischen  Lage.  Hingegen 
wird  er  dem  Verfahren  Butes  bei  den  Friedensverhandlungen  von  1762 
nicht  gerecht.  Dieser  hat  sich  Pitt  darin  entschieden  überlegen  ge- 
zeigt, wie  eine  Gegenüberstellung  der  beiderseitigen  Methoden  zu 
beweisen  vermag.  Pitt  wollte  dem  französischen  Hofe  die  äußersten 
Bedingungen  aufzwingen  und  die  Spanier  durch  Freundlichkeit  ohne 
positive  Zugeständnisse  vom  Anschluß  an  Frankreich  zurückhalten. 
Er  verdarb  es  dadurch  mit  beiden  Mächten  und  mußte  schließlich 
einen  Doppelkrieg  provozieren.  Bute  ging  darauf  aus,  zunächst 
Frankreich  durch  verhältnismäßig  große  Zugeständnisse  für  sich  zu 
gewinnen,  um  dann  mit  dessen  Hülfe  das  kriegslustige  und  hart- 
näckige Spanien  zur  Nachgiebigkeit  zu  zwingen.  Er  erzielte,  unter- 
stützt durch  glückliche  Kriegsereignisse,  einen  durchschlagenden  Er- 
folg, wiewohl  er  beständig  mit  der  heimischen  Opposition  zu  rechnen 
hatte.  Eine  exakte  Prüfung  dieses  Buteschen  Verfahrens  stellt  ihn 
in  ein  sehr  günstiges  Licht. 


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Der  berüchtigte  Passus  in  dem  englisch-französischen  Friedens- 
verträge, wodurch  die  rheinisch-westphälischen  Provinzen  Preufiens 
nicht  ihrem  Könige  ausgeliefert,  sondern  nur  von  den  Franzosen  ge- 
räumt werden  sollten  und  zwar  >aussitöt  que  faire  se  pourra«,  also 
beliebig  spät  —,  dieser  Passus  stellt  sich  nicht  als  eine  Däpiernng 
Preußens,  sondern  als  eine  solche  Oesterreichs  dar.  Er  soUte  nur 
den  Frieden  mit  dem  französisch  -  österreichischen  Bundesvertrag 
äußerlich  in  Uebereinstimmung  setzen,  nicht  aber  Friedrich  d^ 
Großen  ernstlich  schädigen.  Bald  darauf  wurde  denn  auch  von  Eng- 
land ein  französisch-preußisches  Abkommen  vermittelt,  das  die  Pro- 
vinzen ihrem  rechtmäßigen  Herrn  sicherte. 

Von  Wichtigkeit  ist  auch,  daß  Bute  den  Friedensvertrag  nur 
um  den  Preis  seines  baldigen  Rücktritts  rechtzeitig  zum  Abschluß 
zu  bringen  vermochte.  Das  störende  Einreden  George  Orenvilles, 
das  die  Verhandlungen  bis  in  die  Parlamentssession  hinein  auszu- 
dehnen und  damit  in  ihrem  Erfolg  zu  gefährden  drohte,  ließ  sich 
nicht  anders  inhibieren,  als  daß  Bute  ihm  für  jetzige  Preisgabe  seines 
Staatssekretariats  die  künftige  Nachfolge  in  der  obersten  Leitung 
versprach,  ein  Versprechen,  das  im  April  1763  tatsächlich  eingelöst 
wurde.  So  erklärt  sich  der  verwunderliche  Ministerwechsel  im  Herbst 
1762  und  zugleich  der  noch  erstaunlichere  Rücktritt  des  mächtigen 
Günstlings  nach  dem  Friedensschluß. 

Außerordentlich  schwer  verständlich  ist  das  innerpolitische  Ver- 
halten  Pitts  in  den  Jahren  1763—1765,  das  von  Widersprüchen  er- 
füllt erscheint.  Ich  glaube  den  Schlüssel  zu  ihrer  Lösung  gefunden 
zu  haben  und  zwar  in  einer  sehr  einleuchtenden  Hypothese.  Pitt 
gewann  Aussicht  auf  die  überaus  reiche  Erbschaft  eines  alten  Herrn, 
Mr.  Pynsent,  der  auf  die  Fahne  der  Whigs  schwor  und  den  Friedens- 
schluß verabscheute.  Ihm  mußte  er  sich  mit  seinen  Maßnahmen  an- 
passen, wenn  er  nicht  des  Erbes  verlustig  gehn  wollte,  und  diese 
Anpassung  läßt  sich  im  einzelnen  verfolgen  bis  zum  Moment  des 
Erbfalls.  Dann  erst  änderte  Pitt  seine  Haltung,  die  nunmehr  wieder 
seiner  früheren  Politik  entsprach.  Dieser  Umstand  ist  schuld,  daß 
Pitt  drei  Jahre  zu  spät  sein  Ministerium  antrat,  was  die  verhängnis- 
vollsten Folgen  nach  sich  zog,  namentlich  für  die  amerikanischen 
Fragen. 

In  der  äußerst  verwickelten  AÖäre  Wilkes  1763  ff.  hat  Hunt  die 
Ereignisse  klar  und  richtig  geschildert,  doch  tritt  die  verfassungs- 
geschichtliche Bedeutung  der  Angelegenheit  und  die  Tendenz  der 
verschiedenen  Beteiligten  nicht  genügend  hervor.  Auch  da  dürfte 
mein  Werk  wünschenswerte  Ergänzungen  liefern,  die  ich  hier  nur 
andeuten  kann.    Dem  Kampfe  des  Unterhauses  gegen  den  Agitator 


Hant,  History  of  England  from  the  accession  of  George  HI.  469 

Wilkes  lag  die  Idee  zugrunde,  sich  gegen  die  wachsende  Macht  der 
öffentlichen  Meinung  zu  schützen  und  nicht  zuzulassen,  daß  einzelne 
Mitglieder  ihre  Privilegien  als  Abgeordnete  zum  Angriff  auf  den  be- 
stehenden korrupten  Zustand  des  Hauses  ausnutzten.  Es  kämpfte 
also  imgrunde  gegen  seine  eigenen  vormals  mühsam  errungenen 
Vorrechte.  Pitt  hatte  nicht  das  gleiche  Interesse,  da  er  gerade  die 
öffentliche  Meinung  für  sich  zu  gewinnen  hoffte,  doch  konnten  auch 
ihm  die  letzten  Konsequenzen,  die  sich  aus  dem  Vorgehen  des 
Agitators  ergeben  mußten,  nicht  zusagen.  Einen  Umsturz  des  herr- 
schenden Regierungssystems  wollte  auch  er  nicht  dulden. 

Bei  der  Aufhebung  der  Stempelakte  im  Jahre  1766  finden  wir 
ein  so  merkwürdiges  Durch-  und  Oegeneinanderwirken  der  verschie- 
denen Personen  und  Bestrebungen,  daß  es  dem  Verfasser  allerdings 
sehr  schwer  werden  mußte,  in  kurzen  Worten  ein  zutreffendes  Bild 
des  Vorganges  zu  entwerfen.  Da  würde  ihm  mein  Buch  vielleicht 
dienlich  gewesen  sein,  namentlich  bezüglich  der  Haltung  Pitts,  der 
hier  sich  in  einer  seltsamen  Lage  befand.  Er  mußte  sich  den 
Ministern  als  Opponent  erweisen  und  doch  ihre  auch  ihm  willkommene 
Maßregel  unterstützen.  Er  mußte  diese  dem  König  verhaßte  Maß- 
regel durchbringen  und  doch  sich  dem  Herrscher  als  Minister  em- 
pfehlen. Und  beides  gelang  ihm,  indem  er  dem  Ministerium  gegen- 
über seine  Gegnerschaft  in  den  Prinzipien  und  den  Nebenpunkten 
hervorhob,  den  König  aber  glauben  ließ,  die  Beseitigung  jenes  Ge- 
setzes sei  das  Letzte,  was  er  den  Amerikanern  zu  konzedieren  beab- 
sichtige. 

Manche  Unrichtigkeiten  finden  sich  in  der  Darstellung  der  Cha- 
tham-Administration von  1766—68,  die  sich  nur  bei  eingehendem 
Studium  vermeiden  ließen.  Der  Minister  sucht  seine  wahren  Motive 
und  Pläne  oft  so  dicht  zu  verschleiern,  daß  es  sich  kaum  unter- 
scheiden läßt,  was  er  absichtlich  zugelassen,  und  was  er  sich  wider- 
willig hat  abzwingen  lassen.  Ich  habe  mich  bemüht,  namentlich  aus 
genauer  Prüfung  seiner  Handlungen,  nicht  aus  seinen  Worten,  die 
Wahrheit  festzustellen,  und  gefunden,  daß  er  sich  immer,  wenn  er 
in  Rücksicht  auf  seine  stets  bekundeten  Prinzipien  den  Wünschen 
des  Königs  hätte  entgegenhandeln  müssen,  durch  Aeußerlichkeiten 
von  einem  tätigen  Eingreifen  zurückhalten  ließ,  sodaß  andersdenkende 
Minister  freie  Hand  gewannen.  Ein  Beispiel  dafür  ist  die  Herabsetzung 
der  Landtaxe,  die  gegen  Ghathams  Willen  durchging,  weil  er  auf  der 
Reise  nach  London  wegen  Krankheit  in  einem  kleinen  Neste  liegen 
blieb,  bis  das  fait  accompli  gemeldet  war,  das  er  selbst  nicht  hätte 
schaffen  dürfen.    Dann  war  er  plötzlich  reisefähig. 

Es  war  bei  der  Mangelhaftigkeit  der  bisherigen  Chatham-Biogra» 


470  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

phien  auch  nicht  zu  verlangen,  daß  Verfasser  dessen  ganzes  Verhalten 
gegenüber  dem  amerikanischen  Aufstande  nach  seinem  zweiten  Rück- 
tritt in  erschöpfender  Weise  darstellte.  Er  konnte  nur  die  bekannten 
Tatsachen  berichten  ohne  die  Motive  festzustellen.  Was  bisher  nicht 
erkannt  war,  ist  das  Schwankende  in  dem  Verhalten  Ghathams,  das 
sich  immer  den  Ereignissen  anpaßte,  sich  aber  so  gestaltete,  daß  es 
mit  seinen  bekannten  Prinzipien  nicht  in  Widerspruch  trat.  So  er- 
scheint es  äußerlich  als  konsequent  und  unwandelbar,  während  in 
Wahrheit  starke  Abweichungen  vorhanden  sind,  die  er  nur  vermied 
offen  zu  zeigen.  Er  wirkte  dann  nicht  durch  Uebertritt  auf  die  an- 
dere Seite,  sondern  durch  Schweigen  oder  Lässigkeit  oder  durch  ein 
Auftreten,  das  scheinbar  seiner  alten  Auffassung  dienen  sollte,  in 
Wirklichkeit  aber  den  Gegnern  förderlich  war.  Mit  großer  Geschick- 
lichkeit wußte  er  in  solcher  Weise  zu  lavieren.  —  Vor  allem  aber 
müßte  bei  jeder  Darstellung  dieser  Zeit  die  absolute  Schädlichkeit 
des  Ghathamschen  Verhaltens  betont  werden.  Er  hat  ohne  es  zn 
wollen  durch  sein  Liebäugeln  mit  den  Amerikanern  und  sein  Be- 
kämpfen der  ministeriellen  Maßnahmen  sehr  wesentlich  dazu  beige- 
tragen, daß  die  Behauptung  der  amerikanischen  Kolonien  nicht  ge- 
lang, daß  die  Amerikaner  den  Kampf  mit  solchem  Selbstvertrauen 
aufnahmen  und  mit  Zähigkeit  durchführten.  Man  wird  es  dem  König 
nicht  verdenken  dürfen,  daß  er  gegen  seinen  früheren  Minister  dieser- 
halb  eine  untilgbare  Abneigung  faßte.  Die  vom  Verfasser  geäußerte 
Vermutung,  Chatham  würde  als  Minister  einen  brauchbaren  Ausgleich 
zuwege  gebracht  haben,  lehne  ich  durchaus  ab.  Realisierbare  Ideen 
sind  bei  ihm  nirgends  zu  entdecken. 

Daß  Georg  III.  im  ganzen  weitsichtiger  war  als  die  Opposition, 
erkennt  Verfasser  wohl  an,  namentlich  daß  er  die  Tragweite  der 
ersten  Feindseligkeiten  richtiger  einschätzte  und  sich  nicht  in  vagen 
Versöhnungs-Hoffnungen  wiegte,  von  denen  sich  Ghatham  nicht  los- 
zureißen vermochte.  Hingegen  beurteilt  Hunt  die  Anwerbung  der 
deutschen  Truppen  durch  England,  gegen  die  Chatham  so  energisch 
auftrat,  zu  milde.  Das  Recht  zu  solchen  Werbungen  konnte  man 
ja  nicht  bestreiten  und  die  Immoralität  des  Untertanen- Verkaufs,  die 
man  auch  nicht  mit  heutigem  Maße  messen  darf,  fiel  wohl,  wie  Ver- 
fasser hervorhebt,  allein  den  deutschen  Fürsten  zur  Last.  Man  muß 
aber  doch  sagen,  daß  diese  Anwerbungen  ein  schlechtes  Licht  auf 
die  Wehrfähigkeit  Englands  warfen  und  seine  moralische  Position  den 
Amerikanern  gegenüber  schwächten.  Gerade  die  Verwendung  fremder 
Truppen  erweiterte  den  Riß  zwischen  Mutterland  und  Kolonien  be- 
trächtlich, machte  diese  weit  hartnäckiger  im  Widerstand  und  legte 
es  ihnen  nahe,  selbst  fremde  Unterstützung  in  Anspruch  zu  nehmen. 


Hont,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  471 

Trotzdem  hat  Verfasser  Recht,  wenn  er  Chathams  Behauptung, 
Amerika  könne  unmöglich  erobert  werden,  für  unrichtig  erklärt.  Es 
jhätte  bei  etwas  geschickterer  Kriegführung  und  ohne  die  beständige 
Ermutigung  durch  die  englische  Opposition  wohl  unterworfen  werden 
können,  denn  es  kam  so  schon  nahe  ans  Ende  seiner  Kräfte.  Den 
Vergleich  mit  dem  Burenkrieg  würde  ich  allerdings  nicht,  wie  Ver- 
fasser tut,  heranziehen,  da  in  beiden  Fällen  das  Kräfteverhältnis 
doch  ein  gar  zu  verschiedenes  war. 

Sicher  hätte  die  Bedeutung  des  Krieges,  namentlich  der  ruhm- 
vollen Seekämpfe  der  letzten  Jahre  für  die  ganze  Zukunft  Englands, 
kräftiger  hervorgehoben  werden  können.  Die  englische  Regierung 
hatte  mit  nicht  weniger  als  vier  Mächten  und  dazu  mit  inneren  Geg- 
nern zu  kämpfen,  ohne  wirklich  besiegt  zu  werden.  Das  gab  Kraft 
und  Selbstvertrauen,  das  war  die  beste  Vorbereitung  für  die  weit 
schwereren  Wirren  der  Revolutionszeit.  Führer  zu  Lande  und  zur 
See  bildeten  sich  aus,  die  Flotte  wurde  wesentlich  verstärkt  und 
verbessert,  der  schwächende  Gegensatz  zwischen  Mutterland  und  Ko- 
lonien fiel  hinweg.  So  wurde  die  scheinbare  Depression  der  engli- 
schen Macht  gerade  zum  Motiv  und  Ausgangspunkt  gewaltigsten  Auf- 
schwungs, wie  ihn  selten  eine  Nation  erlebt  hat. 

Ich  habe  die  Hauptpunkte,  in  denen  mein  >W.  Pitt«  wesentlich 
Neues  bringt  und  somit  auch  von  dem  vorliegenden  ViTerke  abweicht, 
hervorgehoben  und  möchte  nun  noch  verschiedenes  andere  aus  dem 
reichen  Inhalt  des  Hunt'schen  Buches  einer  näheren  Betrachtung 
nnterziehn. 

Mehrfach  lenkt  Verfasser  unsre  Aufmerksamkeit  auf  das  eigen- 
tämliche  Regierungssystera,  das  Georg  III.  in  einer  langen  Zeit  seiner 
Herrschaft  zur  Anwendung  brachte,  jenes  System,  das  in  der  Haupt- 
sache darin  bestand,  durch  korrupte  Mittel  das  Parlament  zu  be- 
herrschen und  durch  das  Parlament  eine  Art  absolutistisches  Regi- 
ment zu  führen.  Verfasser  vertritt  wie  die  bisherigen  Darsteller 
dieser  Zeit  die  Anschauung,  daß  der  König  von  Anfang  an  dieses 
System  ins  Auge  gefaßt  und  unter  bewußter  Bekämpfung  der  bis- 
herigen Machthaber,  des  bisherigen  Verwaltungsmodus  allmählich 
durchgeführt  habe.  Er  tadelt  ihn  wiederholt  scharf,  daß  er  in  solcher 
Weise  sich  in  einen  Gegensatz  zum  wahren  Willen  des  Volkes  ge- 
stellt und  damit  dessen  Zuneigung  verscherzt  habe.  Meines  Erach- 
tens  war  Georgs  Bestreben  von  Anfang  an  nur  darauf  gerichtet,  die 
Parteiherrschaft  einer  bestimmten  Gruppe  von  Whigs,  wie  sie  bisher 
bestanden  hatte,  zu  beseitigen,  dann  aber  mit  Hülfe  tüchtiger  Mi- 
nister ganz  loyal  nach  konstitutionellen  Maximen  zu  regieren.  Die 
Privilegien  und  die  Machtstellung  des  Königtums,  soweit  sie  noch 


472  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

bestanden,  wollte  er  aufrecht  erhalten,  aber  es  widerstrebte  ihm  dardi- 
aus,  den  Boden  der  Verfassung  zu  verlassen  oder  auch  nur  ihran 
Geiste  zuwider  zu  handeln.  Aber  dieser  Versuch,  aufrichtig  loyal  im 
Sinne  der  Ideen  von  1688  zu  regieren,  mißglückte  vollständig.  Schon 
um  1762  den  durchaus  notwendigen  Frieden  zustande  zu  bringen, 
mußte  er  die  Hülfe  eines  Staatsmannes  in  Anspruch  nehmen,  der 
vor  den  korruptesten  Mitteln  nicht  zurückscheute,  das  Erforderlidie 
durchzusetzen,  des  Henry  Fox.  Und  als  er  dann  sich  noch  einmal 
von  diesem  und  seiner  Methode  befreite,  merkte  er  von  Jahr  zu  Jahr 
mehr,  daß  es  in  der 'gewünschten  Weise  unmöglich  war,  em  dauer- 
haftes Ministerium  zustande  zu  bringen.  Kabinet  folgte  auf  Kabinet 
und  jedes  trug  bereits  bei  seiner  Einsetzung  den  Todeskeim  in  sidi, 
bis  der  König  endlich  in  Chatham  den  ersehnten  Königs-  und  ve^ 
fassungstreuen  Minister  gefunden  zu  haben  glaubte.  Ihm  war  er  be- 
reit völlig  die  Zügel  zu  überlassen,  in  der  Hoflhung,  durch  ihn  von 
dem  verderblichen  Parteiwesen  befreit  zu  werden,  aber  gerade  er 
versagte  vollständig,  gerade  unter  ihm  steigerte  sich  der  Wimnurr 
aufs  höchste.  Es  blieb  bei  den  wachsenden  kolonialen  und  auswi^ 
tigen  Schwierigkeiten  gar  nichts  anderes  übrig  als  zu  dem  System 
des  Henry  Fox,  jetzt  Lord  Holland,  zurückzukehren,  als  durdi  das 
altgewohnte  Mittel  der  Korruption  die  ganz  unentbehrliche  Stabilität 
herbeizuführen.  Georg  konnte  das  bedrohte  Staatsschiflf  nicht  in  der 
bisherigen  Weise  hin-  und  hertreiben  lassen.  Daß  er  die  Kormption 
nicht  zu  Gunsten  einer  Partei  sondern  des  Königtums  und  des  konig* 
liehen  Ministers  zur  Anwendung  brachte,  wurde  ihm  zwar  sehr  ttbd 
genommen,  war  aber  im  Grunde  selbstverständlich.  So  trat  der  Staat 
innerlich  gefestigt  in  den  schweren  amerikanischen  Krieg  ein,  desaeD 
unglücklichen  Ausgang  man  keineswegs  aus  diesem  unvermeidlichen 
Regierungssystem  ableiten  darf.  Da  entschieden  ganz  andere  Gründe 
und  Verhältnisse.  Man  wird  demnach  sagen  müssen :  die  politisdien 
und  moralischen  Qualitäten  der  höheren  Klassen  machten  es  dem  K5- 
nige  unmöglich,  anders  als  durch  Korruption  den  Staat  im  Sturme 
zu  regieren. 

Damit  erledigen  sich  auch  die  Vorwürfe,  die  Verfietsser  dem  Lord 
North  machen  zu  müssen  glaubt.  Er  war  eben  damals  in  Ermange- 
lung einer  genialen  Persönlichkeit,  der  Georg  die  ganze  Leitung  hätte 
überlassen  können,  aus  verschiedenen  Gründen  der  geeignetste,  um 
die  Durchführung  jenes  Systems  zu  übernehmen.  Daß  er  dabei  als 
Mandatar  des  Königs,  nicht  als  selbständiger  Premierminister  fungierte, 
wird  man  wohl  vom  Standpunkt  des  heutigen  Parlamentarismus,  nicht 
aber  von  dem  des  damaligen  Staatsrechts  tadeln  dürfen. 

Das  absolutistische  Regiment  brach,  wie  Ver&sser  darlegt,  xn* 


Hnnt,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  478 

sammen  im  Jahre  1782,  als  der  amerikanische  Krieg  durch  die  Ka- 
pitulation von  Yorktown  eine  böse  Wendung  genommen  hatte.  Im 
Parlamente  überstimmt  trat  North  zurück  und  der  Führer  der  oppo- 
sitionellen Whigs,  Lord  Rockingham,  übernahm  die  Regierung,  dem 
aber  Lord  Shelburne  als  Vertrauensmann  des  Königs  zur  Seite  ge- 
stellt wurde.  Es  wäre,  meine  ich,  sehr  wünschenswert,  wenn  dieser 
wichtige  Vorgang  einmal  einer  recht  genauen  Prüfung  auf  Grund 
aller  Akten  und  Korrespondenzen  unterworfen  würde,  und  zwar  unter 
dem  Gesichtspunkt,  ob  nicht  der  König  selbst  diesen  Umschlag  ge- 
wünscht und  gefördert  hat.  Es  war  ja  ein  oft  geübtes  Verfahren, 
bei  unangenehmen  Notwendigkeiten  das  Parlament  vorzuschieben. 
Sollte  das  nicht  auch  hier  von  Georg  IIL  angewendet  worden  sein? 
Dann  würde  man  nicht  sagen  können,  daß  er  mit  seinem  inneren 
System  Schiffbruch  gelitten  hätte.  Er  brachte  ja  auch  bald  wieder 
ihm  zusagende  Persönlichkeiten  an  die  Regierung,  erst  Shelburne, 
später  Pitt,  und  wenn  diese  nicht  wie  vorher  Lord  North  als  bloße 
Gehülfen  des  Herrschers,  sondern  sehr  selbständig  auftraten,  so  muß 
man  sich  ins  Gedächtnis  rufen,  daß  dem  Könige  das  persönliche  Re- 
giment niemals  die  Hauptsache,  sondern  nur  ein  Notbehelf  in  stür- 
mischen Zeiten  gewesen  war.  In  dem  Sohne  Pitt  fand  er,  was  er  in 
dem  Vater  Chatham  vergeblich  gesucht  hatte,  den  der  Lage  gewach- 
senen Premierminister,  dem  er  sein  Vertrauen  schenken,  seinen  Ein- 
fluß zur  Verfügung  stellen  konnte.  Indem  ich  dies  als  meine  Auf- 
fassung kundgebe,  möchte  ich  damit  die  Notwendigkeit  exaktester 
Untersuchung  der  ganzen  Vorgänge  betonen,  wie  sie  mir  auch  in 
dem  soeben  erschienenen  zweiten  Teil  der  Pitt-Biographie  von  Felix 
Salomon  nicht  vollzogen  zu  sein  scheint,  einem  Werk  übrigens,  dessen 
Nichtbenutzung  durch  Verfasser  gleichfalls  zu  bedauern  ist.  ^) 

Wenn  ich  soeben  schon  eine  Vergleichung  mit  früheren  Vor- 
gängen angeregt  habe,  so  dürfte  eine  solche  auch  weiterhin  von 
Nutzen  und  einem  tieferen  Verständnis  der  Zusammenhänge  förder- 
lich sein,  und  zwar  nicht  blos  hinsichtlich  der  Stellung  Georgs  zu 
seinen  Ministerien,  Grenville,  Rockingham,  Chatham  einerseits,  Rocking- 
ham-Shelburne,  Fox-North,  Pitt  andrerseits,  sondern  namentlich  bezüg- 
lich des  Verhältnisses  zwischen  König  und  Thronfolger.  Die  Ueber- 
macht,  die  Georg  UL  so  lange  im  Staatsleben  besaß,  schrieb  sich 
zum  guten  Teil  daher,  daß  ihm  nicht  wie  seinen  beiden  Vorgängern 
ein  Thronerbe  zur  Seite  stand,  an  dem  die  Opposition  einen  Rück- 
halt zu  gewinnen  vermochte,  auf  den  alle  Welt  Rücksicht  nahm.  Erst 
mit  Pitts  Eintritt  fing  sich  der  Einfluß  des  Prinzen  Georg  von  Wales 

1)  Schon  mit  der  Korrektur  beschäftigt,  kann  ich  das  Buch  auch  nicht  mehr 
zu  Bate  sdehn. 

GOtt.  gtL  Aue.  1900.  Hi.  0.  33 


474  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  6 

an  fühlbar  zu  machen,  dessen  Sympathieen  den  von  Pitt  bekämpftoi 
Whigs  galten.  Dieser  Umstand  hätte  sicherlich  schärfer  henrorgehoben 
und  beleuchtet  werden  müssen.  Aber  diesmal  war  das  Resultat  ein 
anderes  als  unter  Georg  11.  Während  damals  der  Hof  des  Thron- 
folgers geradezu  eine  ausschlaggebende  Rolle  spielte  und  sich  das 
letzte  Ministerium  Georgs  II.  unter  seinen  Auspizien  bildete,  sehen 
wir  jetzt  den  vom  König  gewählten  Minister  sogar  gegen  eine  Unter- 
haus-Majorität das  Feld  behaupten.  Prinz  Georg  (IV.)  war  eben 
nicht  die  Persönlichkeit,  um  durchschlagende  Erfolge  zu  erzielen. 
Ihm  fehlte  auch  die  Popularität,  die  Georg  dem  III.  als  Prinzen  ent- 
gegengebracht wurde,  da  jetzt  der  Gegensatz  zwischen  der  hannover- 
schen Gesinnung  des  Herrschers  und  der  national^nglischen  des 
Erben  nicht  mehr  in  Frage  kam.  Immerhin  blieb  die  Gefiihr,  die 
Pitt  von  dem  Thronfolger  drohte,  keine  geringe,  namentlich  als  der 
König  im  Jahre  1788  zeitweilig  in  Geisteskrankheit  verfiel,  und  so 
näherten  sich  die  Verhältnisse  immer  mehr  denjenigen  vor  Georgs  HL 
Thronbesteigung.  1792  erstrebte  die  Opposition  sogar  ein  Koalitions- 
ministerium, das  wohl  mit  dem  von  1757  hinsichtlich  seines  Ur- 
sprungs vergleichbar  gewesen  wäre,  aber  der  König  und  Pitt  be- 
fanden sich  In  einer  zu  starken  Stellung,  als  daß  es  zu  dieser  De- 
mütigung hätte  kommen  können. 

Einen  großen  Teil  des  Buches  nehmen  selbstredend  die  Vorgänge 
und  Kämpfe  der  Revolutionszeit  ein,  die  in  einer  gut  übersichtlichen, 
kurzen  und  doch  dem  Wissensbedürfhis  entsprechenden  Weise  zur 
Darstellung  gebracht  werden.  Zweierlei  hätte  dabei  freilich  klarer 
dargelegt  und  über  Alles  hinausgehoben  werden  können:  1)  Die  Be- 
ziehung der  englisch-französischen  Kriege  zu  dem  Ausbruch  der  Re- 
volution; 2)  die  Einwirkung  der  Revolution  auf  die  englische  Ver- 
fassungsentwicklung. — -  Unter  den  ersteren  Punkt  begreife  ich  die 
Tatsache,  daß  Frankreich  gerade  nach  den  vielen  Niederlagen  und 
Demütigungen,  die  es  im  letzten  Jahrhundert  von  dem  im  Grunde 
weit  schwächeren  England  erlitten  hatte,  das  Bedürfnis  fühlte,  sieh 
unter  energischerem  Regiment  in  seiner  vollen  Kraft  zu  zeigen,  und 
daß  es  nicht  zum  wenigsten  deshalb  seine  Dynastie  stürzte,  den 
Weltkrieg  entflammte,  freilich  ohne  gerade  England  gegenüber  dan- 
emd  zu  reüssieren.  Es  zeigte  sich,  daß  die  rüde  und  rücksichtslose 
Art,  in  der  plötzlich  die  ganze  Volkskraft  angespannt  und  aufge- 
stachelt wurde,  wohl  einigermaßen  verwendbare  Landarmeen  schaffen 
konnte,  aber  nicht  geeignet  war,  das  feine  Instrument  der  Flotte  zu 
höherer  Entfaltung  zu  bringen,  ein  Umstand,  der  das  Werk  des 
größten  Imperators  schließlich  völlig  zusammenbrechen  und  fast 
spurlos  verschwinden  ließ. 


Hont,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  475 

Was  den  andern  Punkt  betrifft,  so  hat  zweifellos  die  französische 
Revolution  auf  die  Fortbildung  der  englischen  Verfassung  stark  re- 
tardierend gewirkt,  die  notwendigen  Reformen  um  Jahrzehnte  auf- 
gehalten. So  mußte  es  auch  kommen,  wenn  der  Staat  seine  Stabilität 
bewahren  sollte.  Parallelgehend  mit  der  gewaltsamen  Umwälzung 
in  Frankreich  hätten  die  verfassungsrechtlichen  Wandlungen  ebenfalls 
einen  gewaltsamen  und  daher  verderblichen  Charakter  angenommen. 
So  war  es  ein  Glück,  daß  das  alte  System  dank  der  politischen  Be- 
fähigung der  höheren  Klassen  und  des  energischen  Auftretens  ein- 
zelner Persönlichkeiten  noch  so  viel  innere  Kraft  bezeigte,  um  die 
drohende  Bewegung  zu  verhüten.  Das  abschreckende  Beispiel  Frank- 
reichs wirkte  dann  noch  lange  nach,  sodaß  es  weiterhin  außerordent- 
lich schwer  war,  die  wünschenswerte  Fortbildung  zu  vollziehen.  Die 
Abwehr  der  revolutionären  Bestrebungen  von  Seiten  der  Regierung 
ist  zutreffend  und  anschaulich  geschildert,  doch  möchte  ich  dabei  be- 
merken, daß  das  Gegenspiel  der  Opposition,  namentlich  des  Fox, 
sicherlich  keinen  prinzipiellen,  sondern  nur  einen  persönlichen  Cha- 
rakter trug.  Sie  begünstigten  die  populäre  Bewegung,  nicht  um  ihr 
zum  Siege  zu  verhelfen,  sondern  um  dadurch  zur  Macht  zu  gelangen. 
Wäre  ihnen  das  gelungen,  so  würden  sich  ihre  weiteren  Maßnahmen 
wohl  sehr  wenig  von  denen  Pitts  unterschieden  haben,  denn  ein  Um- 
sturz des  Bestehenden  hätte  auch  ihrer  Macht  ein  Ziel  gesetzt. 

Daß  die  englische  Landarmee  zu  schwach  war,  um  auf  dem 
Kontinent  den  gewaltigen  Massen  des  Feindes  gegenüber  Beträcht- 
liches zu  leisten,  erkennt  Verfasser  sehr  richtig  an,  doch  hätte  er 
auch  betonen  können,  wie  eine  zu  starke  Berücksichtigung  der  ein- 
seitig englischen  Interessen  nicht  ohne  Schuld  war  an  den  Mißerfolgen, 
besonders  des  niederländischen  Feldzugs  von  1793.  Es  fand  kein 
rechtes  Zusammenwirken  mit  den  Verbündeten  statt,  da  England  zu 
viel  Gewicht  auf  Gewinnung  und  Behauptung  von  Küstenplätzen 
legte.  Bei  der  Darstellung  dieser  kriegerischen  Ereignisse  sind  wohl 
die  deutschen  Werke  nicht  genügend  zu  Rate  gezogen  worden.  Von 
den  Zuständen  in  den  kontinentalen  Staaten  zeigt  Verfasser  eine  gar 
zu  ungünstige  Meinung.  Freilich  spielte  bei  ihnen  die  Sucht  nach 
territorialer  Expansion  oft  eine  übergroße  Rolle,  aber  so  ganz  ver- 
rottet waren  sie,  so  ganz  despotisch  ihre  Regierungsform  doch  keines- 
wegs, wie  Verfasser  behauptet  (S.  346  f.). 

Die  sozialen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  sind  in  einem  be- 
sonderen Kapitel  eingehend  behandelt  worden.  Dabei  hätte  Ver- 
fasser wohl  den  großartigen  Aufschwung  auf  allen  Gebieten  beson- 
ders dadurch  noch  mehr  hervorheben  können,  daß  er  ihn  in  Vergleich 
stellte  mit  der  langsamen  Entwicklung,  man  kann  fast  sagen  Sta- 

33* 


476  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

gnation,  die  vor  dem  siebenjährigen  Kriege  zu  beobachten  ist.  Die 
Motivierung  dieses  Kontrastes  hätte  dann  auch  nahe  gelegen.  Sie 
lag  wohl  weniger  in  der  Konkurrenz  anderer  Mächte  auf  dem  Ge- 
biete des  Handels  und  der  Industrie,  speziell  Frankreichs,  als  in  den 
Gefahren,  die  dem  schwach  bevölkerten  England  beständig  von  dem 
für  übermächtig  gehaltenen  Nachbarstaate  zu  drohen  schienen.  Die 
raschen  und  entscheidenden  Siege  des  genannten  Krieges,  die  nicht 
blos  über  Frankreich,  sondern  zuletzt  auch  über  Spanien  errungen 
wurden,  hoben  das  Selbstvertrauen  und  gaben  ein  Gefühl  der  Sicher- 
heit, das  geeignet  war  alle  wirtschaftlichen  Kräfte  wachzurufen,  und 
das  auch  durch  die  Fehlschläge  des  amerikanischen  Krieges  nicht 
wieder  aufgehoben  werden  konnte.  Im  Zusammenhang  mit  der  Dar- 
stellung dieser  inneren  Entwicklung  hätte  auch  gleich  das  Kapitel 
der  Staatsschuld  behandelt  werden  können,  über  die  erst  später 
nebenbei  gesprochen  worden  ist,  als  Pitt  sich  mit  ihrer  Tilgung  be- 
faßte. Es  hätte  gezeigt  werden  können,  wie  wenig  die  schweren 
Besorgnisse  gerechtfertigt  waren,  die  sich  an  das  starke  Anwachsen 
dieser  Schuld  knüpften,  wie  einerseits  der  wachsende  Kredit  des 
wohlgeordneten  englischen  Staates,  aus  dem  sich  ein  sehr  niedriger 
Zinsfuß  ergab,  andrerseits  das  Steigen  der  Bevölkerung  und  ihres 
Reichtums  die  Last  in  weit  höherem  Maße  erleichterte,  als  sie  sich 
durch  das  Anwachsen  der  Schuldenmasse  steigerte.  Ein  Vergleich 
mit  den  finanziellen  Verhältnissen  Frankreichs,  wo  die  Schuld  eben- 
falls rapide  stieg,  ohne  daß  ein  solcher  Aufschwung  und  eine  solche 
Besserung  des  Kredits  den  Ausgleich  gab,  hätte  diesen  Zusammen- 
hang besonders  klar  vor  Augen  zu  stellen  vermocht.  Verfasser  weist 
zwar  richtig  den  Fehler  in  Pitts  Finanzpolitik  auf,  der  noch  immer 
sich  um  Tilgung  alter  Schulden  mittelst  des  Tilgungsfonds  bemühte, 
als  er  sich  schon  infolge  der  Revolutionswirren  zur  Aufnahme  neuer 
schwererer  Lasten  genötigt  sah,  aber  es  fehlt  doch  an  ausgiebiger 
Klarlegung  der  zwischen  Finanzwirtschaft  und  Volkswirtschaft  vor- 
handenen Relationen.  Uebrigens  ist  bei  Pitts  Verfahren  in  Rechnung 
zu  ziehen,  daß  das  Fortwirken  des  Tilgungsfonds  nicht  wenig  zu  der 
hohen  Kreditfähigkeit  des  Staates  beitrug,  die  ihm  schließlich  über 
die  schweren  Napoleonischen  Zeiten  hinweggeholfen  hat,  ein  Umstand, 
den  Verf.  an  einer  späteren  Stelle  (S.  347  f.)  richtig  hervorhebt. 

Bei  der  zentralen  Stellung,  die  das  Parlament  im  englischen 
Staatsleben  besitzt,  ist  es  nur  natürlich,  daß  den  Verhandlungen 
dieser  Körperschaft  vom  Historiker  viel  Aufmerksamkeit  geschenkt 
wird.  Doch  möchte  ich  es  nicht  billigen,  diese  Verhandlungen,  wie 
es  Verfasser  bisweilen  tut  (z.B.  S.  117.  160),  der  Reihe  nach  zu  er- 
zählen.    Die  Staatsaktionen  sind   es,  die,  möglichst  in  innere  Be- 


Hont,  History  of  England  from  the  accession  of  George  III  477 

Ziehung  gebracht,  nach  einander  dargestellt  werden  mttssen,  und 
ihnen  sind  die  betreffenden  Debatten  etc.,  wo  es  zum  Verständnis 
nötig,  anzugliedern.  Das  zeitliche  Zusammentreffen  verschiedenartiger 
Verhandlungen  hat  für  den  Historiker,  wenn  nicht  innere  Zusammen- 
hänge vorliegen,  oder  wenn  es  sich  nicht  um  Parlamentsannalen  han- 
delt, keine  Bedeutung.  Ich  erwähne  das  nicht,  weil  der  Fehler  in 
diesem  Buche  ein  besonders  hervorstechender  wäre,  sondern  weil  er 
überhaupt  bei  der  englischen  Geschichte  so  leicht  begangen  wird. 

Den  Schluß  des  VSTerkes  bildet  die  Darstellung  der  Ereignisse, 
welche  zur  Herstellung  des  vereinigten  Königreichs,  also  zur  staat- 
lichen Verknüpfung  Irlands  mit  Großbritannien  führten.  Verfasser 
hat  dabei  nicht  unrecht,  wenn  er  die  moralische  Verurteilung  des 
Verfahrens,  das  Pitt  dabei  einschlug,  abweist.  Durch  Korruption 
wurde  Irland  gewonnen,  aber  korrumpiert  waren  die  irischen  Ver- 
hältnisse nun  einmal  von  Grund  aus.  Nichtsdestoweniger  hätte  der 
interessante  Vorgang  staatsrechtlich  tiefer  erfaßt  werden  können. 
Davon  ausgehend,  daß  Irland  auch  vorher  nur  nominell  ein  beson- 
derer Staat  war,  während  in  Wahrheit  und  staatsrechtlich  seine  Sou- 
veränität in  England  ruhte,  hätte  man  den  Charakter,  das  Wesen 
der  stattfindenden  Wandlung  scharf  präzisieren  können.  Ich  meine, 
dieses  bestand  darin,  daß  die  Macht  des  englischen  Parlaments  über 
Irland  durch  Wegfall  des  irischen  Parlaments  zwar  nicht  geschaffen, 
aber  einer  Schranke  entledigt  wurde,  die  sein  Eingreifen  in  die 
inneren  Verhältnisse  bis  dahin  gehemmt  hatte,  und  daß  dafür  die 
irische  Bevölkerung  einen  gewissen  Anteil  an  dieser  zentralen  Macht 
erhielt.  Das  Ganze  war  eine  Vergewaltigung  durch  Mittel  der  Kor- 
ruption, war  die  künstliche  Herstellung  eines  gefälschten  Volks- 
willens, aber  ein  derartiges  Verfahren  wird  die  souveräne  Gewalt 
—  und  diese  lag  wie  gesagt  in  England  —  stets  Volksvertretungen 
gegenüber  zur  Anwendung  bringen,  wo  es  sich  nach  ihrer  Meinung 
um  Lebensinteressen  des  Gesamtstaates  handelt,  denn  jede  Volks- 
vertretung ist  in  dieser  oder  jener  Form  der  Korruption  zugänglich, 
die  souveräne  Gewalt  aber  fühlt  sich  nun  einmal  für  das  Wohl  des 
Ganzen  verantwortlich.  Wie  die  damalige  souveräne  Gewalt  in  Eng- 
land zu  definieren  sei,  ist  eine  besondere,  interessante  Frage,  die 
sich  wohl  kaum  unanfechtbar  beantworten  läßt.  Die  englische  Ver- 
fassung war  zu  sehr  im  Fluß  und  ermangelte  dogmatischer  Fest- 
stellung. 

Ein  ausführlicher,  sehr  lehrreicher  Quellenbericht,  ein  sehr 
dankenswertes  Verzeichnis  der  Ministerien  seit  1760,  ein  Stammbaum 
der  Grenville-Familie ,  die  durch  die  hervorragende  Stellung  ver- 
schiedener Mitglieder  und  durch  ihre  Verwandtschaft  mit  den  Pitts 


478  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

SO  große  Bedeutung  gewonnen  hat,  und  endlich  em  Index  schließe 
das  ausgezeichnet  wertvolle  und  praktisch  höchst  brauchbare  Werk. 
Eine  Karte  Großbritanniens,  auf  der  die  parlamentarische  Vertretung 
zur  Anschauung  gebracht  ist,  und  zwei  Karten  der  vereinigten 
Staaten  um  1783  sind  angefugt. 

Halle  Albert  von  Ruville 


Willy  Soheel,  Johann  Frhr.  zu  Schwarzenberg.  Berlin,  J.  Guttenta^ , 
1905.   XVI,  381  S. 

Herrmanns  Biographie  Schwarzenbergs  war,  trotzdem  man  sie 
ehedem  nicht  wenig  schätzte,  angesichts  der  allzu  dürftigen  Hilfs- 
mittel, die  ihm  zu  Gebote  standen,  längst  nicht  mehr  als  zeitgemäß 
zu  betrachten.  Es  ist  daher  Scheel,  welcher  sich  bereits  durch  die 
Neuausgaben  der  Bambergensis  und  Carolina  die  ersten  Sporen  auf 
historischem  Gebiete  errungen,  sicher  als  Verdienst  anzurechnen, 
daß  er  sich  berufen  fühlte,  ein  möglichst  getreues,  lichtvolles  Lebens- 
bild dieser  als  Ritter,  Staatsmann  und  Gelehrten  gleich  sympathischen 
Persönlichkeit  zu  entwerfen.  Als  besondere  Vorzüge  des  Werkes  möchte 
ich  vor  allem  rühmen,  daß  uns  nunmehr  dank  der  großen  Bereitwillig- 
keit der  fränkischen  Archive  wie  der  der  fürstlichen  Familie  das  ge- 
samte auf  Schwarzenberg  bezügliche  urkundliche  Material,  vereint 
zu  einem  geordneten  Ganzen  und  zugleich  mit  nicht  geringem  Ge- 
schick verwertet  und  erläutert,  zur  Verfügung  steht,  und  es  so  er- 
möglicht ist,  die  einzelnen  Wandlungen  im  ereignisreichen  Dasein 
und  fruchtreichen  Wirken  einer  der  markantesten  Gestalten  aus  der 
großen  Zeit,  in  der  Humanismus  und  Reform  des  Glaubens  sich  die 
Hände  reichten,  an  unserem  geistigen  Auge  vorüberziehen  zu  lassen. 

Erfahren  wir  wenig  über  Schwarzenbergs  Kindheit  (als  Geburts- 
datum nimmt  nun  Scheel  den  Stefanstag  1465  an),  so  gewinnen  wir 
doch  einen  kurzen  Einblick  in  die  kernige  und  praktisch  veranlagte 
Natur  des  Vaters,  welcher  Johann  in  vieler  Hinsicht  als  Vorbild 
dienen  mochte.  Hierauf  folgen  wir  diesem  an  den  rheinischen  Hof, 
wo  der  Most  in  Spiel  und  wüsten  Gelagen  verschäumte,  und  dann 
dem  zum  besonnenen  Manne  gereiften  und  geklärten  Jüngling  von 
Stufe  zu  Stufe  seines  Ansehens  und  Ruhmes.  Lernen  wir  ihn  als 
Hofmeister  und  Hofrichter  in  Bamberg  wie  als  trefflichen  Haushalter 
in  seinen  Reichsherrschaften  schätzen,  so  nicht  minder  als  Verfechter 
der  Standesinteressen  der  Ritterschaft,  welche  er  allerdings  schließ- 
lich aus  nicht  ganz  gerechtfertigtem  Grunde  im  Stiche  läßt,  als  Teil- 


Scheel,  Johann  Frhr.  zu  Schwarzenberg  479 

nduner  an  Reichstagen,  Mitglied  des  Reichsregiments  und  endlich 
als  Ratgeber  der  Fürsten  in  Brandenburg  und  Preußen.  Bedeutsam 
ist  femer  seine  Stellungnahme  zum  Bauernaufruhr,  zum  schwäbischen 
Bund  und  zur  >  Luthersache  <. 

Freilich  hätte  in  des  Ritters  Lebensbild  mancher  beachtenswerte 
Zug  vielleicht  durch  stärkere  Striche  angedeutet  werden  können,  wie 
zu  dessen  Verherrlichung  manches  hineingeheimnißt  worden  ist,  was 
Tom  strengen  Standpunkt  der  Historik  aus  vorerst  als  offene  Frage 
behandelt  werden  sollte.  So  wäre  wohl  z.  B.  Schwarzenbergs  Rolle 
hl  der  ständischen  Bewegung  durch  eine  größere  Vertiefung  in  die 
geschichtliche  Entwicklung  derselben  (analog  den  Ausfuhrungen 
Fellners)  klarer  verdeutlicht  worden.  Nicht  selten  läßt  sich  auch  der 
Verfasser  durch  die  Begeisterung  für  seinen  Helden  verleiten,  wenig 
stützbare  Vermutungen  zu  dessen  Gunsten  als  bare  Münze  auszu- 
geben. So  geht  es  offensichtlich  zu  weit,  Schwarzenberg  als  Reformer 
der  Bamberger  Hofgerichte  zu  bezeichnen;  warum  soll  nun  gerade 
ihm  die  Umwandlung  der  Protokolle  in  kurze  Verzeichnisse  (das  ge- 
wiß keinen  Fortschritt  bedeuten  würde,  wenn  die  ersteren  nicht  eben 
Protokolle,  die  anderen  aber  Manualien  wären)  in  die  Schuhe  ge- 
schoben werden?  Zu  weit  greift  femer  der  Autor,  Schwarzenberg 
einen  nachhaltigen  Einfluß  auf  das  Zustandekommen  der  Carolina  zu- 
zusprechen; wir  müssen  uns  im  Gegenteil  geradezu  verwundern,  daß 
man  die  Redaktion  derselben  dem  Verfasser  der  Bambergensis  nicht 
im  großen  ganzen  überlassen  hat.  Zu  viel  dürfte  es  endlich  gesagt 
sein,  daß  nunmehr  in  Hinsicht  auf  letztere  der  endgiltige  Beweis  für 
die  Autorschaft  Schwarzenbergs  erbracht  sei.  Denn,  trotzdem  auch 
Köhler  ad  verba  discipuli  schwört,  haben  wir  uns  leider  der  Lösung 
dieser  Frage  nur  um  wenige  Schritte  genähert.  So  kommen  z.  B. 
die  aufgeführten  sprachlichen  Eigentümlichkeiten ,  die  Ausdrücke 
>fiirsetzlich€  und  dergl.  Schwarzenberg  im  Hinblick  auf  die  Schreib- 
weise jener  Zeit  keineswegs  allein  zu,  abgesehen  davon,  daß  die 
Fassung  und  Zusammenstellung  des  ihm  von  Rechtskundigen  bear- 
beiteten Stoffes  ja  immerhin  durch  ihn  erfolgt  sein  können.  Die  VO. 
für  die  Seinsheimer  Zent  aber  beweist  nicht  mehr,  als  daß  eben  die 
Niederschrift  der  Bambergensis  zwei  Monate  vor  ihrer  Publikation 
schon  mehr  oder  minder  vollendet  vorlag.  Und  darum  ist  es  noch 
immer  nicht  klar  ersichtlich,  wieviel  dem  >rat  der  gelerten  und 
ander  (rechts)  verstendigen«  zuzusprechen  ist.  Wenn  zudem  mehrere 
in  Frage  stehen  und  dem  Gerichte  angehörten,  als  dessen  Vor- 
sitzender Schwarzenberg  fungierte,  so  nimmt  es  nicht  wunder,  daß 
er,  der  natürlich  auch  dann  die  Inkraftsetzung  der  0.  dem  Bischof 


480  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

gegenüber  vertrat  (er  selbst  hat  sich  nie  als  Verfasser  bekannt),  auch 
als  ihr  geistiger  Urheber  angesehen  werden  mußte. 

Auch  nahm  man  es  damals,  abgesehen  davon,  daß  man  bei 
Schaffung  der  HGO.  eines  so  bescheidenen  Territoriums,  nicht  deren 
spätere  Bedeutung  ahnen  konnte,  mit  der  Nennung  des  Autors  keines- 
wegs so  genau  und  gewissenhaft.  Ich  erinnere  hier  an  zwei  Nürn- 
berger Fälle:  Als  Erbauer  des  Rathauses  wie  der  Fleischbrücke 
(Ponte  Rialto)  brüsteten  sich  zwei  stolze  Patrizier,  bis  es  erst  in 
den  letzten  Jahrzehnten  gelang,  die  wirklichen  (auch  sonst  nicht  un- 
bedeutenden) Baumeister  festzustellen  wie  die  Tatsache,  daß  erstere 
lediglich  als  Referenten  des  Rates  die  Bauaufsicht  führten.  Käme 
Schwarzenberg  als  vollwertiger  Autor  und  nicht  nur  als  Herausgeber, 
der  lediglich  die  letzte  Hand  anlegte,  in  Betracht,  so  wäre  er  bei  Ge- 
legenheit der  Herstellung  der  Carolina  zweifellos  ostentativer  hervor- 
getreten und  hätte  sich  hier  nicht  mit  solch  nebensächlicher  Rolle 
begnügt.  Ich  bringe  hier  nur,  was  nicht  zu  bekehrende  Gegner  ein- 
wenden könnten;  ich  will  keineswegs,  um  eben  Schwarzenberg  als 
Polyhistor,  der  sich  ja  auch  mit  den  ihm  ebenso  femstehenden 
Klassikern  trefflich  abfand,  nicht  zu  nahe  zu  treten,  ohne  weiteres 
zu  jenen  gerechnet  werden,  immerhin  raten,  die  Autorschaft  Schwarzen- 
bergs  vorerst  in  das  Reich  der  Wahrscheinlichkeit  zu  verweisen. 

Vielleicht  hätte  endlich  Scheel  das  Kapitel  >  Schwarzenberg  als 
Juristc  besser  einem  Fachmann  überlassen,  da  er  hier,  wiewohl 
sonst  sein  vielseitiges  Talent  offen  anerkannt  werden  mag,  doch  auf 
einem  ihm  allzu  fremden  Gebiete  wandelt.  Was  soll  auch  die  Bei- 
ziehung seines  Bamberger  Strafrechts;  aus  ihm  dürften  sich  kaum 
sichere  Schlüsse  ziehen  lassen,  inwieweit  Schwarzenberg  die  heimi- 
schen Bräuche  genützt  hat.  Jenes  schmiegt  sicli  nicht  nur  dem 
System,  sondern  nicht  selten  auch  dem  Gedankengange  nach  unwill- 
kürlich dem  der  Bambergensis  sehr  abholden  Nürnberger  Rechte 
an  und  baut  sich  dann  doch  auf  allzu  dürftigem  Quellenstoffe  auf. 
Die  Strafen  freilich  vermochte  Schwarzenberg  der  Praxis  der  Heimat 
zu  entnehmen,  für  die  Filigranarbeit  der  allgemeinen  strafrechtlichen 
Bestimmungen  jedoch  und,  was  als  Hauptsache  erscheint,  die  »Pro- 
zessierform<  bedurfte  es  eines  weiteren  Ausblicks.  Deshalb  fertigte 
auch  Scheel  letztere  nicht  ohne  Grund  mit  wenigen  Strichen  ab  und 
so  muß  uns  eben  Brunnenmeisters  treffliches  Buch  in  dieser  Hinsiebt 
auch  noch  fürderhin  als  willkommener  Leitstern  dienen. 

Doch  sollen  uns  diese  geringfügigen  Ausstellungen  nicht  ab^ 
halten,  unserer  ehrlichen  Freude  Ausdruck  zu  verleihen,  daß  wir  uns 
endlich  einer  dieses  kerndeutschen  Ritters  würdigen  Lebensbeschreibung 


Scheel,  Johann  Frhr.  zu  Schwarzenberg  i81 

erfreuen,  zu  der  wir  dem  Autor  wie  dem  Verleger  rückhaltlos  Glück 
zu  wünschen  vermögen.  Möge  das  Werk  zahlreiche  Leser  erringen 
und  den  Verfasser  zu  weiteren  Taten  ermuntern.*) 

München  H.  Knapp 

Joh«  Zleknrsch ,   Sachsen   und  Preußen  um  die  Mitte  des   acht- 
zehnten Jahrhunderts.    Breslau,  M.u.H.  Marcus,  1901.   XI,  228  S.  Mk.  6. 

Die  Zeit  des  österreichischen  Erbfolgekrieges  ist  in  den  letzten 
Jahrzehnten  in  zahlreichen  Werken  behandelt  und  das  große  darüber 
vorhandene  Aktenmaterial  in  umfassender  Weise  durchforscht  und 
vorgelegt  worden.  Gleichwohl  ist  noch  vieles  nicht  Unwichtige  unbe- 
arbeitet und  mancher  Zug  in  dem  verwickelten  diplomatischen  Spiel, 
das  mit  dem  Tode  Kaiser  Karls  VI.  begann,  unbekannt  geblieben, 
wie  diese  Schrift  beweist.  Es  waren  die  Jahre,  in  denen  der  alte 
habsburgische  Besitz  ganz  zu  zerfallen  drohte,  in  denen  die  größeren 
Territorien  des  Reiches  die  Gelegenheit  eifrig  benutzten,  in  ihrem 
Bemühen  fortzufahren  und  sich  zu  bereichern  und  auszudehnen.  Die 
Konflikte  und  Kämpfe,  in  die  sie  dabei  unter  einander  und  mit  den 
alten  Mächten  gerieten,  geben  die  Möglichkeit,  zu  erkennen,  wie  groß 
die  Leistungsfähigkeit  jedes  einzelnen  dieser  kleineren  Staatengebilde 
war,  wie  weit  sie  sich  unter  dem  Einfluß  der  modernen  Staatsidee 
wklich  innerlich  entwickelt  hatten.  Die  Historiker  beschäftigen  sich 
jetzt  erfreulicher  Weise  immer  eindringlicher  mit  der  Entstehung 
und  den  Fortschritten  aller  dieser  Staaten,  die  bislang  über  dem 
kräftigsten  und  erfolgreichsten  unter  ihnen,  Preußen  vernachlässigt 
waren;  so  war  es  auch  eine  lohnende  Aufgabe,  Sachsens  Anteil  an 
den  Kämpfen,  der  noch  nirgends  im  Zusammenhang  geschildert  war, 
genauer  klarzulegen  und  damit  seine  Stellung  in  der  allgemeinen 
Entwicklung  zu  charakterisieren. 

Ziekursch  hat  ihre  Lösung  mit  eindringendem  Fleiße  unter- 
nommen. Er  hat  die  umfangreichen  Bestände  der  sächsischen  Akten 
durchgearbeitet  und  unter  sorgfältiger  Heranziehung  des  gesamten 
gedruckten  Materials  für  eine  geschickte  Darstellung  verwertet. 
Mancher  Zug  in  der  sächsischen  Politik  jener  Zeit  wird  durch  ihn 
erst  vollkommen  verständlich  gemacht  oder  gar  ganz  neu  aufgedeckt. 

1)  Die  Behauptung,  daß  sich  der  Nürnberger  Rat  in  jener  Glanzperiode  der 
Wissenschaft  und  Kunst  gegenüber  völlig  indifferent  verhielt  (S.  21),  hat  Verfasser 
WQ\d  kaum  ernst  gemeint,  wie  ich  der  Anschauung  Kohlers  im  Geleitwort,  daß 
sich  Nürnberg  an  Grausamkeit  mit  jeder  italienischen  Stadt  messen  konnte,  keines- 
wegs beizupflichten  vermag.  Wenn  der  verehrte  Meister  endlich  die  Frage  stellt, 
ob  Schwarzenbergs  gesetzgeberisches  Werk  auch  inhaltlich  für  unser  Land  eine 
Wohltat  War,  so  möchte  ich  dies  im  üinbUck  auf  die  Praxis  der  Folgezeit  unbe- 
dirigt  verneinen. 


482  Gott  gfL  Ans.  1906.  Nr.  6 

Er  begnfigt  sich  auch  nicht  mit  den  engen  Grenzen  einer  Spenl- 
nntersuchung,  sondern  stellt  ihre  Ergebnisse  nntar  allgemeuieie  Ge- 
sichtspunkte. Die  sächsische  Politik  jener  Jahre  ist  ihm  eine  Fort- 
setzung der  Politik  August  des  Starken,  er  betrachtet  die  Tendenzen 
der  sächsischen  Politik  im  18.  Jahrb.,  für  die  ihm  jene  Krisis  ein 
besonders  prägnantes  Beispiel  bietet,  überhaupt  im  Zusammenhange, 
er  sucht  sie  aus  dem  Geiste  der  Zeit  und  den  gegebenen  politischen 
Verhältnissen  zu  verstehen  und  geht  schließlich  so  weit,  sie  nicht 
nur  für  gerechtfertigt,  sondern  auch  für  zweckmäßig  zu  halten.  Da 
diese  Beurteilung,  zu  der  er  fortschreitet,  lebhaften  Widerspruch 
fand  (von  Haake  im  N.  Arch.  f.  sächs.  Gesch.  25,  321),  so  hat  «r 
seine  Ansicht  in  den  großen  Zügen  noch  einmal  genauer  dargelegt 
und  begründet  (N.  Arch.  f.  sächs.  Gesch.  26, 107).  Bevor  ich  auf 
einige  Einzelheiten  eingehe,  möchte  ich  über  diese  jedenfalls  anre- 
genden allgemeinen  Betrachtungen  ein  paar  Worte  sagen. 

Ziekursch  betont  unter  den  Beweggründen  der  sächsischen  Politik 
in  seinem  Buch  die  wirtschaftlichen  ziemlich  stark,  in  seinem  Auf- 
sätze drückt  er  sich  vorsichtiger  aus.  Die  Erwägungen  wirtschaft- 
licher Art,  die  die  sächsischen  Staatsmänner  angestellt  haben,  als 
Ausgangspunkt  für  ihre  Aktionen  zu  nehmen,  ist  in  der  Tat  w(dil 
nicht  statthaft.  Daß  sie  bei  ihren  Plänen,  die  darauf  hinausgingen, 
möglichst  viel  Land  für  ihren  Staat  zu  erwerben,  seine  Machtsphare 
zu  erweitem,  auch  die  Vorteile  ins  Auge  faßten,  die  die  Gebiete 
ihrem  Handel  und  ihrer  Industrie  bringen  würden,  ist  nicht  über- 
raschend. Die  grundlegende  Erwägung  aber  war  offenbar  die  rein 
politische:  welche  Länder  können  wir  unter  den  augenblicklichen 
Verhältnissen  zu  erwerben  hoffen?  Erst  die  engere  Auswahl  ward 
dann  durch  andere  Ueberlegungen  bestimmt,  die  den  Wert  der  in 
Betracht  kommenden  Gebiete  abschätzten  und  zwar  nach  allgemein 
politischen,  militärischen,  wie  endlich  auch  wirtschaftlichen  Gründen. 
1740  konnte  man  nur  Teile  des  Habsburgischen  Besitzes  ins  Auge 
fassen  und  von  diesen  erschien  Schlesien  besonders  wertvoll,  gewiß 
weil  wichtige  sächsische  Handelsverbindungen  durch  dies  Land 
führten,  und  die  sächsische  Industrie  es  teils  als  Produzent  teils  ab 
Konsument  brauchte,  aber  vor  allem  doch  auch,  weil  es  die  beste 
Verbindung  nach  Polen  bot.  Gerade  diese  Verbindung  war  Brühl 
das  Wichtigste.  Sie  bildete  die  Hauptforderung,  an  der  er  immer 
festhielt,  während  er  über  die  Größe  seines  Anteils  an  Schlesien  mit 
sich  handeln  ließ.  Diese  Verbindung  war  aber  nicht  als  Handelsver- 
bindung gedacht,  sondern  sollte  militärischen  und  politischen  Zwecken 
dienen.  Denn  sie  erschien  Brühl  auch  noch  annehmbar,  wenn  sie 
auf  Umwegen  um  Schlesien  herum  erlangt  würde.     Daß  auf  die 


Zieknrsch,  Sachsen  a.  Preußen  nm  die  Mitte  des  18.  Jh.  483 

frühere  Erwerbung  Polens  wirtschaftliche  Motive  einen  wesentlichen 
Einfluß  geübt  hätten,  kann  Ziekursch  nicht  beweisen.^)  Er  macht 
darauf  aufmerksam,  daß  der  Handel  nach  und  durch  Polen  für 
Sachsen  von  großem  Werte  gewesen  sei.  Natürlich  wurde  dies  auch 
von  den  Sachsen  erkannt.  Aber  wie  weit  hat  darauf  der  Besitz  der 
polnischen  Königskrone  eingewirkt?  Diese  Vorteile  kamen  Sachsen 
auch  ohnedem  zu  gute.  Dafür,  daß  inzwischen  etwa  solche  Motive 
besonders  wirksam  geworden  sind,  wird  auch  kein  Beweis  geliefert. 
Es  ist  doch  auch  sehr  bezeichnend,  daß  die  Forderung  der  Königs- 
würde  für  den  sächsischen  Kurfürsten  in  den  Verhandlungen  mit 
Oesterreich  eine  wichtige  Rolle  gespielt  hat,  von  der  bei  Ziekursch 
allerdings  nicht  viel  die  Rede  ist.  Daß  sie  bei  Oesterreich  großen 
Widerspruch  erregte,  war  doch  begreiflich.  Kämpfte  Brühl  wirklich 
um  die  wirtschaftliche  Existenz  Sachsens,  so  wäre  es  unverständlich, 
warum  er  diese  gamicht  damit  zusammenhängende  Frage  damit  ver- 
quickte. Wohl  begreiflich  aber  ist  das,  wenn  man  annimmt,  daß  es 
ihm  wesentlich  auf  die  Steigerung  des  Ansehens  und  der  Macht 
seines  Staates  und  seines  Herrn  ankam.  Mir  scheint,  daß  hier  theo- 
retische Erwägungen  und  Ueberzeugungen  des  Historikers  Ziekurschs 
Auffassung  mehr  beeinflußt  haben,  als  die  Quellenzeugnisse. 

Damit  kommen  wir  zu  der  andern  Frage,  ob  die  Politik  Brühls 
überhaupt  gerechtfertigt  und  zweckmäßig  war.  Ziekursch  vertritt 
mit  Energie  die  Forderung,  daß  man  eine  Persönlichkeit  zunächst 
und  vor  allem  aus  ihrer  Zeit  heraus  und  von  dem  Standpunkt  be- 
urteilen müsse,  den  sie  selbst  einnimmt.  Da  hat  er  völlig  Recht, 
wenn  er  die  Ausdehnungspolitik  der  Wettiner  im  18.  Jahrhundert 
nicht  anders  bewertet,  als  die  der  HohenzoUern,  der  Habsburger  und 
anderer  deutscher  Fürstenhäuser.  Sie  alle  nahmen  dabei  keine 
Bücksicht  auf  nationale  oder  religiöse  Ideen,  sie  folgten  nur  dem 
heißen  Wunsch,  den  Besitz  ihres  Hauses  und,  was  damit  meist  zu- 
sammenfiel, ihren  Staat  zu  vergrößern.  Die  nationalen  und  religiösen 
Unterschiede  bedeuteten  damals  in  der  Tat  nicht  so  viel,  die  Staats- 
kunst brauchte  mit  ihnen  nicht  zu  rechnen.  Und  so  ist  durchaus 
verständlich  und  nicht  au  sich  zu  verurteilen,  daß  Sachsen,  da  ihm 
die  Möglichkeit  sich  auszudehnen  auf  der  anderen  Seite  abgeschnitten 
war,  sein  Streben  nach  Osten  zu  auf  Polen  richtete.  Die  Möglich- 
keit ist  zuzugeben,  daß  sich  auf  diesem  Wege,  und  unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  vielleicht  nur  auf  diesem,  eine  neue  Groß- 
macht entwickeln  konnte. 

Die  Leiter   der  sächsischen  Politik,   die  diese  von  August  dem 

1)  Vgl.  jetzt  auch  den  Aufsatz  von  Haake,  Histor.  Yierteljahrsschr.  IX,  89  ff., 
dem  ich  freilich  in  der  Beurteilung  der  HohenzoUern  nicht  überall  folgen  kann. 


484  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

Starken  eingeschlagene  Richtung  verfolgten,  sind  in  dieser  Hinsicht, 
soweit  sie  es  mit  Kraft  und  Konsequenz  taten,  wenn  man  sie  aus 
ihrer  Zeit  heraus  beurteilt,  genau  so  hoch  einzuschätzen  wie  die 
Hohenzollern.  Aber  daneben  hat  der  Historiker  doch  auch  von  der 
späteren  Entwickelung  rückschauend  die  Ziele  und  Bestrebungen  der 
Personen  zu  beurteilen.  Ziekursch  zieht  hierfür  nur  die  wirtschaft- 
lichen Momente  in  Betracht.  Diese  können  aber  für  sich  allein  nie 
ausschlaggebend  sein.  Ihre  Entwicklung  ist  vielmehr  ganz  von  der 
der  allgemeinen  politischen  Verhältnisse  abhängig,  wie  gerade  das 
Beispiel  Sachsens  beweist,  dessen  natürliche  wirtschaftliche  Fortbildung 
sich  an  die  Elbe  hätte  anschließen  müssen.  Das  halbe  Jahrhundert, 
das  den  Sachsen  vor  dem  mächtigen  Erwachen  der  nationalen  und 
religiösen  Idee  noch  zur  Verfügung  stand,  hätte  nicht  mehr  ausge- 
reicht, um  ihnen  ihr  Uebergewicht  zu  sichern.  Im  großen  weltge- 
schichtlichen Zusammenhang  aufgefaßt,  erscheinen  ihre  Ziele  nicht 
wesentlich  verschieden  von  der  Erwerbung  der  englischen  Königs- 
würde durch  Hannover,  oder  von  gelegentlichen  vergeblichen  Be- 
mühungen der  Hohenzollern  um  die  schwedische  oder  russische 
Krone,  sie  waren  höchst  bedenklich  und  unvorteilhaft  für  die  Ent- 
wicklung des  Stammlandes  der  Monarchie,  dessen  eigentliche  Inter- 
essen dabei  gegenüber  denen  des  größeren  fremden  Landes  zu  kun 
kamen.  Das  Verhältnis  von  Sachsen  zu  Polen  konnte  doch  nie 
ähnlich  dem  von  Oesterreich  zu  Ungarn  werden,  das  schon  Jahr- 
hunderte lang  durch  deutsche  Kultur  und  Kriegszüge  mit  dem  Haupt- 
lande  verbunden  war.  Wie  schwer  hat  selbst  Preußen  später  trotz 
seiner  günstigen  Lage  und  seiner  größeren  Macht  noch  an  dem  Be- 
sitze polnischer  Gebietteile,  die  es  nach  den  Maximen  der  Staats- 
kunst des  18.  Jahrhunderts  erwarb,  getragen,  so  daß  seine  Regene- 
ration erst  möglich  war,  nachdem  es  sie  wieder  verloren  hatte !  Eine 
Großmacht  mit  deutschem  Charakter,  und  nur  das  konnte  auf  die 
Dauer  eine  vorteilhafte  Entwickelung  Sachsens  bedeuten,  wäre  bei 
einem  Gelingen  der  Pläne  Augusts  des  Starken  wohl  schwerlich  ent- 
standen. Man  kann  ihm  und  seinem  Nachfolger  keinen  Vorwurf 
daraus  machen,  daß  er  das  nicht  voraussah,  er  urteilte  wie  seine 
Zeit.  Der  Historiker  wird  diese  Erwägungen  nicht  als  Maßstab  für 
ihre  persönliche  Beurteilung  anwenden,  aber  er  muß  sie  doch  zu 
ihrer  Würdigung  verwerten. 

Beschäftigen  wir  uns  nach  diesen  Bemerkungen  allgemeiner  Art 
noch  einen  Augenblick  mit  den  speziellen  Resultaten  von  Zieknrschs 
Untersuchung,  so  kann  ich  dem  Verfasser  auch  da  nicht  überall 
folgen.  Waren  die  Ziele  von  Brühls  Politik  auch  für  seine  Zeit 
richtig,  so  ist  das  Scheitern  seiner  Pläne  doch  nicht  nur  dadurch 


Zieknrsch,  Sachsen  u.  Preußen  um  die  Mitte  des  18.  Jh.  485 

verursacht  worden,  daß  seinem  Staate  die  nötige  Kraft  dazu  fehlte, 
sondern  wesentlich  auch  durch  die  Persönlichkeit  des  Ministers  selbst. 
Er  führte  seine  Politik  eben  nicht  energisch  und  zielbewußt  durch. 
Man  kann  durchaus  nicht  sagen,  daß  er  alles  auf  eine  Karte,  die 
Erwerbung  Niederschlesiens,  gesetzt  habe,  denn  er  wagte  das  hohe 
Spiel  gamicht  wirklich  zu  spielen.  Er  machte  nicht  selbständig  Po- 
litik, sondern  ließ  sich  treiben.  Ziekursch  betont  mit  Recht,  daß  er 
erst  Ende  Juli  wirklich  Unterhandlungen  mit  Frankreich  angeknüpft 
habe.  Das  ist  über  ein  Vierteljahr,  nachdem  der  Präliminarvertrag 
mit  Oesterreich  verabredet  war,  in  dem  er  außer  dem  Landerwerb 
auch,  wie  oben  erwähnt,  die  Königswürde  für  Sachsen  gefordert  hatte. 
Inzwischen  war  nichts  Ernstliches  geschehen.  Die  Verhandlungen  über 
den  definitiven  Abschluß  hatte  Brühl  nicht  mit  aller  Kraft  gefördert, 
sondern  im  Gegenteil  erschwert  dadurch,  daß  er  seine  Ansprüche 
immer  höher  schraubte.  Allein  Maria  Theresia  und  die  allgemeine 
Lage  für  das  Scheitern  des  Bündnisses  verantwortlich  zu  machen, 
geht  nicht  an.  Was  Ziekursch  von  König  Georg  sagt,  daß  er  un- 
fähig zu  einem  tatkräftigen  Entschluß  gewesen  sei,  trifft  auch  ganz 
auf  Brühl  zu.  Er  wollte  möglichst  große  Vorteile  herausschlagen, 
aber  möglichst  nichts  dafür  leisten.  Der  Grund,  warum  er  so  lange 
von  Frankreich  nichts  wissen  wollte,  scheint  mir  nicht  darin  zu 
liegen,  daß  er  annahm,  bei  einem  Bunde  mit  Frankreich  Nieder- 
schlesien nicht  bekommen  zu  können,  sondern  daß  er  sein  Ziel  ohne 
kriegerische  Anstrengung  durch  eine  übermächtige  Demonstration 
gegen  Preußen  zu  erreichen  hofifte.  Denn  er  hat  ja  offenbar  auch 
noch  im  August  die  Erwerbung  jenes  Landstriches  bei  Frankreich 
durchzusetzen  gehofft.  Deshalb  bringt  auch  noch  nicht  das  Ver- 
sagen der  Hannoverschen  Hülfe,  sondern  erst  die  Nachricht  von  dem 
tatkräftigen  Eingreifen  Frankreichs,  wodurch  solche  Hoffnung  zer- 
stört wurde,  den  Umschwung.  Das  zaudernde  Verhalten  Mitte  Juli 
zeigt  übrigens  auch  nicht  gerade  die  Art  eines  großen  Politikers. 
Genau  denselben  Charakter  hat  seine  Politik  auch  nachher,  als  er 
sich  dem  antiösterreichischen  Bunde  anschließen  wollte,  wie  Ziekursch 
einmal  selbst  richtig  bemerkt,  und  die  Sache  nun  umgekehrt  zu  Un- 
gunsten Oesterreichs  zu  liegen  schien.  Immer  ist  es  Scheu  vor  ent- 
scheidendem Handeln.  Gewiß  war  der  Frankfurter  Traktat  eine 
Niederlage  seiner  Politik;  er  schloß  ihn  nur  ab,  weil  er  mußte.  Die 
Niederlage  bestand  doch  aber  nur  darin,  daß  er  sich  mit  den  Vor- 
teilen begnügen  mußte,  die  ihm  bewilligt  wurden  und  die  ihm  minder- 
wertig schienen.  Daß  dieses  Bündnis  ihm  an  sich  nicht  widerwärtig 
war,  wird  am  besten   dadurch  bewiesen,  daß  er  gerade  in  dieser 


486  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

Verbindung  sich  wirklich  zum  Handeln  aufraffte,  nachdem  er  die 
Bedingungen  für  sich  verbessert  zu  haben  glaubte. 

Man  kann  also  meines  Erachtens  nicht  ganz  allgemein  behaupten, 
daß  Sachsen  zu  dem  Bündnisse  gezwungen  wurde,  und  die  Folgerung, 
die  Ziekursch  aus  diesem  von  ihm  aufgestellten  Satze  zieht,  ist  mir 
nicht  deutlich  geworden.  Er  zeigt,  daß  Brühl  nach  Abschluß  des 
Traktats  eine  günstigere  Konstellation  benutzte,  um  vorteilhaftere 
Bedingungen  herauszuschlagen.  Man  kann  wohl  fragen,  ob  das 
nicht  auch  geschehen  wäre,  ohne  jenen  Druck,  den  die  Alliierten  auf 
Sachsen  ausgeübt  hatten,  wo  man  doch  aus  Ziekurschs  Buch  sieht, 
wie  Brühl  bei  jeder  Gelegenheit  geradezu  ausschweifende  Forderungen 
erhebt.  Und  ist  dadurch  wirklich  der  Gang  des  Krieges  wesentlich 
beeinflußt  werden?  So  dankenswerte  neue  Aufklärungen  über  den 
Herbslfeldzug  von  1741  Ziekursch  im  Einzelnen  giebt;  ich  kann  nicht 
finden,  daß  er  jene  These  beweist.  Zunächst  wurde  zwar  durch  die 
von  neuem  geltend  gemachten  Wünsche  Brühls  der  Aufbruch  der 
sächsischen  Truppen  etwas  verzögert,  aber  bald  trat  als  wesentlicher 
Beweggrund  für  das  Zaudern  offenbar  Mißtrauen  in  die  Leistungen 
der  Verbündeten,  und  zwar  ebensowohl  der  Bayern  und  Franzosen, 
wie  der  Preußen,  hinzu.  Die  Reibungen,  die  jeder  Koalition  ver- 
hängnisvoll werden,  machten  sich  bemerkbar.  Dieses  Zaudern  beein- 
flußte dann  wohl  die  Feldzugspläne  Belleisles,  aber  Ziekursch  zeigt 
gerade,  wie  diese  auf  den  Gang  der  Operationen  bei  der  Donauarmee 
gar  nicht  einwirkten.  Die  Sachsen  hätten  wohl  dem  Feldzug  eine 
andere  Wendung  geben  können,  dann  hätte  aber  nicht  ein  Brühl  die 
Leitung  des  Staats  in  der  Hand  haben  müssen. 

Fasse  ich  kurz  zusammen,  so  scheint  mir,  daß  Ziekursch  durch 
seine  solide,  anregende  Arbeit  die  Politik  Brühls  in  eine  richtigere 
Beleuchtung  gerückt  hat,  und  einen  großen  Zug  in  ihr  nachweist, 
daß  er  sich  aber  dadurch  verleiten  läßt,  ihre  Bedeutung  im  Zu- 
sammenhange der  historischen  Entwickelung  und  vor  allem  die  per- 
sönliche Leistung  Brühls  zu  überschätzen. 

Göttingen  L.  MoUwo 


Oskar  Crlste,  Kriege  unter  Kaiser  Josef  II.  Nach  den  Feldakten  and 
anderen  authentischen  Quellen  bearbeitet  in  der  kriegsgeschichtlichen  Abteünng 
des  k.  o.  k.  Kriegsarchiys.  Mit  einer  Uebersichtskarte  von  Mitteleuropa,  sechs 
Beilagen  und  zwölf  Textskizzen.  Wien  1904.  L.  W.  Seidel  &  Sohn.  XI,  886  S. 
Geh.  Mk.  15. 

Hauptmann  Criste,  der  auch  den  siebenten  Band  des  öster- 
reichischen Generalstabswerkes  über  den  Oesterreichischen  Erbfolge- 
krieg bearbeitet  hat,  will  mit  dem  vorliegenden  Werke  auf  die  Dar- 


Criste,  Kriege  anter  Kaiser  Josef  II  487 

Stellung  der  Kriege  Oesterreichs  gegen  das  revolutionäre  Frankreich 
vorbereiten,  die  demnächst  vom  k.  und  k.  Generalstab  veröffentlicht 
werden  soll.  In  der  wichtigen  »Vorbemerkung<  wird  die  Notwendig- 
keit einer  solchen  Vorbereitung  dargelegt.  >Die  österreichischen 
politischen  und  militärischen  Führer  in  dem  Kampfe  Oesterreichs 
gegen  Frankreich  hatten  ihre  erste  Schule  im  Theresianischen  und 
Josefinischen  Zeitalter  durchgemacht;  sie  lebten  noch  in  den  An- 
schanungen  jenes  Zeitalters  und  wirkten  dementsprechend  auch  in 
dem  Geiste  derselben<.  Also  ist  die  damalige  Kriegführung  wie 
Politik  nicht  zu  verstehen  ohne  Kenntnis  der  Josefinischen  Kriege. 
Besonders  wichtig  ist  hier,  wie  Criste  richtig  und  bedeutsam  betont, 
die  für  Oesterreich  verhängnisvolle  Verschiedenheit  der  Strategien 
des  18.  und  des  19.  Jahrhunderts. 

So  beginnt  denn  Criste  mit  einer  Uebersicht  über  die  allge- 
meine politische  Lage  um  1765.  Er  charakterisiert  dann  Josefs 
Stellung  als  Mitregent,  ohne  indes  die  eigenartigen  Schwierigkeiten 
dieser  Stellung  besonders  stark  zu  betonen.  Darauf  geht  er  zur 
Darstellung  der  Kriege  und  verständigerweise  auch  der  Politik  Josefs 
über.  Er  erzählt  die  sogenannte  erste  polnische  Teilung  in  der  all- 
gemein angenommenen  Weise  und  schließt  daran  die  Wegnahme  der 
Bukowina  durch  Oesterreich. 

Eingehend  ist  der  Bayrische  Erbfolgekrieg  dargesteUt,  und  zwar 
wegen  der  großen  Bedeutung,  die  er  für  die  Ausbildung  von  öster- 
reichischen und  preußischen  Feldherren,  wie  Albert  von  Sachsen- 
Teschen,  Wurmser,  Clerfayt,  Allvintzy,  Quosdanovich,  Braunschweig, 
MöUendorff,  Hohenlohe  hatte:  >Für  die  Epigonen  ist  er,  wiewohl  er 
sich  weder  durch  kühne  Operationen  noch  durch  entscheidende 
Schlachten  auszeichnet,  von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung. 
Auf  die  Entwickelung  der  Feldherrenkunst  der  damaligen  Zeit  hat 
dieser  Krieg  den  höchsten  Einfluß  ausgeübt <.  Dies  wird,  nachdem 
die  Tatsachen  ohne  Betrachtungen  hintereinander  erzählt  sind,  in  der 
angehängten  Kritik  ausgeführt.  Die  Erzählung  geht  auf  alle  nötigen 
Einzelheiten  ein,  ist  aber  doch  von  gedrängter  Kürze.  Zu  erwähnen 
wäre  daraus  Folgendes:  Der  Vormarsch  des  rechten  Flügels  des 
Prinzen  Heinrich  gegen  Melnik  (an  Elbe  und  Moldau)  >  bezweckte 
nichts  anderes  als  Demonstrationen  zu  machen  und  dabei  die  Gegend 
anszufouragieren,  um  seinen  Entschluß,  aus  Böhmen  nach  Sachsen 
abzuziehen,  leichter  ausführen  zu  können <.  Sein  Gegner  Loudon 
aber  erblickte  darin  >die  Absicht,  seine  linke  Flanke  zu  umgehen, 
indes  das  Gros  des  Prinzen  Heinrich  zum  Frontalangriff  schreite«.  ^- 
Die  Detachienmgen  Friedrichs  nach  Oberschlesien  waren  Folge  der 
Bedrohung  der  Provinz  durch  die  mährischen  Truppen.  Daß  Friedrich 


488  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

damit  allmählich  den  Krieg  nach  Mähren  als  Hauptschauplatz  habe 
verlegen  wollen,  nimmt  Criste  nicht  an. 

Die  erwähnte  Kritik  gibt  auch  einige  Aufklärungen,  die  man  in 
der  Darstellung  vermißt :  Warum  hat  Friedrich  seinen  ursprünglichen 
Plan,  mit  der  I.  Armee  in  Mähren  einzubrechen,  nicht  ausgeführt? 
Eine  ausdrückliche  Autwort  erfolgt  erst  jetzt  (S.  129):  weil  die 
Hauptmacht  der  Oesterreicher  nicht  in  Mähren,  sondern  in  Böhmen 
stand  und  er  also  den  Prinzen  Heinrich  in  zu  große  Gefahr  gebracht 
hätte.  Warum  hat  er  aber  überhaupt  den  Prinzen  mit  einer  II.  Armee 
durch  Sachsen  nach  Nordböhmen  detachiert?  Die  Antwort  ist  meines 
Erachtens  in  den  Angaben  über  Friedrichs  Ziele  (S.  69  u.  129)  nicht 
deutlich  genug  gegeben;  sich  nach  einer  entscheidenden  Schlacht 
den  Weg  an  die  Donau  zu  bahnen,  kann  nicht  sein  Hauptziel  ge- 
wesen sein,  sondern  dies  muß  die  Räumung  Böhmens  durch  die 
Oesterreicher  gewesen  sein.  Sonst  hätte  er  die  prinzliche  Armee  an 
sich  ziehen  müssen.  Bezeichnenderweise  hat  er  vielmehr  mit  der 
Hauptarmee  nur  mittelbar  den  Hauptzweck  fördern  wollen,  die  Armee 
des  Prinzen  sollte  die  Hauptsache  tun.  Wie  sind  endlich  die  Ope- 
rationen Friedrichs  gegen  die  Elbstellung  zu  beurteilen?  Criste  meint, 
er  hätte  zum  Angriff  schreiten  können  und  sollen,  ehe  die  öster- 
reichische Armee  vollständig  in  die  Stellung  eingerückt  war  (vor  dem 
9.  7.).  Aber  Friedrich  hat  ja  nicht  einmal  eine  Umgehung  ihrer 
Flanke  durchführen  können,  obgleich  er  darin  garnicht  gestört  wurde, 
und  hat  nicht  einmal  an  Stellen  angegriffen,  wo  auch  nachher  ihre 
Truppenmacht  gering  war.  Ich  glaube  nicht,  wie  Criste,  daß  Alter 
und  Kränklichkeit  so  lähmend  auf  seine  Unternehmungslust  gewirkt 
und  seine  physischen  Kräfte  so  wenig  mehr  zur  persönlichen  Leitung 
eines  großen  Unternehmens  ausgereicht  haben.  Sondern  ich  glaube: 
er  hat  aus  vielen  üblen  Erfahrungen  den  richtigen  Schluß  gezogen, 
daß  gegen  feste  Stellungen,  auch  wenn  sie  von  geringerer  Truppen- 
zahl besetzt  wären,  mit  seinen  Soldaten,  also  mit  den  damaligen 
Soldaten  überhaupt,  kein  Sturm  zu  wagen  sei.  Bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  erkennt  dies  auch  Criste  an,  wenn  er  sagt:  »Mit  Rück- 
sicht auf  die  Lineartaktik,  welche  keine  Mittel  kannte  zur  Durch- 
führung hartnäckiger  Oertlichkeitsgefechte,  war  die  Stellung  an  der 
Elbe  gewiß  eine  gute  und  schwer  angreifbare.«  Er  verfolgt  aber 
diesen  Gedanken  leider  nicht.  Sonst  würde  er  darauf  kommen,  die 
vielseitige  Bedingtheit  und  Beschränktheit  der  Kriegführung  im  18. 
Jahrhundert  zu  bedenken  und  daraus  die  Antwort  auf  die  Frage  zu 
finden:  Woher  kommt  es,  daß  selbst  die  Genies  in  dieser  Zeit  nach 
heutiger  Auffassung   Fehler   machen,   und   woher   kommt   das  Be- 


Criste,  Kriege  unter  Kaiser  Josef  11  489 

streben,  >jener  Kriegsperiode,  alles  durch  strategische  Manöver  ohne 
Schlachten  erreichen  zu  wollen«? 

Für  Oesterreichs  Militärs  war  es  jedenfalls,  wie  Criste  zeigt, 
yerhängnisvoU,  daß  sie  mit  dieser  Kriegführung  jetzt  selbst  Friedrich 
gegenüber   einen   Erfolg  gehabt   hatten.     Auch   der  nun   folgende 
Türkenkrieg  hat  sie  zu  keiner  anderen  Einsicht   bringen   können. 
Denn  es  war   ein  Koalitionskrieg,  und  alle  Nachteile  und  Mängel 
wurden  hierbei   natürlich   aus   schlechter   Unterstützung   durch   die 
Russen  erklärt.    Und  doch  hat  auch  Josef  den  Krieg  ohne  rechte 
Energie  geführt.    Er  hat  selbst  im  Juli  1788  geschrieben:  »Was  die 
Türken  betrifft,  so  scheinen  sie  uns  vergessen  zu  haben,  und  wir 
erwidern  ihnen  ein  Gleiches«.    Diese  Untätigkeit  entstand  aus  dem 
System  von   Josefs   militärischem   Berater  Lacy,   das   hier   wie  im 
bayrischen  Erbfolgekrieg  Anwendung  fand,  dem  >heute  schwer  ver- 
ständlichen System,   durch  Deckung  der  Grenzlinien  entscheidende 
Erfolge  herbeizuführen«.  Es  wurde  ein  Kordon  aus  fünf  Armeekorps 
gebildet,   der  die  fast  200  Meilen  lange  Grenze  decken  sollte,   und 
während  die  Hauptarmee  eigentlich  bereit  bleiben  sollte,  wo  es  nötig 
wäre,  mit  gesamter  Macht  zu  Hilfe  zu  kommen,  wurde  auch  sie  zer- 
splittert, weil  man  überall  zugleich,  und  ehe  es  nötig  war,  Hilfe  bringen 
wollte.    So  wurde  aus  dem  ursprünglichen  Feldzugsplan,  der  überall 
eine  frische  Offensive  in  Aussicht  nahm,  das  Gegenteil.   »Durch  diese 
Passivität  in  der  Kriegführung  der  Oesterreicher  waren  die  Türken 
in  der  Lage,  den  langen  Kordon  zu  beschäftigen  und  ihn  schließlich 
an  dem   selbstgewählten  Punkte   zu   durchbrechen  <    (S.  162).     Sie 
brachen  mit  einer  überlegenen  Macht  von  Orsova  her  ins  Banat  ein. 
Der  Kaiser  rückte  nur  mit  der  Hälfte  der  Hauptarmee,  21  Bataillonen, 
32  Eskadronen,  zu  Hilfe,  ließ  die  andere  Hälfte  bei  Semlin  zurück 
und  schickte  auch  noch  acht  Bataillone,  acht  Eskadronen  nach  an- 
deren, an  ihm  bedroht  scheinende  Punkte.    Infolgedessen  hatten  die 
Türken  an  vielen  Stellen   die  Ueberlegenheit  oder  schienen  sie  we- 
nigstens  zu   haben.     Der   Kaiser   wich   ohne   Schlacht  zurück,   das 
Banat  wurde  von  den  Feinden  verheert.    Ganz  ähnlich  ging  es  in 
Siebenbürgen,  und  der  einzige  zu  energischem  Angriff  geneigte  Be- 
fehlshaber, Prinz  Josias  Koburg  in  Galizien,  errang  zwar  kleine  Vor- 
teile, wurde  aber  vom  Kaiser  an  ihrer  Ausnutzung  gehindert.    So 
war  man  fast  auf  der  ganzen  Linie  geschlagen.   Ein  Glück  war  nur, 
daß  die   Türken  schließlich   keine   bessere   Strategie  befolgten  als 
Josef.    Ging  dieser  schon  nicht  auf  die  Vernichtung  der  feindlichen 
Streitmacht,  sondern  nur  auf  die  Besetzung  von  Landstrecken  aus, 
80  begnügten  sich  die  Türken  gar  damit,  den  Feind  durch  Plünde- 
rung  seines   Gebietes   geschädigt   zu  haben   und   im   übrigen  ihre 

Om.  pL  Au.  190«.  Nr.  6.  34 


490  Qött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

Grenzen  zu  schützen.  Sie  zogen  sich  wieder  aus  dem  Banat 
zurück. 

Immerhin  sah  Josef  doch  ein,  daß  er  den  nächsten  Feldzag 
energischer  führen  müsse,  und  folgte  den  Vorschlägen  des  F.  M. 
Hadik,  der  die  Türken  gleich  zu  Anfang  des  Feldzuges  anzugreifen 
riet.  Jetzt  durfte  sich  Koburg  mit  Suworow  vereinigen  und  ener- 
gisch vorgehen,  und  so  wurde  durch  die  Siege  bei  Focsani  und 
Martinesci  die  Walachei  gewonnen.  Loudon  wurde  an  die  Spitze  der 
Hauptarmee  gestellt  und  nahm  Belgrad.  Aber  auch  die  Erfolge 
dieses  Feldzuges  wurden  durch  die  Politik  getrübt.  Und  wie  Criste 
der  Darstellung  des  Krieges  mit  Recht  die  Geschichte  des  russischen 
Bündnisses  vorausgeschickt  hat,  so  schildert  er  jetzt  das  Gewitter, 
das  sich  am  politischen  Himmel  Oesterreichs  zusammenzog,  und 
schließt  mit  Josefs  traurigem  Ende. 

Seine  Darstellung  beruht  auf  der  Durchforschung  der  Literatur 
und  des  Aktenmaterials.  Das  Buch  ist  mit  urkundlichen  Beilagen, 
als  Ordres  de  bataille,  Verlustlisten  und  Berichten,  mit  Karten  und 
Skizzen  ausgestattet,  deren  Benutzung  durch  ein  umfassendes  Re- 
gister wesentlich  erleichtert  wird.  Bei  der  Kürze,  die  sich  der  Ver- 
fasser zum  Gesetz  gemacht  hat,  konnten  nicht  alle  Truppenverschie- 
bungen  immer  erwähnt  werden,  sodaß  kleine  Aenderungen  der 
Truppenbestände  manchmal  unerklärt  bleiben,  aber  eben  nur  kleine 
Aenderungen ;  was  unbedingt  nötig  war,  ist  auch  in  dieser  Beziehung 
geschehen.  —  Daß  Erwägungen  über  die  Gründe  der  Handelnden, 
über  die  Notwendigkeit  ihrer  Maßregeln,  wie  es  scheint,  grundsätz- 
lich aus  der  Darstellung  ausgeschaltet  und  in  die  Kritik  verbannt 
sind,  wirkt  störend,  wie  ich  erwähnt  habe.  Die  Gründe  sind  meines 
Erachtens  klar:  zwischen  historischer  Betrachtung,  die  die  Motive 
zu  verstehen  sucht,  und  kritischer,  die  sie  beurteilt,  immer  streng 
zu  scheiden  ist  schwer.  Der  Offizier  tritt  mit  einem  festen,  aus  den 
Prinzipien  seiner  Zeit  entnommenen  Maßstab  an  die  Kriegsgeschichte 
heran  und  wird  stets  geneigt  sein,  ihre  Vorgänge  damit  zu  messen, 
zu  kritisieren.  So  hat  auch  bei  Criste  die  Kritik  das  Uebergewicht 
über  die  objektive  Kausalbetrachtung.  Bayrischer  Erbfolgekrieg  und 
Türkenkrieg  sind  Musterbeispiele  der  von  Delbrück  so  genannten 
> Ermattungsstrategien  In  beiden  wirkt  beständig  bis  ins  einzelne 
eine  Politik,  die  ihnen  verhältnismäßig  geringfügige  Ziele  steckt,  so 
daß  die  Besetzung  von  Gebiet  das  A  und  0  ist.  Wie  sich  daraus 
im  Verein  mit  dem  Söldnerheerwesen,  der  Magazinverpflegung  und 
Lineartaktik  die  befolgte  Strategie  mit  Notwendigkeit  ergibt  und 
selbst  Friedrich  und  Loudon  zwingt,  das  kann  man  auch  aus  Gristes 
Darstellung  entnehmen.   Aber  er  sagt  es  uns  nicht. 

Beriin  P.  Gerber 


Bacher,  Die  deatsche  Sprachinsel  Lusem  491 


Jotef  Baeher,  Die  deatsche  Sprachinsel  Lusem.  (Quellen  und  For- 
schungen zur  Geschichte,  Literatur  und  Sprache  Oesterreichs  und  seiner  Kron- 
länder, durch  die  Leo-Gesellschaft  hrs.  von  J.  Hirn  und  J.  £.  Wackemell, 
Band  X).  Innsbruck  1905.  Wagnersche  Universitätsbuchhandlung.   XY,  440  S. 

Im  Jahre  1857  wurde  der  Kurat  Zuchristian  nach  dem  einige 
Meilen  östlich  von  Trient  gelegenen  Lusern  versetzt.  Zu  seiner 
größten  Ueberraschung  fand  er  hier  mitten  im  Italienischen  eine 
deatsche,  bisher  unbeachtete  Mundart,  deren  sich  alsbald  zwei  Tiroler 
Volksforscher,  Ignaz  Zingerle  und  Schneller,  eifrigst  annahmen.  Das 
Leben  dieser  noch  nicht  tausend  Seelen  starken  Gemeinde  schildert 
uns  der  Kurat  Josef  Bacher,  der  sich  sechs  Jahre  darin  aufgehalten 
hat,  gut  ausgerüstet  mit  den  erforderlichen  geschichtlichen  und 
sprachlichen  Kenntnissen.  Dieses  Leben  ist  ein  Kampf  gegen  die 
harte  Natur  und  die  unversöhnlichen  italienischen  Nachbarn.  Denn 
Lusem  liegt  auf  einer  rauhen,  1333  Meter  hohen  Hochebene,  arm 
an  Acker  und  Wiese,  Wald  und  Wasser,  und  wird  fortwährend 
bedroht  von  der  Irredenta  durch  ihre  Anschläge  auf  das  Deutsch- 
tum. Noch  am  Ende  das  Jahres  1905  wurden  die  deutschen  Be- 
wohner so  von  ihr  gereizt,  daß  sie  die  italienische  Schule  stürmen 
wollten. 

Lusern  scheint  eine  verhältnismäßig  junge  deutsche  Ansiedlung 
zu  sein,  die  im  siebzehnten  Jahrhundert  aus  ein  paar  Familien  be- 
stand. Erst  1715  erhielt  sie  eine  eigene  Kirche,  deren  Kuraten,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Sprache  der  Bevölkerung,  italienisch  amtierten,  bis 
jener  Zuchristian  das  Deutsche  auch  in  Kirche  und  Schule  zur  Gel- 
tung brachte.  Aber  seit  1878  säete  ein  modenesischer  Hilfspriester 
Zwietracht,  die  bis  heute  fortwuchert.  Die  Bedeutung  dieses  Kampfes 
greift  weit  über  diese  kleine  Gemeinde  hinaus;  es  beteiligen  sich 
an  ihm  einerseits  die  Lega  Nazionale,  andererseits  der  Allgemeine 
Deutsche  Schul  verein,  und  er  bildet  nur  einen  Teil  des  tausend- 
jährigen Ringens  der  deutschen  und  der  italienischen  Sprache  und 
Nationalität  in  diesem  südöstlichen  Alpengebiet.  Die  Luserner  Mund- 
art, eine  Tiroler  Mundart  mit  bairischer  Grundlage,  gehört  einem 
früher  viel  weiteren  und  vielleicht  zusammenhängendem  Sprachgebiete 
an,  das  auch  die  »sieben  und  dreizehn  Kommune <  der  südlichen 
Voralpen  umfaßte.  Es  erstreckte  sich,  wie  zahlreiche  Wald-  und 
Bergnamen,  Flur-,  Hof-  und  Personennamen  und  auch  einige  ältere 
Urkunden  bezeugen,  südlich  und  östlich  von  Vicenza  weit  in  die 
Ebene  hinein,  und  noch  1500  sprach  in  Trient  ein  Viertel  der  Be- 
völkerung deutsch.  Mit  dem  Sinken  der  deutschen  Kaisermacht  und 
dem  Aufschwung   der  italienischen  Literatur  und  Kultur  im   drei- 

34* 


492  Gdtt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

zehnten  Jahrhundert  sank  auch  der  Einfluß  der  deutschen  Sprache 
auf  diese  alpinen  Bevölkerungen,  und  das  Italienische  ist  noch  im 
Vordringen  begriffen. 

Nach  den  zwei  einleitenden  Kapiteln  bespricht  der  Verfasser  die 
Wohnung,  Nahrung  und  Lebensweise  der  Lusemer  im  dritten  Kapitel, 
im  vierten  Becht,  Brauch  und  Volksglaube,  im  fünften  Erzählung 
und  Lied,  Spiel  und  Brauch,  im  sechsten  die  Mundart  und  gibt  im 
siebenten  und  achten  eine  klare  Grammatik  und  ein  reichhaltiges 
Wörterbuch.  Aus  diesem  umfassenden  Material  seien  nur  einzelne 
Züge  hier  herausgegriffen.  Die  Küche  ist  der  Hauptraum  der  Woh- 
nung, heißt  auch  das  > Hause  und  scheint  höchst  altertümlich 
den  Herd  in  der  Mitte  zu  haben.  Die  Hauptspeisen  zeigen  die 
deutsch-italienische  Mischung,  es  sind  Sauerkraut  und  Pult,  d.  h. 
Polenta.  Dazu  Kartoffeln.  Die  Hauptgetränke  sind  Wein  und  Brannt* 
wein,  denen  oft  zu  eifrig  zugesprochen  wird.  Der  Pflug  wird  wegen 
Mangel  an  Zugtieren  und  auch  wegen  der  Lage  des  Ackerlandes 
nicht  verwendet.  Die  Weibsleute  lockern  das  Erdreich  mit  der  Haue, 
während  die  meisten  Männer  im  Sommer  auswärts  sehr  geschid[t 
Straßen-  und  Bahnbauten  ausführen.  Die  Heimat  behalten  sie  dabei 
sehr  lieb,  insbesondere  ihre  Mundart.  Beim  Begräbnis  wird  nicht 
nur  übermäßig  geweint  und  gekreischt,  sondern  werden  auch  nach 
einer  bestimmten  Melodie  die  Vorzüge  des  Verstorbenen  gepriesen. 
Ihr  Leben  ist  auch  arm  an  Festbräuchen,  zu  Ostern  und  Pfingsten 
fehlen  sie  ganz.  Bachers  Darstellung  des  Volksglaubens  folgt  zn  an- 
selbständig der  Mogk'schen  Mythologie  z.  B.  wenn  er  die  elfischen 
Geister  von  den  Dämonen  trennt  und  einen  eigenen  alten  Dämon 
Wodan  annimmt.  Das  Volkslied  ist  fast  ausgestorben,  aber  manche 
Märchen  und  Sagen  echt  deutschen  Charakters  —  47  werden,  zum 
Teil  in  der  Mundart,  mitgeteilt  —  haben  sich  lebendig  erhalten.  Von 
den  Kartenspielen  ist  das  auch  in  Deutschtirol  verbreitete  >Watten<, 
von  Bewegungsspielen  das  ebenfalls  weit  verbreitete  Bocciaspiel  sehr 
beliebt. 

Was  die  Mundart  betrifft,  so  ist  zu  bemerken,  daß  Lusem  keine 
gemischt-sprachliche  Gemeinde  ist  und  das  Deutsche  nicht  nnr  von 
der  deutschen,  sondern  auch  von  der  welschen  Partei  gesprochen 
wird.  Am  nächsten  verwandt  ist  das  Lusemische  dem  Cimbrischen. 
Die  Grammatik  hat  ganz  deutsche  Bauart,  nur  im  Satzbau,  in  der 
Stellung  des  Objekts  und  der  des  Verbum  finitum  im  abhängigoi 
Satz,  folgt  sie  der  italienischen  Konkstruktionsweise.  Viel  tiefer  ist 
das  Italienische  in  den  Lusemischen  Wortschatz  eingedrungen.  Etwa 
ein  Drittel  desselben  mag  italienisch  sein. 

Das  tüchtige  Buch  ist  ein  wertvoller  Beitrag  zur  dentschen 


Bacher,  Die  deutsche  Sprachinsel  Lusem  493 

Volkskande  und  stellt  uns  mit  sicheren  Zügen  vors  Auge  ein  wackeres 
deutsches  Völkchen,  tief  religiös,  bieder,  offen,  ehrlich,  sittlich  und 
gastfrei,  doch  nicht  ohne  Genußsucht,  lustig,  lebhaft,  schlagfertig 
witzig  in  Rede  und  Widerrede. 

Freiburg  i.  B.  E.  H.  Meyer 


Emil  GQUer,  Der  Liber  Taxarum  der  päpstlichen  Kammer. 
Eine  Studie  über  seineEntstehung  undAnlage.  Rom,  Löscher 
1905.  104  S.  (Separatabdruck  aus  »Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen 
Archiven  und  Bibliotheken,  herausgegeben  vom  Königl.  Preuß.  Hist.  Institut  in 

,  Rome.  Bd.  Vm,  Heft  1  u.  2). 

Mit  Freuden  bemerkt  man  in  den  letzten  Jahren,  wie  kundige 
Hände  sich  rühren,  um  unsere  Kenntnisse  zur  Geschichte  der  päpst- 
lichen Verwaltung  immer  mehr  zu  vertiefen  und  endlich  den  Weg 
zu  einer  zusammenfassenden  päpstlichen  Verwaltungsgeschichte  zu  be- 
reiten. Jahrelang  hat  das  Oesterreichische  Institut  in  Rom  hierbei 
die  führende  Rolle  übernommen;  denn  die  Untersuchungen  über 
päpstliche  Kanzlei  und  Kammer,  die  in  den  Mitteilungen  zur  Oester- 
reichischen  Geschichtsforschung  niedergelegt  sind,  bilden  heute  noch 
die  Richtlinien,  an  denen  ähnliche  Arbeiten  sich  orientieren  müssen, 
nnd  die  Grundlagen,  auf  denen  weiter  zu  bauen  ist.  Und  doch  be- 
merkt man  an  keinem  Punkte  mehr  als  gerade  hier,  daß  mit  der 
fortschreitenden  Erkenntnis  auch  die  Anforderungen  gesteigert  werden. 
Ottenthals  Kanzleiregeln  wie  Tangls  Kanzleiordnungen  dienen  immer 
noch  als  unentbehrliche  Handbücher,  die  auf  den  ersten  Blick  allen 
Anforderungen  gerecht  zu  werden  scheinen.  Vielleicht  geht  es  nicht 
mehr  lange,  bis  ihnen  eine  neue  kritische  Ausgabe  Platz  macht. 
Wer  einmal  in  diesen  Dingen  gearbeitet  hat  und  sich  mit  dem 
»iurare  in  verba  magistric  nicht  zufrieden  gab,  wird  wenigstens  das 
Bedürfnis  sehr  lebhaft  empfunden  haben.  Die  gleiche  Erscheinung 
zeigt  sich  auf  einem  ganz  speziellen  Gebiete,  in  der  Frage  nach  der 
Entstehung  und  Entwicklung  des  Taxbuches  der  päpstlichen  Kammer. 
Als  Döllinger  im  Jahre  1863  angeblich  erstmals  das  Taxbucb  ver- 
öffentlichte, konnte  man  in  dieser  Edition  mit  Recht  eine  hervor- 
ragende Leistung  erblicken,  die  den  damaligen  Bedürfnissen  voll  und 
ganz  genügte.  Heute  zeigt  Göller,  wie  lückenhaft  und  unzuverlässig 
diese  Ausagbe  ist,  ebenso  wie  die  schon  früheren,  von  Döllinger  nicht 
gekannten  Drucke,  welche  bezeichneterweise  unter  der  polemischen 
Literatur  des  16.  Jahrhunderts  als  Angriffsobjekt  gegen  die  römische 
Kurie  eine  große  Rolle  spielten. 

Bevor  der  Verlasser  an  die  eigentliche  Behandlung  seines  Themas 


494  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  6 

herantritt,  macht  er  zunächst  auf  den  wichtigen  Unterschied  zwischen 
dem  Taxbuch  der  Kanzlei  und  dem  der  Kammer  aufmerksam. 
Letzteres,  das  er  allein  behandelt,  definiert  er  als:  >ein  in  der  ca- 
mera apostolica  und  der  camera  collegii  cardinalium  geführtes,  im 
Laufe  der  Zeit  allmählich  erweitertes  und  in  manchen  Teilen  umge- 
ändertes Verzeichnis  der  bischöflichen  Kirchen  und  servitienpflich- 
tigen  Abteien  und  der  bei  ihrer  Neubesetzung  nach  vorausgegangener 
Obligation  an  beide  Kammern  gleichmäßig  zu  entrichtenden  Taxe«. 
Diese  Definition  zeigt,  daß  die  Entstehung  des  Taxbuches  aufis 
innigste  mit  der  Ausbildung  des  Servitiumswesens  zusammenhängt, 
für  dessen  Geschichte  im  13.  Jahrhundert  OotÜob  bereits  vorge- 
arbeitet hat.  lieber  Gottlobs  Untersuchung  hinaus  gelingt  es  Göller, 
aus  einer  bisher  nicht  beachteten  Formel,  die  unter  Johann  XXIL 
bei  der  Fixierung  der  Servitientaxe  angewendet  wurde,  drei  wichtige 
Grundsätze  herauszuheben  (S.  18/19):  »1)  Zur  Zahlung  des  Servi- 
tiums  waren  zur  Zeit  Johanns  XXII.  nach  althergebrachter  Gewohn- 
heit diejenigen  Prälaten  gebalten,  die  entweder  dem  apostolischen 
Stuhle  providiert  oder  (auctoritate  eiusdem)  konfirmiert  wurden.  2)  Die 
Höhe  des  Einkommens  mußte  bei  Bistümern  wie  Abteien  die  Summe 
von  100  Goldgulden  erreichen.  3)  Als  Servitium  commune  war  ein 
Drittel  des  Gesamteinkommens  zu  entrichten<.  Bezüglich  des  dritten 
Punktes  wird  kaum  mehr  ein  Zweifel  an  der  Richtigkeit  aufkommm 
können.  Bei  der  Behandlung  des  ersten  Punktes  kommt  so  recht 
einmal  auf  Grund  von  Eubels  Hierarchia  die  Statistik  zu  ihrem 
Rechte  mit  dem  überraschenden  wie  interessanten  Resultate,  daß  sich 
bei  den  deutschen  Bistümern  eine  kontinuierliche  Provisionsreihe  erst 
im  14.  Jahrhundert  und  auch  da  zum  Teil  erst  spät  feststellen  läßt 
(S.  24),  entgegen  der  bisherigen  Annahme,  daß  schon  um  die  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts  beinahe  alle  Bischöfe  durch  den  Papst  provi- 
diert oder  konfirmiert  wurden.  Schwieriger  gestaltete  sich  die  Ver- 
folgung der  Frage,  ob  auch  in  der  Zeit  nach  Johann  XXII.  als  un- 
terste Einkommensgrenze  für  die  Erhebung  des  Servitiums  die  Summe 
von  100  Gulden  maßgebend  blieb.  Hier  scheinen  mir  GöUers  Aas- 
führungen nicht  konsequent  und  klar  genug  zu  sein.  Denn  gerade 
die  Berufung  auf  die  Taxgrenze  bei  den  päpstlichen  Reservationen 
und  die  Frage  nach  der  Entstehung  und  Höhe  der  Taxe  der  Kon- 
sistorialpfründen  sind  beides  Dinge,  bei  denen  wir  noch  ziemlich  im 
Finstern  tappen,  obwohl  Göller,  der  am  Sitze  der  Quellen  gleich- 
sam aus  dem  Vollen  schöpft,  auch  für  diese  Gebiete  einige  treffliche 
neue  Gesichtspunkte  beigebracht  hat. 

Die  folgenden  Kapitel  (3—5),  zugleich  die  wichtigsten,  sind  der 
Entstehung  des  Taxbuches  und  seiner  Ueberlieferung  gewidmet  Der 


Göller,  Der  Liber  taxarum  496 

apostolischen  Kammer  standen  in  der  ersten  Zeit  für  die  Bestimmung 
der  Servitiumshöhe  keine  anderen  Hilfsmittel  zu  Gebote  als  die 
Kammer-  speziell  die  Obligationsregister.  Hier  hat  Göller  erstmals 
auf  zwei  wichtige  Obligationsregister  (Obl.  Nr.  6  und  Cod.  Borghese 
125)  aufmerksam  gemacht,  deren  Indices  er  bereits  in  der  Römischen 
Quartalschrift  1904  als  die  direkten  Vorlagen  für  das  Taxbuch 
bezeichnete.  Im  Gegensatz  dazu  entscheidet  er  sich  in  vorliegender 
Arbeit  nur  für  eine  indirekte  Benutzung,  wozu  ihm  die  vielen 
Abweichungen  in  der  S.  51  mitgeteilten  Liste  veranlaGten.  Nach  ein- 
gehender Vergleichung  des  vatikanischen  Taxbuches  (Cod.  VA. 
bei  Göller)  mit  dem  Obligationsregister  Nr.  6  und  dessen  Fort- 
setzung glaube  ich  gleichwohl  die  Behauptung  erhärten  zu  können: 
Die  Indices  der  Obligationsregister  Nr.  6  und  dessen  Fortsetzung 
waren  in  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  das  eigentliche 
Taxbuch  der  päpstlichen  Kammer  und  bildeten  die  direkte  Vor- 
lage für  das  spätere  separate  Taxbuch,  da  die  in  genannten  Obli- 
gationsbänden stehenden  Taxen  in  alle  späteren  Taxbücher  aufge- 
nommen sind.  Zum  Beweise  ist  es  jedoch  notwendig,  bei  der  von 
Göller  S.  51  mitgeteilten  Tabelle  einige  Berichtigungen  und  Ergän- 
zungen anzubringen.  Die  Uebersicht  wäre  von  vornherein  erhöht 
worden,  wenn  die  Döllingersche  Liste,  auf  die  ja  doch  kein  Verlaß 
ist,  weggeblieben  wäre  und  die  Taxen  von  Obligation  6  und  dessen 
Fortsetzung  in  drei  Kolumnen  geteilt  worden  wären,  wovon  die  eine 
die  Taxe  des  Index  von  Obligation  Nr.  6,  die  andere  die  Taxe  des 
Textes  von  Oblig.  Nr.  6,  die  oft  mit  der  des  Index  nicht  über- 
einstimmt, die  dritte  endlich  die  Taxe  von  Cod.  Borghese  125,  wo 
Index  und  Text  übereinstimmen,  gebracht  hätte.  So  ist  Curonien. 
im  Taxbuch  mit  50  in  aniiquis  10()  eingetragen.  Oblig.  6  hat  die 
Taxe  100;  dessen  Fortsetzung  50.  Beides  ging  in  das  Taxbuch 
über.  Lavellen,  steht  im  Taxbuch  mit  70  alibi  200,  Die  Erklärung 
für  diese  Taxe  gibt  allein  Oblig.  6,  wo  im  Text  die  Taxe  70,  im 
Index  für  fol.  212  richtig  die  Taxe  70,  dagegen  für  fol.  196  die 
Taxe  200  steht.  Der  Schreiber  des  Index  ist  versehentlich  im  Text 
(fol.  196)  auf  die  nächstfolgende  Servitiumzahlung  gekommen,  die 
als  Taxe  200  hat!  Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  im  Taxbuch  (Cod. 
VA.)  das  alibi  200  von  zweiter  gleichzeitiger  Hand  zur  Taxe  70  hin- 
zugeschrieben wurde.  Aehnliches  gilt  von  Exonien.^  wo  der  Eintrag 
5000  alibi  6000  aus  der  Verschiedenheit  von  Index  und  Text  in 
Oblig.  6  sich  erklärt.  Bei  Faventin.  mit  der  Taxe  300  alibi  400, 
muß  schon  im  Jahre  1391  (cf.  Göller  S.  51  Anm.  3)  eine  Reduktion 
auf  300  stattgefunden  haben,  während  Oblig.  6  noch  die  Taxe  400 
bat,  vorausgesetzt,  daß  bei  Faventin,  keine  Verwechslung  mit  Faven, 


496  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  6 

vorgekommen  ist,  das  als  Taxe  300  bat,  was  sehr  leicht  möglieh 
sein  konnte.  So  wird  auch  Miden.  in  Ibernia  mit  Minden,  bei  Göller, 
Döllinger  und  in  den  Hss.  aus  Versehen  verwechselt.  Miden.  ist  im 
Taxbuch  eingetragen  mit  1000.  Im  Index  von  Oblig.  6  mit  500,  im 
Text  mit  1000,  in  der  Fortsetzung  von  Oblig.  6  mit  1000;  Minden. 
dagegen  mit  der  Taxe  400.  Das  geht  dann  durcheinander  and  so 
erhalten  wir  für  Minden,  bei  GöUer  400  alibi  500,  während  die 
Döllingersche  Reihe  1000  hat.  Der  Eintrag  bei  Farmen.  300  alibi 
2000  —  ein  zu  großer  Unterschied,  um  Reduktion  bezw.  Erhöhung 
anzunehmen  —  läßt  sich  vielleicht  aus  einer  Verwechslung  mit  Poeeii. 
erklären,  das  mit  der  Taxe  300  eingetragen  ist. 

Für  Onegnen.  in  Polonia  finde  ich  in  Oblig.  6  sowohl  im  Text 
wie  Index  die  Zahl  200  (Göller  5000),  während  das  Taxbuch  2000 
alibi  5000  hat,  wobei  ich  2000  als  Schreibfehler  für  200  halte. 

Bei  Pacten.  erklärt  sich  die  Taxe  100  alibi  200,  während  Oblig.  6 
und  dessen  Fortsetzung  200  hat,  daraus,  daß  nach  Eubel  Faden. 
bis  zum  Jahre  1399  mit  Liparen.  uniert  war,  zunächst  also  200, 
später  nur  mehr  100  bezahlen  mußte.  Der  Eintrag  bei  Benedicti  de 
Quinciaco  200  alibi  250  erklärt  sich  nur  daraus,  daß  Cod.  Borghese 
im  Text  250  hat,  im  Index  jedoch  zuerst  aus  Versehen  200, 
später  verbessernd  250  geschrieben  wurde.  Das  Taxbuch  muß  also 
unmittelbar  auf  die  Obligationsregister  zurückgehen  und  zwar  zeigt 
sich  im  Cod.  VA.  das  Bestreben  in  der  ersten  Reihe  die  niederste 
Taxe  zu  verzeichnen,  in  der  zweiten  die  höhere.  Bei  anderen  Ein- 
trägen ließen  sich  die  Reihen  bei  Göller  noch  vervollständigen:  so 
ist  Strigonien.  in  Cod.  Borgh.  mit  2000;  Sutrin.  mit  50;  Turrüar.  mit 
300;  Vahmi.  mit  150;  Veneten.  mit  250;  Visen,  mit  2300;  Mtvriede 
Älveto  mit  475  eingetragen  usw.  Sodann  sind  die  vielen  Pehler  zu 
berücksichtigen,  die  sich  in  den  Index  von  Oblig.  6  eingeschlichen 
haben.  Äquilanus  steht  im  Index  mit  der  Taxe  600,  im  Text  mit 
der  von  100.  Der  Schreiber  des  Index  kam  versehentlich  auf  eine 
im  Text  oben  daranstehende  Servitiumszahlung  mit  der  Taxe  600! 
Manche  dieser  Fehler  mochten  bei  der  Anlage  des  Taxbuches  aus- 
gemerzt worden  sein,  manche  aber  sind  stehen  geblieben,  wie  die 
oben  dargelegten  Beispiele  beweisen.  Diese  Beispiele  zeigen  zur 
Genüge,  mit  welchen  Schwierigkeiten  der  Herausgeber  des  Tax- 
buches zu  kämpfen  haben  wird  und  mit  welcher  Genauigkeit  man  zu 
Werke  gehen  muß.  Man  wird  darum  auch  die  Arbeit  zu  schätzen 
wissen,  die  Göller  in  der  Zusammenstellung  dieser  Zahlenreihen  ge- 
leistet hat.  Im  Anschlüsse  daran  drängt  sich  noch  eine  weitere 
Frage  auf.  Eine  Reihe  Bistümer  stehen  weder  in  Oblig.  6  noch  in 
dessen  Fortsetzung.  Woher  hat  nun  das  Taxbuch  seine  Zahlen?  Zur 


GOller,  Der  liber  taxamm  497 

Lösung  dieser  Frage  läßt  sich  darauf  hinweisen,  daß  beide  Obliga- 
tiensbände  vielleicht  einen  gleichartigen  Vorgänger,  wohl  sicher  einen 
Nachfolger  gehabt  haben^  die  wir  nicht  mehr  besitzen.  Aus  diesen 
drei  oder  vier  Obligationsregistern  wurde  das  spätere  Taxbuch  allein 
zusammengestellt.  Dem  scheint  zu  widersprechen,  daß  schon  unter 
Innocenz  VI.  im  Jahre  1354  laut  Eintrag  in  Introitusband  272  (nicht  242) 
eine  tabula  pravincialis  cum  sumtnis  servüiorum  pro  camera  apostolica 
angefertigt  wurde  (S.  39),  die  dann  ebenfalls  bei  der  Anlage  des  Tax- 
buches als  Vorlage  gedient  haben  könnte.  Göller  faßt  diese  tabula 
provincialis  als  ein  Taxverzeichnis  auf,  dem  das  Provinziale,  also 
aar  die  Bistumsreihe  und  zwar  in  einer  von  allen  späteren  Tax- 
verzeichnissen  verschiedenen  Anordnung  zu  Grunde  lag.  Damach 
müßte  diese  tabtda  provincialis  im  14.  Jahrhundert  auch  die  ur- 
sprüngliche Form  des  Taxbuches  gebildet  haben.  Ich  glaube  jedoch, 
daß  man  den  Ausdruck  tnbida  provincialis  nicht  pressen  darf,  sondern 
im  weiteren  Sinne  auch  von  den  Indices  in  Oblig.  6  verstehen  kann. 
Denn  mit  der  Anlage  eines  eigentlichen  Provinziale  konnte  der 
Kammer  zur  Feststellung  der  Servitiumstaxe  nicht  gedient  sein,  da 
einmal  die  Servitien  der  Klöster  fehlten  und  das  Auffinden  der 
Bifitumstaxen  zeitraubend  und  umständlich,  wenn  nicht  in  den  meisten 
Fällen  praktisch  unmöglich  war.  Die  Indices  der  Obligationsregister 
dagegen  waren  ein  für  alle  Zwecke  der  Kammer  praktisches  Hilfs- 
mittel. Ich  denke  mir  demnach  die  Entwickelung  des  Taxbuches  in 
folgender  Weise:  Sobald  Provision  oder  Konfirmation  eines  Bistums 
oder  einer  Abtei  erfolgte,  wurde  in  der  ersten  Zeit  von  Fall  zu  Fall 
das  Einkommen  des  betreffenden  Bistums  bezw.  der  Abtei  eingeschäzt. 
Erreichte  es  eine  bestimmte  Höhe,  so  mußte  der  so  Providierte  sich 
zur  Zahlung  des  Servitiums  verpflichten,  Akte,  welche  in  den  Kammer-, 
speziell  den  Obligationsregistern  gebucht  wurden.  Für  die  spätere 
Zeit  bildeten  diese  Register  für  die  Kammer  das  einzige  Mittel,  über 
die  Höhe  des  Servitiums  sich  zu  orientieren  und  bei  auftauchenden 
Zweifeln  darnach  zu  entscheiden.  Mit  der  Zeit  wurde  es  aber  zu 
umständlich,  ständig  alle  Obligationsregister,  deren  Zahl  inzwischen 
angewachsen  war,  durchzusehen.  Man  begann  deswegen  unter 
Innocenz  VI.  und  Urban  VI.  die  vorhandenen  Papierobligationsbände 
auf  das  haltbarere  Pergament  umzuschreiben  und  mit  Indices  zu  ver- 
sehen, die  die  Höhe  des  Servitiums  angaben,  die  Belege  dafür  durch 
Hinweis  auf  die  Seiten  des  Textes  brachten  und  in  eine  Bistums- 
und eine  davon  getrennte  Abtsreihe  zerfielen.  Das  Resultat  bildeten  die 
noch  erhaltenen  Bände  Oblig.  6  und  Cod.  Borgh.,  denen  vielleicht 
ein  Band  mit  den  Obligationen  vor  Johann  XXII.  voranging  und  ein 
oder  mehrere  Bände  nach  Urban  V.  folgten.    Da  diese  Indices  —  in 


498  Gott.  gol.  Ans.  1906.  Nr.  6 

der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  das  Taxbnch  der  Kammer  — 
auf  zwei  bis  vier  Bände  zerstreut,  und  die  Bistümer  wie  Abteien 
nicht  alphabetisch  aufgezählt  waren,  war  die  weitere  Folge  die,  dafl 
man  die  Indices  dieser  Bände  separat  abschrieb  und  gleichzeitig 
die  Namen  in  der  Bistums-  wie  in  der  davon  getrennten  Äbtsreihe 
alphabetisch  ordnete:  das  separate  Taxbuch  der  Kammer,  das  den 
Schlußpunkt  der  Entwicklung  darin  fand,  daß  nach  dem  Vorbild  des 
Liber  Censuum  die  Abteien  bei  den  zugehörigen  Bistümern  unter- 
gebracht wurden,  um  Verwechslungen  und  Umständlichkeit  zu  ver- 
meiden. Mit  diesem  Gang  der  Entwickelung  stimmt  der  Befund  der 
Handschriften  des  Taxbuches,  von  denen  die  meisten  nicht  über  die 
Mitte  des  15.  Jahrhunderts  hinaufgehen  (cf.  Göller,  S.  50)  und  in 
zwei  Gruppen  zerfallen:  bei  der  ersten  sind  Bistümer  und  Klöster 
getrennt  aufgezählt,  bei  der  zweiten  dagegen  die  Klöster  den  Bis- 
tümern untergeordnet. 

Im  Anschlüsse  daran  taucht  die  praktische  Frage  auf,  nach 
welchen  Grundsätzen  und  in  welcher  Form  das  Taxbuch  veröffent- 
licht werden  soll.  Wer  die  von  Göller  (S.  56/57)  mitgeteilte  Liste 
einsieht,  wird  bei  der  Verschiedenheit  der  Hss.  leicht  erkennen,  daß 
dem  Herausgeber  keine  kleine  Aufgabe  erwächst.  Für  einen  Kolunmen- 
druck,  und  wenn  es  auch  nur  zwei  Kolumnen  wären,  könnte  ich 
mich  nicht  entschließen,  da  diese  Methode  einem  praktischen  Hand- 
buch nicht  entspricht.  Die  Namen  der  Bistümer  müßten  in  alpha- 
betischer Reihenfolge  aufgeführt,  durch  Fettdruck  hervorgehoben, 
und  die  Abteien  den  Bistümern  untergeordnet  werden.  Die  älteste 
der  Hss.  —  ich  halte  Cod.  VA.  Arm.  33  Nr.  7  nach  Herkunft  und 
Text  als  Grundlage  (bei  anderer  Anordnung)  für  nicht  ungeeignet 
—  müßte  die  Grundlage  bilden,  während  die  späteren  durch  Union 
hervorgerufenen  Veränderungen  in  chronologischer  Reihenfolge  mit 
Anwendung  verschiedenen  Druckes  beigefügt  werden  könnten.  Die 
Taxzahlen  würden  statt  in  römischen  besser  in  arabischen  Ziffern 
gesetzt  werden,  um  Druck-  und  Lesefehler  zu  vermeiden.  Dem 
ganzen  könnten  zwei  Reihen  Anmerkungen  nebenhergehen:  in  die 
eine  Reihe  wären  die  textkritischen,  wohin  auch  die  in  der  Liste 
Göllers  aufgeführten  Nota  quad  . . .  gehören  würden,  in  die  andere 
die  sachlichen  Anmerkungen  zu  setzen,  wobei  Silbernagels  Kommentar 
zu  Döllingers  Ausgabe  immer  noch  gute  Dienste  leisten  kann.  Wir 
bekämen  dann  etwa  folgendes  äußere  Bild  der  Drucktechnik : 


Göller,  Der  Liber  tazanun 

Brixien.  in  provincia  Mediolanen. 

Euphemie  prope  Brixiam  O.S.B 

1463  Jan.  3:   unüur  8.  Nazarii  et  Celsi;   augeiwr  taxa  in  flor. 

i^/8 

1458  Äug,:  unitur  hospUale  S.  Jacobi;  augetur  taxa  in  flor.  S^j^ 

Petri  in  Monte  O.S.B 

[Datum?]  unitur  ecclesia  8.  Brigide  Brixinen;    augetur  taxa  in 
flar.  4^3 


Benedicti  de  Leone  O.S.B.  .    . 

[Datum?]  augetur  taxa  ad 

1518  Okt.  22:  augetur  taooa  ad  flor.  ie*ji . 


Faustini  et  Jovite  O.S.B. 

1477  März  6:  unitur  capella  8. 
taxa  in  flor.  4     .     .     .     . 


Trinitatis  de  Baptismo;   augetur 


499 

Taxa 
700 

250 

266^3 
275»3 

130 

134*/, 

50 
766 

782»/, 

300<400> 
304<404> 


Alles  andere  wäre  in  den  textkritischen  Apparat  zu  verweisen. 

Von  den  der  Arbeit  beigegebenen  Quellenbelegen  sei  nur  noch 
hervorgehoben,  daß  Göller  erstmals  in  der  Lage  ist,  durch  eine  Ta- 
belle (S.  71)  zu  veranschaulichen,  welcher  Zeitraum  bei  Bistums-  und 
Abteibesetzungen  zwischen  Provisio,  Traditio,  Obligatio  und  Presen- 
tatio  lag.  Göller  hat  von  den  Bistümern  folgende  Liste,  der  ich  das 
Provisionsdatum  noch  beifüge: 


Bistümer 

Provisio 

Traditio 

Obligatio 

Praesentatio 

Minden. 

Zwerinen. 

Nuemburgen. 

Waterforden. 

Cephalonien. 

1347  Dez.  12 

1348  März  17 

1349  Jan.  7 

1350  März  3 
1350  Juni  14 

1348  Jan.  23 

1348  Juni  6 

1349  Febr.  7 

1350  Mai  21 
1350  Juli  15 

1362  Juni  2 
1356  Nov.  18 
1351  Okt.  22 
1350  Juni  25 
1354  Dez.  23 

1362  Dez.  10 

Wer  diese  Liste  und  die  der  Abteien  durchgeht,  wird  erkennen, 
daß  in  den  meisten  Fällen  zwischen  Provisio,  Traditio,  Obligatio  und 
Praesentatio  nur  ein  ganz  geringer  Zeitraum  liegt,  daß  die  Geschäfte 
der  Kammer  also  prompt  erledigt  wurden.  Davon  scheinen  auf  den 
ersten  Blick  die  Bistümer  Minden  und  Schwerin  eine  Ausnahme  zu 
machen.  Die  Schwierigkeiten  verschwinden  jedoch  sofort,  wenn  man 
bei  den  von  Göller  mitgeteilten  Zahlen  einige  Erläuterungen  und 
Korrekturen  anbringt.  Der  Bischof  von  Minden,  dessen  Provisions- 
brief am  23.  Januar  1348  ausgegeben  wurde,  war  Gerhard  von  Schauen- 


500  Gott.  sei.  Anz.  1906.  Nr.  6. 

bürg  (t  1353  Januar  1).  Der  Bischof  dagegen,  der  sich  am  22.  Juni 
1362  obligierte,  war  der  Nachfolger  von  Dietrich  Kagelwit,  ebenfalls 
ein  Gerhard  von  Schauenburg.  Beide  Gerhard  sind  also  auseinander 
zu  halten.  Nun  zeigt  sich  aber  die  seltsame  Erscheinung,  daß  in 
den  Oblig.  6  und  dessen  Fortsetzung,  sowie  in  den  ursprünglichen 
Obligationsbänden  —  soweit  ich  selbst  noch  vor  meiner  Abreise  ans 
Rom  die  Obligationsbände  nachprüfen  konnte  —  weder  von  dem 
ersten  Gerhard  von  Schauenburg,  noch  von  dessen  Nachfolger  Dietrich 
von  Kagelwit  ein  Servitium-,  Obligations-  oder  Solutionsvermerk  ein- 
getragen ist.  Daß  beide  nichts  bezahlten  oder  sich  weigerten  ihr 
Servitium  zu  zahlen,  ist  nicht  anzunehmen.  Die  Kammer  hätte  schon 
Mittel  und  Wege  gefunden,  sie  zur  Zahlung  anzuhalten,  es  müßte 
nur  ausnahmsweise  ein  Versehen  vorliegen.  Ich  vermute,  daß  beide 
ohne  Obligation,  bar  zahlten,  wofür  in  den  Introitusbänden  vielleicht 
der  Beleg  zu  finden  ist.  Als  der  zweite  Gerhard  sich  obligierte,  war, 
wie  aus  seiner  Obligatio  zu  ersehen,  keinerlei  Restschuld  seines  Vor- 
gängers vorhanden,  sonst  wäre  es  im  Obligationsvermerk  Gerhards 
vermerkt  worden.  Aehnlich  verhält  es  sich  bei  Schwerin.  Der  Bischof, 
dessen  Provisionsbrief  1348  Juni  6  ausgegeben  wurde,  war  An- 
dreas; derjenige,  welcher  sich  1356  November  18  obligierte,  dessen 
Nachfolger  Albert  von  Sternberg.  Dieser  verpflichtete  sich  1356 
November  18  ypro  suo  communi  servicio^  zu  667  fl.  >€t  5  servieia 
consueta< ;  von  yrestantia*  seines  Vorgängers  ist  nicht  die  Rede. 
Auch  bei  Naumburg  ist  zu  unterscheiden  zwischen  dem  zwiespältig 
gewählten  Nikolaus  von  Luxemburg,  dem  die  Kammer  1349 
Februar  7  den  Pro  Visionsbrief  übergab,  und  seinem  Rivalen  Johann 
von  Miltiz,  der  sich  am  22.  Oktober  1351  obligierte.  Mit  dieser 
Korrektur  der  Tabelle  wären  die  Schwierigkeiten  gehoben.  Wenn 
bei  Kephalonia  vier  Jahre  zwischen  Traditio  und  Obligatio  vergingen, 
so  waren  besondere  Umstände  oder  nur  die  Entfernung  schuld,  bei 
allen  anderen  bemerken  wir  einen  raschen  Geschäftsbetrieb. 

Da  bei  den  Druckverhältnissen  in  Rom  bei  deutschen  Arbeiten 
immer  einige  Druckfehler  stehen  bleiben,  so  sei  hier  darauf  kein  Wert 
gelegt.  So  wäre  S.  22  Z.  14  v.o.  zu  lesen:  petituri  suarum  eUdionum 
confirmationes.  S.  43  Seguntin.  in  Yspania.  Auch  sonst  wäre  die 
Schreibung  der  Bistümer  nach  Eubel  zu  regeln.  S.  64  Zeile  4  v.  o. : 
suscipientes  eidem.  S.  69  Anm.  1 :  supra  Secanam  =  Sequanafn^  Seine, 
Zu  Gottlob  S.  13/14  fehlt  das  Zitat  usw.,  Kleinigkeiten,  die  dem  Wert 
des  Buches  keinen  Eintrag  tun.  Nur  müßte  in  einer  Ausgabe  des  Tax- 
buches die  Bezeichnung  der  Handschriften  (S.  42  ff.)  eine  andere  werden. 
Ob  die  S.  1  Anm.  2  gegebene  Auslegung  der  Bulle  Bonifaz  IX.  über 
die  Annaten  richtig  ist,  bezweifle  ich  vorerst;  ein  abschließendes  Ur« 


Göller,  Der  Liber  taxanun  501 

teil  wird  sich  erst  geben  lassen,  wenn  die  vorhergehende  Zeit  syste- 
matisch und  eingehend  daraufhin  erforscht  wird.  Die  Bemerkung, 
S.  13:  >wohl  gab  es  auch  im  ausgehenden  Mittelalter  besondere  Tax- 
listen der  Benefizien,  die  die  Annate  zu  entrichten  hatten  <,  könnte 
in  ihrem  Zusammenhang  Mißverständnisse  hervorrufen.  Die  ge- 
nannten Verzeichnisse  sind  von  Kollektoren  bei  Zehnterhebung  ange- 
legt worden,  und  wurden  von  der  Kammer  höchstens  zur  Nach- 
prüfung der  Kollektorenrechnung  verwendet,  aber  nicht  etwa,  um 
bei  Benefizienverleihungen  dieAnnatentaxe  festzustellen,  wie  dies 
bei  Verleihung  der  Bistümer  und  Abteien  bezüglich  der  Servitientaxe 
der  Fall  war. 

Alles  in  allem  bringt  GöUers  Arbeit  unsere  Kenntnisse  vom  Tax- 
buch und  dem  damit  zusammenhängenden  Servitiumswesen  einen  be- 
deutenden Schritt  vorwärts.  Da  GöUer  auch  sonst  verschiedene 
Proben  abgelegt  hat,  wie  bewandert  er  in  der  Geschichte  der  päpst- 
lichen Verwaltung  ist,  so  wäre  es  allgemeiner  Wunsch,  daß  nach 
diesen  Vorarbeiten  baldmöglichst  die  Ausgabe  des  Taxbuches  in  An- 
griff genommen  würde.  Sein  weiteres  Ziel  könnte  dann  einer  allge- 
meinen Geschichte  der  päpstlichen  Verwaltung  zusteuern,  wozu  GöUer 
die  unbedingt  notwendige  theologische  Vorbildung  besitzt  und  am 
Mittelpunkt  der  Quellen  die  Hindernisse  am  besten  überwinden  könnte. 
Durch  Unterstützung  dieser  Arbeiten  würde  sich  das  Preußische  histo- 
rische Institut,  dessen  erster  Assistent  Göller  ist,  gewiß  den  Dank 
aller  Fachgenossen  sichern. 

Freiburg  i.  Br.  Karl  Rieder 


Pommersches  Urkandenbaeh.  Herausgegeben  vom  Königlichen  Staatsarchive  zu 
Stettin.  V.Band.  Zweite  Abteilung  1317—1320.  Bearbeitet  von  Otto  Heine- 
mann.  Stettin  1905,  Niekammer.   VI,  S.  289— 721.   Mk.  12. 

Nach  fast  zwei  Jahren  ist  der  ersten  Hälfte  des  fünften  Bandes 
des  Pommerschen  Urkundenbuches,  die  mit  IV,  2  im  August  1903 
zur  Ausgabe  gelangte,  im  Juni  1905  das  zweite  und  Schlußheft  ge- 
folgt, das  nur  vier  Jahre  umfaßt,  aber  412  Nummern  enthält  (gegen 
399  für  sechs  Jahre  des  ersten  Heftes).  Drei  von  diesen  Nummern 
gehören  allerdings  nicht  in  ein  Urkundenbuch :  3206,  der  Todestag 
der  Herzogin  Elisabeth  von  Stettin  aus  dem  Neuenkamper  Kalen- 
darium,  dessen  Jahr  nicht  zu  bestimmen  ist;  3320,  eine  Stelle  aus 
Bugenhagens  Pomerania,  und  3390  ein  Grabstein  aus  der  Jakobi- 
kirche  zu  Greifswald.  Von  den  übrigen  409  sind  nur  179  im  Original 
erhalten,  230  nur  durch  Abschriften  oder  Transsumte  überliefert, 


602  Oatt.  gel.  Anz.  1906.  Kr.  6 

237  Nummern  waren  bereits  gedruckt,  172  werden  zum  ersten  Mal 
veröffentlicht;  313  werden  in  vollständigen  Texten,  96  nur  in  Be- 
gesten  gegeben,  16  Nummern  mußten  aus  anderen  Druckwerken 
wiederholt  werden,  darunter  fünf  in  dänischer  Uebersetzung  aus  Hoit- 
felds  Rikskronike;  die  übrigen  entstammen  31  verschiedenen  Fand- 
orten, von  denen  23  bereits  zur  ersten  Hälfte  beigesteuert  haben; 
neu  hinzugekommen  sind  mit  je  einer  Nummer  die  Staatsarchive  zn 
München,  Dresden  und  Zerbst,  die  Stadtarchive  zu  Pyritz,  Mfinche- 
berg,  Landsberg,  Nordhausen,  das  Gräflich  Amimsche  Archiv  in 
Boitzenburg.  Von  einer  weiteren  Statistik  der  Ueberlieferung  an 
dieser  Stelle  kann  umsomehr  abgesehen  werden,  da  der  Heraus- 
geber selbst  in  der  Vorrede  S.  UI  und  IV  sie  für  beide  Hälften  des 
Bandes  dargelegt  hat,  ebenso  wie  sein  Vorgänger  Winter  für  Bd.  IV 
S.IV,V. 

Die  vier  Jahre  1317—1320,  welche  der  vorliegende  Halbband 
umfaßt,  sind  für  Pommern  von  Wichtigkeit,  weniger  durch  die  Er- 
eignisse im  Lande  selbst,  als  durch  die  Schicksale  der  Nachbarländer. 
Zwei  leitende  Persönlichkeiten  treten  1319  von  dem  Schauplatz  ab, 
am  14.  August  1319  Markgraf  Waldemar  von  Brandenburg,  am 
13.  November  desselben  Jahres  König  Erich  Menved  von  Dänemark, 
und  dadurch  sanken  beide  Länder  von  der  Machtstellung  herab,  die 
sie  bisher  auf  Kosten  der  Nachbarn  eingenommen  hatten.  In  Däne- 
mark mußte  sich  der  Bruder  Erichs,  Christoph  IL,  die  Nachfolge 
durch  eine  Wahlkapitulation  erkaufen,  in  Brandenburg  rissen  noch 
vor  dem  gänzlichen  Aussterben  der  Askanier  im  Sommer  1320  die 
Nachbarn  unter  dem  Vorwand  der  Vormundschaft  über  den  jungen 
Heinrich  die  Qrenzlandschaften  an  sich,  so  Wartislaw  IV.  von  Pommern 
die  Uckermark.  Schon  am  29.  September  1319,  sechs  Wochen  nach 
Waidemars  Tode,  bestätigt  Wartislaw  den  Landen  Lebus,  Frankfurt 
und  Müncheberg  alle  Rechte  und  Freiheiten,  wenige  Tage  später 
(4.  Oktober)  nimmt  ihn  auch  die  Neumark  zum  Vormund  des  jungen 
Fürsten  an  (3294.  3298).  Im  folgenden  Jahre,  1320,  schließt  Wartislaw 
Verträge  mit  den  Nachbarn:  am  2.  Juli  mit  dem  Deutschen  Orden 
in  Preußen  gegen  Polen  (3375.  3376),  am  27.  Juli  mit  Heinrich 
von  Schlesien-Jauer,  seinem  Schwager,  dem  Sohne  einer  askaniachen 
Prinzessin,  über  den  Alleinbesitz  der  Uckermark  (3386).  Aber  schon 
am  Ende  des  Jahres,  am  28.  Dezember  (3431),  meldet  sich  die 
Reichsgewalt:  König  Ludwig  der  Baier  gewährt  Herzog  Wartislaw 
Lehnsindult  auf  ein  Jahr  und  verspricht,  ihn  inzwischen  keinem  an- 
deren Herrn  zu  unterwerfen,  auch  wenn  Brandenburg  einem  Fürsten 
verliehen  werden  sollte  (das  geschah  bekanntlich  erst  1323  an  den 
Sohn  des  römischen  Königs  selbst):  seit  1304  die  erste  Kaiser  Urkunde 


Pommersches  Urknndenbach  V,  2  503 

im  pommerschen  Urkundenbuch.  Die  römische,  oder  vielmehr  avigno- 
nesische  Kurie  ist  dagegen  mit  25  Nummern  (acht  Originalen,  17 
Kopien,  zwölf  ungedruckten,  13  bereits  bekannten,  17  Texten  und 
acht  Regesten)  vertreten.  Unter  den  Landesfürsten  steht  der  Zahl 
nach  Herzog  Wartislaw  IV.  mit  80  Nummern  oben  an,  darunter  sind 
jedoch,  wie  in  IV,  2, 47  Urkunden  von  einem  Tage,  dem  13.  Juni 
1317,  für  das  Prämonstratenserkloster  Pudagla  auf  Usedom,  Er- 
neuerungen fast  aller  früheren  Erwerbungen  von  1177  bis  1307,  die 
wohl  durch  die  1307  erfolgte  Verlegung  des  Klosters  von  Usedom 
nach  Pudagla  veranlaßt  wurden ;  leider  geht  Heinemann  ebensowenig 
wie  sein  Vorgänger  Winter  auf  die  aus  den  erhaltenen  35  Originalen 
leicht  zu  beantwortende  Frage  ein,  ob  alle  Urkunden,  die  sämtlich 
per  manum  des  Protonotars  Nikolaus  von  Swanebeke  gegeben  sind, 
von  derselben  Hand  geschrieben  wurden:  daß  sie  nicht  alle  an  einem 
Tage  geschrieben  sein  können,  hat  schon  1858  Zietlow  in  seiner 
Monographie  über  das  Prämonstratenserkloster  auf  der  Insel  Usedom 
S.  157  hervorgehoben.  Von  Herzog  Otto  von  Stettin  enthält  der  neue 
Halbband  nur  55  Diplome,  darunter  18  Originale,  34  waren  bisher 
ungedruckt;  Fürst  Wizlaw  IIL  von  Rügen  ist  mit  41  Urkunden  (21 
Originalen,  aber  nur  3  bisher  ungedruckten)  vertreten;  bischöflich- 
caminsche  Dokumente  finden  sich  24,  noch  4  von  Heinrich  von 
Wacholt,  20  von  seinem  Nachfolger  Konrad  IV  von  Treptow  (10 
Originale,  12  bisher  ungedruckte);  zwischen  dem  2.  Oktober  und 
dem  18.  Dezember  1317  (3143  und  3152)  muß  der  Tod  Heinrichs 
und  die  Wahl  Konrads  erfolgt  sein. 

An  verfassungsgeschichtlich  wichtigen  Urkunden  ist  der  vor- 
liegende Halbband  verhältnismäßig  reich:  nur  um  einiges  hervorzu- 
heben, sei  auf  3270,  das  Bündnis  der  Vasallen  und  Städte  Herzog 
Ottos  mit  Wartislaw  IV.  vom  18.  Juni  1319  gegen  ihren  eigenen 
Herrn,  auf  das  Landfriedensbündnis  Wartislaws  mit  seinen  Städten 
Greifswald,  Demmin  und  Anklam  vom  I.Dezember  1319  (3311)  unS 
auf  3391  und  3392,  die  Lehnsauftragung  beider  Herzogtümer  an 
das  Bistum  Camin  vom  16.  August  1320  hingewiesen. 

Zu  kritischen  Bedenken  gibt  die  zweite  Hälfte  des 
5.  Bandes  nur  selten  Anlaß.  Pristaffsche  Fälschungen  (3159,  3413, 
3423)  brauchten  m.  E.  nicht  gedruckt  zu  werden;  daß  Pudagla  die 
Generalkonfirmation  vom  29.  Juli  1317  (3132)  gefälscht  hat,  hat  be- 
reits Klempin,  Pomm.  Urkundenbuch  I  271  und  341  erwähnt;  nach 
diesem  (a.a.O.  I  271)  ist  auch  3080,  die  Transsumierung  einer  ge- 
fälschten Urkunde  von  1238  aus  der  großen  Privilegienemeuerung 
von  1317  eine  Fälschung;  doch  ist  die  Urkunde  nur  in  dem  Kopial- 
buch  des  Klosters  überliefert.    Auffallend  erscheint  mir  3369,  Otto 


504  Gott  gel  Aqz.  1906.  Nr.  6 

bestätigt  vier  Brüdern  Bünsow  einen  Anteil  an  drei  Dörfern,  wegen 
des  abweichenden  Titels  Stetinensis,  Pomeranie  Slavie  ac  Cassnbie 
dux,  während  es  sonst  dux  Slavie  et  Cassubie,  dominus  de  Stetin 
heißt.  Das  Original  in  Anklam  ist  per  manum  Johannis  Lenczin  no- 
tarii  gegeben,  von  dem  auch  3178,  3273,  3306,  3338,  3387,  3401, 
3418,  also  noch  7  Originale  erhalten  sind:  Schriflvergleichung  ist 
nicht  angestellt.  Auch  der  Text  von  3369  bietet  Ungewöhnliches, 
orthographische  Schnitzer,  wie  510  1.  Z.  v.  u.  domis  für  dumis,  eine 
eigentümliche  Datierung  (in  curia  cuiusdam  villani  nomine  Wessel, 
in  qua  protunc  comedimus).  Die  Datierung  der  rund  400  Ur- 
kunden fordert  nur  an  drei  Stellen  zum  Widerspruch  heraus:  3135 
(nach  Dregers  Abschrift)  passen  XVIII  kak  Sept.  u.  Aug.  20  nicht 
zu  einander,  entweder  Xni  oder  15  ist  zu  bessern.  3255  ist  1319 
post  octavam  pasce  crastino,   da  Ostern  auf  Apr.  8  fällt,    nicht  der 

15.  Apr.,   wie   Heinemann  mit  Fabricius  ausrechnet,    sondern  der 

16.  Apr.  3337,  1320  fer.  3  ante  diem  b.  Dyonisii  episcopi,  das  Pri- 
vileg des  neuen  Dänenkönigs  Christoph  für  Greifswald,  setzt  der 
Herausgeber  zum  26.  Febr.  >weil  aus  einer  Urkunde  von  1438 
März  7  sich  ergibt,  daß  als  Tag  Dionysii  episcopi  in  Pommern  der 
26.  Februar  anzusehen  istc,  S.  491.  Wir  haben  es  aber  hier  mit  einer 
dänischen  Urkunde  zu  tun  —  zugegeben,  daß  die  von  Sartorius 
und  Höhlbaum  angenommene  Datierung  Apr.  1  wegen  des  Oster- 
dienstages  nicht  zulässig  ist,  so  steht  nichts  der  von  den  Regesta 
Danica  vorgeschlagenen  Okt.  7  entgegen,  auch  in  3409  bleiben  die 
socii  des  Dionysius  Areopagita  fort.  Erst  am  20.  Aug.  1320  (3394) 
erhielt  Stralsund  die  Privilegienemeuerung  von  König  Christoph,  aus 
inneren  Gründen  ist  es  glaublicher,  daß  die  für  Greifswald  erst  später 
erfolgt  ist. 

Weit  seltener  als  in  Band  IV  und  V,  1  hat  der  Herausgeber 
den  Zusammenhang  der  Urkunden  nicht  völlig  klargelegt.  So 
vermißt  man  bei  3054,  der  Schenkung  Herzog  Ottos  an  die  Augustiner 
von  Gobelenhagen  (Jasenitz)  über  die  Heide  zwischen  Ueckermünde 
und  Stettin,  einen  Hinweis  auf  Haags  Aufsatz  in  den  Baltischen  Stu- 
dien 31,  301  ff. :  ältere  pommersche  Geschichtsforscher  haben  in  dieser 
Urkunde  einen  Hinweis  auf  das  Barnimskreuz  (die  Stelle  der  Er- 
mordung Herzog  Barnims  II.  1295)  sehen  wollen,  was  Haag  hier 
widerlegt.  In  3129  hält  Heinemann  die  Namen  der  puerorum  Laurentii 
de  Rugenwalde  et  Elizabeth  Jessekonis  et  Nathalie  für  Knabennamen : 
Yesseko  und  Nathalias  —  sollte  nicht  trotz  pueri  als  zweiter  Name 
Nathalia  zu  verstehen  sein?  3143,  die  bereits  erwähnte  letzte 
Urkunde  Bischof  Heinrichs  von  Camin,  ist  ohne  Beziehung  auf  Mek- 
lenburg.  Urkundenbuch  VI.  3903  und  3915  vom  selben  Jahre  1317 


Ponniertcheil  Ürknddenbilch  T,  2  508 

nieht  klar.  3174  Datum  in  Svina  wird  in  der  Ueberschrift  mit  »auf 
der  Swine«  wiedergegeben,  auch  im  Register  S.  682  zum  Fluß 
Swtne  gestellt,  ich  möchte  jedoch  an  die  von  Kratz,  die  Städte  der 
Provinz  Pommern  S.  503  erwähnte  herzogliche  Burg  an  der  Stelle 
des  heutigen  Swinemiinde  denken.  In  3368  hätte  Petrus  dictus 
Kenseier,  d.  i.  Swenzos  Sohn  Peter  von  Neuenburg,  nicht  als  > her- 
zoglicher Kanzler<  bezeichnet  werden  dürfen;  er  war  einst  (bis  1306) 
Kanzler  Wladislaws  Lokietek  von  Polen. 

Oefter  giebt  die  Textgestaltung  zu  Bedenken  Veranlassung. 
3050  (294  Z.  3  v.  o.)  ist  statt  in  molendino  Conow  situatum  supra 
aquam  (Or.  in  Stettin)  doch  situato  zu  bessern ;  Fehler  der  Originale 
werden  doch  sonst  im  Pomm.  ürkundenbuche  korrigiert.  In  3115 
(Or.  Stettin)  S.  325  Z.  15.  16  v.  o.  ist  felicis  recordacionis,  das  sich 
nur  auf  pater  in  Z.  14  beziehen  kann,  an  die  falsche  Stelle  geraten. 
3128  S.  338  Z.  1  v.  u.  fehlt  bei  venerandae  nationi  das  Wort  pre- 
sentium  im  Gegensatz  zum  folgenden  faelici  successioni  fnturorum 
(Kpp.  in  Stettin).  3038  (S.  348  Z.  2  v.  u.)  fehlt  vor  eorum  das 
Wort  heredes  (domina  Druda  et  filius  et  eorum  heredes  entsprechend 
dem  Anfang  Z.  9  v.  u.);  der  Text  stammt  aus  denj  2.  Stralsunder 
Stadtbuch.  In  3139,  die  nur  aus  Schöttgen  und  Kreysig  diplomat.  HI 
gegeben  werden  konnte,  ist  S.  349  Z.  15  v.  u.  statt  Bosvoini  doch 
sicher  Goswini  zu  bessern.  3144  S.  352  Z.  21  v.  u.  möchte  ich 
empcio  in  empciöne  ändern  (Kop.  Stett.):  empcione  legitima  imper- 
petuum  duratura  (Ablat.  absol),  auch  ist  in  der  Schlußzeile  ipso  die 
b.  Dionysii,  qui  est  7.  Id.  Oct.  zu  lesen  statt  quod.  In  3149  und 
3150,  Auszügen  aus  den  Friedensurkunden  von  Templin  1317  Nov.  24. 
zwischen  Markgraf  Waldemar  und  König  Erich  von  Dänemark  war 
auch  der  Wizlaw  von  Rügen  betreffende  Satz  (Meckl.  Urk.  VI  317 
Z.  14  V.  u.  Quicquid  eciam  bis  Z.  10  v.  u.  quod  est  iuris)  aufzu- 
nehmen, und  ebenso  S.  319  Z.  15/6  die  Grafen  von  Gutzkow.  3173 
(8.  371  Z.  18)  gibt  de  dictarum  summarura  relaxacione  keinen  Sinn, 
da  in  der  Urkunde  (in  Schwerin,  das  Meckl.  ürkdb.  liest  ebenso), 
nicht  von  Geldstrafen,  sondern  dem  über  Stralsund  verhängten  Banne 
die  Rede  ist:  es  dürfte  sentenciarum  zu  lesen  sein.  3175  sind  die 
abweichenden  Formen  arciepiscopus  und  Suechie  nicht  verbessert. 
3201  (S.  388  Z.  8  v.  o.)  hängt  Fürst  Wizlaw  dor  lene  unde  bede 
beren  Henninghes  unde  Boranten  sein  Siegel  an  die  Urkunde:  statt 
lene  möchte  ich  leue  (leve)  lesen.  3213  (S.  395  Z.  20  v.  o.)  ist  in  der 
Bulle  die  Einsammlung  der  Zehnten  im  Bistum  Camin  betreffend 
electum  zu  ergänzen,  statt  electos,  es  gab  doch  dort  nur  einen  Er- 
wählten: Die  Ergänzung  ist  aus  einem  nach  Gnesen  gerichteten 
Schreiben  genommen,  wo  der  Plural  an  seinem  Platz  ist.  In  3216 
(Gr.  Stettin)  ist  S.  398  Z.  16  v.  o.  canonicos  prelibate  entweder  in  preli- 

GAtt  gol.  Anx,  1906.  Nr.  0.  35 


60$  mtt  gel  Ans.  1906.  Nr.  6 

batos  zu  ändern  oder  ecclesie  hinzuzufügen.  3238  (S.  419  Z.  26  v.  o.) 
1.  in  eadem  sancti  Alexandri  ecclesia  statt  ecclesüs.  3248  (S.  426 
Z.  27  y.  0.)  wird  durch  falsche  Interpunktion  unverständlich :  a  nobis, 
banc  specialem  addimus  ist  zu  lesen,  nicht:  nobis.  Hanc,  sonst  hat 
der  erste  Satz  keinen  Inhalt.  3261  (433  Z.  12  v.  o.)  ist  usurpent 
(Or.  Stett.)  in  usurpet  zu  ändern  (ne  quispiam  infringat  aut. .  usurpet). 
In  3276,  der  Verlust-  und  Kostenrechnung  der  Rügischen  Vasallen 
in  Dänemark,  sind  S.  446  Z.  4/5  v.  o.  die  Worte:  item  pro  pane 
1  marcam  cum  2  solidis  doppelt  gedruckt :  daß  sie  zu  streiclien  sind, 
zeigt  die  Addition  des  ganzen  Absatzes: 

pro  2  lagenis  cerevisie 4  marcas 

fertoribus —    „            2  solides 

pro  carnibus  bovinis  et  ovinis 3     „            2      „ 

pro  pane 1     „            2       „ 

pro  lignis  et  sale „          20       „ 

pro  pabulo .    .    1     „ —       „ 


Summa    9  marcas    26  solidos 
=  10     „  2      „ 

wie  dasteht:  Summa  10  marce  cum  2  solidis  Selandicis.  Im  vierten 
Posten  heißt  es  20  marcas,  daß  aber  solidos  gemeint  sind,  zeigt  die 
Schlußsumme.  Einer  schlimmen  Auslassung  begegnet  man  in  3287, 
wo  S.  452  Z.  13  V.  0.  hinter  presens  scriptum  pervenerit  drei  Zeilen 
von  Fabricius  übersprungen  sind :  salutem  in  eo  qui  est  omnium  vera 
Salus.  Actiones  quas  mundus  ordinate  disponit,  creberrime  delet  sue- 
cessio  temporum,  nisi  corroborentur  firmo  charactere  litterarum.  Om- 
nibus igitur  ad  quos  [Fabr.  quod]  prejsens  scriptum  pervenit.  —  Der 
Gleichklang  bat  das  Auge  des  Abschreibers  irre  geführt.  Eine  un- 
nötige Konjektur  macht  Heinemann  bei  3292  (Orig.  Stettin)  S.  456 
Z.  16  V.  u.  conficeretur  statt,  wie  er  las  conßcerentur  (Quod  cum  in 
nostra  c.  presencia)  -—  es  ist  aber  confiterentur  zu  lesen,  wie  drei 
Zeilen  vorher  confessi  sunt  dasteht.  In  3302,  dessen  Text  im  Anfang 
eine  längere  Auslassung  von  Theiner  und  Wölky  berichtigt,  ist  S.  465 
Z.  20  V.  0.  compellentes  statt  compescentes  zu  lesen  (prefatum  Gami- 
nensem  episcopum  ad  . . .  satisfaciendum  de  marchis  predictis  aucto- 
ritate  nostra  ...  c.)  3306  S.  468  Z.  16  v.  o.  ist  nach  einer  Aufzählung 
aller  Pertinenzen  et  aliis  quibuscunque  distinccionibus  statt  districtibus 
zu  lesen,  wie  S.  527  Z.  6  v.  u.  In  3342  ändert  Heinemann  S.  494  Z.  9 
V.  0.  secundum  quot  est  in  suis  metis  in  quod,  meines  Erachtens 
unnötig,  dagegen  ist  in  der  Zeugenreihe  vor  Rorebeke  ein  [de]  ein- 
zuschieben (Hynricus,  frater  suus,  de  Rorebeke).  3355  S.  500  Z.  17  v.  o. 
ist  pro  irretractabili  in  foro  i.  zu  verbessern,  wie  beim  nämlichen 
Jlechtsgeschält  3385  S.  522  Z.  5  v.  u.  richtig  steht:  weitere  Stellen 


Pommenclies  Urkandenbach  V,2  607 

verzeichnet  das  Sachregister  zum  Meklenburgischen  Urkundenbncb 
XII 177.  In  3362  möchte  ich  S.  505  Z.  10  v.  o.  der  Lesart  fru  statt 
vor  (Mechtild)  den  Vorzug  geben.  3364,  nach  Dregers  Abschrift, 
möchte  ich  S.  508  Z.  12  v.  o.  dinoscimur  possedisse  lesen,  statt  di- 
noscimus,  vgl.  3380  und  3391  (S.  520  Z.  17  v.  o.  und  527  Z.  15  v.  u.). 
3378  S.  519  Z.  7  sind  wieder  zwei  Zeilen  von  Fabricius  Ubersprungeo, 
hinter  cc  marcas  ist  ausgefallen:  similiter  in  feste  Martini  sequenti 
IUP  marcas  et  in  sequenti  feste  Martini  cc  marcas  et  iterum,  nach 
dem  Druck  von  Heinemann  ist  die  Urkunde  unverständlich,  bei  Fa- 
bricius ist  alles  klar. 

An  Druckfehlern,  von  denen,  wie  Heinemann  im  Vorwort 
8.  V  mit  Recht  bemerkt,  wohl  kaum  ein  Urkundenbuch  frei  ist,  werden 
S.  720  und  721  21  berichtigt,  außer  diesen  habe  ich  noch  folgende 
angemerkt:  289  Z.  21  v.  o.  lies  Stettinensis  statt  Stettinenis;  7 
V.  u.  fratribus  dictis  de  Ghurow  (ebenso  im  Regest),  statt  tribus  d. 
de  Gh.;  290  Z.  16  v.  u.  ist  domini  ausgefallen  (In  nomine  amen);  295 
Z.  21  V.  0.  stedelykcn;  26  hove  statt  heve;  309  Z.  8  v.  o.  prescripta 
statt  presripta;  324  Z.  7  v.  u.  verbo  statt  verba;  354  Z.  15  v.  u. 
millesimo  stattt  mellesimo;  364  Z.  14  v.  o.  fehlt  dux;  369  Z.  4  v.  u. 
hunc  modum  statt  hanc  m;  391  Z.  17  v.  o.  terminos  statt  termines; 
408  Z.  3  V.  u.  solides  statt  solides,  423  Z.  6  v.  u.  hat  Fabricius  hinter 
terre  noch  nostre;  433  Z.  6  v.  u.  fehlt  der  Ausstellungsort  Greifen- 
hagen; 439  Z.  11  V.  0.  ipsosque  statt  ipsos  que;  12  Nam  statt  Nom; 
447  Z.  18  V.  0.  servitutibus  statt  servitutibis ;  469  Z.  19  v.  o.  habe- 
rent  statt  haberet;  471  Z.  10  v.  u.  (dimidium  mansum  . . .)  emendum 
statt  emendam;  473  Z.  9  v.  u.  sigillo  statt  sigilli;  485  Z.  17  v.  u. 
quibuscunque  statt  quibuscunqe,  500  Z.  10  v.  u.  huius  statt  huis;  506 
Z.  13  V.  u.  hec  (so  Fabricius)  statt  hoc;  4  v.  u.  quibuslibet  hinter 
personis  hat  Fabr.;  507  Z.  4  v.  o.  et  statt  el;  13  v.  u.  premissis 
omnibus  Fabr.;  518  Z.  1  v.  o.  paginiculam  statt  paginiculum;  542 
Z.  12  V.  0.  eweliken  (Fabr.)  to  ervende;  555  Z.  12  v.  u.  precariam 
nostram  (Fabr.);  560  Z.  14  v.  o.  redditus;  566  Z.  13  v.  u.  ist  1)  aus- 
gefallen. 

Falsche  Zitate  sind  zu  berichtigen:  Nr.  3046  lies  Dreger 
Cod.  dip.  Pom.  VI  statt  I.  S.  349  Z.  6  v.  o.  (und  sonst  öfter)  wird  als 
Herausgeber  des  zweiten  Stralsunder  Stadtbuches  beständig  Ebeling 
angegeben;  die  hier  aber  allein  in  Betracht  kommende  erste  Hälfte, 
1896  erschienen,  ist  von  Reuter,  Lietz  und  Wehner  herausgegeben. 
In  3141  ist  als  Quelle  Codex  Rugianus  Bl.  3V  Nr.  106,  3142  die- 
selbe Handschrift  Bl.  21  Nr.  105  angegeben,  welche  von  beiden  Seiten- 
zahlen ist  richtig?  3154  und  3155  sind  die  Nummern  des  zweiten 
Stralsunder  Stadtbuches,  369  und  370  zu  vertauschen.  Nr.  3246  soll 
bei  Dreger  Cod.  Pom.  dipl.  msc.  VU  1323,3257,  ebenda  VI  1323 

35» 


606  mtt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  6 

stoben:  an  der  ersten  Stelle  ist  VI  1322  zu  lesen.  Zu  ergänzen  sind 
folgende  Zitate:  3199  Gesterding,  Beitrag  zur  Geschichte  der  Stadt 
Greifswald  S.  32  Nr.  67^  3235  and  3299  Grümbke,  gesammelte  Nach- 
richten zar  Geschichte  des  ehemaligen  Cisterzienser  Nonnenklosters 
in  Bergen  S.  56;  3375  and  3376  Codex  diplomaticas  Majoris  Polo- 
niae  II  Nr.  1071  and  Lites  inter  Polonos  ordinemque  Cruciferoram 
ed.  2. 1  p.  429,  430. 

Den  Schluß  des  Bandes  bilden  zwei  Register,  Orts-  und  Personen- 
register S.  569—702  und  Wort-  und  Sachregister  703 — 717.  Sie 
sind  mit  größerer  Sorgfalt  gearbeitet  als  das  in  Band  IV  und  hietett 
nur  an  wenigen  Stellen  Gelegenheit  zu  Ergänzungen.  Bei  schneller 
Durchsicht  ist  mir  nur  Folgendes  aufgefallen:  569*:  Agnes  von 
Brandenburg  ist  nur  an  der  ersten  Stelle  267  die  Gemahlin  Mark- 
graf Waidemars,  an  der  zweiten  558  ist  sie  die  Mutter  Heinrich  des 
Kindes.  57  P  fehlt  unter  Antiqua  A.  Angermundis  =  Tangermfinde; 
572^  das  spanische  Bistum  heißt  Badajoz,  nicht  Bajadoz;  575*  bei 
den  Herren  von  Behr,  die  nach  dem  ersten  Vorkommen  (in  diesem 
Bande)  geordnet  sind,  war  Nr.  7  (1313)  vor  6  (1314)  zn  stellen; 
583*  lies  Buch  statt  Vuch;  586^  bei  den  Domherren  von  Gamin  ist 
Barnim  von  Werle  (293,  1317)  zu  ergänzen;  612*  bei  Gnesen  Eoad- 
jutor  1319  statt  1379;  644^  die  Lage  von  Neuenburg  in  West- 
preußen ist  wieder,  wie  im  Register  zu  Bd.  IV  (s.  diese  Anzeige  1904 
S.  629)  falsch  bestimmt,  N.N.O.  von  Marien werder  statt  S.W.;  650* 
der  dominus  Panian  in  der  Gardvogtei  Garz  auf  Rügen  ist  doch  wohl 
ein  pan  Jan;  651*  fehlt  unter  Paul  der  episcopus  Scopoliensis  S.  464. 
653*  Plötzke,  der  Titel  Landmarschall  ist  für  Livland,  aber  nicht 
für  Preußen  gebräuchlich.  678*  (Stolp)  puzstul  ist  nicht  Truchseß, 
sondern  Untertruchseß ,  podstoli.  687*  Usküb  wird  nicht  S.  420 
sondern  S.  464  episcopus  Scopoliensis  genannt;  686  (Twieflingen) 
lies  Schöningen  statt  Schöningau.  703*  (ebenso  712^)  perangaria  nicht 
parangaria ;  705*^  dos  ecclesie  (Widdum)  kommt  auch  S.  438  vor. 

Ein  sechster,  bereits  in  Bearbeitung  befindlicher  Band  soll  nur 
fünf  Jahre,  1321—1325,  und  Nachträge  zu  allen  Bänden  umfassen; 
die  weitere  Fortsetzung  bis  1350  ist  nach  einer  Notiz  Heinemanns 
in  den  Monatsblättern  für  pommersche  Geschichte  gesichert.  Je  weiter 
das  wichtige  Werk  in  der  Bearbeitung  derselben  Hand  fortschreitet, 
desto  sicherer  wird  die  Methode  des  Herausgebers,  und  die  diesem 
Bande  noch  anhaftenden  Mängel  werden  sich  bei  geschärfter  Auf- 
merksamkeit wohl  vermeiden  lassen. 

Berlin  M.  Perlbach 


Für  die  Redaktion  verantwortlich :  Prof.  Dr.  Eduard  Scbwarts  in  Göttmgtfi 


Juli  1906  Nr.  7 


B« Wolff,  Grammatik  der  Einga-Sprache  (Deutsch-Ostafrika, 
Ny assagebiet)  nebst  Texten  und  Wörterverzeichnis.  (Archi? 
für  das  Studium  deutscher  Kolonialsprachen.  Hrs.  von  Eduard  Sachau.  Bd.  III.) 
Berlin  1905,  KommissionsverUg  von  Georg  Reimer.    VIII,  244  S. 

Das  Archiv  für  das  Stadiam  deutscher  Kolonialsprachen  ist  vor 
einigen  Jahren  hauptsächlich  zu  dem  Zweck  begründet  worden,  die 
von  Missionaren,  Beamten,  Offizieren  und  Forschungsreisenden  in 
unmittelbarem  Verkehr  mit  den  Eingeborenen  unserer  Kolonien  ge- 
wonnenen Sprachkenntnisse  möglichst  schnell  nutzbar  zu  machen. 
Auch  das  Unvollkommene,  Unfertige  soll  deshalb  dort  aufgespeichert 
werden,  als  ein  Baumaterial,  zu  dem  der  auf  dasselbe  Feld  Hinaus- 
ziehende neue  Funde  hinzufügen,  bei  dessen  Anordnung  der  auf 
anderen  Gebieten  geschulte,  die  Bequemlichkeiten  der  Heimat  aus- 
nutzende Forscher  beratend  zur  Seite  gehn  mag,  damit  auf  grund 
derartigen  Zusammenwirkens  einst  das  entstehe,  was  heute  auch  von 
einem  Meister  seiner  Kunst  noch  nicht  geschaffen  werden  kann. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  ist  denn  nun  auch  der  vorliegende 
dritte  Band  des  verdienstlichen  Unternehmens  zu  betrachten,  die  auf 
siebenjährige  Erfahrung  aufgebaute  erste  Darstellung  der  Sprache 
eines  auf  dem  Livingstonegebirge  ansässigen  Bantustammes. 

Der  grammatische  Teil  des  Buches  gliedert  sich  in  drei  Ab- 
sctmitte.  Auf  die  elf  Seiten  füllende  Lautlehre,  mit  der  die  Dar- 
stellung beginnt,  folgt  eine  ausführliche,  mehr  als  90  Seiten  um- 
fassende Wortlehre,  und  den  Schluß  bildet  eine  kurze,  fast  skizzenhaft 
kurz  gehaltene  Lehre  vom  Satz.  Die  zur  Einübung  des  Sprachstoffs 
dienenden  Texte >  8  Märchen,  24  Rätsel  und  ein  Loblied  auf  einen 
Häuptling,  sind  sämtlich  mit  einer  Uebersetzung  versehen,  und  den 
ersten  beiden  Stücken  ist  außer  dieser  ziemlich  freien  Uebertragung 
auch  noch  eine  Zwischenzeilenübersetzung  für  die  erste  Einführung 
in  das  fremdartige  Idiom  beigegeben.  Den  Schluß  des  Ganzen  bilden 
zwei  Wörterverzeichnisse,  deren  erstes  vom  Kinga,  deren  zweites  vom 
Deutschen  ausgeht. 

Q«tt.  ftl.  Au.  IM«.  Nr.  7  36 


510  Gott  gd.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Der  erste  Teil  der  Grammatik,  durch  C.  Heinbofis  GinndriS  ener 
Lautlehre  der  Bantusprachen  sichtlich  beeinflußt,  fallt  zmiidist  ai- 
genehm  durch  die  einfache,  klare  Angabe  des  Lautbestaades  aiL 
Der  Wert  jedes  Zeichens  wird  mit  einer  Grenauigkeit  angegeben,  die 
allen  billigen  Anforderungen  vollauf  genügt.  Auch  die  das  Lait- 
gefüge  behandelnden  Regeln  sind  im  großen  und  ganzen  gut  fonni- 
liert.  Nur  die  Angabe  §2,2  »gleiche  oder  sehr  ähnliche  Yokak 
werden  zusammengezogen  und  sind  lang<  ist  wohl  nicht  ganz  korrekt 
Wie  die  Formen  elino  >Zahn€  aus  *eli'ino,  stjla  >entkleiden<  aas 
*8U'Hla  und  andere  zeigen,  bleibt  beim  Zusammentreffen  äbnliAa' 
Vokale  die  Qualität  des  zweiten  erhalten,  so  daß  in  diesen  Filki 
unbedingt  und  wahrscheinlich  auch  beim  Zusammentreffen  gleidior 
Vokale  besser  von  einem  Schwund  des  ersten  mit  Ersatzdehnung  ab 
von  einer  Kontraktion  gesprochen  würde.  Daß  die  Einga  überhaupt 
mehr  dazu  neigen,  beim  Zusammentreffen  zweier  Vokale  den  eisten 
auszustoßen,  als  etwa  beide  zu  einem  neuen  Laut  zusammen  zn 
ziehen,  darauf  deutet  ja  auch  unverkennbar  der  Umstand,  daß  die 
in  der  weit  überwiegenden  Zahl  der  Bantusprachen  beliebte  Zasammea- 
ziehung  eines  a  mit  folgendem  i  zu  6  im  Einga  anscheinend  anf 
einige  Fälle  beschränkt  ist  (vgl.  die  Eonjunktive  von  pa  >gebenc,  to 
>  sagen  <  und  va  >sein<,  §  38),  die  Verschmelzung  eines  a  und  u  za 
0  aber  wohl  nur  ganz  gelegentlich  vorkommt  Daß  letztere  etwa  gar 
nicht  zu  konstatieren  sei,  wie  man  aus  der  Nichterwähnung  dieses 
Vorgangs  schließen  könnte,  darf  jedoch  nicht  zugegeben  werden,  da 
sie  sich  aus  den  Texten  belegen  läßt.  So  ist  beispielsweise  nofusa^ 
in  dem  Satze  lukaJcuka  noliisatfa  Iwa  mwen§  >er  nahm  auch  den  Stab 
desselben  fort<  S.  113  doch  ein  unzweifelhaftes  Eontraktionsprodnkt 
aus  na  und  ulusatfa.  Vgl.  auch  die  Entstehung  des  o  aus  u  +  a  in 
vohwe  S.  113,39  >es  ist  dunkel,  war  dunkel  gewordene,  Rusvu-a-hwe 
(113,33  vu-ka-hwa).  Daß  nicht  jede  im  Einga  vorkommende  Laut- 
änderung  der  Systematik  zuliebe  im  ersten  Teil  der  Grammatik  zur 
Sprache  gebracht  wird,  kann  man  nach  meinem  Dafürhalten  in  An- 
betracht des  wesentlich  praktisch-pädagogischen  Zwecks  des  Lehr- 
buchs nur  gutheißen.  Es  wird  der  Mehrzahl  der  Benutzer  gewiß 
erwünscht  sein,  daß  die  vereinzelten  bzw.  auf  bestimmte  Formen  be- 
schränkten Fälle,  wie  die  Verschmelzung  von  a  mit  f  zu  e  (vgL 
§  38),  die  Aenderung  des  Vokals,  nach  Maßgabe  dessen  der  Folge- 
silbe (vgl.  §  47, 6),  der  Schwund  von  i  (vgl.  §  47, 6),  der  Wechsel 
von  t  mit  e  im  Auslaut  (vgl.  §  42, 2)  nicht  in  der  Lautlehre,  sondern 
bei  Besprechung  der  sie  aufweisenden  Bildungen,  also  in  der  Wort- 
lehre, behandelt  werden.  Dagegen  darf  die  Behandlung  von  Fragen, 
die  über  das  Einga-Gebiet  hinausgehen,  wie  die  in  §  4  gebotenen 


Wolff,  Gramm,  d.  Einga-Sprache  511 

Hinweise  auf  das  Urbantu  und  zwei  ziemlich  willkürlich  aus  der 
Masse  der  vergleichbaren  Sprachen  herausgerissene  Idiome,  nämlich 
das  Suaheli  und  Eonde,  in  einem  in  erster  Linie  für  die  praktische 
Einführung  bestimmten  Buche  meines  Erachtens  mindestens  als  über- 
flüssig, vielleicht  aber  sogar  als  störend  bezeichnet  werden.  Und  ent- 
behrlich waren  wohl  auch  die  in  demselben  Paragraphen  angeführten 
Bemerkungen  über  den  etymologischen  Zusammenhang  von  hflca 
>lachen<  und  umesi  >  freundlich  <,  sowie  dergleichen  mehr.  Denn  dem 
Anfänger  dürfte  es  kaum  schaden,  wenn  er  diese  Wörter  einfach  als 
feste  Bestandteile  des  Sprachschatzes  dem  Glossar  entnimmt  und  das 
Eindringen  in  den  tiefer  liegenden  Zusammenhang  einer  späteren 
Zeit  überläßt.  Ja,  nach  den  Erfahrungen,  die  man  auf  anderen, 
langangebauten  Gebieten  gesammelt  hat,  dürfte  dies  für  den  Beginn 
der  Studien  sogar  weit  besser  sein.  Schlimmer  als  dieses  Zuviel,  mit 
dem  man  sich  immerhin  leicht  abfinden  kann,  ist  dagegen  der  Mangel 
jeder  Auskunft  über  die  Betonung.  Und  wenn  diese  etwa  so  schwach 
sein  sollte,  daß  die  Formulierung  der  Regeln  schwer,  ein  Verstoß 
gegen  den  Gebrauch  nicht  von  Bedeutung  ist,  so  hätte  dies  oder 
ähnliches  doch  dem  Lernenden  zur  Beruhigung  mitgeteilt  werden 
müssen.  Denn  selbstverständlich  ist  auf  dem  Gebiete  des  Sprach- 
lebens doch  beinahe  nichts. 

Auch  die  Wortlehie  gibt  zu  einigen  Bemerkungen  Anlaß.  Die 
§  5  S.  15  aufgestellte  Behauptung,  das  Präfix  ama  (El.  6  nach  Bleeks 
Anordnung)  sei  ein  alter  Dual,  wartet  noch  immer  auf  den  Beweis, 
so  alt  die  Behauptung  auch  schon  ist  (vgl.  W.  H.  J.  Bleek,  A  com- 
parative grammar  of  South  African  languages  p.  200).  Bei  der  Be- 
sprechung der  lokativischen  Präfixe  mti,  pa  und  ku  S.  16—17  (Kl. 
18y  16  und  17  nach  Bleeks  Anordnung)  wäre  ein  Hinweis  darauf  er- 
wünscht gewesen,  daß  diese  Präfixe  in  der  Regel  vor  bereits  mit 
einer  Vorsilbe  versehene  Wörter  gestellt  werden,  also  auf  dem  Wege 
sind,  wirkliche  Präpositionen  zu  werden.  Der  Verfasser  scheint  diesen 
Gebrauch  für  selbstverständlich  zu  halten,  da  er  nur  ihm  ent- 
sprechende Beispiele  gibt.  Selbstverständlich  ist  er  aber  keineswegs, 
wenn  auch  die  rein  präpositionale  Verwendung  der  alten  lokativischen 
Präfixe  in  den  bisher  bekannt  gewordenen  Bantusprachen  ganz  oder 
fast  ganz  durchgedrungen  sein  sollte.  Dafür  spricht  ja  allerdings 
vieles.  Selbst  im  Tonga,  für  das  Torrend,  A  comparative  grammar 
of  the  South  African  Bantu  languages  S.  123  die  altertümlichen  Bei- 
spiele akede  ku-tala  ku-angu  >he  lives  above  mec  und  ukede  ku-nsi 
hu-angu  >he  lives  below  me«  anführt,  herrscht  nach  Ausweis  der 
Texte  (im  Anhang  zu  der  erwähnten  Grammatik)  bereits  die  jüngere 
Gebrauchsweise  vor.    Vgl.  uafua  mu  thganda  i^hua  >er  stirbt  in 

36* 


612  Qött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

seinem  Hause <  S.  283,  tuia  ku  ba-ame^  ku  ba-lumbu  >wir  gehen  n 
den  Häuptlingen,  zu  den  Hellfarbigen <  S.  284,  ue  tdi  hede  a  iif- 
sanea  >er  sitzt  auf  dem  Schaffott<  S.  284,  tuf^urie  maanea  nm  ma- 
nei  >laQt  uns  unsere  Hände  ins  Wasser  tauchen«  S.  284,  wwßg 
mu  bu-ame  >er  kam  zur  Machte  S.  284,  uanjüa  mu  bu-ato  >er  stiog 
in  ein  Boot<  S.  285,  bamm  bakede  ku  Bu4onga  »einige  wohnen  m 
Tongalande  <  S.  286,  etc.  etc.  Aber  diesem  Gebrauch  gegenüber 
stehen  als  Zeugen  des  ursprünglichen  Zustandes  die  alten,  mit  diesea 
Präfixen  gebildeten  Adverbien  wie  Tonga,  Bisa  und  Sena  pamd 
>unten<,  Zulu  und  Xosa  pantsi,  Ronga,  Sukumu,  Guha,  Rua  AaMt, 
Karanga,  Yao,  Kinga,  Konde  pasi^  Ganda  wansi,  Sotho  fase^  Oogo, 
Sagara,  Bondei,  Nyanyembe  hasi,  Shambala,  Nywema  AoÜ,  Tongt 
panee  >  draußen  <,  Rotse  bände,  Herero  pendje,  Ronga  hatuUe,  Xosa, 
Zulu  pandle^  Sotho  fantle  etc.  etc.  Bei  dieser  Sachlage  dürfte  « 
nun  kaum  überraschend  sein,  wenn  heute  oder  morgen  Beispiele  I3r 
den  alten  Gebrauch  aufgefunden  würden.  Anscheinend  bietet  sogir 
das  vierte  der  Kinga-Märchen  einen  Beleg.  Vgl.  S.  119,23:  akaisffisa 
ku  nine  >er  sprach  zum  Freund  <  statt  des  nach  der  Regel  zu  er^ 
wartenden,  S.  118,20  auch  belegten  kunninti  (»der  Freunde  heifit 
unnine,  z.  B.  S.  118,7,  im  Plural  avanin§,  z.  B.  S.  117,11;  das  Wwt 
fehlt  in  beiden  Verzeichnissen).  Es  wird  aber  doch  wohl  heifiei 
müssen  >zu  seinem  Freunde <,  wofür  dann  allerdings  besser  i 
unint:  geschrieben  würde.  Die  Bemerkung  §  14, 1  e  >In  der  Bedeu- 
tung ,das  bin  ich'  usw.  wird  j,  verkürzt  aus  ju  (§  10),  vor  die  Pro- 
nomina gesetzte  könnte  leicht  zu  der  Annahme  verführen,  daß  diese 
Pronomina  nun  auch  immer  die  angegebene  Bedeutung  hätten.  Di 
dies  nicht  der  Fall  ist  —  vgl.  litwUangik  nda  juvq  >er  hat  uns  ge- 
rufen wie  du<,  S.  110,4.5  — ,  so  wäre  eine  kurze  Warnung  vor  dem 
naheliegenden  Mißverständnis  vielleicht  ganz  angebracht  gewesen. 
S.  56  nennt  der  Verf.  die  Bedeutung  der  Stänmie  auf  -e^,  -e^,  t^ 
die  sich  zu  den  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Verben  etwa  verhalten 

wie  das  arabische  vliv  zu  «^J:/  (z.  B.  ^JUT  C^^  =  «UJ?  _Jt  v^J/ 

>er  schrieb  an  den  Könige),  >relativ«  und  das  wohl  im  Anschluß  an  G. 
Meinhof  (vgl.  dessen  Grundriß  S.  201).  Dieser  wenig  treffende  Ersatz  f&r 
Torrends  >applikativ<  (vgl.  dessen  Comparative  granmiar  S.  276) 
scheint  mir  jedoch  um  so  weniger  berechtigt  zu  sein,  als  der  alte, 
das  Wesen  der  Erscheinung  gut  kennzeichnende  Ausdruck  auch  schon 
jenseits  des  Kreises  der  Bantuphilologie  für  verwandte  Bildungen  in 
Gebrauch  ist.  Vgl.  z.  B.  F.  Misteli,  Charakteristik  der  hauptsäch- 
lichsten Typen  des  Sprachbaues  S.  123,  wo  der  Ausdruck  auch  fdr 
die  aztekischen  Verba  auf  4ia  gebraucht  wird.    In  dem  Absehnitt 


Wolff,  Gramm,  d.  Snga-Sprache  518 

Über  das  Perfektum,  vom  Verf.  t2^-Form  genannt,  vermisse  ich  die 
Erwähnung  der  von  Torrend  (Comparative  grammar  Nr.  861)  be- 
sprochenen Bildung  durch  eine  Aenderung  des  Wurzelvokals,  die 
wenigstens  für  ein  Verb,  das  aber  vielleicht  auch  das  einzige  dieser 
Art  ist,  reichlich  belegt  werden  kann,  nämlich  für  vgna  >sehn€.  Vgl. 
das  dem  buene  des  Tonga  und  wene  des  Yao  genau  entsprechende 
Perfektum  vw^ne  in  den  Beispielen  vo  alivw^nf.  elimeAyu  livy§  lid^Q 
»als  er  sah,  daß  die  Stimme  fein  geworden  war<  S.  119,27.29; 
umwana  ndenibtv^e  {-bwene  für  vw§n^  wegen  des  vorausgehenden  m) 
»ich  habe  das  Kind  gesehene  S.  114,27;  iutsivtvene  isQsglo  »wir  haben 
die  Läuse  gesehn c  S.  116,  25;  vo  vatsivw§ne  isqsqIq  »als  sie  die  Läuse 
8ahen<  S.  117, 5. 7;  wAyahovQ  vo  atnbwene^  ctja^k  mumwa  >al8  der 
mit  der  Krähenfeder  sah,  daß  er  darin  (nämlich  in  der  Grube)  ver- 
schwunden war«  S.  118,21;  naiuvavw^niy  tumbwen^.  jujwa  fnwen§  »wir 
haben  sie  nicht  (beide)  gesehn,  wir  haben  nur  ihn  allein  gesehn« 
S.  119,6;  tuvavw^nQ  vo  vaveli  >wir  haben  sie  beide  gesehn<  S.  119,8; 
ma/iya  tumbwcn§^  akambudile  unswambitu  >  nachdem  wir  ihn  als  den 
erkannt  haben,  der  unseren  Sohn  getötet  hat<  S.  119,16.17;  uvwe 
tumbw^ns  athbudik  unswambitu  >wir  haben  ihn  als  den  erkannt,  der 
unseren  Sohn  getötet  hat«  S.  119,19;  uveve  vo  uvw^ne,  nden^udil^. 
>8obald  du  gesehn  hast,  daß  ich  sie  getötet  habe<  S.  119,24;  vo 
a^avw^e  ama^asi  madunu  >als  er  das  rote  Wasser  sah<  S.  119,28, 
vavw^§,  a^^lil^  >sie  sahen,  daß  er  verschwand«  S.  120,9;  ävw^ne 
lulQkil§  ukti^^da  »er  sah,  daß  (seine  Kraft)  zu  gehn  erschöpft  war< 
S.  122,25;  vavw^e,  ato^l^  mu  mbeki  nkya'Aya  »sie  sahen,  daß  er 
auf  einen  Baum  hinaufgeklettert  war«  S.  122, 27  etc.  etc.  Die  An- 
gabe §  28,  daß  die  Silbe  tsi  in  eine  Anzahl  der  obengenannten  Formen 
eingeschoben  werde,  läßt  einen  Zweifel  darüber  walten,  wie  weit 
diese  Bildung  herrscht,  könnte  vielleicht  aber  auch  zu  dem  Glauben 
verführen,  daß  sie  auf  die  durch  die  Beispiele  angedeuteten  Tem- 
pora beschränkt  sei.  Daß  letzteres  nicht  der  Fall  ist,  lehren  aber 
beispielsweise  die  Formen  uiigatsileka  >du  magst  sie  lassen  <  S.  115,5 
und  nngatsivone  »wenn  ihr  sehn  solltet«  S.  115,17.  Von  einer  ^a- 
Form  zu  reden,  wie  es  §  31  geschieht,  ist  nicht  richtig.  Das  Suffix 
ist  -a^a,  entsprechend  dem  -aga  des  Yao,  Kaguru,  Nyamwezi  und 
Mpongwe  und  dem  -anga  des  Kafrischen,  Ronga,  Kongo  und  Ganda. 
Wenn  das  Suffix  ^a  wäre,  würden  die  Konjunktivformen  ndäova^^ 
etc.  unerklärlich  bleiben.  Es  verhält  sich  aber  eben  ndef^/v-a^e  zum 
Indikativ  ndiigv-ajame  ndfigv-e  zu  nditov-a.  §  46,6  heißt  es:  »Eine 
andere  Form  wird  mit  pa  und  li  gebildet,  die  beide  vor  das  Personal- 
pronomen mit  dem  reinen  Stamm  gesetzt  werden.  Die  Bildung  mit 
pa  U  findet  sich  aber  auch  in  Verbindung  mit  anderen  FormeUi  z.  B. 


514  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

mit  dem  vom  Verf.  als  X-a-Form  bezeichneten  Aorist.  Vgl.  akai^ 
ujiingQ  umbaha,  pa-l-a-ka-n-dya  >er  holte  sich  das  eine  große  (Ein^ 
und  dann  fraß  er  es  auf<  (S.  109, 27. 29). 

In  der  Satzlehre,  die  auch  verschiedenes  erwähnt,  was  streng 
genommen  nur  die  Bedeutung  der  einzelnen  Wortarten  betrifft,  erregt 
nur  eine  Behauptung  Anstoß,  nämlich  die  Bemerkung  >Die  Präfixe 
mit  vokalischem  Anlaut  entsprechen  etwa  dem  bestimmten  Artikel, 
ohne  vokalischen  Anlaut  dem  unbestimmten <  §  53, 1.  Denn  mit  dieser 
Regel  steht  die  Sprache  der  Texte  keineswegs  in  Einklang.  Es  lassen 
sich  unschwer  auch  Beispiele  ausfindig  machen,  die  gerade  auf  du 
Gegenteil  deuten.  Es  scheint,  daß  der  vokalische  Anlaut  im  Kingt 
überhaupt  nichts  mehr  mit  einem  Artikel  zu  tun  hat,  weder  mit 
einem  bestimmten  noch  mit  einem  unbestimmten,  gleichgültig,  welche 
Bedeutung  ihm  ursprünglich  zugekommen  sein  mag.  Beispiele  Ittr 
den  Gebrauch  von  Präfixen  ohne  vokalischen  Anlaut,  die  unserem 
bestimmten  Artikel  zu  entsprechen  scheinen,  sind  folgende :  Im  ersten 
Märchen  gibt  der  Weise  dem  Schakal,  der  eine  feine  Stimme  zu 
haben  wünscht,  den  Bat,  sich  tüchtig  von  Ameisen  beißen  zu  lassen. 
Und  dann  heißt  es  (S.  110,25)  akavuku  ku  mpudaswt'  »er  ging  zn 
den  Ameisen €.  Denn  so,  und  nicht  >er  ging  zu  Ameisen <  wird  man 
doch  wohl  übersetzen  müssen,  und  übersetzt  der  Verf.  auch  selbst 
die  Stelle.  Ferner  S.  113, 13. 15:  vo  asike  Im  nyumba  ja  munu  u/owi' 
kevcy  akatova  pa  Iwitsi  »als  es  angelangt  war  bei  dem  Hause  eines 
Mannes,  Schakal  (genannt),  da  klopfte  es  an  die  Türe  S.  114,1—5: 
urnwenr,  akata:  ^hutnbe^  iivetsaye  undäla  vam<  umwene  akav^ia  akata: 
ybako,  ndiyodoka  pa  wisiku*  >er  sagte:  ,nun,  werde  meine  Frau'.  Sie 
weigerte  sich  und  sagte:  ,Nein,  am  Morgen  kehre  ich  nach  Hause 
zurück'«,  S.  116,31 — 33:  nkavuka  ku  nyumba  ja  vwikov^.  »sie  ging 
zum  Hause  des  Schakals <.  Beispiele  für  den  Gebrauch  von  Präfixen 
mit  vokalischem  Anlaut,  die  unserem  unbestimmten  Artikel  zu  ent- 
sprechen scheinen,  sind  andrerseits  aka^uvgna  ku  vutal^  umwQto  »es 
sah  in  der  Ferne  ein  Feuer <  (S.  113,9)  (von  dem  vorher  noch  gar 
keine  Rede  gewesen);  ebenso  tujavtijc  eli^uli  »laß  uns  eine  Grube 
graben«  (S.  118, 15),  vakavavona  avanu  pa  neüa  »sie  sahen  Leute 
auf  dem  Wege«  (S.  119,4.5)  u.  a.  m.  Natürlich  sind  jedoch  auch 
die  Beispiele  nicht  selten,  die  mit  der  vom  Verf.  gegebenen  Regel 
in  Einklang  stehn.  Vgl.  undäla  akale  na  vana  vani,  ve  asihü^  mu 
manya  »eine  (gegen  des  Verf.  Regel)  Frau  hatte  vier  Kinder,  die 
verbarg  sie  in  einer  (des  Verf.  Regel  entsprechend)  Höhle<  S.  109,5; 
lüsd^  elinu,  likalye  ummama  »ein  (gegen  die  Regel)  Untier  ist  ge- 
kommen und  hat  das  (nach  der  Regel)  älteste  (Kind)  gefressene 
S.  109,34.    Derartige  Beispiele,  die  sich  mit  Leichtigkeit  vermehren 


Wolff,  Gramm,  d.  Einga-Sprache  515 

ließen,  zeigen  also,  daß  der  vokalische  Anlaut  der  Präfixe  wenigstens 
im  jetzigen  Einga  nicht  mehr  die  Bedeutung  eines  Artikels  hat  Da* 
gegen  fällt  dem  unbefangenen  Leser  etwas  anderes  sofort  auf,  näm- 
lich, daß  die  Präfixe  nach  Präpositionen  und  den  präpositionsartig 
gebrauchten  Präfixen  16.17.18  der  Bleekschen  Anordnung  den  voka- 
lischen Anlaut  in  der  Regel  nicht  aufweisen.  Vgl.  na  vana  vani  >mit 
Yier  Kindem<  S.  109,5;  mu  maüga  >in  einer  Höhle<  S.  109,5; 
p'itsuva  >am  Tage«  S.  109, 9, 15;  117, 21 ;  ky.  nendili  >bei  den  kleinen 
Trommeln«  S.  109,11.17.23.29;  110,35;  111,11,  ku  liyaluhala 
»zumWeisen<  S.  110,17;  ku  mUialaswe  »zu  den  Ameisenc  S.  110,25; 
nmwgtg  »ins  Feuere  S.  112,7.13.17.19.25;  ku  lu^asi  »an  den  Fluß< 
S.  112, 36;  113,5;  ku  vutak  >in  der  Feme<  S.  113, 9;  ku  'Ayuntba 
»zum  Hause,  nach  Hause<,  S.  113,13.35;  S.  115,9.35;  116,1.17.31; 
pa  Iwüsi  >an  die  TUr<  S.  113, 15;  pa  vusiku  >am  Morgen<  S.  114,5.25; 
mtf  mwUesu  >in  der  Matte<  S.  114,29;  pa  ntwe  »auf  dem  Kopf< 
S.  115,5.19.25;  117,5;  nnyumba  >ins  Haus<  S.  116,39.  Diesen  den 
ersten  beiden  Texten  entnommenen  Belegen  stehn  dort  nur  n-eli- 
m^Ayu  »mit  der  Stimme«  (S.  109, 25;  110,7;  13.29)  und  nolusaja 
(S.  113,7  aus  ^na-tdu'Saja)  >mit  dem  Stabe  in  dem  Satze  lukakuka 
nolusa^a  >er  nahm  auch  den  Stab«  als  Ausnahmen  gegenüber.  Denn 
zwei  weitere,  an  sich  zweideutige  Fälle,  kuntunaAya  »zum  Zauber- 
doktor (S.  111,37)  und  navanu  >mit  Leuten«  (S.  117,15),  sind  in  An- 
betracht der  übrigen  Belege  wohl  in  ku-n-tutlurlya  und  na-va-nu  zu 
zerlegen,  nicht  in  k-un-iutiaAya  und  n-am-wa,  können  demnach  nicht 
als  Ausnahmen  angesehn  werden.  Dieser  Gebrauch  in  Verbindung 
mit  anderem,  aus  den  Texten  Ersichtlichen,  vor  allem  der  Bevor- 
zugung der  vokalisch  anlautenden  Form  im  Satzanfang  dürfte  aber 
wohl  darauf  deuten,  daß  die  Nomina  mit  zweisilbigem,  also  vokalisch 
anlautendem  Präfix  im  heutigen  Einga  in  erster  Linie  Pausa- 
formen  sind,  ähnlich  wie  im  Ronga,  Ganda  und  anderen  verwandten 
Dialekten.  Vgl.  besonders  Henry  A.  Junod,  grammaire  Ronga  (Lau- 
sanne 1896)  S.  120—122,  die  Texte  S.  202—213,  auch  die  Erzählung 
Zeitschr.  f.  afrik.  und  ocean.  Sprachen  IH  229 — 244,  Elements  of 
Luganda  Grammar  (London  1902)  S.  146—149. 

Hinsichtlich  der  Texte  habe  ich  zweierlei  zu  beanstanden  oder, 
ich  will  lieber  sagen,  möchte  ich  zwei  Wünsche  für  künftige  Fälle 
zur  Sprache  bringen.  Ich  möchte  wünschen,  die  Herausgeber  derar- 
tiger Lesestücke  behielten  den  Zweck  ihrer  Tätigkeit  etwas  schärfer 
im  Auge,  als  es  in  der  Regel  geschieht  und  namentlich  im  vor- 
liegenden Falle  geschehen  ist,  und  gäben  dies  durch  möglichste  Ge- 
nauigkeit der  Uebersetzung  und  auch  durch  eine  die  Formzerlegung 
erleichternde  typographische  Einrichtung  zu  erkennen.    Die  Ueber- 


516  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

setzangen  des  Verf.  sind  meines  Erachtens  viel   zv  frei.    Sie  eat- 
halten  Dinge,  von  denen  das  Original  überhaupt  nichts   verUnten 
läßt,   die  ganz  zweckmäßig  in  Anmerkungen  zur  Sprache  gebracht 
werden  könnten,  nicht  aber  einen  Teil  der  Uebertragung  ausmachoi 
dürfen,  da  sie  dann  nur  zu  leicht  irreführen.    Es  darf  doch  auch 
nicht  vergessen  werden,  daß  ein  Buch  wie  das  vorliegende  &8t  nur 
Anfänger  voraussetzen  darf.    Denn  außer  den  wenigen,  die  yieDeicht 
einmal  im  Kingalande  gewesen  sind,  hatte  doch  wohl  kaum  jemand 
Gelegenheit  gehabt,  die  dortige  Sprache  kennen  zu  lernen.    Der  Be- 
ginn  des  ersten  Märchens  lautet:  undäla  akcU^.  na  vana  roni,  ve 
asihili:  mu  manga  akata:   ynttcg  ntamagt  t^erp/itic.    ^mwen^  dkavtika 
,Hkf^  avnkilt.    pHtsuva  ditlge  dkema  nda  kuko  akilanga  akata:   >iy 
nendäi  avana  ava^  nda  kumpiva?'*  d.  h.  >Eine  Frau  hatte  vier  Kinder. 
Sie  verbarg  sie  in  einer  Höhle  (und)  sagte:   ,Hierin  bleibt  schön 
sitzen'.    Sie  selbst  ging,   wohin  sie  gegangen  ist.    Am  andren  Tage 
stand  sie  wie  dort,  rief,  sagte :  ,diese  Kinder  bei  den  kleinen  Trommehi, 
ob  ihr  da  seid?'<    Der  Verf.  übersetzt  dies  wie  folgt:    >E8  hatte 
einmal  eine  Frau  vier  Kinder.    Da  sie  selbst  zu  ackern  hatte  und 
bei  dieser  Arbeit  die  Kinder  nicht  recht  beaufsichtigen  konnte,  ver- 
barg sie  dieselben  in  einer  Höhle,   deren  sich  viele  in  den  Bergen 
befinden.  Sie  sagte  zu  ihren  Kindern :  nun  verhaltet  euch  recht  ruhig 
und  seid  hübsch  artig.    Dann  ging  sie  zu  ihrem  Acker,  in  der  Mei- 
nung, ihr  Bestes  getan  zu  haben,   zumal  diese  Höhlen  nicht  leicht 
von  jemand  zu  entdecken  sind.    Die  Kinder  wohnten  nun  in  dieser 
Höhle,  sangen  und  spielten,  machten  sich  aus  runden  BambusstQcken 
kleine  Trommeln,  indem  sie  über  die  Oeffnung  des  Bambusrohres  ein 
Stäbchen  befestigten,  auf  das  sie  dann  mit  einem  anderen  etwas 
größeren  Stäbchen  schlugen,  wie  man  auf  eine  Trommel  schlägt  Als 
die  Mutter  am  nächsten  Tage  dort  vorbei  kam  und  das  Getrommele 
hörte,  rief  sie  von  weitem:   ,Kinderchen  dort  mit  euem  Trommeln, 
seid  ihr  noch  alle  da?'<     Sollte  das  nicht  doch  zuviel  des  Gut«i 
seinV  Nun  ließe  sich  ja  allerdings  geltend  machen,  daß  diese  Ueber- 
tragung eben  nur  die  Bolle  des  Kommentars  übernehmen  solle,  da 
durch  die  Interlinearversion  für  die  Erklärung  der  einzehien  Formen 
hinreichend  gesorgt  sei.  Dies  würde  dann  aber  nicht  auf  die  Ueber- 
setzungen  Anwendung  finden  können,  die  keine  Zwischenzeilenäber- 
tragung  voraussetzen,  und  zudem  kann  man  auch  im  Kommentieren 
die  Grenze  des  Erlaubten  überschreiten.  Ein  Beispiel  ist  der  Anfang 
des  dritten  Märchens.    Es  beginnt:  avaiume  vavdi  vakavt^a  kurilda 
idtikglg  Iwa  vent,  d.  h.  »zwei  Knaben  gingen  ihre  Verwandten  be- 
suchen <.    Dazu  lautet  die  Uebersetzung:   »Einst  machten  sich  zwei 
Knaben  auf  den  Weg,  ihre  Verwandten,  die  weit  entfernt  wohnten, 


WoUF,  Oramm.  d.  Einga-Sprache  517 

za  besuchen <.  Was  soli  da  nun  das  ganz  selbstverständliche  > einst«, 
und  was  soll  das  nicht  selbstverständliche,  aber  ganz  überflüssige, 
fttr  den  Gang  der  Erzählung  gar  nicht  in  Betracht  kommende  »die 
weit  entfernt  wohnten?«  Daß  die  Verwandten  nicht  neben  der  Tür 
wohnten,  ergibt  sich  allerdings  daraus,  daß  die  Knaben  auf  dem 
Wege  zu  ihnen  an  mehreren  Hügeln  vorbeikommen.  Weiter  wird 
aber  auch  einfach  gar  nichts  berichtet,  was  etwas  mit  der  Entfernung 
2u  tun  hätte,  und  wenn  die  Verwandten  auch  noch  so  weit  wohnten, 
dann  dürfte  man  doch  dem  europäischen  Leser  auch  dasselbe  zu- 
trauen, was  der  Märchenerzähler  im  Kingalande  seinen  Volksgenossen 
zutraut,  nämlich,  daß  man  das  im  Laufe  der  Erzählung  schon  selbst 
merkt.  Meiner  Meinung  nach  wird  durch  einen  solchen  unnützen 
Znsatz  nur  das  erreicht,  daß  ein  auf  dem  Bantugebiet  noch  nicht 
heimischer  Lernender  krampfhaft  im  Urtext  nach  den  Worten  sucht, 
die  von  der  weiten  Entfernung  Bericht  abstatten  und  sich  dadurch 
in  seinem  Studium  hemmt.  Abgesehn  von  genaueren  Uebersetzungen  ^ 
wäre  aber  auch  noch  eine  die  Analyse  erleichternde  Aufzeichnung 
wenigstens  eines  kleinen  Teils  der  Texte  recht  erwünscht  gewesen, 
zumal  da  das  Glossar  leider  nicht  immer  die  notwendige  Auskunft 
erteilt.  Durch  Abtrennung  der  Präfixe,  soweit  nicht  unauflösbare 
Kontraktionen  vorliegen,  und  reichliche  Hinweise  auf  die  in  Betracht 
kommenden  Regeln  der  Grammatik  würde  meines  Erachtens  eine  weit 
besser  schulende  Anleitung  gegeben  als  durch  bloße  Uebersetzungen. 
Um  zu  veranschaulichen,  wie  ich  mir  einen  so  präparierten  Ein- 
führnngstext  vorstelle,  gebe  ich  den  Anfang  des  vierten  Märchens 
als  Probe.  Äva-^ogolo  (§  5  Kl.  1).  Ava-^osi  (§  5  KL  1)  va-veli  (§  9) 
va'ka-4s§figile^  (§  27,2)  pa  (§  5  Kl.  12)  lu-jasi  (§  5  Kl.  7),  wu-nge 
(§  19  u.  §§  10.11)  ku  (§  5  Kl.  13)  nma,  tiju-ngrj  Ten  sika.  uve  (§  13) 
a-ka-tseiügile  (§  27,2)  Jeu  nma,  a-ka-tsova  (§  26,3)  ku  nine  (§  5  Kl.  1), 
uve  (§  13)  a-tsengäe  (§  27,1)  ku  sika,  a-ka-ta  (§  26,3):  tu-hudaj^e 
(§33c)  ava-juva  {%ll,2)  v-itu  (aus  *V'aritu  §  16,b),  ttne  (§14,1) 
nde-huda^t  (§  33  c)  u-jtiva  (§  17,2)  v-a-ne  (§  16,  a),  uveve  (§  14,  Id) 
vo  u^vwQne  (statt  ^u-vonile  §  26,5),  nde-^-budih  (§  27,1b),  po  u-ka- 
m-bude  (§  33  g)  na-juve  (§  14, 1  e)  u-^aAyoko  (§  17, 2).  u-mwene  (§  14, 1  a) 
a-kredika  (§  26, 3).   va-ka-vuka  (§  26, 3). 

Die  Wörterverzeichnisse  lassen  leider  sehr  viel  von  der  Sorgfalt 
vermissen,  die  bei  der  Ausarbeitung  eines  praktischen  Lehrbuchs 
unbedingt  verlangt  werden  muß.  Die  Pronominalbildungen  sind  offen- 
bar planmäßig  von  der  Aufnahme  ausgeschlossen  worden,  womit  man 
sich  schließlich  abfinden  kann,  so  wenig  ich  es  auch  gutheißen 
möchte.  Denn  man  verlangt  meiner  Ansicht  nach  etwas  viel  vom 
Leser,  wenn  man  ihm  zumutet,  sich  die  in  verschiedenen  Abschnitte 


518  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

besprochenen,  zerstückelten  und  zerstreuten  Bildungen  sofort  so  ein- 
zuprägen, daß  ihm  bei  Beginn  der  Lektüre  alles  gegenwärtig  ist. 
Ich  würde  es  sogar  für  wünschenswert  halten,  bei  einem  solchen 
Wortregister  nicht  nur  die  Uebersetzung,  sondern  auch  jedesmal 
einen  Hinweis  auf  die  in  Betracht  kommenden  Paragraphen  d«: 
Grammatik  zu  geben.  Planmäßig  ausgeschlossen  scheinen  femer  auch 
diejenigen  Wörter  zu  sein,  die  man  als  Gelegenheitsbildungen  be- 
zeichnen könnte,  wie  beispielsweise  uü-k^^  >  Schakal  <  mit  dem  PriLfix 
der  1.  Klasse  zur  Bezeichnung  desselben  in  einer  Art  Menschenrolle, 
als  das  im  Märchen  sprechend  auftretende  Tier  im  Gegensatz  zn 
dem  als  gewöhnliches  Tier  betrachteten  en§v§  mit  dem  Präfix  der 
3.  Klasse.  Aber  auch  innerhalb  dieser  Beschränkung  auf  Substantiya, 
Adjektiva,  Verba  und  Adverbien  erstarrter  Bildung  lassen  die  Wörter- 
verzeichnisse noch  manches  vermissen.  Für  das  vom  Deutschen  aus- 
gehende Glossar  ist  dies  vielleicht  nicht  von  großer  Bedeutung.  Beim 
^kinga-deutschen  Verzeichnis  dagegen  wird  sich  dem  Lernenden  dieser 
Mangel  insofern  recht  unangenehm  fühlbar  machen,  als  er  nun  beim 
Lesen  der  Texte  vielfach  auf  ein  nicht  wünschenswertes  Erraten  an- 
gewiesen wird.  Denn  die  Uebersetzungen  sind,  wie  ich  bereits  be- 
merkt habe,  viel  zu  frei,  als  daß  sie  ein  genaues  Wörterbuch  ent- 
behrlich machen  könnten.  Ich  führe  im  Folgenden  von  den  von  mir 
im  Glossar  vermißten  Worten  diejenigen  an,  die  in  den  Märchen  be- 
legt und  nicht  den  gemachten  Andeutungen  entsprechend  planmäßig 
ausgeschlossen  sind,  begnüge  mich  aber,  von  einzelnen  Ausnahmen 
abgesehen,  damit,  jedesmal  nur  eine  Belegstelle  anzuführen.  S.  109,5: 
un-dala  1.  Kl.  > Franc,  umw-ana  1.  Kl.  >Kind<,  ematiga  3.  Kl.  (Stamm 
panga)  »Höhle«;  7:  ngnu  »gut,  schön<;  9:  kuJcg  >dort< ;  29:  uva- 
'AyinavQ  >ihre  Mutter  <  (im  Text  steht,  wohl  irrtümlich,  avaAyinavo. 
Vgl,  die  richtige  Form  S.  110,9);  110,1:  vovul^  >nur  noch«;  3:  ^i- 
nu  6.  Kl.  »Untier,  Ungeheuer«  (vgl.  121,16:  »Unmensch»),  9:  eäika 
»zustimmen <  (so  auch  S.  118,15  und  häufiger.  In  beiden  Verzeich- 
nissen steht  edeka) ;  17 :  mie  »schweigend«,  u-nya-luhala  1.  Kl.  »Weiser«; 
21:  umu'halasw^.  2.  Kl.  > Ameise«  (im  Glossar  eU-halasu  6.  Kl.); 
111,34:  tanm  »zur Hilfe  rufen«;  36:  Ayw^a  > trinken  für«  (zu  liywa 
>trinken<);  37:  un-tunaAya  1.  Kl.  »Arzt,  Zauberdoktor«;  112,9: 
pSnza  >hindem<;  23:  ha^dl^la  >sammeln  für<  (zu  ha^ala  »Holz 
sammeln«);  30:  umenza  1.  Kl.  (Stamm  henm)  »Mädchen«,  aka-ntsi^ii 
5.  Kl.  »Hülsenfrüchtchen«;  113,8:  uvu-tale  8. Kl.  >Ferne«;  33:  hwa 
»dunkel  werden<  (vgl.  auch  113,39);  114,3:  v^la  »sich  weigern«; 
15:  eli-t^su  6.  Kl.  > Matte <;  33:  nyosoh^tsa  »säugen,  nähren«  (zu 
'/iywesa  »tränken«  mit  Uebergang  von  we  zu  q)\  115,13:  u^-^iJbi 
7.  Kl.  »Mal«;   116,15:  paHya  »dort«;   117,15:  alamela  »verfolgen«, 


Wolff,  Gramm,  d.  Einga-Sprache  619 

36 :  un-dumQ  1.  Kl.  (Stamm  lutn^)  >Knabe< ;  118, 6 :  sula  >verschmähen< ; 
28:  käavo  »morgen<;  18:  eli-^uli  6.  Kl.  >Grube€;  38:  eki-^oriQ  4.  Kl. 
>Tag<  (vgl.  120,35);  119,5:  upu  >wo,  woher,  wohinc;  12:  pasi 
>unten<;  14:  tnatela  »Erde  werfen  aaf<  (zxxmaia)]  22:  siX^a  »unten« ; 
26:  uvu'tonu  8.  Kl.  »Brombeere«;  26:  dndila  >ausgieQen€;  37:  tm- 
tsimu  l.Kl.  »Tor,  Dummkopfe;  120,1:  Jcw^ja  >m  die  Hand  nehmen, 
ergreifen«;  4:  un-javg  >ihr  Freund«;  12:  eki'$ind§  4.  Kl.  »Erdscholle, 
OrasschoUe«  (127,7:  eki-sindt);  13:  kyaAya  »droben«;  14:  ptsiekela 
> warten  auf«;  20:  n§<fa  »schöpfen«  (Wasser);  33:  eli-kumbulo  6.  Kl. 
»Hacke«;  121,1:  eki-lume  4.  Kl.  >  Junge«  (Demin.  zu  un-dum^  l.Kl. 
S.  117,3  etc.),  okgla  »holen«  (vgl.  auch  120,36);  13:  h^ngda  (einen 
Garten  etc.)  vorbearbeiten  (zu  Af%a  »Gras  mähen«;  15:  6^i-<^^  6.  Kl. 
»Kerl«  (zu  uri-tfosi  l.Kl.  »Mann«);  21:  ti!;!^-A'^  8.  Kl.  »Honig«  (im 
deutsch-kinga-Glossar  uvw-ok^;  vgl.  jedoch  Tonga  6u-ci,  Torrend, 
Comp.  Gramm.  Nr.  455):  22:  ulu-stiv^  7.  Kl.  »glimmendes  Kürbis- 
hügelbeet;  23:  wfnwüsukulu  »Enkel«;  26:  un-sitigQ  2.  Kl.  »Hals«, 
eljrtumba  6.  Kl.  >Leib«;  35:  u-sQiigidye  >seine  Tante«;  37.39:  un- 
sÜQ  2.  Kl.  >Wald«;  122,6:  uhj-htQ  7.  Kl.  >Rasiermesser«,  uvu-pUa 
8.  Kl.  >Brei«;  11.  hot^la  »sammeln  für« ;  13:  tdti-jwUi  7.  Kl.  >Haar«; 
15:  tdu'Sapa  7.  Kl.  > Baumwolle«;  16:  en^unu  3.  Kl.  (Stamm  tsunü) 
>Beil«;  17:  eki-vana  =  eki-hana;  33:  embulukutu  3.  Kl.  (Stamm 
vulukutu)  »Ohr«;  123,20:  pa^ika  =  pa^eka;  124,9:  eli-kanu  6.  Kl. 
»wildes  Tier«;  16:  fi^^effla  »schöpfen«;  21:  ulu-ttde  7.  Kl.  >Stampf- 
block«;  24:  eli-vend^  > Talsenkung « ;  125,21:  u^u-jüa  10.  Kl.  >großer 
Weg«;  28:  eki-^g^olQ  4.  Kl.  > Greisin,  Alte,  Hexe«;  34:  uvu^g^oda 
8.  Kl.  =  emi-doJQda ;  127, 3 :  tdts-vunguvuiHgu  7.  Kl.  >dunkles  Gebüsch« ; 
11:  enguvQ  3. Kl.  >Fell«,  eM-ntaüga  4.KI.  > Messingring«;  14:  un-t^jo 
2.  Kl.  »Falle«;  29:  di-loneu  6.  Kl.  >Löwe«;  128,5:  eli-dovela  6.  KL 
>Beet« ;  31 :  ku-n^ka  >betrügen«. 

Zum  Schlüsse  sei  mir  noch  ein  Vorschlag  gestattet,  der  streng 
genommen  allerdings  nicht  nur  das  vorliegende  Buch  betrifft,  aber 
doch  durch  dasselbe  gewissermaßen  angeregt  wird.  Es  fibt  wohl 
wenige  Sprachen,  bei  denen  soviel  anfänglich  überraschende  und  ver- 
wirrende Formfülle  gleich  leicht  auf  eine  ganz  kleine  Zahl  von  Ele- 
menten zurückgeführt  werden  kann,  wie  bei  den  Bantuidiomen.  Des- 
halb scheint  es  mir  auch  für  den  Unterricht  von  Wert  zu  sein,  die 
verschiedenen,  von  einander  abgeleiteten  Formen  möglichst  über- 
sichtlich nebeneinander  zu  stellen,  Tabellen  zu  liefern,  die  man  beim 
Beginn  der  Lektüre  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  unausgesetzt 
im  Auge  behalten  muß,  um  möglichst  schnell  die  den  Gang  des 
Studiums  erleichternde  Analyse  zu  erlernen.  Um  zu  zeigen,  wie  ich 
mir  derartige  Tabellen  ungefähr  denke,  gebe  ich  im  Folgenden  eine 


520 


CHHt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  7 


derartig  zusammengedrängte  Darstellung  der  Deklination  und  Konju- 
gation der  Eingasprache  mit  Hinweisen  auf  die  entsprechenden  Pan- 
graphen  der  Grammatik,  die  nur  die  §  17  behandelten  Verwandt- 
schaftsnamen und  die  defektiven  Verba  2t,  va  und  a  nicht  beräck- 
sichtigt. 

Ich  bemerke  dazu  nur  noch,  daß  die  bei  dieser  Zusammen- 
stellung vorgenommene  Analyse  nur  auf  der  Beobachtung  der  vor- 
liegenden Sondersprache  beruht,  von  sprachvergleichenden  Erwägungen 
durchaus  absieht.  So  bedeutet  ^  weiter  nichts  als  das  Grundelement 
des  Verbs,  was  sich  aus  dem  Verbalnomen,  dem  sog.  Infinitiv,  durch 
Abstreifung  des  Präfixes  und  der  Endung  a  ergibt,  also  etwas,  was 
zuweilen  ein  ehemaliges  Dasein  voraussetzen  läßt,  sehr  häufig  aber 


§5— e 

Dm. 
20 

pron.  conj. 

pron.  i)erfl.  Ab«. 

§10. 

cf  g  12 

pron.  poflS. 

816 

=  pron. 

cf.  |7.9 

.  CM 
to  ^^ 

COI[j.    pOH, 

+ 

iL 

Uli 

- 

SU,labj| 

gU,lcd 

§14,16 

§H,lg 

1.   pS.  Bg. 
L  pS*  pl 

r«fc- 

-vtet 

2.  p«.  Bg. 

^hs- 

r*t;-ff 

fy^J'VC-ve 

J-lM?f 

ü^'H-VC 

-ve 

kQ 

cf^mic^fiK 

2.  ps.  pl 
1.  cl 

M-m^- 

-va- 

0-a- 

(f^J^yc 

j-V-fiyt 

^-^-^-nyt 

Ipl. 

2^  Ol.  ''; 
pl. 

faj-va- 

PH? 

(€)mi^ 

m^ 

rfy-P 

-fy-ent 

e-fy-&n 

S.  el.    '^ 
(pl 

r^m- 

(M- 

J*ö 

j-me 

€-j-p^ 

ß)-Hi^ 

^Mi- 

t9-a* 

i*-i? 

-t9-Cn^ 

i'tTfllf 

4.  cl.    'f 

pl 

r^-fci- 

%i- 

fty-a- 

Äy-o 

-hf-cnc 

«-ly-fMf 

ßHi- 

si- 

«y-a- 

Stf-Q 

'9y-cnc 

t-«y-f»* 

'■  «^i  ^!: 

pl 

7.  cl  Bg. 

8.  cl.  Bg, 

9.  cl  Bg. 
10.  cl  Sg. 
11   d.Bg. 

(^Hi 

h- 

fy-o- 

ly-Q 

•(y-f»W 

<-fy-f«* 

ku- 

vto-a 
mto-a 

12.  a 

i«*- 

JHl* 

|A-a- 

P-Q 

*pTnf 

|Hf*V 

18*  d. 

Ä(t* 

*tf- 

kw-a 

ftw-ö                             1 

-ÄW-ffltf 

itlO-M 

■ 

1 

1 

J 

[ 

WoliF,  Gramm,  d.  Emga-Sprache 


621 


eine  nachweisbare  bloße  Abstraktion  ist,  wie  beispielsweise  bei  den 
abgeleiteten  Verben  auf  eha,  uka,  ^la  etc.  So  soll  der  Umstand,  dafi 
der  Plural  des  Imperativs  an  einer  anderen  Stelle  angeführt  wird 
als  der  Singular,  keineswegs  die  Behauptung  eines  verschiedenen 
Stanmies  in  sich  schließen,  sondern  nur  das  Auffinden  einer  solchen 
Form  möglichst  erleichtern.  Als  Vorbereitung  zu  einer  vergleichen- 
den Grammatik  wUrde  eine  derartige  Anordnung  natürlich  nicht 
statthaft  sein.  Als  Hülfsmittel  für  die  Erlernung  der  Einzelsprache 
scheint  sie  mir  dagegen  durchaus  unbedenklich,  und  sollte  dies  auch 
nicht  der  Fall  sein,  so  wird  dadurch  der  Kernpunkt  meines  Vor- 
schlags, den  ich  übrigens  auf  Grund  praktischer  Erfahrung  mache, 
ja  noch  nicht  berührt. 


pron.  dem. 

pron. 

Tel 

8  13a 

nron. 

interr, 

über  praefig.  too 

l 

s 

IS 

§  IIa.  §  IIb,  5  11c. 
cf.  §  13b 

§1U 

SUe 

§llf 

■^^ii  §  18b  fula(i  ndeti  tidamu  ndapi  ndaku 

§iei 

V€-ni  *wer?^ 

va-ni  'wer'  (pl.) 

vtvy-a-ni'/  *wer  biat  duT                   | 

nyciiy-a-ni?  'wer  seid  ihr?' 

§l8a 

S18C 

^\Bd 

Sl8g 

§18h 

th?"if 

U-jw-A 

u^lya 

;«-/« 

i^-jte'a 

m-iya 

^-vt 

^^}-v-a-ni 

a-liktt 

ri^Jtt 

r-eitt 

a-ra 

a-v-Q 

va-lya 

va-va 

PO-V-Q 

vet^a-iya 

u^-O 

(aj-ij-a-ni 

va-liku 

va-ki 

v-tki 

\ia^ingi 

V-j/tf 

tf-j/tr  a 

gU'lyfi 

^A 

gu-yw-a 

g^-fjiAya 
mi'ly<^ 

U'0'Q 

(^-g^c-a-ni 

tfU'iiku 

ri-Jfct 

L 

^i€-€ki 

Hi 

t-lya 

Ut-gt-yr 

it-H 

(gH'liku 
Wi-ii^ 

fiyi'ki 

gj-tki 
j-eki 

Hingt 

iisi 

i'U-g 

(tsMyo, 

iBi'is-g 

isi-isi-lya 

i-u-Q 

{€}'U-a-ni 

Wi-Uku 

nyi-ki 

tn-eki 

i-ii^igi 

t^ki 

e-ky-g 

ki-lya 

kt-ki 

ht-ky^ 

kc-ki-lya 

t-ky^Q 

(i)'ky-a-ni 

ki-likii 

k€-ki 

ky-ehi 

i^si 

i-^-Q 

siAya 

si-sy-Q 

si-si-fya 

i-syg 

(t)'Sy'a-iii 

si^liku 

si'ki 

sy-fAi 

tfi-fiji^ 

ka-lya 

,ka  ka 

kü-k-o 

ka-ka-tya 
tu-i^tya 

t^-k-Q 

(a)'k-a*ni 

ka^Uku 
t^-{ikn 

ka-ki 
t^'ki 

k-eki 
tn^eki 

kalingt 

*-/i 

€-\y-9 

Ulya 

k-ly-Q 

le-lirtya 

t'ly-Q 

OrJ-ly-a-ni 

tHik» 

ii'ki 

iy-tki 

ga-lya 
Myti 
v^~iya 
kti-lya 
m-lyo- 
*mAy<^ 

m-ga 
kii-ku 

ku-ku!'a 

L-h-Q 

jja~ya*iya 
Mu*tya 
m-i^'iya 
ki^'hi4ya 

nm^^-{ya 

H-k-g 

(ti)-kK-a-m 
mw-a-ni 

ga-liku 
Miku 
vti^liku 
ku^iiku 
gu'fiku 

\rnaki 

Jn-ki 

k^-ki 
9^'ki 

kv^-tki 

«-pa 

a-p-9 

pa-\ya 

[ba-ha 
\\ba'ha'pa 

r 

borÄo-fya 

U-p-Q 

p-a-ni 

pa-li*^ 

tf-Ätf 

k^'iya 

m-kw^-a 

Jc^'k^  fya 

^'k-Q 

ktti-a-ni 

522 


Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 


lO 
KD  t^  lO 

^  ^^^-  Ö  ^  Ö  t^-       ^ 

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^         '^S«     I      g      ^      oö     I     S     §^      I       .         «5     ¥e     "    *• 

I*  -i-g^l  S  ^  ^  ^  2      -£  «5  s    ^  »I  I  r- 

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II I II II  n  II II II II II 11 II II II II II II II II 11 II II II II II II  y  II II II II II I  u  IUI 

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 
+++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 

-ur-l-4-4.1.4-   +  +  +ÖO-    +  +  +   +   Qe     j.   ^  +7 
++++++++++++++++++++++++  ++++++++++ 

ooSooooooooooooooooooooooooooooooopQ 

+    +  +  +  +  +    +++++ 

g    IS-^  S-  I     11122 

t    +  "- 

i     M  I 

SS  ^  00 

M         ^  '^ 

>       >  > 

+     +  + 


Wolff,  Gramm,  der  Einga-Sprache 


528 


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s 

CO 


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+  +  +  +  + 


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o  o  o  o  o  o  «^ 

•       •»••»-? 

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2 


a  fl  p  fl  p  p 
o  o  o  o  o  o 
b  g  »^  »s  i:;  S 
p«  p«  p«  p«  p«  pk 

++++++ 

SSIIIS 


524  Gott.  gel.  Adz,  1906.  Kr.  7 

Das  Passivum  bildet  man  durch  Einfügung  yon  w  bzw.  ivw  an- 
mittelbar vor  dem  auslautenden  Vokal.  §  36. 

Das  Objektspronomen  tritt  unmittelbar  vor  die  Wurzel. 

Das  Amt  des  Rezensenten  bringt  es  mit  sich,  daß  man  mehr 
tadelt  als  lobt.  Nur,  wo  es  gar  nichts  auszusetzen,  also  auch  gar 
nichts  zu  besseren  gibt,  darf  man  sich  damit  begnügen,  ein  Werk 
kurz  und  bündig  einem  weiteren  Kreise  zu  empfehlen.  Die  vor- 
liegende Arbeit  gestattete  dies  nicht.  Aber  wenn  ich  auch  allerlei 
Bedenken  geäußert  und  Wünsche  zur  Sprache  gebracht  habe,  so  habe 
ich  damit  doch  keineswegs  den  Wert  des  fraglos  mühevollen  Werkes 
in  Abrede  stellen  wollen.  Ich  weiß  aus  eigener  Erfahrung,  wie 
schwer  es  ist,  eine  noch  unbearbeitete  Sprache  auch  nur  in  den 
Grundzügen  richtig  darzustellen,  und  was  ich  auszusetzen  hatte, 
waren  schließlich  doch  nur  Kleinigkeiten.  Alles  in  allem  hat  das 
Buch  schon  wegen  der  Fülle  des  neuen  Stoffs,  aber  nicht  etwa  nnr 
deswegen,  seinen  unbestreitbaren  Wert,  und  der  Verf.  hat  vollen  An- 
spruch auf  den  Dank  aller,  deren  Forschung  sich  auf  dem  Gebiete 
der  Bantusprachen  bewegt. 

Gr.  Lichterfelde  Franz  Nikolaus  Finck 


Die  ältlrisehe  Heldensage,  Täin  h6  Cüalnge,  nach  dem  Bach  of  Leinster  in  Text 
und  Uebersetzung  mit  einer  Einleitung  herausgegeben  von  Ernst  Windisch, 
Leipzig,  S.  Hirzel,  t905.    XCII— 1118  pages. 

II  s'est  produit  dans  Tordre  des  etudes  celtiques  un  6v6neme&t 
de  haute  importance.  Le  professeur  Ernst  Windisch  vient  de  faire 
paraitre  la  premiere  Edition  de  la  grande  Epopee  irlandaise  intitolte 
Täin  bo  Cüalnge  »Enlevement  des  vaches  de  Cooleyc. 

Vaches  au  pluriel  est  une  faQon  irlandaise  de  dire  taureau;  fl 
n'y  a  pas  de  troupeau  de  vaches  sans  un  taureau  qui  est  le  pe^ 
sonnage  important,  le  roi  du  troupeau.  Llliade,  la  grande  £pop^ 
grecque,  d^crit  quelques  Episodes  de  la  guerre  de  Troie  dont  le  bat 
est  la  conqu^te  d'HSl^ne,  demi-deesse,  fille  du  dieu  Zeus  et  d'one 
femme:  le  sujet  de  r^pop6e  irlandaise  est  la  conqu^te  d'un  tanreaa 
qui,  n^  d'une  vache,  est  la  dernicre  forme  d'un  porcher  des  dieiix. 
Ce  taureau,  demi-dieu  comme  H^l^ne,  c'est  le  taureau  de  Goolej. 
Cooley  autrefois  Cüalnge,  le  Troie  des  Irlandais,  est  situ^  dans  to 
comt^  de  Louth,  aujourd'hui  en  Leinster  et  limitrophe  de  TUlstar, 
mais  autrefois  compris  dans  TUlster. 

La  redaction  de  cette  6pop6e  parait  remonter  ä  la  premiÄre 
moiti6  du  septieme  siecle  de  notre  ^re.  Senchän  Torpeist  ätait  atot 


Täin  b6  Cdalnge  525 

chef  des  a6des,  ßid,  d'Irlande,  et  Güaire,  roi  de  Connaught.  Les 
a^des  irlandais  ne  coimaissaient  que  des  Episodes  du  Täin^),  aucun 
ne  pouvait  reciter  T^pop^e  complete.  Gdaire  logea  et  nourrit  pen- 
dant quelque  temps,  dit  la  legende,  cent  cinquante  a^des  de  premiere 
classe,  autant  de  seconde  classe,  qui,  6tant  venus  lui  demander 
rhospitalit^,  s'^taient  install^s  chez  lui  avec  cent  cinquante  chiens, 
cent  cinquante  domestiques  males,  autant  de  femmes  et  des  ouvriers 
au  nombre  de  vingt-sept  pour  chaque  mutier;  puis,  fatigu6  de  leur 
nombre  et  de  leurs  exigences,  il  leur  fit  defense  magique  de  coucher 
plus  de  deux  nuits  de  suite  dans  la  m6me  maison  tant  qu'ils  n'au- 
raient  pas  trouv^  le  texte  complet  de  la  grande  ^pop^e  irlandaise. 
US  parcoururent  en  vain  les  Ues  britanniques  ä  la  recherche  de  ce 
texte,  puis  en  d^sespoir  de  cause  recoururent  ä  un  moyen  h^roique. 
Un  de  ces  a^des,  nomm6  Murgein,  se  rendit  aupres  du  tombeau  de 
Fergus,  un  des  h^ros  de  T^pop^e,  et  adressa  en  vers  un  appel  ä  ce 
d^funt  personnage  qui  sortit  de  son  tombeau  et  recita  toute  la  pi^ce 
ä  Murgein.  Gela  dura  trois  jours  et  trois  nuits  pendant  lesquels 
Fergus  et  son  interlocuteur,  envelopp^s  d'un  epais  brouillard,  resterent 
invisibles  au  reste  des  humains.  Puis  Murgein  vint  r^peter  ä  Senchän 
Torpeist  le  texte  complet  du  Täin  bö  Cüalnge.  II  semble  r^sulter 
de  cette  legende  que  THomere  irlandais,  le  compilateur  qui  aurait 
r^uni  en  corps  d'ouvrage  les  Episodes  du  Täin,  jusque  lä  söpar^s  les 
uns  des  autres,  aurait  et6  Murgein  ou  plutöt  Senchän  Torpeist  qui 
pour  assurer  le  succ^s  de  son  oeuvre  lui  aurait  attribu^  une  origine 
merveilleuse.  ^) 

On  connait  trois  versions  de  cette  compilation.  II  en  est  une 
dont  on  n'a  jusqu'ici  d6couvert  qu'un  fragment  conserve  par  les  mss. 
H.  2. 17  du  Trinity  College  de  Dublin,  XV*»  sifecle,  et  Egerton  93  du 
Mu86e  britannique,  XV* — XVP  sifecle.  Ce  fragment  a  6t6  publik 
d'apr^s  le  second  de  ces  deux  mss.  par  M.  Nettlau,  Revue  Celtique, 
t.  XIV,  p.  256—266,  t.  XV,  p.  62—78,  198-208.») 

Les  deux  autres  versions  ont  6t&  moins  maltrait^es  par  le 
temps. 

Nous  citerons  d'abord  celle  que  nous  conservent:  V  le  Leb  or 
na  h  Uidre  qui  fut  6crit  par  un  scribe  t\x€  en  1106  et  dont  TAca- 
d^mie  d'Irlande  qui  Ta  dans  sa  bibliotheque  a  publik  un  facsimile  en 
1870;  2^  le  Livre  jaune  de  Lecan,  ms.  H.  2.16  du  Trinity  College 

1)  Täin  est  un  nom  feminin,  mais  je  suis  encore  de  ceux  qui  disent  le 
Gallia  Christiana  en  sous-entendant  »livre  intitule«. 

2)  cf.  H.  Zimmer  dans  la  Revue  de  ^uhn,  t.  XXVIII,  p.  426—439. 

8)  Correspondant  äLebor  na  h Uidre,  p.  69b— 82b;  cf.  Mition  d'E.Win- 
diBch,  p.  261—423. 

0«tt  gtt  Abs.  1900.  Hr.  7.  37 


526  Gdtt  gd.  ABZ.  1906.  Kr.  7 

de  Dablin,    ^rit  en    1391    et   dont  M.  Windisch  aTait   one  cofit 
meilleare  que  la  Photographie  Mitee  par  la  mtee  aeadteie  9o«s  h 
direction  de  M.  Robert  Atkinson  en  1896:*)  3*  le  ms.  Egertoe  1783 
da  Masee  Britanniqae,  XV*— XYI*  siede.    Inutfle  de  parier  da  an. 
Egerton  114  qui  est  one  copie  dn   1782  execntfe  an  XIX*  siMe. 
Une  Edition  de  cette  version  a  ^t6  entreprise  par  MM.  J.  Stradua 
et  J.  G.  OKeefie  dans  Erin,  revue  publik  a  Dublin,   tL   secoade 
partie,  1904.  et  t.  II,  seconde  partie,  1905.    Cette  61ition  eonpread 
jasqn'ici  an  pea  plus  de  moiti^  dn  texte,  eile  ya  de  la  page  17  i 
la  page  32  dn  Livre  janne  de  Lecan,  oü  le  Tain  se  termine  a  la 
page  53.  et  de  la  page  55  ä  la  page  77  dn  Lebor  na  hUidre  ov 
le  Täin,  se  terminant  ä  la  page  82,  est  moins  complet  que  daas  le 
Livre  jaune  de  Lecan.  Une  traduction  int^ale  en  anglais  d'apris  le 
le  Lebor  na  hUidre  et  le  Livre  jaane  de  Lecan  a  6t6   pabli^e  ei 
1904  par  Miss  L.  Winifred  Faraday. 

La  demiere  version  dont  nons  parlerons  est  la  plos  compHfe 
des  trois.  Elle  est  conserve  par:  1*  le  Livre  de  Leinster,  ms.  di 
milieu  du  douzieme  sitele  appartenant  comme  le  Livre  jaune  de 
Lecan  au  Trinity  College  de  Dublin,  oü  il  porte  la  cote  R.  2. 18,  et 
qui  a  iie  publik  en  facsimile  par  TAcad^mie  d'Irlande  en  1880  avee 
une  bonne  introduction  par  M.  R.  Atkinson ;  —  2*  le  ms.  Stowe  984, 
pr^c^demment  cöt^  Press  I,  n*  XXXII,  qui  aujourd'hui  est  conserve 
dans  la  biblioth^que  de  TAcad^mie  dlrlande  sous  la  cote  C.  6. 3,  et 
qui  a  ^t^  termini  le  15  septembre  1633,  comme  on  lit  ä  la  page  157 
du  volume  intitule :  Bibliotheca  ms.  Stowensis,  a  descriptive  catalogue 
of  the  Manuscripts  in  the  Stowe  Library,  1818;  —  3^  le  ms.  du  Moste 
Britannique,  Additional  18748,  copie  faite  en  1800  d*un  manuserit 
dato  de  1730  et  dont  une  analyse  avec  extraits  a  6t6  donn^  en  1898 
par  M.  Standish  Hayes  O'Grady  aux  pages  109—227  du  livre  de 
Miss  Eleanor  Hull  intitulö  The  Cuchullin  Saga;  4^  le  ms.  H.  1.13  da 
Trinity  College  de  Dublin  contenant,  p.  195—320,  un  texte  du  T&in 
^crit  en  1745  et  provenant  probablement  de  la  mSme  source  que 
TAdditional  18748. 

C'est  le  Livre  de  Leinster  que  M.  Windisch  a  pris  pour  base 
de  son  Edition.  Le  Lebor  na  hUidre  oSre  un  texte  beaucoup  moins 
complet,  son  ant6riorit6  ne  compense  pas  cet  inconvenient 

Sur  les  quatre  cent  cinquante-cinq  pages  de  texte  iriandais  que 
M.  Windisch  a  publikes,  deux  cent  cinquante  seulement  se  trouvent 

1)  La  reproduction  photographique  des  manoscrits  iriandais  est  g^n^nle- 
ment  ddfectueuse.  La  cause  en  est-elle  Tencre  ou  le  papier?  je  ne  poorrais  le 
dire.  Elle  est  un  fait  incontestable,  tandis  que  la  Photographie  des  mss.  contineii- 
taux  est  soa?ent  plus  lisible  que  les  originaux. 


Täin  bö  Ctialnge  527 

dans  le  Lebor  na  hUidre.  M.  Windisch  se  borne  ä  donner  en  note 
las  variantes  de  ce  manuscrit,  et  c'est  presque  partout  le  Liyre  de 
Leinster  qu'il  reproduit.  Font  exception:  d'abord  les  huit  pages 
299—315  oü  un  feuillet  manquant  entre  les  f**".  74  et  75  est  suppl66 
par  le  ms.  Stowe  984,  p.  30  b— 32a,  ensuite  les  additions  qui,  em- 
prunt^es  au  m^me  ms.  Stowe,  se  trouvent  dans  T^dition  aux  pages 
561,  563,  637,  639,  769,  771,  785  ä  803,  809  ä  821,  903; 
enfin  celles  qui  se  rencontrent  aux  pages  889,  891,  902  et  qui  pro- 
viennent  du  ms.  H.  1,13  de  Trinity  College. 

On  pent  regretter  qu'ayant  constats,  p.  116,  Tabsence  dans  le 
Livre  de  Leinster  de  quatre  des  exploits  de  Cüchulainn  enfant,  que 
raconte  le  Lebor  na  hUidre,  p.  50b,  16— 60a,  38,  M.  Windisch  n'ait 
pas  }\xg6  ä  propos,  comme  il  le  dit  lui-m^me,  p.  116,  note  3,  d'en 
insurer  le  r^cit  dans  son  Edition,  et  nous  r^duise  k  les  aller  chercher 
dans  r^dition  d'O'Keefife,  p.  17—19,  dans  la  traduction  de  Miss  L. 
Winifred  Faraday,  p.  20 — 23,  ou  dans  Tanalyse  de  M.  H.  Zimmer, 
Revue  de  Kuhn,  t.  XXVUI,  p.  446, 447. 

Ce  dernier  est  un  peu  bref,  et  les  recherches  chez  M.  O'Keeffe 
et  chez  Miss  L.  Winifred  Faraday  ne  sont  pas  si  faciles  que  dans 
Touvrage  de  M.  Windisch.  Celui-ci,  qui  est  bien  au  courant  des  pro- 
c^d6s  de  Terudition,  a  divis^  son  livre  en  chapitres,  a  mis  en  haut 
des  pages  de  sa  traduction  des  titres  courants  qui  indiquent  les 
titres  des  Episodes  dont  il  s'agit;  puis,  en  haut  des  pages  du  texte 
irlandais,  il  a  plac^  des  titres  courants  qui  renvoient  aux  pages  et 
aux  colonnes  des  manuscrits  consult^s.  Miss  Faraday  reproduit  les 
divisions  en  chapitres  not^es  en  marge  dans  le  Lebor  na  hUidre, 
mais  ne  renvoie  nulle  part  aux  pages  de  ce  pr^cieux  manuscrit,  ni 
du  Livre  jaune  de  Lecan.  M.  O'Keefife  ne  donne  ni  des  divisions  ni, 
sauf  exception,  des  renvois  aux  pages  des  mss.  qu'il  reproduit,  en 
Sorte  que  chez  lui  les  recherches  sont  fort  difficiles,  et  que,  si  Ton 
yeut  comparer  son  texte  avec  le  facsimile  du  Lebor  na  hUidre  et 
avec  la  Photographie  du  Livre  jaune  de  Lecan,  on  perd  beaucoup 
de  temps  en  recherches  fastidieuses. 

Si  done  on  veut  trouver  hors  du  livre  de  M.  Windisch  dans  un 
ouvrage  imprim6  le  r6cit  complet  des  sept  exploits  de  Cüchulainn 
enfant,  r^duits  ä  trois  par  le  Livre  de  Leinster,  on  doit  se  livrer  ä 
des  recherches  un  peu  longues  dans  les  publications  de  Miss  L.  Wini- 
fred Faraday  et  de  M.  O'Keefife.  Disons  toutefois  pour  la  justifi- 
cation de  M.  Windisch  que  le  recueil  des  exploits  de  Cüchulainn 
enfant  est  dans  le  Täin  un  hors  d'oeuvre  fort  long,  tr^s  maladroite- 
ment  intercal^  dans  le  r^cit,  quUl  vient  interrompre  en  racontant  au 
lecteur  des  6v6nements  ant^rieurs  de  dix  et  douze  ans  ä  ceux  dont 

37* 


528  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

Texpos^  precede  et  suit  Ce  hors  d'oeuvre  aurait  dft  6tre  laissi 
parmi  les  prefaces  remsc^la,  qai  exposent  rorigine  da  T&in.  L'ao- 
teur  de  la  version  contenue  dans  le  Livre  de  Leinster  a  fait  acte 
m^ritoire,  litt^rairement  parlant,  en  abr^eant  ce  hors  d'oenvre. 

Cet  auteur  6tait  un  pr^tre  cbr^tien  auqael  le  cöt6  payen  du 
Täin  deplaisait,  et  qui  a  retranchö  le  passage  oü  le  dien  Lug,  yenait 
au  secours  de  Cüchulainn,  lui  dit:  je  suis  ton  p^re,  moi,  du  nombre 
des  dieux,  Is  messe  do  atbair  assidib  (Leber  na  hUidre,  p.  78t, 
1.  18).  M.  Windisch  a  reproduit  p.  343,  note  11,  et  tradoit,  p.  342, 
note  3,  ce  passage  qu'on  trouve  aussi  traduit  chez  Miss  L.  Winifred 
Faraday,  p.  84,  et  qui  pour  I'intelligence  du  Täin  a  une  importance 
fondamentale  en  faisant  de  Cüchulainn  un  demi-dieu,  et  en  ezpli- 
quant  ainsi  sa  superiority  sur  le  reste  des  guerriers  irlandais.  Ainsi 
Achille  dans  TUiade  est  aussi  demi-dieu,  puisque  Thetis  sa  m^re  est 
d^esse.  ^)  Mais  Tintervention  d'un  dieu  payen  dans  les  choses  hn- 
maines  ne  pouvait  ^tre  admise  par  un  chr6tien. 

Le  m^me  scrupule  pieux  a  ^t^  cause  que  le  nombre  des  üh^eß 
du  druide  Cathba  ä  ^t^  r6duit  de  cent  ä  huit  dans  le  Livre  de 
Leinster.  Le  chiffire  de  cent  est  inscrit  dans  le  Leber  na  hUidre, 
p.  61a,  1.  21,  Edition  O'Keefife,  p.  21,  1.  527.  Je  regrette  de  ne  pts 
trouver  ce  chiflfre  en  note  dans  le  livre  de  M.  Windisch,  p.  131. 
Mais  c'est  un  detail  de  petite  importance. 

Le  texte,  accompagn6  dans  cet  ouvrage  d'une  traduction  alle- 
mande  en  regard,  est  pr^c^d^  d'une  pröface  divis^e  en  quatre  parties. 

La  premiere,  p.  I — XI,  est  consacrde  ä  des  considörations  g6D6- 
rales.  L'auteur  croit  qu'il  est  possible  que  le  roi  Gonchobar,  le  roi 
Ailill  et  la  reine  Medb  aient  exists,  qu'un  h^ros  du  nom  de  Cächo- 
lainn  se  soit  rendu  c61^bre  par  ses  exploits,  que  ces  quatre  person- 
nages  aient  v6cu  ä  une  ^poque  contemporaine  du  d^but  de  Tire 
chr^tienne;  c'est  la  tradition  irlandaise,  mais  comme  on  ne  pent 
d^montrer  que  cette  tradition  remonte  ä  une  date  contemporaine  de 
ces  personalit^s  ^piques,  le  doute  sera  toujours  permis.  Cette  con- 
clusion est  certainement  legitime. 

Mais  il  y  a  quelques  points  de  detail  sur  lesquels  les  hypotheses 
^mises  par  M.  Windisch  peuvent  sembler  contestables.  Ainsi,  il 
parait  consid^rer  comme  appartenant  au  texte  primitif:  Tassertion 
que  le  h^ros  Cüchulainn  aurait  ä  lui  seul  tenu  t£te  ä  quatre  des 
cinq  provinces  dlrlande  depuis  luan  (lundi)  avant  s amain  (1** 
novembre)  jusqu'au  premier  jour  du  jeüne  hebdomadaire  des  chr6tiens, 
c6täin  (c'est-ä-dire  jusqu'au  mercredi)  aprfes  le  premier  ftvrier, 
temps  pendant  lequel  il  n'aurait  pu  dormir  autrement  qu'avec  son 

1)  A^xdp  'AxtXXeuc  i<m  Otac  yfivoc.   Diade  XXIY,  59. 


Tun  bö  Cüalnge  529 

poing  pour  oreiller  et  sa  lance  pour  compagne.  ^)  H  aurait  done  k 
lui  seul  tenu  au  6chec  la  grande  majority  des  guerriers  d'Irlande 
pendant  plus  de  trois  mois.  Or  pourquoi  6tait-il  seul?  parce  que  la 
d^sse  Macha  avait  frapp^  d'une  malediction  les  guerriers  d'Ulster. 
Ces  guerriers  devaient  soufirir  les  douleurs  de  raccouchement  pendant 
quatre  jours  et  cinq  nuits  ou  cinq  jours  et  quatre  nuits.  Si  Ton 
respecte  la  donn^e  primitive  de  r6pop6e,  c'est  le  temps  pendant 
lequel  Cüchulainn  s'est  trouv^  seul  en  face  de  la  grande  arm^e  qui 
envahissait  TUlster;  il  s'agit  seulement  de  la  reunion  de  neuf  p^riodes 
d'un  dur6e  moyenne  de  douze  heures  chacune;  c'est-ä-dire  en  tout 
de  cent  huit  heures,  et  non  de  plus  de  quatrevingt-dix  jours  comme 
dans  les  derni^res  versions  de  T^pop^  irlandaise. 

La  maladie  extraordinaire  qui  aurait  dur^  cent  huit  heures  avait 
6t6,  dit-on,  un  chätiment  inflig^  par  la  ddesse  Macha  comme  on  voit 
dans  la  piece  intitulöe  Noinden  Ulad  >Neuvaine  des  habitants 
d'ülster«,  que  M.  Windisch  a  publice  et  traduite  en  1884;^)  cette 
maladie  est  appel^e  cess,  ceas,  dans  deux  des  manuscrits  les  plus 
anciens  qui  nous  conservent  la  16gende  dont  nous  parlous.  Ce  sont: 
le  ms.  Harl^ien  5280  du  Mus4e  britannique,  P  53  b,  et  le  Livre 
jaune  de  Lecan,  p.  211a.  Or,  au  d^but  du  Täin,  la  reine  Medb  dit 
qu'elle  compte  sur  le  cess  noinden,  »la  maladie  de  neuvaine<  des 
habitants  d'Ulster  pour  assurer  le  succes  de  Texp^dition  qu'elle 
entreprend.  Elle  dit  qu'äEmain,  capitale  de  Ulster,  le  roi  Conchobar 
et  les  habitants  d'Ulster  autour  de  lui  sont  atteints  de  cette  mala- 
die, et  eile  nomme  par  exemple  trois  notables  d' Ulster  qui  sont 
malades  comme  leur  roi.^)  Elle  ne  pensait  pas  au  h^ros  Cüchulainn 
qui  bien  portant  devait  ä  lui  seul  arr^ter  Tarm^e  ennemie  jusqu'au 
terme  des  cent  huit  heures  d'incapacit6  militaire  impos6es  aux 
guerriers  d'Ulster  par  la  vengeance  de  Macha.  Teile  a  et6  la  con- 
ception premiere;  il  a  fallu  plus  tard  ^tendre  la  duräe  de  la  maladie, 
rflever  de  cent  huit  heures  ä  plus  de  quatrevingt-dix  jours  pour 
trouver  place  aux  nombreux  exploits  dont  la  föcondit6  des  a^des 
irlandais  a  gratifie  le  h^ros  Cüchulainn.  Les  neuf  ans  pass^ 
qu'aurait  dure  le  si^ge  de  Troie  ont  6te  probablement  le  rSsultat 
d'un  d^veloppement  analogue,  neuf  mois  a  6t6  vraisemblablement  la 
conception  primitive.    Quoiqu'il  en  soit,  les  expressions  employees 

1)  p.  346,  lignes  2471-2477,  cf.  p.  420—421  1.  2899—2900;  p.  463,  1. 
3184—3186;  p.  653,  1.  4591—4593;  p.  663,  1.  4645-4646;  p.  669,  1.  4704—4705. 

2)  Berichte  der  K.  Sächsischen  GeseUschaft  der  Wissenschaften,  p.  336—347. 

3)  Voir  ration  du  Tun  par  M.  Windisch,  p.  30—33;  c'est  le  texte  da 
livre  de  Leinater.  A  comparer  le  texte  du  Leber  na  hUidre  p.  55  b,  1.  19 — 20, 
^tion  O'Keeffe,  p.  4,  1.  45 ;  traduction  de  Miss  L.  Winifred  Faraday,  p.  8. 


530  Gott  geL  Ans.  1906.  Nr.  7 

pour  designer  la  dur6e  des  combats  de  CAchulainn  pendant  la  maladie 
des  guerriers  d'Ulster  trahissent  clairement  une  origine  plus  r^nte 
que  les  Episodes  payens  dont  dous  avons  signal^  deux:  C 6 tain, 
>premier  jeüne<,  >mercredi<  est  une  formule  qui  derive  de  Pab- 
stinence  observee  en  ce  jour  par  les  premiers  chrätiens  dlrlanda 
Cette  notion  du  jeüne  chretien  est  ^trangere  ä  la  conception  primi- 
tive d'une  Epopee  entierement  payenne,  et  oü  le  druide  Catbba  jooe 
en  plusieurs  circonstances  un  role  dominant.  De  ce  que  les  combats 
de  Cüchulainn,  dans  la  forme  relativement  moderne  de  T^popde  qui 
nous  est  parvenue,  durent  pendant  trois  mois  d'hiver,  M.  Windisch 
conclut  qua  Cüchulainn  sentit  peut-^tre  originairement  un  dien  solaire. 
Cette  hypoth^se,  que  le  prudent  auteur  termine  par  un  point  d'inter- 
rogation,  ne  nous  semble  pas,  quant  ä  pr^ent  justifi^. 

De  m^me  la  comparaison  que  fait  M.  Windisch  entre  la  naissance 
merveilleuse  de  Cüchulainn  et  celle  d'Aed  Slane  nous  semble  un  peo 
forcee.  Cüchulainn  etait  fils  du  dieu  celtique  Lug  et  d'une  femme, 
Dechtere,  soeur  du  roi  Conchobar;  de  m£me  Heracles  ^tait  fils  du 
grand  dieu  indo-europeen  Zeus  et  d'Alcm^ne,  femme  d'Amphitryon, 
roi  de  Tirynthe;  teile  est  ä  mon  avis  la  comparaison  qui  s'impose. 
Quant  au  roi  irlandais  Aed  Slane,  il  6tait  fils  de  Diarmait  mac 
Cerbaill,  roi  supreme  dlrlande  qui  r^gna  de  544  ä  565.  La  femme 
legitime  de  Diarmait,  Mugein,  prise  pour  remplacer  dans  le  lit  do 
roi  la  vieille  reine  honoraire  Mairend,  ^tait  malheureusement  st^le. 
Elle  s'adressa  ä  deux  saints  qui,  en  lui  faisant  boire  de  l'eau  bäiite, 
lui  procurerent  trois  grossesses.  La  premiere  et  la  seconde  fois,  eile 
accoucha  d'animaux  qui,  symbolisant  J.-C,  attestaient  la  sainte  ori- 
gine de  la  victoire  remportte  sur  la  st6rilit6  primitive,  1**  un  agneau, 
comparez  les  antiennes  qui  commencent  par  agnus  Dei:  2^  un 
poisson:  tx^oc  >poisson<,  est  la  formule  mystörieusement  abr^6e 
ä  Taide  de  laquelle  les  premiers  Chretiens  d^guisaient  le  nom  de 
J^susChrist  en  ecrivant  seulement  les  initiales  de  la  formule  com- 
plete: 'Itjooüc  XpioTÖc  Ösoü  Tiö(;  Iwnjp.  La  troisieme  grossesse 
aboutit  ä  la  naissance  d'Aed  Slane.  Aed  Slane  6tait  fils  de  Diarmait, 
dont  la  paternity  n'a  pas,  ce  semble,  6t6  contestöe.  *) 

La  seconde  partie  de  la  preface  traite  des  rapports  qui  existent 
entre  les  moeurs  et  usages  d^crits  par  le  Täin  et  ceux  que  Tanti- 

1)  cf.  Hennessy,  Anoals  of  Ulster,  p.  80.  La  legende  de  la  naissance  d'Aed 
Slane  a  ^td  publik  par  M.  Windisch:  Berichte  der  E.  Sächsischen  GeseUschaft 
der  V^issenschaften,  1884,  p.  191—205  et  par  M.  Standisch  Hayes  O'Grady,  SÜTa 
Oadelica,  irish  texte,  p.  82—84.  Un  r^sum^  de  cette  legende  se  trouve  dans  la 
vie  de  saint  Aidos,  Acta  sanctorum  Hibemiae  ex  codice  Salmanticenai,  coL 
343-344. 


Täin  bö  CdaInge  531 

quit^  classique  attribue  aux  Celtes.  L'auteur  6tablit  la  concor- 
dance frappante  qui  apparait  sur  une  foule  de  points.  Je  ne  lui 
adresserai  qu'une  critique.  II  parle,  p.  XXVII,  du  passage  oü  Medb, 
voulant  obtenir  de  Ferdiad  qu'il  aille  combattre  et  tuer,  s'il  est  pos- 
sible, Cüchulainn  dont  il  est  Tami,  lui  promet  pour  unique  Spouse, 
öen-mnäi,  Findabair,  sa  fille;^)  il  compare  cette  expression  au  fer 
...öensetche  »homme  ...  d'unique  epouse«,  dont  parle  la  preface 
k  rhymne  de  Fiacc,  en  mettant  ces  mots  irlandais  dans  la  bouche 
de  saint  Patrice.  Mais  saint  Patrice  parlait  en  canoniste :  il  s'agissait 
d'^lever  un  irlandais  ä  l'öpiscopat,  le  c61öbre  apötre  dit  qu'il  veut 
trouver  un  homme  de  bonne  naissance,  de  bonnes  moeurs,  qui  n'eüt 
^pous^  qu'une  femme.  ^)  II  traduit  en  irlandais  un  passage  de  la 
premifere  6pitre  de  saint  Paul  ä  Timoth^e,  chapitre  III,  verset  2: 
Oportet  ergo  episcopum  irreprehensibilem  esse  unius 
uxoris  uirum,  plus  clair  dans  le  texte  latin  que  dans  le  grec.') 
Ni  un  Romain  ni  un  Chretien  ne  peut  avoir  plusieurs  Spouses, 
uxor  es,  ä  la  fois,  ils  ne  peuvent  les  avoir  que  successivement  quand, 
apres  la  dissolution  d'un  premier  mariage,  ils  convolent  en  secondes, 
en  troisiemes  noces.  Or  est  incapable  de  devenir  6v6que,  ni  m6me 
en  g^n6ral  clerc,  quiconque,  aprös  avoir  perdu  uue  premiere  femme, 
en  a  6pous6  une  seconde,  en  ce  cas  on  est  irregulier.  Voir  les 
textes  ant6rieur8  au  moyen  äge  qui  ont  €t6  röunis  par  Gratien  D6cret, 
1^"  partie,  distinction  XXVI;  le  plus  cat6gorique  de  ces  textes  est 
le  dernier  du  ä  Saint  Ambroise:  qui  sine  crimine  est  unius 
uxoris  uir,  tenetur  ad  legem  sacerdotii  suscipiendi. 
Qui  autem  iterauerit  coniugium,  culpam  quidem  non 
habet  coinquinati,  sed  praerogatiua  exuitur  sacer- 
dotis.*)  Mais  celui  qui  a  eu  plusieui-s  concubines  n'est  pas  irr6- 
gulier,  puisqu'il  ne  les  avait  pas  6pous^es,  les  concubines  ne  sont 
pas  des  Spouses,  c'est  la  plurality  des  Spouses  qui  produit  Tirr^gu- 
larit^.  ^)  Evidemment  Medb  proposant  sa  fille  comme  Spouse  ä 
Ferdiad  ne  parle  pas  en  canoniste,  eile  lui  dit  qu'elle  compte  que 
Findabair  sera  Tunique  femme  du  mari  qu'elle  aura,  c'est-ä-dire  que 
ce  mari  ne  lui  donnera  pas  de  rivales  par  le  concubinage.  Cela  n'a 
aucun  rapport  avec  la  r^gle  de  droit  canon  6nonc6e  par  saint  Patrice. 
La  troisi^me  partie  de  la  preface  traite  de  la  fagon  dont  la 
radition  6pique  a  pu  se  transmettre:  Pauteur,   apr^s  avoir  r6uni  et 

1)  p.  443,  1.  3031. 

2)  Withley  Stokes,  The  tripartite  Life  of  Patrick,  t.  II,  p.  402,  1.  13, 14. 

3)  Act  oOv  t6v  i7r{axoicov  dveTt^XT^Tnov  elvai,  (xiac  pvaixoc  Mpa. 

4)  cf.  Migne,  Patrologia  latina,  tome  XYI,  col.  1206 AB. 

5)  D^crdtales  de  Gr^goire  IX,  livre  I,  titre  XX,  chapitre  VI. 


582  Gott  geL  Abi.  1906.  Nr.  7 

T68um6  les  textes  antiques  relatüs  aux  Draides,  parle  des  aädes, 
filid,  irlandais;  il  expose  la  Inende  qui  fait  remonter  ä  SencUui 
Torpeist  la  redaction  ou  plus  exactement  la  compilaticHi  du  Tion; 
nous  en  avons  parle  plus  haut 

La  quatricme  partie  est  consacr^  aux  manuscrits,  ce  que  nous 
avons  dit  ä  ce  sujet  peut  suffire. 

Vient  ensuite  le  texte  qu'accompagnent,  au  bas  des  pages, 
des  notes  considerables  donnant  les  yariantes  des  manuscrits.  Ce 
texte,  dont  les  lignes  sont  numörot^es,  est  plac^  sur  la  page  de 
droite,  la  traduction  sur  celle  de  gauche  en  regard.  Le  tout 
occupe  neuf  cent  onze  pages  dont  un  quart  environ  pour  le  texte, 
un  peu  plus  pour  la  traduction,  moiti^  pour  les  notes.  Le  yolnme 
se  termine  par  un  glossaire:  P  des  mots,  2^  des  noms  gtogra- 
phiques,  3^  des  noms  de  personnes,  formant,  avec  un  supplöment 
au  glossaire,  cent  quatrevingt-douze  pages  ä  deux  colonnes.  Seize 
pages  de  corrections  et  additions  terminent  ce  volume,  vaste  travail 
qu'on  ne  peut  trop  admirer  malgr6  les  quelques  critiques  de  detail 
peut-£tre  en  partie  mal  justifi6es  que  je  lui  ai  adress^,  et  que 
d'autres  pourront  diriger  centre  lui. 

C'est  ä  Tusage  des  örudits  que  M.  Windisch  a  6crit  ce  livre 
comme  ses  pr6c6dents  volumes  d'hische  Texte.  Je  me  permettrai 
de  lui  donner  un  conseil.  Ce  serait  de  tirer  de  ces  savantes  publi- 
cations un  joli  petit  volume  ä  Tusage  du  grand  public  en  pla^ant 
en  t6te  la  traduction  de  quelques-uns  des  r6cits  l^gendaires  qui  sont 
les  prefaces,  remsc^la,  du  Täin,  et  en  prenant  pour  corps  da 
volume  sa  traduction  du  Täin  bö  Güalnge.  Ce  serait  un  livre  qui 
aurait,  croyons-nous,  grand  succ^;  il  ferait  connaitre  cette  grande 
Epopee  irlandaise  ä  bien  des  gens  qui  n'ouvriront  jamais  le  volume 
dont  nous  rendons  compte,  il  est  trop  gros,  11  a  Taspect  trop 
röbarbatif  pour  ne  pas  repousser  la  majeure  partie  des  lectenrs 
qu'un  petit  volume  attirerait.  Un  volume  in  8^  de  plus  de  onze 
cents  pages  valant  trente-cinq  marcs  n'entre  pas  dans  bien  des 
maisons,  oü  Ton  accueillerait  avec  plaisir  un  in  12  de  quatre  cents 
pages  et  du  prix  de  cinq  ou  six  marcs  au  plus. 

Paris  H.  d'Arbois  de  JnbainviUe 


A.  Foucher,  L'art  gr^co-boaddhique  da  Gandhilra  588 


A.  Foaeher,  L'art  gr^co-bouddhique  du  Gandhära.  t^iuäe  sor  les  ori- 
gines  de  Pinfluence  classique  dans  Part  bouddhique  de  Tlnde  et  de  l'£xtr^me- 
Orient.  Tome  premier.  Indroduction  —  Les  edifices  —  Les  bas-reliefs.  Avec 
300  illustrations,  une  planche  et  une  carte.   Paris,  Ernest  Leroux,  1905. 

In  der  vorliegenden  Arbeit  hat  Alfred  Foucher,  der  durch  seine 
ausgezeichneten  Studien^)  zur  buddhistischen  Ikonographie  schon 
rühmlichst  bekannte  französische  Gelehrte,  eines  der  interessantesten 
Gebiete  der  indischen  Altertumskunde  in  trefflicher  Weise  behandelt. 
Das  Buch  wird  sowohl  dem  Erforscher  des  Buddhismus  als  dem 
klassischen  Philologen  willkommen  sein;  denn  zum  Gebiete  beider 
gehört  die  gräcobuddhistische  Kunst,  die  im  Anfang  der  christlichen 
Aera  im  Nordwesten  Indiens  blühte.  Das  Wesen  dieser  Kunst  geht 
hervor  aus  der  vom  Verfasser  (S.  2)  mit  großer  Deutlichkeit  formu- 
lierten Definition:  >La  combinaison  d'une  forme  classique  et  d'un  fond 
bouddhique,  Padaptation  de  la  technique  grecque  ou,  plus  exactement, 
hell^nistique  ä  des  sujets  strictement  Indiens.  <.  >C*est  une  page 
nouvelle  de  Tart  grec  qui  s'ouvre;  mais  le  sens  de  cette  page  ne 
peut  6tre  d6chiffir£  qu'en  Sanskrit.  < 

Foucher  war  besser  als  irgend  ein  anderer  zu  einer  solchen 
Aufgabe  befähigt  nicht  nur  durch  seine  genaue  Kenntnis  der  lite- 
rarischen Quellen  —  unter  denen  neben  den  in  Sanskrit  und  Pali 
abgefaßten  kanonischen  Büchern  besonders  die  Itinerarien  der  chine- 
sischen Pilger  des  fünften  bis  siebenten  Jahrhundert  hervorzuheben 
sind  — ,  sondern  auch  durch  den  Umstand,  daß  er  im  Laufe  einer 
1895—1897  auf  Veranlassung  der  französischen  Regierung  unter- 
nommenen Reise,  das  in  den  indischen  Museen  befindliche  Material 
und  die  Monumente  selbst  durch  eigene  Anschauung  kennen  gelernt 
hat.  Diese  beiden  Umstände  haben  dazu  mitgewirkt,  eine  Arbeit 
hervorzubringen,  die  an  Reichhaltigkeit  des  Inhalts  und  Klarheit  der 
Darstellung  bei  weitem  alles  übertrifft,  was  bisher  auf  diesem  Gebiete 
geleistet  worden  ist.  Denn  während  den  in  Indien  arbeitenden, 
meist  englischer  Nationalität  angehörigen  Forschern  infolge  unge- 

1)  Besonders  hervorzuheben  sind:  L'art  bouddhique  dans  linde  d'apr^  an 
livre  rdcent  (Revue  de  Fhistoire  des  religions,  Paris  1895).  !^tude  sur  Ticono- 
graphie  bouddhique  de  l'lnde  (Paris  1900  und  1905).  Les  bas-reliefs  du  stüpa 
de  Sikri  (Gandhära)  (Journal  asiatique  Sept.  Oct.  1903).  Zur  alten  Erdkunde 
gehört:  Notes  sur  la  g^ographie  ancienne  du  Gandhära  (BuUetin  de  l'Ecole 
fran^aise  d'EztrSme-Orient,  Hanoi  1902),  während  eine  populäre,  aber  auch  Fach- 
leuten wertvoUe  Reisebeschreibung  vorliegt  in:  Sur  la  fronti^re  indo-afghane 
(Paris  1901). 


534  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

nügender  Kenntnis  der  Texte  das  rechte  Verständnis  der  illustrativen 
Reliefs  abging,  macht  sich  in  Grünwedels  sonst  bahnbrecbeoder 
Arbeit^)  die  Dürftigkeit  des  dem  Verfasser  zu  Gebot  stehenden 
Materials  an  mancher  Stelle  auf  das  empfindlichste  geltend. 

Infolge  des  vom  indischen  Standpunkte  aus  lobenswerten  Be- 
strebens der  englischen  Regierung  die  in  Indien  gefundenen  Alter- 
tümer im  Lande  zu  behalten,  sind  die  dortigen  Museen  auf  diesem 
Gebiet  viel  reichhaltiger  ausgestattet  als  die  europäischen.  Die 
Sammlungen  von  Calcutta  und  Lahore  sind  besonders  urnüangreich, 
aber  weder  die  letztere  noch  die  Sammlungen  zweiten  Ranges  (Bombay, 
Madras,  Delhi,  Rangoon)  sind  katalogisiert^),  während  nur  die  wich- 
tigsten Exemplare  davon  durch  Abbildungen  zugänglich  gemacht 
sind.^)  Außerdem  gibt  es  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  Skulpturen, 
die  in  Privatbesitz  gelangt  und  größtenteils  der  Wissenschaft  ver- 
loren gegangen  sind.  Die  kleine  aber  treffliche  Sammlung  im  Offizier- 
kasino zu  Mardän  (Peshävar-Distrikt)  enthält  einige  Exemplare  aos- 
geprägtester  klassischer  Beseelung  (vgl.  Foucher,  Fig.  155,  156,  162). 
Dank  seiner  indischen  Reise  ist  es  Foucher  gelungen,  das  sämtliche 
Material,  das  überhaupt  verfügbar  war,  für  seine  Arbeit  zu  ver- 
werten. 

Beim  Studium  der  Gebäude,  denen  die  Skulpturen  entnommen 
sind,  war  eine  Untersuchung  in  loco  geradezu  unentbehrlich.  Denn 
hier  macht  sich  das  Mangelhafte  der  Ausgrabungen  in  schmerzlichster 
Weise  geltend.  Von  den  in  möglichst  unsystematischer  Weise  und 
ohne  gehörige  Sachkenntnis  manu  militari  ausgeführten  Ausgrabungen 
ist  fast  niemals  ein  Bericht  veröffentlicht  worden,  der  auch  nur  den 
leisesten  Ansprüchen  wissenschaftlicher  Forschung  Genüge  tun  könnte. 
Foucher  hat  nicht  nur  die  wohlbekannten  Klosterruinen  von  Takht- 
i-Bahai,  Jamälgarhl  u.  s.  w.  im  Distrikte  von  Peshävar  besucht,  sondern 
auch  die  damalige  militärische  Okkupation  des  oberen  Svät-Tales  zu 
einer  Besichtigung  der  dortigen  Ruinen  benutzt.  Ein  längerer 
Aufenthalt  in  Kashmir  hat  ihn  dazu  veranlaßt,  auch  die  dortigen 
brahmanischen  Tempel  zum  Vergleich  heranzuziehen.    Außerdem  tritt 

1)  Buddhistische  Kunst  in  Indien.  Zweite  Auflage,  Berlin  1900  (englisch 
hearheitet  von  James  Burgess,  Buddhist  art  in  India,  London  1901)  und  Zar 
buddhistischen  Ikonographie  (Globus  Bd.  LXXV  Nr.  11). 

2)  Auch  der  von  J.  Anderson  verfaßte  Katalog  der  in  Calcutta  befindlichen 
archäologischen  Sammlungen  (1883,  zwei  Bände)  genügt  kaum  den  Bedürfnissen 
der  Wissenschaft. 

3)  In  dieser  Hinsicht  hat  besonders  James  Burgess  die  gelehrte  Welt  «u 
Dank  verpflichtet  durch  seine  Ancient  monuments  in  India  (London  1897)  und 
The  Gandhära  sculptures  im  Journal  of  Indian  art  and  industry,  Band  VUJt, 
Nr.  62—63  (1898)  und  Nr.  69  (1900). 


A.  Foucher,  L*art  grdco-boaddhique  du  Gandhära  535 

besonders  im  zweiten  Abschnitt  des  vorliegenden  Werkes  klar  zutage, 
von  wie  großem  Werte  die  aus  eigener  Anschauung  geschöpfte 
Kenntnis  von  Land  und  Leuten  für  das  richtige  Verständnis  der 
kiinstlerischen  Leistungen  sowohl  als  auch  für  die  Deutung  der 
Details  plastischer  Darstellung  gewesen  ist.  Auf  Schritt  und  Tritt 
verspürt  man  die  belebende  Wirkung  jener  indischen  Wanderjahre. 

Die  stattliche  Reihe  trefflicher,  teilweise  vom  Verfasser  an  Ort 
und  Stelle  aufgenommenen  Abbildungen  wird  jedermann  zu  würdigen 
wissen.  Es  ist  klar,  daß  in  einer  Arbeit  wie  der  vorliegenden  zu- 
verlässige, d.  h.  photographische,  Reproduktionen  möglichst  vieler 
Kunstwerke  von  großer  Wichtigkeit  sind.  Außer  einer  Menge  größten- 
teils unveröffentlichter  Gandhäraskulpturen  finden  sich  in  Fouchers 
Buche  eine  Anzahl  Bilder  von  plastischen  Darstellungen,  die  ent- 
weder der  älteren  indischen  Schule  oder  der  späteren  buddhisti- 
schen Kunst  angehören.  Schon  Grünwedel  hat  in  seinem  oben  er- 
wähnten Handbuche  durch  Vergleichung  mit  ostasiatischen  Kunst- 
werken manches  interessante  Resultat  erzielt.  Foucher  jedoch  hat 
besonders  auf  die  Berührungspunkte  der  Gandhäraschule  mit  den 
anderen  nationalindischen  Schulen  hingewiesen. 

Die  Einleitung  (S  1—44),  welcher  ein  Vorwort  nebst  erschöpfender 
Bibliographie  vorangeht,  enthält  eine  geographische  Skizze  (§  1),  eine 
Uebersicht  der  Ausgrabungen  (§  2),  der  Sammlungen  (§  3),  eine 
Kritik  der  Dokumente  (§  4)  und  eine  klare  Darstellung  der  von 
diesen  gebotenen  Probleme  (§  5). 

Das  Werk  selbst  zerfällt  in  zwei  Abschnitte,  von  denen  der  erste 
(S.  45—201)  den  Bauwerken,  der  zweite  (S.  202—626)  den  Reliefs 
gewidmet  ist.  Im  ersten  Abschnitt  werden  die  drei  Haupttypen 
buddhistischer  Architektur  auf  eingehende  Weise  behandelt,  nämlich 
der  Stapa  (Grabhügel),  der  Vihara  (Tempel)  und  der  Sanghäränia 
(Kloster).  Den  Stiipa  charakterisiert  der  Verfasser  in  seiner  doppelten 
Bedeutung,  erstens  als  Grabmal  und  zweitens  als  Denkmal.  Sodann 
folgt  eine  klare  Darstellung  der  Entwicklung  dieses  zwar  nicht  aus- 
schließlich buddhistischen,  aber  doch  für  den  Buddhismus  so  be- 
zeichnenden Bauwerks  aus  der  primitiven  Halbkugelform  der  Maurya- 
periode  bis  zu  den  turmartigen  Bauten,  die  im  gewaltigen  Stüpa  des 
Kaniska  zu  Puru^apura  (dem  heutigen  Peshävar)  ihren  Höhepunkt 
erreichten.  Unweit  dieser  Stadt  ist  es  dem  Verfasser  gelungen,  die 
dürftigen  Trümmer  jenes  von  den  chinesischen  Pilgern  hochgepriesenen 
Prachtbaues  wiederzufinden.  Zum  Schluß  wird  eine  Stelle  aus  dem 
Bivyavadüna  angeführt,  welche  die  Sanskritnamen  der  verschiedenen 
Teile  des  Stüpa  enthält  und  demnach  die  Folgerung  bestätigt,  daß 
der  Stüpa  wesentlich  auf  indischem  Boden  entstanden  ist. 


586  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

Dasselbe  gilt  vom  Vihära.  Mit  diesem  Aasdruck  wird  sowohl 
die  Zelle  des  Mönches  als  der  zur  Aufnahme  der  Statue  bestimmte 
Tempel  bezeichnet.^)  Daß  die  erste  Bedeutung  die  ursprüngliche  ist, 
geht  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  in  den  ersten  Jahrhunderten  des 
Buddhismus  Abbildungen  des  Religionsstifters  völlig  unbekannt  warot 
Alle  bis  jetzt  zugänglichen  Dokumente  weisen  darauf  hin,  daß  es  die 
hellenistischen  Künstler  von  Gandhära  waren,  die  den  Buddhatypus 
ins  Leben  riefen.  Für  den  Bedeutungsübergang  des  Wortes  vihära 
kann  Sanskrit,  gandhakuß  (wörtlich  > Duftgemach <)  verglichen  werden, 
das  ursprünglich  eine  bestimmte  Kapelle  im  berühmten  Jetavana  zu 
Srävasti  war,  die  Buddha  bei  Lebzeiten  als  Wohnung  diente,  nachher 
jedoch  ganz  allgemein  einen  Tempel  bezeichnet,  der  ein  Bild  Buddhas 
enthält.^)  Ebenso  wie  das  Wort  vihära  wird  es  niemals  zur  Be- 
zeichnung brahmanischer  Tempel  verwendet,  wiewohl  diese  von  den 
buddhistischen  architektonisch  nicht  verschieden  waren. 

Das  für  das  Studium  des  Vihära  verfügbare  Material  ist  überaus 
dürftig.  In  der  Ebene  lassen  sich  kaum  Beste  buddhistischer  Tempel- 
bauten nachweisen.  Die  besterhaltenen  im  Gebirge  sind  die  längst 
bekannten  von  Takht-i-Bahai ,  denen  der  Verfasser  einzelne  schöne 
Exemplare  aus  dem  Svät-Tale  hinzugefügt  hat. 

Die  Analyse  des  Vihära  gehört  zu  den  geistvollsten  Darlegungen 
des  vorliegenden  Werkes.  Der  Verfasser  leitet  den  Ursprung  dieser 
Baugattung  von  der  indischen  Einsiedlerhütte  [Skr.  parnasäla^]  ab, 
welche  in  der  Tat,  so  wie  sie  auf  den  Gandhäraskulpturen  selbst 
und  sonstwo  abgebildet  wird,  mit  der  primitiven  Form  des  Vihära 
mit  einfacher  Kuppel  auffallend  übereinstimmt.  Von  dieser  kann  die 
nächste  Form  mit  doppelter  Kuppel  ohne  Mühe  abgeleitet  werden. 
Außerdem  aber  finden  sich  Vihäras  mit  Spitzdächern  vor.  Nach 
Foucher  gehören  diese  ursprünglich  den  Regionen  des  Schneegebirges 
an,  wo  eine  solche  Form  durch  das  Klima  bedingt  war.  Der  enge 
Zusammenhang  zwischen  Himalaya-  und  Gandhära -Architektur  wird 
sodann  weiter  ausgeführt  in  einer  Digression  über  die  Tempel  von 
Kashmir.  Wiewohl  brahmanisch  und  einem  beträchtlich  späteren 
Zeitalter  angehörend  (der  älteste  uns  erhaltene,  der  berühmte  Tempel 

1)  Die  Grundbedeutung  des  Wortes  wie  die  des  synonymen  äränui  ist  »Lnsi- 
garten«.  Wurden  doch  solche  parkähnliche  Anlagen  von  wohlhabenden  Laien 
Buddha  und  seiner  Gemeinde  zum  Aufenthalt  geschenkt. 

2)  In  dieser  Bedeutung  kommt  es  unter  anderen  vor  in  der  zu  Sämäth  bei 
Benares  gefundenen  Inschrift  von  Mahipäla.  Vgl.  Hultsch  in  Indian  Antiqaaiy, 
Band  XIV  (1885),  S.  139  flf. 

3)  Auf  Ceylon  hat  das  Wort  part^asälä  sich  erhalten  zur  Bezeichnung 
Mönchzelle.    Spence  Hardy,  Eastern  Monachism  p.  129. 


A.  Foucher,   L'art  gr^co-bouddhique  du  Gandhära  537 

des  Lalitäditya  zu  MärtäpcJ  wurde  um  700  n.  Chr.  gebaut),  weisen 
diese  Tempel  dieselben  Eigentümlichkeiten  auf  wie  die  von  Gandhära : 
das  zugespitzte  Dach,  das  dreieckige  Pediment  kombiniert  mit  dem 
aus  drei  Halbkreisen  zusammengesetzten  Bogen  und  klassischen 
PUastern.  Dieser  Abschnitt  ist  illustriert  mit  Bildern  des  Tempels 
von  Pändrenthan  >der  alten  Hauptstadt«  (Skr.  Puranodhi^thana)  und 
der  weniger  bekannten  Tempel  von  Lädu  und  Närastän,  von  denen 
der  letztere  im  Jahre  1891  von  M.  Ä.  Stein  ausgegraben  wurde. 
Interessant  ist  die  Decke  des  Tempels  von  Pändrenthan  (hier  fürs 
erstemal  photographisch  abgebildet)  wegen  ihres  ausgeprägten  Holz- 
stils. Im  benachbarten  Gebirgsstaate  Chamba  haben  die  ältesten 
hölzernen  Tempel;  die  mutmaßlich  mit  dem  Tempel  von  Märtäpd 
gleichzeitig  sind,  in  der  Tat  Decken,  welche  jener  in  Konstruktion 
und  Ornamentik  ganz  ähnlich  sind. 

Die  dritte  Gattung  buddhistischer  Bauten  kann  aus  der  vorher- 
gehenden unmittelbar  abgeleitet  werden.  Das  Kloster  (saiighäränta) 
besteht  nämlich  aus  Reihen  von  Vihäras  (in  der  doppelten  Bedeutung 
dieses  Wortes),  welche  um  einen  viereckigen  Hof  gruppiert  sind. 
Der  Typus  dieser  Gebäude  ist  demnach  dem  der  muhammadanischen 
Karavansarais  und  der  Dharmsäläs  des  heutigen  Indiens  ganz  ähnlich. 
Wir  wissen,  daß  auch  ihrem  Zwecke  nach  sie  diesen  Gebäuden  ent- 
sprachen, insofern  als  sie  Pilgern  und  andern  Mitgliedern  der  Ge- 
meinde Herberge  boten.  Andererseits  steht  der  Sanghärama  in  engem 
Zusammenhang  mit  dem  Stüpa,  da  ja  die  Insassen  des  ersteren  für 
ihren  Unterhalt  von  letzterem  abhängig  waren. 

In  den  Ebenen  von  Gandhära  lassen  sich  nur  sehr  wenige 
Klosterruinen  nachweisen.  Den  von  Foucher  gegebenen  Beispielen 
kann  ich  noch  eins  von  Tahkäl  bei  Peshävar  hinzufügen,  das  im 
Jahre  1875  von  den  Leutnants  Crompton  und  Haslett  ausgegraben 
wurde.  Leider  ist  der  veröflfentlichte  Bericht  so  summarisch  wie 
irgend  möglich.  Ausführlichkeit  wäre  hier  um  so  mehr  erwünscht 
gewesen  als,  wie  bekannt,  mehrere  Skulpturen  von  jenem  Orte  her- 
stammen, unter  denen  sich  der  sogenannte  Indoskythenkönig  (in 
Wahrheit  wohl  ein  Vaiäravana)  im  Museum  von  Lahore  befindet.  In 
den  Bergen  sind  die  Klöster  viel  zahlreicher  oder  wenigstens  besser 
erhalten.  Zu  den  wichtigsten  gehören  die  von  Takht-i-Bahai,  Jamäl- 
garhi,  Tarali,  Sikri  und  Räpigat.  Die  vom  Verfasser  neu  veröffent- 
lichten Abbildungen  zusammen  mit  den  schon  sonst  bekannten  Plänen 
veranschaulichen  den  höchst  komplizierten  Charakter  dieser  Bauten. 
Das  geschichtliche  Aufeinander  ihrer  Struktur  im  einzeln  zu  verfolgen 
wäre  vielleicht  zur  Zeit  der  Ausgrabungen  möglich  gewesen.  Aber 
die  Gelegenheit  dazu  ist  für  immer  verloren  gegangen.    Jedenfalls 


638  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

ist  es  dem  Verfasser  gelungen,  den  Kern  der  Gruppen  von  Takht-i- 
Bahai  und  Jamälgarhl  herauszuschälen  und  ihren  allmählichen  Zu- 
wachs klarzustellen.  Foucher  versucht  ferner  den  Zweck  der  einzelnen 
Gebäude  in  diesen  Gruppen  zu  bestimmen,  und  weist  die  für  die 
Sabbathzusammenkünfte  gebrauchte  Halle  (Skr.  Uposathäyära)  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  nach. 

Daß  die  Behandlung  der  Monumente  der  der  Skulpturen  voraus- 
gehen muß,  geht  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  die  letzteren  zur 
Dekoration  der  ersteren  dienten.  Ihre  Stelle  genau  zu  bestimmen 
ist  überaus  schwierig,  da  mit  verschwindenden  Ausnahmen  wie  den 
Jätakareliefs  von  Jamälgarhi  und  den  Metopen  von  Sikri  die  Skulp- 
turen niemals  in  situ  gefunden  wurden.  Ebenso  hat  man  bei  den 
Ausgrabungen  fast  nie  den  Fundort  notiert.  Glücklicherweise  besitzen 
wir  zwei  Exemplare  von  Miniaturstüpas,  eins  von  Gandhairi  und  das 
andere  von  Loriyän  Tangai  im  Svät-Tale  [die  Rekonstruktion  des 
ersteren  scheint  zwar  nicht  ganz  gesichert  ^)],  die  uns  erlauben,  auch 
die  größeren  Gebäude  dieser  Gattung  in  Gedanken  zu  rekonstruieren. 
Wir  sehen,  daß  in  diesen  Mimsitixr-Sttqxis  die  Reliefs  teils  den  bild- 
nerischen Schmuck  der  Friese  ausmachen,  teils  an  den  vier  Seiten 
der  Kuppel  angebracht  sind,  während  Halbfiguren  von  Elephanten, 
Löwen  und  Kentauren  um  das  Postament  herum  aufgestellt  sind. 
Im  allgemeinen  kann  angenommen  werden,  daß  die  Reliefs  zur  Aus- 
schmückung des  Stüpa  dienten,  während  die  Statuen  in  den  Tempeln 
aufgestellt  waren.  In  diesem  Zusammenhang  wird  auch  die  Stack- 
verzierung berücksichtigt,  wovon  auf  den  Monumenten  von  Gandhära 
deutliche  Spuren  vorhanden  sind. 

Als  Endresultat  der  baugeschichtlichen  Erörterungen  ergibt  sich 
die  Tatsache,  daß  die  Gebäude  wesentlich  indisch  sind.  Erst  in 
ihren  dekorativen  Teilen  macht  sich  der  klassische  Einfluß  geltend. 
Die  von  Foucher  gegebene  Erklärung  dieser  Tatsache  ist  ganz  ein- 
leuchtend. Während  es  zum  Bau  einer  ganzen  Menge  verschiedener 
Handwerksleute  bedurfte,  konnten  die  dekorativen  Arbeiten  recht 
wohl  von  einem  einzelnen  Künstler  geleitet  werden.  Eine  interessante 
Parallele  hierzu  bieten  die  Bauten  der  mongolischen  Herrscher  des 
späteren  Indiens,   die  in  ihrer  Dekoration  europäischen  Einfluß  ver- 

1)  Vgl.  Burgess,  Buddhist  art,  S.  155.  Dr.  Bloch  meint,  von  einer  Rekon 
Btruktion  sei  kaum  die  Rede.  >Mr.  Caddy,  der  diesen  Stüpa  zu8ammensetzte< 
schreibt  er,  > verfuhr  ganz  willkürlich  und  benutzte  beliebig  zusammengeholtes 
Material  um  ein  Gebäude  zu  errichten,  das  ungefähr  der  aUgemeinen  Idee  ent- 
spricht, die  man  sich  von  dem  Plane  eines  Stüpa  bilden  kann.  £ine  Zusammen- 
gehörigkeit zwischen  den  einzelnen  Teilen  dieser  Komposition  besteht  nicht« 


A.  Foucher,   L'art  gr^co-bouddhique  du  Gandhära  539 

raten,  nicht  aber   -  obwohl  auch  dieses  behauptet  worden  ist  —  in 
ihrer  Struktur. 

Was  nun  den  fremden  Einfluß  in  den  Skulpturen  Gandhäras 
anbelangt,  so  geht  schon  aus  dem  Titel  des  vorliegenden  Werkes 
hervor,  daß  nach  Fouchers  Ansicht  an  griechischen,  d.  h.  hellenistischen 
und  nicht,  wie  Vincent  Smith  meinte,  an  römischen  Einfluß  zu  denken 
ist.  Hierfür  spricht  schon  die  geographische  Lage  des  Zentrums 
dieses  Einflusses.  Denn  diese  Kunst  ist  auf  die  dem  hellenisierten 
Asien  zugekehrten  Grenzländer  Indiens  beschränkt,  wiewohl  ihre 
Nachwirkung  sich  in  viel  weiterer  Ferne,  ja  sogar  in  der  ganzen 
ostasiatischen  Kunst  spüren  läßt.  Der  Umstand,  daß  die  Kunst  von 
Gandhära  mit  der  von  Rom  im  ersten  und  zweiten  Jahrhundert 
n.  Chr.  gewisse  von  Smith  hervorgehobene  Berührungspunkte  besitzt, 
soll  uns  nicht  irreführen.  Foucher  hat  zweifellos  recht,  daß  in  solchen 
Fällen  Ableitung  von  einer  gemeinsamen,  vermutlich  kleinasiatischen, 
Vorlage  anzunehmen  ist.  Es  sei  den  Kennern  der  hellenistischen 
Skulptur  empfohlen,  dies  im  einzelnen  nachzuweisen. 

Im  zweiten  Abschnitte  seiner  Arbeit  behandelt  Foucher  erst  die 
rein  dekorativen  und  dann  die  für  die  Geschichte  des  Buddhismus 
wichtigen  illustrativen  Reliefs.  Unter  den  dekorativen  Elementen 
hebt  er  zunächst  solche  hervor,  deren  einheimischer  Ursprung  fest- 
steht, wie  Darstellungen  von  Löwen  und  Elephanten,  sowie  die  phan- 
tastischen Gestalten  des  Makara  (Meerelephanten),  Kmnara  (Harpye) 
und  Suparna  (Greife).  Die  dem  Pflanzenreich  entnommenen  Motive 
zeigen  uns  den  Pipal-Bsnim  (Ficus  religiosa),  der  für  die  Buddhisten 
als  Baum  der  Erkenntnis  besondere  Bedeutung  hatte,  die  Heckenrose, 
noch  heutzutage  die  Zierde  der  Gärten  von  Peshävar  und  Mardän, 
und  die  in  der  ganzen  indischen  Kunst  so  überaus  beliebte  Lotus- 
blume. Die  Rebe  wächst  in  den  benachbarten  Tälern  des  Kabul- 
flusses  und  in  Kashmir.  Die  Palmette,  welche  schon  auf  den  ältesten 
Denkmälern  Indiens  vorkommt,  ist  wohl  assyrischem  Einfluß  zuzu- 
schreiben. 

Dagegen  sind  fast  alle  architektonischen  Elemente,  die  zur  Ver- 
zierung der  Gandhärabauten  verwendet  wurden,  hellenischen  oder 
iranischen  Ursprungs.  Besonders  beliebt  sind  die  indokorinthischen 
und  indopersischen  Pilaster,  von  denen  die  letzteren  schon  der  älteren 
indischen  Kunst  angehören.  Hatte  doch  schon  GrünwedeP)  hervor- 
gehoben, »daß  sich  Ansätze  des  griechischen  Einflusses  schon  in  den 
Bauten  ASokas  vorfinden  in  gewissen  Formen,  zu  deren  Erklärung 
weder  der  Formenschatz  der  sogenannten  orientalisierenden  Richtung, 

1)  Buddhistische  Kunst,  2.  Aufl.,  S.  79. 


A.  Foucher,  L'art  gr^co-bonddhiqae  da  Gandhin  ^ 

Mathurä  einen  Stüpa  anbeten,  sind  von  Bübler^)  als  KiiiiiianMi  m^ 
SuparQas  gedeutet.  Besonders  merkwürdig  ist,  daß  wir  die  zmtm- 
haften  Atlanten,  welche  offenbar  aus  den  Eroten  des  heUenirtitdMfi 
Zeitalters  entstanden  sind,  noch  in  der  späteren  indischen  Kirnst 
Bih  Maras  (d.h.  Liebesgötter)  bezeichnet  finden.^)  Hingegen  können 
dergleichen  Wesen  als  Begleiter  Euberas  nur  Yak^s  bedeuten. 

Bei  der  Behandlung  der  nicht  ausschließlich  dekorativen  Reliefs 
(Kapitel  V— IX)  bemerkt  Foucher  in  erster  Linie,  daß  dieselben  ohne 
Ausnahme  buddhistisch  und  dem  Leben  des  Religionsstifters  ent- 
nommen sind.  Mir  ist  nur  ein  Relief  (Lahore  No.  2265)  bekannt, 
das,  streng  genommen,  eine  Ausnahme  macht.  Es  stellt  das  Parinir- 
vamx  Änandas  dar,  das  nach  dem  Tode  Buddhas  stattfand.  Doch 
gehört  das  Verscheiden  des  geliebten  Jüngers  wesentlich  zum  Buddha- 
zyklus. Es  ist  merkwürdig,  daß  die  Präexistenzen  Buddhas,  die  den 
Künstlern  der  Mauryaperiode  so  willkommenen  Stoff  boten,  kaum  dar- 
gestellt sind,  trotzdem  wir  wissen,  daß  die  Jatahas  sich  auch  im 
Nordwesten  Indiens  großer  Popularität  erfreuten.  Der  chinesische 
Pilger  Fa-Hien  berichtet  von  vier  großen  Stüpas  des  nördlichen 
Indiens,  deren  Errichtung  gerade  mit  vier  Jätakalegenden  in  Ver- 
bindung stand.  Wiewohl  die  genaue  Lage  dieser  Denkmäler  noch 
nicht  mit  Gewißheit  nachgewiesen  ist,  ist  es  doch  zweifellos,  daß  sie 
in  Gandhära  und  benachbarten  Gegenden  (Udyäna)  zu  suchen  sind. 

Foucher  betont  besonders  die  Abwesenheit  von  Abbildungen 
solcher  Jatahas,  in  denen  der  zukünftige  Buddha  in  tierischer  Gestalt 
auftritt.  Das  einzige  bis  jetzt  bekannte  Beispiel  in  der  gräcobuddhi- 
stischen  Kunst  ist  die  Geschichte  vom  Elephanten  mit  den  sechs  Hau- 
zähnen (Saddantajätaka)  auf  einem  Fragmente  im  Museum  von  Lahore. 
Es  ist  möglich,  daß  Foucher  Recht  hat,  die  Abneigung  gegen  solche 
Szenen  aus  künstlerischer  Selbsterkenntnis  zu  erklären.  Aber  es 
mag  auch  daran  erinnert  werden,  daß  nicht  nur  in  Barähat  (Bharhut) 
und  Gayä,  sondern  auch  in  Mathurä  die  Jätakas  fast  ausschließlich 
auf  den  Pfeilern,  Querbalken  und  Toren  der  Steinzäune  vorkommen. 
Die  Stüpas  von  Gandhära  waren,  soviel  wir  wissen,  nicht  mit  solchen 
Steinzäunen  versehen  (vgl.  aber  Foucher,  S.  68.)  Es  ist  femer  be- 
merkenswert, daß  die  Reliefs  von  Jamälgarhi,  welche  das  Visvantara- 
und  Syäma-jcUaka  darstellen,  nicht  einen  Stüpa,  sondern  eine  Treppe 
schmückten.  Das  Fragment  des  Saddantajätaka,  obwohl  nicht  in  situ 
gefunden,  muß  einem  ähnlichen  Zwecke  gedient  haben.  Diese  Folge- 
rung geht,  wie  Foucher  richtig  bemerkt,  aus  dem  Umstände  hervor, 
daß  die  Szenen  hier  einander  von   links  nach  rechts  folgen.    Auf 

1)  Epigraphia  Indica,  Bd.  II,  S.  319. 

2)  Foucher,  Iconographie  bouddhique  (Paris  1905),  S.  17. 

Q6ii.  gol.  Anz.  1906.  Nr.  7  38 


642  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Friesen,  die  zu  Stüpas  gehören,  finden  wir  stets  die  umgekehrte 
Reibenfolge.  Diese  für  die  Deutung  der  Reliefs  überaus  wichtige 
Tatsache  erklärt  der  Verfasser  in  einleuchtender  Weise  aus  dem 
bekannten  Gebrauch,  beim  Umwandeln  eines  Kultobjekts  diesem  immer 
die  rechte  Seite  zuzuwenden  (Sanskrit.  pradaJc^inJ  hartum).  Daß 
Fouchers  Erklärung  die  richtige  ist,  beweist  der  Umstand ,  daß  die 
Reliefs,  welche  auf  der  Innenseite  des  Steinzaunes  von  Amarävati 
vorkommen  und  also  links  vom  Beobachter  sind,  einander  von  links 
nach  rechts  folgen. 

Außer  den  drei  bereits  genannten  Jatakas,  welche  in  Gandbira 
nur  einmal  belegt  sind,  gibt  es  ein  viertes,  das  in  der  graco- 
buddhistischen  Kunst  ungemein  häufig  vorkommt.  Es  ist  das 
DtpanJcarajataka,  in  welchem  uns  der  künftige  Buddha  ^kyamuni 
in  der  Gestalt  eines  Brahmanenjüngers,  Megha  oder  Sumedha  genannt, 
begegnet,  der  von  Dlpankara,  dem  Buddha  jenes  längst  verschwundenen 
Zeitalters,  die  Weissagung  seiner  dereinstigen  Größe  als  Erlöser  der 
Menschheit  erhält.  Aus  diesem  Grunde  wurde,  scheint  es,  dieses 
Jataka  fast  als  eine  Episode  aus  der  letzten  Existenz  Säkyamunis 
betrachtet.  Die  Behandlung  dieses  Jataka  in  der  gräcobuddhistischen 
Kunst  ist  von  besonderem  Interesse,  weil  sie  ein  klares  Beispiel  von 
der  Wiederholung  derselben  Person  in  einem  und  demselben  Bild- 
werke bietet.  Solche  primitive  Darstellung  ist  in  der  älteren  indischen 
Kunst  ein  ganz  gewöhnliches  Kunstmittel.  Für  Gandhära  jedoch 
konnte  seiner  Zeit  selbst  ein  Kenner  wie  GrünwedeP)  behaupten, 
daß  solche  Folgeszenen  hier  unerhört  seien.  Daß  diese  Angabe  nicht 
ohne  beträchtliche  Einschränkungen  zulässig  ist,  geht  aus  den  von 
Foucher  angeführten  Beispielen  hervor,  unter  denen  das  Dipankara- 
jataka  besonders  charakteristisch  ist.  Auf  gewissen  Repliken  finden 
wir  den  Bodhisattva  nicht  weniger  als  viermal  abgebildet;  erst  die 
Lotusblumen  kaufend,  dann  sie  dem  Dipahkara  zuwerfend;  hierauf 
wie  er  diesem  zu  Füßen  fällt  und  schließlich  wie  er  sich  in  die  Luft 
erhebt,  um  die  Weissagung  aus  dem  Munde  seines  Vorgängers  zu 
empfangen. 

In  diesem  Zusammenhang  kann  ich  nicht  umhin,  die  Frage  zu 
berühren,  inwiefern  die  Figur  des  Megha  mit  der  Wasserkanne  und 
dem  Lotusstrauße  die  Entstehung  der  Typen  gewisser  Bodhisattvas, 
besonders  des  Maitreya  und  Padmapä^i  beeinflußt  haben  mag.  Wie 
bekannt,  sind  diese  beiden  in  der  späteren  Kunst  die  steten  Begleiter 
des  Buddha  Säkyamuui.  Aber  schon  in  Gandhära  finden  sich  Bei- 
spiele solcher  Gruppen  eines  zwischen  zwei  Bodhisattvas  sitzenden 
Buddhas  vor,  wobei   die  ersteren  durch  die  Wasserkanne  und  den 

1)  Op.  cit.  S.  91. 


A.  Foucher,  L'art  gr^co-bouddhique  da  Gandhära  543 

Lotusstrauß  als  Maitreya  und  Avalokiteävara  gekennzeichnet  sind. 
Es  ist  bemerkenswert,  wie  sehr  der  lockige  Megha-Sumedha  mit  der 
Wasserkanne  (welche  ihm  als  Brahmacärin  zukommt)  dem  Maitreya 
gleicht.  Auch  ist  es  von  Interesse,  daß  einer  Version  der  Sage  nach 
Megha  der  Schüler  des  Ratna  genannt  wird,  welch  letzterer  wiederum 
für  eine  präexistente  Form  Maitreyas  gilt.  Sollte  hier  wie  sonstwo 
Einfluß  der  Plastik  auf  die  Legende  anzunehmen  sein?  Aber  es  wäre 
unnötig,  hier  auf  solche  Probleme  einzugehen,  die,  wie  wir  hoffen, 
der  Verfasser  im  zweiten  Bande  seines  Werkes  erörtern  wird. 

In  der  Behandlung  der  Szenen  aus  dem  Leben  ^äkyamunis  folgt 
Foucher  soviel  wie  möglich  der  biographischen  Ordnung.  Wir  haben 
also  erstens  sein  Leben  als  prädestinierter  Buddha  oder  Bodhisattva, 
wobei  die  Präexistenzen  in  den  schon  erwähnten  Jätakas  mit  ein- 
begriffen sind,  zweitens  die  Erlangung  der  Erkenntnis,  drittens  sein 
Leben  und  Wirken  als  vollendeter  Buddha  und  viertens  seinen  Tod  oder 
Parinirvana.  In  dieser  Weise  gewinnen  wir  eine  vollständige  Illu- 
stration der  Buddhalegende,  wie  sie  im  ersten  Jahrhundert  in  Gandhära 
geläufig  war.  Offenbar  war  den  Bekennern  jenes  Zeitalters  das 
Leben  des  Meisters  noch  über  alles  wichtig.  Das  geht  nicht  nur  aus 
der  Mannichfaltigkeit  und  Frische  der  dargestellten  Szenen  hervor, 
sondern  besonders  auch  aus  der  wichtigen  von  Foucher  klargestellten 
Tatsache,  daß  die  Künstler  von  Gandhära  nicht  wie  die  von  Java 
nach  einem  bestimmten  Texte  arbeiteten,  sondern  ihre  plastische 
Darstellung  der  Legende  mündlicher  Ueberlieferung  entnahmen. 

Andererseits  zeigt  der  Verfasser,  wie  ihre  Arbeit  die  Weiterent- 
wicklung der  Legende  beeinflußt  haben  muß.  Am  deutlichsten  tritt 
dieser  Einfluß  im  Buddhacarita  hervor,  das  etliche  Stellen  enthält, 
die  sich  fast  als  Beschreibungen  gewisser  Reliefs  dartun.  Zwar  soll 
zugegeben  werden,  daß  der  Nachweis  dieses  Einflusses  unumgänglich 
viel  hypothetisches  enthält.  Jedermann  aber,  der  wie  Foucher  das 
heutige  Indien  kennt,  kann  nicht  umhin  zu  beobachten,  wie  manchmal 
plastische  Darstellungen  religiöser  Gegenstände  von  Seiten  Unwissender 
mißverstanden  und  mißgedeutet  werden.  Im  alten  Indien  war  es 
gewiß  nicht  anders. 

Jedenfalls  haben  wir  ein  zulässiges  Mittel  zur  Erklärung  sonst 
rätselhafter  Züge  in  der  späteren  Legende  erworben.  Die  von 
Foucher  angeführten  Beispiele  sind  einleuchtend.  Die  Gegenwart 
Mäyäs  am  Todesbette  ihres  Sohnes,  die  dem  Pali-Texte  unbekannt, 
aber  von  Hiuen  Tsiang  für  das  siebente  Jahrhundert  belegt  ist,  wird 
von  Foucher  aus  einem  Mißverstehen  der  Dryaden  abgeleitet,  welche 
die  Künstler  Gandhäras  öfters  im  Laube  der  Sälabäume  darstellen. 
So  dürfte  es  auch  dem  Einflüsse  der  Skulpturen  zuzuschreiben  sein* 

38* 


544  Gaft.  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

daß  die  Herabkunft  des  weifien  Elephanten  in  der  ursprünglichoi 
Fassung  als  ein  von  Mäyä  gesehenes  Traumbild  gedacht,  später  jedod 
als  ein  tatsächliches  Ereignis  aufgefaßt  wurde. 

Es  wäre  überflüssig,  in  dieser  Anzeige  alle  von  Foucher  be- 
handelten Szenen. aufzuzählen.  Ein  gewisse  Zahl  war  schon  vorher 
identifiziert.  In  einigen  Fällen  werden  frühere  MiOdeatnngen  ver- 
bessert (z.  B.  Fig.  227).  Aber  ganz  bedeutend  ist  die  Zahl  der 
Reliefs,  die  jetzt  zum  ersten  Male  erklärt  werden.  Unter  den  inte^ 
essantesten  möchte  ich  bloß  die  folgenden  hervorheben :  die  Bekehrong 
des  Nanda,  die  Gabe  einer  Handvoll  Erde  seitens  des  känftigen 
ASoka,  Änanda  und  die  Mätangi,  die  Geburt  des  Jyoti$ka^)  and  die 
Teilung  der  Reliquien  Buddhas  durch  den  Brahmanen  Dro^a.  Ich 
finde  unter  den  von  Foucher  vorgeschlagenen  Identifizierungen  keine, 
die  beanstandet  werden  kann.  Zwar  gibt  es  Fälle,  in  welchen  der 
Verfasser  selbst  seine  Ansicht  als  zweifelhaft  darstellt.  Aber  da  liegt 
die  Schuld  wohl  am  Bildhauer  oder  vielmehr  am  Besteller,  der  diesem 
eine  unmögliche  Aufgabe  zu  lösen  gab.  Waren  es  doch  öfters  gerade 
die  erbaulichsten  Episoden,  die  am  schwersten  plastisch  darzasteUen 
waren.  In  solchen  Fällen  war  der  Künstler  zur  Anwendung  gewisser 
Embleme  genötigt,  die  in  der  älteren  Schule  geradezu  unentbehrücb 
waren.  In  dem  Gebrauche  solcher  Symbole  zeigt  sich  auch  die  griico- 
buddhistische  Kunst  wesentlich  indisch.  So  finden  wir  zum  Ausdruck 
der  Predigt  im  Gazellenhain  zu  Benares,  wo  Buddha  >das  Rad  der 
heiligen  Lehre  zu  drehen  anfing<,  das  Gesetzesrad  mit  ein  oder  zwei 
Gazellen.  Die  letzteren  waren  offenbar  der  Gandhära- Kunst  eigen- 
tümlich, während  das  Rad  nach  Fouchers  Ansicht  schon  in  der  älteren 
Kunst  die  erste  Predigt  symbolisierte.  Diese  Angabe  ist  durch  einen 
der  wichtigsten  Funde  bestätigt  worden,  die  in  den  letzten  Jahren 
auf  archäologischem  Gebiete  in  Indien  gemacht  wurden.  Die  zu 
Särnäth  an  dem  Orte  des  ehemaligen  Gazellenparks  aufgefundene 
Aäokasäule  war  von  vier  in  persopolitanischer  Weise  zusammen- 
gefügten Löwen  gekrönt,  welche  das  Gesetzesrad  trugen.  Zweifellos 
war  diese  Säule  das  Vorbild  des  von  Foucher  angeführten  Mah&bodhi- 

1)  Ich  benutze  die  Gelegenheit  zu  bemerken,  daß  das  diese  Szene  darstdlende 
Fragment  (Fig.  260)  von  Major  F.  C.  Maisey  bei  Dargai  gefunden  wurde  and  dem 
Museum  von  Lahore  als  No.  1560  angehört.  Die  Figuren  129,  229,  291  and  SOO 
sind  No.  1493,  1182  (oberes  Fries),  2137  und  2030  desselben  MuseomB.  No.  1498 
und  1182  wurden  von  Leutnant  Maxwell  zu  Karamär  ausg^raben.  No.  2137  und 
2030  gehören  zu  der  Sikri-Sammlung  des  Oberst  Deane.  Die  aaf  Fig.  79  wieder- 
gegebene Stele  ist  nicht  No.  1335  sondern  1135  des  Museums  von  Lahore.  Sie 
wurde  mit  No.  1134,  1136  und  1137  vom  Ingenieur  L  Dempster  bei  der  Grabmig 
des  Svät-Kanals  (1881—1884)  entdeckt. 


A.  Foucher,  L'art  gr^co-boaddhique  da  Gandhära  546 

Medaillons  (Fig.  221),  und  er  ist  also  völlig  berechtigt,  in  diesem 
Medaillon  eine  Darstellung  der  ersten  Predigt  Buddhas  zu  sehen. 

Auch  bei  der  Beschreibung  derjenigen  Szenen,  die  schon  längst 
identifiziert  waren,  bietet  Fouchers  Buch  viel  neues.  Besonders  ist 
dies  im  Zyklus  des  Parinirvana  zu  beobachten.  Einige  dieser  Reliefs, 
wie  das  von  Loriyän  Tangai  im  Museum  von  Calcutta,  enthalten  eine 
Menge  Figuren,  deren  Deutung  nur  durch  Vergleichung  der  ver- 
schiedenen Repliken  mit  den  Texten,  besonders  dem  MahäparinibbänO' 
stäta,  gelingen  kann.  Auf  diesem  Wege  ist  es  Foucher  gelungen, 
weit  über  die  Erklärungsversuche  seiner  Vorgänger  hinauszugehen. 
Es  wäre  unrecht,  zu  verkennen,  daß  gewisse  Irrtümer,  die  Grünwedels 
Behandlung  dieser  Szenen  anhaften,  und  die  schon  teilweise  von 
James  Burgess  verbessert  worden  sind,  der  schon  oben  angedeuteten 
Geringfügigkeit  seines  Materials  zuzuschreiben  sind.  Doch  war  er 
kaum  berechtigt,  Personen  wie  Mära  und  den  Boten  Yamas  zur 
Deutung  heranzuziehen,  da  sie  doch  den  Texten  gänzlich  fehlen. 
Zwar  war  seine  Erklärung  der  Figur,  die  regelmäßig  mit  unter- 
geschlagenen Beinen  vor  dem  Lager  des  Sterbenden  sitzt,  auf  das 
Zeugnis  der  Texte  gegründet.  Doch  muß  ich  Foucher  beipflichten, 
wenn  er  in  ihr  Subhadra  sieht,  nicht  eine  Wiederholung  der  Buddha- 
figur in  dem  hypnotischen  Zustande,  der  seinem  Tode  unmittelbar 
voranging.  Der  Pali-Text  läßt  uns  nicht  im  Unklaren  darüber,  wie 
hoch  in  der  Wertschätzung  der  buddhistischen  Kirche  gerade  diese 
letzte  Bekehrung  Subhadras  kurz  vor  dem  Tode  des  Meisters  ge- 
standen hat.  Auch  berichten  die  chinesischen  Pilger  von  einem 
Denkmal  in  Eusinärä,  das  mit  dem  Namen  Subhadras  verknüpft  war. 

Es  folgt  hieraus,  daß  auf  den  Reliefs,  die  das  Parinirvana  dar- 
stellen, Subhadra  nicht  nur  nicht  fehlen  konnte,  sondern  eine  hervor- 
ragende Stelle  einnehmen  mußte,  wie  es  gerade  bei  der  von  Foucher 
als  Subhadra  gedeuteten  Figur  der  Fall  ist.  Eine  ähnliche  Figur 
befindet  sich  auf  der  kolossalen  Statue  des  sterbenden  Buddhas  zu 
Kasia,  d.  h.  eben  da,  wo  wir  den  ^älahain  von  Eusinärä  zu  suchen 
haben,  in  dem,  der  Tradition  nach,  der  Tod  des  Meisters  stattfand. 
Diese  Statue,  ein  von  Hiuen  Tsiang  erwähntes  Werk  des  fünften 
Jahrhunderts,  wurde  auf  Anweisung  Cunninghams  im  Jahre  1875 
wiederentdeckt  und  ist  seitdem  das  Ziel  buddhistischer  Wallfahrten 
geworden.  Nun  ist  es  bemerkenswert,  daß  auch  die  birmesische 
Tradition  die  besprochene  Figur  als  Subhadra  erklärt.  Daß  es  nicht 
eine  Wiederholung  des  im  Zustande  der  Auflösnng  befindlichen  Buddha 
sein  kann,  geht,  wie  Foucher  richtig  bemerkt,  schon  aus  dem  kahl 
geschorenen  Kopfe  der  Figur  hervor.  Die  Erhöhung  auf  dem  Scheitel, 
welche  Grünwedel  für  den  Schädelknochen  (ü^T^)  ansah,  der  Buddha 


546  G«tt  gel  Ans.  1906.  Nr.  7 

kennzeichnet,  ist  in  der  Tat  die  Scheitellocke  (sanskrit.  cüda,  itlAj; 
im  Hindi  cötf),  die  ihren  Träger  wohl  als  Brahmanen,  jedenfalls  als 
Nicht -Buddhisten  charakterisieren  soll.  Außerdem  unterscheide  ich 
auf  den  Reliefs  noch  ein  Symbol,  das  ich  auf  diese  Figur  beziehen 
möchte.  Es  ist  dies  ein  an  drei  Stöcken  befestigter  Wasserkrug,  der 
immer  vor  dem  Bette  des  Sterbenden  aufgestellt  ist.  Foucher  nennt 
es  einen  Flaschenkühler,  der  andeute,  daß  wir  uns  an  einem  Kranken- 
lager befinden.  Es  ist  jedoch  fraglich,  ob  es  nötig  war,  dem  Be- 
schauer diese  Tatsache  durch  ein  derartiges  Symbol  besonders  anzu- 
deuten. Scheint  es  nicht  natürlicher,  diesen  Gegenstand,  der  immer 
(auch  in  Kasia)  an  der  Seite  Subhadras  aufgestellt  ist,  vielmehr  auf 
diesen  zu  beziehen  und  in  ihm  eine  Andeutung  dessen  zu  sehen,  daß 
Subhadra  zur  Sekte  der  Traidundahi  (Dreistöckler)  gehörte?  Der 
Pali-Text  nennt  Subhadra  jedenfalls  einen  paribbajaka.  Nach  einer 
Mitteilung  Dr.  Blochs  bleibt  die  als  Subhadra  erklärte  Figur  auch 
auf  den  Parinirväna-Darstellungen  aus  der  letzten  Phase  der  indisch- 
buddhistischen Kunst,  aus  der  Zeit  der  Päla-Könige  von  Magadha, 
erhalten,  wo  sonst  doch  alle  Nebenfiguren  in  der  Regel  weggelassen 
sind.    Auch  der  Dreistock  mit  dem  Wasserkruge  findet  sich  dort. 

In  diesem  Zusammenhang  möchte  ich  auch  die  Figur  besprechen, 
die  auf  einigen  Repliken  zu  Füßen  des  sterbenden  Buddhas  steht, 
und  von  Grünwedel  als  der  Bote  des  Todesgottes  gedeutet  worden 
ist.  Foucher  verwirft  mit  Recht  diese  Hypothese,  weiß  sie  aber 
nicht  durch  eine  völlig  genügende  Erklärung  zu  ersetzen.  Nun  sind 
die  folgenden  drei  Punkte  zu  beachten :  die  Figur  trägt  eine  Kappe, 
hält  einen  Stab  oder  ein  Stabbündel  in  der  linken  Hand  und  hat 
sich  mit  einem  der  das  Lager  umgebenden  Mönche  in  ein  Gespräch 
eingelassen.  Auch  in  dieser  Figur  möchte  ich  Subhadra  erblicken 
und  zwar  in  dem  obiger  Szene  vorausgehenden  Moment,  als  er 
Änanda  um  Zutritt  zum  »Sramana  Gautama<  bat.^)  Daß  er  dem 
Meister  keinen  ehrenden  Titel  beilegt,  kennzeichnet  ihn  als  Un- 
gläubigen ( Tirthika),  Derselbe  Mangel  an  Ehrfurcht  wird  wohl  auch 
dadurch  ausgedrückt,  daß  er  sich  dem  Sterbenden  bedeckten  Hauptes 
naht.^)  Was  den  Gegenstand  anbelangt,  den  er  in  der  Hand  halt, 
so  pflichte  ich  Foucher  bei,  daß  es  der  Dreistab  (tridanda)  ist,  und 
nicht  eine  Schlinge,  wie  Grünwedel  wollte.  Allein  nach  dem  oben 
bemerkten  ist  es  klar,  daß  dieses  Attribut  nicht  den  Mönch  Mahäkäiyapa, 
sondern  den  Parivräjaka  kennzeichnen  muß.   Der  Mönch,  den  er  an- 

1)  Es  folgt,  daß  auf  Fig.  286  und  286  die  Figur  ebenso  wenig  am  Platze  ist, 
wie  die  Sälabäume  auf  Fig.  287. 

2)  I-tsing  (Takakusu)  S.  22. 


A.  Foucher,  L'art  gröco-boaddhiqae  da  Gandhära.  547 

redet  und  der  auf  gewissen  Repliken  ihn  herbeizuwinken  scheint,  ist 
Änanda,  der  ihn  auf  des  Meisters  Geheiß  an  sein  Sterbelager  ruft. 

Zwar  bin  ich  geneigt,  mit  Foucher  Ananda  auch  in  demjenigen 
Mönch  zu  erkennen,  der  von  Schmerz  überwältigt  zu  Boden  gestürzt 
ist  und  von  einem  anderen  emporgerichtet  wird.^)  Wie  schon  be- 
merkt, ist  eine  solche  Wiederholung  derselben  Person  in  den  Gan- 
dhära-Skulpturen  keineswegs  unerhört.  Uebrigens  könnte  man  auch 
in  engem  Anschluß  an  den  Palitext  in  diesen  beiden  Mönchen  Vor- 
stellungen des  zweifachen  Verhaltens  der  Jünger  Buddhas  beim  Tode 
des  Meisters  sehen,  wie  eine  Kategorie  von  Mönchen  vom  Schmerz 
überwältigt  sich  auf  dem  Boden  wälzte,  während  [die  anderen,  die 
Vergänglichkeit  alles  Irdischen  erkennend,  sogar  das  Hinscheiden 
ihres  Lehrers  gelassen  trugen. 

In  allen  anderen,  das  Parinirväna  betreffenden  Punkten  bin  ich 
ganz  mit  Foucher  einverstanden.  Es  wäre  deshalb  überflüssig,  diese 
im  einzelnen  zu  erörtern.  Es  sei  nur  noch  kurz  bemerkt,  daß  die 
Figur  mit  dem  Wedel  (sanskrit.  cämara),  in  dem  Foucher  meines  Er- 
achtens  mit  Recht  den  dem  Meister  Kühlung  zufächelnden  Upavä^a 
vermutet,  auch  auf  Fig.  284  vorkommt.  Wäre  es  also  nicht  besser, 
auch  dieses  Relief  als  eine  Darstellung  des  Todes  Buddhas  zu  deuten? 

Unter  den  Personen,  die  dem  Parinirväna  als  Augenzeugen  bei- 
wohnen, befindet  sich  in  der  Regel  auch  jene  rätselhafte  Gestalt,  die 
zu  so  großer  Meinungsverschiedenheit  Anlaß  gegeben  hat.  Ver- 
schieden in  Gesichtstypus  und  Kleidung,  aber  immer  durch  sein 
Attribut,  den  Donnerkeil,  gekennzeichnet,  ist  er  der  stete  Begleiter 
Buddhas  von  dem  Augenblicke  an,  wo  dieser  den  väterlichen  Palast 
verläßt,  um  die  Erkenntnis  der  höchsten  Wahrheit  zu  erringen.  Die 
Theorie  Cunninghams,  nach  welcher  jene  Figur  Devadatta,  den  bösen 
Vetter  und  Widersacher  Buddhas,  darstellt,  ist  ganz  von  der  Hand 
zu  weisen.  Zulässiger  ist  die  von  Grünwedel  anfangs  vorgeschlagene 
Deutung  als  Mära,  welcher,  dem  Ävidürenidäna  zufolge,  Buddha 
wie  sein  eigener  Schatten  begleitete.  Doch  bleibt  auch  bei  dieser 
Auffassung  das  keulenartige  Attribut,  in  dem  Vincent  Smith  zuerst 
den  Donnerkeil  (sanskrit.  vajra)  erkannte,  unerklärt.  Burgess  hat 
auch  darauf  hingewiesen,  daß  die  Stellung  des  Donnerkeilträgers 
mehr  beschützend  als  antagonistisch  sei.  Sogar  auf  dem  Parinirväna- 
relief  (Lahore  Nr.  1043,  Foucher  Fig.  281)  ist  >die  spöttische  Ge- 
berde <,  die  Grünwedel  zu  bemerken  glaubte,  vielmehr  der  Ausdruck 

1)  Diese  Identifizierung  wurde  zuerst  von  Grünwedel  gemacht  (op.  cit.  S.  112). 
Die  beiden  Figuren  haben  sich  auf  einem  Terra-cotta-Fragmente  von  Sankäsya 
(jetzt  Sankisa)  erbalten  Vgl.  Cunningham  Arch.  Survey  Report  Bd.  XI  PI  IX 
Nr.  5. 


548  Gott.  geL  Anz.  1906.  Nr.  7 

eines  Klagenden.  Ueberdies  ist  die  JIfcEratheorie  aus  dem  Grande  zu 
beanstanden,  daß  Mara  anderswo  einen  ganz  verschiedenen  Typos 
erhält.  Hierauf  möchte  ich  aber  nicht  soviel  Gewicht  legen,  da 
Mära  auch  in  den  Szenen,  wo  er  mit  Sicherheit  nachzuweisen  ist, 
nicht  immer  dasselbe  Aussehen  hat.  Er  erscheint  nämlich  entweder 
in  königlicher  Tracht  als  ein  Deva  oder  mit  einem  Küraß  bekleidet, 
wozu  wohl  sein  aggressives  Vorgehen  Anlaß  gegeben  hat  Es  ist 
merkenswert,  daß  auf  allen  bekannten  Abbildungen,  die  den  Ausritt 
aus  Eapilavastu  darstellen,  ihm  der  dem  indischen  Käma  wie  dem 
griechischen  Eros  eigentümliche  Bogen  als  Attribut  beigegeben  wird. 
Bei  seinem  Angriffe  {MäradlkaraaiuC)  aber  hat  er  diese  Waffe  mit 
einem  Schwerte  vertauscht.  Leider  sind  nur  sehr  wenig  Repliken 
dieser  Szene  bekannt.  Dr.  Bloch  macht  mich  auf  ein  Fragment  im 
Museum  von  Calcutta  aufmerksam,  wo  Mara  auf  dem  Elephanten 
reitend,  Pfeile  auf  Buddha  schießt,  ganz  wie  in  der  national-indischen 
Kunst  von  Magadha  und  auch  in  dem  von  Foucher  veröffentlichten 
Relief  von  Kamboja  (Fig.  153). 

James  Burgess  verdanken  wir  eine  dritte  Theorie,  die  mir  in 
mancher  Hinsicht  den  vorhergehenden  vorzuziehen  scheint.  Seine  Er- 
klärung der  Figur  als  Sakra  hat  wenigstens  den  Vorteil,  sowohl 
dem  Donnerkeil  ^)  als  der  schützenden  Haltung  des  Donnerkeiltr'ägers 
gerecht  zu  werden.  Während  Grünwedel  sich  dieser  neuen  Theorie 
gegenüber  halb  gewonnen  gab,  erklärte  sich  Foucher  in  einer  früheren 
Publikation  zugunsten  der  Märahypothese.  Seitdem  aber  hat  sich 
seine  Ansicht  geändert.  Im  vorliegenden  Buche  verwirft  er  sowohl 
die  Mära-  als  die  Sakratheorie  und  erklärt  die  Figur  als  einen 
Yaksaräja  Vajrapä^i.  Ich  muß  gestehen,  daß  diese  Lösung  der  Frage 
mich  nicht  völlig  befriedigt.  Zwar  findet  sie  einen  gewisssen  Anhalt 
an  den  Texten.  Allein  diese  erwähnen,  wie  es  scheint,  diesen  YaJc^araja 
bloß  bei  Gelegenheit  des  ahhini^lcramaTia,  und  seine  stete  Gegenwart 
an  Buddhas  Seite  bleibt  unerklärt.  —  Dürfen  wir  nicht  auch  hier 
einen  Einfluß  der  Bildwerke  auf  die  schriftlichen  Quellen  vermuten? 
Die  Erwähnung  dieses  Ydicsaräja  Vajrapä^i  beim  Ausritt  aus  Ka- 
pilavastu,  obwohl  er  in  den  Texten  sonst  keine  Rolle  spielt,  könnte 
recht  wohl  einer  bildlichen  Darstellung  jener  Szene  entnommen  sein. 
Es  scheint  nicht  unmöglich,  daß  sein  Name  eine  bloße  Fiktion  ist, 
ein  Notbehelf,  um  eine  sonst  unverstandene  Figur  des  Bildwerkes  zu 
deuten.    Es  ist  schon  bemerkt  worden,  daß  die  Gestalt  des  Donner- 

1)  Ich  kann  Grünwedel  (op.  cit.  S.  40  und  80)  überhaupt  nicht  beistimmen, 
dafi  der  DonnerkeU  allen  indischen  Göttern  zukomme.  Von  vedischen  Zeiten  an 
ist  er  ausschließUch  das  Attribut  des  Donnergottes  Indra,  den  er  auch  in  der 
hrahmanischen  Ikonographie  kennzeichnet. 


A.  Foacher,  L^art  grdco-bouddhique  da  Qandhära  549 

keilträgers  auf  den  verschiedenen  Reliefs  sehr  verschieden  ist.  Darin 
liegt  bereits  eine  Andeutung  davon,  daß  die  Bildhauer  sich  über 
sein  Wesen  nicht  ganz  klar  waren.  Seine  Erscheinung  gleicht  bald 
der  eines  Satyrn,  bald  der  eines  Eros ;  aber  in  einigen  der  besten  und 
vermutlich  ältesten  Reliefs  hat  er  das  würdevolle  Aussehen  eines 
Zeus.  Hierauf  hat  schon  Grünwedel  hingewiesen.^)  Zu  dem  zeus- 
ähnlichen Typus  paßt  auch  der  Donnerkeil  am  besten.  Wenn  aber 
die  ersten  in  Gandhära  eingewanderten  hellenistischen  Künstler  die 
Figur  des  Zeus  zur  Darstellung  einer  indischen  Gottheit  wählten,  so 
konnte  dieses  nur  die  Gestalt  des  donnerkeilschwingenden  Götter- 
königs Indra  sein.  Aber  ebenso  gewiß  konnte  jener  Typus  bei  einem 
indischen  Publikum  niemals  auf  Erfolg  rechnen.  Dieser  nackte 
Mensch,  dem  nicht  nur  jeglicher  Schmuck,  sondern  sogar  die  Kleider 
fehlten,  sollte  den  Götterkönig  darstellen!  Denken  wir  uns  die 
Haltung  des  gelehrten  Verfassers  des  Lalitavistara  einer  solchen  Be- 
hauptung gegenüber.  Wenn  jene  Figur  überhaupt  ein  göttliches 
Wesen  darstellen  sollte  (was  wohl  den  Reliefs  gegenüber  —  so  mußte 
er  schließen  —  unleugbar  war),  so  konnte  er  höchstens  ein  Ober- 
haupt der  niedrigen  Geister  sein.  Inzwischen  war  es  jedoch  dem 
schöpferischen  Genius  der  hellenistischen  Künstler  gelungen,  einen 
dem  Geschmack  des  Publikums  mehr  zusagenden  Indratypus  ins 
Leben  zu  rufen.  Es  ist  dies  der  Indra  der  Mardän-Reliefs,  auf  denen, 
beiläufig  bemerkt,  der  sehr  eigenartige  Hut  noch  nicht  erklärt  worden 
ist.  Aber  auch  dieser  Typus  kommt  nur  vereinzelt  vor  —  denn  auch 
hier  macht  sich  die  Tendenz  nach  Ausgleichung  geltend  —  und 
schließlich  erhält  Indra  die  den  andern  Göttern  gemeinsame  Gestalt, 
welche  sich  von  der  der  Könige  der  Erde  bloß  durch  den  Nimbus 
unterscheidet.  Die  älteste  in  Nachahmung  von  Zeus  geschaffene  Figur 
Indras  büßte  zwar  mit  dem  Verlust  ihres  ursprünglichen  Ranges  viel 
von  der  Majestät  ihrer  äußeren  Erscheinung  ein,  hat  aber  doch  in 
ihrer  sekundären  Funktion  als  Vajrapä^i  einen  ungeheuren  Erfolg 
erzielt.  Nicht  nur  blieb  dieser  Vajrapä^i  in  den  Gandhära-Reliefs 
unzertrennlich  mit  Buddha  verbunden,  sondern  er  wurde  sogar  zum 
Bodhisattva  und  Beschützer  des  Dharma. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  daß  die  Typen  der  Gottheiten 
—  und  auch  der  Buddhatypus  bildet  hiervon  keine  Ausnahme  —  in 
der  Gandhära-Kunst  nicht  von  vorne  herein  fixiert  waren,  sondern 
starken  Schwankungen  unterlagen.  Ein  anderer  Punkt,  der,  soviel 
ich  weiß,  noch  nicht  betont  worden  ist,  ist  der,  daß  die  Darstellung 
der  brahmanischen  Götter  wie  Brahma,  Indra  und  Käma  in  der 
gräcobuddhistischen  Kunst  keinen  Zusammenhang  mit  der  national- 

1)  Globus  S.  172  und  Baddh.  Kunst 'S.  89. 


550  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

indischen  Ikonographie  zeigt.  Die  Figuren  sind  rein  menschlich.  Daß 
ihnen  die  auch  sonst  vorkommenden  Attribute,  wie  der  Wasserkrag, 
der  Donnerkeil  und  der  Bogen,  beigegeben  werden,  kann  leicht  aus 
mündlicher  Ueberlieferung  abgeleitet  werden. 

Ein  anderer  gleich  wichtiger,  aber  ebenso  sehr  umstrittener 
Punkt  ist  die  Datierung  der  Gandhära-Skulpturen.  Die  ersten  Ver- 
suche zur  Lösung  dieser  Frage  gingen  meist  von  einer  Vergleichung 
mit  abendländischen  Vorlagen  und  Parallelen  aus.  Aber  obwohl  diese 
von  Fergusson  und  Vincent  Smith  befolgte  Methode  den  späten  und 
dekadenten  Stil  dieses  Zweiges  der  hellenistischen  Kunst  klar  darge- 
legt hat,  ist  sie  trotzdem  außer  Stande,  die  allgemeine  Zeit  der 
Schule,  geschweige  denn  die  jedes  Werkes  im  einzelnen,  näher  zu 
bestimmen.  Namentlich  bietet  sie  keinen  Anhalt,  um  den  ierminus 
ad  quem  festzustellen.  Hier  gewinnen  wir  größeren  Nutzen  von  einer 
Vergleichung  nicht  mit  den  älteren  klassischen  Vorlagen,  sondern 
mit  den  späteren,  indischen  Skulpturen,  die  den  Einfluß  der  gräco- 
buddhistischen  Schule  verraten.  Emile  Senart,  dem  Fouchers  Werk 
zugeeignet  ist,  hat  das  Problem  um  einen  bedeutenden  Schritt  der 
Lösung  näher  gebracht  durch  den  Hinweis  darauf,  daß  die  Blütezeit 
der  Gandhära-Skulpturen  dem  Bau  des  StRpa  von  Amarävati,  d.  h. 
der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  vorangehen  muß.  Foucher 
(S.  42)  erklärt  sich  damit  einverstanden. 

Vielleicht  können  wir  noch  etwas  weiter  gehen.  Es  ist  eines 
der  größten  Verdienste  Fouchers  (S.  222  und  615),  die  Stellung, 
welche  die  Mathurä-Schule  in  der  Geschichte  der  buddhistischen 
Kunst  einnimmt,  ein  für  allemal  festgestellt  zu  haben.  In  Mathurä 
finden  wir  nicht,  wie  Smith  und  andere  behaupten,  einen  früheren 
Ausdruck  des  klassischen  Einflusses,  sondern  vielmehr  —  wie  es  die 
geographische  Lage  von  vornherein  wahrscheinlich  macht  —  eine 
von  Gandhära  hergeleitete  und  folglich  geschwächte  Wirkung  jenes 
Einflusses.  Demnach  können  wir  für  Amarävati  jetzt  Mathurä  sub- 
stituieren. Zwar  ist  auch  die  Blütezeit  der  Mathurä-Schule  nicht 
genau  zu  bestimmen.  Aber  einen  Punkt  können  wir  als  gesichert 
ansehen,  nämlich  daß  ihre  Glanzzeit  in  die  Regierung  der  großen 
Ku§ana-Fürsten  fällt.  Dies  stimmt  mit  einer  andern  von  Senart  ge- 
machten Beobachtung  überein.  Auf  den  Münzen  Kaniskas  findet  sich 
das  Bild  Buddhas  mit  dem  Nimbus,  eine  deutliche  Schöpfung  der 
gräcobuddhistischen  Kunst.  In  diesem  Zusammenhang  ist  auch  Fouchers 
Beobachtung  von  dem  Einfluß  der  Skulpturen  auf  die  poetische 
Legende  in  Aävaghosas  BuddJiacarita  heranzuziehen,  einem  Werke 
aus  dem  Zeitalter  Kaniskas.    Alles  deutet  somit  darauf  hin,  daß  der 


A.  FoQcher,  L'art  gr^co-bouddhiqae  an  Ganthära  551 

Höbepunkt  der  Gandbära-Schule  dem  Zeitalter  der  Indoskythen 
vorangeht. 

Diese  Folgerung  stimmt  mit  dem  Zeugnis  der  Münzen  und  In- 
schriften überein,  welche,  wie  Foucher  bemerkt,  für  die  Datierung 
der  Gandhära- Skulptur  von  höchster  Bedeutung  sind.  Die  indo- 
baktrischen  Münzen  verdankten  ihre  Entstehung  denselben  Faktoren 
wie  die  gräcobuddhistischen  Skulpturen.  Die  Geschichte  beider  zeigt 
die  nämliche  Entartung.  Es  wäre  kaum  anzunehmen,  daß  Reliefs, 
wie  die  in  der  Mardän-Sammlung,  zeitlich  mit  den  barbarischen 
Münzen  zusammenfielen,  die  die  letzten  Tafeln  (XXV—XXIX)  von 
Gardners  Katalog  füllen.  Ein  detailliertes  Studium  der  den  Münzen 
und  Skulpturen  gemeinsamen  Figuren  ist  noch  nicht  gemacht  worden. 
Im  Laufe  seines  Werkes  (S.  246,  360)  hat  schon  Foucher  im  Vor- 
übergehen Zusammenhänge  mit  den  Münzen  des  Azes  nachgewiesen, 
des  Sohnes  des  Maues,  der  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts 
V.  Chr.  gesetzt  wird. 

Ich  muß  gestehen,  zu  den  Buchstabengläubigen  zu  gehören,  die 
nur  von  den  Inschriften  eine  endgültige  Lösung  dieses  Problems  er- 
hoffen. Und  zwar  soll  betont  werden,  daß  die  auf  den  Skulpturen 
vorkommenden  Inschriften  als  Beweismaterial  in  dieser  Hinsicht  weit 
wichtiger  sind,  als  die  auf  separaten  Steinplatten.  Meines  Erachtens 
hat  man  bei  der  Behandlung  des  Problems  auf  die  zu  Takht-i-Bahai 
gefundene  Inschrift  von  Gudufara  zu  viel  Gewicht  gelegt.  Jeden- 
falls ist  auch  hier  die  Aera  unbekannt  und  das  Datum  deshalb  eben- 
so unsicher  als  das  der  Piedestale  von  Hashtnagar  und  Loriyän 
Tangai.  Dennoch  hat  diese  Inschrift  Burgess  veranlaßt,  den  Anfang 
der  Gandhära-Schule  in  das  Jahr  30  n.  Chr.,  d.  h.  das  angebliche 
Jahr  der  Thronbesteigung  Gudufaras,  zu  setzen. 

Alles  zusammen  genommen,  ist  es  gar  nicht  unwahrscheinlich, 
daß  die  von  Cunningham  vorgeschlagene  Datierung  (40  v.  Chr.  bis 
100  n.  Chr.)  am  Ende  sich  als  die  richtige  herausstellen  wird,  we- 
nigstens für  die  Blütezeit  der  Schule.  Vielleicht  gehen  die  besten 
Exemplare  sogar  noch  auf  ein  höheres  Zeitalter  zuinick  und  nähern 
sich  der  Zeit  des  gräcobuddhistischen  Königs  Menander.  Andererseits 
ist  die  große  Masse  derjenigen  Stücke,  die  eine  zunehmende  »In- 
dianisierung<,  d.  h.  Entartung  aufweisen,  gewiß  später  als  das  erste 
Jahrhundeit  n.  Chr.  und  es  ist  wahrscheinlich,  daß  die  Produktion 
solcher  Werke  bis  zu  den  Hunneneinfällen  des  fünften  Jahrhunderts 
fortgedauert  hat.  Wenigstens  wissen  wir,  daß  Mihirakula  die  Buddhisten 
in  Gandhära  verfolgte  und  ihre  Heiligtümer  zerstörte.  Als  Hiuen 
Tsiang  zwei  Jahrhunderte  später  das  Land  besuchte,  fand  er  die 
Gebäude  in  Trümmern  mit  den  deutlichsten  Spuren  langen  Verfalls. 


mi  rim.  fd.  Jtm.  »m.  sk  i 

IMIem  wir,  da£  die  weitere  ardnoIofiKbe 
Ifidieng  die  Losmg  der  (^hrottoiogBcfaea  30wie  »derer  rmfiii—  ksr- 
beiföbreB  wird.  Gewii  eathalteft  die  Tränaerkaurfai  der  GieBi^ 
pronnz  Boch  erne  Maase  Material,  mindeatefts  des  jelit 
gleiebkoiDmend.  Aber  wie  ^iel  neues  Material  die  ^»^«"^ 
bringea  mag,  ieb  )m  öberzeagt,  dafi  es  die  tob  Foocker 
Omndsitze  bestätigen  und  ergänzen  und  mitbin  die  Bedestmg  aemer 
Arbeit  ab  Ilaopiwerk  aber  die  gracobnddhiatische  Konsi  ans  Lkkt 
stellen  wird« 

Labore  J.  PIl  Yogei 


Deakniler  if/irtlselier  Hkal^ar,  beraiugegcben  and  mit  erläuternden  Texten 
Ternehen  von  Fr.  W.  F  r  e  i  h  e  r  r  n  v.  Hissing.  München  1906.  Verlagsanstah 
F.  Hnicktnann,  A.-G.  Vollständig  in  12  Lieferangen,  k  20  Mk.  Liefenmg 
1  und  2. 

Mit  dieHetn  Werke  begibt  sieb  die  Bruckmannsche  Kunstver- 
lagBanstalt,  der  wir  m  viele  mustergültige  Veröffentlichungen  auf 
den  verschiodensten  Feldern  der  Kunstgeschichte  verdanken,  auf  ein 
neues  Gebiet.  Was  die  Anstalt  bisher  Hervorragendes  geleistet  hat, 
bedarf  keines  weiteren  Rühmens.  Wenn  daher  in  den  vorliegenden 
Lieferungen  nicht  alles  auf  der  Höhe  ist,  so  ist  dies  einzig  und  allein 
auf  Rechnung  ihres  Beraters,  v.  Bissing,  in  schreiben,  der  nichts 
besRercH  tax  Stande  gebracht  hat,  trotzdem  ihm  eines  unserer  ersten 
deutschen  Kunstinstitute  zur  Seite  stand.  Das  Künstlerische  an  den 
Tafeln  läßt  niimlich  zu  wünschen  übrig,  allerdings  stets  in  Punkten, 
welche  auf  die  ungeschickte  Auswahl  der  Vorlagen  zurückgehen  and 
bei  denen  der  Drucker  nicht  mehr  helfen  konnte. 

Wirklich  gut  sind  nur  die  Wiedergaben  der  meisten  Reliefe  (z.  B. 
Taf.  14—16),  aber  auch  diese  schon  nicht  ohne  EinschritnlningeB. 
Farbenempfindliche  Platten  (Taf.  17,  die  im  oberen  Teil  auch  nnklar, 
Autotypie  hinter  Text  zu  Taf.  5)  und  bessere,  ev.  künstliche  Belench- 
tung  (Taf.  18)  hätten  bei  manchen  den  Eindnick  der  Wirklichkdt 
mehr  genähert.  Bei  leicht  transportablen  Stücken  (Taf.  2)  hätte  unter 
jeder  Bedingung  eine  bessere  Wiedergabe  erzielt  werden  müssen. 

Die  Reproduktionen  der  Standbilder  sind  im  allgemeinen  schlechter 
als  die  der  Reliefs.  Einige  (Taf.  4  u.  7)  sind  durch  den  ansgedeckten 
Hintergrund,  ein  anderes  (Taf.  21)  durch  zu  anffallige  Retonche  als 
Kunstblätter  verdorben ;  bei  manchen  ist  das  Charakteristische  (Taf.  3) 
oder  auch  das  Feinste  (Taf.  20)  daran  nicht  ordentüdi  smm  Torsdiein 
gekomnen;  andere  endlich  (Taf.  23,  24)  smd  sogar  in  mir  bekuHten 


Denkmäler  ägyptischer  Skulptur,  hrsg.  von  v.  Bissing  563 

Amateuranfnahmen  mit  mehr  Weichheit  wiedergegeben  worden.  Bei 
den  meisten  Statuen  ist  der  Standpunkt  unglücklich  gewählt.  Bei 
minderen  Kunstleistungen  (Taf.  6)  macht  das  nicht  viel,  aber  wenn 
dadurch  gute  Werke  verunstaltet  werden,  noch  dazu  in  Blättern,  die 
der  studierenden  Jugend  die  ägyptische  Kunst  näher  bringen  sollen, 
so  ist  dies  nicht  entschuldbar.  Unteransichten  (Taf.  8,  vom  auch 
unscharf;  Taf.  9,  desgl.;  Taf.  11;  Taf.  12b,  unten  unscharf;  Taf.  19b; 
Taf.  21),  bei  denen  Naslöcher  und  Kinnuntersichten  sich  dem  Be- 
schauer aufdrängen,  zeigen  natürlich  in  den  Gesichtern  verschobene 
Verhältnisse  und  können  das  Stilgefühl  beim  Studierenden  nicht  ge- 
rade bilden.  Die  Statue  des  Lesenden  (Taf.  8)  macht  den  Eindruck 
als  stände  sie  auf  einem  Museumschrank.  Am  schlimmsten  ist  der 
Menthuhotep  (Taf.  19  a)  fortgekommen,  der  allerdings  in  natura  über 
unmögliche  Fußdimensionen  verfügt,  die  aber  durch  geschickte  Wahl  des 
Standpunkts  diskret  gemildert  werden  konnten.  Man  hat  aber  dieses 
Mißverhältnis  ins  Unglaubliche  übertrieben.  Interessant  mag  auch 
der  Versuch  einer  Aufnahme  mit  Hinterlicht  sein  (Taf.  25,  der  Re- 
flex inmitten  hätte  ausgedeckt  werden  können).  Eine  der  alten  Auf- 
nahmen Golenischeffs  vom  selben  Objekt  (Rec.  15)  wäre  hier 
besser  gewesen.  Als  belustigender  Schluß  dieses  Geschmackssünden- 
registers diene  ein  Hinweis  auf  die  hintenüberfallende  Königin  No- 
fret  (im  Text  zu  Taf.  21)  mit  den  Riesenfüßen. 

Nach  Aufzählung  der  mißlungenen  Wiedergaben  muß  ich  aber 
eine  wirklich  gute  hervorheben:  das  Profilbild  des  Chefren,  das  so 
vorzüglich  ist,  daß  man  selbst  den  Diorit  schimmern  zu  sehen  glaubt. 
Eine  Kunstanstalt,  die  solche  Leistungen  aufweisen  kann,  hätte  ge- 
wiß auch  die  anderen  Blätter  auf  die  gleiche  Höhe  gebracht,  wenn 
V.  Bissing  ihr  entsprechende  Vorlagen  geliefert  hätte. 

Die  Auswahl  der  wiederzugebenden  Kunstwerke  war  natürlich 
schwierig.  Es  soll  in  nur  144  Blatt  das  Material  für  Vorlesungen 
über  ägyptische  Kunstgeschichte  in  allen  ihren  Epochen  zusammen- 
gestellt werden,  man  mußte  sich  also  auf  die  Wiedergabe  der  besten, 
jedenfalls  aber  besonders  guter,  möglichst  typischer  Stücke  be- 
schränken. Hierin  hat  sich  der  Herausgeber  nicht  gerade  als  Meister 
gezeigt.  Sowie  er  von  der  großen  Straße  abgewichen  ist  und  nicht  die 
allbekannten  Typen  geben  wollte,  hat  er  Dinge  gebracht,  die  nur 
ein  Privatinteresse  haben  können.  So  ist  es  zum  Beispiel  unver- 
ständlich, warum  anstatt  der  Stele  des  >roi  serpent«  aus  dem 
Louvre^),  die  schon  in  musterhafter,  aber  schwer  zugänglicher  Ver- 

1)  VieUeicht  ist  auch  der  vorläufige  Verzicht  auf  die  berühmten  Statuen  dee 
Sepa  und  Nesa  (Taf.  6)  »um  der  Publikation  des  Louvre  nicht  vorzugrdfenc 
nicht  ganz  so  freiwillig  wie  er  scheinen  möchte. 


554  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  7 

öflfentlichung  vorliegt,  die  viel  geringwertigere  auf  Taf.  9  gebracht 
worden  ist.  Die  archaische  Sitzfigar  aas  Neapel  (Taf.  3)  ist  wohl 
nur  aufgenommen,  da  v.  Bissing  meinte,  >daQ  sie  den  Fachgenossen 
bisher  unbekannt  geblieben  seic  Ich  glaube  nicht,  daß  sie  irgend  ein 
Fachgenosse,  der  in  den  letzten  10  Jahren  das  Neapler  Moseum  be- 
sucht hat,  übersehen  haben  dürfte^).  Aber  selbst,  wenn  die  Statue 
unbekannt  gewesen  wäre,  so  ist  das  noch  kein  Freibrief  fur  sie,  ihr 
ein  ganzes  Blatt  zu  opfern.  Eine  Autotypie  von  ihr  im  Text  und 
eine  der  vielen  schönen  Privatstatuen  der  ersten  Dynastieen  als  Voll- 
bild wäre  das  Richtige  gewesen. 

Aehnlich  deplaziert  sind  einige  Stücke  aus  dem  Privatbesitz  y.  Bissings 
(Taf.  6,14—16).  Ich  will  zugeben,  daß  es  schwer  ist,  den  Stücken  der 
eignen  Sammlung  gegenüber  immer  ein  unparteiisches  Urteil  zu  behalten, 
aber  bescheidene  Vorsicht  hätte  dem  Herausgeber  wohl  sagen  können,  daß 
die  Publikation  solcher  Stücke  unter  der  >  Auswahl  der  besten  Statuen 
und  Reliefs <  nur  zu  leicht  mißdeutet  werden  kann.  Die  langgezogene, 
unproportionierte  Gruppe  eines  stehenden  Ehepaares  (Taf.  6)  hätte 
durch  ein  ähnliches  Werk  der  klassischen  Kunst  des  alten  Reichs, 
die  in  ausreichender  Anzahl  vorhanden  sind,  ersetzt  werden  sollen. 
Wollte  der  Herausgeber  daneben  durchaus  seine  Gruppe  anbringen, 
so  hätte  eine  Autotypie  im  Text  genügt,  zu  zeigen  wie  solche  Gruppen 
in  minderer  Ausführung  aussehen.  An  Stelle  des  Reliefs  von  einer 
Scheintür  (Tafel  14)  wäre  eins  der  von  v.  Bissing  zitierten  ausge- 
führteren,  ähnlichen,  oder  noch  besser  eins  der  beiden  in  den  letzten 
Jahren  von  diesem  Typus  gefundenen,  die  noch  den  Vorzug  voll- 
ständiger Erhaltung  der  Farben  haben,  am  richtigen  Platze  gewesen. 
Die  Reliefs  von  der  Scheintür  des  Moni  (Taf.  15—16),  die  zwei 
Tafeln  fortnehmen,  müssen  als  Anomalien  dem  Studierenden  sogar 
ein  falsches  Bild  von  einer  altägyptischen  Scheintür  geben.  Der 
Verfasser  hat  dies  auch  gemerkt  und  entschuldigt  sich  quasi  damit: 
das  Grab  wäre  wohl  so  klein  gewesen,  daß  man  die  sonst  an  den 
Wänden  angebrachten  Bilder  auf  die  Scheintür  gehäuft  habe.  Die 
Konsequenz  aus  dieser  Erkenntnis  hätte  sein  müssen,  neben  der 
richtigen  Scheintür  (Taf.  17)  vielleicht  noch  ein  gutes  Beispiel  eines 
Prunkschreintores  im  Vollbild  zu  geben  und  die  Stücke  des  Meni  zu 
streichen,  wodurch  mindestens  eine  kostbare  Tafel  gespart  worden 
wäre.  Die  Stücke  sind  auch  nicht  einmal  > typische  Beispiele <  von 
Grabreliefs,  könnten  also  auch  nicht  als  solche  bleiben. 

Ebenso  scheint  es  auch  eine  Raumvergeudung,  wenn  eine  der 

1)  Caparts  Veröffentlichung  der  Statue  zitiert  aach  v.  Bissing.  Er  h&tte 
daraus  ersehen,  daß  von  der  »unbekannten«  Statue  sogar  Gipsabgüsse  zu  haben 
sind,  und  danach  seinen  Text  ändern  können. 


Denkmäler  ägyptischer  Skulptur,  hrsg.  von  v.  Bissing  565 

wenig  erfreulichen  Sesostrisstatuen  aus  Lischt  (Taf.  19  b  und  20)  an- 
derthalb Tafeln  verbraucht.  Eine  Tafel,  auf  der  namentlich  die 
feinen  Reliefs  des  Thrones  gut  zur  Geltung  kämen,  wäre  mehr  ge- 
wesen. Die  Seitenansicht  der  Königin  Nofret  (Taf.  21)  vollends  hätte 
ganz  als  Autotypie  in  den  Text  verbannt  werden  sollen.  So  hätte 
man  schon'  bei  diesen  bisher  erschienenen  24  Tafeln  gut  2^2  für 
wertvolleres  Material  ersparen  können.  Die  ägyptische  Kunstge- 
schichte auf  144  Tafeln  zusammenzudrängen,  verlangt  mehr  lieber- 
legung,  als  sie  der  Verfasser  dafür  aufgewandt  hat. 

Bei  der  Besprechung  des  über  die  Maßen  langen  Textes  — 
>kurze  kunstgeschichtliche  Würdigung<  nennt  es  die  Ankündigung  — 
muß  ich  sogleich  zwei  Dinge  ausscheiden.  Erstens  werde  ich  mich 
über  die  häufigen,  offenen  und  versteckten,  polemischen  Ausfälle  des 
Verfassers  nicht  äußern.  Ich  halte  sie  in  einer  Sammlung  für 
Vorlesungszwecke  für  völlig  unangebracht.  Zweitens  schweige  ich 
von  dem  Wortreichtum  —  um  nicht  ein  schärferes,  aber  bezeichnen- 
deres Wort  zu  gebrauchen  — ,  der  sich  in  den  meisten  Ausführungen 
des  Verfassers  breitmacht,  besonders  in  denen  über  die  künstlerische 
Ausführung  der  Statuen.  Ich  bin  zu  lange  aus  dem  Kontakt  mit 
unseren  deutschen  Studierenden,  um  beurteilen  zu  können,  ob  die 
heutige  Generation  sich  damit  abspeisen  läßt.  Ich  hoffe  aber,  daß 
sie  noch  immer  mit  dem  Schüler  der  Ansicht  ist:  »Doch  ein  Begrifif 
muß  bei  dem  Worte  sein.< 

Eins  kürzt  die  Besprechung  des  Textes  auch  noch  ab:  Der 
Verfasser  hat  von  vornherein  von  der  Interpretation  der  Inschriften 
abgesehen.  Das  ist  mir  nicht  recht  verständlich;  bei  Besprechung 
mittelalterlicher  Malereien  mit  Inschriften  wird  man  das  kaum  tun, 
ebenso  wenig  kann  man  es  von  Rechts  wegen  bei  ägyptischen  Alter- 
tümern, bei  denen  oft  die  Inschrift  ein  integrierender  Teil  der  Kom- 
position des  Ganzen  ist.  In  manchen  Fällen  (z.  B.  Taf.  15)  ist  sogar 
die  Inschrift  das  einzig  interessante  an  dem  Stück.  Aber  darüber 
läßt  sich  streiten.  Nur  müßte  der  Verfasser  seinen  Grundsatz  dann 
auch  durchführen  und  nicht  mit  einem  Male  eine  archaische  Inschrift 
(zu  Taf.  2)  erklären  als  >eine  Tür,  an  der  ein  Vogel  pickt.« 

Aber  wenden  wir  uns  zu  den  archäologischen  Realien,  deren  Be- 
herrschung man  bei  dem  Herausgeber  einer  bei  Vorlesungen  zu  be- 
nutzenden Sammlung  typischer  Beispiele  ägyptischer  Kunst  zum  min- 
desten voraussetzen  müßte.  Hier  versagt  v.  Bissing  vollständig. 
Ohne  das  Thema  auch  nur  annähernd  erschöpfen  zu  wollen,  will  ich 
in  der  Reihenfolge  der  Tafeln  eine  Anzahl  von  >  Mißverständnissen  < 
aus  diesem  Gebiet  aufzählen: 

Text  zu  Taf.  2.    In  den  Hathorköpfen  auf  der  Hieraconpolis- 


566  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

palette  findet  v.  Bissing  Aehnlichkeiten  mit  den  Hathorköpfen  an 
Sistrumsäulen,  nur  seien  >die  Hörner  der  später  üblichen  Form  der 
Hathor  von  dem  schweren  Kopftuch  verdeckte.  Dieses  vermeintliche 
Kopftuch  sind  herabhängende  stilisierte  Haarflechten.  Ob  man  damnter 
wohl  Kuhhömer  verdecken  kann? 

Die  Reliefs  der  Palette  geben  dem  Verfasser  Gelegenheit  sich 
über  das  Königsornat  zu  äußern.  Nur  einige  Punkte  ans  diesen 
Bemerkungen  seien  hier  hervorgehoben.  So  trägt  der  König  einen 
>mit  auf^)  die  Spitze  gestellten  Vierecken  verzierten  Gürtel <.  Diese 
Viereckreihe  ist  eine  ornamentale  abgekürzte  Form  des  Gewebe- 
musters des  gewöhnlichen  Gürtels  des  Königsschnrzes.  Als  >ein(?) 
breites  Band«  bezeichnet  v.  Bissing  den  Perlenbehang  des  Königs- 
schurzes. >Eine  arge  Gedankenlosigkeit  <  soll  die  bisher  gültige 
Deutung  des  Schwanzes  am  Königsornat  als  Löwenschwanz  sein; 
V.  Bissing  setzt  dafür  >  Wolfsschwanz  <.  Wir  werden  nachher  noch 
bemerken,  mit  welcher  Gedankenfülle  er  sich  Schwänze  von  Tieren 
der  Wolfsgattung  angesehen  hat. 

Text  zu  Taf.  2.  An  der  Neapler  archaischen  Statue  ist  >das 
dicke  Armband  am  linken  Arm<,  das  sich  v.  Bissing  >vor  dem  Original 
nicht  notiert«  hat,  sogar  in  der  Photographie  in  die  Augen  springend. 

Text  zu  Taf.  6  und  sonst.  Hatten  wir  oben  schon  gesehen,  daß 
das  Königsornat  dem  Verfasser  mehr  Rätsel  aufgiebt,  als  er  lösen 
kann,  so  hätte  man  doch  wenigstens  ein  Verständnis  für  die  beiden 
gewöhnlichsten  Schurzformen  des  alten  Reiches  erwarten  sollen,  zu- 
mal Vorarbeiten  wenigstens  für  den  einen  von  beiden  vorliegen.  Der 
Verfasser  wirft  sie  aber  beide  schonungslos  durcheinander,  d.  h.  er 
hat  sie  beide  nicht  verstanden.  Vielleicht  ist  es  daher  ganz  nützlich, 
hier  die  beiden,  soweit  das  im  Rahmen  einer  Besprechung  geschehen 
kann,  vorzuführen: 

Der  einfache  Schurz  hat  keinen  Gürtel,  er  besteht  ans  einem  je 
nach  der  Mode  verschieden  breiten  Zeugstreifen,  der  um  die  Hüften 
geschlagen  wird,  nachdem  seine  obere  Langseite  sanmartig  nach 
außen  umgelegt  ist.  Das  freie  Ende  wird  vorn  unter  dem  Nabel  in 
den  Schurz  eingestopft.  Das  typische  Beispiel  hierfür  ist  der  Schejch 
el  beled  (Taf.   11,    >  Schurz  mit  umgeklapptem  Rand  und   festge- 

1)  Entgleisungen  dieser  Art  sowie  Aasdrucksfehler  sind  in  obiger  Be- 
sprechung außer  Acht  gelassen.  Es  mag  genügen  in  dieser  Anmerkung  einige 
davon  zusammenzustellen:  Figuren  (Text  zu  Taf.  2)  und  Sänfte  (zu  Taf.  18)  werden 
im  Schnitt  —  anstatt  in  der  Ansicht  —  dargesteUt;  Ausfahrt  (zu  Taf.  18)  soU 
das  Getragenwerden  in  der  Sänfte  bezeichnen;  Fuß  steht  für  Bein  (zu  Taf.  10); 
das  Schamteil  (zu  Taf.  12a);  die  »linea  alba«  (zu  Taf.  24),  wohl  bei  y.  Bissing 
eine  dunkle  Reminiszenz  aus  einem  klassisch-archäologischen  Kolleg,  sitzt  auf 
der  Brust  u.  s.  w. 


Denkmäler  ägyptischer  Skulptur,  hrsg.  von  v.  fiissing  557 

nähtem  (?)  Gürtel  Verschluß  <  nach  v.  Bissing).  In  diesem  Schurz 
kann  man  sich  aber  mit  untergeschlagenen  Beinen,  wie  man  dies 
z.  B.  zum  Schreiben  tat,  nur  setzen,  wenn  er  vorn  unten  weiter  war 
als  oben.  Das  typische  Beispiel  hierfür  ist  die  Eairener  Statue  des 
Ranofer  (mit  den  kurzen  Haaren,  Cat.  gen.  No.  18).  Hieran  schließen 
sich  dann  die  Statuen  und  Reliefs  mit  dem  Schurz  >mit  dem  drei- 
eckigen Vorbau  <.  Alle  diese  gehen  auf  den  einfachen  d.  h.  gürtellosen 
Schurz  zurück  und  können  als  eine  einzige  Art  angesehen  werden. 

Davon  verschieden  ist  der  von  Er  man  als  Galaschurz  be- 
zeichnete. Dieser  hat  einen  besonderen  Gürtel,  dessen  stets  im  Re- 
lief ausgeführter  Schlaufenverschluß  aber  in  den  uns  erhaltenen  Bei- 
spielen nur  noch  dekorativ  ist;  die  wirklichen  Bindebänder  sehen  an 
einigen  Beispielen  vorn  unter  dem  Gürtel  hervor.  Der  Schurz  selbst 
wird  mit  seinem  vorderen  freien  Ende  vorn  am  Nabel  unter  dem 
Gürtel  durchgezogen  (Spiegelberg)  und  ist,  um  den  richtigen 
Uebergang  von  dem  gerade  gewickelten  Teil  zum  durchgezogenen 
Ende  herauszubekommen,  an  der  erforderlichen  Stelle  plissiert. 

Diese  Abschweifung  über  die  Schurzformen  des  alten  Reichs 
habe  ich  nur  hierhergesetzt,  um  mir  die  häufige  Wiederholung  des 
Satzes  »Bemerkungen  über  Tracht  sind  falsche  zu  ersparen. 

Text  zu  Taf.  7.  Die  Berliner  Statue  des  Schreibenden  stellt 
nach  den  Inschriften  darauf  einen  höheren,  wohl  richterlichen  Be- 
amten dar.  Die  Auffassung  als  Dienerstatue  dürfte  daher  ver- 
fehlt sein. 

Text  zu  Taf.  8.  An  der  Kairener  Chefrenstatue  aus  Alabaster 
sieht  V.  Bissing  die  Farbspuren  nicht  mehr;  ein  für  einen  Archäo- 
logen bedenklicher  Mangel  an  Beobachtungsgabe,  da  die  Reste  heute 
noch  ebenso  wie  zur  Zeit  der  Anfertigung  des  vom  Verfasser  still- 
schweigend benutzten  Cat.  g^n.  vorhanden  sind. 

Text  zu  Taf.  9  und  öfter.  »Der  wagerecht  gestreifte,  künstliche 
Barte  des  Königs  dürfte  wohl  auch  nur  noch  bei  v.  Bissing  vor- 
kommen. Die  übrigen  Archäologen  halten  schon  längst  nicht  mehr 
den  Königsbart  für  künstlich,  sondern  das  früher  als  Aufhängeband 
angesehene  Stück  für  den  dünnen  Backenbart. 

Text  zu  Taf.  11.  Die  bekannte,  nackte  Kairener  Statue  mit  der 
Circumcision  soll  >ein  unbekleideter  Priesterc,  »ein  vornehmer  Jüng- 
ling, der  auf  der  Höhe  des  Lebens  steht«  sein.  Die  Statue  stellt 
einen  nackten  Knaben  dar,  der,  ganz  wie  der  kleine  Menthesuphis 
neben  Pepi  (Taf.  12  b),  neben  seinem  natürlich  viel  größer  darge- 
stellten Vater  hermarschierte.  Daß  der  Knabe  schon  einen  Titel 
führt,  tut  nichts  zur  Sache. 

Text  zu  Taf.  12  a  und  13.    Eine  »Perücke  aus  Lapislazuli<  soll 

Gfttt.  geL  Abs.  IWM.  Nr.  7  39 


558  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

die  Quibeirsche  Pepistatue  gehabt  haben.  Die  Endigung  des  Ge- 
sichts unter  den  Ohren  weist  aber  eher  darauf  hin,  daß  der  König 
eine  Krone  trug. 

Bei  der  Statue  des  Menthesuphis  sei  ein  »Schurz  einzuschaltenc. 
Wie  lang  denkt  sich  v.  Bissing  denn  die  Statue?  Eine  kurze  Be- 
sichtigung hätte  ihn  belehren  können,  daO  Oberkörper  und  Beine 
Bruch  an  Bruch  passen.  Die  Beine  sind  nur  etwas  verbogen.  Der 
wohl  als  Gußstück  mit  schwalbenschwanzförmiger  Lasche  eingesetzte 
Penis  fehlt.  Der  kleine  Menthesuphis  war  nackt  wie  der  oben  be- 
sprochene kleine  Nen-s  cha  (nicht  Nens-cha  wie  bei  v.  Bissing). 

Text  zu  Taf.  14.  Einen  in  seinem  unteren  Teil  im  Schnitt  dar- 
gestellten hohlen  Tischfuß,  wie  solche  nicht  selten  aus  Ton  und  an- 
deren Materialien  gefunden  worden  sind,  bezeichnet  v.  Bissing  als 
»röhrenartigen,  unten  mit  zwei  Füßen  versehenen  Untersatze. 

Der  >  Gänsekopf <  auf  demselben  Relief  ist  von  einem  Storch 
oder  ähnlichen  Stelzvogel. 

Text  zu  Taf.  17.  Bei  der  trotz  ihrer  Länge  nicht  gerade  klaren 
und  vollständigen  Behandlung  der  Scheintüren  und  der  Prunkschein- 
tore bringt  v.  Bissing  noch  immer  den  >  runden  Balken  für  den 
Vorhänge  an,  trotzdem  dieses  Bauglied  längst  als  einziger  Holz- 
konstruktionsteil der  sonst  ganz  dem  Ziegelbau  entlehnten  Schein- 
tore architektonisch  richtig  erklärt  ist  und  seitdem  auch  bei  Aus- 
grabungen in  situ  nachgewiesen  werden  konnte.  Die  Anführung  der 
hölzernen  Wandverkleidungen  aus  Raqaqua  ist  an  dieser  Stelle  gänz- 
lich unverständlich. 

Text  zu  Taf.  18.  Einen  »Wedel  ans  Fayenceperlen <  soll  Ipi 
in  der  Hand  haben.  Hier  hätte  v.  Bissing  Gelegenheit  gehabt,  sich 
die  Form  von  >  Wolfsschwänzen  <  einzuprägen.  Der  Wedel  besteht 
nämlich  aus  drei  Fellen  von  Wölfen  oder  ähnlichen  Tieren,  so  ver- 
einigt wie  sieDaressy  (Annales  4,  S.  122fif.)  beschrieben  hat.  Ein 
schönes  Beispiel  hierfür  befindet  sich  auch  auf  dem  Nordpfosten  der 
Mitteltür  der  Basilika  des  Ramesseums. 

> Wedel  mit  langen  Fransen  und  hohen  Stangen«  werden  dem 
Ipi  zum  »Kühlungfächeln  und  Fliegenverjagen«  nachgetragen.  Wer 
Aegypten  mit  offenen  Augen  bereist  hat,  kennt  die  heute  noch 
üblichen,  hier  dargestellten  Sonnenschirme,  wie  z.B.  Schäfer  (Lieder 
eines  ägypt.  Bauern,  Abb.  auf  S.  53)  einen  abbildet.  Ein  schöner 
Damensonnenschirm  des  mittl.  Reiches  ist  auf  einer  Stele  des  Louvre 
(C.  15)  gezeichnet.  Aber  auch  aus  der  ägyptologischen  Literatur  hätte 
V.  Bissing  ein  Beispiel  dafür  aufstöbern  können  (Benihassan  H,  Taf. 
16  u.  S.  61). 

In  dem  Mann  mit  Sack  und  >Beutel<,  sowie  dem  mit  »Tach<  und 


Denkmäler  ägyptischer  Skolptar,  hrsg.  von  v.  Bisssiog  559 

Kasten  hätte  der  Verfasser  wohl  zwei  bekannte  Typen  von  Diener 
Statuen  wiedererkennen  dürfen.  Es  sind  die  Diener,  welche  Wäsche- 
sack und  Sandalen  dem  Herrn  nachtragen. 

Text  zu  Taf.  25.  >Daß  es  sich  nur  um  ein  tibergezogenes  Fell< 
bei  den  Sphingen  Amenemes  III.  handelt,  glaubt  Verfasser  zu  be- 
weisen. Die  Statuen  dieser  Eönigslöwen  bekommen  durch  diese 
skurrile  Idee  eine  gewisse  Verwandschaft  mit  den  Bildern  der  Tou- 
ristensphingen, welche  die  Kairener  Photographen  fertigen.  Aber 
»der  breite  Streifen,  der  die  Mähne  an  der  Stirn  abschließt<  ist  nur 
der  Reif,  der  den  Uräus  trägt,  das  »Band,  an  dem  der  künstliche 
Bart  hängti  und  »unter  dem  die  Gesichtsmähne  vorkommt<  ist  nur 
der  Backenbart  des  Königs,  der  in  die  Mähne  des  Löwen  übergeht. 
Einzig  richtig  ist  bei  v.  Bissing  nur  das  >  natürliche  Haar  an  den 
Schiäfen<.  Nach  alledem  ist  also  hier  beim  Königslöwen  auf  den 
Löwenkörper  nur  ein  Königsgesicht  gesetzt,  genau  so  wie  bei  einem 
Götterbiide  mit  Löwengesicht  der  Körper  menschlich  und  nur  das 
Gesicht  als  das  eines  Löwen  gebildet  ist.  Von  einem  >  übergezogenen 
Fell<  ist  keine  Spur.  Hiermit  schließe  ich  diese  Auswahl  aus  den 
archäologischen  Realien.  Wer  sich  die  Zeit  dazu  nehmen  will,  kann 
sie  leicht  weiter  fortsetzen. 

Auch  tiber  die  absonderliche  Chronologie  (Text  zu  Taf.  1)  und 
über  die  merkwürdigen  Namengebungen  (Lathures,  Gemni-kai  u.  s.  w.) 
kann  ich  hier  wohl  schweigen.  Ueber  die  erstere  hat  Ed.  Meyer 
(Chronologie  S.  39,  auch  S.  10)  bereits  ein  kräftiges,  aber  gerechtes 
Urteil  gesprochen,  über  die  letzteren  wird  wohl  an  anderer  Stelle 
demnächst  gehandelt  werden. 

Nun  noch  ein  Schlußwort  über  den  Preis  des  Werkes.  Es  soll 
240  bezw.  300  Mk.  kosten,  144  Tafeln  bringen  und  > einem  empfind- 
lichen Mangel  bei  Vorlesungen  über  ägyptische  Kunstgeschichte«  ab- 
helfen, nämlich  >dem  Fehlen  einer  geeigneten  Sammlung  typischer 
Beispiele«.  Soviel  ich  weiß,  gibt  es  überall  da,  wo  Vorlesungen 
über  diese  Materie  gehalten  werden,  reiche,  oft  überreiche  Photo- 
graphiensammlungen.  Sollten  sie  irgendwo  nicht  existieren,  so  wird 
der  Vortragende  für  die  oben  angegebene  Summe  etwa  250  gute 
Photographien,  die  er  nach  seinen  Bedürfnissen  wählen  kann,  leicht 
beschaffen  können  und  wird  noch  genug  übrig  behalten,  um  sie  auf- 
ziehen zu  lassen. 

Cairo  Ludwig  fiorchardt 


39* 


560  Gott.  gel.  Anz.  1906  Nr.  7. 


Diwan  des  Dichters  Abu  a-Fath  Mohammad  Ihn  'Obaidallali  Ita  AMallahy 
Sibt  ibn  at-Ta'iwi4hi,  hrs.  von  D.  S.  Margoliouth.  Drackerd  des  Moqta- 
tat  in  Ma§r  1904.   Halle,  R.  Haupt  1905. 

Der  Dichter  dieser  Sammlung  wurde  519  geboren  und  war  der 
Sohn  eines  Freigelassenen,  der  eigentlich  Nushtakin  hieß,  doch  von 
seinem  Sohn  'Obaidallah  genannt  wurde.  Dieser  starb,  als  er  noch 
sehr  jung  war,  und  sein  Großvater  mütterlicherseits  übernahm  seine 
Vormundschaft  und  seine  Erziehung.  Dieser  Großvater  Abu  Moham- 
mad al-Mobärak  ihn  al-Mobärak  ibn  'Ali  ihn  Na^r  as-Sarrädj  al- 
Djauhari,  war  ein  gelehrter  und  frommer  Shaikh  in  Bagdad  (496—553), 
der  den  bekannten  Genealogen  Ibn  as-Sam'äni  unter  seinen  Schülern 
zählte,  und  hatte  den  Beinamen  Ibn  at-Ta'äwidhi,  vermutlich  weil 
sein  Vater  Amuletten  (ta'äwidh)  anfertigte.  Nach  ihm  hat  unser 
Dichter  den  Namen  Sibt  (ibn)  at-Ta'äwidhi  (Enkel  des  Amuletten- 
verfertigers).  Dieser  bekleidete  ein  Amt  am  Finanzministerium  in 
Bagdad  und  zwar  in  der  Abteilung,  die  olAb'JUI  ^^}yJi^  (etwa  Bureau 
der  Erbpachten)  hieß.  Er  scheint  diese  Stelle  bis  zu  seinem  Tode 
innegehabt  zu  haben.  Denn  als  er  im  J.  579  blind  wurde,  bat  er 
den  Ehalifen,  das  Gehalt  an  seiner  Stelle  seinen  zwei  Söhnen  anzu- 
weisen. Als  dies  geschehen  war,  ersuchte  er  den  Fürsten  in  einem 
geistvollen  Gedicht  (N.  187  im  Diwän),  ihm  selbst  ein  neues  Gehalt 
zu  verleihen,  was  auch  gewährt  wurde.  Er  starb  583  oder  584. 

Sibt  at-Ta*äwIdhi  war  ein  talentvoller  Dichter.  Ibn  Khallikän 
sagt:  >Nach  meiner  Ansicht  hat  es  in  zwei  Jahrhunderten  keinen 
Dichter  gegeben,  der  ihm  ebenbürtig  ware  Er  meint  wohl  nach 
Motanabbi,  wie  Margoliouth  im  Vorwort  sagt.  Der  Biograph 
rühmt  den  Reichtum  und  den  Wohllaut  seiner  Sprache,  die  Feinheit 
und  Eleganz  der  Gedanken,  die  Süßheit  und  Schönheit  seiner  Verse. 
Darin  ist  wirklich  kein  Wort  zu  viel,  allein  Ursprünglichkeit,  Kraft 
und  Tiefe  findet  man  in  diesen  Poesien  nur  ausnahmsweise.  Es  sind 
fast  alle  Gelegenheitsverse:  Lobgedichte  an  hohe  Gönner,  Glück- 
wünsche zu  Festlichkeiten  oder  gelungenen  Taten,  Einladungen  zum 
freundschaftlichen  Zusammensein,  Trauergedichte,  Spottverse,  Ge- 
dichtchen um  eine  Gardine  oder  eine  Gartenmauer  zu  schmücken, 
Beschreibungen  wie  eines  festlichen  Kugelschießens  mit  dem  Kugel- 
bogen (^J^  u^)'  ^^^^  einzelner  Gegenstände,  wie  eines  schönen 
Hauses,  einer  Frucht,  selbst  solche  von  Kleinigkeiten  wie  der  Lan- 
zette und  des  Beckens  zum  Aderlaß. 

Der  Dichter  hatte  seine  Gedichte  selbst  gesammelt  und  mit  einer 
Einleitung  versehen.    Er  hatte  sie  in  vier  Abschnitte  geteilt,   von 


Carmina  Muhammadis  IJbaidallahi  ed.  Margoliouth  561 

denen  der  erste  die  Loblieder  zu  Ehren  des  Khalifen  enthielt:  »Den 
Anfang  dieser  Sektion,  schreibt  er,  bilden  die  zu  Ehren  des  Fürsten 
an-Nä^ir  li-dln-alläh,  da  es  Sitte  ist,  die  Lebenden  den  Verstorbenen 
voranzustellen  <.  Der  zweite  enthielt  die  Lobgedichte  der  Wesire  und 
anderer  ansehnlicher  Männer;  der  dritte  speziell  die  zur  Ehre  der 
Banu  '1-Mozaifar,  der  Gönner  und  Beschützer  des  Dichters  und  seines 
Großvaters.  Der  vierte  Klagelieder,  Weltentsagungsergüsse,  Liebes- 
gedichte, Satiren  u.  s.  w.  Nachher  kam  noch  ein  Supplement  dazu. 
Der  Herausgeber  aber,  dem  wir  die  eine  der  zwei  Oxforder  Hss. 
verdanken,  hat  die  Gedichte  nach  den  Reimbuchstaben  geordnet 
und  Margoliouth  hat  diese  Ordnung  adoptiert.  Der  Index,  den  er 
seiner  Ausgabe  beigegeben  hat,  setzt  uns  nur  teilweise  instand,  die 
zusammengehörigen  Gedichte  zurückzufinden. 

Der  erste  Khalife,  dem  Sibt  at-Ta'äwidhi  Lobgedichte  widmete, 
ist  al-Mostandjid  (555—566).  Der  Diwän  enthält  deren  zwei,  nicht 
datierte.  Erst  unter  seinem  Nachfolger  al-Mostadhi  (566—575) 
scheint  er  der  Hofpoet  geworden  zu  sein,  von  dem  bei  allen  großen 
Gelegenheiten  ein  Gedicht  erwartet  wurde,  wie  zum  Neujahr,  zu  den 
zwei  Festen,  zur  Geburt  oder  zur  Beschneidung  eines  Prinzen  u.  s.  w. 
Für  ein  Lobgedicht,  573  zur  Ehre  dieses  Khalifen  gemacht,  war 
ihm  von  diesem  selbst  Maß  und  Reim  angegeben.  Als  580  an-Näi^ir 
ein  Ehrenkleid  an  Saladin  nach  Damascus  schickte,  wurde  es  von 
einem  Gedicht  unseres  Poeten  begleitet.  An  Saladin  selbst  hatte  er 
schon  570  eine  Qa^ida  geschickt  durch  Vermittlung  des  berühmten 
al-Qädhi  al-Fädhil,  des  Wesirs  Saladins,  der  ihm  gewogen  war.  Auch 
mit  Saladins  Geschichtsschreiber  'Imäd  addin  war  er  sehr  befreundet- 
Dieser  hat  ihm  in  seiner  Khar  id  a  einen  Artikel  gewidmet  (Ms. 
Paris.  1447,  f.  46  r.  sqq.).  Der  Zweck  dieser  Lobgedichte  ist,  ob- 
gleich bisweilen  nur  leise  angedeutet,  schöne  Gegengeschenke  zu  er- 
halten. Wenn  diese  der  Erwartung  des  Dichters  nicht  entsprechen, 
gibt  er  das  unumwunden  zu  erkennen.  Oft  bettelt  er  auch  ganz 
offen  und  nicht  selten  um  irgend  einen  bestimmten  Gegenstand,  z.  B. 
ein  mit  Silber  verziertes  Federmesser,  ein  Regenkleid,  einen  schwarzen 
Rock  für  seinen  Sohn,  Rosenwasser,  Wein.  Die  )U^j<a  XaJ^^,  die 
er  Gedicht  110  zum  Geschenk  für  seinen  zweijährigen  Sohn  zum 
Fest  der  Beschneidung  erbittet,  ist  wohl  ein  goldgesticktes  seidenes 
Kopftuch.   Im  Gedicht  selbst  Vs.  fl  heißt  es  iujlyb. 

Der  Dichter  hatte  eine  schlimme  Zeit,  als  unter  al-Mostandjid 
Ibn  al-Baladi  Wesir  war,  563— 566.  Er  verlor  sein  Amt  am  Finanz- 
ministerium und  befand  sich  in  notdürftigen  Umständen.  Dafür  hat 
er  dann  auf  diesen  Minister  in  Ged.  139  tüchtig  geschimpft.  Bagdad 
ist  in  diesen  Jahren  fUr  ihn  der  traurigste  Ort  der  Welt.  Es  ist  da 


ii«S  G6VL  gcL  An.  1906.  Nr.  7 

flkbts  zn  hoffen:  die  Freigebigkeit  ist  tot;  Unrecht  und  dessen 
Trabanten  üben  ihre  Schreckensregiemng.  Es  ist  nicht  mehr  zum 
Aoshahen:  der  Dichter  ist  im  Begriff  die  Stadt  zu  verlassen  and 
einen  Ort  zn  suchen,  wo  es  sich  besser  leben  läßt  ^Ged.  86).  Jetzt 
haben  die  Bagdadenser  alles,  was  ihnen  znm  Tage  der  Auferstehang 
angekündigt  ist:  >Zasanmientreibung,  Wage,  Untersuchung  der  Pa- 
piere und  Bucher,  Rechenschaft,  Höllenwächter,  die  auf  sie  los- 
gelassen werden,  Ketten,  Eisenstabe,  Folter  —  nichts  fehlt  von  aUem, 
was  den  Leuten  bei  der  Auferstehung  yersprochen  ist,  außer  dem 
barmherzigen  Geber«  ^Ged.  24). 

Nachher  ging  es  ihm  viel  besser.  Der  Vers  (Ged.  39):  >  Jemand 
sagte  zu  mir,  als  er  mich  sah  im  Monat  Tishrin,  da  das  Heer  der 
Winterkälte  seinen  Einzug  gehalten  hatte,  wo  ich  auf  dem  großen 
Moscbeeplatz  meine  Kleider  zusammenhielt  und  etwas  aus  dem  Nach- 
laß eines  Verstorbenen  zu  kaufen  suchte :  mußt  du  einen  Winterrock 
dir  kaufen,  du  der  unseres  Herrn  Dichter  und  Beamter  (KäUb) 
ist?«  ist  wohl  ein  Spaß,  der  nur  zum  Zweck  hatte,  dem  Khalifen 
überbracht  zu  werden  und  diesen  zum  Geschenk  eines  Pelzes  zu  ver- 
anlassen. 

Der  Trauerlieder  sind  nicht  viele.  Sie  betreffen  den  Tod  seines 
Großvaters,  eines  Bruders,  eines  Töchterleins,  eines  Enkels  und  cter 
Fürstin  SeldjQki-Khätün,  der  Tochter  des  Sultans  Qilidj  Arsltn. 
Rührend  sind  sie  nicht;  das  Beste  ist  nach  meinem  Geschmack  das 
zu  Ehren  des  verstorbenen  Bruders.  Außerdem  hat  er  den  Tod  des 
Hosain  in  75  Versen  besungen  (Ged.  293). 

Margoliouth  hat  für  seine  Ausgabe  zwei  Hss.  der  Bodleiana  be- 
nutzt, von  welchen  die  eine  die  Einteilung  des  Dichters  in  vier 
Sektionen,  die  zweite  die  Anordnung  nach  den  Reimbuchstaben  hat. 
Erstere  ist  unvollständig  und  vermutlich  im  7.  Jahrhundert  ge- 
schrieben; letztere,  die  der  Ausgabe  zur  Grundlage  gedient  hat,  ist 
jung  (979),  aber  abgeschrieben  aus  einem  Exemplar  vom  J.  648. 
M.  sagt,  daß  er  weggelassen  hat  >was  den  Sitten  unserer  Zeit 
zuwider  ist<.  In  den  Noten  findet  man  einige  Male:  >hier  habe  ich 
einige  Verse  weggelassen,  da  sie  keinen  Nutzen  haben  <.  Solches  Ver- 
fahren scheint  mir  höchst  bedenklich.  Varianten  werden  nur  sehr 
selten  gegeben.  Man  muß  dem  Herausgeber  auf  sein  Wort  glauben, 
und  tut  dies  gerne,  daß  es  ihm  in  der  Regel  gelungen  ist,  die  wahre 
Lesart  zu  bestimmen.  Die  alte  Hs.  des  Escurial  (Derenbourg  376) 
und  die  von  Berlin  (Ahlwardt  7698)  sind  nicht  verglichen.  Vielleicht 
hätten  sie  dem  Herausgeber  geholfen,  die  wenigen  evident  verdor- 
benen oder  lückenhaften  Stellen  zu  verbessern.  Ich  bezweifle,  daß 
das  Fragment  Ahlwardt  7699  zu  unserem  Diwan  gehört. 


Carmina  Mohammadis  *übaidallahi  ed.  Margoliouth  563 

Am  Ende  steht  eine  Liste  Errata.    Ich  will  dazu  ein  paar  Ver- 
besserungsvorschläge machen.    In  der  Biogr.  Ibn  Khallik.  S.  1 ,  vorl. 

Z.  ÄdUtt^  1.  jkdUin^.     S.  tr«,  vs.  n  ist  vielleicht  jüyL>  i^^  L^  zu 

lesen.    S.  it^ö,  Z.  5  v.  u.  1.  )ujjJySi^\  ß^Jkf,  (wie  auch  im  Index  S.  ^ 

zu  korrigieren  ist).     S.  «*.,    Z.  6  v.  u.  Ä^fSuJ.  ist  wahrscheinlich 

ä^fClA  zu  schreiben;   vgl.  das  Gloss,  zu  Tabarl.     S.  nt,  Z.  6  Ji/a 

1.  jßj  das  im  Dialekt  von  Bagdad  Garten  bedeutet.  Na^r  al- 
Qoshüri  ist  der  bekannte  Kammerherr  Moqtadirs.  S.  föl,  Z.  7  1. 
v^f«J^*  Das  Buch  ist  ganz  arabisch  geschrieben,  auch  das  Vorwort 
des  Herausgebers,  und  sehr  gut  gedruckt. 

Leiden  M.  J.  de  Goeje 


Orlentalisehe  Stadien,  Theodor  Nöldeke  zum  siebzigsten  Geburtstag  (2.  März 
1906)  gewidmet  Ton  FreoDden  und  SchiÜem  und  in  ihrem  Auftrag  heraus- 
gegeben Ton  Carl  Bezold.  Mit  dem  Bildnis  Th.  Nöldekes,  einer  Tafel  und 
zwölf  Abbildungen.  LIV  und  1187  S.  in  zwei  Bänden  Großoktav.  Giessen,  A. 
Töpelmann  1906.   Mk.  40. 

Der  Herausgeber  dieser  Studien,  der  mit  ihrer  Anordnung  wohl 
seine  Not  gehabt  haben  mag,  stellt  an  die  Spitze  eine  Gruppe,  die 
sich  um  das  Arabische  und  die  Geschichte  des  Islams  konzentriert. 
M.  J.  de  Goeje  (1 — 5)  eröffnet  wie  billig  den  Reigen,  und  zwar 
mit  einem  Aufsatz,  worin  er  wahrscheinlich  zu  machen  sucht,  daß 
die  Erscheinung,  durch  welche  Muhammad  seines  prophetischen  Be- 
rufs gewiß  ward  (überall,  wohin  er  sich  wendete,  stand  ein  Mann  in 
gleicher  Gestalt  vor  ihm  am  Horizont  und  gab  sich  ihm  als  Gabriel 
zu  erkennen),  ein  Reflex  seiner  eigenen  Person  in  der  Luft  war, 
eine  Art  Brockengespenst.  F.  Buhl  (7—22)  spendet  Beiträge  zur 
Kritik  der  Ueberlieferung  über  die  Schlacht  bei  Badr  und  die  Aus- 
wanderung nach  Habesch.  R.  A.  Nicholson  (23—32)  beschreibt 
eine  in  seinem  Besitz  befindliche  Biographie  Muhammads,  die  zu- 
rückgeht auf  einen  Gelehrten  von  Nisabur  in  der  ersten  Hälfte  des 
elften  christlichen  Jahrhunderts.  Er  teilt  daraus  zwei  Stücke  im 
arabischen  Text  mit,  betreffend  die  Begegnung  Ms.  mit  dem  syrischen 
Mönche,  und  Aeußerungen  Umars  über  seinen  Vorgänger  Abubakr. 
A.  Fischer  (33 — 55)  macht  darauf  aufmerksam,  daß  sich  die  zwei 
letzten  Verse  von  Sura  101  schlecht  zum  Vorhergehenden  fügen,  da 

sie  als  Erklärung  von  i^i^l^  iJ«t   nicht  gelten  können;   denn   diese 
Redensart  müsse  hier  den  gleichen  Sinn  haben  wie  überall  sonst. 


5C4  Gut.  fdL  äaa.  I906l  Hx:  7 

R.  Gejer  (57—70)  wendet  skh  gegen  die  abliebe  Erklänmg  der 
Katze  in  der  Muadkqa  des  AnUra  als  Metapher  für  die  Peitsclie, 
da  in  gleicbeoi  Sinne  wie  die  Katze  bei  Antara  anderswo  auch  Hahn, 
Schwein,  Specht  und  Schakal  dem  Kamele  zusetzen;  diese  Tiere 
seien  vielmehr  wechselnde  VerUeidongen  eines  Dämon,  und  es  solle 
gesagt  werden,  das  Kamel  rase  wie  vom  Tenfel  geritten.  F.  Schul t- 
hess  (Tl — 89}  sammelt  und  sichtet  Ueberlieferungen  über  den 
Hanifen  Lmaija  b.  abi  l^alt  und  Fragmente  seiner  Poesie,  deren 
Inhalt  er  skizziert.  Ilanif  sei  echt  arabisch  und  heiße  Separatist; 
Abnaf.  der  Beiname  des  berühmten  Tamimiten  von  Ba^ra,  bedeutet 
freilich  Dackelbein.  M.  Th.  Houtsma  ^91—96)  handelt  über  eine 
arabische  Versiäzierung  des  Buchs  Kaiila  va  Dimna  durch  den  Dichter 
Ibn  Habb^rija,  die  nicht  verloren  gegangen,  sondern  noch  erhalten 
und  neuerdings  in  Bombay  lithographiert  ist.  Sie  reproduziere  den 
Ibn  Muqaffii  und  lasse  Schlüsse  zu  auf  dessen  Disposition,  vielleicht 
auch  auf  die  von  ihm  gebrauchten  Namensformen.  Ch.  Snouck 
üurgronje  (97—107)  steuert  aus  dem  fernen  Osten  zur  Fest- 
schrift seines  geliebten  Lehrers  eine  moderne  Qa^ide  aus  Hadramot 
bei,  nebst  einer  dazu  gehörigen  historischen  Einleitung;  in  transkri- 
biertem arabischen  Text  und  in  deutscher  Uebersetzung,  mit  Noten. 
Die  Qa(;ide  stammt  von  einem  Mitglied  der  Familie  Bä  Atva,  die 
seit  längerer  Zeit  einzelne  Dichter  hervorgebracht  hat  und  deren 
Produktionen  auf  Bettelgängen  vorträgt.  C.  Brockelmann  (109— 125) 
gibt  nach  erhaltenen  Resten  einen  Begriff  von  Inhalt  und  Art  des 
Dichterbuchs  des  Muhammad  b.  Sallam  alGumahi  (nicht  zu  ver- 
wechseln mit  dem  ziemlich  gleichzeitigen  und  ebenfalls  des  Studiums 
der  Poesie  beflissenen  Gumahi,  der  Abdallah  b.  Ibrahim  hieß).  C.  J. 
Lyall  (127—154)  ediert  einen  ausführlichen  Bericht  des  Ibn  Kalbi 
über  den  Ersten  Tag  von  Kuh\b,  aus  Kommentaren  zu  den  Mufadda- 
lijät  und  zu  den  Xaqäid  des  Garir  und  Farazdaq;  in  der  Einleitung 
spricht  er  über  die  Zeit  und  den  Ort  der  verhängnisvollen  Schlacht. 
Gustav  Rothstein  (155 — 170)  zieht  aus  der  Elostergeschichte 
des  Schabuschti  (Berliner  Hs.  Nr.  8321  Ahlwardt)  ein  Zwischenstück 
aus,  das  von  den  Tahiriden  handelt  und  für  deren  Familiengeschichte 
nicht  ohne  Wert  ist,  untersucht  auch  das  literarische  Verhältnis  des 
Schabuschti  zu  Tabari  und  zu  Taifür,  dem  Verfasser  eines  Buchs 
über  Bagdad,  aus  dem  Tabari  geschöpft  zu  haben  scheint.  W.  Bar- 
thold (171—191)  handelt  über  das  Aufkommen  des  Jaqub  b.  Laith 
und  der  Qaffariden  in  Sagistan.  Er  unterscheidet  eine  westliche 
Tradition  (Tabari  und  teilweise  Ibn  Athir),  die  den  Ereignissen 
näher  steht  und  in  der  Chronologie  zuverlässiger  ist,  und  eine  ost- 
liche (Gardizi  und  teilweise  Ibn  Athir),  die  durch  größere  Fülle  sich 


Orientalische  Stadien  565 

auszeichnet  und  in  Sagistan  selber  erwachsen,  aber  erst  nach  dem 
Sturz  der  Qaffariden  aufgezeichnet  ist.  Er  verfolgt  dann  die  Stadien 
der  Geschichte  Jaqubs  an  der  Hand  der  Quellen  und  kommt  dabei 
hie  und  da  zu  etwas  anderen  Ergebnissen  als  Nöldeke.  H.  Deren- 
bourg  (193—196)  hat  herausgebracht,  daß  an  einer  Stelle  im  Fachri 
eine  Ueberschrift  fehlt,  und  setzt  sie  ein.  M.  van  Berchem  (197 
bis  210)  veröffentlicht,  namentlich  aus  einer  unedierten  Sammlung 
des  durch  sein  Buch  über  die  Mandäer  bekannten  Siouffi,  einige  In- 
schriften des  Fürsten  Lulu  von  Mosul,  auf  dessen  Bautätigkeit  schon 
der  alte  Niebuhr  (2, 360  f.)  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  hat.  Ch. 
H.  Torrey  (211—224)  druckt  nach  dem  Pariser  Cod.  Ar.  4231  eine 
kleine  Schrift  des  berühmten  ägyptischen  Sprachgelehrten  Ibn  Barri 
mit  dem  Titel  ^UjuaJ!  ^U,  enthaltend  eine  Polemik  gegen  das  Ein- 
dringen von  Vulgarismen  in  die  Literatursprache  nach  dem  Vorbild 
von  Hariris  Durra.  R.  Brünnow  (225—248)  ediert  das  bis  dahin 
nur   auszugsweise   bekannte  )iis>^\jL\^  ^^^  v^  (Reimformelm  im 

Arabischen)  von  dem  Grammatiker  Ahmad  b.  Färis.  A.  Mez  (249 
bis  254)  handelt  über  Trilitera  einfachen  Stammes,  die  aus  ver- 
mehrten Stämmen  von  Biliteris  in  der  Weise  sich  ableiten,  daß  das 
Augment  zum  ersten  oder  zweiten  Radikal  wird.  Er  beschränkt  sich 
dabei  auf  Einen  Dialekt,  auf  das  literarische  Arabisch,  da  man  sonst 
leicht  zu  viel  beweisen  könne  —  als  ob  diese  Gefahr  dadurch  ver- 
mieden würde !  Für  gewisse  Verba  primae  \ij  nimmt  er  die  Existenz 
eines  Thafal  an;  die  angeführten  Beispiele  sind  jedoch  fast  alle 
etwas  fragwürdig,  nur  sXAß  und  ^ß  neben  kXaj  und  ^^  geben  zu 
denken.  H.  Reckendorf  (525 — 265)  untersucht  und  betrachtet  den  Ge- 
brauch des  Partizipiums  im  Altarabischen.  J.  Friedländer  (268—277) 
weist  nach,  daß  einige  Partien  der  jetzt  in  Kairo  gedruckten  Milal  und 
Nihal  des  Ibn  Hazm  in  die  Disposition  nicht  passen,  sondern  ur- 
sprünglich selbständige  Abhandlungen  sind,  die  der  Verfasser  nach- 
träglich in  sein  großes  Werk  eingeschoben  hat;  darunter  namentlich 
der  schon  von  Goldziher  ausgeschiedene  große  Abschnitt  >über  die 
offenbaren  Widersprüche  und  die  evidenten  Lügen,  die  enthalten  sind 
in  dem  Buche,  welches  die  Juden  die  Thora  nennen,  und  in  ihren 
anderen  Schriften,  sowie  auch  in  den  vier  Evangelien,  woraus  sich 
mit  Sicherheit  ergibt,  daß  darin  Aenderungen  und  Fälschungen  vor- 
genommen sind«.  T.  J.  de  Boer  (279—281)  glaubt,  in  einer  Po- 
lemik des  Jahia  b.  Adi  gegen  Kindi  (Cod.  Vat.  Ar.  127)  stecke  eine 
kleine  arabische  Originalschrift  des  angegriffenen  Autors  gegen  die 
Trinität,  während  sonst  nur  lateinische  Uebersetzungen  der  Traktate 
des  Kindi  bekannt  sind.    L.  Cheikho  (283—291)  veröffentlicht  und 


566  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Übersetzt  ein  Kapitel  des  nestorianischen  Arztes  und  Aristotelesüber- 
setzers Hunain,  das  sich  erhalten  hat  in  einem  Werke  des  Abulfarag 
Hibatallah,  eines  Angehörigen  der  christlichen  Gelehrtenfamilie  Banu 
Assäl  in  Alexandrien.  S.  Fraenkel  (293—301)  bietet  in  sauberer 
und  knapper  Form  eine  Fülle  von  Beispielen  zum  Schutzrecht  der 
alten  Araber.  J.  Goldziher  (303—329)  teilt  aus  seinem  reichen 
Schatze  allerlei  Beläge  mit,  daß  die  heidnische  Weise,  die  Gottheit 
durch  Zauberworte  und  -handlungen  oder  durch  die  Kraft  heiliger 
Personen  zu  zwingen,  auch  im  Islam  nicht  aufgehört  hat.  C.  H. 
Becker  (331—351)  meint  mit  Recht,  Minbar  sei  ursprünglich 
nicht  Kanzel,  sondern  Thron,  Insigne  des  Richters  und  Regenten 
gewesen,  der  darauf  saß,  nicht  stand.  Aber  mit  Unrecht,  es  sei 
unabhängig  von  dem  abessinischen  Minbär,  das  doch  ebenfalls  den 
Thron  oder  das  Tribunal  bedeutet  und  nur  im  Abessiaischen  eine 
Etymologie  hat.     Th.  W.  Juynboll   (353—356)   hätte  zu   seinen 

wohlerwogenen  Bemerkungen  über  den  Verwandtschaftsnamen  ^ 
hinzufügen  können,  daß  derselbe  an  einigen  Stellen  die  Bedeutung 
Großvater  hat.  D.  B.  Macdonald  (357—383)  druckt  die  Geschichte 
von  dem  Fischer  und  dem  Ginni  genau  nach  der  Hs.  Gallands,  findet, 
daß  der  Text  dieser  Hs.  vulgärer  sei  als  der  sonst  sehr  ähnliche  in 
Habichts  Ausgabe,  und  kommt  zu  dem  Schluß,  die  Textgeschichte 
der  1001  Nacht  in  den  letzten  Jahrhunderten  bestehe  in  a  gradual 
reduction  to  commonplace  of  the  vocabulary  and  to  written  rules 
of  the  construction.  N.  Rhodokanakis  (385—392)  beschreibt 
einige  arab.  Hss.  zu  Konstantinopel  aus  dem  Gebiet  der  poetischen 
Literatur,  darunter  die  der  Naqäid  zwischen  Achtal  und  Garir,  von 
der  er  für  die  Wiener  Hofbibliothek  eine  Abschrift  genommen  hat. 
J.  Eutin  g  (393—398)  zeichnet  einen  Kamelsattel  mit  allen  einzelnen 
Teilen  und  allem  Zubehör,  auch  die  verschiedenen  Stöcke  des  Reiters, 
und  nennt  genau  die  arabischen  Namen  aller  dieser  Dinge  —  solche 
anschauliche  Speziallexika  möchte  man  mehr  haben.  A.  S.  Yahuda 
(399—416)  teilt  eine  Auswahl  von  arabischen  Sprichwörtern  mit,  wie 
er  sie  von  bagdadischen  Juden  gehört  hat,  von  denen  er  selber 
stammt.  Der  Narr  Asch'ab  in  Nr.  50  war  eine  sehr  bekannte  Person 

in  Medina  zur  Zeit  der  Umaija;  jC^  in  No.  1  bedeutet  schwerlich 
Spötter.  F.  Schwally  (417—424)  liefert  einige  Nachträge  zu  Lanes 
Manners  and  Customs  of  the  modern  Egyptians ;  die  {jcji\  ^jL^t  die 
in  der  Katze  wohnen,  scheinen  Erdengel  (d.  h.  Erdgeister)  zu  sein 
und  nicht  Erdkönige,  vgl.  Curt  Prüfer,  ein  ägyptisches  Schatten- 
spiel (Erlanger  Dissertation  1906)  S.  30  Anm.  1.  W.  Mar?ais  (425 
bis  438)  führt  eine  Reihe  von  Euphemismen  und  Antiphrasen  der 


Orientalische  Stadien  567 

magbribinischen  Dialekte  auf,  darunter  das  bekannte  ^amu  (hellsichtig) 
für  j^\  (blind),  wie  Knins  »'^äo  in  Wähners  Antiq.  Ebr.  I  §  262. 284, 
Wrights  Catal.  of  Syr.  Mss.  p.  162  col.  2  —  aber  wenn  umgekehrt 
in  Arab.  Prov.  2,148  der  scharfäugige  Rabe  j^\  heißt,  geschieht 
das  gleichfalls  per  antiphrasin?  R.  Bass 6  (439 — 443)  fragt,  woher 
es  komme,  daß  die  arabischen  Wörter  im  Berberischen  teils  völlig 
assimiliert,  teils  Fremdkörper  geblieben  sind,  und  erklärt  den  Unter- 
schied aus  der  verschiedenen  Zeit  der  Aufnahme.  H.  Stumme  (445 
bis  452)  hat  bereits  in  seiner  Dissertation  (Leipzig  1895)  den  Sidi 
Hammu  als  den  berühmtesten  Spruchdichter  der  marokkanischen 
Schluh  vorgestellt,  auf  dessen  Konto  fast  alle  Produkte  ihrer  gnomi- 
schen Poesie  gesetzt  werden;  jetzt  trägt  er  nach,  daß  ihm  auch  ein 
großes  Gedicht  >Die  Reise<  zugeschrieben  werde,  worin  er  jeden  ein- 
zelnen Stamm  und  jede  einzelne  Stadt  des  Reiches  Marokko  in  ein 
oder  zwei  Versen  besinge,  und  gibt  eine  Probe  von  dieser  poetischen 
Topographie.  H.  Grimme  (453 — 461)  richtet  die  Aufmerksamkeit 
auf  einige  bisher  nicht  recht  verstandene  Stellen  des  Korans,  wo  ja\ 
ohne  Artikel  wie  ein  n.  p.  oder  t.  t.  aussieht,  vermutet  darin  den 
Logos  und  entdeckt  Spuren  desselben  auch  auf  sabäischen  In- 
schriften. 

Darauf  kommt  das  Aramäische  an  die  Reihe.  0.  Braun  (463 
bis  478)  unterscheidet  drei  Stücke  in  einem  Abschnitt  des  Cod. 
Borgian.  Siriaco  82  der  Vaticana,  der  über  das  erste  Konzil  von 
Konstantinopel  (A.D.  381)  handelt.  Im  ersten  steht  eine  Ueber- 
setzung  aus  Theodorets  Kirchengeschichte,  im  zweiten  außer  dem 
Symbol  und  den  ersten  sechs  Kanones  die  Liste  der  Unterzeichner 
(die  vollständig  abgedruckt  wird),  im  dritten  ein  griechisch  nicht  er- 
haltenes Sendschreiben  der  150  Väter  gegen  Macedonius  und  Apolli- 
narius.  R.  Duval  (479—486)  hat  von  der  Rhetorik  des  Antonius 
Tagritensis,  die  bis  dahin  nur  aus  einer  sehr  fragmentarischen  Hs. 
des  Britischen  Museums  bekannt  war,  ein  annähernd  vollständiges 
Exemplar  in  Mosul  erkundet  und  sich  davon  eine  Abschrift  ver- 
schaflFt.  Er  gibt  eine  Inhaltsübersicht  der  fünf  Bücher,  in  die  das 
Werk  zerfällt.  Das  erste  Buch  ist  allein  unter  allen  in  Kapitel  ein- 
geteilt und  ebenso  stark  wie  die  vier  folgenden  zusammen.  Das 
fünfte  Buch  enthält  eine  ausführliche  Abhandlung  über  die  syrische 
Metrik,  welche  Severus  bar  Schakko  benutzt  hat,  so  daß  manche 
Lücken  nach  ihm  ausgefüllt  werden  können.  J.  B.  C habet  (487 
bis  496)  beschreibt  den  s.  g.  Hortus  Deliciarum,  von  dem  er  eine 
vollständige  Kopie  besitzt.  Das  sehr  umfangreiche  Werk  ist  eine 
nestorianische  Catena  zu  den  Bibeltexten,  welche  zu  den  gottesdienst- 
lieben  Lektionen  verwandt  werden.    Unter  den  Vätern,  die  das  Ma- 


668  Gott.  gel.  Anc.  1906.  Nr.  7 

terial  für  die  Catena  hergegeben  haben,  sind  besonders  stark  ver- 
treten Theodor  von  Mopsueste,  Mar  Aba  von  Easchkar,  Hen&na,  und 
der  bis  dahin  unbekannte  Qeliba-zekä.  Name  und  Zeit  des  Kompi- 
lators  sind  nicht  zu  bestimmen;  die  Autoren,  die  er  anführt,  reichen 
bis  ins  neunte  Jahrhundert  hinab.  K.  V.  Zettersteen  (497 — 503) 
publiziert  aus  einer  Berliner  Hs.  einen  poetischen  Dialog  zwischen 
dem  Bösen  und  der  sündigen  Seele  in  nestorianischer  Volkssprache. 
S.  Landauer  (505—512)  verbessert  auf  Grund  parmesaner  Hss. 
eine  Reihe  von  Stellen  im  Targum  der  Klagelieder.  M.  Gast.er 
(513—536)  macht  Bemerkungen  über  die  Masora  bei  den  Samari- 
tanern,  indem  er  von  dem  sehr  interessanten  Kolophon  einer  Londoner 
Pentateuchhandschrift  ausgeht,  worm  eine  Anzahl  logischer  Inter- 
punktionszeichen mit  eigentümlichen  Namen  aufgeführt  wird.  M. 
Lidzbarski  (537—545)  führt  den  mandäischen  Namen  Utra  (guter 
Genius)  nicht  auf  «nnv  =  Reichtum  zurück,  sondern  auf  «nnr» 
=  UeberfüUe,  und  versteht  das,  wie  er  sich  ausdrückt,  als  super- 
fluctio  in  emanistischem  Sinn.  Der  Wechsel  von  :p  und  *)  in  trä  und 
nr',  auf  den  er  sich  beruft,  wird  zwar  von  Nöldeke  geleugnet;  da- 
gegen zugegeben,  daß  n'^n«'^  (Ginza  1 387, 22)  für  syrisch  i>n  stehe. 
Indessen  eine  Form  Knni*^  statt  «s»nn*T^  kommt  weder  im  Mandäischen 
noch  im  Syrischen  vor;  und  UeberfüUe  ist  nicht  dasselbe  wie  Aus- 
fluß (IxpoT^,  emanatio) ;  der  Name  würde  be.sser  für  die  Quelle  passen 
als  für  das  Derivat.  In  ähnlichem  Sinne  wie  »"^nnv  kommt  der 
Name  K'^DKbtt  nicht  nur  auf  den  Zauberschalen  vor,  sondern  doch 
auch  im  zweiten  Traktat  des  rechten  Ginza  für  die  Engel  des  Lichts; 
man  könnte  vermuten,  daß  auch  im  ersten  Traktat  die  Könige  des 
Lichts  vielmehr  Engel  des  Lichtes  seien,  wie  sie  in  einigen  Varianten 
wirklich  heißen  —  denn  es  gibt  nur  Einen  König  des  Lichts,  der 
Begriff  ist  singularisch  und  monotheistisch.  Die  angebliche  Blitz- 
rebe (S.  538  Anm.  1)  wird  doch  wohl  eine  Rebe  auf  der  Erde  sein. 
Immanuel  Low  (549—570)  legt  24  Jahre  nach  dem  Erscheinen 
seiner  berühmten  Pflanzennamen  eine  Probe  der  Fortsetzung  vor, 
nämlich  das  Kapitel  Fische  aus  seinem  hoffentlich  demnächst  zu  er- 
wartenden Buche  über  die  aramäischen  Tiernamen.  A.  Hjelt  (571 
bis  579)  sammelt  die  Pflanzennamen  aus  dem  Hexaemeron  des  Jakob 
von  Edessa.  A.  A.  Be  van  (581-582)  bringt  das  aramäische  oVp 
mit  der  gleichlautenden  hebräischen  Wurzel  zusammen  und  verwirft 
die  Ableitung  von  xaXä>c  oder  von  xX-ijoig. 

Es  folgen  Aufsätze  aus  dem  Gebiet  des  Alten  Testaments.  J. 
W.  Rothstein  (583—608)  will  erweisen,  daß  der  Siracide  seine 
Weisheit  in  regelmäßigen  Rhythmen  und  Strophen  ausgeprägt  habe, 
und  macht  die  Probe  an  Kap.  44  und  45.   L.  Oinzberg  (609 — 625) 


Orientalische  Studien  569 

beschäftigt  sich  ebenfalls  mit  dem  Ecclesiasticus  und  trägt  Adversaria 
zu  einer  Menge  von  Stellen  vor.  B.  Stade  (627—639)  führt  den 
8.  g.  Kinarhythmus  in  Psalm  40  durch.  T.  Witten  Davies  (641 
bis  650)  veröffentlicht  Brief  studies  in  Psalm  criticism.  K.  Bud  de 
(651 — 657)  sieht  den  Urbestand  der  Vokalisation  von  Tiberias  in 
dem  oberen,  mittleren  und  unteren  Punkt;  da  der  mittlere  und  un- 
tere i  und  ü  bedeuten,  so  habe  der  obere  ursprünglich  ä  bedeutet. 
W.  Nowack  (658—670)  sucht  das  Metrum  und  den  Text  von 
Hierem.  7,1—20  in  Ordnung  zu  bringen,  B.  D.  Eerdmans  (671 
bis  679)  erklärt  die  charakteristischen  Riten  des  Mazzothfestes  aus 
animistischen  Vorstellungen.  K.  Marti  (681—698)  entwirft  eine 
Skizze  der  Eschatologie  des  Alten  Testaments.  E.  S ellin  (699 
bis  717)  hält  das  Ephod,  welches  die  Priester  tragen,  für  einen 
Lendenschurz.      G.  Westphal   (719—728)    erklärt    den   Ausdruck 

U^tlton  »ns;  daß  L^o  (vielleicht  verdruckt  für  Lu&)  bedeute  »die Truppen 
auf  den  Kampfplatz  führen«,  ist  ein  Irrtum,   der  auf  Verwechslung 

mit  Ufi  beruhen  mag.  W.  W.  Graf  Bau  diss  in  (729 — 755)  handelt 
ausführlich  über  Esmun  -  Asklepios.  C.  F.  Seybold  (757—760) 
bringt  n'^ni  mit  8*1^  zusammen,  welches  arabische  Wort  er  jedoch 
nicht  richtig  versteht,  und  deutet  das  Wtm  in  lbs  wvn  (2.  Sam.  3, 8) 
und  •ilfin  ««n  (2.  Reg.  6, 25)  als  einzelnes  Exemplar  der  Gattung. 
G.  F.  Moore  (761—769)  stellt  mit  gewohnter  Gründlichkeit  fest, 
daß  iMn  ^:p  nnrr^n  der  lobus  caudatus  und  nicht  das  reticulum 
iecoris  ist.  E.  Kautzsch  (771— 780)  meint  daraus,  daß  die  Verdopp- 
lung des  ersten  Radikals  statt  des  zweiten  (im  Hiphil  und)  im  Im- 
perf.  Qal  der  :p'':p  schon  in  sehr  alten  Texten  vorkomme,  den  Schluß 
ziehen  zu  dürfen,  daß  dabei  kein  aramäischer  Einfluß  im  Spiel  sei, 
bedenkt  aber  nicht,  daß  die  Verdopplung  lediglich  durch  Punktation 
ausgedrückt  wird  und  daß  die  Punktation  zwischen  alten  und  jungen 
Texten  nicht  den  erforderlichen  Unterschied  macht. 

Weiterhin  werden  einige  Beiträge  vermischten  Inhalts  zusammen- 
gestellt. D.  H.  Müller  (781—786)  bespricht  Verbalsubstantive  im 
Mahri  und  im  Soqotri.  J.  Barth  (787—796)  erklärt  manche  auf- 
fallende Nominalform  und  einiges  Andere  als  Anpassung  an  begriff- 
lich Verwandtes  (Nöldeke  Mand.  Gr.  68  n.  4),  fast  immer  ansprechend, 
aber  nicht  immer  so,  daß  andere  Möglichkeiten  ausgeschlossen  wären; 
z.  B.  könnte  '^D'O';  ('^r'p'j  heißt  nur  Benjaminit)  direkt  auf  ^  zurück- 
gehn  und  mit  ^Uj  verglichen  werden.  C.  H.  Toy  (797—804)  redet 

m 

Über  the  Semitic  Conception  of  Absolute  Law.  W.  Sol  tau  (805 
bis  815)  unterscheidet  Petrusanekdoten  und  Petruslegenden  in  der 
Apostelgeschichte.    B.  Niese  (817—829)  führt  in  der  Form  eines 


570  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Briefes  an  den  Jubilar,  der  auch  sein  Lehrer  gewesen  ist,  den  sehr 
wichtigen  urkundlichen  Beweis,  daß  im  Jahre  161  vor  Christus  eine 
jüdische  Gesandschaft  in  Rom  gewesen  ist  und  dort  Beziehungen  an- 
geknüpft hat.  K.  J.  Neumann  (831—838)  behandelt  das  Verhältnis 
des  Kaisers  Decius  zu  den  Christen.  V.  Gardthausen  (839 — 859) 
bucht  die  Erwähnungen  der  Parther  in  griechisch-römischen  In- 
schriften und  fügt  seine  Beobachtungen  hinzu.  A.  vonDomaszewski 
(861—863)  spricht  von  der  späten  Rache  der  Semiten  an  der  grie- 
chisch-römischen Kultur,  die  unter  der  Regierung  des  Septiroius 
Severus  mit  dämonischer  Gewalt  hervorbreche;  der  Triumph  dieses 
neuen  Hannibal  verkörpere  sich  in  der  Verehrung  seiner  Gattin 
Julia  Domna  als  Virgo  Caelestis  —  man  sollte  denken,  daß  die 
eigentliche  Rache  der  Semiten  sich  durch  das  Christentum  und  später 
durch  den  Islam  vollzogen  habe.  J.  Oestrup  (865—870)  redet  über 
den  Apollo  Smintheus,  A.  Deissmann  (871—875)  über  den  Namen 
Panthera. 

Die  äthiopische  Gruppe  wird  eröffnet  durch  F.  M.  E.  Pereira 
(877—892),  der  die  äth.  Uebersetzung  der  fünften  Homilie  des 
Aphraates  herausgibt.  C.  Bezold  (893 — 912)  veröffentlicht  eine 
arabische  und  eine  äthiopische  Version  des  ursprünglich  griechischen 
Testamentum  Adae,  welches  syrisch  1853  von  Renan  ediert  ist  und 
neben  apokalyptischen  Weissagungen  eine  Verteilung  der  24  Hören 
auf  verschiedene  darin  Gottesdienst  habende  Wesen  enthält.  Er  ver- 
weist für  dies  Horarium  auf  eine  Stundentafel  des  Apollonius  Mathe- 
maticus  in  den  Cambridger  Texts  and  Studies  1892.  J.  Guidi  (913 
bis  923)  beschreibt  an  der  Hand  eines  durch  die  schwedischen 
Missionare  besorgten  Drucks  die  einheimische  äthiopische  Sprach- 
lehre, die  unter  dem  Namen  Saväsev  geht.  Das  Schema  und  die 
Termini  technici  der  Grammatik  sind  ganz  originell.  Ueber  den  Er- 
finder und  dessen  Zeit  scheint  nichts  festzustehn.  Das  Wort  Saväsev 

(Leiter,  Brücke)  ist  eine  Uebersetzung  von  ^,  wie  die  christlich- 
ägyptischen Gelehrten  des  Mittelalters  ihre  koptisch-arabischen  >£sel8- 
brücken<  nannten.  C.  Conti  Rossini  (925 — 939)  druckt,  nach 
einer  inhaltreichen  geschichtlichen  Einleitung,  ein  aus  dem  Moment 
geborenes  Gedicht  über  die  Schlacht  von  Addi  Qeleto  (7.  April  1852) 
im  Tigre  und  übersetzt  es  ins  Italienische.  £.  Litt  mann  (941— 958) 
überträgt  die  von  Conti  Rossini  gesammelten  Tradizioni  storiche 
dei  Mensa  (Giornale  della  Soc.  Asiat.  Rom  1901)  ins  Deutsche.  Da 
die  italienische  Zeitschrift  trotz  der  Bedeutung  von  Mitarbeitern  wie 
Guidi  und  Conti  Rossini  bei  uns  wenig  verbreitet  ist,  so  ist  die  Ver- 
deutschung willkommen;  man  wundert  sich,  wie  nah  verwandt  diese 


Orientalische  Stadien  571 

abessinischen  Stammessagen  der  Gegenwart  mit  den  epischen  Er- 
zählungen der  alten  Araber  sind. 

Eine  weitere  kleine  Gruppe  enthält  Babylonisch-Assyrisches.  H. 
Zimmern  (959—967)  führt  das  mandäische  Pehta  und  Mambuha 
auf  altbabylonische  Riten  zurück,  von  der  sehr  anfechtbaren  Meinung 
aus,  daß  der  Mandaismus  in  der  babylonischen  Landschaft  wurzele 
und  ein  Rest  der  alten  babylonischen  Religion  sei.  M.  Jastrow 
(969—980)  handelt  über  die  Zusammensetzung  der  babylonischen 
Schöpfungsgeschichte.  P.  Jensen  (983—996)  gibt  einen  Vorlauf  von 
dem  Inhalt  seines  großen  Werkes  über  das  Gilgamasch-Epos  in  der 
Weltliteratur.  C.  F.  Lehmann-Haupt  (997—1014)  löst  BTjXttavac 
und  BsXijtdtpac  aus  unberechtigter  Verkettung.  J.  Hal6vy  (1015 
bis  1029)*wendet  sich  in  einem  ersten  Artikel  gegen  eine  von  Zimmern 
aufgestellte  Liste  von  143  hebräischen  Wörtern,  die  aus  dem  Assy- 
risch-Babylonischen entlehnt  sein  sollen,  und  kommt  zu  dem  Ergebnis, 
daß  sie  alle  nicht  direkt  aus  dem  A.-B.  stammen,  sondern  entweder 
über  benachbarte  Völker  eingewandert  oder  gemeinsemitisch  seien; 
in  einem  zweiten  Artikel  führt  er  51  Eeilzeichen  auf,  deren  Laut- 
wert sich  mit  semitischen  Appellativen  decke. 

Den  Schluß  bildet  eine  Gruppe,  in  der  das  Persische  überwiegt. 
A.  V.  Williams  Jackson  (1031 — 1038)  bringt  für  seine  Meinung^ 
daß  Zoroaster  in  Baktrien  wirkte  und  aus  Atropatene  stammte,  neue 
Instanzen  vor.  P.  Horn  (1039 — 1054)  stellt  die  Beschreibungen  des 
Sonnenaufgangs  im  Schahname  zusammen.  G.  Jacob  (1055—1076) 
will  dagegen  nicht  dichterische  Bilder  buchen,  sondern  nach  den 
Ghazelen  des  Hafiz  schildern,  wie  die  alte  persische  Schenke  und 
das  Treiben  darin  wirklich  beschaffen  war;  er  spricht  auch  über  die 
Namen  des  Weins  und  der  Gefäße,  über  die  Herstellung  des  Weins, 
über  die  Musik  beim  Wein.  H.  Hübschmann  (1077—1080)  trennt 
xteU  von  pecten  und  bringt  es  zusammen  mit  neupersisch  schäne. 
F.  Giese  (1081—1091),  ein  Schüler  Georg  Jakobs,  hat  sich  mit  der 
türkischen  »Moderne«  beschäftigt  und  wird  demnächst  einen  Roman 
des  Hüs^n  Rahmi  in  deutscher  Uebersetzung  herausgeben;  an  dieser 
Stelle  überträgt  und  erläutert  er  zwei  schwierige  Volksszenen  aus 
einem  anderen  Roman  desselben  Schriftstellers.  W.  Spiegelberg 
(1091 — 1115)  sammelt  die  ägyptischen  Namen  auf  aramäischen  Ur- 
kunden der  Perserzeit  und  sucht  sie  zu  identifizieren  mit  Namen, 
die  während  der  persischen  Periode  wirklich  in  Aegypten  nachweis- 
bar sind;  zum  Schluß  gibt  er  ein  Alphabet  der  sich  entsprechenden 
aramäischen  und  hieroglyphischen  Zeichen.  Er  hat  durch  die  Güte 
von  H.  Sayce  auch  noch  die  ägyptischen  Namen  auf  den  erst  neuer- 
dings entdeckten  Papyri  Mond  verwerten  können. 


572  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

Der  Herausgeber  C.  Bezold  hat  seinem  Verdienst  die  Krone 
aufgesetzt  durch  einen  Index  von  71  Seiten,  worin  die  Eigennamen 
und,  je  für  sich,  die  erklärten  hebräischen,  aramäischen,  arabischen 
und  abessinischen  Wörter  aufgeführt  werden.  Einen  berechtigten 
Anspruch  auf  allgemeinen  Dank  hat  sich  auch  E.  Kuhn  erworben 
durch  ein  Verzeichnis  der  Schriften  (auch  der  Rezensionen  und 
kleineren  Aufsätze)  Nöldekes,  das  in  die  Praefatio  aufgenommen  ist. 
Hinzuzufügen  wäre  die  Uebersetzung  eines  Stückes  aus  Edrisi  in 
den  Verhandlungen  der  Gelehrten  Estnischen  Gesellschaft  zu  Dorpat 
VHS  (1873)  p.  1-12. 

Jeder  hat  einen  Spahn  aus  seiner  Werkstatt  zu  Ehren  des 
großen  Gelehrten  und  des  geliebten  Lehrers  dargebracht.  Eine  syste- 
matische Auswahl,  etwa  in  der  Absicht,  daß  ein  charakteristisches  und 
allseitiges  Bild  der  semitischen  Studien  in  der  Gegenwart  entstünde, 
war  dabei  ausgeschlossen.  Unterschiedslos  in  einen  Sack  gestopft  zu 
werden  ist  schon  nicht  vorteilhaft  für  die  einzelnen  Spähne,  und 
noch  weniger  kommen  sie  zu  ihrem  Recht  in  der  gedrängten  Ueber- 
sicht  dieses  Referats.  Aber  es  ließ  sich  kaum  etwas  anderes  machen, 
und  vielleicht  ist  ein  solcher  räsonnierender  Katalog  doch  auch  neben 
dem  Register  Bezolds  von  einigem  Nutzen,  namentlich  zur  vorläufigen 
Orientierung  derjenigen,  welche  die  Festschrift  selber  noch  nicht  in 
Händen  haben.  Druck  und  Ausstattung  sind  vortrefflich,  der  Preis 
verhältnismäßig  nicht  hoch. 

Göttingen  Wellhausen 


M.  L.  Etting:haa8en,  HarsaVardhana  empereur  et  po^te  de  l'Inde 
septentrionale  (606—648  A. D.).   Londres,  Paris,  Louvain  1906.  X,  194  S. 

Ich  erinnere  mich  keines  Buches  über  indische  Geschichte,  in 
dem  die  Arbeiten  Anderer  in  der  Weise  und  mit  solchem  Mangel 
an  eigener  Kenntnis  benutzt  worden  sind,  wie  dies  in  der  vor- 
liegenden Kompilation  der  Fall  ist.  Eine  ausführliche  Besprechung 
könnte  ein  solches  Buch  hier  schwerlich  beanspruchen.  Nur  sein  ver- 
lockender Titel  veranlaßt  mich,  denen,  die  mit  der  Geschichte  und 
Epigraphik  des  indischen  Mittelalters  vielleicht  weniger  vertraut  sind, 
an  ein  paar  Beispielen  zu  zeigen  was  uns  hier  geboten  wird. 

Das  Buch  gibt  auf  S.  8 — 16  eine  Chronologie  der  Regierungs- 
zeit des  Königs  Harsavardhana.  Der  ganze  Abschnitt  ist,  mit  Aus- 
nahme weniger  Zeilen,  eine  Uebersetzung  des  betreffenden  Ab- 
schnittes in  C.  Mabel  Duff's  Chronology  of  India,  mit  Wiederholung 
Alles  dessen,  wovon  wir  jetzt  wissen  daß  es  falsch  ist.  Auch  bei 
E.    vernichtet   MafigaliSa   (Mangaleäa)    'die   Mätangas',    und   schickt 


M.  L.  Ettinghaoseo,  Har^a  Vardhana  573 

Pulikeäin  (Pulakeäin  IL)  'Capcjadancja'  gegen  die  Mauryas,  u.  s.  w. 
Trotz  der  Citate  in  dem  englischen  Originale  und  ihrer  sorgfältigen 
Wiederholung  in  der  französischen  Uebersetzung  scheint  es  aus- 
geschlossen, daß  Herr  E.  die  Inschriften,  auf  deren  falscher  (später 
verbesserter)  Uebersetzung^)  derartige  Angaben  beruhen,  ange- 
sehen hat. 

Eine  indische  Inschrift  gibt  er  selbst,  S.  145—150,  in  Text  und 
Uebersetzung,  und  mit  Anmerkungen,  die  eine  gewisse  Vertrautheit 
mit  der  epigraphischen  Literatur  zu  verraten  scheinen.  Der  Text 
ist,  abgesehen  von  einigen  Ungenauigkeiten,  derselbe  wie  in  Ep.  Ind. 
Vol.  VII.  p.  157  flF.,  das  Uebrige  eine  wörtliche  Uebersetzung  ins 
Französische  der  ebendaselbst  veröffentlichten  englischen  Ueber* 
Setzung.  Hätte  die  Sache  nicht  ihre  ernste  Seite,  so  könnte  es  nur 
Heiterkeit  erregen,  z.  B.  die  beiden  folgenden  Anmerkungen  mit  ein- 
ander zu  vergleichen: 

Ep.  Ind.  YII.  p.  160,3:  With  sarvti-paHkrita-parihära  compare  sarva- 
vishti-paHMra-parihrüa  in  the  plates  of  the  Väkätaka  Mahdr^as,  e.g,  above, 
Vol.  III.  p.  262,  1.  20.  The  meaning  intended  is  more  correctly  expressed 
by  parihfita-sarvapida,  e.  g.  above,  Vol.  IV.  p.  250,  1.  53,  and  by  8aroakar(k- 
pariMram  kritva,  above.  Vol.  III.  p.  223,  L  15.  Compare  also  aarvobädhä- 
parihdra  (e.g.  Ind.  Ant.  Vol.  IX.  p.  128,  1.  35),  and  for  similar  expressions 
see  above.  Vol.  VI.  p.  13,  note  3. 

Herr  £.,  S.  149, 1 :  Avec  sarva-parthrta-parihära  comparez  aarvavifti' 
parihära-paHhrta  dans  les  plaques  des  VakStaka  (!)  Mdhär^JM,  E.  I.  voL  III, 
p.  262,  1.  20.  L'id^  est  rendue  plus  correctement  par  parihftc^aarvapi^i^, 
ibid.  vol.  IV,  p.  250,  L  53,  et  par  sarvakara-parihäram  Jcrivä,  ibid.  vol.  111, 
p.  223,  L  15.  Comparez  aossi  sarva-hädha-painhära,  I.  A.  vol.  IX,  p.  218, 
1.  35;  et  pour  des  phrases  semblables  voyez  £.  I.  vol.  VI,  p.  13,  n.  8. 

Selbstverständlich  war  für  das  vorliegende  Buch  Bäpa's  Harsa- 
carita  von  der  größten  Bedeutung.  Nach  des  Verfassers  Angabe  in 
der  Liste  der  Abkürzungen  und  nach  seinen  Anmerkungen  zu  schlie- 
ßen, hätte  er  den  Text  der  Bombayer  Ausgabe  benutzt.  In  Wirk- 
lichkeit hat  er  überall,  wo  ich  verglichen  habe,  die  englische  Ueber- 
setzung von  Cowell  und  Thomas  ohne  Kritik  ins  Französische  über- 
setzt. An  einer  einzigen  Stelle  glaubte  ich  wirklich  etwas  Origi- 
nelles zu  finden,  nämlich  auf  S.  46  und  47,  wo  eine  höchst 
ansprechende  und  meines  Erachtens  richtige  Erklärung  der  Worte 
(xtra  parameharena  tu^arasailabhuvo  durgäya  grMtäh  karah  auf  S.  101 
des  Bombayer  Textes  gegeben  wird.  Nur  zu  bald  ergab  sich,  daß 
auch  diese  Erklärung  schon  in  Professor  Sylvain  Levi's  Le  N6pal, 
Vol.  IL  p.  145,  steht. 

Brauche  ich  zu  sagen,  daß  andere  Werke  in  ähnlicher  Weise 

1)  Vgl.  Ind.  Ant.  Vol  Vm.  p.  243  ff.,  und  JSJp.  Ind.  Vol  VL  p.  7lt 

GOtt.  gtU  Au.  190«.  Nr.  7  40 


574  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

haben  herhalten  miissen?  Seite  50  mit  den  vier  ersten  Anmerkungen 
ist  ohne  Angabe  der  Quelle  übersetzt  ans  Dr.  Bhandarkar's  History 
of  the  Dekkan,  2.  Auflage,  S.  51.  Charakteristisch  ist  hier,  daß  auch 
in  der  französischen  Uebersetzung  'die  Pferde  der  Meere  des  Nordens' 
(des  chevaux  des  mers  du  nord,  horses  from  the  northern  seas)  figu- 
rieren, die  ein  gewisser  Appäyika  in  seiner  Armee  mitgebracht  haben 
soll,  während  doch  die  von  Herrn  £.  selbst  auf  derselben  Seite  zi- 
tierte Uebersetzung  einer  Inschrift  des  Pulakeäin  H.  hätte  zeigen 
sollen,  daß  jene  merkwürdigen  Pferde  ihre  Existenz  nur  einer  falschen 
Lesart  verdanken*). 

Nach  solchen  Erfahrungen  mag  ich  nicht  untersuchen,  ob  das 
Buch  des  Herrn  E.  für  Gebiete,  die  mir  augenblicklich  ferner  liegen, 
irgendwelchen  selbständigen  Wert  besitzt.  In  seinem  eigenen  Inter- 
esse wäre  dem  Verfasser  für  seine  historischen  Studien  in  erster 
Linie  die  Herausgabe  und  Uebersetzung  noch  nicht  veröSentlichter 
Texte  dringend  zu  empfehlen. 

Göttingen  F.  Kielhom 


The  Nakäid  of  Janr  a n d  al  Farazdal^,   edited  by  Anthony  Ashley 
Be  van.   Vol.1,   part.  1.   Leiden  1905,  E.  J.  BriU.   XXUI,  156  S. 

William  Wright  hat  1883  in  der  Zeitschrift  der  Deutschen  Mor- 
genl.  Gesellschaft  mitgeteilt,  er  sei  seit  einigen  Jahren  an  der  Arbeit, 
die  Naqäid  (d.  h.  Streitgedichte)  zwischen  Garir  und  Farazdaq  her- 
auszugeben,  welche  namentlich  Abu  Ubaida  gesammelt  hat,  teilweise 
nach  der  mündlichen  Ueberlieferung  einesi  Enkels  des  Garir,  namens 
Misbal  b.  Kusaid.  Er  ist  1889  gestorben,  ohne  sein  Vorhaben  zur 
Ausführung  zu  bringen.  Die  von  ihm  hinterlassenen  Abschriften  des 
Oxforder  und  des  Straßburger  Kodex  der  Naqäid  (aus  letzterem  sind 
die  Hss.  in  der  Yale  University  Library  und  in  der  Bibliothek  des 
Chediv  zu  Kähira  geflossen)  sind  darauf  von  W.  Robertson  Smith 
dem  »Magister  Artium<  A.  A.  Bevan  in  Cambridge  übergeben.  Sie 
bieten  zwei  verschiedene  Rezensionen  oder  besser  ausgedrückt  zwei 
verschiedene  Kompilationen  der  Gedichte,  und  Wright  hatte  die  Ab- 
sicht, jede  einzelne  besonders  herauszugeben.  Dann  müßte  auch  ein 
dritter  Kodex,  der  inzwischen  in  zwei  zusammengehörigen  Stücken 
zu  Tage  gekommen  ist  und  im  Britischen  Museum  aufbewahrt  wird, 
noch  dazu  für  sich  gedruckt  werden,  und  man  hätte  das  Vergnügen, 
dreifach  zu  zahlen  und  die  Augen  immer  in  drei  Büchern  zugleich 
zu  haben.  Bevan  hält  es  dagegen  glücklicher  Weise  für  möglich  und 

1)  Vgl.  Ep.  Ind.  Vol.  VI.  p.  2. 


The  Nakäid  of  Jaiir  and  al  Farazdak  ed.  by  Bevan.   1, 1  575 

erlaubt,  die  verschiedenen  Sammlungen  unter  einen  Hut  zu  bringen, 
wenn  sie  auch  in  der  Auswahl  und  Reihenfolge  der  Stücke  von  ein- 
ander abweichen.  Er  legt  den  Oxforder  Kodex  zu  Grunde,  weil  er 
die  meisten  Gedichte  enthält  und  außerdem  die  dazu  mitgeteilten 
Erzählungen  am  vollständigsten  wiedergibt.  Wenn  die  anderen 
Zeugen,  namentlich  der  Straßburger,  Zusätze  haben,  so  schiebt  er 
sie,  mit  deutlicher  Kennzeichnung,  an  passender  Stelle  ein.  Vari- 
anten zu  den  Versen  gibt  er  in  kritischen  Fußnoten  vollständig  wieder, 
Varianten  zu  den  Schollen  und  Erzählungen  nur,  wenn  sie  von  einiger 
Bedeutung  sind.  Am  Rande  sind  die  Folia  der  verschiedenen  Hand- 
schriften vermerkt.  Die  Orthographie  der  Oxforder  ist  nach  Möglich- 
keit beibehalten,  die  Vokalisation  bereichert.  In  den  Schollen  sind 
größere  Interpunktionen  angebracht,  in  den  Erzählungen  sind  Paren- 
thesen durch  runde  Klammem  abgegrenzt.  Verweise  auf  Parallelen 
in  schon  gedruckten  Werken  sind  nach  Gutdünken  hinzugefugt,  ohne 
Absicht  auf  Vollständigkeit  und  starre  Konsequenz,  und  nicht  wo  sie 
ganz  billig  sind.  Mir  scheint  Bevans  Verfahren  durchaus  zweckmäßig 
zu  sein;  die  Darlegung  des  Plans  erfreut  durch  anspruchslose  Art 
und  gesunde  Verständigkeit  ebenso  wie  die  Ausführung. 

Zu  der  Introduction  kommt  noch  hinzu  eine  Uebersicht  der 
Lieder  des  Garir  in  dem  ägyptischen  Druck  verglichen  mit  der  Lei- 
dener und  Londoner  Handschrift  und  mit  den  Naqäid,  während  eine 
entsprechende  allgemeine  Uebersicht  über  die  Lieder  des  Farazdaq 
nicht  beigegeben  ist.  Außerdem  wird  in  einem  besondere  Abschnitt 
die  Chronologie  der  Naqäid  besprochen.  Es  zeigt  sich,  daß  im  Ox- 
forder Kodex  die  Lieder  einigermaßen  nach  der  Zeitfolge  gruppiert 
sind.  No.  1—30  fallen  in  die  Zeit  bis  zur  Belagerung  von  Mekka 
A.  D.  683.  No.  33.  63.  64  fallen  zwischen  A.  D.  684  und  687, 
No.  69.  70  auf  690,  No.  101  auf  719/20,  No.  102.  103.  105  zwischen 
724  und  738.  Aber  No.  51.  52  (A.D.  714/5)  und  No.  55  (A.D.  694) 
fügen  sich  nicht  in  die  chronologische  Reihe.  No.  50  gehört  vor 
No.  49,  und  No.  78  vor  No.  77. 

Der  Text  soll  in  zwei  Bänden  (zu  je  drei  Faszikeln)  veröffent- 
licht werden,  ein  dritter  Band  wird  Indices  und  ein  Glossar  enthalten. 
Gedruckt  liegt  jetzt  vor  der  erste  Teil  des  ersten  Bandes.  Er  ent- 
hält meist  poetische  Invektiven  des  Garir  gegen  Ghassan  oder 
alBalth,  die  gegen  Farazdaq  beginnen  erst  mit  No.  31  S.  124.  Inter- 
essanter als  diese  Streitgedichte,  von  denen  die  Sammlung  den  Namen 
hat,  sind  die  zur  sachlichen  Erklärung  beigegebenen  Erzählungen, 
die  zum  Teil  Über  ihren  eigentlichen  Zweck  weit  hiifausgehn  und 
auch  noch  viele  anderweitigen  poetischen  Stücke  enthalten.  So  finden 
sich  ausführliche  Berichte  aus  der  alten  heidnischen  Zeit  über  den 

40* 


576  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

langwierigen  Bruderkrieg  der  Abs  und  Dhubiän,  über  den  zweiten 
Tag  von  Euläb,  über  den  vergeblichen  Versuch  des  Königs  Nnmän 
Abu  Qabus  von  Hira,  den  Jarbuiten  die  Ridäfa  zu  entreißen  und  sich 
von  ihrer  Bevormundung  zu  befreien.  Mehr  zur  Sache  gehören  die 
Erzählungen  über  die  Guerilla  zwischen  Tamtm  und  Bakr,  über  den 
Streit  zwischen  Tamim  und  Azd  in  Bagra  nach  dem  Tode  Jazids  I 
und  der  Flucht  seines  Statthalters  Ubaidallah  b.  Ziäd,  und  aber  die 
Häkeleien  innerhalb  von  TamIm  selbst  zwischen  verschiedenen  Sippen 
oder  Geschlechtem  des  Stammes.  Das  spielt  größtenteils  schon  in 
der  islamischen  Zeit  und  ist  fUr  die  Charakteristik  des  Reichs  der 
Umaija  von  Wichtigkeit.  Nicht  bloß  in  Syrien  und  Mesopotamien, 
sondern  ebenso  in  Iraq  und  in  Churäsan  pflanzte  sich  die  Anarchie 
der  Wüste  unter  den  Arabern  fort^  und  schließlich  polarisierten  sich 
die  einzelnen  Fehden,  unter  dem  Einfluß  religiöser  Tendenzen  nnd 
politischer  Aspirationen,  zu  einem  großen  Dualismus,  der  das  Reich 
zerriß.  Es  wäre  nicht  überflüssig,  das  einmal  übersichtlich  darzu- 
stellen; Sto£f  genug  ist  vorhanden,  seit  nicht  bloß  die  wichtigsten 
Historiker  ediert  sind,  sondern  auch  die  Dichter,  Achtal,  Qutftmi, 
Farazdaq,  Garir  u.a.  Wünschenswert  wäre  allerdings  vorher  noch 
eine  europäische  Ausgabe  von  Garfrs  Divan. 

Ein  paar  einzelne  Bemerkungen  mögen  den  Schluß  bilden.  — 
6,12.  Daß  stt^/  IJt  die  richtige  Lesart  ist,  versteht  sich  von  selbst 
und  geht  zum  Ueberfluß  auch  aus  dem  Verse  118,1  hervor,  der 
ebenso  anfängt.  Damit  fällt  der  Vergleich  mit  Judicum  5,2  (Reste 
arab.  Heidenthums  1897  S.  123  n.  2).  —  6,13.  Obgleich  ich  nicht 
weiß,  ob  man  übersetzen  darf:  ihr  Geruch  stinkt  nach  Gemeinheit, 

so  darf  doch  die  seltsame  Vokalisation  uy^  nicht  geändert  werden; 

wenigstens  nicht  in  üy^,  denn  das  heißt  nicht:  ihr  Geruch  läßt 

ihre  Gemeinheit  erkennen.  —  8,11.    Für  ta  j^  Ji  sagt  man  im 

Perfektum  lu  u^^  U;  und  ^^^  ist  oflFenbar  «n'^,  verwandt  mit  c^y   >Er 

wurde  dadurch  nicht  erschreckte  =  er  hatte  kein  Arg  daraus,  ver- 
sah sich  dessen  nicht,  merkte  es  nicht.  —  19, 12. 13.  Der  negative 
Schwursatz  steht  erst  im  Perfektum,  dann  im  Imperfektum ;  ein  ana- 
loges Beispiel  bei  Nöldeke,  zur  Grammatik  des  klassischen  Arabisch 
S.  66.  —  25,15.  Es  ist  nicht  siväm  (Feilschen),  sondern  savdm 
(Weidevieh,  Besitz)  zu  sprechen,  wegen  der  folgenden  Ausnahme:  er 
hat  wenig  Besitz,  nur  einen  festen  Panzer  und  ein  blankes  Schwert.  — 
26, 12  und  27, 6.  Der  Wechsel  von  'i  und  Ji  in  der  übrigens  gans 
identischen  Phrase  fällt  sehr  auf;  vgl.  ^^  >i  bei  Nöldeke  a.  0.  S.  67. 

—  26,14.  42,7.  Das  Verbum  ^S^  für  grüßen  schlechthinkommt 


The  Nakäid  of  Jailr  and  al  Farazdal^  ed.  by  Bevan.  1, 1  577 

zwar  in  Prosa  oft  genug  vor ;  im  Nasib  der  echten  alten  Qagiden  er- 
innere ich  mich  aber  nicht  es  so  gelesen  zu  haben  wie  hier  bei 

Garir.  Die  )U^'  ist  ursprünglich  nicht,  wie  schon  im  Koran,  jeder 
beliebige  Gruß  mit  Einfluß  des  Hm  goAähan  oder  des  sdläm,  sondern 
eine  bestimmte  Grußformel:  vivas,  oder  auch  vivificet  te  deus  (Ach- 
tal 3, 7.  Qutami  No.  4  v.  12).    Diese  Grußformel  hat  indessen  beinah 

nur  in  der  Etymologie  der  kI^'  ihre  Spur  erhalten.  Sie  ist  früh  aus 
dem  gewöhnlichen  Gebrauch  verschwunden  und  scheint  sich  nur  für 
die  Könige  erhalten  zu  haben;  vgl.  die  beiden  im  Lisän  18,236  mit- 
geteilten Verse  >  alles  was  der  Mann  erlangen  kann,  habe  ich  erlangt 

außer  der  jU^'  (dem  Königtum) <   und  »damit  will  ich  zum  König 

Nu  man  ziehen  und  mein  Heer  lO^'  ^  (vor  seiner  Majestät?)  la- 
gern lassen<.  So  wird  auch  im  Alten  Testament  das  Vivat  auf  den  König 
beschränkt  (1  Sam.  10,24.  2  S.  16, 16.  1  Regum  1, 25. 34. 39.  2  R.  11, 12. 
Daniel  3,9. 6, 21).  Aehnlich  in  der  von  Dillmann  (Lexikon  688)  mit  Recht 
für  sehr  alt  gehaltenen  äthiopischen  Formel :  h'jäv  aha  nagä§%.  Ob  der 
phönizische  und  karthagische  Gruß  au  avo  (oder  gar  der  lateinische 
ave  have)  von  "»n  hergeleitet  werden  darf,  ist  sehr  zweifelhaft,  da 
man  nicht  sieht,  woher  das  Vau  kommt;  freilich  läßt  sich  keine  an- 
dere Etymologie  auftreiben.  —  47, 2ss.  Die  Erzählung  über  den 
Tag  von  Dhu  Tulflh  weicht  etwas  ab  von  den  Versen,  in  die  sie  ein- 
leiten soll;  in  den  Versen  (53,10.  66,2)  zieht  Amira  b.  Täriq  zwei 
tamimitische  Männer  von  Barägim  ins  Vertrauen,  in  der  Erzählung 
(47, 18  SS.)  dagegen  eine  tamimitische  Frau  von  Tuhaija  —  dergleichen 
kommt  oft  vor.  Für  die  Chronologie  beachte  man,  daß  Amira  der 
Sohn  des  Täriq  b.  Daisak  ist,  welcher  den  Sohn  des  Nu  man  Abu 
Qabus,  des  letzten  Königs  von  Hira,  gefangen  nahm;  darnach  muß 
der  Zug  des  Haufazan  schon  in  die  Zeit  des  Propheten  fallen.  — 

59, 9.  Ein  Verbum  ^<^,  woher  )uxi\  \y  abgeleitet  sein  soll,  existiert 

schwerlich.  Nach  Nöldeke  Mand.  Gr.  S.  41  n.  6  ist  ^  =  Alt  und 
bedeutet  auch  die  Scheere.  Es  fragt  sich  freilich,  ob  die  alten 
Araber  von  der  Scheere  des  Geschicks  geredet  haben,  wie  die  Grie- 
chen von  der  Scheere  der  Parze.  —  67, 16.  68, 6.  Das  Zeichen  tritt 
hier  nicht  vor  der  Weissagung  ein,  sondern  zugleich  nüt  ihr.  Es 
beweist  aber,  weil  es  einen  ganz  zufälligen  und  speziellen  Zug  an- 
gibt, daß  die  Weissagung  wirkliche  Weissagung  ist  und  keine  allge- 
meine Wahrscheinlichkeitsvermutung.  So  auch  zuweilen  im  Alten 
Testament,  auch  da  ist  die  niK  nicht  notwendig  ein  Vorzeichen.  — 
70,13.  119,12.  Die  Redensart  jüLyos  ^vXJI  yy^*  deren  eigentlicher 
Sinn  nicht  leicht  zu  ermitteln  ist,  kommt  nicht  nur  hier  beide  mal 


678  Gdtt  gd.  Anz.  1906.  Nr.  7 

in  einer  Geschichte  vor,  die  im  heiligen  Monat  an  dem  heiligen  Orte 
Ükätz  spielt,  sondern  ebenso  auch  zweimal  im  Divan  der  Hudhail 
No.  245.  Das  kann  kaum  zufällig  sein;  die  Redensart  scheint  dem 
legendarischen  oder  hieratischen  Stil  anzugehören.  —  74,4.  76,9. 
Was  bedeutet  ä3^?  und  was  o^t  lO»  ^a^Uj?  >Du  sollst  mit  mir 
an  seiner  statt  um  den  Tod  losen<  V  —  76;  19.  Es  wird  ^ysa^,  oder 
d^yfi^'  zu  schreiben  sein;  Subjekt  sind  die  bI^  (76,16).  >Wenn  ihr 
ihn  besucht  in  Dhu  Qär,  so  (findet  ihr  ihn  dort  in  seiner  Heimat  am 
Eufrat  nicht,  vielmehr)  lehre  ich  ihn  Wüsten  und  Wüstenlandmarken 
kennen«.  —  94,2.  Die  Worte  ^  vynJuAJ-  müssen  gestrichen  werden; 
denn  der  Knabe  ist  nach  dem  Folgenden  nicht  der  Sohn  des  Gunaidib, 
und  Gunaidib  ist  nach  Maidani  21,96  (in  der  Version  des  Mufaddal 
über  Dähis  und  Ghabrä)  der  Sohn  des  Zaid  und  nicht  des  Amr.  — 
100,12.  Die  beiden  als  Akkusati ve  vokalisierten  Worte  sind  in  Wahr- 
heit Nominative:  Harmala  wollte  dem  Kampfe  vorbeugen,  aber  zu- 
letzt mußte  auch  er  mit  fechten.  Gemeint  ist  Harmala  b.  alAsch'ar 
alMurri,  der  Vater  des  bekannten  Häschim  b.  Harmala.  —  109, 12. 

Für  das  erste  ^^\  muß  ^J^ß^  gelesen  werden.  —  111,3.  Das  Scholion 

erklärt  verkehrt.  Das  Pronomen  der  zweiten  sg.  fem.  in  ^  jc>t  kann 
nur,  wie  das  vorhergehende  Pronomen  der  zweiten  sg.  fem.  in  e)t^5^JJ, 
auf  die  Geliebte  sich  beziehen  und  nicht  auf  die  Nacht,  von  der 
vielmehr  in  beiden  Sätzen  das  Pronomen  der  dritten  Person  gebraucht 

wird.  —  111,9.  Die  echt  arabische  Bedeutung  von  ^jJJp  ist  Rauch, 
wie  m  dem  Verse  des  Gadi  (Lisan  8,112):  >  leuchtend  wie  der 
Schein  einer  Oellampe,  worin  Gott  keinen  Rauch  entstehn  läßt<  — 
die  alten  Araber  sind  nur  an  Fackeln  aus  Palmzweigen  gewöhnt  und 
betrachten  es  als  göttliches  Wunder,  daß  die  Flamme  der  Oellampe 
{^AmW  JijJ)  nicht  schwalkt.  Das  Scholion  nimmt  diese  Bedeutung 
auch  hier  an  und  sagt,  Rauch  sei  hier  Feuer.  Das  ist  wie  lucus  a 
non  lucendo.  Vielmehr  hat  Garir  den  Ausdruck  aus  Sura  55, 35  ent- 
lehnt. Was  er  aber  dort  bedeuten  soll,  hat  Muhammad  vielleicht 
selber  nicht  gewußt.  Jedenfalls  wissen  es  die  Ausleger  nicht,  sie 
raten  auf  geschmolzenes  Erz  oder  auf  Funken  von  glühendem  Erze  u.s.w., 
indem  sie  von  dem  aramäischen  tön  ausgehn,  welches  Erz  bedeutet 
und  in  dieser  Bedeutung  auch  in  das  Arabische  und  in  das  Aethio- 
pische(?)  übergegangen  zu  sein  scheint.  Beiläufig  bemerkt  zweifle 
ich  daran,  ob  iMWii,  der  Eigenname  des  twrr:  Wi5,  wirklich  von  rwro 
(Erz)  kommt  und  nicht  vielmehr  von  vn:  (Schlange).  Für  den 
Eigennamen  paßt  die  Schlange  besser  als  das  Erz,  die  Septuaginta 
spricht  Nsea^av  (wie  auch  Neeo^ot  2  Reg.  24,8).  Die  Endung  kann 
ebenso  gut  tan  sein  wie  an,  wenigstens  nach  der  aramäischen  Ana- 


The  Nakäid  of  Jarir  and  al  Farazdak  ed.  by  Sevan.  1, 1  679 

logie  (Nöldeke  Syr.  Gr.  §  129),  welcher  auch  die  in  Isa.  27, 1  neben 
einander  vorkommenden  Bildungen  'p^'b  und  ^^tbpT  (ebenfalls  Eigen- 
namen) zu  folgen  scheinen.  —  112,8.  Zu  der  Affäre  Ubaidallah  b. 
Ziad  und  dem  Nachspiel  in  Ba^ra  hätte  noch  auf  Mubarrad  Kamil  S.  81 
und  auf  Anonym.  Ahlw.  S.  187  verwiesen  werden  können,  r-  114, 1  ss. 
Obgleich  die  hier  vorkommenden  persischen  Worte  bei  Tab.  2, 454  ins 
Arabische  übertragen  sind,  konnte  ich  sie  doch  nicht  verstehn.  Fr.  An- 
dreas, an  den  ich  mich  wandte,  vermutet  gewiß  mit  Recht,  daß 
dJ^.jj>,  dem  ^ß  j^U»*!  bei  Tabari  entsprechend,  aus  ^^y^  verderbt 
sei,  und  übersetzt  wie  folgt.  fMahferidun  sagte:  Kinder,  auf  die 
Lanzenspitzen  geht  nicht!  Sie  sagten:  sie  lassen  uns  aber  nicht  los, 
bis  wir  mit  ihnen  kämpfen.  £r  sagte :  gebt  (dihed)  ihnen  eine  Salve 
von  fünf,  d.h.  schießt  ein  jeder  fünf  Pfeile  auf  sie  ab!<  Sie  sollen 
sich  also  auf  den  Nahkampf  nicht  einlassen,  sondern  aus  der  Ferne 
schießen. 

Damit  genug.  Man  darf  auf  baldige  Vollendung  des  Druckes 
hoffen,  da  das  Manuskript  fertig  vorliegt  und  nur  die  Indices  noch 
ausgearbeitet  werden  müssen. 

Göttingen  Wellhausen 


W«  £•  Crom»  Catalogue  of  the  Coptic  Manuscripts  in  the  British 
Museum.   London  1905.   XXIV,  624  Seiten,  15  Tafeln,  gr.  4°. 

Seit  dem  Erscheinen  von  Zoegas  berühmtem  und  für  die  kop- 
tische Wissenschaft  in  gewisser  Weise  grundlegendem  >Catalogus  co- 
dicum  Copticorum  manu  scriptorum  qui  in  Museo  Borgiano  Velitris 
adservantur.  (Opus  posthumum.)  Romae  1810c  sind  bald  100  Jahre 
verflossen.  In  dieser  Zeit  haben  sich  die  koptischen  Schätze  der 
europäischen  Bibliotheken  außerordentlich  vermehrt,  aber  ihre  Aus- 
nutzung wird  einmal  durch  das  Fehlen  von  Katalogen  für  die  meisten 
Sammlungen  und  sodann  durch  den  Zustand  der  Sammlungen  selbst 
äußerst  erschwert.  Die  älteren  Handschriften  sind  nämlich  durchweg 
so  fragmentarisch,  daß  schon  die  Bestimmung  ihres  Inhalts  ein  ein- 
gehendes Studium  und  ein  mühseliges,  entsagungsvolles  und  doch 
nicht  immer  von  Erfolg  gekröntes  Durchsuchen  der  gesamten  Lite- 
ratur erfordert.  Dazu  sind  auch  noch  die  Fragmente  einer  und  der- 
selben Handschrift  sehr  oft  in  verschiedenen  Bibliotheken  zerstreut, 
sodaß  neuerdings  z.B.  0.  v.  Lemm  den  > Alexanderroman  bei  den 
Kopten  €  (Petersburg  1903)  nach  9  Blättern  einer  Handschrift  heraus- 
gegeben hat,  von  welchen  sich  6  in  Paris,  2  in  Berlin,  1  in  London 
befinden,  und  daß  Crum  für  seine  Ausgabe  der  koptischen  Kanones 


580  Gdti  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

des  Athanasius,  die  ich  in  dieser  Zeitschrift  1905,  S.  352  angezeigt 
habe,  sich  die  Fragmente  seiner  beiden  Handschriften  aus  London, 
Cheltenham,  Neapel  und  Wien  hat  zusammensuchen  müssen. 

Unter  diesen  Umständen  ist  Crums  großer  Katalog  der  kopti- 
schen Handschriften  des  British  Museum  mit  doppelter  Freude  will- 
kommen zu  heißen.  Er  ist  eine  ganz  vorztigliche  Arbeit  und  stellt 
sich  dem  berühmten  Werke  Zoegas  würdig  zur  Seite.  Er  erfüllt  nicht 
nur  die  Anforderungen,  die  man  gewöhnlich  an  einen  Handschriften- 
katalog zu  stellen  pflegt,  sondern  leistet  noch  erheblich  mehr.  Wie 
Zoega,  hat  auch  Crum  viele  Stücke  aus  seinen  Handschriften  ganz 
abgedruckt  oder  kollationiert,  was  gerade  hier  sehr  praktisch  war, 
da  es  sich  vielfach  um  kleine  Fragmente  handelt,  welche  sonst  nicht 
so  leicht  einen  Herausgeber  finden  würden.  Ferner  hat  Crum,  wie 
Zoega,  der  Paläographie  große  Aufmerksamkeit  geschenkt,  überall 
auf  die  von  Zoega,  Hyvernat,  Ciasca  u.  a.  veröffentlichten  Schriftproben 
verwiesen,  welche  denselben  oder  einen  ähnlichen  Duktus  zeigen,  wie 
die  Londoner  Handschriften,  und  selbst  15  ausgezeichnete  Tafeln  mit 
Proben  aus  55  Handschriften  hinzugefügt;  diese  Proben  sind  haupt- 
sächlich den  Papyri  entnommen,  von  denen  wir  bisher  nur  wenige 
Reproduktionen  besaßen,  und  beschränken  sich  nicht  auf  die  Buch- 
schrift, sondern  geben  auch  manche  interessante  Beispiele  für  die 
koptische  Kursive,  welche  in  älterer  Zeit  naturgemäß  ebenso  große 
Aehnlichkeit  mit  der  gleichzeitigen  griechischen  Kursive  zeigt,  wie 
die  koptische  Buchschrift  mit  der  gleichzeitigen  griechischen  Bach- 
schrift. Endlich  hat  sich  Crum  ein  besonderes  Verdienst  noch  da- 
durch erworben,  daß  er  außer  der  Londoner  auch  die  meisten  übrigen 
Sammlungen  koptischer  Handschriften  durchforscht  und  in  ihnen  viele 
Blätter  nachgewiesen  hat,  welche  mit  den  Londoner  Fragmenten  ur- 
sprünglich zu  denselben  Handschriften  zusammengehörten. 

Crums  Katalog  umfaßt  1252  Nummern.  Diese  Zahl  ist  aller- 
dings etwas  größer,  als  die  wirkliche  Zahl  der  Fragmente.  Crum  hat 
nämlich  in  dem  ältesten  Teile  seines  Kataloges,  dessen  Druck  etwas 
voreilig  schon  im  Jahre  1895  begonnen  worden  ist,  bei  der  Katalogi- 
sierung der  sahidischen  Bibelfragmente  die  Reihenfolge  der  biblischen 
Bücher  möglichst  innezuhalten  gesucht  und  daher  Fragmente  von 
Lektionarien,  welche  Stücke  aus  verschiedenen  Teilen  der  Bibel  ent- 
halten, unter  mehreren  Nummern  behandelt.  So  stellen  z.B.  Nr.  1. 
18.  41.  44  zusammen  nur  ein  einziges  Blatt  eines  Lektionars  dar, 
und  zu  diesem  selben  Lektionar  gehört  auch  noch  das  Fragment  eines 
anderen  Blattes,  welches  als  Nr.  20  aufgeführt  ist.  So  gehören  femer 
z.B.  Nr.  6.  21.  45.  50.  56  und  Nr.  8.  19.  57.  59  zusammen,  und  zur 
letzteren  Serie  gehören  auch  noch  die  Blätter,  welche  nachträglich 


Crom,  Catalogae  of  the  Coptic  m&noscripts  in  the  Brit.  Mas.  581 

gefunden  und  dann  im  Supplement  unter  Nn  954  beschrieben  sind. 
Später  hat  Grum  diese  Zerstückelung  mit  Recht  aufgegeben,  wie 
überhaupt  der  Plan  des  Werkes  im  Laufe  der  Zeit  mehrere  kleine 
Verbesserungen  erfahren  hat. 

Der  Katalog  zerfällt  in  2  Teile:  den  Hauptteil,  welcher  931, 
und  das  Supplement,  welches  321  Nummern  umfaßt.  Auf  die  ein- 
zelnen Dialekte  verteilen  sich  diese  Nummern  so: 

Hauptteil  Supplement  Summe 

Sahidisch   ...  Nr.      1—491        Nr.   932—1220  780 

Achmimisch  .  .     >  492         >     1223.  1224  3 

Mittelägyptisch    >    493—711         >     1221.  1222  242 

1225—1244.  1252 
Bohairisch    .  .     >     712—931         »     1245—1251  227. 

Das  Sahidische  überwiegt  also  nach  der  Zahl  der  Nummern  weit. 
Sieht  man  aber  auf  den  Umfang  der  Stücke,  so  steht  doch,  wie  ge- 
wöhnlich, das  Bohairische,  welches  ja  die  übrigen  Dialekte  überlebt 
und  verdrängt  hat,  an  der  Spitze,  da  unter  den  bohairischen  Hand- 
schriften manche  umfangreichen  Bände  sind,  während  die  Stücke  in 
anderen  Dialekten  mit  wenigen  Ausnahmen  nur  geringen  Umfang 
haben,  ja  in  der  Regel  nur  aus  einem  einzigen  Blatte  bestehen. 

Auch  hinsichtlich  des  Alters  der  Handschriften  zeigt  sich  das 
übliche  Verhältnis  der  Dialekte  zueinander.  Man  sieht  das  schon 
an  dem  benutzten  Schreibstoff.  Während  die  sahidischen,  achmimi- 
schen und  mittelägyptischen  Handschriften  meistens  auf  Papyrus  und 
Pergament  geschrieben  sind,  finden  sich  unter  den  bohairischen  nur 
3  Papyrushandschriften  (Nr.  739  [Schriftprobe  auf  Tafel  11].  1245. 
1251)  und  18  Pergamenthandschriften  (Nr.  719.  722.  730.  740.  750. 
753.  760—762.  911—919),  während  alle  übrigen  auf  Papier  ge- 
schrieben sind. 

Nach  dem  Inhalt  unterscheidet  Crum  folgende  Rubriken  (die 
Zahlen  geben  die  Summen  der  Nummern  Crums): 

Sahid.    Achmim.    Mitteläg.    Bohair. 

Bibel 180         1  19  79 

Liturgie 28  10         125 

Kirchenrecht 10 

Exegese,  Predigten 128  5 

Biographie,  Geschichte  ...      94  4 

Philologisches 14 

Zaubertexte,  Gnostisches .  .      12         2  9 

Rechtsurkunden  u.  dgl. ...    180  54 

Briefe 139  148 

Verschiedenes 9  2 


582  Gott.  gd.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Während  das  Bohairiscbe  nur  literarische  Werke  aufweist,  finden  sich 
unter  den  sahidischen  und  mittelägyptischen  Stücken  viele  nichtlite- 
rarische Urkunden,  welche  für  die  Kenntnis  des  Lebens  der  Kopten 
und  wegen  ihrer  häufigen  genauen  Datierung  auch  für  die  Paläo- 
graphie  von  Wichtigkeit  sind. 

Was  der  Katalog  im  einzelnen  alles  bringt,  läßt  sich  natürlich 
im  Raum  einer  Anzeige  nicht  vollständig  darlegen.  Ich  greife,  nm 
seine  Bedeutung  an  einem  Beispiele  klarzulegen,  die  sahidischen 
Bibelhandschriften  heraus,  da  diese  meinem  speziellen  Ar- 
beitsgebiet angehören. 

Schon  ihre  Zahl  ist  recht  beträchtlich.  Das  zeigt  sich  z.  B.  beim 
Psalter.  In  meiner  Ausgabe  der  Berliner  Handschrift  des  sahidischen 
Psalters  (Abh.  d.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Gott,  Phil.-hist.  Kl.,  Neue  Folge  IV  4) 
habe  ich  auf  S.  5—8  die  Zeugen  für  den  Text  des  sahidischen  Psal- 
ters so  vollständig,  wie  mir  möglich  war,  zusammengestellt.  Durch 
Crums  Katalog  kommt  aber  eine  große  Zahl  neuer  Bruchstücke 
hinzu,  nämlich 

1)  Psalterhandschriften 
(sämtlich  auf  Pergament,  nur  Nr.  950  auf  Papyrus) : 

25  +  942:  ein  vollständiges  Blatt  und  drei  Bruchstücke  aus  einem 
grieclusch-koptischen  Psalter,  enthaltend  Ps.  982— 10s.  29is— 30s. 
48i2— 18.  II818— 24  des  koptischen  und  die  darauf  folgenden 
Verse  des  griechischen  Textes  (der  griechische  Text  stand 
in  dem  aufgeschlagenen  Buche  auf  der  linken,  der  kop- 
tische auf  der  rechten  Seite,  also  jener  auf  dem  Verso,  dieser 
auf  dem  Recto;  in  Crums  Beschreibung  von  Nr.  942  sind 
Verso  und  Recto  irrtümlich  verwechselt) 

26:  Teil  eines  Blattes,  Ps.  198—208.  20i8— 21io 

29:  ein  einzelnes  Blatt  und  zwei  Doppelblätter,  Ps.  278~28ii. 
844-8816 

30:  ein  sehr  kleines  Bruchstück,  Ps.  6722—24 

34:  Teil  eines  Blattes,  Ps.  10829-1098.  1096-1104 

35:  ein  fast  vollständiges  Blatt,  Ps.  11 84— 86 

36:  ein   Blatt,    das    vielleicht    zum    cod.    Borgian.    XX    gehört, 

Ps.    11887—06 

37:  Teil  eines  Blattes,  Ps.  1248-1252.  I262-6 

38 :  Bruchstück  eines  Blattes  aus  der  von  Lagarde  herausgegebenen 

Handschrift  >Z<,  fast  ganz  unleserlich  (aus  Ps.  129 — 131) 
941 :  Bruchstücke  von  21  Blättern  mit  Teilen  von  Ps.  30.  37—41. 
44—47.    Diese  Handschrift  hat  ein  sehr  kleines  Format  (etwa 


Crom,  Catalogue  of  the  coptic  manuscripts  in  the  Brit  Mus.  683 

9x7 cm);   ähnlich  klein,   z.T.  noch   kleiner  sind  Nr.   943. 

946-948  0 
943:  ein  Doppelblatt,  Ps.  3U-7.  32i7— 33i 
944:  zwei  kleine  Bruchstücke  aus  Ps.  44.  48 
945:  Bruchstücke  eines  Doppelblattes,  Ps.  61io— 626.  645—603 
946:  drei  Bruchstücke,  Ps.  1054-io.  145io— 146»  und  ein  nicht  iden- 
tifizierter Abschnitt 
947:  Bruchstücke  eines  Doppelblattes,  Ps.  IO69— is.  IO818.14. 16.17.19 
948:  ein  Doppelblatt,  Ps.  113i8~1147.  II861— 77 
949:  ein  kleines  Bruchstück,  Ps.  1328—1332.  1346.6 
950:  die  vier  letzten  Blätter  eines  Papyrusbuches  mit  Ps.  1484—151 
und  der  Unterschrift,  in  der  sich  der  Schreiber  leider  nur  als 
>  diesen  elenden  Sünder  <  bezeichnet. 

2)  Lektionare 
(sämtlich  auf  Pergament,  nur  Nr.  31  auf  Papier) : 
27:  ein  Blatt,  Ps.  82-10.  148i8-1492 
28:  Teil  eines  Blattes,  Ps.  17i6-8o.  266 
31:  Teil  eines  Blattes,  Ps.  6818.  II8180.181 
33:  ein  Blatt,  Ps.  82i8— le 
95 :  ein  Bruchstück,  Ps.  1435— 10  (in  den  Additions  and  Corrections 

S.  517) 
953:  Teile  eines  Doppelblattes,  Ps.  85i5  u.a. 

3)  Sonstiges 

(sämtlich  auf  Papyrus): 

24:  18  Blätter  eines  Papyrusbuches,  Auszüge  aus  den  Psalmen  (aus 

Ps.  5.  104.  110—114.  118.  119.  122.  135).   Modernes  Machwerk 

mit  äußerst  ungeschickter  Schrift  (Schriftprobe  auf  Taf.  10) 

und  vielen  Fehlem,  aber  auf  eine  alte  Vorlage  zurückgehend 

32:  ein  Brief  (=  Nr.  656),  auf  dessen  leere  Rückseite  Ps.  73i-8 

geschrieben  ist 
955 :  6  Blätter  kleinsten  Formats  (etwa  7x77«  cm)  mit  Versen 
aus  den  Psalmen  und  Matthäus,  Ps.  34—47.  1821.82. 
Auch  finden  sich  in  den  übrigen  von  Crum  katalogisierten  Werken 
manche  Zitate  aus  den  Psalmen,  welche  er  in  dankenswerter  Weise 
in  dem  »Index  of  biblical  passages  quoted  or  referred  to<  S.  532 
zusammengestellt  hat. 

1)  y%\.  auch  die  acbmimische  Handschrift  Nr.  492  (etwa  10  x  8  cm),  von 
der  eine  Seite  etwas  verkleinert  in  Crums  »Coptic  Manuscripts  brought  from  the 
Fayyum  by  Flinders  Petrie«  (London  1893),  PI.  1  abgebildet  ist.  Zu  solchen  Mi- 
niaturhandschriften wurden  vermutlich  PergamentabfäUe  benutzt.  Doch  kommt 
auch  ein  sehr  kleines  Papynisbuch  vor :  Nr.  955,  nur  etwa  7  x  7V2  cm  messend. 


584  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  7 

Durch  diese  neuen  Zeugen  wird  unser  textkritischer  Apparat  zum 
sahidischen  Psalter  oft  in  sehr  erwünschter  Weise  bereichert.  Z.B. 
haben  wir  fiir  den  größten  Teil  des  langen  118.  (hebr.  119.)  Psalms 
bisher  den  von  Budge  herausgegebenen  Londoner  Papyruspsalter  (bei 
Crum  Nr.  940)  als  einzigen  Zeugen;  nur  in  >Gol.<  war  noch  ein  längerer 
Abschnitt  (v.  152 — 176)  erhalten,  sonst  blos  wenige  vereinzelte  Verse  ^). 
Die  Grumschen  Handschriften  aber  liefern  uns  folgende  Verse: 

Nr.  35:  v.  4—36 
»  25:  »  13—24 
>  36:  >  37—66 
>948:    >  61—77  (schwer  lesbar). 

Außerdem  bietet  die  moderne,  aber  auf  alter  Grundlage  beruhende 
Nr.  24  V.  1—16.  18—45.  71—87  und  Nr.  31  v.  130.  131  »but  not 
the  exact  text«.  Ob  diese  Handschriften  wesentliche  Verbesserungen 
des  Textes  bringen  werden,  ist  allerdings  fraglich;  in  zwei  Fallen 
sind  sie  dem  Budgeschen  Texte  gegenüber  entschieden  im  Unrecht: 
Nr.  25.  35  schreiben  den  3.  Buchstaben  des  hebräischen  Alphabets 
rijüi*.  statt  rijüi*.A,  Nr.  36  den  6.  Buchstaben  t*^t  statt  oy^y.  Doch 
bestätigt  Nr.  36  den  Budgeschen  Text  in  der  Stellung  des  6.  Buch- 
staben vor  y.  40^  statt  vor  v.  41 ;  diese  Umstellung  ist  dadurch  ver- 
anlaßt, daß  im  Koptischen  v.  41  durch  seine  Konstruktion  aufs  engste 
mit  V.  40^  zusammenhängt. 

Unter  den  übrigen  sahidischen  Bibelhandschriften  bringt  nament- 
lich Nr.  12  eine  außerordentliche  Bereicherung  unserer  Kenntnis  der 
sahidischen  Bibelübersetzung.  Nr.  12  ist  nämlich  eine  ziemlich  voll- 
ständige Handschrift  der  Bücher  Josua,  Richter,  Ruth,  Judith,  Esther, 
von  denen  wir  bisher  nur  wenig  oder  gar  nichts  kennen.  Leider  ist 
sie  aber  ein  Palimpsest  mit  oberer  syrischer  Schrift  und  daher  außer- 
ordentlich schwer  zu  lesen,  und  es  war  gewiß  schon  eine  tüchtige 
Arbeit,  den  Inhalt  der  187  Blätter  so  zu  bestimmen,  wie  Crum  ge- 
tan hat,  und  aus  den  in  dem  syrischen  Buche  natürlich  bunt  durch- 
einander gewürfelten  Blättern  das  ursprüngliche  koptische  Buch  zu 
rekonstruieren.  Interessant  ist  die  Zusammenstellung  der  Bücher 
Ruth,  Judith  und  Esther,  welche  absolut  feststeht,  da  Judith  und 
Esther  auf  denselben  Blättern  anfangen,  auf  welchen  Ruth  und  Ju- 
dith endigen;  Crum  vergleicht  treffend  das  > Frauenbuch <  der  jako- 
bitischen  Syrer. 

Außerdem  hat  besonders  Nr.  951  größeren  Umfang.  Es  ist  ein 
stark  fragmentarisches  Papyrusbuch,  welches  ursprünglich  wohl  die 

1)  Ob   die  noch  nicht  veröffentlichte  Wiener  Papyrushs.  »Wc   (vgL 
Ausgabe  des  Berliner  Psalters  S.  6)  den  118.  Psahn  enthklt,  ist  nicht  bekannt. 


Cram,  Catalogue  of  the  coptic  manuscripts  in  the  Brit.  Mas.  585 

Weisheitsschriften  vollständig  enthielt.  Jetzt  ist  vom  Buche  Hieb 
nur  noch  ein  kleines  Fragment  vorhanden,  größere  Stücke  dagegen 
von  den  übrigen  Büchern:  Spr.,  Pred.,  Hohesl.,  Weish.,  Sir.  (im  ganzen 
62  größere  und  viele  kleine,  nicht  identifizierte  Fragmente).  Crum 
druckt  die  leider  recht  lückenhaften  Ueberreste  des  mit  Ausnahme 
des  Schlusses  bisher  noch  unbekannten  Prologs  zum  Buche  Sirach 
ab.    Eine  Schriftprobe  findet  sich  auf  Taf.  9. 

Für  die  Kritik  des  sahidischen  Bibeltextes  liefern  Nr. 
932  und  939  nicht  unwichtige  Ergebnisse. 

Nr.  932  ist,  wie  die  Schrift  und  das  altsahidische  nl&  statt  a&H 
(vgl.  unten)  beweist,  eine  recht  alte  Handschrift.  Der  von  Crum 
ganz  abgedruckte  Text^)  umfaßt  Gen.  3i6— 44  (mit  einer  Lücke 
zwischen  3i9  und  22).  Oen.  3i6— 24  findet  sich  auch  bei  Ciasca;  er  hat 
es  aus  dem  jungen  koptisch-arabischen  Lektionar  cod.  Borg.  IG,  von 
dessen  Bibeltext  er  selbst  Bd.  I,  S.  XXVIII  sagt:  >haud  est  satis  ad- 
curatus;  omissiones  vel  additiones  et  quandoque  errores  frequentiores 
occurrunt  quam  in  ceteris  codicibus<  (als  Beispiel  dafür  nennt  Giasca 
auch  Gen.  Si?).  Giascas  Text  weicht  mehrmals  in  auffälliger  Weise 
vom  Griechischen  ab,  Grums  Text  aber  >  differs  frequently  from  that 
published  by  Giasca <  und  stimmt  regelmäßig  mit  dem  Griechischen 
überein,  z.  B.  hat  er  gleich  in  Gen.  3i6  fen  ox]Tr*.igo  ^-n^.^^.ogo 
nno^AfiUf  nSk  noY«i.a9«i.^OA&  gii  ^enAynH  cpcTino  nttorogHpe  =:  irXii]- 
*6vö>v  9cX'y]dov(o  ta^  X6ira^  000  xal  töv  otevaYiiöv  000  •  Iv  XGiratg  t^Sig 
tixva  statt  des  Giascaschen  gn  0^*^3*^2^0*1  eic^«.ogo  nnoTfAynH  epe- 
sno  nnof  ^Hpe  gn  ot*'3*'20jul  jüm  o«f  Ai.R«i.g^  n^HT,  was  griechisch  etwa 
lauten  würde  4v  0T6vaY|i<j)  ÄXY]ftov<b  tag  Xöica^  000  •  t^Stq  T^xva  äv 
ot8va7{i(^  xal  X6inQ.  Daß  die  Londoner  Handschrift  gegen  die  borgi- 
anische  das  Richtige  bietet,  versteht  sich  nach  der  ganzen  Sachlage 
von  selbst.  Wir  sehen  also,  wie  sehr  Giasca  mit  seinem  Urteil  über  den 
cod.  Borg.  IG  recht  hat.  Borg.  IG  ist  ein  völlig  unzuverlässiger 
Zeuge,  und  Stücke  der  sahidischen  Bibelübersetzung,  die  nur  durch 
ihn  bekannt  sind,  müssen  als  so  gut  wie  unbekannt  gelten. 

Nr.  939  umfaßt  17  Papyrusblätter  mit  Fragmenten  aus  Hieb 
1—5. 

Von  der  sahidischen  Uebersetzung  des  Buches  Hieb  gibt  es  nach 
Giascas  eingehender  Untersuchung  (Bd.  II,  S.  XVIII  ff.)  zwei  ver- 
schiedene Formen.  Die  ältere  Form,  welche  Giasca  herausgegeben 
hat,  ist  hauptsächlich  durch  den  cod.  Borg.  XXIV  überliefert,  welcher 
fast  das  ganze  Buch  Hieb  enthält;  kleinere  Stücke  derselben  finden 
sich  in  drei  anderen  borgianischen  Handschriften.  Sie  ist  besonders 
interessant,  weil  sie  den  vorhexaplarischen  Septuagintatext  wiedergibt, 

1)  In  Qen.  82«  ist  [ne]«  statt  [noj'x  zu  ergänzen. 


580  Gott.  gel.  A  DZ.  1906.  Nr.  7 

der  um  fast  400  Stichen  kürzer  war,  als  der  hebräische  und  der  ?oi 
Origenes  bearbeitete  griechische  Text.  Die  jüngere  Form  der  üeber- 
setzung  wird  nur  durch  ein  kurzes  Oxforder  Fragment  repiSaentieri; 
hier  sind  die  hexaplarischen  Zusätze  in  den  sahidischen  Text  aufge- 
nommen. 

Welche  Stellung  nimmt  nun  Grums  Papyrushandschrift  Nr.  939 
einV  Crum  fUhrt  vier  charakteristische  Lesarten  aus  ihr  an  nod 
kommt,  da  Nr.  939  nur  in  einem  einzigen  Falle  mit  dem  Ciascascheo 
Texte  Übereinstimmt,  zu  dem  Schlüsse:  »It  would  appear  therefor« 
not  to  bear  the  pre-Origenistic  character  claimed  for  Ciasi^'3  Ter- 
8ion<.  Sehen  wir  uns  nun  diese  vier  Stellen  einmal  etwas  ge- 
nauer an! 

lift  xal  Too^  iraiSa^  aTc^xteivav  iv  (laxoctpoitc  fehlt  bei  Ciasca,  ist 
aber  in  Nr.  939  vorhanden.  Da  der  kürzere  Text  in  der  Regel  der 
ursprüngliche  ist,  könnte  man  allerdings  Nr.  939  fur  hexaplarittk 
beeinflußt  halten.  Indessen  erleidet  die  Regel  hier  doch  eine  Aus- 
nahme, denn  das  Fehlen  dieser  Worte  wird  durch  die  übrige  heu- 
plarische  Ueberlieferung  nicht  bestätigt,  weshalb  schon  Ciasca  II, 
S.  XXXlll  einen  zuralligen  Ausfall  der  Worte  in  der  einzigen,  hier 
zugrunde  liegenden,  koptischen  Handschrift,  dem  cod.  Borg.  XXIV, 
annahm.  Nr.  939  beweist  die  Richtigkeit  dieser  Annahme  Giascaa 
Von  Beeinflussung  des  längeren  Textes  durch  die  Hexapla  kui 
keine  Rede  sein. 

2i  irapaotf^vai  svavttov  tot>  xopioo  (2^)  fehlt  in  Nr.  939,  wie  bei 
Ciasca.  Es  ist  auch  nach  der  übrigen  Tradition  erst  von  OrigeM 
hinzugefügt. 

2it  hat  Ciasca  ^nnd  sie  strcutefi  Di-eck  auf  ihren  K0pf€  ss  lati 
xara;;aoi|uvot  iff^v  kzi  tsc  xs^ aXoc  ai>twv.  Nr.  939  aber  hat  nach 
Crums  gewiß  richtiger  Herstellung  des  lückenhaften  Textes  »wul  ^ 
streuten  Drrtk  twf  $ich<  M.  Diese  Variante  scheint  auf  den  «sUi 
Blick  unbedeutend.  Bedenkt  man  aber«  daß  die  STro-hexa|iIariacke 
Veborsetzung  sxi  cac  xs^xxac  sotwv  sie  t&v  odparydv  nur  am  Baade 
sub  asterisco  aus  Theodotion  hat.  und  daC  auch  die  ältesten  griechi- 
schen Handschriften  diese  Worte  ganz  auslassen,  während  die  juBgeici 
tri  ti>  x^aXa^  x'jtmv  (ohne  das  folgende  sU  tftv  oopxvdv)  iE  da 
Text  aufnehmen,  so  wird  man  nicht  zweifeln  können,  dafi  auch  Kr. 
93^)  blos  XXI  xAtxxxsiu^voi  vf^v  voraussetzt,  und  dafi  >avf  «tdbc  Miß- 
lich eine  Wieiiergabe  des  Mediums  sein  soll.  Also  wacht  Kr.  939 
hier  zwar  von  Ciasca  ab.   bietet   aber  gerade  den  nrsprni^Aea 

X«'if»r«,  A^^er  liiere  iiruT)aV«^i<%n2n£  ist  dem  kopüsctei 
mehr  lebendig  heiri;^;  gewesen. 


Cram,  Catalogue  of  the  Coptic  manuscripts  in  the  Brit.  Mns.  587 

Septuagintatext,  während  der  von  Giasca  herausgegebene  cod.  Borg. 
X^V  schon  den  hexaplarischen  Zusatz  iiA  tac  xe^aXa«;  akc^v  aufge- 
nommen hat. 

3i8  ist  bei  Giasca  zusammengezogen,  Nr.  939  dagegen  »follows 
the  LXX<.  Ueber  eine  Aenderung  des  ursprünglichen  Textes  durch 
Origenes  ist  hier,  wie  in  li6,  nichts  überliefert.  Also  ist  der  kürzere 
Text  auch  hier  nicht  alt,  sondern  verstümmelt,  weshalb  ihn  auch 
Giasca  nicht  in  seine  Liste  der  alten  Auslassungen  (S.  XXIII)  aufge- 
nommen hat. 

Wir  sehen  also:  Die  Ueberschüsse,  welche  Nr.  939  in  lis  3i8 
über  den  Giascaschen  Text  hinaus  hat,  können  nicht  als  Beweis  für  Ab- 
hängigkeit von  der  Hexapla  verwendet  werden,  vielmehr  ist  der  Text 
der  von  Giasca  abgedruckten  Handschrift  hier  nur  zufällig  ver- 
stümmelt. Umgekehrt  darf  aber  das  Minus,  welches  Nr.  939  gegen 
Giasca  in  2i2  aufweist,  als  starker  Beweis  für  die  Ursprünglichkeit 
von  Nr.  939  gelten,  und  gerade  Giascas  Text  ist  hier  von  der  Hexapla 
beeinflußt.  Nr.  939  ist  also  nicht,  wie  Grum  anzunehmen  geneigt  war, 
weniger  ursprünglich,  als  Giascas  Text,  sondern  im  Gegenteil  noch 
ursprünglicher  und  noch  freier  von  hexaplarischen  Einflüssen,  und 
gerade  Giascas  Text  stellt  sich  als  nicht  ganz  so  vorhexaplarisch 
heraus,  wie  Giasca  annahm^). 

Für  die  koptische  Grammatik  notiert  Grum  aus  seinen 
sahidischen  Bibelhandschriften  folgendes. 

Die  nur  in  alter  Zeit  vorkommende  Assimilation  von  n  mit 
einer  folgenden  > Liquida«  (vgl.  meine  Ausgabe  des  Berliner  Psalters 
S.  36)  findet  sich  in  Nr.  935:  6a«.^«.Aiai  Sam.  I12io.  Nr.  935  zeigt 
eine  sehr  alte  Schrift,  ähnlich  der  des  von  mir  herausgegebenen 
Berliner  Psalters;  leider  ist  es  nur  ein  sehr  kleines  Fragment  mit 
blos  vier  Versen  aus  Sam.  112. 

Das  gleichfalls  altsahidische  nü  statt  aiR  (vgl.  ebenda  S.  45) 
findet  sich  in  Nr.  132  +  135  +  137,  drei  Blättern,  welche  Teile  von 
Philipp.,  Thess.  II,  Tim.  I  enthalten  und  auch  einen  sehr  alten 
Duktus  zeigen  (Schriftprobe  bei  Kenyon,  Our  Bible  and  the  old  MSS., 
2.  ed.,  Lond.  1896,  pi.  XVII.  Nestle,  Einführung  in  das  Griechische 
N.T.,  Taf.  8;  vgl.  meine  Ausgabe  des  Berliner  Psalters  S.  13  Anm.  3). 
nSL  kommt  auch  zweimal  in  dem  oben  besprochenen,  alten  Genesis- 
fragment Nr.  932  vor  (Gen.  3i6.22,  daneben  aber  aiH  3i8). 

1)  Aehnlich  urteUte  über  Giascas  Text  schon  Barkitt  in  dem  von  Grum 
zitierten  Artikel  »Text  and  Versions«  in  der  Encyclopaedia  Biblica  Kol.  ß027. 
Seine  Annahme,  da£  der  vom  Sahiden  übersetzte  Text  geradezu  aus  der  Hexapla 
exzerpiert  sei  unter  Weglassang  der  sab  asterisco  stehenden  Zosätze,  scheint  mir 
jedoch  verfehlt. 


588  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Beide  Erscheinungen,  die  Assimilation  von  n  und  njüL,  finden 
sich  außerdem  in  der  von  Ooussen  (Studia  theologica  I)  nach  einer 
Abschrift  Crums  herausgegebenen,  recht  alten  Handschrift  der  Offen- 
barung Johannis  (Grum  Nr.  142)  und  in  dem  bereits  erwähnten  mo- 
dernen Papyrusbuche  Nr.  24,  woraus  Grum  mit  Recht  schließt,  daß 
dieses  auf  eine  alte  Vorlage  zurückgeht. 

Als  orthographische  Eigentümlichkeit  notiert  Grum  das  in  Nr. 
964  (Schluß  des  Kömer-  und  Anfang  des  1.  Korinther-Briefs)  häufig 
vorkommende  -rHOTrrn  mit  oy  statt  y  (Parallelen  dazu  s.  in  meiner 
Ausgabe  des  Berliner  Psalters  S.  32).  Die  Schrift  des  Fragments 
zeigt  Aehnlichkeit  mit  der  Schrift  der  griechischen  Bibelhandschriften 
BS,  also  ist  es  sehr  alt. 

Ein  neues  Wort  konmit  in  der  etwas  jüngeren  Handschrift  Nr. 
934  (Deut.  2l8— 15)  vor:  -rjuiccTHnr  =  i^  jiiooojt^  Deut.  21i6.  Wie 
mir  Grum  auf  meine  Anfrage  mitteilte,  ist  der  letzte  Buchstabe  zwar 
verstümmelt  und  dahinter  ein  Loch,  in  welchem  ein  Buchstabe  aus- 
gefallen ist,  trotzdem  scheint  die  Lesung  völlig  sicher^).  Grum 
möchte  aicc^h^  aus  dem  altägyptischen  femininischen  Partizipium 
ni4dd4  ^Gehaßte  (Nebenfrau) <  ableiten.  Nach  Sethe  sollte  man  dann 
aber  Aiecnru^e  erwarten.  Seine  eigene  Ansicht  hat  mir  Sethe  in 
folgender  Weise  formuliert:  »Die  Form  Aiec^H-r  >gehaßU  könnte 
ihrem  Konsonantenbestande  und  der  Stelle  des  Vokals  nach  wohl 
eine  alte  maskulinische  (nicht  femininische)  Form  des  imperfektiscben 
Participium  passivi  sein.  Als  solche  würde  sie  aber  ganz  vereinzelt 
stehen.  Näher  liegt  es,  in  ihr  eine  Adjektivbildung  auf  hi  zu  sehen, 
wie  c^TAJLH^r  ^gehor8am<y  h^mtv  >miÜeidig€,  opuHT*  und  boh.  ccrflkirr 
:^ehrbar<,  ^«^Ak^  >VogeU  (eig.  yfliegend^).  Wie  die  meisten  dieser 
Formen,  würde  sie  als  eine  sekundäre  Analogiebildung  zu  betrachten 
sein  und  von  dem  Infinitiv  A&ec^e-,  Aiec^oi»  abgeleitet  sein  müssen. 
Auch  das  parallele  Aicpi^x  >geliebt€  ist  ja  kein  altes  Partizip,  sondern 
eine  Adjektivbildung  auf  i*r  (wie  ngüngi^  »XsitoopYdc«)  und  zwar  das 
altägyptische  fnrjtj.€ 

Man  sieht,  daß  schon  bei  den  sahidischen  Bibeltexten  allerlei 
interessante  Ergebnisse  herauskommen,  und  doch  behandelt  Grum 
dieselben  nur  relativ  kurz,  da  es  sich  bei  ihnen  meistens  um  ander- 

1)  Der  Zusammenhang  heißt  nach  Grams  freundlicher  MitteUung:  ^ym 
ncejüiice  n*.q  Rtchtc  TjütepiT  ^ym  tjülcctht  aar  xol  tixaoiv  ahr^  ^ 
i^yaTCTjfjkivT]  xal  ilj  fjiiaoufiivT)  (im  Koptischen  ist  vor  1I)  i^^an.  »betde«  hinzugefügt;  ii*rcil^e 
entspricht  dem  mask.  Mnecn«.^  Stern  §  496  Ende).  Dann  kommt  die  Lücke,  und 
darauf  folgt  ^veoy,  wir  haben  also  zweifeUos  einen  mit  n*re  beginnenden  Satz.  Im 
folgenden  sind  viele  Buchstaben  nicht  sicher  zu  lesen,  wahrscheinlich  heißt  es: 
irre  crfngHpe  n^g  pnILuice  fgoine  HnrAiecTHT-  &ss  xal  •(hr^zai  M^  icp^oxöroxoc 
Ti]c  fAiaoufju(vi]c. 


Cnim,  Catalogue  of  the  coptie  manoscripts  in  the  Brit.  Mas.  589 

weit  bereits  bekannte  Texte  handelt.  Hiernach  wird  man  sich  einen 
Begriff  davon  machen  können,  wie  viel  Neues  der  Katalog  überhaupt 
bietet.  Für  jeden,  der  sich  eingehender  mit  der  koptischen  Literatur 
beschäftigt,  wird  er  ein  unentbehrliches  Hülfsmittel  bilden.  Die  Be- 
nutzung des  Katalogs  wird  durch  acht  Indices,  die  zusammen  nicht 
weniger  als  100  Seiten  einnehmen,  erheblich  erleichtert;  auch  ist 
eine  gediegene  Einleitung  voraufgeschickt,  welche  über  die  Haupt- 
fundstätten der  Fragmente,  über  die  Herstellung  und  äußere  Ein- 
richtung der  Handschriften  und  über  ihre  Datierung  handelt.  Man 
kann  nur  wünschen,  daß  die  übrigen  koptischen  Sammlungen,  über 
die  uns  Grum  schon  allerlei  mitteilt,  bald  mit  ebenso  viel  Liebe  und 
Sorgfalt  katalogisiert  werden  mögen. 

Göttingen  Alfred  Rahlfs 


Georg  Graf,  Der  Sprachgebrauch  der  ältesten  christlich-ara- 
bischen Literatur,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Vulgär-Arabisch. 
Leipzig,  0.  Harrassowitz,  1905.   Vni,  124  S.   Mk.  7. 

Als  Bausteine  zu  einer  künftigen  historischen  Grammatik  des 
Arabischen  und  zu  einem  Thesaurus  linguae  Arabicae  bietet  Graf 
eine  Untersuchung  über  Grammatik  und  Wortschatz  der  ältesten 
christlich-arabischen  Literatur.  Darunter  versteht  er  wie  in  seiner 
literar-historischen  Skizze  (Straßburger  theolog.  Stud.  VH.  Bd.  1.  Heft) 
das  Schrifttum  bis  zur  fränkischen  Zeit,  d.  h.  bis  zum  Ende  des  11. 
Jahrh.  Er  hat  sich  dabei  hauptsächlich  auf  die  bisher  gedruckten 
Bibelübersetzungen  aus  Syrien  und  Palästina  beschränkt.  Von  einer 
Benutzung  der  Homilien  des  Theodor  Aba  Qurra  nach  der  Ausgabe 
des  P.  Anastasius  Bä§ä  (Bairut  1904)  und  der  Chronik  des  Sa'id  b. 
al-Batriq  nach  Pocockes  Ausgabe  glaubte  er  absehn  zu  müssen,  weil 
diese  beiden  Ausgaben  die  Texte  nach  den  Regeln  der  klassischen 
Grammatik  zugestutzt  haben.  Warum  er  aber  nicht  wenigstens 
v.  Rosens  sorgfältige  Auszüge  aus  dem  Werke  von  Sa*ids  Fortsetzer 
Jahjä  von  Antiochia  (Zap.  imp.  ak.  Nauk  Bd.  44, 1)  ausgebeutet  hat, 
ist  nicht  abzusehn.  Dagegen  wäre  es  zweckmäßiger  gewesen,  die 
spanisch-arabische  Evangelienübersetzung  bei  Seite  zu  lassen.  Wenn 
Graf  meint,  daß  der  etwaige  Vorwurf  > einer  gewaltsamen,  durch 
nichts  motivierten  Zusammenwerfung  dieses  magribinischen  mit  den 
morgenländischen  Texten  <  durch  die  Resultate  seiner  Untersuchung 
widerlegt  sei,  so  erklärt  sich  das  nur  daraus,  daß  er  seine  Unter- 
suchung nicht  gründlich  genug  geführt  hat.  Was  er  über  diesen  Text 
bietet,  ist  schon  durch  die  sorgfältige  Arb*^-*^  ^'>mers  in  seiner  Diss. 
(Der  Codex  Arabicus  Monacensis  Aumer  238,  i^c  pzig,  1905)  und  ihrer 

G«U.  goL  Ans.  1906.  Nr.  7.  41 


590  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

Fortsetznng  ZA  19  überholt.  Noch  nicht  zugänglich  war  ihm  Marn 
Ausgabe  des  Martyriums  des  Gregor  und  der  Ripsima,  Zap.  yost 
otd.  imp.  russk.  arch.  ob.  16, 63 ff.,  die  gleichfalls  schon  in  Mans 
Zusammenstellungen  wertvolle  Ergänzungen  zu  seiner  Arbeit  bietet 
Grafs  Untersuchung  beginnt  mit  einem  Abschnitt  über  Lautlehre 
und  Orthographie.  Daß  er  diese  beiden  Gegenstände  nicht  scharf 
von  einander  gesondert  hat,  mag  ja  eine  gewisse  Entscbaldignng 
finden,  weil  auch  die  Grammatiken  der  klassischen  Sprache  sie  Doch 
nicht  gehörig  auseinander  halten.  Zu  welchen  schon  oft  beklagten 
Mißständen  das  aber  führt,  zeigt  dieser  Abschnitt  mit  seinem  un- 
klaren Gewirre  äußerlicher  Beobachtungen  wieder  recht  deutlich.  Hier 
sollen  nur  einige  besonders  krasse  Fälle  hervorgehoben  werden.  Wenn 
für  BJJU  > Tische  BvAuui  geschrieben  wird  (S.  7),  so  ist  das  nicht 
>  defektive  Schreibung  <,  sondern  es  beruht  auf  der  Kontraktion  von 
mä'Ula  >  maida  nach  Aufgabe  des  Hamz.  Wenn  der  Cod.  Mooac. 
I^JLjü  >wir  wissenc  schreibt,  so  ist  das  nicht  >scriptio  plenac,  son- 
dern es  ist  die  normale  Darstellung  der  bekannten  magribinischen 
Ausgleichung  der  1.  P.  PI.  des  Impf,  mit  der  2.  und  3.  Daß  >sogar 

L-  an  Stelle  von  ^  vorkommtc,  darf  nicht  mit  der  Schreibung  L  für 

^  in  eine  Rubrik  gebracht  werden  (S.  9).  Noch  merkwürdiger  ist  es, 
daß  er  die  Wiedergabe  der  Imäla  durch  e  im  Damascener  Psalm- 
fragment in  einer  Anmerkung  zu  >IV.  Transkription  der  Eigennamen 
und  Fremdwörterc  (S.  13)  erwähnt.  Nur  wenig  besser  ist  die  Anord- 
nung des  Stoffes  in  dem  Abschnitt  B.  Formenlehre.  Die  > Einschaltung 

eines  o  zwischen  finalem  m1  und  dem  Suffix <  erwähnt  er  z.B.  S.  16 
beim  Pronomen  statt  beim  Nomen.  Daß  es  sich  in  seinen  beiden 
Beispielen  um  das  Suff,  der  1.  P.  Sg.  im  Vokativ  handelt,  ist  natür- 
lich nur  Zufall.    Für  die  Aeußerlichkeit  seiner  grammatischen  Auf- 

fassung  ist  der  Satz  S.  26  bezeichnend,   >daß  von  \^\  und  ^Y  in  S, 
L  und  R  das  radikale  wäw  in  allen  Kasus  zumeist  beibehalten  wirdc. 
Der  dritte  Abschnitt  Syntax  schließt  sich  an  Reckendorfs  Buch 
an  mit  Ausnahme  des  Paragraphen  über  die  Präpositionen,   in  dem 
er  Caspari-Müller  folgt.  Er  will  alles  verzeichnen,  was  von  den  dort 
gegebenen  Regeln  abweicht  oder  als  späterer  (jüngerer)  oder  seltner 
Gebrauch  bezeichnet  wird.    Dies  Kapitel  ist  recht  gut  gelungen  uid 
seine  Beispielsammlungen  sind  sehr  dankenswert.    Freilich  passier, 
es  ihm  gelegentlich,   daß  er  einen  Sprachgebrauch,   der  zufällig  in 
seiner  Vorlage  etwas  zu  kurz  gekommen  ist,  ausführlich  belegt,  ob- 
wohl er  schon  in  der  »klassischen <  Sprache  nicht  selten  ist.    Das 
gilt  z.  B.  für  ^junJ  zur  Wortverneinung ;  vgl.  schon  das  Beispiel  bei 
Nöldeke  Zur  Gramm.  S.  89  Z.  21,   femer  das  bekannte  Sprichwort 


\ 

i 


Graf,  Der  Sprachgebrauch  der  ältesten  christl.-arab.  Literatur  591 

jU^  LTA^  t5^'  L5i^-  ^^  *^^r  ^®^  Mensch  ist  rachsüchtig,  nicht  das 
Kamel  <,  Lebld.  XXXIX 18,  MaidäniI21  (16),  das  die  Entwicklung 
des  partikelartigen  Gebrauchs  aus  dem  Satz  veranschaulicht,  ferner 
Agänl  1 167, 15,  IV  77,  12  v.  u.,  V  67, 7  u.  s.  w. 

Als  am  wenigsten  befriedigend  muß  leider  der  4.,  der  lexikalische 
Teil  bezeichnet  werden,  der  des  Mißverstandenen  etwas  gar  zu  viel 
bietet  und  nur  mit  großer  Vorsicht  benutzt  werden  darf.  Sein  Plan, 
alles  festzustellen,  was  einerseits  in  den  Wörterbüchern  von  Freytag, 
Lane  und  Dozy  nicht  aufgeführt,  andrerseits  von  diesen  und  von 
SpezialWörterbüchern  als  modern,  vulgär  und  provinziell  bezeichnet 
wird,  ist  zwar  sehr  gut  gefaßt,  ihn  auszuführen  reichten  aber  seine 
Sprachkenntnisse  leider  nicht  aus.  v/?-  II  ^^itit  nicht  >für  recht- 
schaffen halten«,  sondern  nur  > prüfen«  und  ist  wörtliche  Ueber- 
setzung  von  8oxt|idC6tv.  ^^js>  VI  »einen  Lohn  empfangen«  ist  f^j^^ 
VI.  iA^]ys>'\  heißt  nicht  »deine  Blicke«,  sondern   > deine  Sinne <  für 

^]^  als  PI.  von  iub>-,  nicht  von  o-^^.  U^hg»  VIII  heißt  nicht 
>  quälen  <,  sondern  ist  Mt.  15,22  wörtliche  Uebersetzung  von  {^a^K.» 
=  '8at|iovlCeTat  »corripitur«.  uJ^  VIII  Lc.  2,41  ist  nicht  >hinaufgehn«, 
sondern  >hin-  und  hergehn<,  dann  >sich  begeben«.  ^|>^  »Tabernae< 
ist  Verschlimmerung  des  überlieferten  v:>^|^  für  v^^^l^  PI.  von 

oyb>.  Graf  nimmt  es  als  PI.  von  ^^]y£>  »Tisch«.  ^\^  »Herbergs- 
geber« 1.  j^L>.  Uo^  >Wille<  ist  nicht  iu?^,  sondern  Lto^.  wvxyuwl 
2 .  Cor.  1 2, 1 8  ist  nicht  >  übervorteilen,  überlisten  < ,  sondern  wörtliche  Ueber- 
setzung von  ^^J  =  litXeovdxTY]oev.  ^t  J!  '<>^  y«'  er  ^5^  i  c//'^'^ 
Mt.  27,19  heißt  nicht  >  vergreife  dich  in  keiner  Weise  an  diesem  Ge- 
rech ten  <,   und   ofy^^-ö  ist  nicht  X  von  ^^,  sondern    ^^^^   als 

VIII  von  ^j£;,  zu  lesen:  »Laß  dich  auf  nichts  ein  m.d.  G.<.  ^  ^ji 
ijMwJbl  heißt  nicht  »der  Satan  schmückte  sich«,  es  ist  die  bekannte, 
schon  qor'änische  RA.  in  absoluter  Anwendung.  Für  v^^umLjmJI  j»^ 
» Palmsonntag <  ist  v^L^t  zu  lesen,  wie  R  12a,  14  richtig  steht; 
das  Wort  ist  ja  schon  > klassisch <,  s.  Näbiga  1,25.  Daß  es  von 
{Ka^  (Graf  {&m3a)  komme,  ist  doch  sehr  fraglich.    ^^^a>Lum  ist 

PI.  von  -iL«,  nicht  von  gJU.    Warum  setzt  Graf  für  das  richtige 

[jJo\^\  >Liktoren<  ^^jj^^t?  Zu  /äx^  =  Xaöpa  bemerkt  er: 
>üeber  die  Ableitung  des  Wortes  soll  Burkitt  in  The  Cambridge 
Philological  Society  berichtet  haben  (mir  leider  nicht  zugäng- 
lich)<.  Aber  von  de  Goeje  ZDMG  54,336  hätte  Graf  lernen 
können,  daß  es  griech.  a'y]xö(;  ist.  Auf  seine  griechischen  Kenntnisse 
werfen  freilich  auch  Formen  wie  ao6ß6Ö(;  S.  117,8  und  vaöta  118,4 

41* 


592  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  7 

ein  merkwürdiges  Licht.  <ii^  II  ist  nicht  > willfährig  sein<,  sondern 
> jemandes  Fürsprache  annehmen«.  oLJt  ^US  heißt  »acht  Schafe«, 
nicht  >acht  Stücke,  es  ist  PI.  von  bLä  für  klassisches«  ^L.^,  nicht 
von  Xaä  > Zeichen,  Marke <.  yUb  > Flechten <  steht  für  yU^,  wie 
ju«^c;A^b  für  siyjJö]  es  sind  fälschlich  klassizierende  Schreibungen. 
Weil  die  Schreiber  wissen,  daß  ihr  vulgäres  (jo  oft  für  klassi- 
sches Ja  steht,  so  setzen  sie  Jo  auch  da,  wo  ^  auch  im  Klassischen 
berechtigt  ist,  wie  in  manchen  Gegenden  Deutschlands  Halbgebildete 
beim  Hochdeutschsprechen  g  für  j  (Gesus)  setzen,  weil  sie  wissen, 
daß  ihr  dialektisches  j  oft  hochdeutschem  g  entspricht,  ^y^  X  heißt 
nicht  > zusammenhäufen < ;  ^aaxä^I  ^^ßO<l\  (s.  z.  1.)  ist  reguläre  Ueber- 
setzung  von  ojtiv  Tot(;  icXooototg.    Lc.  6, 24.    cly  >freie  Zeit«  1.  gjy. 

Für  Q^jä  > Opfer«,  in  dem  G.  einen  PL  von  ji  findet,  ist  ^Ly  zu 
Wn.  gJlä  ist  nicht  >Gicht«,  sondern  >Hemiplegie<.  Für  -/  »Flecken, 
Stadt«  1.  ^;  es  stammt  nicht  von  syr.  jL»;^  »Mönchszelle«  (er  meint 
JLuJ«),  sondern  von  JLa;^  > Stadt«.    Ein  Wort  xx^  »Gestalt,  Figur« 

gibt  es  nicht;  a.  a.  0.  ist  jfhi\  icL^  gemeint  > (etwas)  wie  die  Ge- 
stalt eines  Vogels«.    ^1^1  > Hügel«  ist  nicht  PI.   von  xaJ^  (er   meint 

jU^),  sondern  von  iuit.  Jum^*  > Enthaltsamkeit«  1.  aSL^.  ^  VIII 
»suchen«  1.  ^j«MJJt.  -LJ  cjy^  Mt.  2, 18  ist  nicht  »eine  brausende  Stimme« 
(=  g^),  sondern  >eine  Stimme  von  Wehklagen«  1.  -Li.  Ein  Wort 
iüjli  »Aehnlichkeit,  Gleichheit«  gibt  es  nicht.  In  der  bekannten  RA. 
jüyU  Aljil  >er  hielt  ihn  für  etwas«  ist  jüJL^  (eig.  >er  stellte  ihn  an 

die  Stelle  von  etw.«)  zu  sprechen.  > Beschwören«  ist  nicht  yij, 
sondern  «AAi.  Für  sJ^Lj  II  »schmücken«  ist  v^^  zu  1.,  das  G.  als 
sjukai  II  und  y^fiSä^  X  selbst  anführt,     q^j^.   >sie  spotten«   kommt 

nicht  von  jp,   sondern   von  ^^Jp,     «o-^   >Vorhang«  ist  nur  falsche 

Uebersetzung  von  cijS^l  Mt.  27,51.  v^b^i  »wird  geschlagen«  Lc. 
12,47  ist  nicht  v»>^  IV,  sondern  s-oi  U.  Qj^i^^  >8ie  freuen  sich« 
ist  nicht  äI^  VIII,  sondern  L^  V.  iUP^  ist  nicht  > Verurteilung«, 
sondern  wie  gewöhnlich  »Gabe«.  »Bereit  sein«  ist  nicht  y*4^*>  son- 
dern yt^ 

Die  Ausstattung  des  Buches  läßt  nichts,  die  Korrektheit  des 
Druckes  außerordentlich  viel  zu  wünschen  übrig. 

Königsberg  i.  Pr.  C.  Brockelmann 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Gdttingen 


August  1906  No.  8 


Begesta  pontlfleum  Bomanomm.  Italia  pontlflela  sive  Kepertorium 
privilegiorum  et  litterarum  a  Komanis  pontificibus 
ante  annum  MCLXXXXYIII  Italiae  ecclesiis,  monasteriis, 
civitatibus  singulisqae  personisconcessorum.  Jabente  Regia 
Societate  Gottingensi  congessit  Paulus  Fridolinus  Kehr.  Vol.  I :  Roma. 
Berolini  apud  Weidmannes  MDCCCCVI.   XXVI  et  201  p. 

Des  Privilegs  der  Göttinger  Professoren  (obwohl  ich  leider  nur 
noch  einer  in  partibus  infidelium  bin),  in  diesen  Anzeigen  ihre  eigenen 
Werke  zu  loben,  bediene  ich  mich,  nicht  nm  auf  diesem  kürzesten 
Wege  wenigstens  zu  einer  literarischen  Anerkennung  zu  gelangen, 
sondern  weil  ich  die  willkommene  Gelegenheit  wahrnehmen  möchte, 
gewisse  mir  notwendig  erscheinende  Erörterungen  über  den  I.  Band 
der  im  Juli  d.  J.  erschienenen  Italia  pontificia  vorzubringen.  Sie 
würden  die  Einleitung  des  Bandes  selbst  zu  sehr  belastet  haben,  ab- 
gesehen davon,  daß  mein  Latein  nicht  zu  längeren  und  schwierigeren 
Auseinandersetzungen  ausgereicht  haben  würde.  Haben  doch  die 
kurzen  Einleitungen  schon  Schweiß  genug  gekostet!  Ich  habe  aber 
über  die  Entstehung  des  Werkes,  über  seine  Anlage  im  großen  und 
ganzen  und  über  seine  Ausführung  im  einzelnen  Mancherlei  zu  sagen  — , 
nicht  um  den  sehr  naheliegenden  Einwendungen  zu  begegnen,  die  um 
so  weniger  ausbleiben  können,  je  näher  sie  liegen,  sondern  um  die 
Absichten,  die  ich  damit  verfolgt  habe,  genauer  zu  begründen,  die 
Aufgabe,  die  ich  mir  gesteckt,  präziser  zu  formulieren,  die  Details 
der  Anlage  besser  zu  erläutern. 

Als  ich  vor  10  Jahren,  im  Herbst  1896,  der  Göttinger  Gesell- 
schaft der  Wissenschaften  den  Plan  einer  kritischen  Ausgabe  der  äl- 
teren Papsturkunden  bis  Innocenz  IH.  vortrug,  war  ich  ganz  Diplo- 
matiker,  reinster  Diplomatiker  Sickelscher  Observanz.  Ich  wollte 
genau  dasselbe  bei  den  Papsturkunden  machen,  was  Sickel  für  die 
Kaiserurkunden  geleistet  hatte.  Also  mich  auch  derselben  Methoden 
der  Sammlung,  Ordnung  und  Bearbeitung  des  Materials  bedienen. 
Die  Hauptsache  war  mir  damals,  wie  gesagt,  ganz  das  Diplomatische  ; 

Q6iU  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8  42 


594  Gdtt.  geL  Abx.  IdOa.  5r.  8 

kh  wollte  mich  Torzuglich  der  Profmig  der  OrigiBale  and  der  Unter- 
sncbnog  der  Falschimgen  widmeo;  kh  dachte  darfib^  Beitrige  mmd 
Erläotemngen  zar  Papstdiplomatik  zu  yeroffentlichen,  eine  Lehre  Tim 
den  Papstorkonden  nach  dem  Muster  der  Acta  KarolinonuD  zn 
schreiben  nnd  ein  großes  Faksimflewerk  heraaszugeben^  das  for  die 
Papstdiplomatik  das  sein  sollte,  was  die  Kaisenirknnden  in  Abbfldimgen 
for  dk  Kaiserdiplomatik  sind.  Aber  wie  weit  bin  ich  jetzt  Ton  diesen 
Idealen  noch  entfernt! 

Ansgerästet  also  mit  den  besten  Vorsätzen  und  mit  L.  Beth- 
manns  bisher  nnäbertroffenem  Reisefahrer  durch  die  Archive  ond 
Bibliotheken  Italiens  (in  Pertz  Archiv  XII),  verstärkt  durch  das  mit 
schulm&ßig  gebotenem  Mißtrauen  betrachtete  und  benutzte  Iter  Ita- 
licum  von  J.  v.  Pflugk-Harttung,  ging  ich  im  Herbst  1896  ans  Werk. 
Ich  beabsichtigte,  vorzüglich  jene  großen  Staats-,  bischöflichen  und 
Kapitelarchive  Italiens  zu  besuchen,  die  dort  bereits  beschrieben 
waren,  die  Papsturkunden  bis  Innocenz  III.  vorzunehmen,  die  Origi- 
nale säuberlich  nach  allen  Regeln  der  Kunst  zu  kopieren  und  zn 
faksimilieren,  die  Kopialbiicher  zu  bearbeiten,  kurz  das  Material  nach 
denselben  Methoden  zusammenzubringen,  die  ich  einst  als  Sickeb 
Assistent  bei  den  Diplomata  gelernt  hatte,  immer  mit  der  vorwal- 
tenden Tendenz,  vor  allem  die  Originale  zu  studieren  und  durch  deren 
Untersuchung  möglichst  bald  zu  einer  kritisch  gesicherten  Papst- 
diplomatik  vorzudringen.  Gewiß  war  ich  auf  Ergänzungen  auch  des 
Materials  gefaßt;  ich  war  sicher,  neue  Originale  und  nicht  wenige 
unbekannte  StUcke  aufzufinden;^)  aber  das  würde  doch  erst  in  zweiter 
Linie  stehen. 

Jedoch  schon  die  ersten  Versuche  ergaben,  daß  ich  die  Sache 
falsch  angefaßt  hatte  und  daß  ich  so  zwar  schnell  zu  einer  Lehre 
von  den  Papsturkunden,  niemals  aber  zu  einer  leidlich  vollständigen 
Ausgabe  gekommen  wäre.  Ich  erkannte  sehr  bald,  daß  das  archiva- 
lische  Material  ganz  ungenügend  zusammengebracht  und  verzeichnet 
sei.  Es  tauchten,  sobald  ich  energisch  in  die  Archive  selbst  ein- 
drang, mit  einem  Male  ganz  neue  Fonds  auf,  von  denen  ich  bis  da- 
hin nichts  wußte,  Archive,  deren  Existenz  bis  dahin  unbekannt  war, 
Ueberlieferungen,  die  bis  dahin  ganz  unbeachtet  geblieben  waren. 
Ich  sah,  daß  ich  eine  Vorarbeit,  die  ich  (wie  gewiß  alle  Andern)  als 
in  der  Hauptsache  längst  erledigt  ansah,  überhaupt  noch  machen 
müßte,  ehe  ich  an  das  ersehnte  Ziel,  mich  an  der  diplomatischen 

1)  Ich  schätzte  im  Jahre  1896  die  Zahl  der  neu  aufzufindenden  Stücke  auf 
ein  rundes  Tausend,  womit  ich  die  ca.  17900  Nummern  bei  Jaff^  zu  vermebren 
hoffte.  Jetzt  schätze  ich  mit  3000  Nummern  (nicht  eingerechnet  die  Deperdita)  die 
Zahl  vielleicht  noch  zu  niedrig. 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontificia  vol.  I  595 

Untersuchung  der  Urkunden  selber  zu  delektieren,  gelangen  würde. 
Und  um  die  Wahrheit  zu  bekennen,  ich  sah  jetzt  vor  mir  statt  einer 
mechanischen  schablonenhaften  Bearbeitung  eines  gegebenen  Materials 
nach  berühmten  Mustern  ein  unendliches  Arbeitsfeld  voll  neuer  und 
lohnender  Aufgaben,  und  so  warf  ich  mit  einer  gewissen  vergnügten 
Herzlosigkeit  die  alten  Götter  von  mir  und  machte  mich  sogleich  an 
das  neue  Werk. 

Doch  ich  möchte  noch  ein  Moment  anführen,  welches  mich  und 
alle  Andern,  welche  an  die  Brauchbarkeit  unserer  archivalischen  Vor- 
arbeiten glaubten,  hinreichend  entschuldigt  und  überhaupt  die  eigent- 
liche Richtung,  welche  die  Urkundenlehre  in  den  letzten  dreißig 
Jahren  genommen  hat,  erklärt.  Sie  stand  und  steht  noch  heute 
unter  der  Aufgabe,  die  ihr  einst  die  Mauriner  gestellt  hatten:  Fest- 
stellung der  Echtheit.  Das  ist,  trotz  aller  Evolutionen  nach  rechts 
und  links,  immer  noch  das  Zentralproblem  der  Diplomatik.  Auch  des 
Erneuerers  der  Diplomatik,  Sickels,  nächste  Ziele  waren  diese,  und 
sie  konnten  für  die  Karolingerzeit  auch  nicht  andere  sein.  Das  Neue, 
was  Sickel  hinzubrachte,  war  die  neue  Methode,  mit  der  er  jene 
Aufgabe  sicherer  löste  als  seine  Vorgänger,  nämlich  die  Schrift-  und 
Diktatvergleichung,  die  er  zu  immer  feinerer  Ausbildung  brachte,  bis 
sie  im  weiteren  Verlauf  zur  Basis  für  neue  und  bedeutungsvolle  Stu- 
dien wurde;  ich  meine  die  auf  diesen  Vergleichungsmethoden  sich 
aufbauenden  Forschungen  zur  Kanzleigeschichte,  die  besonders  für 
die  jüngeren  Perioden  bald  wichtiger  wurden  als  die  Fälschungspro- 
bleme. Sie  boten  so  viel  Neues  und  Belehrendes,  daß  sie  das  Inter- 
esse aller  mit  Urkunden  sich  beschäftigenden  Forscher  mehr  und 
mehr  ergriffen  und  die  überlieferungsgeschichtlichen  Fragen  in  den 
Hintergrund  treten  ließen,  zumal  an  ihnen  die  strenge  Diplomatik 
eigentlich  nur  ein  Interesse  hat,  soweit  es  sich  um  die  Auffindung 
neuer  Originale  handelt. 

Und  doch  finden  sich  schon  bei  Sickel  und  zuerst  in  seinen 
Acta  Karolinorum  Ansätze  zu  einer  Art  von  urkundlicher  Quellen- 
kunde. Ich  habe  schon  vor  20  Jahren  als  das  originellste  und  be- 
lehrendste an  Sickels  Diplomata- Ausgabe  jenes  » Quellenregister  < 
schätzen  gelernt,  in  dem  er  das  gesamte  Urkundenmaterial  nach 
den  Empfängern  ordnete  und  sehr  dankenswerte  Notizen  über  die 
Quellen  eines  jeden  Fonds  gab.  Wenn  man  will,  ist  die  Arbeit,  die 
ich  jetzt  vorlege,  nichts  weiter  als  ein  solches  weiter  ausgebildetes 
Quellenregister.  Allerdings  blieb  Sickel  streng  bei  seiner  Aufgabe; 
er  registrierte  nur  das  für  seine  Ausgabe  der  Kaiserurkunden  des 
10.  Jahrhunderts  benutzte  Material;  was  außerhalb  der  in  der  Aus- 
gabe behandelten  Diplome  lag,  blieb  grundsätzlich  auch  außerhalb 

42* 


596  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8 

des  Rahmens  seines  Qnellenregisters,  während  ich  mich  bemuht  habe, 
ihm  die  breiteste  Grundlage  zu  geben. 

Daß  diese  Ansätze  zu  einer  urkundlichen  Quellenkande  nicht 
weiter  ausgebildet  worden  sind,  hat  seine  Ursache  in  jener  Selbst- 
täuschung, in  der  wir  uns  alle  befanden,  indem  wir  annahmeoy  dafi 
das  ältere  urkundliche  Material  wenigstens  in  der  Hauptsache  gebucht 
sei.  Das  ist  die  üble  Seite  aller  Regestenwerke,  abschließender  Ko- 
difikationen, Bibliographien,  daß  von  ihnen  eine  Art  von  Suggestion 
ausgeht,  als  ob  mit  ihnen  die  beabsichtigte  Vollständigkeit  auch  er- 
reicht sei.  Unsere  Handbücher  mit  ihren  Paragraphen  und  Literatnr- 
angaben  fungieren  in  der  Wissenschaft  wie  die  Polizei  im  Staat.  So 
hat  für  die  deutsche  Forschung  in  den  Archiven  und  Bibliotheken 
Italiens  noch  heute  Bethmann  eine  fast  exklusive  Geltung.  Der 
Monumentist  von  heute  geht  ebenso  wie  sein  Ahne  vor  30  Jahren 
ausschließlich  mit  Bethmann  ausgerüstet  auf  Reisen.  Und  auch  in 
der  Diplomata-Abteilung  waren  die  Angaben  Bethmanns  allzu  maß- 
gebend. Die  gelegentlichen  Ferienreisen  deutscher  Professoren  nach 
Italien,  die  wieder  auf  Bethmannschen  Pfaden  wandelten  und  zum 
dritten  und  fünften  Mal  notierten,  was  schon  von  diesem  und  andern 
verzeichnet  war,  bestärkten  den  Eindruck,  daß  alles  Wesentliche  er- 
ledigt sei. 

Man  hätte  aber  schon  aus  J.  v.  Pflugk-Harttungs  Iter  Ita- 
licum  ersehen  können,  daß  vor  allem  andern  eine  völlige  Revision 
des  » Bethmann <  notwendig  gewesen  wäre.  Das  Material,  das  jener 
heranbrachte,  war  quantitativ  gemessen,  erstaunlich  groß ;  und  schon 
dieser  Umstand  hätte  mehr  Beachtung  verdient  als  er  fand.  Gewiß 
wimmelt  v.  Pflugk-Harttungs  Iter  von  irrigen  Angaben  und  groben 
Fehlern,  und  roh  und  gänzlich  unverarbeitet  ist  der  Stoff,  dennoch 
bleibt  bewundernswert,  was  hier  ein  einzelner  Forscher  an  entsagungs- 
vollster und  anstrengendster  Arbeit  geleistet  hat.^)  Der  von  ihm 
mit  unzureichenden  Kräften  imd  Mitteln  und  in  der  Hast  unter- 
nommene Versuch  wäre  eine  der  schönsten  und  lohnendsten  Aufgaben 
für  unsere  Monumenta  Germaniae  gewesen.  Ich  habe  das  seiner  Zeit 
angeregt,  aber  keinen  Erfolg  gehabt,  und  ich  mußte  die  Arbeit,  die 

1)  Dies  ist  meine  SteUong  zu  J.  v.  Pflugk-Harttangs  Arbeiten,  die  fur  mich 
eine  so  unschätzbare  Vorarbeit  gewesen  sind,  daß  ich  über  die  großen  Mängel  leichter 
hinwegsehen  kann,  als  jene,  welche  zehnstündige  Archivarbeit  in  staubigen  und 
lichtlosen  Archiven,  in  Nestern,  wo  selbst  die  Flöhe  nichts  mehr  zu  beißen  finden, 
an  heißen  Sommer-  und  an  kalten  Wintertagen  nicht  einmal  vom  Hörensagen 
kennen.  Dagegen  vermag  auch  ich  mit  Pflugk-Harttong  als  Diplomatiker  gar 
nichts  anzufangen. 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontifida  vol.  I  597 

sich  als  gewaltiger  erwies  als  vorauszusehen  war,  allein  mit  meinen 
Mitarbeitern  auf  mich  nehmen.^) 

Nun  hat  es  uns  Anfangs  sowohl  an  der  rechten  Vorbereitung 
wie  an  der  nötigen  Erfahrung  gefehlt,  und  unsere  ersten  Versuche 
sind  nichts  weniger  als  vollkommen  gewesen.  Ich  habe  erst  bei  der 
Bearbeitung  des  römischen  Materials,  das  zum  guten  Teil  aus  Resten 
und  Teilen  versprengter  und  zerstreuter  Fonds  besteht,  gelernt,  wie 
die  Arbeit  planmäßig  anzulegen  und  durchzuführen  sei.  Die  Erfah- 
rungen und  Entdeckungen,  die  ich  in  Rom  machte,  bestärkten  mich 
in  der  Ueberzeugung  von  der  Notwendigkeit,  vor  allem  eine  ur- 
kundliche Quellenkunde  auf  breitester  Grundlage  zu  schaffen. 
Wie  ist  doch  unsre  Kenntnis  dieser  Dinge  lückenhaft  und  fast  immer 
nur  gelegentlich  und  zufällig !  Ich  erläutere  das  an  einem  Beispiel.  Den 
Agnellus  von  Ravenna  kennt  jeder  Historiker;  Ausgaben  sind  mehrere 
vorhanden  und  deren  handschriftliche  Grundlage  ist  öfter  diskutiert 
worden.  Aber  wer  besitzt  eine  XJebersicht  über  die  doch  ebenso 
wichtigen  älteren  Urkundenbestände  des  erzbischöflichen  Archivs  von 
Ravenna?  Was  in  Ravenna  selbst  liegt,  ist  freilich  durch  Amadesi, 
Fantuzzi  und  Tarlazzi  bekannt,  aber  große  Teile  des  erzbischöflichen 
Archivs,  die  jetzt  in  Rom,  in  Mailand  und  Paris  sich  befinden,  sind 
so  gut  wie  unbekannt  geblieben.  Ich  könnte  an  vielen  andern  Bei- 
spielen dasselbe  nachweisen.^)  Jedenfalls  sind  die  alten  Urkunden- 
fonds Italiens  in  ganz  unglaublicher  Weise  zerrissen  und  zerstreut: 
wie  will  ein  Einzelner  für  sein  Spezialgebiet  sie  zusammenbringen? 
Was  von  Italien  gilt,  gilt  auch  von  Frankreich  und  wahrscheinlich 
auch  von  Spanien.  Günstiger  liegen  die  Verhältnisse  in  Deutschland 
Dank  den  zahlreichen  Urkundenpublikationen,  die  wir  besitzen;  doch 
wird  auch  hier  eine  Uebersicht  über  die  vorhandenen  Urkundenbe- 
stände von  nicht  geringem  Nutzen  sein. 

Indem  ich  mich  also,  anstatt  ausschließlich  nach  Papsturkunden 
zu  fahnden,  zu  einer  systematischen  Durchforschung  aller  Archive 
und  Bibliotheken  entschloß  und  die  Rekonstruktion  der  alten  zer- 
rissenen Urkundenfonds  als  unsere  nächste  Aufgabe  auffaßte,  habe  ich 
doch  auch  unsere  ursprüngliche  Aufgabe,  die  Sammlung  der  älteren 
Papsturkunden,  über  Erwarten  fördern  können.  Denn  eben  auf  diesem 
Wege  haben  wir  die  große  Zahl  von  neuen  Urkunden  gefunden,  die 
in  solcher  Masse  gewiß  Niemand  erwartet  hat. 

1)  Vgl.  Göttinger  Nachrichten  1903  S.  255  ff. 

2)  Ich  darf  mich  hier  auf  die  Untersuchungen  beziehen,  die  ich  unter  dem 
Titel  »Otia  diplomatica«  in  den  Göttinger  Nachrichten  1903  S.  255  ff.  veröffent- 
licht habe.  Es  sind  Schulbeispiele  für  meine  These,  denen  ich  andere  in  Hülle 
und  FüUe  zur  Seite  setzen  könnte. 


^ 


598  Gott  gel  ABZ.  1906.  Nr.  8 

Mit  dieser  Forschungsmethode  trat  die  Bearbeitung  des 
Materials  nach  den  Empfängergruppen  durchaus  in  den 
Vordergrund.  Noch  eine  andere  Erfahrung  bestärkte  mich  in  diesem 
Modus  procedendi.  Die  große  Masse  der  älteren  mittelalterlichen 
Urkunden  kommt  aus  den  kirchlichen  Instituten,  aber  die  Geschichte 
der  geistlichen  Stiftungen  in  Italien  ist,  wenn  man  von  den  bedeu- 
tendsten, die  manchmal  eine  fast  überreiche  Literatur  aufzuweisen 
haben,  und  von  den  großen  Ordensgeschichten  der  Benedictiner  (Ma- 
billon),  der  Gamaldulenser  (Mittarelli),  der  Gisterzienser  (Manriquez), 
der  Olivetaner  (Lancellotti),  der  Lateranensischen  Kanoniker  (Pen- 
notti)  u.a.  absieht,  Über  alle  Maßen  vernachlässigt  geblieben.  Das 
einzige,  das  ganze  Material  behandelnde  Werk,  das  wir  besitzen,  ist 
des  Augustiners  Augustin  Lubin  1693  erschienene  Abbatiarum  Ita- 
liae  brevis  notitia,  ein  nützliches  Buch  trotz  aller  Irrtümer  und 
Lücken,  aber  selten  und  wenig  benutzt.  Es  ist  meines  Wissens  nicht 
einmal  auf  der  Königlichen  Bibliothek  in  Berlin.  Die  Ergänzungen, 
die  E.  Celani  in  Studi  e  documenti  di  storia  e  diritto  delPAccademia 
di  conferenze  storico-giuridiche  t.  XVI  p.  221  sq.  (1895)  geboten  hat, 
helfen  nicht  viel.  So  ist  es  nicht  besonders  verwunderlich,  wenn  Gelehrte, 
die  mit  dem  Urkundenmaterial  italienischer  Klöster  sich  ex  professo 
zu  beschäftigen  hatten,  über  einzelne  Klöster  die  allermerkwürdig- 
sten  Angaben  gemacht  haben.  So  identifiziert  v.  Pflugk-Harttung 
(Acta  III 162  n.  151)  das,  ich  möchte  jetzt  fast  sagen,  sehr  bekannte 
Kloster  Fallere  bei  Nepi  im  alten  Patrimonium  mit  Falerone  in  den 
Marken,  und  gar  nichts  wußte  er  mit  dem  Gisterzienserkloster  Mar- 
mossole  in  der  Diözese  Velletri  (Acta  III 241  n.  245)  anzufangen,  das  er 
sogar  mit  Marino  im  Albanergebirge  zusammenbrachte.  Auch  in  Du- 
chesnes  und  Fabres  Anmerkungen  zum  Liber  censuum  S.  R.  E.  des 
Gencius  finden  sich  arge  Irrtümer  der  Art.  Ich  selbst  habe  das 
Kloster  S.  Salvatore  di  Mileto  in  Galabrien  gesucht,  während  es  in 
der  Diözese  Terracina  lag  (Göttinger  Nachrichten  1900  S.  189  n.  27)i 
Und  auch  heute  noch  bin  ich  keineswegs  mit  allen  Klöstern  Italiens 
im  Reinen.  Für  die  arg  vernachlässigte  kirchliche  Geographie  öffnet 
sich  hier  noch  ein  weites  Feld,  und  ein  Monasticon  Italicum  ist  eine 
der  dringendsten  und  lohnendsten  Aufgaben.  ^  Einen  guten  Teil 
dieser  Aufgabe  hoffe  ich  mit  der  Italia  pontificia  gelöst  zu  haben. 

Die  Bearbeitung  des  urkundlichen  Materials  also  nach  den  Em- 
pfängergruppen habe  ich  zu  unserem  nächsten  Ziel  und  zur  Grund- 

1)  K.  Fr.  Stumpf-Brentano  beabsichtigte  einst  die  Bearbeitung  eines  Mo- 
nasticon; seine  Vorarbeiten  übernahm  nach  seinem  Tode  A.  Fanta  in  Wien,  bei 
dem  ich  Stumpfs  Scheden  sah.  Was  nach  Fantas  Tod  aus  diesem  Material  ge- 
worden ist,  weis  ich  nicht  zu  sagen. 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontificia  vol.  I  599 

läge  des  Werkes,  dessen  ersten  Band  ich  hier  anzeige,  gemacht.  Ich 
habe  sie  zugleich  mit  der  dringend  notwendigen  Neubearbeitung 
der  Papstregesten  verbunden. 

Das  aber  ist  ein  Novum,  das  vielleicht  bei  der  diplomatischen 
Orthodoxie  einiges  Kopfschütteln  erregen  wird.  Ich  will  aber  gleich 
zu  ihrer  Beruhigung  sagen,  daß  dieser  Versuch  nichts  gemein  hat 
mit  der  jüngst  diskutierten  Frage,  ob  man  nicht  die  Urkundenbücher 
nach  verfassungsgeschichtlichen  oder  andern  materiellen  Gesichts- 
punkten bearbeiten  solle;  ich  vermöchte  mich  mit  dieser  Idee  so 
wenig  zu  befreunden  als  Andere. 

Das  Wagnis,  die  Regesten  statt  in  chronologischer  Folge  nach 
den  Empfängern  zu  ordnen,  bedarf  aber  doch  noch  eingehenderer 
Rechtfertigung.  Ich  bin,  wie  gesagt,  weit  entfernt  davon,  hier  ein 
neues,  allgemein  giltiges  Prinzip  einführen  zu  wollen.  Für  die  Kaiser- 
urkunden z.  B.  würde  sich  seine  Anwendung  durchaus  nicht  empfehlen. 
Der  häufige  Wechsel  der  kaiserlichen  Residenzen  macht  gerade  die 
chronologische  Uebersicht  über  ihre  Regesten  so  wertvoll  und  unent- 
behrlich: sie  sind  die  natürliche  Grundlage  für  die  Erforschung  und 
Feststellung  der  äußeren  Geschehnisse.  Nun  ist  das  bei  den  Papst- 
urkunden allerdings  nicht  in  demselben  Maße  der  Fall.  Einige  Päpste 
haben  zwar  oft  ihre  Residenz  gewechselt,  und  für  diese  ist  die  chro- 
nologische Uebersicht  ihrer  Regesten  nicht  wohl  zu  entbehren,  obwohl 
auch  bei  diesen,  z.B.  bei  Alexander  III.,  die  chronologische  Anord- 
nung oft  zum  leeren  Prinzip  und  zu  einem  höchst  unbequemen  Ori- 
entierungsmittel wird.  Denn  die  Masse  der  Mandate  dieses  Papstes, 
die  neben  dem  Ort  nur  den  Tag  angeben,  ist  in  ihrer  Mehrzahl 
chronologisch  überhaupt  nicht  sicher  einzuordnen,  und  der  Eilige, 
der  solche  Stücke  in  den  Jafföschen  Regesten  aufsuchen  und  finden 
soll,  kann  zuweilen  darüber  in  Verzweifelung  geraten.  Will  man 
auch  noch  die  ungeheure  Zahl  der  Deperdita  und  die  vielen  ganz 
undatierten  Stücke  registrieren,  so  wird  auf  weite  Strecken  hin  die 
chronologische  Anordnung  ein  leeres  Spiel  mit  dem  Prinzip.  Indessen 
sind  es  nicht  diese  Erwägungen  gewesen,  welche  mich  bestimmt 
haben,  von  einem  chronologischen  Regestenwerk  abzusehen.  Einmal 
war  es  die  bittere  Not.  Einen  neuen,  vervollkommneten  Jaffö  könnten 
wir  doch  erst  nach  Abschluß  unserer  archivalischen  Forschungen  über 
ganz  Europa  hin  liefern.  Soweit  aber  sind  wir  noch  nicht.  Noch 
steht  ganz  Spanien  und  England  und  der  größte  Teil  von  Frankreich 
aus.  Selbst  diese  Italia  pontificia  wird  am  Ende  noch  einen  starken 
Nachtrag  erhalten.^)    Weiter  war  und  bin  ich  überzeugt,  daß  die 

1)  Nämlich  hauptsächlich  aas  den  Archiven  und  Bibliotheken  von  Frankreich, 
England  and  Spanien.    Die  KoUektionen  der  Mauriner  in  Paris  enthalten  sicher- 


600  GöU.  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

Bearbeitung  des  Materials  nach  den  Empfängergruppen,  nach  dem 
was  ich  oben  ausgeführt  habe,  dringender  und  ergiebiger  ist  als  ein 
ergänzter  Ja£f6.  Je  länger  und  je  mehr  ich  mich  mit  Papsturkunden 
abgebe,  um  so  schmerzlicher  habe  ich  den  Mangel  eines  Empfänger- 
registers bei  Ja£f6  vermißt.  So  dankenswert  dessen  »Index  initiorum« 
ist,  jenes  Register  ersetzt  er  nicht.  Was  für  ein  Stück  Arbeit  wird 
von  dem  Benutzer  verlangt,  wenn  er  im  Ja£f6  die  Urkunden  für 
einen  bestimmten  Empfänger  sich  suchen  soll.^)  Er  wird  sie,  da  es 
bei  Ja£f6  an  irrigen  und  unsichern  Angaben  nicht  fehlt,  nicht  einmal 
zusammenbringen.  Hätten  Jaif6  und  seine  Neubearbeiter  dieses  Be- 
dürfnis der  Forschung  nicht  völlig  vernachlässigt,  so  würden  sie  so- 
wohl viele  Fehler,  wie  doppelte  Eintragung  einer  und  derselben  Ur- 
kunde, ^)  Verwechselung  der  Empfänger,  z.  B.  der  verschiedenen  Bar- 
tholomäusklöster in  Italien  (J-L.  13168),  von  Hadmersleben  und  Ha- 
mersleben  (J-L.  6512.  7387. 12967),  und  direkte  falsche  Bezeichnungen") 
vermieden,  wie  Namen  und  Titel  der  Empfänger  genauer  angegeben 
haben.  Was  soll  man  mit  Regesten  anfangen,  wie  J-L.  13038  a  pro 
mon.  8.  Justi  (nämlich  in  Toscanella)  und  J-L.  16955  pro  mon.  s. 

lieh  noch  reiches  Material  auch  für  die  Italia  pontificia.  V^ie  viel  von  Urkunden  und 
Kopialbüchem  aus  Italien  nach  England  verschleppt  ist,  ist  männiglich  bekannt. 
Und  in  Spanien  hoffen  ¥rir  noch  wichtige  Ergänzungen  für  Süditalien  zu  finden. 
Wer  darum  die  Publikation  der  Italia  pontificia  als  voreilig  tadeln  wiU,  mag  in 
gewisser  Weise  Recht  haben. 

1)  Die  Yerlagshandlung  0.  Harrassowitz  in  Leipzig  hat  jüngst  die  Publika- 
tion eines  solchen  Index  angekündigt,  den  Eugene  Sol  auf  Veranlassung  von 
L.  Duchesne  bearbeiten  solL  Ich  weiß  nicht  wie  es  mit  dieser  Arbeit  steht;  sie 
käme  zwanzig  Jahre  zu  spät  und  würde,  wenn  sie  nicht  alle  Nachträge  zu  Jaff^ 
böte,  jetzt  wenig  Nutzen  mehr  haben. 

2)  Ich  gebe  hier  einige  Verbesserungen,  die  nicht  vollständig  sein  wollen, 
die  aber  die  Richtigkeit  meines  Urteils  erhärten  sollen.  Es  sind  folgende  Stücke 
identisch,  also  einmal  zu  streichen:  J-L.  3683  =  4104.  4128  =  5099.  4438  = 
4437.  4725  =  4731.  4916  =  5273.  7901  =  7902.  8616  =  8637.  8639  =  14906. 
8757  =  8758.  9274  =  9276.  10234  ==  10480.  10431  =  10538.  10622  =  10623. 
10806  =  13147.  11241  =  11596.  11402  =  11403.  11592  =  11693.  12832  =  18000a. 
12406  =  18139.  12470  =  12517.  12549  =  12694.  12724  =  12725.  12820  = 
12830.  13048  =  13687.  14673  =  15166.  14724  =  15203.  15027  =  15037. 
15082  =  15459.  15478  =  15677.  15587  =  15560.  15681  =  15697.  16247  = 
16292.    16848  =  16846.    16898  =  17652  a.    16987  ==  17090.    17145  =  17151. 

3)  J-L.  12470  pro  mon.  s.  Petri  majoris  Pistoriensi  statt  Florentino.  J-L.  1464Ö 
pro  mon.  s.  Pauli  Romano  statt  eccl.  s.  Apollinaris  Ravennati.  J-L.  15163  pro 
eccl.  8.  Georgii  Brixiensi  statt  s.  Georgii  in  Braida  Veronensi.  J-L.  16797  pro 
has.  Liberiana  Praenestinensi  statt  bas.  s.  Mariae  Maioris  Romana.  J-L.  17337 
pro  eccl.  s.  Qeorgii  ad  Velum  aureum  statt  mon.  s.  Benedicti  Nepesino  u.  a.  — 
Das  Alexander  11.  zugeschriebene  Regest  J-L.  4737  und  die  Alexander  IIL  zuge- 
teilten Regesten  J-L.    12597  und  12977  sind  Urkunden  Alexanders  IV. 


p.  Fr.  Kehr,  ItaliA  pontificia  vol.  I  601 

Stephan!  (nämlich  in  Genua)?  Man  hätte  wenigstens  überall  die  Diö- 
zese hinzusetzen  sollen.  So  aber  muß  der  Benutzer  erst  aus  den 
zugesetzten  Drucken  mühsam  ermitteln,  in  welchem  Lande  die  Kirche 
oder  das  Kloster  lag.  Wer  ist  so  gelehrt,  daß  er  wüßte,  welches 
Mon.  s.  Eugenii  (J-L.  12715)  gemeint  sei,  und  wo  das  Mon.  Baro- 
nense  (J-L.  16855),  die  Eccl.  s.  Petri  de  Catiano  (J-L.  16857),  die 
Eccl.  Portuensis  (J-L.  16675,  gemeint  ist  S.  Maria  in  Portu  bei  Ra- 
venna) lagen?  Die  Herausgeber  des  Ja£f6  wußten  es  wohl  selber 
nicht.  Genug,  nach  dieser  Seite  läßt  die  Neubearbeitung  der  JafiF^- 
sehen  Regesten  alles  zu  wünschen  übrig.  Endlich  glaube  ich,  daß 
neben  der  definitiven  Ausgabe  der  Urkunden  selbst,  die  natürlich  die 
chronologische  Folge  einhalten  wird,  ein  Regestenwerk  im  Stile  und 
in  der  Anlage  des  alten  oder  neuen  Ja£f6  schwerlich  noch  notwendig 
sein  wird.  Indem  ich  schließlich  dem  Bedürfnis  nach  chronologischer 
Ordnung  insofern  Rechnung  trage,  als  ich  zu  jedem  Bande  ein  chro- 
nologisches Verzeichnis  der  Regesten  nach  der  Folge  der  Pontifikate 
gebe,  hoffe  ich  allen  billigen  Wünschen  gerecht  geworden  zu  sein. 

Bei  der  Ordnung  des  Materials  nach  den  Empfängern  waren  in- 
dessen doch  nicht  unerhebliche  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  die 
überall  glücklich  umgangen  zu  haben  ich  keineswegs  sicher  bin.  Es 
war,  da  die  Empfänger  in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  Geistliche 
sind  (Bischöfe,  Kapitel,  KoUegiatkirchen,  Klöster  u.  s.  w.)  selbstver^ 
ständlich,  daß  als  allgemeines  Ordnungsprinzip  die  Diözesan- 
einteilung  zu  Grunde  zu  legen  sei.  Daß  ich  diese  wieder  zu  den 
größeren  Verbänden  der  Landschaften  Italiens  zusammengefaßt  habe, 
ist  gewiß  eine  Inkonsequenz;  allein  ich  schätze  eine  praktische  und 
zweckmäßige  Anordnung  höher  als  eine  konsequente.  Andererseits 
führte  auch  die  Ordnung  der  Empfänger  nach  Diözesen  zu  neuen 
Inkonsequenzen.  Der  Status  der  italienischen  Diözesen  ist  keines- 
wegs ein  fester  gewesen,  er  war  vielmehr  ein  anderer  im  6.  und  ein 
anderer  im  12.  Jahrhundert.  Ich  habe  mich,  da  die  weit  überwie- 
gende Masse  des  urkundlichen  Materials  dem  11.  und  12.  Jahrhun- 
dert angehört,  im  ganzen  an  die  Einteilung  der  Diözesen  gehalten, 
wie  sie  in  dieser  Zeit  üblich  war.  Aber  auch  dabei  fehlt  es  nicht 
an  Zweifeln  und  Unsicherheiten.  Die  Zugehörigkeit  einzelner  Klöster 
z.  B.  zu  dieser  oder  jener  Diözese  steht  keineswegs  fest,  hat  auch  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  geschwankt,  von  den  Abteien  Nullius  ganz 
abgesehen.  Auf  alle  diese  Einzelheiten  einzugehen  oder  gar  mich 
in  Spezialuntersuchungen  der  kirchlichen  Geographie  einzulassen,  hatte 
ich  natürlich  keine  Veranlassung,  und,  immer  von  der  Absicht  ge- 
leitet, meine  Arbeit  so  praktisch  als  möglich  zu  gestalten,  habe  ich 
in   zweifelhaften  Fällen   jeweils  diejenige  Entscheidung   getroffen, 


e02  Göü  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

welche  dem  Benutzer  das  Auffinden  des  Objekts  am  meisten  erleich- 
tert. Man  wird  das  freilich  erst  beurteilen  können,  wenn  die  näch- 
sten Faszikel  Latium,  Toscana,  Umbrien  und  Marken,  Romagna  vor- 
liegen werden,  mit  deren  Bearbeitung  ich  zur  Zeit  noch  beschäftigt  bin. 

Das  Faszikel,  das  ich  zunächst  vorgelegt  habe,  behandelt  Rom. 
Auch  da  habe  ich  mit  der  Einteilung  und  Ordnung  des  StofiFes  nicht 
geringe  Schwierigkeiten  gehabt.  Nach  dem  Prinzip,  dem  ich  sonst 
gefolgt  bin,  hatte  ich  zunächst  die  römische  Kirche  im  Allgemeinen 
zu  behandeln,  dann  die  einzelnen  Kirchen  und  Klöster  in  folgender 
Ordnung:  1)  die  5  Patriarchalkirchen  und  die  Basilicae  majores,  2)  die 
Titelkirchen,  3)  die  Diaconien,  4)  die  Basilicae  minores,  die  Klöster, 
die  Oratorien,  Xenodochien  und  Hospitäler.  Allein  diese  im  Prinzip 
richtigere  Anordnung  hätte  zu  einer  fur  den  Benutzer  sehr  unbe- 
quemen Zerreißung  des  Stoffes  geführt.  Von  den  Klöstern  und  Xe- 
nodochien Roms  waren  viele  nur  Appendices  der  Hauptkirchen.  Beim 
Lateran,  bei  S.  Peter,  bei  S.  Maria  Maggiore  bestanden  je  vier 
Klöster,  deren  Mönche  in  den  Basiliken  den  Gottesdienst  zu  versehen 
hatten;  ebenso  bestanden  solche  Klöster  bei  S.  Lorenzo,  S.  Prassede, 
S.  Agnese  u.  s.  w.  Ich  habe  also,  um  nicht  Zusammengehöriges 
trennen  zu  müssen,  eine  topographische  Anordnung  vorgezogen.  Aber 
da  kam  ich  vom  Regen  in  die  Traufe.  Natürlich  wird  Jedermann 
zunächst  die  kirchlichen  Regionen  der  Stadt  als  den  natürlichen  Ein- 
teilungsgrund vorschlagen.  Allein  es  gibt  kein  unsichereres  Terrain 
als  dieses,  und  ein  Versuch,  die  Kirchen  und  Klöster  Roms  ihrer 
kirchlichen  Region  zuzuweisen,  erwies  sich  als  ganz  unausführbar. 
Blieben  die  14  bürgerlichen  Regionen  der  Stadt.  Aber  auch  diese 
haben  in  ihren  Grenzen  so  geschwankt  und  sind  so  oft  neu  geordnet 
worden,  daß  es  fast  unmöglich  ist,  in  jedem  Falle  eine  ganz  sichere 
Entscheidung  zu  treffen.  Der  Kenner  wird  also  die  eine  und  andere 
Zuweisung  konstatieren  können,  welche  unsicher  oder  zweifelhaft  oder 
vielleicht  gar  unrichtig  ist;  ich  sehe  aber  der  Belehrung  darüber  mit 
Gleichmut  entgegen,  da,  wie  gesagt,  alle  diese  Fragen  für  die  Sache 
selbst  nur  ein  sekundäres  Interesse  haben.  Die  Uebersicht,  die  ich 
dem  Faszikel  vorausgeschickt  habe,  wird  jedenfalls  den  Benutzer  in 
den  Stand  setzen,  das  Objekt,  das  er  sucht,  sogleich  aufzufinden  — 
und  hierauf  kam  und  kommt  es  mir  vorzüglich  an. 

Aber  auch  von  diesen  schwierigen  Fragen  abgesehen,  blieben 
der  Zweifel  und  Unsicherheiten  noch  genug.  Ich  kann  nicht  leugnen, 
daß  die  eine  und  andere  Empfängergruppe  eine  künstliche  ist,  ein 
Notbehelf,  um  gewisse  Stücke  überhaupt  unterbringen  zu  können. 
Das  gilt  gleich  von  den  beiden  ersten  Gruppen  8.  R.  E.  cardinales 
and  Clerus  urbis  Bomae.     Daß  das  Kardinalskollegium  schon  vor 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontificia  toL  I  608 

1200  ein  eigenes  Archiv  gehabt  hat,  ebenso  wie  die  seit  dem  Anfang 
des  12.  Jahrhunderts  nachweisbare  Fraternitas  Romana,  ist  gewiß, 
und  die  Codices  C  23. 24  der  Vallicellana  haben,  wie  ich  glaube, 
mittelbar  aus  den  Akten  oder  Registern  dieser  Archive  geschöpft. 
Aber  daraus  sind  doch  nur  sehr  wenige  Urkunden  erhalten.  Die 
anderen  Regesten  habe  ich  zumeist  aus  dem  Liber  pontificalis  zu- 
sammengesucht und  hier  vereinigt,  weil  ich  sie,  um  die  Wahrheit  zu 
sagen,  nicht  anders  unterzubringen  wußte.  Ueberhaupt  hat  sich  ge- 
rade bei  diesen  Gruppen  unwillkürlich  zu  dem  rein  archivalischen  ein 
gewisses  sachliches  Prinzip  hinzugesellt,  indem  alle  Urkunden  und 
Akten  der  Päpste,  welche  sich  auf  das  Kardinalskolleg  oder  auf  den 
Klerus  von  Rom  beziehen,  sich  gleichsam  von  selbst  zur  Aufnahme 
meldeten.  Bei  jenen  hätte  es  dann  in  weiterer  Konsequenz  nahege- 
legen, auch  die  die  Papstwahl  regelnden  Akte  aufzunehmen.  Ich  habe 
aber,  um  den  Stoif  nicht  zu  zerreißen,  es  fur  richtiger  gehalten,  diese 
Materie  hier  auszuschalten,  um  sie  vollständig  in  einem  späteren 
Heft,  das  die  allgemeinen  Dekrete  der  Päpste  enthalten  soll,  vorzu- 
legen. Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Gruppe  SencUus  populusque 
Romanus.  Alle  diese  Artikel  sind  entschieden  schwach  und  befrie- 
digen mich  selbst  ganz  und  gar  nicht ;  aber  wie  immer  ich  die  Sache 
anfing,  es  gelang  mir  nicht,  etwas  Besseres  an  ihre  Stelle  zu  setzen. 
Unbedingt  brauchbar  und  dann  allerdings  überaus  nützlich  ist  die 
Ordnung  des  Steifes  nach  den  Empfängern  überall  da,  wo  noch  ein 
eigenes  Archiv  derselben  vorhanden  ist  oder  doch  rekonstruiert 
werden  kann. 

Für  die  einzelnen  Artikel  habe  ich  ein  Schema  aufgestellt,  von 
dem  ich  hoife,  daß  es  sich  für  die  weitere  Forschung  als  ein  brauch- 
barer Führer  erweisen  wird.  Ich  habe  zunächst  die  zu  den  einzelnen 
Empfängergruppen  gehörige  Literatur  zusammengestellt.  Eine 
vollständige  Bibliographie  zu  geben,  konnte  natürlich  nicht  meine 
Absicht  sein;  meine  Kräfte  hätten  dazu  auch  nicht  ausgereicht.  Ich 
glaube  sogar,  daß  ich  des  Guten  schon  viel  zu  viel  getan  habe.  Denn 
von  den  angeführten  Werken  haben  viele  nur  einen  geringen  Wert, 
manche  gar  keinen,  und  die  aufgewandte  Mühe  steht  durchaus  nicht 
im  Verhältnis  zu  der  Qualität  dieser  Hülfsmittel.  Immerhin  hoffe  ich 
doch  damit  dem  Lokal-  und  Spezialforscher  einen  Dienst  erwiesen 
zu  haben,  der  um  so  größer  ist,  je  mangelhafter  die  früheren  Biblio- 
graphien sind.  Wer  sich  mit  diesen  Dingen  näher  beschäftigt,  wird, 
dessen  bin  ich  gewiß,  in  diesen  Zusammenstellungen  ein  bequemes 
Hülfsmittel  finden,  wie  es  ein  ähnliches  zur  Zeit  überhaupt  nicht 
gibt,  und  es  wird  ihm,  wie  ich  hoffe,  um  so  willkommener  sein,  je 
zersplitterter  und  zerstreuter  diese  Spezialiiteratur  ist.    Bei  ihrer 


e04  Göti  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Auswahl  habe  ich  mich  vorzüglich  an  historische  Monographien  auf 
urkundlicher  Grundlage  gehalten;  archäologische  nur  dann  heran- 
gezogen, wenn  sie  historisches  und  urkundliches  Material  bieten; 
rein  archäologische  Werke  aber  grundsätzlich  bei  Seite  gelassen. 
Werke  wie  die  von  Tiberius  Alpharanus,  Fontana  und  Valentini  über 
S.  Peter  und  über  die  andern  großen  Basiliken  Roms  wird  der 
Kenner  ohnedies  zu  finden  wissen,  und  die  zahlreichen  Mitteilungen 
und  Aufsätze  im  BuUettino  della  Commissione  comunale  di  archeo- 
logia,  im  Bulletino  di  archeologia  cristiana  und  im  Nuovo  buUettino, 
in  der  Giviltä  cattolica  und  im  BuUettino  des  Kaiserlichen  archäolo- 
gischen Instituts  auch  da  anzuführen,  wo  sie  für  die  mittelalterliche 
Geschichte  der  römischen  Kirchen  nichts  bieten,  so  nützlich  sie  für 
die  Geschichte  ihrer  Architektur  und  Kunst  sind,  habe  ich  grund- 
sätzlich vermieden.  Es  mag  hier  statt  dessen  auf  die  bibliographi- 
schen Notizen  hingewiesen  werden,  die  Th.  Mommsen  in  seiner  Aus- 
gabe des  Liber  pontificalis  im  Index  locorum  angemerkt  hat.  Die 
Italia  pontificia  ist  nicht  für  den  Archäologen  geschrieben,  wenn  auch 
dieser  darin  manches  Brauchbare  finden  mag,  sondern  für  den  Hi- 
storiker. 

Es  folgt  dann  ein  Abschnitt  über  die  Geschichte  des  Em- 
pfängers. Diese  Summarien  sind  so  kurz  als  möglich  gehalten  und 
durchaus  auf  das  beschränkt,  was  dem  Historiker  zur  ersten  Orien- 
tierung nützlich  sein  kann.  Ich  hätte  oft  mehr  geben  können,  allein 
um  das  schon  recht  weitläufige  Werk  nicht  noch  weitläufiger  zu 
machen,  habe  ich  alles  nicht  streng  zur  Sache  gehörige  bei  Seite 
gelassen. 

Die  meiste  Mühe  habe  ich  auf  den  dritten  Abschnitt  verwandt,  die 
Geschichte  des  Archivs  des  Empfängers  und  die  Zusammen- 
stellung der  urkundlichen  Quellen.  Hier  ho£fe  ich  nichts  Wesent- 
liches übersehen  zu  haben.  Auch  habe  ich  mich  dabei  nicht  bloß  auf 
die  Materialien  für  die  Papsturkunden  beschränkt,  sondern  alles 
herangezogen  was  mir  erreichbar  war,  um  allen  denen,  die  sich  mit 
der  urkundlichen  Ueberlieferung  eines  einzelnen  Empfängers  be- 
schäftigen, den  archivalischen  StofiF  möglichst  geordnet  und  übersicht- 
lich darzubieten.  Man  wird  diesen  Notizen  schwerlich  ansehen, 
welche  Summe  von  Arbeit  in  ihnen  steckt. 

In  diesen  einleitenden  Abschnitten  ist  der  Versuch  einer  ur- 
kundlichen Quellenkunde  gemacht,  wie  ich  sie  im  Anfang  als 
das  mir  vorschwebende  Ideal  charakterisiert  habe;  sie  soll  allen 
denen  dienen,  die  sich  mit  der  urkundlichen  Ueberlieferung  überhaupt 
beschäftigen,  und  sie  will  ein  Führer  sein  weit  über  das  Gebiet  der 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontifieia  vol.  I  605 

Papstdiplomatik    hinaus.      Hieran    schließen   sich    die    Regesten 
selbst  an. 

Was  zunächst  deren  Form,  Fassung  und  Sprache  anlangt,  so 
war  es  mein  Bemühen,  sie  ebenso  kurz  wie  deutlich  zu  geben.  Daß 
sie,  wie  das  ganze  Werk,  in  lateinischer  Sprache  abzufassen  waren, 
verstand  sich  von  selbst.  Die  römische  Kirche  ist  lateinisch  und 
universal;  ihre  Urkunden  sind  lateinisch  geschrieben;  die  Institutionen^ 
von  denen  sie  handeln,  sind  lateinisch.  Es  wäre  kindischer  Chauvinis- 
mus, wollten  die  paar  deutschen  Gelehrten,  die  dieses  Werk  viel- 
leicht aufschlagen  werden,  verlangen,  daß  es  um  ihretwillen  und  weil 
der  Autor  zufällig  ein  deutscher  Professor  ist,  deutsch  hätte  ge- 
schrieben werden  müssen.  Sie  wollen  überzeugt  sein,  daß  der  Autor 
die  deutsche  Sprache  schon  um  seiner  selbst  willen  vorgezogen  haben 
würde.  Denn  er  gehört  leider  bereits  der  Generation  an,  die  auf 
dem  Gymnasium  zu  wenig  Latein  gelernt  hat,  und  es  ist  für  ihn  ein 
geringer  Trost,  daß  das  was  er  damals  gelernt,  immer  noch  be- 
trächtlich mehr  ist  als  die  klägliche  humanistische  Ausrüstung,  mit 
der  die  heutige  Generation  die  Universität  bezieht.  Er  ist  hier  leider 
gezwungen,  mehr  als  ihm  lieb  ist,  an  die  Nachsicht  der  Benutzer 
appellieren  zu  müssen. 

Die  Regesten  sind  grundsätzlich  in  dem  Latein  der  Urkunden 
selbst  abgefaßt,  wenn  möglich  mit  denselben  Worten  und  unter  Bei- 
behaltung der  Konstruktion.  Ich  finde  die  von  Ja£f6  redigierten  Re- 
gesten und  ebenso  die  Lemmata  in  Jaffas  Bibliotheca  rerum  Ger- 
manicarum  und  in  den  Epistolae  der  Monumenta  Germaniae  durchaus 
nicht  nachahmenswert.  Denn  diese  wollen  gutes  Latein  bieten,  aber 
indem  sie  das  mittelalterliche  Latein  ihrer  Texte  verlassen,  werden 
sie  oft  unklar  und  dunkel.  Ich  halte  überhaupt  den  Versuch,  das 
mittelalterliche  Latein  der  Texte  in  den  Regesten  durch  klassisches 
Latein  zu  ersetzen,  für  eine  Art  von  gelehrter  Prüderie.  Mandat 
quatenus  mag  den  Ohren  der  Philologen  abscheulich  klingen,  allein  es 
ist  gutes  lebendiges  mittelalterliches  Latein  und  also  in  den  Regesten 
mittelalterlicher  Urkunden  einfach  bei^behalten.  — 

Ein  Repertorium  privilegiorum  et  litterarum  a  Romanis  pontl- 
ficibus  ante  a.  MCLXXXXVIU  concessorum  soll  dem  Titel  zufolge 
das  Werk  sein.   Aber  in  Wirklichkeit  enthält  der  Band  mehr. 

Als  ich,  wie  bereits  erwähnt,  noch  ganz  beherrscht  vom  diplo- 
matischen Interesse,  meinen  Kollegen  von  der  Göttinger  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  meinen  Plan  vortrug,^)  habe  ich  die  Aufgabe  auf 

1)  Ueber  den  Plan  einer  kritischen  Ausgabe  der  Papsturkonden  bis  Inno* 
cenz  III.  Rede,  gehalten  in  der  öfifentlichen  Sitzung  der  Königl.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  am  7,  November  1896. 


606  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

die  Papsturkunden  in  strengem  Sinne  beschränken  wollen,  unter  Aus- 
Schluß  sowohl  der  älteren  Papstbriefe  wie  der  in  den  Registern  und  in 
den  kanonistischen  Sammlungen  aufgenommenen  Stücke.  Dagegen  ist 
manches  gesagt  worden,  dessen  Berechtigung  auch  mir  einleuchtet.^) 
Wie  nun  aber  auch  die  Ausgabe  selbst  zu  begrenzen  sei,  sicher  ist, 
daß  die  gleiche  oder  eine  ähnliche  Einschränkung  bei  den  Regesten, 
welche  den  unbrauchbar  gewordenen  JaS&  ersetzen  sollen,  in  keiner 
Weise  begründet  wäre.  Die  Ausgabe  soll  die  kritisch  gesicherten 
Texte  bieten;  Deperdita,  Auszüge,  Notizen  können  dort  keinen  Platz 
finden;  in  dem  Regesten  werk  aber  hat  der  Benutzer  das  Recht,  das 
ganze  Material  im  weitesten  Umfang  vorgelegt  zu  finden,  nicht  nur 
die  Privilegien  und  Briefe,  sondern  die  Akten  der  Päpste  überhaupt, 
soweit  sie  irgendwie  auf  einer  durch  Urkunden  (im  weitesten  Sinne) 
beglaubigten  Handlung  beruhen. 

Aber  so  leicht  es  ist,  dieses  Prinzip  zu  formulieren,  so  schwierig 
ist  die  Ausführung. 

Qar  kein  Zweifel  bestand  hinsichtlich  der  Privilegien  und 
Mandate.*)  Deren  Regesten  habe  ich  zugleich  so  gestaltet,  daß 
man  sogleich  ersehen  kann,  in  welche  der  beiden  großen  Urkunden- 
gruppen sie  gehören.  Vom  Privileg  biete  ich  die  Adresse  mit  äe.^ 
wenn  die  große  Formel  angewandt  ist,  und  nach  dem  eigentlichen 
Urkundenextrakt  das  Incipit  und  eine  Art  Summarium  des  Eschato- 
kolles,  die  Unterschrift  des  Papstes,  eventuell  die  der  Kardinäle  und 
die  große  Datierung.  Da  die  Fassung  der  Privilegien  im  Allgemeinen 
nach  Formeln  geht,  konnten  die  Regesten  zumeist  sehr  kurz  gefaßt 
werden;  an  die  Aufnahme  der  Besitzungen  u.  s.  w.  war  dagegen  na- 

1)  Z.  B.  yon  F.  H.  Qrisar  in  den  Analecta  Romana  I  (Roma  1899)  663  sq. 

2)  Ich  brauche  Privüegiiun  und  bulla  auf  der  einen,  mandatum,  rescriptom 
and  breve  auf  der  anderen  Seite  zur  Bezeichnung  der  beiden  wichtigsten  Urkunden- 
gruppen der  P&pste.  Das  hat  mir  nun  seitens  der  Hüter  der  reinen  Diplomatik  bereits 
yerschiedene  Rüffel  eingebracht  Sie  woUen  von  Bullen  und  Breven  der  alteren 
P&pste  nichts  wissen.  Als  ob  es  in  der  Wissenschaft  auf  leere  Namen  ankäme. 
In  der  Diplomatik  freilich  hat  zu  allen  Zeiten  eine  Neigung  zu  starrem  Linnäis- 
mns  bestanden,  und  es  scheint,  diaß  Manchem  eine  »richtige«  Terminologie  das 
Wesentliche  ist.  Uebrigens  ist  der  Einwand  auch  sachlich  gar  nicht  so  begründet 
Im  16.  und  17.  Jahrhundert  nannten  die  Archivare  und  Diplomatiker  ganz  arglos 
die  Privilegien  und  Mandate  des  alteren  Mittelalters  Bullae  et  brevia.  So  Massa- 
reUo,  Panvinio  und  Andere.  Und  Contelori,  der  doch  vom  päpstlichen  Urkunden- 
wesen etwas  verstand,  betitelte  seine  Sammlung  der  Privilegien  und  Mandate 
Alexanders  IIL  »BuUae  et  brevia  Alexandri  IIL«  Streng  genommen  ist  auch 
Privilegium  nicht  richtig,  denn  dieser  Begriff  geht  auf  den  Inhalt,  nicht  aber  auf 
die  Form.  Mit  dem  gleichen  Recht  soUte  man  auch  Mabillons  Diploma  den  Krieg 
erklären.  Ich  aber  habe  keine  Zeit,  mich  mit  der  Fabrikation  von  Etiketten  auf- 
zuhalten und  überlasse  sie  gerne  denen,  die  nichts  besseres  zu  tun  haben« 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontificia  vol.  I  607 

türlich  nicht  zu  denken;  das  hätte  zuweilen^  die  fast  vollständige 
Reproduktion  der  Urkunde  selbst  und  also  ungebührlichen  Baum  er- 
fordert. Aus  demselben  Grunde  habe  ich  mich  entschlossen,  die  Unter- 
schriften der  Kardinäle  nur  anzudeuten  statt  sie  wiederzugeben,  ob- 
Yfohl  ich  mir  natürlich  nicht  verhehlt  habe,  daß  es  nicht  viel  hilft, 
wenn  ich  anmerke  Subscr.  22  card.  Aber  Regesten  sind  und  bleiben 
nun  einmal  Notbehelfe,  die,  wie  immer  man  es  auch  versuchen  mag, 
die  Urkundentexte  selbst  doch  nie  zu  ersetzen  vermögen.  Bei  den 
Mandaten  ist  analog  verfahren. 

Außer  den  erhaltenen  Privilegien  und  Mandaten  habe  ich  grund- 
sätzlich auch  die  Deperdita  verzeichnet,  soweit  sie  mir  irgend 
erreichbar  waren.  Daß  es  wichtig  und  nötig  ist,  auch  sie  zusammen- 
zubringen, obwohl  das  eine  Verdoppelung  und  Verdreifachung  der 
Arbeit  bedeutet,  darüber  sind  wohl  Alle  einig.  Auch  Jaffi6  und  die 
Bearbeiter  der  zweiten  Auflage  seiner  Regesten  haben  das  einge- 
sehen und  wenigstens  einen  Anlauf  dazu  genommen.  Im  Anfang 
haben  sie  ziemlich  viele  Deperdita  aufgenommen  und  mit  *  charak- 
terisiert (was  ich  übernommen  habe).  Aber  dann  ist  Loewenfeld  die 
Arbeit  vielleicht  zu  viel  geworden,  vielleicht  hat  er  auch  ein  allzu- 
starkes Anschwellen  des  Bandes  befürchtet;  genug  er  hat  den  Ver- 
such mitten  im  Werke  stillschweigend  suspendiert.  Man  kann  nicht 
sagen,  daß  dieses  Verfahren  sehr  glücklich  sei.  Ich  dagegen  habe 
es  mir  sehr  angelegen  sein  lassen,  die  Deperdita,  soweit  ich  sie  auf- 
zufinden vermochte,  aufzunehmen,  und  selbst  die  nicht  geringe  Mühe 
der  Durchsicht  der  Regesten  des  13.  Jahrhunderts  nicht  gescheut. 
Ich  hofiFe,  daß  mir  nicht  allzuviele  entgangen  sind.  Wie  wichtig  sie 
aber  sind,  wird  aus  diesem  Regestenwerk  erst  deutlich;  zahlreiche 
Empfänger,  deren  ältere  Urkunden  überhaupt  nicht  erhalten  sind, 
sind  so  zur  Aufnahme  gekommen  und  aus  dem  unverschuldeten 
Dunkel  in  das  Licht  der  Geschichte  gerückt. 

Natürlich  waren  auch  der  Liber  pontificalis  und  andere  er- 
zählende Quellen  daraufhin  durchzunehmen.  Aber  dabei  ist  ohne  eine 
gewisse  Willkür  nicht  durchzukommen.  Die  Zahl  der  Stellen,  in 
denen  ganz  offenbar  auf  eine  wirkliche  Urkunde  angespielt  wird,  ist 
nicht  gering;  von  andern  freilich  ist  es  um  so  ungewisser,  ob  wirk- 
lich eine  Urkunde  vorgelegen  habe,  oder  wenigstens  nicht  immer 
läßt  es  sich  aus  dem  Texte  erschließen.  Bei  den  Gründungen  und 
Ausstattungen  römischer  Klöster  erfahren  wir  zuweilen,  daß  sie  ur- 
kundlich verbrieft  wurden  (z.  B.  Paschal  I.  für  Mon.  ss.  Agathae  et 
Caeciliae  p.  124  n.  1  und  Leo  IV.  fur  Mon.  s.  Mariae  Gorsamm  p.  121 
B.  2) ;  man  darf  also  annehmen,  daß  dieses  auch  der  Fall  bei  den 
Klostergründungen  war,    von  denen  wir  nur  das  nackte  Faktum 


608  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

wissen,  zumal  wir  bereits  eine  Elostergründungsurkunde   ans  der 
Mitte  des  8.  Jahrhunderts  (Pauls  I.  Privileg  für  S.  Silvestro  J-K 
2346)  besitzen.    Ich  bin  danach  verfahren  und  habe  alle  Eloster- 
gründungen  in  die  Regesten  aufgenommen,   wenn   ich    damit  auch 
nicht  behaupten  will,  daß  die  dem  Hilarus  (p.  155)  und  BonifazIY. 
(p.  155)  zugeschriebenen  Klostergriindungen  von  der  Ausstellnng  vcm 
Privilegien  begleitet  gewesen  sind.   Ebenso  habe  ich  die  Nachrichten 
über  Schenkungen  von  Immobilien  an  Kirchen  und   Klöster  aufge- 
nommen.   Die  ungeheure  Masse  aber  der  Notizen  über  Schenkungai 
von  Mobtlien,  von  Gegenständen  des  Kultus,   des  Kirchenschmucks 
u.  dergl.  in  Gestalt  von  besonderen  Regesten  aufzunehmen,  habe  ich 
mich  nicht  entschließen  können,   sondern  mich  begnügt,   in  den  Ein- 
leitungen auf  die  betreffenden  Stellen  kurz  zu  verweisen.    Es  ist 
schwer,  ja  unmöglich,  da  immer  dieselbe  Linie  einzuhalten,  und  große 
und  kleine  Inkonsequenzen  wird  man  auch  da,  wie  überall  in  diesem 
Werke,  aufspüren  können. 

Immerhin,  aus  dem  Liber  pontificalis,  nach  dem  Liber  diumns 
und  nach  Analogien  kann  man  in  vielen  Fällen  mit  einiger  Sicher- 
heit auf  die  Ausstellung  von  Privilegien  schließen.  Sehr  viel  un- 
sicherer aber  ist  das  Verfahren  gegenüber  den  zahlreichen  Angaben 
über  Dedikationen  und  Konsekrationen.  Urkunden  im 
strengen  Sinne  scheinen  dabei  in  der  Regel  nicht  ausgestellt  worden 
zu  sein,  wohl  aber  wurden  diese  feierlichen  Handlungen  häufig  in 
Inschriften  verewigt,  die  zuweilen  einen  urkundlichen  Charakter  an- 
nehmen. Daß  auch  diese  Akte  der  Päpste  in  einem  Regestenwerke 
nicht  fehlen  dürfen,  ist  selbstverständlich,  und  P.  Grisar  hat  darum 
mit  Recht  Ja£fä  und  seine  Fortsetzer  getadelt,  daß  sie  jene  Nach- 
richten nicht  genug  berücksichtigt  haben.  ^)  In  der  Tat  sind  da  die 
in  den  Jaflf^schen  Regesten  gebotenen  Notizen  ganz  zufällige  und  unge- 
nügende Lesefrüchte.  Indem  ich  nun  versucht  habe,  die  Weihe- 
inschriften und  die  auf  Dedikationen  sich  beziehenden  Nachrichten 
so  vollständig  als  möglich  zusammenzubringen,  bin  ich  auf  so  viele 
Unsicherheiten  und  Zweifel  gestoßen,  daß  ich  nicht  sicher  bin,  ob 
ich  immer  das  Richtige  getroffen  habe.  Ob  z.  B.  die  Siriciusinschrift 
in  S.  Paul,  die  P.  Grisar  als  Dedikationsinschrift  angesehen  wissen 
will,  als  solche  aufzufassen  ist,  ist  mir  doch  nicht  gewiß.  Und  so  geht 
es  ähnlich  bei  andern.  Daß  die  Nachrichten  über  die  ältesten,  Pius  I., 
Marcellus  und  Silvester  I.  zugeschriebenen  Dedikationen  falsch  sind, 
brauche  ich  hier  nicht  einmal  zu  erwähnen.  Die  eine  und  andere 
Notiz  mag  mir  übrigens  trotz  aller  Aufmerksamkeit  entgangen  sein. 

So  sind  wahrscheilich  auch  dielndulgenzen  nicht  vollständig. 

1)  Analecta  Romana  I  86  sq. 


p.  Fr.  Kehr,  Italia  pontificia  toI.  I  609 

Sie  hängen  auf  das  Engste  mit  den  Dedikationen  zusammen;  aus  dem 
12.  Jahrhundert  besitzen  wir  bereits  mehrere  echte  Indulgenzverlei- 
bungen,  welche  anläßlich  von  Kirch-  oder  Altarweihen  erfolgt  sind. 
Aber  daß  die  den  früheren  Päpsten  zugeschriebenen  sämtlich  unecht 
sind  (die  Spuria  habe  ich  nach  dem  Vorgange  von  Jafif6  mit  f  be- 
zeichnet), bedarf  keines  weiteren  Beweises.  Da  sie  zumeist  sehr  viel 
späteren  Ursprungs  sind,  so  sind  sie  nicht  so  leicht  aufzufinden.  Ich 
hätte,  um  diese  dem  soliden  Urkundenforscher  nicht  sehr  sympathischen 
Materien  vollständig  zusammenzubringen,  alle  Sakristeien  von  Bom 
und  die  Menge  von  Indulgenzbüchern,  die,  z.  T.  typographische  Rari- 
täten, in  den  römischen  Bibliotheken  verstreut  sind,  aber  auch  in 
fremden  Bibliotheken  sich  finden  und  in  den  zahlreichen  spätmittel- 
alterlichen kirchlichen  Bädekern  Roms  erwähnt  werden,  durchforschen 
müssen,  um  das  Werk  mit  historisch  wertlosen  Regesten  anzufüllen. 
Aber  um  so  lohnender  würde  eine  gründliche  Erforschung  und  Unter- 
suchung dieser  Materie  für  den  Theologen  sein. 

Wie  die  Konsekrationen,  so  habe  ich  die  Judikate  aufge- 
nommen, bei  denen  Päpste  als  anwesend  oder  zustimmend  genannt 
werden.  Auch  da  gibt  es  Unsicherheiten,  die  aus  der  verschiedenen 
Natur  der  Dokumente  entspringen;  wir  besitzen  Judikate,  die  den 
eigentlichen  Urkunden  sich  unmittelbar  nähern;  andere,  bei  denen 
die  Mitwirkung  des  Papstes  oder  seines  Beauftragten  kaum  noch  er- 
sichtlich ist.  Ich  bin  auch  da  soweit  als  möglich  gegangen  und  habe 
selbst  Urkunden  und  Akte  verzeichnet,  bei  denen  der  Papst  nicht 
Aussteller,  sondern  selbst  Empfänger  war.  Konsequenz  ist  leider 
meiner  Tugenden  letzte. 

Unter  den  einzelnen  Regesten  sind  in  kursivem  Druck  die 
Quellen  und  die  Drucke  angegeben.  Daß  Ja£f^  überhaupt  nicht 
und  Loewenfeld  nur  gelegentlich  notiert  hat,  ob  die  Originale  noch 
vorhanden  sind,  ist  der  andere  große  Mangel  des  alten  Regesten- 
werkes. Es  fehlt  ihm  damit  die  rechte  kritische  Grundlage.  Ging 
das  freilich  über  Jaffas  und  Loewenfelds  Kräfte,  so  war  ich,  in  glück- 
licherer Lage,  um  so  mehr  verpflichtet,  diesem  Mangel  abzuhelfen. 
Ich  bin  sogar  noch  weiter  gegangen,  und  habe  nicht  nur  die  Origi- 
nale, sondern  überhaupt  die  Ueberlieferung  vollständig  zu  verzeichnen 
für  nötig  gehalten.  Denn  ich  halte  das  von  Sickel  bei  der  Ausgabe 
der  Diplomata  eingeführte  Prinzip,  bei  erhaltenem  Original  nur  dieses 
und  von  den  abgeleiteten  Ueberlieferungen  nur  diejenigen  aufzuführen, 
welche  als  Quellen  für  die  Drucke  genannt  werden  mußten,  nicht 
für  zweckmäßig.  Es  hat  zur  Folge,  daß  manchmal  bloß  das  Original, 
an  anderer  Stelle  auch  Kopien  und  Kopialbücher  angeführt  werden, 
so  daß  über  die  Ueberlieferung  eines  Fonds  leicht  ein  ganz  falsches 

0«ti  gel.  Am.  1906.  Nr.  B,  43 


610  GöU.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  8 

Bild  entsteht,  das,  wie  ich  weiß,  in  der  Tat  schon  zu  ernsthaften  Miß- 
Verständnissen  der  Benutzer  geführt  hat.  Ich  vermag  auch  nicht 
einzusehen,  warum  man  jeden  alten  und  wertlosen  Druck  verzeichnet, 
dagegen  nicht  die  älteren  und  jüngeren  Kopien.  Es  ist  doch  an 
sich  lehrreich,  die  ganze  Geschichte  eines  Dokuments  mit  einem 
Schlage  überblicken  zu  können,  vom  Original  durch  die  verschiedenen 
Kopien  hindurch  bis  zur  Edition.  Das  ist  doch  ein  nicht  unwichtiges 
Stück  der  Archivgeschichte.  Der  systematischen  Durchsicht  aller 
Kopien  und  Kopialbücher  endlich  verdanke  ich  die  Auffindung  einer 
großen  Zahl  von  Urkunden,  die  mir  ohne  die  gewissenhafte  Beach- 
tung selbst  jüngerer  und  jüngster  Abschriften  ganz  gewiß  entgangen 
wären.  Ich  gebe  also  auch  da,  wo  das  Original  noch  erhalten  ist, 
die  abgeleiteten  Quellen,  die  ich  in  diesem  Fall  in  eckige  Klammem 
gesetzt  habe. 

Bei  den  Drucken  habe  ich  dagegen  nur  eine  relative  Voll- 
ständigkeit  erstrebt.  Ich  habe  vor  allem  diejenigen  genannt,  welche 
am  leichtesten  erreichbar  sind;  für  den  Spezial-  und  Lokalforscher 
die  Monographien  der  Spezialliteratur,  für  die  andern  die  Sammel- 
werke, die  in  keiner  großen  Bibliothek  fehlen,  Mansi,  Migne,  die 
Bullarien.  Bei  den  Briefen  Gregors  I.  alle  Editionen  aufzuzählen, 
schien  mir  nach  Ewalds  und  Hartmanns  Ausgabe  überflüssiger  Ballast; 
für  diejenigen,  denen  die  Monumenta-Ausgabe  nicht  zugänglich  ist 
(denn  auch  an  diese  ist  zu  denken),  ist  auf  die  Ausgabe  der  Mau- 
riner,  auf  Mansi  und  Migne  verwiesen.  Bei  den  Konzilien  habe  ich 
gleichfalls  von  den  älteren  Editionen  abgesehen  und  mich  an  Mansi 
und  die  Monumenta  Oermaniae  gehalten ;  den  Liber  pontificalis  habe 
ich  nur  nach  Duchesne  und  Mommsen  zitiert.  — 

Wenn  ich  zum  Schlüsse  den  gesammelten  Stoff  überblicke  und 
ihn  mit  Jaffas  ßegesten  vergleiche,  so  ergibt  sich  eine  sehr  stattliche 
Vermehrung  der  Papstregesten.  An  Stelle  von  187  Nummern  bei 
Jaffd  habe  ich  586  registriert.  Davon  sind  nun  freilich  die  Mehrzahl 
Deperdita.  Schalte  ich  diese  aus,  so  reduziert  sich  die  Zahl  der  erhal- 
tenen Papsturkunden  für  römische  Empfänger  im  strengen  Sinn  auf 
186  gegen  132  bei  Jaff^.  Von  allem  andern  abgesehen,  so  erweisen 
schon  diese  Zahlen  die  Notwendigkeit  der  Neubearbeitung  der  JaSi6- 
schen  Begesten. 

Münchenhof  Kehr 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen  611 


Urinuidai  dramatiielier  Aiflltknuismi  Ib  Atkea  mit  einem  Beitrage  von  Qeorg 
Kaibel,  herausgegeben  yon  Adolf  Wilhelm.   Wien,  A.  Holder,  1906. 

Als  Georg  Kaibel  sich  im  Jahre  1898  entschloß,  die  Fragmente 
der  dorischen  Komödie  allein  in  den  Druck  zu  geben,  tat  er  das  sehr 
ungern,  weil  er  die  Prolegomena  ohne  die  athenischen  Inschriften 
lassen  mußte,  die  eigentlich  notwendig  dazugehörten.  Aber  zu  ihrer 
Bearbeitung  brauchte  er  neue  Abschriften,  und  die  konnte  er  nicht 
so  schnell  wie  er  gedacht  hatte  von  Adolf  Wilhelm  erhalten,  von  dem 
als  dem  allergeeignetsten  er  sie  erbeten  hatte.  Als  sie  dann  kamen, 
schrieb  Kaibel  einen  Aufsatz,  der  in  den  Wiener  Oesterreichischen 
Jahresheften  erscheinen  sollte;  die  Druckbogen  hat  er  auf  seinem 
Krankenlager  noch  gesehen,  aber  auf  baldiges  Erscheinen  nicht  mehr 
gehofft.  Im  Oktober  1901  ist  er  gestorben.  Nach  weiteren  fünf 
Jahren  erscheint  das  vorliegende  Werk  A.  Wilhelms,  gewidmet  Kai- 
bels  Andenken ;  es  enthält  auch  seinen  Aufsatz ;  aber  der  ist  in  vielem 
veraltet,  und  das  Pflichtgefühl  hatte  der  erlahmenden  Kraft  einen 
hastigen  Abschluß  abgerungen.  Da  ist  manches  verfehlt,  viel  mehr 
durch  neues  Material  überholt  und  das  Buch  bringt  daher  immer 
wieder  Richtigstellungen.  Gern  würde  ich  von  dieser  Vorgeschichte 
ganz  geschwiegen  und  nur  meine  Freude  an  dem  Geleisteten  ausge- 
sprochen haben;  aber  der  Leser  wird  auf  Schritt  und  Tritt  darauf 
gestoßen,  nach  dem  Verhältnis  zwischen  Kaibels  > Beitrag«,  wie  er 
nun  heißt,  zu  der  Arbeit  Wilhelms  zu  fragen,  die  sich  oft  an  jenen 
Beitrag  formell  anlehnt.  Das  Ergebnis  ist  sehr  unerfreulich  für  den 
Leser  und  für  Kaibel  und  für  Wilhelm.  So  hätte  es  nicht  werden 
sollen.  Jetzt  muß  ich  raten,  Kaibels  Aufsatz  zunächst  ganz  unge- 
lesen  zu  lassen;  darin  liegt,  daß  die  richtig  verstandene  Pietät  er- 
fordert hätte,  nicht  ihm  das  Buch  zu  widmen  und  ihm  dann  immer 
wieder  seine  Irrtümer  vorzurücken^),  sondern  seinen  Aufsatz  einfach 
zu  unterdrücken,  nachdem  die  Fortarbeit  ihn  weit  überholt  hatte. 
Prioritätsansprüche  waren  wirklich  etwas,  das  tief  unter  Kaibels 
Sphäre  lag,  und  so  weit  er  Ansprüche  hatte,  ließen  sie  sich  ohne 
Mühe  befriedigen:  einiges  hat  er  denn  doch  recht  treffend  erkannt 
und  schriftstellerisch  sind  diese  wenigen  Seiten  die  einzigen,  die  man 

1)  S.  185  hat  Kaibel  beim  Abschreiben  eines  Satzes  ein  Wort  ausgelassen, 
dann  gemerkt  was  fehlte  und  dorch  eine  eigene  Koigektar  berichtigt.  Ein  solches 
Versehen  beseitigt  man  stiUschweigend  und  mutzt  es  nicht  durch  eine  Anmerkung 
auf.  Nun  sie  dasteht,  moniere  ich  auch,  daß  S.  81  ein  Prolog  der  Bacchides  des 
Plautus  zitiert  wird ;  der  von  dem  Humanisten  einst  erfundene  Dramentitel  £6av- 
%(ltQ  hätte  selbst  für  sich  sprechen  soUen,  wenn  dem  Ged&chtnis  entfallen  war, 
daß  der  Anfang  des  Bacchides  verloren  ist 

43* 


612  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

mit  ungestörtem  Genüsse  lesen  kann.  Mancher  hat  während  dieser 
Jahre  sich  von  diesen  Inschriften  fem  gehalten,  weil  er  wußte,  dafl 
sie  in  Wilhelms  Händen  waren.  Aber  wir  müssen  uns  freuen,  daß 
Edward  Capps  in  Chicago  gleichzeitig  an  ihnen  arbeitete  und  in  einer 
Anzahl  vorzüglicher  Aufsätze  zum  Teil  dieselben,  zum  Teil  neue 
schöne  Ergebnisse  gewann ;  ^)  dieses  Referat  muß  beständig  auch  auf 
ihn  Rücksicht  nehmen,  und  es  ist  die  vornehmste  Rezensentenpfiicht 
die  Leser  auch  auf  diese  hervorragende  Leistung  hinzuweisen.  Das 
meiste  freilich  hat  Wilhelm  selbst  mit  unermüdlichem  Fieiße  in 
Umdrucken  und  Nachträgen  noch  berücksichtigt,  aber  um  so  mehr 
hat  er  auch  sein  eigenes  Buch  geschädigt.  Man  kann  es  im  eigent- 
lichen Sinne  nicht  lesen,  und  wer  es  studieren  will,  der  vergesse  ja 
nicht,  gleich  von  hinten  anzufangen  und  die  Nachträge  immer  mit 
vor  Augen  zu  haben.  Es  ist  um  des  Verfassers  willen  am  meisten 
zu  beklagen,  daß  er  immer  wieder  neue  sinnreiche  Einfälle  vorträgt 
und  immer  wieder  an  anderer  Aufstellungen  Kritik  übt,  so  daß  hinter 
den  Einzelheiten  das  Ganze  verschwindet  und  die  Unfertigkeit  weit 
fühlbarer  wird,  als  wenn  ein  Ganzes  mit  immerhin  unvollkommeneren 
Ergebnissen  gegeben  wäre. 

Ich  hatte  mir  erst  eine  Liste  von  besonders  glänzenden  Einzel- 
heiten, meist  icdpepYa,  angelegt,  die  ich  mit  besonderem  Lobe  her- 
ausheben wollte;  es  sind  aber  zu  viele.  Lieber  sei  der  Gesamtein- 
druck auch  nach  dieser  Seite  geschildert.  Da  redet  ein  Mann,  der 
in  den  Steinen  nicht  nur  Athens  wie  kein  zweiter  zu  Hause  ist;  er 
erzählt  uns,  wie  er  einen  Steinhaufen  im  Pelargikon,  an  dem  die  an- 
dern achtlos  vorbeigehn,  durchwühlt  und  merkwürdige  Bruchstücke 
hervorzieht;  das  Buch  ist  reich  an  Inedita,  auch  solchen,  die  wenig 
mit  dem  Theater  zu  tun  haben.  Diesem  Epigraphiker  sind  die  un- 
scheinbaren Grabsäulen  des  späteren  Athens  ebenso  geläufig  wie  die 
Staatsurkunden,  und  er  entnimmt  ihnen  so  etwas  wie  den  Grabstein 
des  Diphilos  (S.  60).  Nirgend  ist  im  allgemeinen  die  Schrift  der 
Steine  so  konservativ,  also  gleichförmig,  wie  in  Athen,  aber  ein  Kenner 
wie  es  sonst  nur  Köhler  war,  sieht  dem  Steine  doch  seine  Ent- 
stehungszeit auf  Dezennien  an,  und  anders  als  Köhler  gibt  Wilheloi 
dem  Leser  die  Kriterien  an;  allerdings  kann  er  das  leichter,  weil 
nun  die  Photographie  den  hier  wahrlich  schwierigen  Aufgaben  ge- 
wachsen ist:  die  Abbildungen  der  Steine  sind  von  vorbildlicher  Yor- 
trefflichkeit,  was  man  allerdings  an  Publikationen  des  österreichischen 

1)  Die  Aufsätze  stehen  im  American  Journal  of  Philology,  XX.  XXI,  Am. 
Journal  of  Archaeology  lY,  den  Transactions  of  the  American  Philological  Astod- 
Aktion  XXXI,  der  wichtigste  in  den  Decennial  publications  of  the  üniveraity  of 
Chicago.    Yielleicht  habe  ich  noch  einiges  übersehen. 


WilheliD,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen  613 

Institutes  gewöhnt  ist.  Die  Kenntnis  der  athenischen  Personen  ist 
eben  so  bewunderungswert  (die  Prosopographie  erfährt  zahlreiche 
Bereicherungen)  wie  die  Treffsicherheit  in  den  Ergänzungen,  die  nur 
aus  einer  Vertrautheit  mit  der  Urkundensprache  gewonnen  werden 
konnte,  wie  sie  zur  Zeit  kein  anderer  besitzt.  Wenn  unterweilen  der 
Scharfisinn  an  der  Ergänzung  eines  Brockens  nur  zu  spielen  scheint, 
weil  selbst  die  gelungene  Ergänzung  unbeweisbar  bleiben  muß  und 
niemals  etwas  wirklich  neues  lehren  kann;  wenn  etwa  erst  eine  Da- 
tierung auf  die  größere  Wahrscheinlichkeit  gegründet  wird,  daß  eine 
Buchstabenspur  eher  von  einem  T  als  von  einem  P  herrühre,  und 
dann  auf  solche  Möglichkeit  weitere  Möglichkeiten  aufgebaut  werden, 
so  ist  der  Leser  freilich  zu  besonnener  Skepsis  verpflichtet,  und  die 
Zukunft  wird  ohne  Zweifel  zeigen,  daß  zuweilen  Mühe  und  Scharfsinn 
vergeblich  aufgewandt  war.  Aber  daran  stößt  sich  nur  die  kühle 
Ueberlegenheit,  die  selber  nichts  leistet,  weil  sie  immer  erst  ängst- 
lich nachrechnet,  ob  sichs  auch  lohne,  ehe  sie  etwas  tut.  Wer  selbst 
zu  arbeiten  weiß,  der  kennt  unser  Los  und  hat  sich  darein  gefunden, 
daß  die  Wissenschaft,  verschwenderisch  und  mitleidlos  wie  die  Natur, 
eine  solche  Vergeudung  unserer  besten  Kräfte  nötig  hat.  Wen  die 
Stunden  reuen,  die  er  an  die  Feststellung  eines  Buchstabens  auf 
Stein  oder  Papier  oder  an  die  Ergänzung  eines  Buchstabens  gewandt 
hat,  der  hat  schwerlich  sehr  oft  richtig  gelesen  und  ergänzt.  Und 
auch  ein  Spielen  ist  nötig  um  zu  lernen.  Da  wir  jung  waren,  freuten 
sich  Kaibel  und  ich  auch,  wenn  wir  aus  einem  elenden  Brocken  ein 
leidliches  Epigramm  ergänzt  hatten;  nachher  haben  wirs  freilich  ge- 
lassen. Kaibel  war  tief  entrüstet,  als  ein  Naseweis  über  die  verän- 
derte Behandlung  der  Epigramme  in  seinem  römischen  Bande  herzog. 
Auch  Wilhelm  dürfte  nun  die  Zeit,  die  ihm  der  Ergänzungsversuch 
von  IG  n  280*,  S.  218,  gekostet  hat,  lieber  an  nutzbringenderes  ver- 
wenden wollen. 

Auch  darin  ist  die  Wissenschaft  verschwenderisch,  daß  sie  mehrere 
neben  und  nach  einander  dieselbe  Arbeit  tun  läßt  und  dieselben  rich- 
tigen Ergebnisse  finden,  manchmal  auch  denselben  Irrtum.  Das  ist 
hier  von  Kaibel  Gapps  Wilhelm  und  anderen  vielfach  getan.  Eben- 
deshalb ist  es  nicht  die  Wissenschaft,  die  Prioritätsansprüche  aner- 
kennt (auch  keine  Eigentumsansprüche  an  wissenschaftliches  Boh- 
material).  Demgemäß  werde  ich  zumeist  davon  absehen,  wer  etwas 
zuerst  gesehen  hat,  wenn  ich  nun  mein  Referat  in  die  Form  kleide, 
daß  ich  die  Monumente,  um  die  es  sich  hier  handelt,  und  die  Haupt- 
ergebnisse für  die  Geschichte  der  szenischen  Dichtungen  möglichst 
knapp  und  klar  vorführe.  Damit  denke  ich  dem  Leser  eine  Arbeit 
abzunehmen«  die  er  bei  der  Art,  in  der  dies  Buch  seine  schöne  Frucht 


614  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

verkapselt  hat,  notwendig  tun  müßte,  um  dahinter  zu  kommen,  was 
eigentlich  darin  stände. 

Es  handelt  sich  um  die  Reste  von  drei  großen  Steindenkmalen, 
auf  denen  die  Athener  die  urkundliche  Geschichte  ihres  Dramas  ver- 
zeichnet hatten.  Das  erste  will  ich  die  Fasten  nennen.  Es  ist 
zwischen  346  und  340  errichtet  und  dann  ist  auf  demselben  Steint 
die  Fortsetzung  nachgetragen,  mindestens  bis  329,  vermutlich,  bis 
die  Choregie  abgeschafift  ward.  Wilhelm  vermutet  ansprechend,  dafi 
es  im  Heiligtume  des  Dionysos  stand,  obwohl  kein  Bruchstück  dort 
gefunden  ist.  Es  waren  sämtliche  Siege  der  Dionysien  darauf  ver- 
zeichnet, die  der  Phylen,  &vSp(&v  und  7caCS(i>v,  und  die  szenischen,  aUe 
mit  den  Choregen,  aber  von  den  Dithyramben  nicht  die  diSdoxaXoc, 
auch  die  siegreichen  Schauspieler,  seit  es  für  sie  eine  Eonkurraiz 
gab,  endlich  die  Extraleistungen,  wenn  welche  vorkamen.  Die  In- 
schrift hatte  eine  Ueberschrift  in  größeren  Buchstaben,  ungewiß  über 
wie  viele  Kolumnen  reichend ;  es  ist  die  berufene,  ]ov  >c(0|jloi  -JJoav  t»[-- 
Wo  die  Liste  begann,  ist  ihren  Resten  nicht  abzunehmen,  nur  sicher 
viele  Jahre  vor  dem  Archon  Menon,  473/2,  in  dessen  Jahre  das  erste 
Bruchstück  oben  auf  einer  Kolumne  anhebt. 

Die  beiden  anderen  Monumente  sind  nicht  lange  nach  280,  ver- 
mutlich zu  gleicher  Zeit,  im  Dionysosheiligtum  errichtet:  es  ist  eine 
sehr  schöne  Entdeckung  von  Capps,  die  das  ermittelt  hat.  Das  erste 
sind  die  Di dask alien,  die  einen  sehr  bedeutenden  Umfang  gehabt 
haben,  denn  es  müssen  alle  szenischen  Au£Führungen  an  Dionysien 
und  Lenaeen  darauf  gestanden  haben  ^),  alle  konkurrierenden  Dichter 
und  Schauspieler,  aber  nicht  die  Choregen,  und  alle  Titel  der  auf- 
geführten Dramen.  Die  Reihenfolge  der  Agone  ist  nicht  gesichert, 
da  nur  ein  Stück,  und  das  nur  in  einer  Abschrift  Fourmonts  erhalten  *), 
sich  über  zwei  Kolumnen  erstreckt;  das  gibt  aber  links  komische 
Agone,  rechts  tragische  des  fünften  Jahrhunderts,  die  nur  den  Le- 

1)  Der  Dithyrambus  war  also  abgestorben :  er  hat  die  Abschaffimg  der  Cho- 
regie nicht  lange  überlebt.  Für  Aristoteles  war  er  nicht  minder  denkwürdig  als 
die  szenischen  Spiele  gewesen.  Offenbar  paSten  Dilettanten,  was  die  PhylenchOn 
mehr  oder  weniger  sein  mußten,  schon  im  vierten  Jahrhundert  für  die  anspnichs- 
yolle  neue  Musik  nicht  mehr  recht  Der  Virtuose,  der  xopa^^^c,  wird  seine  Truppe 
mitgeführt  haben.  Die  Techniten  Athens  waren  dann  der  Aufgabe  gewachsen;  das 
zeigen  die  delphischen  Lieder;  aber  ihr  Aufkommen  ist  mit  der  Konkurrenz  der 
Phylen  unvereinbar.  Es  ist  so  in  Athen  durch  den  Aufschwung  der  Musik  als 
Kunst  sehr  viel  musikalische  Volksbildung  zu  Grunde  gegangen.  Man  spürt  es 
schon  in  der  neuen  Komödie. 

2)  Die  Photographie  dieser  Abschrift  steht  S.  51.  Die  Zeilen  mit  dem  Datum 
ini  —  jpxovToc  sind  auf  dem  Monument  ausgerückt ;  dem  folgte  Fourmont  in  der 
zweiten  Kolumne  Zeüe  4,  vergaß  dann  aber  die  weiteren  Zeilen  einzurücken ;  das 
nächste  mal  machte  er  es  richtig.  Wilhelm  macht  sich  hierüber  unnütz  Gedanken. 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen  615 

naeen  angehört  haben  können.  Also  ist  wahrscheinlich,  daß  erst  die 
Dionysien,  dann  die  Lenaeen  behandelt  waren.  Was  wir  von  den 
Dionysien  haben,  geht  in  der  Tragödie  nicht  über  342/1  hinauf,  in 
der  Komödie  nicht  einmal  so  weit.  Auch  diese  Liste  ist  später  fort- 
gesetzt. Aus  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  ist  nur 
ein  so  gut  wie  wertloses  Bruchstück  eines  neuen  Steines  da,  S.  86, 
dessen  Besonderheit  sich  so  ohne  weiteres  erklärt,  dagegen  recht  viel 
von  einer  Tafel,  die  über  die  Komödie  des  zweiten  Jahrhunderts  be- 
richtete; man  übersieht  die  Reste  gut  auf  der  Tafel,  die  Wilhelm 
S.  69  gibt.  Vermutlich  hat  man  die  Listen  geführt,  so  lange  Auf- 
fuhrungen stattfanden,  spätestens  bis  in  die  mithradatische  Zeit.  Dann 
hat  erst  wieder  die  Erneuerung  der  Ghoregie  in  der  hadrianischen 
Zeit  Spuren  hinterlassen. 

Das  dritte  Monument,  die  Siegerlisten,  gab  nur  die  Namen 
der  siegreichen  Dichter  und  Schauspieler  mit  einer  Ziffer  dahinter, 
also  der  Zahl  ihrer  Siege,  verteilt  nach  den  beiden  Festen  und  den 
beiden  Dichtungsgattungen;  es  war  also  einfach  ein  Auszug  aus  den 
Didaskalien.  Auch  diese  Liste  hat  man  später  fortgesetzt,  wozu  das 
Monument  selbst  Platz  bot,  auf  dem  sie  eingetragen  war.  Es  war 
nämlich  ein  stattliches  anathematisches  Bauwerk  eines  siegreichen 
Agonotheten;  die  Weihinschrift  hat  Wilhelm  S.  90  schön  ergänzt;  es 
war  nicht  lange  errichtet,  als  diese  neue  Benutzung  eintrat.  Die 
architektonische  Gestalt  des  Baues  hat  sich  nicht  ermitteln  lassen; 
es  gibt  also  recht  viel  Bruchstücke,  die  man  gar  nicht  einordnen 
kann,  Namenreihen,  die  sowohl  Schauspieler  wie  Dichter  sein  können; 
das  läßt  sich  verschmerzen,  da  sie  eben  doch  nur  Namen  für  uns 
sein  können.  In  der  Anlage  des  Baues  muß  es  begründet  gewesen 
sein,  daß  die  Kolumnen  sehr  verschieden  lang  wurden.  Diejenige, 
auf  der  die  komischen  Sieger  der  Dionysien  beginnen,  S.  106,  hat 
nur  17  Zeilen  gehabt;  dagegen  hat  die  erste  der  tragischen  Dichter 
dieses  Festes  (nach  Wilhelm  und  Capps  überhaupt  die  erste)  eine 
sehr  beträchtliche  Länge  gehabt,  S.  101.  Unterschriften  der  Unter- 
abteilungen sind  für  die  komischen  Dichter  der  Lenaeen  und  für  die 
tragischen  Schauspieler  erhalten  (S.  123, 137, 145),  dagegen  fehlt  eine 
Gesamtüberschrift,  die  für  das  Verständnis  unentbehrlich  war.  Wenn 
Wilhelm  sie  am  Kopfe  der  ersten  erhaltenen  Kolumne  mit  tragischen 
Dichtem  ergänzt,  so  ist  dafür  kein  Anhalt,  und  so  kurz  wie  er  will 

1)  Köhler  hatte  ein  Brachstück,  das  er  seihst  hesaß,  auf  889/8  hezogen, 
aher  das  war  irrig  (S.  41).  Der  Stein  kam  nach  seinem  Tode  in  den  Besitz  des 
epigraphischen  Archivs  der  Akademie;  aber  diese  hat  ihn  auf  meinen  Antrag  dem 
athenischen  Museum  übergeben.  Die  Freude  an  dem  eigenen  Besitze  eines  solchen 
Stückes  hat  vor  der  Forderung  der  Wissenschaft  zurückzustehen.  ■ 


616  Gott  gol.  Anz.  1906.  Nr.  8 

(iottxal  tpaYtx(&v  TcotiQtfidv),  konnte  sie  gar  nicht  lauten:  wo  stand 
denn  vixai?  Hierüber  läßt  sich  aus  dem  Befunde  der  Bruchstücke 
eben  überhaupt  nichts  ermitteln. 

Dies  die  athenischen  Monumente:  notwendig  hinzu  gehört  noch 
ein  römisches,  dessen  Behandlung  durch  Wilhelm  von  A.  Körte 
überholt  ist  (Rhein.  Mus.  LX,  Wilhelm  S.  255).  Durch  diesen  ist 
endlich  ans  Licht  gebracht,  daß  diese  einst  ungemein  umfängliche 
Liste  sich  als  ein  Auszug  aus  den  Didaskalien  (nicht  grade  ihrer 
Ausfertigung  auf  Stein)  darstellt.  Die  Liste  gab  die  Dichter  in 
der  Reihenfolge  ihrer  ersten  Siege  (also  wie  die  Siegerliste)  ge- 
ordnet, und  zu  jedem  seine  sämtlichen  Dramen,  geordnet  nach  dem 
Platze,  den  sie  bei  der  Konkurrenz  erhalten  hatten.  Ueber  die 
Didaskalien  hinaus  ward  vermerkt,  ob  die  Dramen  erhalten  waren, 
was  selbstverständlich  nur  auf  Grund  bibliothekarischer  Forschung, 
doch  gewiß  nur  in  Alexandreia,  geschehen  konnte,  so  daß  Körte  mit 
allem  Scheine  der  Wahrheit  an  ein  Werk  des  Kallimachos  denkt 
Seit  es  verstanden  ist,  hat  dies  Bruchstück  für  unsere  Vorstellungen 
von  der  Komödie  vor  dem  Auftreten  der  beiden  Vollender  Eupolis 
und  Aristophanes  die  höchste  Bedeutung. 

Dagegen  behandelt  Wilhelm  ein  anderes  inhaltlich  verwandtes 
Monument  mit  sehr  berechtigter  Reserve.  Es  sind  die  nur  in  einer 
alten  Kopie  erhaltenen  Bruchstücke  einer  Liste  von  Aufiführungen, 
die  Kaibel,  ihr  Entdecker  (Herm.  23),  auf  Rhodos  bezogen  hat,  weü 
Aufführungen  in  jener  Stadt  öfter  erwähnt  werden;  danach  steht 
die  Inschrift  16  XII 1, 125.  In  der  Tat  ist  auf  die  Herkunft  des  Steines 
kein  zuverlässiger  Schluß  zu  machen;  auch  an  Rom  mit  Wilhelm  zu 
denken,  hat  viel  mißliches.  Am  ehesten  wird  es  ein  Verzeichnis  über 
Technitensiege  sein,  die  an  verschiedenen  Orten  errungen  sein 
konnten,  so  daß  die  hier  erwähnten  Lenaeen  vermutlich  die  atheni- 
schen sein  werden:  das  wird  sich  wohl  noch  einmal  feststellen 
lassen.  Gern  wüßte  man,  wo  der  Stein  kopiert  ist.^)  Zur  Zeit 
muß  selbst  im  ungewissen  bleiben,  wer  der  hier  mit  einer 
ganzen  Tetralogie  erwähnte  Dichter  Sophokles  war.  Ich  würde  mich 
immer  gescheut  haben,  ein  Satyrspiel  Iberer  ohne  weiteres  unter 

1)  Das  wird  sich  vieUeicht  durch  Forschungen  über  die  Reisen  oder  Korre- 
spondenzen des  FiUppo  Baonarotti  ermitteln  lassen,  dem  die  Abschrift  verdankt 
wird.  Er  bemerkt  zu  seiner  Kopie  (Herrn.  28, 268)  htiec  fragmenta  uniu$  lapidis 
sunt  non  longe  inter  se  dissitaj  quaedam  etiatn  ibidem  {quod  ex  genere  marmoris 
Uquet)  sie  sunt  depromptay  ut  litteras  intentts  habeant.  Das  ibidem  lehrt,  daß 
einmal  andere  Steine  desselben  Fundortes  vorhergingen,  und  trotz  dem  nndeatlichen, 
vieUeicht  verdorbenen  deprompk^y  verstehe  ich  die  Angabe  so,  daB  die  Brachstäcke 
aUe  in  einer  Mauer  verbaut  waren,  einige  andere  mit  der  Schriftfläche  nach  innen 
daneben  saßen. 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aaflfühmngen  in  Athen  617 

den  Nachlaß  des  großen  Sophokles  aufzunehmen,  wie  es  Nauck  ge- 
tan hat. 

Benutzung  der  Siegerlisten  scheint  bei  dem  Athener  ApoUodor 
vorzuliegen,  zu  dessen  Lebzeiten  die  Liste  noch  auf  dem  Laufenden 
gehalten  ward;  wenigstens  entspricht  seine  Art  zu  reden  ihnen  ganz 
genau,  z.  B.  E58oSoc  vtxac  IXcbv  aottxac  (tev  tpeic  XY]vatxac  8^  «^vte, 
Fm.  83. 0  Auch  in  der  Grammatikerüberlieferung  sind  genug  Spuren 
der  Sonderung  nach  den  beiden  Festen,  und  sicher  ist,  daß  in  ihr 
ein  erster  Sieg  immer  einen  Sieg  an  den  Dionysien  bedeutet.  Die 
communis  opinio  führt  solche  Angaben  auf  die  Schrift  des  Aristoteles 
zurück,  deren  Titel  am  genauesten  die  Schrifttafel  des  Hesychios 
gibt,  vtxcbv  Stovoataxcov  xai  Xif]vaix(bv  (so  zu  verbessern  für  XiQvaicovXa). 
Das  Werk  wird  nie  zitiert.  Ebenso  betrachtet  man  als  ausgemacht, 
daß  alle  Zitate  aus  den  Didaskalien,  die  bei  den  Grammatikern  vor- 
kommen, dem  gleichnamigen  Buche  des  Aristoteles  gelten,  das  in 
der  Tat  ein  paarmal  angeführt  wird.  Früher  identifizierte  man  die 
vixai  mit  den  Fasten;  jetzt  schließt  sich  Wilhelm  in  seinem  Nach- 
trage der  Ansicht  Körtes  an,  daß  ihnen  vielmehr  die  Siegerlisten 
entsprächen.  Beweisbar  ist  keins  von  beiden,  da  es  ja  eben  von  den 
vtxat  des  Aristoteles  kein  Bruchstück  gibt  und  der  Name  mehrdeutig 
ist.  Die*  erhaltenen  Siegerlisten  sind,  wie  wir  vor  Augen  haben, 
nichts  als  ein  Auszug  der  Didaskalien,  der  keinen  besonderen  Wert 
hatte,  auch  wenn  Aristoteles  oder  der  Peripatos  einen  solchen  ange- 
fertigt hatte.  Uebrigens  ist  keine  Spur  davon  erhalten,  daß  Ari- 
stoteles sich  für  die  Schauspieler  interessiert  hätte,  die  mehr  als 
die  Hälfte  der  vixai  einnehmen,  und  mir  ist  das  nicht  sehr  wahr- 
scheinlich. Wichtig  ist  dagegen,  ob  die  Fasten  auf  ein  Buch  des 
Aristoteles,  einerlei  wie  es  hieß,  zurückgehn,  also  ob  die  höchst 
respektable  archivalische  Forschung,  die  sie  repräsentieren,  ihm  ver- 
dankt wird,  wie  man  allgemein  annimmt.  Wenn  dem  so  ist,  so  muß 
man  sich  erstens  klar  machen,  daß  die  Athener  später  Leute  ge- 
funden haben,  die  sein  Buch  aus  den  Archiven  fortsetzten,  denn  die 
Didaskalien  sind  ja  erst  nach  280,  nach  Theophrasts  Tode,  aufge- 
zeichnet, siebzig  Jahre  nach  dem  präsumptiven  Schlüsse  der  aristo- 
telischen Listen.  Zweitens  ist  zwar  dieses  Monument  aus  Interesse 
an  der  Literatur  errichtet,  denn  es  verzeichnet  die  Dramentitel,  nicht 
aber  die  Fasten,  denn  diese  lassen  sogar  bei  den  dithyrambischen 
Siegen  die  Namen  der  Chorlehrer  überhaupt  fort,  während  Aristoteles 
sie  verzeichnete  (Harpokration  StSdtaxaXoc) ;  ja,  er  gab  auch  Unter- 
suchungen  über   die   Personen  der  Dichter  (Schol.  Aristoph.  Vög. 

1)  Es  ist  seltsam,  daß  ein  so  erfolgreicher  Dichter  so  gut  wie  Terschollen 
ist  j  was  Wühelxn  S.  37  üher  ihn  anführt,  sind  ganz  ondiskutierbare  Möglichkeiten. 


618  Gdtt.  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

1379),  ging  also  sicher  über  eine  bloße  Reproduktion  der  Urkunde 
hinaus.^)  Wenn  femer  die  Athener  unter  Eubulos,  während  sie  an 
ihrem  Theater  bauten,  ein  Monument  errichteten,  das  die  dionysischen 
Siege  dieses  heiligen  Bezirkes  wesentlich  als  Siege  des  Volkes  dar- 
stellte (daher  die  Nennung  von  Phylen  und  Ghoregen),  so  haben 
sie  mindestens,  wenn  sie  es  überhaupt  benutzten,  das  Werk  des 
Aristoteles  ganz  anderen  Tendenzen  dienstbar  gemacht.  Drittens 
muß  man  annehmen,  daß  Aristoteles  die  Didaskalien  in  seiner  Jugend 
als  Mitglied  der  platonischen  Schule  verfaßt  und  ediert  hat,  denn  die 
Fasten  sind  um  345  auf  Stein  geschrieben,  während  Aristoteles  bei 
Hermias  war.  Das  ist  alles  möglich;,  aber  was  führt  eigentlich  zu 
der  Annahme?  Aristoteles  hat  nach  dem  Schriftenverzeichnis  auch 
^OXt>(imovlxai  verfaßt:  die  spielen  für  niemand  eine  analoge  Rolle. 
Seine  Ilo&iovtxat  sind  ein  berühmtes  Werk;  aber  grade  sie  zeigen, 
daß  er  mit  ihnen  etwas  besonderes  geleistet  hatte,  nicht  wegen  der 
delphischen  Inschrift,  die  nur  beweist,  daß  die  Delpher  seine  Arbeit 
offiziell  annahmen,  sondern  weil  er  auch  einen  IIt>d>iovixo&v  SXefxoc 
geschrieben  hat,  weil  sein  Buch  bei  Hesych  den  Vermerk  trägt,  &' 
&y  ivlxiQoe  Mdyaix(iov,  und  weil  wir  bei  seinem  Rivalen  Herakleides 
die  Benutzung  einer  fabelhaften  Pythionikenliste  finden  (Ps.  Plutarch 
de  mus.  3.4).  Grade  hier  sehen  wir  also,  daß  Aristoteles,  oder  selbst 
die  Akademie,  der  er  damals  angehörte,  keineswegs  allein  mit  archi- 
valischen  Studien  beschäftigt  ist.  Derselbe  Herakleides  (Ps.  Plut.  8) 
führt  eine  ^poLfp-ii  nava^Yjvaicov  icepl  toD  uiooaixoö  aYobvoc  an,  neben  der 
ein  Abschnitt  scepl  too  Y^pixoö  gestanden  haben  wird :  das  kann  man 
sich  ganz  analog  zu  unseren  Fasten  denken.  Ueber  die  Panathenaeen 
hat  Aristoteles  nicht  geschrieben.  Benutzung  und  Erschließung  von 
Urkunden  ist  in  der  Zeit  des  Ephoros  Phanodemos  Androtion  denn 
doch  nicht  etwas  singuläres.  Also  weshalb  diese  Annahme?  Weiter, 
wenn  Männer  wie  Kallimachos,  Eratosthenes,  Aristophanes  Didaskalien 
zitieren,  wie  in  aller  Welt  kann  man  wahrscheinlich  machen,  daß  sie 
damit  Aristoteles  meinen?  Wenn  z.  B.  Aristophanes  den  Titel  des 
sophokleischen  Aias  ohne  Distinktiv  aus  den  Didaskalien  zitiert,  im 

1)  Eine  besondere  Bewandnis  mufi  es  mit  den  eupi^fxaTa  der  einzelnen  Dichter 
haben,  die  in  den  Biographien  stecken,  bei  MyUos,  Aischylos,  Sophokles,  Krates  o.  a. 
Sie  müssen  einmal  mit  scharfer  Kritik  im  Zusammenhange  dorchrevidiert  werden. 
Es  ist  unausstehlich,  daß  immer  so  getan  wird,  als  verstünden  wir  das  berufene 
b  Zo^oxX^c  ^p&  Toü  Spafxa  irpoc  Spctpa  dywv^Cec^dai  dXXdt  [ki^  TrrpaXoytto^i  (oder  gar 
OTpaToXoYeTaOaO,  und  daß  ab  und  an  einer  kommt  und  einen  neuen  EinfaU  in  die 
Luft  baut.  Erst  wenn  wir  wissen,  wann  und  wie  solche  Traditionen  in  die  Lite- 
ratur kommen  und  welche  Glaubwürdigkeit  sie  haben,  kann  man  vieUeicht  hoffen, 
die  Angabe  zu  verstehen ;  ob  sie  etwas  taugt,  wird  sich  vielleicht  auch  dann  noch 
nicht  entscheiden  lassen. 


Wilhelm,  Urkanden  dramatischer  Aafif&hningen  in  Athen  619 

Gegensatz  zu  Dikaiarchos,  so  meint  er  das  authentische  offizielle  Mo- 
nument, nicht  ein  Werk  von  Dikaiarchs  Lehrer.  Aber  die  Haupt- 
sache ist,  daß  wir  uns  klar  machen,  daß  auf  Aristoteles  am  Ende 
hier  gar  nichts  ankommt.  Gesetzt  auch,  er  wäre  der  einzige  Ver- 
mittler der  Archive  des  Archons  und  des  Königs,  so  ist  er  eben 
nichts  als  Vermittler,  und  nur  auf  das  authentische  Dokument  kommt 
es  uns  an.  Gewiß,  auch  seine  Poetik  zeigt,  daß  er  und  seine  Zu- 
hörer die  Didaskalien  kennen,  aber  das  erscheint  wieder  nicht  als 
ein  Produkt  seiner  Kritik,  sondern  als  etwas  allgemein  bekanntes. 
Es  ist  wie  mit  den  athenischen  Gesetzen,  die  er  in  der  Politie  der 
Athener  anführt,  und  die  er  nicht  gesammelt  hat,  sondern  anderen 
verdankt,  ebenso  wie  seinen  historischen  Stoff.  ^) 

Das  Wichtige  ist  erst,  daß  wir,  einerlei  durch  welche  Vermitte- 
lung,  an  die  authentischen  Aufzeichnungen  über  die  Aufführungen 
im  Dionysosbezirk  und  im  Lenaion  gelangen,  von  diesen  eine  klare 
Vorstellung  gewinnen  und  so  unanfechtbare  Daten  erhalten.  Daß 
wir  mit  diesen  und  ähnlichen  alten  Urkunden  wirtschaften  gelernt 
haben,  ist  ein  großer  Fortschritt  des  letzten  Menschenalters,  und  es 
weist  uns  für  die  ältere  griechische  Geschichte  den  Weg,  der  vdrk- 
lich  noch  zu  sicherer  Abgrenzung  zuverlässiger  gleichzeitiger  Auf- 
zeichnung und  quasihistorischer  Tradition  führt  und  weiter  führen 
wird.  Capps  hat  meiner  Jugendarbeit  über  die  megarische  Komödie 
die  Ehre  angetan,  im  Gegensatze  zu  ihr  das  Richtige  zu  entwickeln. 
Als  ich  sie  schrieb,  stand  ich  auf  dem  Standpunkte  der  Kritik  jener 
Tage,  die  des  Spieles  mit  allen  möglichen  Traditionen  überdrüssig, 
mit  der  Quasihistorie  reinen  Tisch  machen  wollte  und  daher  die 
ältesten  erhaltenen  Zeugen,  Herodot,  Thukydides»  Aristoteles,  aus- 
schließlich zur  Norm  machte.  Wie  viel  schöne  Ergebnisse  diese 
Kritik  erzielt  hat,  dafür  genügt  es  den  Namen  von  Benedictus  Niese 
zu  nennen.  Allein  sie  rechnete  zu  wenig  damit,  daß  uns  doch  nur 
ein  kleiner  Teil  von  dem  erhalten  ist,  was  den  antiken  Forschern, 
die  diesen  Namen  verdienen,  also  einigen  Philosophen  und  vor  allem 

1)  Es  steht  nun  außer  Frage,  daß  Dieuchidas  seine  megarische  Chronik  zu 
Lebzeiten  des  Aristoteles  geschrieben  hat;  man  darf  also  annehmen,  daß  er  die 
megarischen  Ansprüche  erhoben  hat,  die  Aristoteles  in  der  Poetik  erwähnt  Ihn 
zu  schlagen  hat  die  Atthis,  der  die  pansche  Chronik  folgt,  die  athenische  Komödie 
mit  Susarion  von  Ikaria  vor  die  erste  Tyrannis  des  Peisistratos  gerückt  Ins  Blaue 
erfunden  ist  das  nicht;  es  werden  Traditionen  von  Ikaria  den  Namen  geliefert 
haben;  daß  die  Spiele  der  i^tkovzai  so  alt  waren,  darf  man  den  sf.  Vasen 'entnehmen. 
Schwindelei  ist  erst  Soucapfwv  l'pi7ro)f(7xioc  von  megarischer  Seite,  und  die  Urteile 
Solons  über  die  Tragödie  von  athenischer.  Schwindelei  übrigens  auch  die  sikyonische 
Tragödie  mit  Epigenes  und  Neophron,  und  auch  sie  wird  überlieferte  Namen 
verwerten. 


620  GdU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

den  Grammatikern  (kaum  je  den  Historikern),  zugänglich  war.  Und 
sie  vergaß  oder  leugnete  gar  die  Existenz  von  alten  lokalen  Aofzeich- 
nungen,  die  von  solchen  Forschern  ans  Licht  gezogen  wurden,  also 
Beamtenlisten;  Siegerlisten,  Chroniken.  In  der  Historie  sind  leider 
die  Uebertreibungen  jener  Kritik  noch  nicht  ausgestorben;  man  muß 
noch  erleben,  daß  die  olympische  Siegerliste,  die  attische  Beamte- 
liste  seit  Kreon  mit  ihren  historischen  Notizen,  wohl  gar  die  Chro- 
niken der  ionischen  und  äolischen  Städte  geleugnet  werden.  Solche 
Athetesen  sind  Nachzügler  einer  überwundenen  Methode,  die  nieman- 
dem mehr  viel  schaden  werden,  der  griechische  Bücher  und  In- 
schriften philologisch  traktieren  kann.  Es  gibt  freilich  auch  Nach- 
zügler, die  die  urkundliche  Chronologie  der  Dramen  zu  verrücken 
wagen;  aber  das  war  schon,  als  Lachmann  es  tat,  ein  6it^p  ta  lo- 
xa(i|idya  injSdv.  So  wie  die  Forschung  jetzt  steht,  freilich  zumeist 
dank  den  epigraphischen  Entdeckungen,  brauchen  wir  eigentlich  die 
athenischen  Theaterinschriften  nicht  um  die  grammatische  Tradition 
gelten  zu  lassen,  die  ich  einst  ebenso  vorschnell  angriff  wie  die  me- 
garische  Komödie.  Wenn  Suidas  XkovlSiqc  sagt,  8v  xal  X^oooi  icpö- 
tov  aY(üvtaTY]V *)  Y^v^oä-at  ttJc  Apxa^ac  xcü|jLa)t8tac,  StSdoxstv  8'  Steoiv 
IQ  Tcpb  xm  Ilepaixcdv,  von  Magnes  iicißdXXei  'Emxöip|ia)t  vdoc  ^peoßonji, 
von  Epicharm  i[^  npb  tcdv  Ilepaixäiv  Itt)  c  8i8doxü>v  Iv  Sopaxo&aatc,  iv 
8'  Adnjvaic  E^dryjc  xal  £()£evi8Y]c  xal  MoXXoc  iff68stxvov'co,  so  muß  jetzt 
jeder,  der  die  Quellen  und  die  Tradition  der  alexandrinischen  Ge- 
lehrsamkeit kennt,  als  Niederschlag  der  antiken  Wissenschaft  ein- 
tragen und  als  verbindlich  anerkennen,  Epicharm  wird  datiert  nach 
dem  Jahre,  in  dem  seine  megarische  Heimat  in  Syrakus  aufging; 
zu  dem  sind  aus  der  athenischen  Liste  Synchronismen  gesucht. 
Magnes  muß  später,  Chionides  früher  als  dieses  Jahr  fallen,  und 
Chionides  war  der  erste  Name  in  der  Liste  der  attischen  Komiker, 
mit  andern  Worten,  die  Komödie  ist  im  Jahre  487/6,  Archen  Tele- 
sinos,  vom  Staate  anerkannt.  Dies  ist  das  Jahr,  auf  das  die  über- 
lieferte Rechnung  führt :  der  achte  Archontenname  vor  Kalliades,  der 
mit  den  Hspaixd  identisch  ist,  aber  normal  als  erster  der  Acht  zu 
zählen  ist.  Daran  haben  wir  uns  zu  halten,  ohne  zu  vergessen,  daß 
auf  dem  Wege  der  Umrechnung  und  der  langen  Tradition  von  Hand 
zu  Hand  eine  kleine  Verschiebung  eingetreten  sein  kann.  Mit  vollem 
Rechte  haben  Eduard  Meyer,  Capps  und  Wilhelm  so  geschlossen. 
Als  eine  erwünschte  Bestätigung  tritt  hinzu,   daß  die  Fasten  einen 

1)  So  muß  man  für  irpcDTaytüvian^v  verbessern,  ob  der  Fehler  vor  oder  hinter 
Soidas  fällt,  ist  einerlei.  Denn  irfMOTOYtuvton^c  ist  ein  Wort  mit  technisch  fixierter 
Bedeutung  und  bezeichnet  xd  7cpu>xa  dt7u>viC<$fuyoc.  Wo  gibt  es  eine  Komposition, 
in  der  Tcpwxoc  den  zeitlich  ersten  einer  Reihe  bezeichnet? 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  AnffÜlhrungen  in  Athen  621 

Sieg  des  Magnes  unter  Menon,  472,  angeben,  daß  sein  Name  in  der 
Dionysienliste  der  Komiker  an  sechster  Stelle  steht,  Chionides  nicht 
hinter  ihm,  also  sicher  vor  ihm  gestanden  hat,  und  daß  Euetes  in 
der  Liste  der  tragischen  Sieger  hinter  Aischylos,  d.  h.  dessen  erstem 
Siege,  484,  aufgezeichnet  ist.  Einen  Tragiker  konnte  freilich  niemand 
in  ihm  erwarten,  und  weshalb  diese  Namen  für  den  Synchronismus 
gewählt  sind,  bleibt  ein  Rätsel.^) 

Gewiß,  so  ist  es,  und  meine  Meinung  ist  falsch,  daß  die  Ko- 
mödie erst  in  den  sechziger  Jahren  eingeführt  wäre.  Aber,  war  es 
denn  barer  Unverstand,  daß  ich  dem  Suidas  nicht  glauben  wollte? 
Nach  Capps  muß  das  so  scheinen,  obwohl  er  selbst  sich  durch  mich 
hat  blenden  lassen  und  den  Myllos  preisgibt,  was  Wilhelm  berichtigt 
hat.^  Ich  habe  deutlich  gesagt,  daß  ich  den  Suidas  verwürfe,  weil 
er  in  Widerspruch  zu  Aristoteles  stünde,  dem  ich  die  Unfehlbarkeit 
in  literarhistorischen  Angaben  zuschrieb.  An  dem  Widerspruch  hat 
sich  auch  nichts  geändert  und  konnte  sich  nichts  ändern.  Denn 
Zeugnisse  können  zuwachsen,  das  Werturteil  mag  sich  verschieben, 
aber  die  grammatische  Interpretation  eines  Satzes  ist  davon  ganz 
unabhängig.  Aristoteles  nennt  in  der  Poetik  den  Epicharm  mkXüa 
«cpörepoc  &v  Xio>vC8ot>  xal  MdYVYjtoc.  Trotz  allen  dialektischen  Künsten 
ist  und  bleibt  das  ein  Widerspruch  zu  MdYVTjc  iscißdXXet  'Eicix^piicot 

1)  Ob  Euxenides  Tragiker  oder  Komiker  war,  ist  also  ungewiß.  Uebrigens 
wird  nun  auch  der  Suidasartikel  Anerkennung  finden  E6ptdoTj(  'Adrjvaioc  xpayixt^c, 
irptcrßiTepo«  too  Iv8(55ou  yevofi^vou,  iUoa^  Spoffiaxa  tß'  (d.  h.  drei  Tetralogien),  elXc 
li  vfxac  ß'.  Seltsam  wäre  es,  wenn  er  nicht  mit  dem  Sohne  des  Mnesarchos  ver- 
wandt gewesen  wäre,  dessen  Vita  von  ihm  schweigt. 

2)  Was  er  S.  246  sagt,  beweist  freilich  nur,  daß  ein  Mensch  fi6XXoc  heißen 
konnte,  nicht  daß  es  einen  Komiker  Myllos  gab.  Dazu  muß  man  die  Stellen,  die 
Meineke  126  anführt,  ordnen.  Sehr  viel  geht  auf  die  eine  Paroemiographennotiz 
zurück,  die  im  Pariser  Zenobios  V  14  die  Fundstelle  des  sog.  Sprichworts  MuXXoc 
irctvr'  dxo'jti,  einen  Vers  aus  den  Kleobulinai  des  Kratinos,  anführt  und  die  Erklä- 
rung gibt  *er  stellt  sich  taub,  um  alles  zu  hören'.  Daneben  wird  bemerkt  Icti  8i 
xal  xa>[xu>i8id)v  7co(i]T7]c  outcd  xaXo6fjievoc.  Also  man  kennt  den  Komiker ;  dieser  Er- 
klärer bezieht  den  Kratinosvers  nicht  auf  ihn.  Arkadius  53  hat  den  Namen  unter 
den  xupia  8io6XXaßa  e^c-XXoc  mit  dem  Vermerke  icoiY)t7]c  xu)fAix($c.  Auf  eine  andere 
Deutung  des  Kratinosverses  geht  die  Diogenianglosse  MuXXoc  (verdorben  in  AuXXoc, 
aber  im  Hesych  verbessert :  die  Eorruptel  auch  bei  Theognost  Kan.  832)  Hesych.  Phot 
i:ötT)T>jC  iid  \nopiai  xu)pLU)i$ou(Aevoc.  Ob  Kratinos  sich  auf  den  Dichter  bezog,  können 
wir  nicht  entscheiden.  Die  Akzentregel  steht  etwas  ausführlicher  bei  Eustathios 
zum  u  106  piöXXo«  x6piov  biroxpiToo  raXaiou,  8«  fjuXxtuToTc,  ^aaf,  7rpooa)7üt(oic  ijj^iitsaTO. 
Das  ist  problematisch;  fA6XXoc  klingt  an  fji^Xxoc  an,  aber  an  sich  ist  eine  solche 
Angabe  über  eine  mennigbeschmierte  Maske  für  einen  Primitiven  denkbar  genug ; 
Schauspieler  oder  Dichter  verschlägt  nichts.  Entscheidend  war  die  Unterschei- 
dung des  Dichters  M6XXoc  von  dem  fioXXii;  bei  Kratinos.  Die  gibt  eine  Tatsache, 
der  man  zu  glauben  verpflichtet  ist. 


622  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

vioc  icpeoßotiQi,  und  zu  einer  Chronologie  der  Komödie,  die  Chionides 
vor  Epicharm  stellt.  Wer  TcoXXfl^i  icpötepoc  ist,  der  ist  kein  Zeit- 
genosse. Zu  erzählen,  Epicharm  war  lange  vor  seiner  syrakusischen 
Tätigkeit,  auf  die  sich  Suidas  bezieht,  ein  hochberühmter  Mann, 
dessen  Einfluß  in  Athen  bewirkte,  daß  die  formlosen  Poaseii  der 
id>6Xovtal  sich  zu  der  Komödie  erhoben,  die  dann  staatliche  Aner- 
kennung fand,  ist  eine  jener  Verlegenheitsausreden,  mit  denen  aller 
2^iten  vergeblich  versucht  wird,  einem  unbequemen  Zeugnis  die 
Spitze  abzubiegen.  Nein,  der  Wahrheit  ins  Gesicht  gesehen.  Wir 
kennen  die  Zeit  des  Chionides  und  Aristoteles  kannte  sie  ebenso, 
dank  den  authentischen  Aufzeichnungen  im  Archive  des  Archons. 
Wenn  er  dann  den  Epicharm  sehr  viel  früher  ansetzt,  so  hat  er  ihn 
anders  angesetzt,  als  die  ihn  kurz  vor  oder  nach  den  Ferserkriegen 
und  Hieron  datieren.  Und  wenn  diese  Datierung  richtig  ist,  dann 
hat  ihn  eben  Aristoteles  falsch  datiert.  Nun  habe  ich  eine  Tradition 
bereits  aufgezeigt,  die  wirklich  den  Epicharm  in  das  sechste  Jahr- 
hundert rückt,  und  eben  in  peripatetischen  Kreisen,  im  Peplos,  habe 
ich  sie  aufgezeigt.^)  Da  haben  wirs.  Der  spätere  Ansatz,  den  wir 
in  der  parischen  Chronik,  bei  Timaios  und  dann  weiter  finden, 
gründet  sich  auf  bestimmt  datierbare  Dramen  aus  Hierons  Zeit,  ja 
es  gab  eine  Beziehung  auf  Aischylos,  die  also  frühestens  470  fallra 
kann  (Fg.  214).  Es  gibt  freilich  auch  Verse,  selbst  aus  Komödien, 
die  Piatons  eigenste  Philosophie  voraussetzen:  man  sieht,  wie  un- 
sicher alles  ist,  was  die  Person  und  den  Nachlaß  dieses  Dichters 
angeht.  Kein  Wunder,  daß  eine  Ueberlieferung  ihn  auch  viel  älter 
machte.  Auch  wer  ohne  die  Kenntnis  des  uns  geläufigen  Ansatzes 
bei  Piaton  neben  Homer  als  Haupt  der  Tragödie  den  Epicharm  als 
Haupt  der  Komödie  bezeichnet  findet,  wird  ihn  nicht  leicht  fttr 
einen  Zeitgenossen  des  Aischylos  halten,  und  Piaton  hat  das  sicher- 
lich so  wenig  getan  wie  Aristoteles.  Ganz  ebenso  schwanken  be- 
kanntlich die  Ansätze  der  Zeit  für  Stesichoros  und  Hipponax. 

An  den  Dionysien  486  ward  die  erste  Komödie  von  einem  staat- 
lichen Chore  aufgeführt;  ein  ganzes  Menschenalter  hindurch  blieben 
die  Dichtungen  so  unliterarisch,  wie  es  die  der  freiwilligen  Chöre 
gewesen  waren:  das  ist  die  Zeit,  aus  der  man  nur  Dichtemamen 

1)  Textgesch.  der  Lyriker  23.  Jacoby  Marm.  Par.  181.  Alkimos  der  Si- 
keliote  benutzt  fiir  Epicharm  gewiß  im  besten  Glauben  Gedichte,  die  keine  siebiig 
Jahre  alt  waren,  da  sie  Piatons  ausgebildete  Ideenlehre  voraussetzen  (wichtige 
Zeugnisse  für  das  geistige  Leben  unter  Dionysios  I);  noch  Theokrit  denkt  bd 
Epicharm  wesentlich  an  den  Dichter  weiser  Sprüche,  und  wenn  er  ihn  Erfinder 
der  Komödie  nennt,  so  kann  er  ihn  zeitlich  ansetzen  wie  Aristoteles,  Textgetch, 
der  Bukol.  195.  251. 


Wflhelm,  Urkunden  dramatischer  Aaff&brungen  in  Athen  623 

kannte,  die  Xe^öiisvoi  TtoirizaU  wie  Aristoteles  sieb  ausdrückt.  Mit 
Kratinos  (453)  und  Krates  (450)  *)  treten  Dichter  auf,  die  ihre  Werke 
auch  schriftlich  verbreiten,  auf  die  sich  also  das  Urteil  des  Aiscbylos 
über  Form  und  Inhalt  der  ältesten  Komödie  gründet.  *)  Aber  nur  von 
Kratinos  hatte  sich  eine  größere  Zahl  erhalten,  und  noch  lange  dauerte 
es,  bis  auch  nur  ein  Titel  für  jeden  Chor  von  den  Behörden  ange- 
geben wurde,  obwohl  die  Komödie  so  beliebt  war,  daß  der  Staat  fünf 
Chöre  ausrüstete.  Erst  am  Anfange  der  zwanziger  Jahre  bringen  die 
jungen  Leute  Eupolis  und  Aristophanes  das  Spiel  wirklich  auf  seine 
Höhe;  und  doch  hat  grade  damals  der  Staat  zwei  Chöre  für  das 
Fest  gestrichen.  Dies  sind  Tatsachen,  die  Körte  aus  den  römischen 
Steinen  gewonnen  hat;  die  verwirrten  Angaben  der  Aristophanes- 
scholien  über  Gesetze,  die  die  Komödie  beschränkten,  sind  bisher  mit 
dem,  was  die  Steine  lehren,  nicht  ausgeglichen;  das  muß  von  neuem 
versucht  werden,  wenn  es  auch  nicht  sehr  aussichtsvoll  ist. 

Das  Monument  der  Fasten  hat  über  die  Einführung  der  Komödie 
nicht  anders  berichtet,  als  daß  unter  Archon  Telesinos  die  drei 
Zeilen  hinzutraten  )Ui>|ia>t8ä>v  6  8eiva  Ix^pi^Y^^  XlüdvISiqc  ISiSaoxsv,  und 
zwar  zwischen  Dithyramben  und  Tragödie,  denn  auch  über  die  Reihen- 
folge der  Spiele  entscheiden  die  Fasten.  Daß  kein  weiterer  Vermerk 
da  waf,  ergibt  die  Analogie  der  Einführung  der  Schauspielerkon- 
kurrenz. Denn  Capps  und  Kaibel  sind  in  der  Berechnung  zusammen- 
getroffen, daß  im  Jahre  449/8  zum  ersten  Male  eine  neue  Zeile  zu- 
trat, o9coxptd]c  'HpaxXeCSY]^:  den  Namen  des  ersten  Siegers  liefert  die 
Siegerliste  S.  137.  Auf  die  Einführung  der  Komödie  durfte  demnach 

1)  Dies  die  Ansätze  bei  Eusebius-Hieronymus,  die  man  auf  ein  Jahr  nur  mit 
Reserve  fixieren  darf,  die  aber  am  Ende  auf  den  ersten  Sieg  an  den  Dionysien 
gehen,  wie  namentlich  Capps  treffend  in  solchen  Fällen  deutet  Denn  in  der  Sieger- 
liste S.  107  ist  Kratinos  der  zweite  Name  nach  Euphronlos,  der  für  458  feststeht, 
Erates  der  zweite  hinter  Kratinos.  Damit  sind  auch  die  zwischenstehenden 
Namen,  Ekphantides  und  Diopeithes,  einigermaBen  fixiert. 

2)  Bei  Krates  konstatiert  er  den  Einflufi  des  Epicharmos,  d.  h.  der  Dramen, 
die  er  von  diesem  kennt.  Es  ist  also  nicht  anzunehmen,  daB  er  die  Anfänge  der 
athenischen  Komödie  aus  Sicilien  ableitet.  Noch  viel  weniger  hat  er  die  Ansprüche 
der  Megarer  sich  zu  eigen  gemacht,  deren  Gründe  er  so  angibt,  daß  er  sein 
eigenes  urteil  nicht  bloB  zurückhält,  sondern  die  Ableitung  von  x({)fAT)  statt  von 
xwfjioc  offenbar  als  ebenso  willkürlich  betrachtet  wie  die,  daß  Sp^v  dorisch  und 
unattisch  wäre.  Wessen  Sprachgefühl  nicht  so  weit  reicht,  daß  er  den  Unterschied 
▼on  oratio  directa  und  indirecta  unterscheiden  kann,  der  soU  keinen  Aristoteles 
deuten  woUen.  Wir  werden  aUerdings  die  burlesken  Szenen,  die  auf  die  Para- 
base  folgen,  wirklich  für  Athens  dorische  und  boeotische  Nachbarn  reklamieren. 
Das  beste  an  der  alten  Komödie,  die  {afißtx^  l^ia^  ist  für  Aristoteles  und  ftür  uns 
national-attisches  Produkt,  und  was  für  dieses  einigermaßen  Vorbild  war,  ist  der 
ionische  Iambus. 


624  Gott.  gel.  Adz.  1906.  Nr.  8 

Kaibel  die  Ueberschrift  der  Fasten  nicht  mehr  beziehen.     Was  aber 
steckt  in  dem  -ov  xtt>(tot  iljaav  ta>V    Das  hängt  mit  der  andern  Frage 
zusammen,  wie  weit  reichten  die  Fasten  hinauf?    Darauf  geben  die 
Bruchstücke  keinen  Hinweis ;  aber  die  Grammatikerüberliefernng,  die 
in  Sachen  der  Komödie  so  vortrefflich  stimmt,   versagt    auch  hier 
nicht.  Sie  liefert  die  erste  Aufführung  einer  Tragödie  durch  Thespis 
von  Ikaria  im  Jahre  533,  ^)  die  ersten  Siege  des  Choirilos,   OL  64 
(523—20),  und  Phrynichos,  01.67  (511—8),   den  ersten  Männerchor 
unter   Archen  Lysagoras   (510?   507?   Jacoby  M.  P.  174),    die  Kon- 
kurrenz  des  Aischylos  mit   diesen   zwei   Ol.  70   (499—96).      Diese 
Daten  sind  genau  so  unanfechtbar  wie  die  über  die  Komödie,   und 
da  ich  über  sie  später  gehandelt  habe  als  über  jene,  habe  ich  sofort 
den   Thespis   gegen   dieselben   Zweifel   verteidigt,    deren    ich   midi 
gegenüber  Euetes  schuldig  gemacht  hatte.    Wie  sollte  es   denkbar 
sein,  daß  die  Athener  in  der  Chronik,  mit  der  sie  den  Neubau  ihres 
Theaters  schmückten,  diese  ganze  Zeit  übergangen  hätten?    Kaibel 
hat  das  auch  nicht  geglaubt,  sondern  die  Liste  mit  Thespis  beginnen 
lassen;  aber  Capps  und  Wilhelm  suchen  den  Anfang   in   der  Ein- 
führung der  Choregie  und  leugnen  sogar,  daß  die  parische  Chronik 
mit  x^P^^  icpodtov  -fjYoviaavro  avSpcÄv  bezeuge,  daß  damals  zuerst  ver* 
zeichnet  ward,  i^  Seiva  f  oXi]  ivixa  av8pä)v.  Dazu  verführt  sie  eine  Be- 
rechnung des  fehlenden  Anfanges  der  Steinschrift.  Wenn  es  nämlich 
bloß  zwei  Kolumnen  gewesen  sind  vor  der,  die  in  dem  Jahre  des  Menon 
anfängt,  und  wenn  alle  Jahre  mit  ebensoviel  Zeilen  wie  später  ausge- 
füllt waren,  außer  daß  unter  Telesinos  (oder  wohin  sie  die  acht  Jahre 
vor  den  Perserkriegen  bei  Suidas  erstrecken),  zwei  Zeilen  hinzutreten, 
so  geht  die  Rechnung  auf,  oder  besser,  so  läßt  sich  eine  Verteilung 
ersinnen,  die  aufgeht.    Das  sind  zu  viele  Wenn.    Woher  wissen  wir 
denn,  daß  sich  in   den  Agonen  nichts  geändert  hat,  also  z.  B.  die 
Knabenchöre  gleich  mit  den  Männerchören  eingeführt  sind?    Femer 
ist  es  wirklich  kaum  denkbar,  daß  im  Jahre  479  die  Feste  ganz  me 
in  Friedenszeiten  begangen  sind,   während  Athen  in  Trümmern  lag 
und  der  Einmarsch  der  Perser  alle  Tage  erwartet  werden  konnte. 
Ein  Vermerk  inl  KaXXtdSoo  o&x  Iy^vsto  wirft  die  ganze  Rechnung 
über  den  Haufen.    Hier  haben  wir  nur   die  Lücke;   aber   in   den 
Grammatikernotizen  steckt  eine  Parallelüberlieferung,   die  uns  zeigt» 

1)  Jacoby  M.  P.  172.  Die  Heimat  ist  wesentlich ;  vermatlich  wird  sie  noch 
einmal  beanstandet  werden,  weil  es  doch  noch  keine  Demotika  gab,  wie  bei  Myron 
von  Phlya.  Offenbar  steUen  sich  diese  weisen  Historiker  vor,  daS  Athen  zu  den 
Zeiten,  wo  es  von  Ackerbau  lebte,  keine  Durfer  hatte,  und  daß  es  vor  'Thesens' 
aus  vielen  ikSXiic  bestand,  rechnen  sie  nicht  mit,  weü  Theseus  ein  mythischer 
Name  ist. 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Aa£fühningen  in  Athen  625 

was  wir  in  ihr  zu  erwarten  haben;  also  mUssen  wir  mit  dieser  ope- 
rieren; mit  der  Null  soll  man  nicht  dividieren.  Nur  eins  steht  noch 
auf  dem  Steine,  der  Rest  der  Ueberschrift,  die  dem  ganzen  Monu- 
mente der  Fasten  galt.  Als  ich  sie  einst  auf  die  Einführung  der 
Komödie  bezog,  postulierte  ich  einen  Stein  davor,  der  die  ältere 
Zeit  umfaßte.  Den  hat  es  nicht  gegeben,  und  mit  Recht  ist  meine 
Ergänzung  verworfen  worden,  weil  xwjiot  nicht  x(ö|jLü)t8Cat  sind.  Wir 
müssen  anerkennen,  daß  der  Ausgangspunkt  der  Fasten  die  Ein- 
führung der  xä)|jLoi  war,  einerlei,  ob  wir  die  Bedeutung  derselben 
verstehn  oder  nicht.  Erwähnt  werden  sie  einzig  in  dem  Gesetze  des 
Euegoros,  das  in  der  Midiana  10  eingelegt  ist:  da  steht  hinter  den 
ländlichen  Dionysien  xal  toic  ^v  äatet  Atovoafoic  tq  «ojiiri]  <xal  ot  ävSpec) 
xal  61  fcaiSsc  xal  6  Xü>(toc  xal  oi  xa)|ia>t8ol  xal  ol  TpaYooiSoC.  ^)  Das 
ergibt  die  Ergänzung  otSe  vevixijxaotv  *)  ay'  oo  «pcotjov  x<b|jLOt  f^aav 
tÄ[t  Atovöawi  (oder  zm  dsöi)  Iv  äa-cet,  wie  mancher,  u.  a.  Foucart, 
ergänzt  hat.  Diese  Fassung  hat  mindestens  den  Vorzug,  sprachlich 
korrekt  zu  sein;')  sie  wird  auch  den  Sinn  im  wesentlichen  geben. 
Die  no^irfi  ist  mit  Recht  auf  die  Ueberführung  des  alten  Bildes  des 
Eleuthereus  gedeutet;  sie  ist  also  von  der  heiligen  Handlung  im 
Dionysosheiligtum  gesondert.  In  dieser  steht  der  Komos  mitten 
zwischen  den  Spielen,  die  alle  in  nachweisbarer  Zeit  zugetreten  sind, 
als  der  alte  Tempel  und  also  auch  der  Kult  längst  bestand.  Der 
Komos  ist  also  das  älteste;  seine  Feier  wird  noch  weit  über  die 
erste  Tragödie  zurückreichen.  Was  ein  Komos  ist,  wissen  wir  von 
den  Vasenbildern  her  einigermaßen;  im  Komos  kommt  Hephaistos 
auf  den  Olymp;  aber  auch  Dikaiopolis  kehrt  im  Komos  von  dem 
Wetttrinken   der  Choen   heim.    Da   ist  Komos  nur  Festzug,   etwa 

1)  Die  Ergänzung  hat  sich  seltsamerweise  noch  nicht  durchgesetzt;  die 
Fasten  müssen  das  endlich  erreichen,  denn  wenn  von  ihren  4  Agonen  (der  der  Schau- 
spieler ist  keine  besondere  Vorführung)  drei  vorkommen,  so  könnte  der  vierte 
nur  fehlen,  wenn  es  erlaubt  war  während  dieser  Zeit  zu  pfänden  u.  s.  w.,  was  eben 
das  Gesetz  für  die  Festzeiten  untersagt.  Was  A.  Mommsen,  Feste  der  Stadt 
Athen  438.  441,  zum  Teil  nach  Foucarts  Vorgang,  ausführt,  geht  ganz  in  die  Irre. 
Ein  Psephisma  des  Jahres  185  (Arch.  Zopyros)  soU  für  die  Zeit  der  Choregie  etwas 
beweisen !  Hier  wie  sehr  häufig  verführt  der  Wahn,  daß  sich  in  dem  Gottesdienste 
nichts  geändert  hätte,  zu  der  Verwertung  von  Zeugnissen  der  späten  Zeit,  und  die 
scharfsinnigsten  Kombinationen  werden  durch  die  mangelnde  Becensio  der  Ueber- 
lieferung  so  unbrauchbar  wie  die  contaminierten  Schriftstellertexte  der  vorkriti- 
schen Philologie. 

2)  Wilhelm  hat  richtig  gesehen,  daß  in  die  Ueberschrift  das  Perfekt  gehört. 

3)  xtüfioi  Aiovua{tüv  mit  Capps  zu  setzen  ist  das  nicht,  und  wenn  er  sich  auf 
xt>oi'Yax(vftou  aus  einem  euripideischen  Chorliede  beruft  (denen  doch  xöjjioi  Aiov6aoü 
entsprechen),  so  ist  das  nichts  anderes,  als  eingestehen,  daB  die  Wendung  für 
Actenprosa  nicht  paßt. 

09U.  g*l.  Am,  1906.  Nr.  8.  44 


626  Gatt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

dionysischer  Festzag.    Für  den  Zug,   der  die  eigentliclie  Zereaoiie 
der  Dionysien  bildet,  werden  wir  ursprünglich  die  Erschemmg  des 
Gottes  und  seines  Gefolges,  vor  allem  seiner  Tiere  annehiiiea.    Des 
Gott  vertritt  später  sein  Symbol,  der  Phallos  oder  die  PhaDeii,  deroi 
ja  z.  B.  jede  Kolonie,  später  jede  Reichsstadt  einen  zu  senden  baita 
Das  Gefolge  des  Gottes  wird  eine  Prozession  des  Volkes  oder  Miner 
Vertreter  sein.  Es  ist  im  großen,  was  die  Phallophorie  der  Achaner 
im  kleinen  ist.    Dann  kam  einmal  Thespis  ans  Ikaria   luif 
Wagen  und  rezitierte  lamben  neben  dem  Tanze  nnd  Gesänge 
yermummten  Dorfgenossen:   sie   werden   Böcke   gewesen    s^n.     Es 
kamen   dementsprechend   viele   Prozessionen    von   ^aXkofpdfxx,;    ihre 
tollen  Lieder  sind  znr  Komödie  geworden:  das  sagt  Aristoteles.  An- 
dererseits wird  bereits  früh  von  gewerbsmäßigen  wohleinstudierten 
Sängerchören  das  Knltlied,  der  Dithyrambos,  gesungen  sein,  und  be- 
deutende Dichter,  Lasos  und  Simonides,  werden  solche  Lieder  Ter&ft 
und  einstudiert  haben,  ehe  die  Phylengenossen  selbst,  alt  nnd  jmg, 
die  Chöre   bildeten.    Man   ahnt   ganz   wohl,   wie  es   geword^i  ist 
Vielleicht  ist  auch  ein  Bericht  über  den  alten  Komos   erhalten,  bei 
Plutarch  s.  soXofiXioc  8,   p.  527^:   i^   sdtpio^   tuv  Aiovooiaftv    iopt^  c& 
soXoiöv  ix^ssto  ST](LOux«ftc   %al   ^apfibc   a{if  opsDc   olvoo   xol   xXijpyod; 
Sita  tpdifov   TIC   eiXxsv,    £XXoc  laxaSiov  Spptxov  tfloXab&Bi  xo{uCiiy,  izi 
xdai  ^  6  foXXöc*  0 

Capps  und  Wilhelm  stützen  ihre  Ergänzung  der  Fasten  audi 
auf  die  Liste  der  tragischen  Sieger  S.  101,  die  doch  erst  fnnfiog 
Jahre  nach  den  Fasten  aufgezeichnet  ist,  also  nicht  einmal  notwendig 
mit  jener  in  Beziehung  steht.  Sie  berechnen  nämlich,  daß  vor 
Aischylos  (484)  nur  noch  acht  Namen  gestanden  haben  könnten,  die 
allerdings  schwerlich  die  Jahre  seit  Thespis  füllen  konnten.  Allein 
der  Schluß  ist  nicht  zwingend.  Wie  die  Ueberschrift  des  ganzen  Mo- 
numentes lautete,  wo  sie  stand,  ist  ganz  ungewiß ;  also  braucht  man  anch 
nichts  für  sie  auf  der  ersten  erhaltenen  Kolumne  abzuziehen.  Ebenso 
ungewiß  ist,  ob  dies  die  erste  Kolumne  war.  Wenn  links  nodi  eine 
stand,  so  muß  sie  freilich  so  kurz  gewesen  sein,  wie  die  der  komisehen 
Sieger;  aber  das  ist  ja  möglich.  Also  damit  ist  überhaupt  nichts  n 
machen;  zur  Zeit  wenigstens  reichen  die  Bruchstücke  nicht  zu  einer 
Rekonstruktion  des  Monumentes,  und  wir  sollten  durch  die  Erfahnmg 

1)  Bock  und  Korb  mit  Feigen  sind  nach  der  späteren  Deutung,  der  sdM» 
die  parische  Chronik  folgt,  die  Siegespreise  för  Tragödie  and  Komödie;  das  st 
Spekulation,  aber  aas  Torhandenem.  DaB  das  Opfertier  mitgeht,  ist  selbetrersUiid- 
lich,  and  ein  appix^^  ist  ebenso  angemessen  wie  ein  xorvoOv,  das  die  Tochter  to 
Dikaiopolis  trägt 


WUhelin,  Urkunden  dramatischer  Anflfubningen  in  Athen  627 

davor  gewarnt  sein,  dieses  als  regelmäßig  und  unsere  sonstige 
Kenntnis  als  vollständig  anzusehen.^) 

Fasten  der  Lenaeen  haben  vielleicht  im  Lenaion  gestanden, 
dessen  Platz  wir  nicht  kennen.  Als  man  die  des  städtischen  Heilig- 
tumes  aufschrieb,  feierte  man  noch  iiA  AT]va(a>i;  nach  Errichtung  des 
Theaters  gab  man  das  auf,  spielte  nur  hier,  und  so  sind  um  280 
die  Lenaeen  zugleich  mit  den  Dionysien  in  der  Publikation  der  Di- 
daskalien  und  der  Siegerlisten  berücksichtigt.  Für  die  Tragödie  haben 
wir  das  eine  von  Fourmont  kopierte,  von  Köhler  richtig  erkannte 
Bruchstück,  S.  51.  Da  stehn  die  tragischen  Spiele  der  Jahre  419 
und  418  (Astyphilos  und  Archias)  rechts  von  der  komischen  Liste 
von  285  Diotimos.  Daraus  ergibt  sich,  daß  zwischen  dieser  Di- 
daskalie  aus  einem  der  letzten  Jahre,  die  von  der  ursprünglichen 
Aufzeichnung  überhaupt  berücksichtigt  werden  konnten,  und  den 
Lenaeendidaskalien  auf  der  rechten  Kolumne  die  komische  Liste 
(einerlei  ob  Dionysien  oder  Lenaeen)  zu  Ende  gegangen  ist,  die 
tragische  der  Lenaeen  begonnen  hat.  Die  Länge  der  Kolumnen  ist 
unbekannt,  aber  so  viel  leuchtet  unmittelbar  ein,  daß  tragische  Spiele 
an  den  Lenaeen  nicht  allzuviele  Jahre  vor  420,  sagen  wir  höchstens 
zwanzig,  eingeführt  sein  können.  Für  die  Komödie  bieten  die  Le- 
naeensiege  der  Dichter  einen  Anhalt,  S.  123.  Ihre  Liste  beginnt  mit 
Xenophilos  und  Telekleides;  der  elfte  Name  ist  Eupolis,  der  428 
überhaupt  zu  dichten  begonnen  hat,  und  Kallistratos  fehlt  noch,  der 
mit  den  Acharnern  an  den  Lenaeen  425  gesiegt  hat  Die  Zahlen 
der  Siege  gestatten  auch  nur  ungefähr  ein  Urteil,  da  ja  manche  von 
ihnen  nach  der  Zeit  errungen  sein  werden,  die  der  jüngste  erste 
Sieg  eines  Dichters  angibt.  Im  ganzen  aber  führt  das  auch  auf  die 
Zeit  um  440,  eher  wohl  etwas  später,  und  nichts  hindert  die  Ein- 
führung beider  Spiele  an  den  Leaeen  gleichzeitig  anzunehmen.  Mancher 
hat  sich  das  ganz  anders  gedacht;  aber  die  Schlüsse  sind  so  weit 
bündig. 

Die  Komödie  ist  in  der  aristophanischen  Zeit  an  den  Lenaeen 
mit  ebensoviel  Stücken  aufgetreten,  und  deren  Bedeutung  ist  nicht 
geringer,  wenn  auch  ein  Dionysiensieg  höher  gewertet  wird.  Aber 
die  Tragödie  zeigt  an  den  Lenaeen  unter  Astyphilos  und  Archias  nur 
zwei  Konkurrenten  mit  je  zwei  Dramen,  nichts  von  Satyrspiel,  und 
die  Dichter  sind  lauter  Unbekannte,  Her[akleides],  Kallistratos.  Es 
ist  begreiflich,  daß  in  unserer  Ueberlieferung  über  die  großen  Tra- 
giker die  Lenaeen  gar  keine  Rolle  spielen,  aber  ein  Anfänger  wie 

1)  Noch  viel  weniger  darf  man  in  den  Fasten  weiter  abwärts  die  Distanzen 
abzählen  woUen.  Z.  B.  zur  Zeit  der  Doppelchoregie  muß  es  eine  ZeUe  mehr  ge- 
geben haben. 

44* 


628  G5tt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Agathon  froh  war,  wenn  er  an  ihnen  einen  Chor  bekam.  Wilhelm, 
der  hier  den  Herakleides  ergänzt  hat,  denkt  bei  ihm  an  den  Schaa- 
spieler,  der  449  als  erster  einen  Preis  erhielt.  Das  ist  ansprechend, 
und  häufig  hat  Wilhelm  bei  den  späteren  Komikern  Identifikation^ 
von  Dichtern  und  Schauspielern  vorgenommen.  Aber  in  dem  Ealli- 
stratos,  der  hier  als  tragischer  Didaskalos  auftritt,  denselben  Mann 
zu  sehen,  der  für  Aristophanes  Komödien  einstudierte,  ist  verwegen. 
Verwegener  noch  auf  Grund  eines  anlautenden  S  den  Namen  des  So- 
phokles als  Lenaeensieger  zu  ergänzen :  eine  Lücke  beliebig  zu  füllen, 
ist  gefährlich,  weil  es  unberechtigtes  Mißtrauen  gegen  berechtigte 
Ergänzungen  hervorruft.  Schlimmer  freilich  ists,  die  Ueberliefemng 
erst  zu  ändern,  weil  sie  der  Kombination  widerstrebt.  So  tat  es 
Bergk  mit  Menekrates  =  Timokrates  ==  Demokrates,  und  datierte  so 
die  Andromache  des  Euripides  in  unmögliche  Zeit.  Kaibel  weist 
das  gebührend  ab  und  hat  Wilhelms  Tadel  wahrlich  nicht  verdient^). 
An  den  Lenaeen  werden  schon  419  nur  je  zwei  Tragödien  aufgeführt; 
an  den  Dionysien  340  ist  es  ebenso,  aber  341  bringen  dieselben 
Dichter  je  drei  zur  Aufführung.  Das  Satyrspiel  wird  gesondert  von 
der  Tragödie  vorher  aufgeführt  und  zwar  ohne  Konkurrenz  nur  eins  ^. 

1)  In  Wahrheit  ist  die  Erklärung  des  Scholions  zur  Andromache  445,  das 
auf  Aristophanes  zurückgeht,  ganz  einlach :  eJXixpivu)^  touc  toö  $pdl|xaTo;  ^pe^vouc  oOx 
löTi  Xaßttv,  ob  ydip  oeotöaxTai  'A0y^vr](5cv.  Das  bedeutete  nichts  anderes,  als  »das 
Drama  steht  nicht  in  den  Didaskalien«,  nämlich  nicht  unter  dem  Namen  des  Eu- 
ripides, denn  Dramen  mit  dem  Titel  Andromache  wird  es  genug  gegeben  haben. 
6  hk  Ka}Xl[».ajoz  imypa^f^^ai  cpr^at  rr^t  Tpayuito^ai  Ar^fjtoxpdTvjv.  D.  h.  in  der  alexan- 
drinischen  Bibliothek  war  ein  Exemplar  mit  diesem  Namen.  Das  kann  bloß  ein 
Versehen  oder  ein  Trug  gewesen  sein,  aber  in  Verbindung  mit  dem  Fehlen  des 
Dramas  unter  den  Didaskalien  des  Euripides  ist  es  viel  wahrscheinlicher,  daß 
Euripides  das  Stück,  dem  er  ansah,  daß  es  keine  Primaware  war  (tcLv  Sevrr^ptuv 
sagt  Aristophanes),  einem  Demokrates  zur  Aufführung  gab.  Nach  dem  würden 
¥rir  in  den  Didaskalien  suchen,  wenn  wir  sie  hätten.  Endlich  sagt  Aristophanes 
(pafvexai  o^  yeYpafxpivov  ^v  dpyaX^  too  IltXoTtovvrjaiaxoü  roXeftou.  Das  sagt  sich  auch 
jetzt  jeder  Kenner  des  Dichters.  Argos  soll  man  ganz  ausschalten:  wenn  Mene- 
laos  sagt  (734)  »eine  Stadt  nicht  weit  von  Sparta,  die  früher  befreundet  war,  ist 
jetzt  feindselig«,  so  lügt  er  das,  und  die  Lüge  dient  dazu,  seine  Feigheit  zu  iUn- 
strieren.  Argos  aber  lag  weder  dicht  bei  Sparta  noch  war  es  jemals  mit  diesem 
befreundet. 

2)  Sieger  ist  TipioxXr^c  Auxouprtot.  In  ihm  sieht  Wilhelm  nach  meinem  Vor- 
gange den  Komiker.  AUein  meine  Darlegung  hat  in  der  guten  Leipziger  Dissei^ 
tation  von  Th.  Wagner  Symbol,  ad  camic.  gr.  hisi,  1905  einen  scharfen  und  im 
wesentlichen  siegreichen  Angriff  erfahren.  Vollkommen  treffend  zeigt  Wagner, 
daß  die  antike  Grammatik  überaU  einen  Komiker  und  einen  Tragiker  Timokles 
unterscheidet,  und  da  es  nicht  unmöglich  ist,  daß  zwei  gleichnamige  Zeitgenossen 
die  beiden  Gattungen  neben  einander  pflegten,  hat  diese  Tradition  zu  gelten.  Ob 
die  Grammatiker  von  dem  Tragiker  mehr  wußten  als  die  Didaskalie  audi  uns  0«gt| 


Wflhelm,  Urkunden  dramatischer  Aufführungen  in  Athen  629 

Damals  gehört  eine  alte  Tragödie  ebenso  zu  der  dionysischen  Vor- 
führung; die  Didaskalie  des  Archons  Theodotos  (386;  Wilhelm  hat 
sie  S.  23  sehr  schön  aus  einer  wüsten  Abschrift  von  Pittakis  herge- 
stellt) zeigt,  daß  damals  die  tragischen  Schauspieler  eine  solche  Auf- 
führung von  sich  aus  als  Extraleistung  zugaben,  icaXai&v  Spa(ia  icape- 
2i8a£av  ot  tpaYa>i5oL  Im  Jahre  340  war  die  Komödie  auf  demselben 
Punkte  angelangt,  acaXai&v  Spajia  9caps5i8a£av  ol  xcoiuioiSoC ;  im  zweiten 
Jahrhundert  ist  das  zur  Institution  geworden,  z.B.  im  Jahre  167, 
fcaXaidi  Mövi|iO(;  4>d(3[ia'ut  MsvdvSpoo.  An  demselben  Feste  konkurriert 
ein  Dichter  Paramonos,  der  das  Distinktiv  tedvijxÄc  erhält:  weil  es 
noch  nicht  in  Athen  gegeben  war,  war  sein  Drama  kein  altes.  Da- 
zumal herrschte  schon  längst  in  Athen  die  Technitengilde ;  offenbar 
ist  [sie  während  des  vierten  Jahrhunderts  in  der  Bildung  begriffen; 
aber  wenn  Wilhelm  schon  bei  Leuten  wie  Herakleides  und  Menekrates 
im  fünften  Jahrhundert  bemerkt  hat,  daß  sie  in  erster  Linie  Schau- 
spieler sind,  aber  auch  Dichter,  die  sogar  die  Lenaeen  beherrschen, 
so  bemerkt  man,  wie  die  älteste  natürliche  Verbindung  zväschen  dem 
Berufe  des  Dichters  und  Schauspielers  sich  mit  dem  Aufblühen  der 
Gattungen  nach  verschiedenen  Seiten  entwickelt.  Die  vornehmsten 
Dichter  spielen  nicht  mehr  selbst;  daneben  stehn  andere,  die  bei  der 
alten  Weise  bleiben;  aber  nun  praevaliert  bei  ihnen  das  Schau- 
spielertum,  und  der  Dichter  in  ihnen  wird  immer  mehr  Bearbeiter 
und  Regisseur.  Die  vielen  doppelten  Verfasser  in  der  Komödie,  die 
offenkundige  Tatsache,  daß  von  den  ältesten  Komikern,  wenn  über- 
haupt, nur  in  Neubearbeitung  etwas  erhalten  war,  findet  so  ihre  Er- 
klärung. Unsere  Kenntnisse  reichen  nicht  aus,  die  Entwickelung 
durch  die  einzelnen  Phasen  zu  verfolgen,  aber  das  Material  für  eine 
Theatergeschichte  Athens  (wie  sie  Juba  kompiliert  hat)  und  für  die 
genaueste  künstlerische  Biographie  der  Dichter,  also  auch  für  die 
Geschichte  des  Dramas,  war  vorhanden ;  so  etwas  hat  leider  niemand 
im  Altertum  unternommen. 

Unter  den  Komikern  hat  in  ganz  singulärer  Weise  Aristophanes 
sich  der  Aufgabe  des  Emstudierens  seiner  Werke  entzogen,  also  auch 
der  Ehre  des  offiziellen  Sieges  und  demnach  auch  des  klingenden 
Lohnes,  vielleicht  auch  der  Verantwortung  vor  der  Polizei.    In  der 

und  nicht  bloß  dem  Glauben  folgten,  da£  ein  Komiker  niemals  ein  tragisches  Spiel 
versucht,  ist  nicht  zu  entscheiden;  subjektiv  glaube  ich  nicht  an  die  Homonymie 
und  das  Bruchstück  der  AiovuaiaCouoai  bestärkt  mich  darin.  Daß  die  ^Ixdpm  ad- 
Tupoi  eine  Komödie  waren,  hat  auch  A.  Körte  (Rh.  M.  60, 413)  gezeigt  wie  Wagner, 
der  die  Zeit  des  Stückes  richtiger  als  ich  bestimmt  hat  Aber  den  ganz  singa- 
lären  Titel  durfte  er  nicht  mit  der  Trivialität  erklären  woUen,  daß  viele  Komö- 
dien Satyrn  heißen.  Darin,  daß  diese  »Satyrn  aus  Ikariac  heißt,  liegt  ja  gerade 
das  Seltsame. 


630  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Siegerliste  der  Dionysien  hat  er  sicherlich  nicht  vor  Lysippos  (410, 
der  ohne  Frage  aus  . . .  iincoc  zu  ergänzen  ist)  gestanden,  wenn  aber- 
haupt.  In  der  der  Lenaeen  muß  er  wegen  des  Sieges  der  Ritter, 
die  er  selbst  einstudierte  (aus  Not,  nicht  aus  Opfermut),  der  nächste 
oder  einer  der  nächsten  Namen  hinter  Eupolis  gewesen  sein.  Seine 
meisten  Erfolge  standen  also  unter  den  Namen  des  Philonides  und 
Eallistratos.  Wenn  gleichwohl  die  Zuteilung  seiner  Gedichte  niemals 
fraglich  gewesen  ist,  so  muß  bei  ihm  die  Buchausgabe  unter  eigenem 
Namen  rasch  und  zuverlässig  erfolgt  sein,  wie  das  bei  den  Wolken 
ja  auch  zu  Tage  liegt.  Wenn  Dikaiarchos  von  den  Fröschen  berich- 
tete, das  Drama  gefiel  so  Sore  xal  jcvsSiSdx^,  so  kann  man  unter 
Berücksichtigung  der  Zeitverhältnisse  eigentlich  nur  an  eine  sofortige 
Wiederholung  denken,  und  an  Ueberlieferung  durch  die  Akten;  in 
den  Didaskalien,  die  nach  Alexandreia  kamen,  hat  das  freilich  nicht 
gestanden.  In  den  Wolken  erzählt  Aristophanes  selber,  daß  er  zu- 
erst, als  er  aufführte,  zu  jung  gewesen  wäre,  um  selbst  einen  Chor 
zu  erhalten.  Er  war  also  428/7  Ephebe,  spätestens  446/5  geboren: 
die  Daitales  geben  ganz  frische  Schülererfahrungen.  Ob  er  die  Ba- 
bylonier  als  gerade  eben  mündiger  Staatsbürger  dichtete,  steht  dahin: 
dies  Bürschlein  konnte  sich  der  Tragweite  seiner  Witze  nicht  bewufit 
sein.  Aber  wenn  der  Rat  gegen  Eallistratos  einschritt,  so  wäre  die 
strenge  Beobachtung  der  Ausschließung  von  Unmündigen  erst  recht 
angezeigt  gewesen.  Später  hat  man  auch  Epheben  zugelassen,  und 
nun  durfte  man  es.  Kein  Geringer  als  Menandros  hat  so  begonnen. 
Da  stand  in  den  Listen  der  Vermerk  ouTog  SfYjßoc  &v  lvs(i.Tjd7],  wie 
wir  es  bei  einem  Ameinias  im  Jahre  311  (S.  45)  noch  lesen.  Das 
ist  einer  der  zahlreichen  Dichter,  die  auf  der  Bühne  gar  nicht  erfolg- 
los waren,  aber  in  die  Literatur  keinen  Eingang  gefunden  haben. 
Die  Menge  solcher  Namen,  die  wir  auf  den  Steinen  finden,  ist  im 
Grunde  eben  so  unergiebig  wie  die  Masse  der  Dramentitel  und  auch 
der  Bruchstücke  der  späten  Komödie,  die  ganz  gedankenlos  in  den 
alten  Gleisen  gefahren  ist.  So  ist  es  gekommen,  daß  die  Gramma- 
tiker der  Kaiserzeit  sich  ihre  attischen  Vokabeln  aus  Stücken  ausge- 
zogen haben,  die  aus  späthellenistischer  Zeit  und  schwerlich  von  ge- 
borenen Athenern  stammten.  Bei  Pollux  läuft  davon  genug  unter, 
obgleich  er  an  anderen  Orten  über  Hypereides  und  Menander  die 
Nase  rümpft.  Daß  die  Kontinuität,  auch  in  Tragödie  und  Satyrspiel, 
erst  in  dem  Elend  der  suUanischen  und  Seeräuberzeit  abgerissen  ist, 
da  aber  durchaus,  lassen  zwar  nicht  die  attischen,  aber  wohl  die 
boeotischen  und  asianischen  Steine  deutlich  erkennen.  Ein  besonderer 
Unglücksfall  ist  es,  daß  die  Anfangsbuchstaben,  die  von  der  letzten 
Kolumne  der  tragischen  Siegerliste  übrig  sind,  wie  Kaibel  bemerkt 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  AuüÜhrongen  in  Athen  631 

hat,  auf  Dichter  der  Pleias  bezogen  werden  können,  ohne  daß  es  sich 
entscheiden  ließe.  Wo  kommt  überhaupt  die  Tradition  von  der  Pleias 
her?  aus  Athen?  aus  Alexandreia?    Ich  weiß  keine  Antwort. 

Nun  nur  noch  einige  Einzelheiten.  Perikles  hat  für  die  Perser 
die  Ghoregie  geleistet.  Das  bedeutet  für  seine  Beziehung  zu  der 
Poesie  und  zu  Aischylos  gar  nichts;  aber  wir  lernen,  daßXanthippos 
bald  nach  479  gestorben  ist  und  Perikles  dann,  wie  sich  von  selbst 
verstand,  zu  den  Steuern  herangezogen  ward.  Wer  freilich  spielen 
will,  wie  so  viele  damit  gespielt  haben,  daß  Themistokles  einmal  für 
Phrynichos  Ghorege  war,  der  hat  ein  schönes  Thema. 

Ueber  Alkimenes  steht  bei  Suidas,  daß  so  ein  'A^vaiog  xa)|itxdc 
hieß.  Man  setzt  seinen  Namen  in  die  Siegerliste,  S.  107,  als  zweiten 
hmter  Magnes,  wo  vor  der  Endung  vyjc  sechs  Buchstaben  fehlen, 
oder  auch  sieben,  denn  so  genau  ist  das  auf  diesem  Steine  nicht  zu 
sagen.  Der  Grund  liegt  in  einer  ganz  unzulässigen  Kombination. 
Ptolemaios  Chennos  (Phot.  Bibl.  151*9)  läßt  unter  dem  Kopfkissen 
des  Tynnichos  von  Chalkis  die  'AXx|idyooc  xoXt)|iß(ooai  finden.  Da 
ändert  man  'AXxi(iivooc,  obwohl  bei  Suidas  unter  Alkman  steht, 
S7pa(|)6  ßißXia  <;  [i^Xy]  xal  xoXo|ißa>aac.  Das  wird  freilich  aus  der 
Schwindelei  des  Chennos  stammen,  aber  schwerlich  erst  durch  Suidas, 
und  jedenfalls  zeigt  es,  wie  beiPhotius  zu  lesen  ist;  auch  der  Name 
des  Tynnichos  ist  bei  ihm  verschrieben.  Was  soll  denn  auch  ein 
Dichter,  der  für  Aischylos  ein  alter  war,  zur  Lieblingslektüre  haben? 
Eine  Komödie,  von  einem  Dichter  gar,  der,  wie  wir  nun  lernen,  erst 
in  den  sechziger  Jahren  gesiegt  hat  (wenn  die  Ergänzung  zutrifft)? 
Da  paßt  doch  nur  ein  älterer  Lyriker  wie  Alkman.  Aber  der  kann 
doch  keine  xoXo|iß(oaai  gedichtet  haben?  Ja,  kann  das  ein  Zeitge- 
nosse des  Magnes?  Von  Mädchen  hat  Alkman  genug  gedichtet; 
ob  man  ein  Lied  von  ihm  die  Taucherinnen  nennen  konnte,  weiß  ich 
nicht,  aber  wir  haben  es  ja  auch  mit  Chennos  zu  tun.  Wer  bemißt 
einem  Fälscher  die  Grenzen  seines  Schwindeins?  Der  Komiker  Alki- 
menes darf  aber  wirklich  nicht  auf  Grund  dieses  zurechtgemachten 
Schwindelzeugnisses  fixiert  werden. 

Der  Komiker  Kallias  ist  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  sowohl 
in  den  Fasten  von  447  wie  in  der  dionysischen  Siegerliste  ergänzt, 
hier  hinter  Krates.  Suidas  nennt  einige  Dramentitel,  mehrfach  be- 
zeugt ist  nur  ein  Stück  UsSf^zai,  das  in  den  archidamischen  Krieg 
fallen  mag;  ein  anderes,  K&xXcoTceg,  trug  neben  seinem  Namen  den 
des  jüngeren  Diokles.  Er  war  also  einer  der  älteren  Zeit,  aus  der 
sich  nur  wenig  erhalten  hatte.  Kein  Gedanke,  ihn  mit  emem  an 
sich  bedenklichen  Kalliades  aus  dem  vierten  Jahrhundert  zu  identifi- 
zieren, aber  eben  so  wenig  darf  man  um  des  grade  damals  ganz 


632  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

gemeinen  Namens  willen  dem  Komiker  die  berufene  yP^V^^ 
decopia  oder  tpaYcotSia  (Athen.  453°  und  276)  beilegen.  Deutlich  wird 
diese  uns  niemals  werden,  denn  was  Athenaeus  oder  sein  Epito- 
mator  gibt,  ist  so  korrupt  und  so  arg  zusammengezogen,  daß  sehr 
viel  einfach  unverständlich  ist.  Athenaeus  nimmt  seine  rare  Weishdt 
direkt  aus  Klearch,  dessen  verzwackter  Stil  aber  verwischt  ist.  Zwei- 
mal sagt  er,  man  sollte  gemäß  den  Tcapa^pacpoi  lesen;  aber  die  sind 
nicht  erhalten,  und  wem  gelingt  es,  ihre  Stellen  und  ihre  Bedeutung 
zu  erraten?  Wichtig  ist,  daß  sie  in  dem  Buche  standen,  das  Klearch 
las.  Wenn  nun  Klearch  von  Kallias  sagt,  (iixp&v  IpLTcpoodsv  ^svöiisvo^ 
Toic  XP^^^^^  iTpdrrtSoc,  SO  war  für  ihn  Strattis  doch  kein  Name,  der 
Epoche  machte,  sondern  er  muß  für  das  an  sich  zeitlose  Buch  eine 
Datierung  gesucht  haben,  und  was  konnte  ihm  die  Relation  zo 
Strattis  geben  außer  einer  Erwähnung  in  einer  von  dessen  Komödien? 
Auf  die  an  sich  unverständliche  Behauptung,  Euripides  hätte  ans 
Kallias  die  Melodien  der  Medea  und  Sophokles  die  Synaphie  des 
Trimeter,  oder  eines  Trimeters  im  Oedipus  entlehnt,  darf  man  wahr- 
lich keinen  terminus  ante  quem  gründen.  Klearch  gibt  als  Vermutung 
auch,  Euripides  hätte  im  Theseus  den  Kallias  nachgeahmt.*  Vorstellen 
könnte  man  sich  das  Buch  als  eine  scherzhafte  Fibel  in  Versen,  ähnlich 
unsern  gereimten  Regeln.  Aber  aus  den  beiden  Buchstaben,  die  das 
ionische  Alphabet  dem  attischen  hinten  zufügte,  das  obscöne  ^&  zu 
machen,  ist  doch  wohl  kein  pädagogisch-mnemotechnisches  Kunststück, 
sondern  eher  ein  Scherz,  der  für  die  Zeit  der  Rezeption  des  ionischen 
Alphabets  paßt,  die  Zeit  des  Strattis.  So  bleibt  es  bei  einem  non 
liquet;  nur  daß  die  Identifizierung  der  Kallias  unzulässig  ist,  steht 
außer  Frage. 

In  der  tragischen  Siegerliste  steht  zwischen  Polyphrasmon,  der 
unter  Chares  471  gesiegt  hat,  und  Sophokles,  der  es  unter  Apsephion 
468  tat,  ein  .  . .  itttto«;,  der  also  470  oder  469  seinen  einzigen  Sieg 
gewonnen  hat.  Bei  Athenaeus  344^  steht,  daß  Hermippos  in  den 
Moirai  (430)  und  Telekleides  einen  Tragiker  Nothippos  als  h^ofAioi; 
verspottet  haben.  Dazwischen  liegen  vierzig  Jahre,  aber  Nöd'iicicoc 
paßt  in  der  Liste  so  gut,  daß  man  die  Kombination  nicht  wohl  ab- 
weisen kann.  Nun  stehn  aber  bei  Athenaeus  638  eine  Reihe  Komiker- 
stellen, alle  einigermaßen  kontrollierbaren  älter  oder  gleichalt  wie  die 
Moiren  des  Hermippos,  in  denen  ein  Tragiker  Gnesippos,  lieber  nach 
seinem  Vater  6  KXeoiiaxoo  benannt,  als  Verfasser  lockrer  Lieder  an- 
gegriffen wird.^)  Die  beiden  zu  identifizieren  ist  nicht  unbedingt 
notwendig  und  den  antiken  Grammatikern  ist  es  nicht  eingefallen; 

1)  Die  Zeugnisse  selbst  zwingen  nicht  zur  Identifikation  des  Gnesippos  mit 
dem  Sohne  des  Kleomachosj  aber  der  Grammatiker  setzt  sie  voraus. 


Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  AofftÜirangen  in  Athen  633 

aber  es  liegt  sehr  nahe,  und  so  habe  ich  in  dem  iBastardc  den 
Spottnamen  gesucht,  was  dann  die  Abkunft  des  Mannes  diskredi- 
tierte, der,  wenn  sein  wirklicher  Name  genannt  wird,  gern  6  KXeo- 
(ioXOD  heißt.  Wilhelm  hat  ganz  recht,  wenn  er  auf  Grund  der  Sieger- 
liste verlangt,  daß  vielmehr  NödtTUTcoc  als  wirklicher  Name  gelten 
solle,  der  zum  Spotte  als  »echter  ittttoc«  eingeführt  wäre,  vxntK  i^l 
avaiSeiag  verstanden.  Der  Witz  ist  schwächer;  aber  wenn  die  Identi- 
fikation überhaupt  richtig  ist,  kann  sie  nur  so  sein. 

Bedauerlich  ist,  daß  für  Astydamas  nichts  neues  herausgekommen 
ist;  berühmt  ist  jedenfalls  nur  ein  Dichter,  der  Zeitgenosse  des 
Aristoteles;  sicher  hat  es  auch  einen  im  dritten  Jahrhundert  ge- 
geben ;  auf  die  Verteilung  der  Dramenlisten  bei  Suidas  ist  wenig  Ver- 
laß. Aber  noch  kann  niemand  durchkommen,  ohne  ein  Zeugnis  zu 
opfern.  Vermißt  habe  ich  bei  Wilhelm  S.  136,  wo  er  die  Unter- 
schriften von  Dichterstatuen  aus  dem  Theater  abbildet,  die  wie  es 
scheint,  gleichartige  des  'AaTO[8dcjiac]  IG  II  1363  und  die  des  [AlaJ/o- 
Xoc  und  OdoTcig,  die  Prott  Ath.  Mitt.  27,  296  veröffentlicht  hat.  Man 
wüßte  gern,  ob  Wilhelms  maßgebendes  Urteil  diese  Inschriften  auch 
für  römisch  hält  oder  ob  sie  den  späthellenistischen  gleichzeitig 
sind,  die  er  abbildet. 

S.  83  setzt  Wilhelm  sich  mit  einer  Vermutung  von  Gapps  aus- 
einander, die  eine  andere  Art  Widerlegung  verdiente.  Es  hat  einmal 
einen  komischen  Schauspieler  Lysimachos  gegeben  oder  wohl  auch 
zwei  (S.  80) ;  ich  sage,  vermutlich  mehr.  Einer  ist  aus  Boeotien  ge- 
wesen. Den  versetzt  Capps  in  die  Aixir)  ycovTi^vccov  des  Lukian,  ja  er 
sucht  den  dort  zur  Datierung  der  Klageschrift  verwandten  Archen 
Aristarch  in  den  Fasten  und  findet  ihn.  Da  sind  die  alten  Erklärer, 
die  von  Inschriften  keine  Ahnung  haben  konnten,  doch  besser  in- 
formiert gewesen.  Eine  grammatische  Frage  gehört  vor  das  Forum 
des  Reiches,  in  dem  Aristarch  herrscht.  Das  Sigma  kehrt  ein  in 
Kybelon,  >ein  nettes  Städtchen,  wie  es  heißt,  eine  attische  Eolonie<. 
Wer  kennt  den  Ort?  Gabs  ihn?  An  die  phrygische  Kybele  erinnert 
er,  so  daß  das  ^''eoSaTxtxöv  jedem  Gebildeten  der  Antoninenzeit  sofort 
klar  war.  Da  ist  ein  komischer  Dichter,  Lysimachos,  der  ein  echter 
Athener  sein  will;  es  kommt  aber  an  den  Tag,  daß  er  ein  Boeoter 
ist  —  denn  tt  für  go  ist  boeotisch  noch  viel  mehr  als  attisch  und  da 
sagen  sie  sogar  töxa  für  a5xa  (Strattis  Phoenissen),  was  hier  das 
Sigma  von  der  Zukunft  befürchtet.  Ein  komischer  Dichter  mußte 
eingeführt  werden,  denn  nur  diese  klassische  Gattung  bedient  sich 
des  TT,  das  die  Athener  mit  den  Boeotem  gemein  haben.  Lysimachos 
aber  heißt  er  —  warum?    Das  mag  Lukian  wissen.    Nur  eins  war 


634  Gdtt.  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

erforderlich:  er  darfte  nur  einen  Namen  nennen,   der  keinem  realen 
Dichter  gehörte. 

Doch  das  sind  Bagatellen,  und  es  sei  genug  davon.  Das  Werk 
liefert,  hoffentlich  nicht  abschließend,  die  Ueberreste  der  drei  histo- 
rischen Monumente  des  attischen  Theaters ;  aber  nur  dann  nicht  ab- 
schließend, wenn  sich  die  Hoffnung  auf  weitere  Funde  erfüllt  Es 
liefert  eme  ganz  ausgezeichnete  Verarbeitung  des  historischen  Ha- 
teriales,  das  in  den  Resten  dieser  Monumente  steckt,  und  es  liefert 
an  Beiwerk  sehr  viel  Wertvolles  für  griechische  Inschriften.  Möge 
ihm  das  auch  hier  wieder  versprochene  Werk  Wilhelms  bald  folgen, 
das  vor  der  Geburt  seinen  Namen  gewechselt  hat,  das  wir  mit  Un- 
geduld erharren,  seit  es  als  Attische  Studien  seine  künftige  Geburt 
anzeigte.  Möge  es  seinem  Verfasser  die  reine  Freude  eines  freien 
Schaffens  aus  dem  Vollen  und  Eigenen  gewähren  und  dem  Leser 
dann  eine  reinere  Freude  und  eben  so  viel  Belehrung  wie  dieses. 

Die  Literaturgeschichte  aber  bedarf  noch  immer  einer  Restitution 
der  Didaskalien,  so  weit  sie  sich  geben  läßt,  vor  allem  für  die  alte 
Komödie;  aber  auch  für  die  spätere  läßt  sich  doch  die  relative 
Chronologie  ziemlich  weit  führen:  das  zeigt  die  Dissertation  von 
Wagner.  Und  die  Dithyramben  dürfen  auch  nicht  vergessen  werden, 
für  die  freilich  die  Monumente  der  Choregen  und  Agonotheten 
mehr  ergeben  als  die  Fasten.  Endlich  erwarten  wir  die  Zusammen- 
fassung der  Inschriften  und  Nachrichten,  die  sich  auf  die  dionysischen 
Tachniten  aller  Gegenden^)  beziehen,  also  eine  Erneuerung  des 
Buches,  das  vor  bald  vierzig  Jahren  0.  Jahn  in  der  Preisaufgabe 
forderte,  die  0.  Lüders  mit  seinen  dionysischen  Techniten  gelöst 
hat.  Als  ich  die  Bogen  für  Lüders  korrigierte,  kam  ich  zuerst  mit 
den  Inschriften  in  direkte  Berührung :  keinem  anderen  liegt  es  näher, 
den  Fortschritt  der  Wissenschaft  zu  preisen,  als  dem,  der  so  manchen 
eigenen  Irrtum  berichtigt  sieht.  Aber  eben  der  empfindet  darum 
auch  am  lebhaftesten,  daß  die  Wissenschaft  eine  Aufgabe  nur  löst 
um  eine  neue  und  höhere  zu  stellen.^ 

Westend  Ulrich  von  Wilamowitz-Moellendorff 

1)  Dazu  gehört  die  Genossenschaft,  die  in  Ptolemais  in  Oberägypten  schon 
anter  Philadelphos  tätig  ist.  Daß  die  betreffenden  Inschriften  in  diesem  Buche 
aus  Autopsie  sogar  berichtigt  werden,  wird  nicht  leicht  ein  Leser  erwarten,  daher 
sei  auf  S.  146  und  251  hingewiesen. 

2)  lieft  3  der  Classical  Philology  von  Chicago  bringt  eben  einen  wichtigen 
Aufsatz  Ton  Capps,  der  Eörtes  HersteUung  der  römischen  Inschrift  bek&mpft  Ich 
kann  das  nur  noch  notieren. 


Müet^  Heft  I  636 


Hllet,  Ergebnisse  der  Aasgrabangen  and  Untersuchungen  für 
das  Jahr  1899,  herausgegeben  von  Theodor  Wieg  and.  Heft  I:  Karte 
der  milesischen  Halbinsel  (1 :  50000)  mit  erläuterndem  Text  von  Paul  Wilski. 
Berlin,  G.  Reimer,  1906. 

Die  Ergebnisse  der  Ausgrabungen,  die  das  Berliner  Museum  in 
Milet  und  seinem  Gebiete  seit  einigen  Jahren  und  hoffentlich  noch 
für  viele  Jahre  betreibt,  will  die  Generalverwaltung  der  K.  Museen  und 
der  Leiter  des  Unternehmens,  Th.  Wiegand,  in  der  Weise  veröffent- 
lichen, daß  abgeschlossene  Stücke  des  großen  Werkes  in  einzelnen 
Heften  erscheinen,  und  die  Karte  der  milesischen  Halbinsel  beginnt 
diese  Reihe.  Freuen  wir  uns  gleich  hieran,  und  machen  wir  uns 
klar,  welcher  Fortschritt  darin  liegt,  daß  ein  Museum  eine  Karte  der 
Landschaft  herausgibt,  in  der  es  gräbt.  So  hat  die  Wissenschaft 
sich  ganz  und  gar  als  die  Herrin  eines  Unternehmens  bewährt,  das 
scheinen  könnte,  einzelne  Museumsstücke  gewinnen  zu  wollen.  Wir 
haben  in  dem  letzten  Menschenalter  erlebt,  wie  die  Forderung  sich 
allmählich  durchgesetzt  hat,  daß  bei  einer  Ausgrabung  ganze  Arbeit 
getan  werden  soll,  dem  Boden  alles  entnommen  was  er  lehren  kann, 
wo  denn  die  kartographische  Wiedergabe  des  Geländes  eine  Haupt- 
sache ist.  Die  Untersuchung  von  Pergamon  und  Dolos  ist  noch 
unter  ganz  anderen  Aspekten  begonnen,  aber  an  beiden  Orten  wird 
nun  mit  Selbstverleugnung  in  der  rechten  Weise  gearbeitet,  und  man 
wird  nicht  aufhören,  ehe  die  Aufgabe  gelöst  ist.  Den  Franzosen  ist 
die  großartige  Munificenz  des  Due  de  Loubat  für  den  delischen 
Apollon  zu  Hilfe  gekommen ;  wer  über  Milet  zu  reden  hat,  darf  nicht 
davon  schweigen,  daß  den  Mitteln,  die  der  preußische  Staat  mit  voller 
Hand  spendet,  die  verständnisvolle  Opferwilligkeit  deutscher  Männer 
die  sehr  beträchtlichen  Summen  hinzugefügt  hat,  ohne  die  der  Boden 
Milets  nicht  erworben  und  vollends  der  Apollon  von  Didyma  von  der 
historischen  Windmühle  und  dem  Hüttengewirr  von  Jeronda  nicht 
befreit  werden  konnte.  Unsere  Unternehmung  setzt  gerade  dort  die 
französischen  Arbeiten  fort,  über  die  B.  Haussoullier  in  vielen  schönen 
Aufsätzen  berichtet  hat:  er  ist  eigentlich  der  geborene  Beurteiler 
für  das  was  im  Anschlüsse  an  seine  Forschung  geleistet  wird,  und 
die  Hoffnung  wird  nicht  zu  Schanden  werden,  daß  Franzosen  und 
Deutsche  hier  wie  auf  so  vielen  Gebieten  in  herzlichem  Einvernehmen 
an  den  gemeinsamen  Aufgaben  der  Wissenschaft  arbeiten  können 
und  wollen. 

In  diesem  ersten  Hefte  erhalten  wir  also  eine  Karte  der  mile- 
sischen Halbinsel  von  der  Hand  P.  Wilskis,  dem  schon  die  Karte 
von  Thera  in  Hillers  großem  Werke  verdankt  wird.    Wie  dort  be- 


gje  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

richtet  Wilski  in  dem  beigegebenen  Texte  eingehend  über  seine  Auf- 
nahme und  fügt  ein  Blatt  bei,  das  die  festen  Punkte  seiner  AufiwIuM 
bezeichnet.    1/is  geht  die  Fachmänner  an;   der  Benutzer  wird  ad 
der  überaus  deutfchen  und  lesbaren  Karte  freuen,  die  schon  mancherte 
auch  für  die  GescKrJite  lehrt.    Die  Bergzüge,    die  das  Gerippe  (ta 
Vierecks  bilden,  als  tos  sich  die  Halbinsel  darstellt,  kommen  kltf 
zur  Anschauung;  allerdiigs  nicht  der  bereits   recht  hohe  Berg« 
Kutschuk  burun,  der  sich  wiistlich  von  der  jetzigen  Bastarda  Thi- 
lassa,  dem  latmischen  Golfe,  hingeht;  wie  imposant  er  ist,  sieht nm 
auf  der  reizvollen  Photographie  vorüerakleia  aus,  die  mit  zwei  lu- 
deren, die  das  Mäanderdelta  zeigen,  das  Buclrbesonders  schmückt  Di« 
Bergzug  bedingt  es,  daß  die  Milesier  nochlg^viel  mehr  ab  ä 
Athener  fast  auf  einer  Insel  wohnten,  so  lange^Ä^Meer  ibnm 
umspülte.    Denn  eigentlich  ist  nur  von  Südosten  öfi^  ^^^J^ 
des   Busens   von    lasos   der  Zuzug  leicht,   und    wer  ^?     ,^   • 
schwemmungen  des  Mäander  wegdenkt,  fragt  sich  verwi^  ^ 
Alexander  und  schon  Alyattes  auf  Milet  marschiert  sind.     ■ 
nicht  von  Myus  übersetzten,  mußten  sie  hinter  dem  Latmo&^ 
und  dann  die  Küste  entlang.    Jetzt  ist  da  gar  kein  Weg  gezt^ 
und  bequem  kann  er  nicht  gewesen  sein.    Die  Hauptader  des^ 
kehres  ging  von  Sakysbumu,  wohin  das  Meer  von  Milet  aus  den 
wies,  direkt  südlich  auf  Kalamaki  zu  und  dann  nach  Osten;  es 
sich   irgendwo,   vermutlich  nördlich  vom  Kutschuk  burun   ein  wl 
nach  Herakleia  abzweigen.   Im  Süden  heißt  die  Straße  noch  jetzt  ßaai 
Xixöc  Spö|ioc,  und  die  zahlreichen  Reste  von  Grabmonumenten  bezeichne] 
ihre  Vergangenheit,   unter  denen  jener  herrliche  hellenistische  Bau 
hervorsticht  (bei  zä  [xapiJiapa),   den  Wiegand  in  Jahrbuch  XVII 149 
besprochen  und  abgebildet  hat.    Dieser  ßaatXixöc  )>is^ö[i.o(;  war  durch 
einen  anderen  (über  Skordokopanos)  mit  Didyma  verbuL^eu,  der  auch 
noch  so  heißt;  Didyma  selbst  durch  den  unbequemen  K) eiligen  Weg 
über  das  Gebirge  direkt  mit  Milet;  bei  Psychikon  zweigte  Von  diesem 
wieder  ein  Weg  nach  Osten  ab  und  ein  anderer  nach  WesU^ji,  hinab 
nach  Panormos,  dem  natürlichen  Hafen  für  die  Pilger,  die  zd^  S< 
direkt  nach  Didyma  zogen.    So  arg  die  Zerstörung  ist,  und  so  s 
die  jetzige  Menschenleere  mit  der  antiken  Bedeutung  Müets  &  \^ 
trastiert:  das  entnimmt  man  den  Resten  doch,   daß  die  ganze  Hai 
insel  in  Kultur  war;  auf  den  Bergen  werden  die   Schafe  geweid 
haben,  deren  Wolle  die  milesischen  Fabriken  verspannen  und  vef 
woben.    Wenn  die  Frauen  Milets  zu  den  Orgien  des  Dionysos  insl 
Gebirge  zogen,  so  mußte  das  schon  nach  dem  Grion  ^),  dem  Kutschuk- 

1)  Nor  einmal  bei  Strabon  genannt:   auf  die  Namensform  ist  also  geringer 
Verlaß.    Der  Odtpiüv  ^po;,  das  Fichtelgebirge,  B  868,  bezeichnet  das  giaie  Berg- 


Milet,  Heft  I  687 

irun  getan.  Nach  Norden  bedarf  das  Bild  der  stärksten  historischen 
orrektur,  um  für  das  alte  Milet  verwandt  zu  werden,  denn  die 
eite  weiße  Fläche  war  ja  überall  Meer.  Auch  auf  diesem  mono- 
nen  flachen  öden  Delta  sind  eine  Anzahl  Punkte  sogar  trigonome- 
isch  fixiert;  man  begreift,  daß  das  Interesse  der  Aufnahme  hierfür 
)ring  war;  aber  bedauerlich  ist  es  doch,  daß  man  nun  nicht  die 
ordküste  des  alten  Meerbusens  mit  überblicken  kann  und  einmal 
uß  das  für  die  Küste  von  Theben  bis  Myus  wenigstens  nachgeholt 
3rden.  Die  Kartenskizze  in  dem  Prienewerke  T.  1  ist  erstens  Phan- 
sie  und  zweitens  unzweifelhaft  in  sehr  vielem  irrig.  Die  Geschichte 
\n  Prione,  aber  auch  die  Schlacht  an  der  Mykale  und  selbst  die 
Bschichte  Milets,  das  im  3.  und  2.  Jahrhundert  in  das  Mäandertal 
»ergreift  und  dasselbe  sicherlich  auch  im  6.  und  früher  getan  hat, 
rdert  die  Feststellung  von  dem  was  sich  jetzt  noch  sehen  läßt, 
reilich  deckt  im  Bereiche  der  Anschwemmungen  des  Mäander  der 
Oden  alles  alte,  so  daß  es  aussichtslos  ist,  Altpriene  oder  weiter 
)en  im  Lethaiostale  Altmagnesia  zu  suchen,  und  infolge  der  Auf- 
ihung  liegt  der  antike  Boden   selbst  in  Milet   überall  inneiiialb 

0  Grundwassers:  in  das  man  dort  gleichwohl  gerade  so  gut  vor- 
ingen  muß  wie  auf  dem  römischen  Forum.  Denn  die  historische 
üße  Milets  liegt  vor  494. 

lYilski  ist  nicht  nur  Geodät,  sondern  hat  in  langem  Verkehre 

;    den  Bauern  und  Arbeitern  Vertrautheit  mit  dieser  Schicht  der 

ßclien  und  ein  seltenes  Verständnis  der  Volkssprache  gewonnen. 

i  er,  gewiß  nicht  durch  Zufall,  sondern  durch  diese  eigenen  Vor- 

]|^    einen  ungewöhnlich  sachkundigen  Führer  gewonnen  hat,  der 

i  üuch  viele  der  antiken  Reste  allein  zeigen  konnte,  erzählt  er 

-     So   sind  denn  die   modernen  Ortsbezeichnungen  in  großer 

eingetragen;  man  könnte  daraus  die  Leute  und  Familien  her- 

onen,  die  jetzt  die  meisten  Grundstücke  besitzen  oder  früher 

ien  haben,   denn  die  Bezeichnungen  werden  von  den  Eigen- 

^rn  genommen,  so  daß  manchmal  Ehemann  und  Ehefrau  neben 

1  JElder  erscheinen.  Wilski  gibt  die  Namen  genau  nach  dem  Klange, 
A  er  gehört  hat ;  also  z.  B.  xai  als  tjg;e.  Damit  kann  man  sich  ohne 
tie  Mühe  abfinden;  es  erhöht  das  Verständnis  aber  keinesweges, 
td  bedauerlich  ist,  daß  das  Namenregister,  das  beigegeben  ist,  die 

^  an  der  Küste  zwischen  MUet  und  der  Mäandermündong ;  der  Name  war  schon 
V  Zeit  des  Hekataios  verschollen,  der  ihn  auf  den  Latmos  deutete,  andere  auf  * 
II  Grion.  Der  Dichter  hat  wohl  nicht  unterschieden.  Merkwürdig,  daß  ein 
Igenname  zwischen  der  Zeit  des  Schiffskatalogs  und  Hekataios  verschwinden 
onnte.  Die  Laus  hat  in  cp&{p  schon  Lykophron  1883  gespürt,  also  auch  Odtipiuv 
NKhrieben,  übrigens  einen  Yolksnamen  darin  gesucht,  was  auch  andere  getan 
kVen. 


638  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Namen  nicht  erklärt,  auch  nicht  die  türkischen.  Schon  das  Verhältnis 
der  Sprachen  würde  von  Interesse  sein.  Leider  muß  das  allgemeine 
Ergebnis  konstatiert  werden,  daß  im  Gegensatze  zu  dem  Befunde 
auf  den  Inseln  die  Kontinuität  in  den  Ortsbezeichnungen  durchgehends 
abgerissen  ist.  Es  wird  kein  Name  über  die  Türkeneinwanderung  zurück- 
reichen. Sehr  bezeichnend,  daß  das  Vorgebirge  Poseidion  (besser  IlooiSetoy) 
jetzt  nach  einem  einzelnen  Baume,  der  noch  steht,  Monodendri  heißt 
Antike  Namen  sind  nur  ganz  wenige  eingetragen;  selbst  Teichi- 
ussa  fehlt,  das  Kiepert  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  an  der  Bucht 
Karakuja  ansetzt;  neben  ihr  könnte  nur  noch  die  nächste  Bucht  öst- 
lich in  Betracht  kommen,  das  lehrt  die  Hauptstelle  Thukydides  8, 26. 28. 
Und  doch  muß  einer  der  paar  Namen  unbedingt  getilgt  werden, 
nämlich  Pyrrha,  das  nach  Kiepert  am  jetzigen  Mäander  unweit 
Sakysburnu  angesetzt  ist.  Als  die  Zeugnisse  mich  hiervon  über- 
zeugten, zeigte  mir  Hiller,  daß  Texier  ganz  treffend  das  Richtige  ge- 
geben hat;  wer  dann  das  Falsche  aufgebracht  hat,  zu  untersuchen 
hat  mich  nicht  gereizt ;  jetzt  gilt  es  als  Tatsache,  und  wenn  Strabon 
nicht  stimmt,  ist  der  oder  Artemidor  ohne  weiteres  schuldig.  Es  ist 
wieder  einmal  ein  Fall,  der  beweist,  daß  man  geneigt  ist,  einer  Karte, 
obwohl  ihr  in  solchen  Dingen  doch  nicht  die  geringste  Autorität 
innewohnt,  ohne  weiteres  zu  glauben.  Strabon,  der  als  ein  verstän- 
diger Mann  die  Gegenden,  die  er  nicht  besucht  zu  haben  behauptet, 
sehr  viel  präziser  beschreibt  als  der  Erzkonfusionar  Pausanias,  jn 
den  sich  daher  das  Gewünschte  viel  bequemer  hineinlesen  läßt,  sagt 
knapp  und  klar  (636):  >Von  Herakleia  nach  Pyrrha  100  Stadien; 
etwas  mehr  von  Milet  bis  Herakleia,  weil  man  in  den  latmischen 
Golf  hineinfahren  muß ;  direkt  von  Milet  nach  Pyrrha  nur  30  Stadien. 
Von  Pyrrha  bis  zur  Mäandermündung  50;  wenn  man  auf  Bote  um- 
steigt, sind  es  30  Stadien  um  bis  Myus  hinaufzufahren <.  Kein  Wort 
ist  darüber  zu  verlieren,  daß  Pyrrha  am  Ostufer  des  Golfes  zwischen 
der  Mäandermündung  und  Herakleia  liegt,  also  etwa  bei  Sarykemer. 
Sakysburnu  ist  weder  dreißig  Stadien  von  Milet  entfernt,  noch  ist 
die  Lage  Pyrrhas  zwischen  Milet  und  Herakleia  überhaupt  denkbar. 
Ganz  dem  entsprechend  zählt  Ptolemaios  V  3,  2  Mäandermündung, 
Pyrrha,  Herakleia,  Milet  auf;  auf  seine  befremdenden  Angaben  über 
Höhe  und  Breite  gehe  ich  nicht  ein,  da  sie  hierfür  ganz  gleichgültig 
sind.  Wieder  ganz  entsprechend  erscheint  Pyrrha  bei  Plinius  V  109 
neben  Euromos  Herakleia  Amyzon  als  gehörig  zu  dem  conventus 
von  Alabanda.  Damit  ist  erschöpft  was  man  von  Pyrrha  weiß,  und 
die  Sache  ist  erledigt.  Natürlich  läßt  sich  seine  Lage  danach  nicht 
genau  fixieren,  denn  die  Mäandermündung  ist  ein  variabler  Punkt 
Man  darf  nicht  etwa  annehmen,  daß  die  dreißig  Stadien  AuflEahrt  bis 


Müet,  Heft  I  689 

Myus  von  ihr  gerechnet  sind:  man  stieg  auf  Kähne  um  und  fuhr 
durch  das  Meer  zwischen  Sümpfen  und  Untiefen:  wie  man  jetzt  zur 
Zeit  der  Frühjahrsüberschwemmung  von  Priene  nach  Milet  fahren 
kann.  Am  Mäander  lag  eben  Myus  überhaupt  niemals.  Es  ist  mir 
erfreulich,  nicht  nur  den  Artemidoros  von  dem  Vorwurfe  gefaselt  zu 
haben  und  die  Karte  von  einem  falschen  Namen  zu  befreien,  sondern 
auch  den  richtigen  Namen  für  den  Ruinenplatz  von  Sakysburnu  an- 
zugeben. Das  ist  also  der  Ort,  an  dem  die  große  Straße  aus  dem 
Innern  das  Meer  und  damit  die  Strandebene  von  Milet  erreichte.  Da 
kamen  die  Feinde  aus  den  Bergen,  also  da  gehörte  eine  Ortschaft 
und  ein  Kastell  hin.  Herodot  1, 18 — 22  erzählt  von  den  Lyderkriegen 
gegen  Milet,  wie  der  Lyderkönig  ohne  Flotte  nur  al^ährlich  die 
Felder  verwüsten  kann,  Jahr  für  Jahr^),  und  auch  in  der  Schlacht 
freilich  den  Sieg  davon  trägt,  am  Ende  aber  sich  gütlich  vertragen 
muß.  Die  Schlachten  finden  bei  Limeneion  im  milesischen  Gebiet 
und  in  der  Mäanderebene  statt:  da  besaßen  die  Milesier  eben  schon 
damals  Land,  Pyrrha  z.  6.^).  Bei  dem  Niederbrennen  des  Getreides^) 
fangt  ein  Athenatempel  bei  Assessos  Feuer,  den  dann  Alyattes  dop- 
pelt wieder  aufbaut.  Das  lokalisiert  Assessos  nicht;  nur  östlich  von 
Milet  wird  man  es  ansetzen.  Hinzu  kommt  ein  unschätzbares  Ex- 
zerpt aus  Nikolaos  von  Damaskos  (de  insidiis  19  lU  S.  18  de  Boor). 
König  Leodamas  von  Milet  wird  bei  einer  Prozession  zu  Apollon,  also 
auf  dem  uns  wohl  bekannten  Wege  durchs  Gebirge  nach  Didyma,  er- 
schlagen, seine  Söhne  und  Anhänger  retten  sich  nach  Assessos  und 
der  dort  von  Leodamas  eingesetzte  Kommandant  verteidigt  den  festen 

1)  Er  weiß  die  Jahre  zu  zählen.  Da  es  immer  noch  Historiker  giht,  die  sich 
gestützt  auf  ihre  Unkenntnis  der  griechischen  Literatur  erlauben  dürfen,  die  Exi- 
stenz der  ionischen  Chroniken  zu  leugnen,  so  sei  das  hervorgehoben,  lieber  den 
KimmeniereinfaU  reichten  diese  Chroniken  freilich  nicht  zurück:  sie  sind  genau 
so  alt  wie  die  Literaturwerke,  die  sich  erhielten,  Archilochos,  Kallinos,  Semonides, 
und  die  Ilias  ist  in  der  Gestalt  im  wesentlichen  erhalten,  die  sie  damals  hatte. 

2)  Auch  Achilleion  gehört  dahin,  vgl.  Berliner  Sitz.-Ber.  1906,44. 

3)  hiloM  IfintfATTpafA^vou.  Dies  Wort  ist  nicht  attisch,  nur  einzeln  ans  der 
ionischen  Literatursprache  aufgenommen.  Theokrit  hat  es  oft  im  Sinne  von  Ge- 
treidefeld und  von  Getreide,  das  im  Halm  steht.  Er  konnte  es  von  Hause  kennen, 
da  es  bei  Sophron  vorkam,  konnte  es  auch  in  Asien  hören.  Die  gute  Grammatik 
hielt  das  a  in  Xaiov  für  lang;  so  überwiegt  auch  Xi^iov,  X^iov;  aber  Hesych  and 
Photios  (zwei  Glossen)  geben  auch  Xetov  und  XeTa.  So  deute  ich  in6  Xe{o  auf  der  In- 
schrift aus  dem  Didymeion,  die  nach  Susa  494  verschleppt  ist,  HaussouUier,  Extrait 
des  mdmoires  de  la  d^l^gation  en  Perse  VII 7.  In  Athen  sagt  man  x<*^P^^^»  ^^  ^ 
Suppl.  S.  94.  Ob  nicht  der  homerische  Name  AeidxpiToc  richtig  und  auf  XcTov  zu 
beziehen  ist?  Und  ist  nicht  Xi^iov  zusammenzurücken  mit  XVjctov,  Xi]CToup7c?v.  XVjct« 
xH^uLxa  Hesych,  so  daß  es  den  xXfjpoc  bezeichnet,  der  vom  Volke  bei  der  Acker« 
Verteilung  dem  einzelnen  zufällt? 


640  Gott.  gel.  Änz.  1906.  Nr.  8 

Ort.  Die  Rettung  bringen  zwei  phrygische  Jünglinge,  die  mit  den 
Heiligtümern  der  Kabiren  in  die  Stadt  kommen.  Also  Assessos  ist 
ein  nicht  unbedeutender  fester  Ort  und  liegt  so,  daß  man  von 
Phrygien  kommend  dahin  gelangen  kann,  auch  wenn  Milet  feindlich 
ist  Für  beide  Geschichten  paßt  die  Lage  bei  Sakysburnu  ganz  vor- 
trefflich, und  das  ist  der  einzige  bedeutende  Ruinenplatz  auf  der 
Halbinsel,  der  neben  Milet  selbst  und  Didyma  verfügbar  ist.  Wie 
mir  Wiegand  und  Fredrich  erzählt  haben,  kommt  der  Name  Assessos 
noch  in  byzantinischen  Urkunden  vor:  da  wird  sich  ja  wohl  fest- 
stellen lassen,  ob  die  Kombination  sich  bewährt.  ^) 

Assessos  ist  ein  karischer  Name  wie  Didyma  (<ac  £C8D|ia; 
griechische  Etymologie  hat  hier  nichts  zu  suchen)  und  Miletos  (das 
hinter  dem  I  einen  Spiranten  verloren  hat,  denn  aeolisch  heißt  es 
Millatos)  und  Argasa,  das  nach  seinen  Grenzsteinen  östlich  von 
Teichiussa  an  der  Südküste  lag.  Die  >  ummauerte  xa>|jLY)<,  das  Ai|jivT]tov, 
ndvopjioc,  die  Flüsse  oder  xapA^pat  Byblis  und  Hyetis  in  einer  Vor- 
stadt Milets  sind  hellenische  Bezeichnungen:  kein  größerer  Ort  ist 
erst  von  den  Hellenen  gegründet.  Dem  alten  schön  gelegenen  Didyma 
haben  sie  die  Bedeutung  als  Stadt  genommen,  als  sie  sich  bequemten, 
seinen  Barbarengott  als  den  ihren  anzuerkennen;  aber  die  Ueber- 
schätzung  dieses  Gottes  und  seiner  Priester,  der  zweifellos  ursprüng- 
lich karischen  Branchiden,  ist  durch  die  Entdeckung  des  Delphinion 
in  Milet  auf  das  richtige  Maß  beschränkt,  der  Ueberlieferung  ent- 
sprechend. Nach  494  ist  der  Gott  von  Didyma  ein  milesischer  Lokal- 
gott, und  er  erhält  seine  Heiligung  von  Delphi,  wofür  ja  besondere 
Legenden  ersonnen  werden.  So  etwas  vollends,  wie  daß  der  Ort 
durch  das  Beilager  von  Zeus  und  Leto  geweiht  wäre,  ist  keine 
Religion  und  keine  Sage,  sondern  späte  Fiktion.  Vor  494  ist 
der  Gott  von  Didyma  und  sein  Orakel  freilich  bedeutend  gewesen, 
aber  als  alter  Landesherr,  dem  gegenüber  der  Hellene  doch  ein 
Gefühl  des  Fremden  nicht  verliert:  nur  in  Delos  und  Delphi  war 
ApoUon  ganz  zum  Hellenen  geworden.  Doch  darüber  werden  die 
künftigen  Funde  von  Jeronda  weiteres  lehren,  und  die  Veröffent- 
lichung des  Delphinion  ist  ja  schon  angekündigt.  Es  ist  also  vor- 
schnell gelegentlich  der  Karte  auf  historische  Schlüsse  einzugehn. 
Begrüßen  wir  einstweilen  dankbar,  daß  sie  den  festen  Grund  für 
alles  künftige  bereitet  hat. 

Westend  Ulrich  von  Wilamowitz-Moellendorff 

1)  Mittlerweile  bat  mich  Hüler  belehrt,  daß  Rayet  Assessos  schon  richtig 
so  angesetzt  hat.  Keinem  andern  trete  Ich  eine  Priorität  in  diesen  Dingen  lieber 
ab,  als  diesem  früh  verstorbenen  Forscher,  der  vor  einem  Menschenalter  die 
große  Aufgabe  in  voller  Würdigung  ihres  Zieles  angegriffen  hat 


TheodoBiaims  ed.  Th.  Momnuieii  et  P.  Meyer  641 


Theodosiani  llbri  XVT  com  constitationibas  Sirmondianis  et  leges  BOTellae 
ad  Tbeodosianum  pertinentes  consilio  et  aactoritate  academiae  litteraram  regiae 
borussicae  ediderunt  Th.  Mommsen  et  Paulas  M«  Mejer;  accedant  tabnlae 
sex.  Berolini  apnd  Weidmannos.  MDCCCY.  62  M.  —  toI.  I.  Theodorianl  libri 
XVI  cum  coDstitutionibus  Sirmondianis  edidit  adsumpto  apparata  P.  Erue- 
geri  Th.  Mommsen.  pars  prior.  Prolegomena.  CCCLXXX  Seiten,  pars  poste- 
rior. Textus  com  apparatn.  931  Seiten.  —  toL  II.  Leges  BOTellae  ad  Tbeo- 
dosianum pertinentes  edidit  adiutore  Tb.  Mommsen  Panliis  M.  Mejer«  CIX 
and  219  Seiten. 

Es  war  eine  Leistung  von  ganz  ungewöhnlichem  Fleiß,  als 
Gustav  Hänel  in  den  Jahren  1842 — 1844  den  Tbeodosianus  mit 
den  zugehörigen  Novellen  unter  dem  charakteristischen  Titelzusatz 
>ad  LIV  librorum  manuscriptorum  et  priorum  editionum  fidemc 
herausgab ;  aber  diese  Arbeit  war,  wie  man  längst  wußte,  und  wie 
Mommsen  jetzt  (proll.  GXVU^)  an  wenigen,  aber  alles  sagenden  Bei- 
spielen zeigt,  unmethodisch,  unzuverlässig,  unpraktisch.  Sie  mußte 
von  Grund  auf  neu  gemacht  werden.  Ihr  einziger  wirklicher  Nutzen 
ist  gewesen,  daß  sie  der  neuen  Ausgabe  als  Kontrolle  dienen  konnte ; 
und  übrig  ist  jetzt  nichts  von  ihr  als  ein  paar  Koi^ekturen  —  und 
das  Alpdrücken,  das  jeden  bei  der  Erinnerung  befallen  wird,  der  es 
einmal  versucht  hat,  mit  Hilfe  jenes  undurchdringlichen  Netzwerkes 
von  dunklen  Ziffern  und  Zeichen,  das  den  Hänelschen  Apparat  be- 
deutet, Textkritik  zu  treiben. 

Von  der  ungeheuren  Arbeit,  die  in  den  neuen  Bänden  nieder- 
gelegt ist,  fiel  an  Mommsen  der  Löwenanteil;  er  hat  nicht  nur 
die  Verantwortung  für  den  ganzen  ersten  Band,  sondern  auch  noch 
die  Ueberwachung  des  zweiten  übernommen,  der  von  Paul  M. 
Meyer  ganz  nach  dem  System  und  im  Geiste  des  ersten,  in  einigen 
Punkten  sogar  praktischer  angelegt  ist  als  jener.  Zu  den  Kollationen 
des  ersten  Bandes  hat  Paul  Krüger  durch  sein  vorzügliches  Apo- 
graphum  des  Taurinensis  (T)  ^)  und  durch  ungedruckte  (von  Mommsen 
wiederholte)  Vergleichungen  des  Ambrosianus  (A),  Regius  (B),  und 
Vaticanus  (V)  wesentliche  Beiträge  geliefert;  die  Drucklegung  des 
bei  Mommsens  Tod  noch  ungedruckten  Schlusses  der  Prolegomena 
(von  p.  CLXXXV  an),  darunter  die  besonders  komplizierten  Konsti- 
tutionenlisten,  haben  die    >amici,   quibus  hoc  munus  Mommseni 

1)  Diese  in  den  pbiL-bist.  Abb.  der  k.  Akad.  d.  Wiss.  zu  Berlin  1879  (II) 
erscbienene  getreue  Wiedergabe  des  Originals  und  ein  paar  Facsimilia  sind 
jetzt  unsere  einzige  Quelle  für  die  Kenntnis  dieser  unscbätzbaren  Hs,  die  (kurz 
nach  dem  Druck  von  prolL  XXXIX)  bei  dem  Brand  der  Toriner  Biblioth^  voll- 
ständig zu  Grunde  gegangen  ist. 

Qöti.  g«L  Ans.  1900.  Nr.  8  45 


642  Gott  geh  Anz.  1906.  Nr.  8 

voluntate  delatum  erat«  (vgl.  auch  0.  Seeck,  Deutsche  Rundscbaa 
118  S.82)  in  mustergiltiger  Weise  besorgt.  Den  proU.  (CCCVUsqq.) 
eingefügt  ist  eine  eingebende  Untersuchung  von  A.  de  Wretschko 
De  usu  breviarti  Alariciani  forensi  et  scholastico  per  Hispaniam, 
GdUiam,  Italiam  regionesque  vicincis  (71  Seiten);  sechs  schöne  Tafeln 
(in  folio)  mit  Proben  aus  den  interessantesten  Hss  des  Theodosianos 
sind  der  Ausgabe  beigegeben  und  von  Ludwig  Traube  paläo- 
graphisch  kommentiert  (4  Seiten  in  folio). 

Was  die  Technik  der  Ausgabe  betrifft,  so  ist  besonders  ein  Fort- 
schritt zu  erwähnen :  jedem  Gesetz  folgt  direkt  der  zugehörige  kritische 
Apparat  mit  spezieller  Angabe  sämtlicher  Ueberlieferungszweige  und 
Hss,  in  denen  das  Kapitel  erhalten  ist.  Hierdurch  wird  die  Verwer- 
tung des  außerordentlich  komplizierten  Apparates  bedeutend  erleichtert. 

Das  Studium  der  Ueberlieferungsgeschichte  des  Theo- 
dosianus  kann  als  hohe  Schule  der  Textkritik  gelten.  Da  Mommsen 
kein  Stemma  gegeben  hat,  kann  ich  mir  nicht  versagen,  unter  Weg- 
lassung alles  Unwesentlichen  die  Hauptdaten  graphisch  darzustellen 
(S.  643).  Besonders  interessant  wird  die  Textgeschichte  durch  die 
historisch  fixierbaren  Scheitelpunkte  mehrerer  Ueberlieferungsspaltungen 
(a.  438,  a.  506,  a.  529)  und  das  hohe  Alter  vieler  Hss,  die  also  vom 
Original  in  der  ganzen  Anlage,  in  der  Orthographie,  *)  ja  selbst  der 
Zeilenlänge  ^)  nicht  weit  entfernt  sind. 

Das  wichtigste  Problem  bei  jenem  Teil  der  Textkritik,  der  die 
Rekonstruktion  des  Archetypus  von  438  zum  Ziel  hat,  liegt  in  der 
Kontamination  einzelner  Hss  und  Klassen  der  Breviartradition 
mit  Haupthss;  diese  Kontamination  besteht  nicht  nur  in  der  Ein- 
fügung ganzer  Kapitel,  die  dem  Breviar  von  506  fehlten  (cf.  proU. 
cap.  V),  sondern  wahrscheinlich  auch  in  einer  Revision  des  Breviar- 
textes  nach  anderen  Haupthss. 

Diese  letztere  Frage  hat  Mommsen  hauptsächlich  an  Hand  der 
Fälle  verfolgt,   wo  in  Breviarhss  in  der  Inscription  ein  Idem  ACu- 

1)  VgL  Krüger,  Z(eit8chrift  für)  R(echt8)-G(e8chichte)  (romanische  Abteilang) 
1905,  S.  318  ff. 

2)  Die  orthographischen  Eigentümlichkeiten,  über  die  ein  besonderes 
Kapitel  der  proll.  (IX)  Auskunft  gibt,  sind  im  Text  meist  beibehalten:  inmunes^ 
adspirare  etc.  Uebersehen  ist  (unter  anderem,  vgl.  Krüger  ZRQ  1905,  329)  die 
syntaktisch  wichtige  Tatsache,  daß  statt  eis  und  ü  stets  hia  und  hi  (oder  hü) 
überliefert  wird. 

3)  Die  Zeilen  länge  der  Vorlagen  von  YTBW  PMetc.  läii  sich  dnrch 
die  ziemlich  häufigen  Auslassungen  ganzer  Zeilen  als  etwa  '/«  der  Mommsenschen 
Textzeüen  festsetzen :  cf.  T  zu  VI  26, 1,  VHI  7, 10»  IX  20, 1,;  B  zu  VH  1, 17„ 
VII  18,11.  Vm  7,11,;  V  zu  IX  38,4,  XÜ  1,4*;  W  zu  XV  6,6io;  PM  zu 
II 17,  Ijo  etc. 


Tbeodosianiu  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer 

Stemma 

Originalge8etze(a.  313*437) 
(cf.  pag.  XXX) 


643 


Inschriften  Sirmondianae 

(vgl.  unten  S.  649)    (cf.  pag.  CCCLXXIX) 


Fragmenta  Vaticana      Konzilsakten  etc. 
249 


(saec.  vn—vni) 

TheodosiMiiiB  (a.  438) 


breviarium  Alarici  (a.  506) 
(cf.  cap.  IV.Vin) 


codex  JustinianuB  (a.  529) 
(cf.  p.  LDL  vn) 


Just.  (RMCDY  etc.) 
(V  iat  saec.  VI) 


AOEHNBG  etc.        CXPMSLQK  etc. 
(HPM  saec.  VI— VU) 

HaupthsB  (cap.  II) 

TBVWO 
(TBV  saec.  VI— VU) 
N6.   Die  Seiten-   and  Kapitelzahlen  beziehen   sich  auf  Mommsens  Prole- 
gomena. 

gustus)  sich  auf  ein  im  Tbeodosianus  überliefertes,  aber  im  Breviar 
ausgelassenes  Gesetz  bezieht  (proU.  CXXXVIIsq.),  während  andere 
Breviarhss  (in  der  Regel  die  Mehrzahl)  die  richtige  Kaiserbezeich- 
nung haben.  Solche  falsche  yldem<  hat  Mommsen  der  nachlässigen 
Epitomierung  durch  die  Alariciani,  Krüger')  der  kritiklosen  späteren 
l^ziehung  von  Haupthss  zugeschrieben.      Der  Argumentation  läßt 

1)  Wir  heben  die  Haupthss  hier  wie  im  Folgenden  durch  Fettdruck  hervor; 
praktischer  ist  das  von  Meyer  in  vol.  II  nicht  ganz  konsequent  durchgeführte 
System,  sie  mit  griechischen  Buchstaben  zu  bezeichnen  (FABH  etc.). 

2)  ZRG  1905,  826  f.,  wo  aber  Mommsens  Zusammenstellung  p.  CXXXYII 
nicht  berücksichtigt  zu  sein  scheint   In  XI 31, 6i  geht  S  mit  PML. 

45* 


644  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

sich  zu  Gunsten  Mommsens  noch  zweierlei  zufügen:  erstens  die 
Parallele  des  Codex  Justinianus,  bei  dessen  Redaktoren  Krüger  selbst 
(in  der  praefatio  zu  seiner  Ausgabe  p.  XXUI)  dieselben  falschen 
Idem  mehrfach  nachgewiesen  hat,  so  Theod.  IX 17, 7  =  Just.  11144,14, 
Theod.  VII 20, 7  =  Just.  XII 46, 3 ;  zweitens  ein  Wahrscheinlichkeits- 
schluß :  bei  der  Wichtigkeit,  die  jene  durch  die  Eaisernamen  fixierten 
Daten  für  den  Gebrauch  der  Rechtsbücher  hatten,  wird  man  lieber 
die  richtige  Bezeichnung  für  die  korrigierte  halten,  als  die  falsche; 
außerdem  konnte  sich  solch  ein  falsches  Idem  schon  durch  den 
Widerspruch  mit  dem  Konsulat  zu  erkennen  geben,  während 
für  die  umgekehrte  Entstehung  der  Variante  kein  vernünftiger  Grund 
anzugeben  ist. 

Diese  Ueberlegung  lehrt  gleichzeitig,  daß  sich  die  Kontamination 
mit  einer  Haupths  aus  der  Korrektur  eines  solchen  Idem  nicht 
sicher  beweisen  läßt,  da  diese  nach  den  Konsulatslisten  geschehen 
sein  kann.  Viel  klarer  sprechen  folgende  ziemlich  harmlose  Text- 
änderungen: 

1X45,4?  sive  in  domihus  \  brev.  (HNGEOXCS)  und  das  Ori- 
ginalgesetz: om.  T  brev.  (PMLQK). 

IX  45, 4ii  mtinere  TQ  und  das  Originalgesetz :  mane  Y  brev. 
(außer  Q). 

1X14,26  est  enimY  brev.  (HQOES):  enim  est  T  brev.  (NCPML) 
Just. 

IX12,2i  nee  TV  (schol.)  brev.  (plerique):  nam  V  (text.)  brev. 
(E-H). 

in  diesen  vier  Fällen  ist  offenbar  je  ein  Zweig  der  Breviarüber- 
lieferung  nach  einer  anderen  Haupths  orientiert,  als  der  Rest;  denn 
die  Varianten  sind  alle  derart,  daß  sie  nicht  durch  Zufall  unabhängig 
von  einander  entstanden  sein  können.  Es  hindert  also  nichts,  unter 
Umständen  auch  solche  Lesungen  vereinzelter  Breviarzweige,  die  dem 
Konsens  der  übrigen  mit  einer  Haupths  gegenüberstehen,  als  aus 
direkter  Ueberlieferung  geflossen  zu  betrachten.  Zwei  mteressante 
Fälle  dieser  Ait  will  ich  noch  anführen. 

IX6,4i  ad  senatum  {senatui  0)  brev.  (NOECPMLS)  und  die 
iunctae^  (cf.  p.  CCXCIX):  om.  V  brev.  (BG)  Just,  (also  eine  sehr 
alte  Korruptel). 

Xl26,2io  Med(iolani)  brev.  (CMPS)  und  die  iunctae  (cf.  pag. 
CCLXXXHI):  om.  V  brev.  (HNGOEL). 

Seltsamerweise  hat  Mommsen  beide  Mal  die  Bestätigung  durch 
die  > iunctae«  übersehen,  und  die  betreffenden  Worte  als  Interpolation 

1)  In  der  Kritik  der  In-  and  Sabskriptionen  spielen  die  »leges  inngendae«, 
von  denen  unten  noch  die  Rede  sein  wird,  eine  grofte  Eolle. 


Theodosianus  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer  645 

behandelt;  es  kann  aber  die  Erkenntnis,  daß  1X6,4  an  den  Senat 
gerichtet  und  daß  XI 26, 2  in  Mailand  unterzeichnet  ist,  durch  Kon- 
jektur nur  mit  Hilfe  der  Konstitutionenlisten  gefunden  werden,  die 
eine  moderne  Einrichtung  sind;  also  sind  wieder  zwei  verschiedene 
Haupthss  als  Quelle  der  verschiedenen  Breviarlesungen  anzunehmen; 
welche  von  beiden  Lesungen  die  des  Archetypus  von  506  war,  wird 
sich  kaum  sicher  entscheiden  lassen;  jedenfalls  ergibt  sich,  daß  auch 
vereinzelte  Breviarlesungen  die  größte  Beachtung  verdienen,  wenn 
sie  sich  durch  den  Inhalt  empfehlen. 

Die  Alaricianische  Interpretation,  die  ihrer  rechtsgeschicht- 
lichen Bedeutung  wegen  mit  vollständigem  Apparat  beigegeben  ist,  ^) 
hilft  für  die  Kritik  wenig;  doch  finden  sich  z.  B.  Kontaminationen 
mit  dem  Breviartext,  wie  12,4  exequi  liceat  G  (aus  der  Interpr.). 

Der  Codex  Justinianus,  für  dessen  Verwertung  Krügers 
große  Ausgabe  (1877)  eine  vorzügliche  Grundlage  bot,  ist  das  klassir 
sehe  Beispiel  eines  fast  nur  zur  Bestätigung  vorhandener  Lesarten 
mit  Sicherheit  verwendbaren  Traditionszweiges;  denn  die  redak- 
tionellen Aenderungen  der  Tribonianischen  Kommission  sind  so  zahl- 
reich und  unberechenbar,  daß  die  dem  Just,  eigentümlichen  Lesungen 
nur  in  den  seltensten  Fällen  als  die  des  Archetypus  von  438  ange- 
sehen werden  dürfen.  Mit  vollem  Recht  sind  deshalb  die  nur  im 
Just,  überlieferten  230  Gesetze  nicht  in  den  Text,  sondern  nur  in 
die  Konstitutionenlisten  (proU.  cap.  X)  aufgenommen  worden.  In 
manchen  Fällen  läßt  sich  mit  Wahrscheinlichkeit  der  Titel  angeben, 
unter  dem  ein  solches  Gesetz  im  Theod.  gestanden  haben  mag:  so 
Just.  123,5  hinter  12,9,  Just.  XI 68, 1—5  vor  V16,29;  da  aber  die 
Titel  des  Just,  oft  aus  mehreren  im  Theod.  teilweise  oder  ganz 
fehlenden  Rubriken  zusammengesetzt  wurden,  da  ferner  unter  gleich- 
lautendem Titel  im  Just,  oft  Gesetze  anderer  Titel  des  Theod.  stehen 
(z.B.  finden  sich  alle  Gesetze  aus  V 1  im  Just,  nicht  unter  der 
Rubrik  de  legüimis  hereditatibus  VI  58),  so  ist  auf  diesem  Gebiete 
keine  auch  nur  annähernde  Sicherheit  möglich.  Und  in  dem  einzigen 
Falle,  wo  man  versucht  wäre,  die  Titel  des  Just,  zu  Hilfe  zu 
nehmen,  bei  der  Rekonstruktion  von  V  11— 20,  da  versagen  sie 
völlig.  —  Ein  vorzüglicher  Gedanke  war  es,  die  redaktionellen  Aen- 
derungen des  Just,  nicht  im  Apparat,  sondern  am  Rand  des  Textes 
zu  notieren;^  nicht  nur,   weil  so  das  Bild  der  Ueberlieferung  viel 

1)  Eine  systematisch  geordnete  Uebersetzong  dieser  Interpretation  unter  Bei- 
gabe des  Textes  der  Interpretation  und  des  Breviars  (nach  H&nel,  ohne  Apparat) 
ist  von  Max  Conrat»  Breviartum  Alaricianunif  1903  herausgegeben  worden; 
vgl.  die  ausführliche  Besprechung  von  H.  Krüger  ZRG  1904,  410—420. 

2)  Die  Handhabung  im  Einzelnen  ist  noch  nicht  konsequent  durchgeführt, 
indem  Just,  bisweüen  weit  über  die  variierenden  Stellen  hinaus  ausgeschrieben 


646  Gott.  gd.  Anz.  1906.   Nr:  8 

klarer  wird,  da  bei  jeder  andern  Technik  schon  die  Angabe  der 
Stellen,  für  die  die  Justinianische  Tradition  vorliegt,  umständlich  und 
undeutlich  würde,  sondern  vor  allem,  weil  die  Tätigkeit  der  Bear- 
beiter so  erst  ins  rechte  Licht  gesetzt,  ja  vielleicht  gerade  in  der 
Weise  veranschaulicht  wird,  wie  sie  tatsächlich  geschehen  ist.  Die 
meines  Wissens  hier  zum  ersten  Mal  in  größerem  Umfang  gewagte 
Technik  kann  als  Muster  gelten  für  viele  Fälle,  in  denen  es  sich  um 
kritische  Verwertung  von  Umarbeitungen  handelt  (wir  geben  unten 
S.  650  eine  Probe). 

So  wertlos  nun  der  Just,  in  allen  selbständigen  Lesungen  ist, 
so  schätzbar  wird  er  zur  Beurteilung  von  Varianten  der  übrigen 
Traditionszweige.  Jede  wesentliche  Uebereinstimmung  mit  einer  Bre- 
viarhs  oder  einer  Haupths  führt  mit  Sicherheit  in  die  Zeit  vor  506 
(resp.  529).  Zwei  scheinbare  Ausnahmen  sollen  bei  dieser  Gelegen- 
heit erledigt  werden. 

V  7, 2ii  habituros  incolumem  si  in  ea  (sc.  libertate)  nati  sutU 
libertatem. 

Sirm.  —  T  —  Just.  VIII  50,20  (DRM  C)  —  brev.  (HNBGOEXCPMLS)  ||  si  om. 
brev.  (HOS)  Just.  (C)  ||  ea]  qua  (quam  H:  qui  S)  add.  brev.  Just.  (C). 

Hier  scheint  also  eine  Hs  des  Just,  mit  einigen  Breviarhs  (HOS) 
in  einer  Korruptel  übereinzustimmen,  was  ganz  singular  und  uner- 
klärlich wäre.  Nehmen  wir  hingegen  an,  das  qua  (hinter  ea)  habe  in 
dem  Archetypus  von  Just,  und  brev.  gestanden,  so  wird  alles  klar: 
die  alte  Korruptel  ist  dann  in  Just.  (DRM)  richtig  durch  konjek- 
turale  Streichung  des  qua  korrigiert  worden,  während  brev.  (HOS) 
und  Just.  (C)  unabhängig  von  einander  in  der  Streichung  von  si 
eine  oberflächliche,  aber  immerhin  naheliegende  Heilung  suchten. 
Der  Apparat  müßte  also  so  aussehen:  si  in  ea]  si  (om.  brev.  [NOS] 
Just.  [C])  in  ea  qua  (qua  om.  Just.  [DRM])  brev.  Just.  —  Aehnlich 
liegt  der  zweite  Fall : 

IX  6, 32  ante  exhibitionem  testium,  ante  examinatum  iudicium  . .  . 

y  —  brev.  —  Just.  IX  1, 20  (LDCRM  und  Gregor,  epist.  ed.  Ehwald 
II  417,5)  II  examinatum  iudicium]  sie  Y  brev.  (plerique)  Just.  (L»):  examinationem 
iudicum  (iudicii  Just,  [außer  RL»])  brev.  (G»B)  Just.  (auBer  L*). 

Die  Lesungen  von  Just.  (L^DCRM  Greg,  [anno  603!])  und  brev. 
(G'^B)  sind  offenbar  beide  unter  dem  Einfluß  von  exhibitionem  testium 
entstanden,  während  der  Archetypus  von  Just,  und  der  von  brev. 
das  Richtige  hatten. 

In  dasselbe  Gebiet  der  unabhängig  von  einander  zu  erklärenden 

wird  (I  2, 8  VI  2, 24  etc.).  —  Bei  1 2, 3  gehört  aUes,  was  nach  4  iusque  steht,  an  den 
Rand:  für  die  Authentizität  dieses  Stückes  liegt  ebensowenig  Garantie  vor,  wie  für 
den  Schluß  von  V  13,  4  u.  ä. 


Theodosianos  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer  647 

Korruptelen  gehört  die  Vertauschung  der  selteneren  Subskriptions- 
formel pp  (=  proposita)  mit  der  häufigeren  dat{a)  an  folgenden 
Stellen : 

IX  10,3  i)p]  VT  brev.  (ECPMLS):  dat.  brev.  (NG)  Just. 

XI  35, 1  pp]  V  brev.  (ECPMS) :  dat.  brev.  (NGO)  Just,  und  die 
iuncta  II  6, 3. 

Ebenso  steht  ein  falsches  dat.  in  V  8,1  (NBGO);  IV  9,1  (BGOQ); 
VIII 8, 3  (NE  gegen  R  brev.  [rel.]  und  die  leges  geminae)  und 
noch  oft  in  BGN,  BGA,  BGE,  BG  oder  N,  also  hauptsächlich  der 
zweiten  Breviarklasse.  Mommsen  hat  in  VIII 8, 3  dat.  in  den  Text 
gesetzt ;  aber  schon  das  Prinzip  der  lectio  difficilior  verlangt  die  Be- 
vorzugung der  Variante  pp,  die  unmöglich  in  mehreren  Traditions- 
zweigen gleichzeitig  durch  Eorruptel  entstanden  sein  kann. 

Unter  den  einzelnen  Hauptzweigen  der  Ueberliefenmg  (T,  R, 
V,  W,  brev..  Just.)  läßt  sich  eine  Verwandtschaft  nicht  nachweisen. 
Dabei  darf  man  freilich  nicht  vergessen,  daß  bei  der  stilistischen 
Inferiorität  des  Archetypus  von  438  —  die  übrigens  auch  der  Kon- 
jekturalkritik  jeden  festen  Boden  entzieht  —  die  Möglichkeit,  eine 
gemeinschaftliche  Eorruptel  zu  konstatieren,  nur  dann  gegeben  ist, 
wenn  jede  von  zwei  Lesungen  durch  mehrere  Hauptzweige  bezeugt 
wird;  in  der  Regel  liegen  aber  deren  nur  zwei  oder  höchstens  drei 
gleichzeitig  vor.  Immmerhin  findet  sich  eine  kleine  Zahl  solcher 
mehrfach  bezeugter  Varianten,  die  nicht  unabhängig  von  einander 
entstanden  sein  können.  Die  wichtigsten  haben  wir  oben  S.  644  be- 
handelt; einiges  minder  Sichere  wird  sich  aus  Mommsens  ausführ- 
lichen, aber  immer  am  Text  zu  kontrollierenden  Variantenlisten 
(proll.  CXIXsqq.)  hinzufügen  lassen,  wo  auch  die  speziellen  Ueber- 
lieferungsverhältnisse  von  Buch  XVI  berücksichtigt  sind.  —  Bei 
dieser  Gelegenheit  sei  noch  besonders  auf  cap.  I  und  VH  von  Paul 
M.  Meyers  proll.  zu  dem  zweiten  Band  hingewiesen,  worin  die 
Ueberlieferungsgeschichte  der  Novellae,  die  größtenteils  mit  denselben 
Faktoren  zu  rechnen  hat,  wie  die  des  Theodosianus  (brev.  Just.), 
eingehend  und  außerordentlich  übersichtlich  behandelt  ist. 

Bei  einer  Nachkollation  von  T  für  das  IX.  Buch  (nach  Krügers 
Abschrift,  vgl.  oben  S.  641^)  notierte  ich  mehret  Auslassungen : 
1X10,39  differ atur]  def(icit);  21,4i9  veto]  om.;  34,108  scribtionis] 
inscribtiofiis;  42,98  a/ccipiant]  [....]pia;t;  42,114  nolumu^]  volumus 
(was  schon  Gothofredus  verlangt  hatte,  und  wodurch  das  Gesetz 
einen  ganz  neuen  Sinn  erhält);  45,44  (Apparat)  \pr6\pos%ta;  ferner 
fügen  sich  die  Lücken  von  T  dem  Text  an  mehreren  Stellen  nicht: 

1X1,132    {criminalis   [ ]ae  d.);   1,192    (om.  s«o?);    35,62   (wohl 

d^äe[ntium]).    Als  Titelzahl  von  V  14  steht  in  T  nicht  XIIII,  son- 


e48  Gott  gel.  Anz.  190«.  Nr.  8 

dern  XIII  (cf.  proll.  XLI  und  Krüger  ZR6  1905  S.  321),  wodurch 
sich  die  Aenderung  von  Hänels  Zahlen  (Vll — 16)  als  verfehlt  er- 
weist.^) Zu  der  Kollation  des  Parisinus  R  hat  schon  Krüger  (ZR6 
1905,  321  ff.)  einige  Nachträge  geliefert;  sie  lassen  sich,  wie  ich 
mich  vor  dem  Kodex  an  mehreren  Stichproben  überzeugte,  bedeutend 
vermehren.  ^  Ich  beschränke  mich  hier  auf  zwei  für  die  Textgestaltung 
wichtige  Stellen.  In  VI  2, 186  ist  die  auf  provindalxbus  folgende  zer- 
störte Strecke  gerade  so  lang  wie  diejenige,  die  in  der  vorhergehen- 
den Zeile  durch  a  non  vaiet  nisi  eau  richtig  ausgefüllt  wird;  also 
kann  in  Z.  6  nicht  nur  adprobata  gestanden  haben:  es  ist  außerdem 
noch  die  Formel  et  cetera  zu  ergänzen,  was  übrigens  auch  durch 
den  Gebrauch  der  Exzerptionsvermerke  in  den  anderen  Fragmenten 
dieses  Gesetzes  nahegelegt  wird  (vgl.  unten  S.  651  ff.).  In  VI  2, 22 
ist  am  Ende  der  ersten  beiden  Zeilen  irrtümlich  eine  Lücke  des 
Textes  notiert;  in  Wirklichkeit  befindet  sich  dort  eine  schadhafte 
Stelle  des  Pergaments,  die  (wie  auch  die  Rückseite  zeigt)  nie  be- 
schrieben war.  Damit  wird  die  Herstellung  des  Textes,  an  der  alle 
Herausgeber  verzweifelt  haben,  ganz  einfach: 

[Id.  ää  Pa]troino  csl.  A  conlatione  glebalis  auri  vel  in-* 
[laticjii   tituli   ne    domum   quidem    nostram    inmu- 
[nem]  esse  praecepimus.  pp  HH  kal.  Mart.  Med.  Vincen- 
[tio  et  Fra]vito  conss.^ 

Bei  einer  detaillierten  Behandlung  der  nur  auf  den  beschädigten 
Blättern  von  R  erhaltenen  Partien  (besonders  VI  2  und  VHIIS)  wird 
man  also  nach  wie  vor  die  Hs  selbst  oder  mindestens  gute  Photo- 
graphien zuziehen  müssen. 

Bei  der  Rekonstruktion  des  Archetypus  von  438  kann  die  Kritik 

1)  Geändert  sind  femer:  die  Titelzahlen  von  IV  11. 12.13  (=  Hänel  IV 13. 
.11.12);  die  Konstitutionszahlen  IV 12, 8  ff.  durch  die  höchst  zweifelhafte  Ver- 
einigung von  IV  12, 3  und  4  (Hänel) ;  schließlich  die  von  Mommsen  selbst  als 
fraglich  bezeichneten  Zahlen  von  VI  2, 12—26  (=  7—21  Hänel).  All  diese 
Neuerungen  entschädigen  nicht  für  die  Schwierigkeiten,  die  man  jetzt  bei  dem 
Aufsuchen  der  Zitate  hat,  die  seit  sechzig  Jahren  nach  Hänels  Zahlen  orientiert 
waren,   üeber  die  Aendernngen  im  II.  Band  vgl.  Paul  M.  Meyer  proll.  LXXVI. 

2)  Ich  darf  hier  nicht  verschweigen,  daß  ich  während  eines  Jahres  einge- 
hender Beschäftigung  mit  dem  I.  Band  eine  ähnlich  große  Zahl  von  Unterlassungen 
und  Irrtümern  auf  aUen  mir  kontrollierbaren  Gebieten  gefunden  habe.  Die 
»Addenda  et  Corrigendac  (vol.  H  213  sqq.)  geben  nur  einen  kleinen  Bruchteil  davon 
und  sind  bei  der  Korrektur  von  I  908, 11  (scr.  latam^  non  latum)  selbst  wieder 
korrekturbedürftig  geworden  (beabsichtigt  war  wohl  laia). 

3)  Die  Ergänzungen  am  Zeilenanfang  passen  genau  zu  den  Lücken,  deren 
Umfang  sich  aus  den  sicheren  Ergänzungen  in  Z.  1  und  4  ergibt;  inloHciue 
sonst  nirgends  bezeugt)  =  oblaibicius,  wie  itüatio  =  oblatio. 


Theodosianos  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer  649 

jedoch  nicht  stehen  bleiben,  obwohl  die  methodisch  sichere  Arbeit 
hier  endet  Das  Interesse  der  Wissenschaft  liegt  nicht  in  dem  Theo- 
dosianus,  der,  das  nachlässige  Produkt  der  mechanischen  Tätigkeit 
einiger  Kanzlisten,  nach  ein  paar  Menschenaltern  im  Westen  durch 
die  Interpretationen  des  gothischen  Breviars,  im  Osten  durch  die 
Epitomae  der  Tribonianischen  Kommission  abgelöst  worden  ist,  sondern 
in  den  Fragmenten  der  Kaiserkonstitutionen  von  313  bis 
437,  aus  denen  der  Theodosianus  besteht.  Diese  >leges  plenaec  so- 
weit als  möglich  zu  rekonstruieren,  ist  das  Hauptziel  der  Forschung, 
und  es  waren  wohl  nur  Gründe  praktischer  Natur,  die  eine  Aus- 
gabe des  Textes  unter  dem  Titel  yConstüutionum  imperaJtoriarum  quae 
in  Theodosiano  supersunt  fragmenta  chronologice  di8po8Üa<  verhindert 
haben.  Für  diesen  Teil  der  Aufgabe  ist  mit  Mommsens  Text  nur  das 
Material,  mit  seinem  (besonders  praktisch  angelegten)  chronologischen 
Konstitutionenregister  (proll.  CCIX — CCCVI)  nur  das  Programm  ge- 
geben; im  übrigen  sind  wir  nach  wie  vor  auf  das  ungeheure  Werk 
desGothofredus  angewiesen,  das  nun  schon  dritthalb  Jahrhunderte 
ungeschwächt  überdauert  hat  und  wohl  nie  veralten  wird.') 

Einige  Teile  dieser  gewaltigen  noch  übrigen  Aufgabe  können 
mit  Hilfe  des  jetzt  vorliegenden  Materials  sicherer  in  Angriff  ge- 
nommen werden,  als  dies  Gothofredus  vermochte;  ich  will  sie  kurz 
skizzieren. 

Die  erste  Frage  ist  natürlich  die  nach  der  inhaltlichen  Zu- 
verlässigkeit der  Epitomae.  Der  Vergleich  mit  den  erhaltenen 
Originalerlassen  ^)  läßt  sich  am  leichtesten  an  den  der  Ausgabe  des 
Theodosianus  folgenden  Sirmondianae  (p.  907 ff.)  durchführen,  zu 
denen  Mommsen  die  Varianten  des  Theodosianus  in  der  oben  S.  645  f. 
geschilderten  Weise  notiert  hat;  doch  zeigen  sich  hier  im  wesent- 
lichen nur  die  von  der  Instruktion  (1 1,6  §  1)  geforderten  Kürzungen; 
sehr  schade,  daß  nicht  auch  die  kritische  Verwertung  der  übrigen 
Originale  durch  Beigabe  der  Texte  erleichtert  worden  ist.  Das  für 
unsere  Frage  interessanteste  Dokument  ist  das  inschriftlich  mehrfach 
überlieferte  Edikt  Konstantins  de  acmsationibus  (cf.  Bruns,  Fontes 
iuris«  249;  CIL  IH 12043): 

1)  Codex  Theodosianus  com  perpetois  commentariis  lacobiGothofredi... 
opus  posthumum  recognitum  opera ...  A.  Marolli  (Lyon  1655) . . .  editio  noya . . . 
aucta...  I.D.Ritter.   VI  tomi,  Lipsiae  1736—1745. 

2)  Der  von  Mommsen  p.  XXX  gegebenen  Liste  ist  hinzuzufügen  IX  25, 1, 
dessen  Original  bei  Sozomenos  6, 3  teilweise  ausgeschrieben  ist  —  Zwei  im  Codex 
fehlende,  inschriftlich  erhaltene  Originalerlasse  des  Valens  (ca.  372)  sind  ein- 
gehend kommentiert  von  A.  Schulten,  Jahreshefte  des  Oesterr.  archaeol.  Instit. 
IX  (1906)  40  ff.  Auch  CIL  III 13569  war  wohl  unter  den  Vorlagen  der  theodosi- 
schen  Kommission. 


660 


Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 


. . .  quod  si  minime  potuerit  ea  quae  inten- 
taverit  conprobare,  scire  debet  severiori 
se  sententiae  subiugandum.  Sane  ||  si  quis 
alicui  maiestatis  crimen  intenderit,  cum 
5  '^eiusmodi  obiectus  minime  quemquam^ 
privilegio  dignitatis  alicuius  a  strictiori 
inquisitione  tueatur*,  sciat  se  quoque 
tormentis  esse  subdendum,  si  aliis  mani- 
festis  indiciis  ^atque  argumentis'  accu- 

10  sationem  suam  non  potuerit  conprobare, 

cum  i^in^  eo,  qui  buius  esse  temeritatis 

.  4eprehendetur,  illud^  quoque  tormentis 

^erui   oporteat^    cuius   consilio    atque 

instinctu    ad    accusationem    accessisse 

15  Wideatur^,  ut  ab  omnibus  ^tanti^  commissi 
consciis  vindicta  possit  reportari||.  De- 
latoribus  autem  quod  adeundi  quoque 
iudicis . . . 


Theod,  IX  5,1 
II  indpit 

4n  haiasce  modi  re  con- 
victus  minime  quisquam-*! 

^defendator-' 

^eprehenditor,  illom-i 
•-subdi  oportet^ 

*-yidebitorJ 


Offl.' 


IfinÜ 


Durch  die  scheinbar  harmlosen  Aenderungen  des  Theod.  ist  ein 
ganz  anderer  Sinn  in  das  Gesetz  gekommen.  Während  das  Original 
bei  mißglückter  Anklage  nur  die  Folterung  des  Anklägers  verlangt, 
damit  er  den  Namen  des  Anstifters  nenne,  fordert  der  Theodosianus 
auch  die  Folterung  dieses  Anstifters.  In  ganz  der  gleichen  Weise 
ist  die  in  dem  ersten  Satz  gegebene  Begründung  durch  den  Theo- 
dosianus geändert:  >weil  der  Vorwurf  der  Majestätsklage  keinen 
Angeklagten  vor  Folterung  schützt,  soll  auch  der  ungerechte  Kläger 
gefoltert  werdenc,  hatte  Konstantin  gerecht  und  weise  geurteilt; 
>weil  der  überführte  Majestätsverletzer  gefoltert  wird<,  sagt  der 
Theodosianus,  was  auch  ein  Grund  ist,  aber  ein  sehr  schlechter. 
Beide  Aenderungen  ergaben  sich  nur  aus  der  Flüchtigkeit  des  Bear- 
beiters, der  5  obieätis  für  Partizip  und  10  cum  für  Präposition  ge- 
halten hat. 

Nun  werden  wohl  solche  inhaltliche  Aenderungen  ziemlich  selten 
sein;  aber  um  so  häufiger  sind  die  stilistischen.  In  dem  oben 
gegebenen  Beispiel  ist  der  erste  Satz  ganz  verunglückt  {convidus 
minime  quisquam),  der  zweite  ohne  Anknüpfung.^)  Am  schlimmsten 
sind  hier  wie  allerorts  die  Satzschlüsse  weggekommen:  inquisitione 
defendcUur,  temeritatis  deprehenditur ,  accessisse  viddntur  —  eine 
Musterkarte  von  rhythmischen  Unmöglichkeiten.  Und  ebenso  wimmelt 

1)  Eine  noch  viel  stärkere  stilistische  Umarbeitung  zeigt  VIII  12, 1,  beson- 
ders §  2,  vergUchen  mit  dem  Original  Fragm.  Vatic.  249. 


Theodosianos  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer  661 

es  in  den  meisten  Kapiteln  des  Theodosianus  von  falschen  Satz- 
schlüssen und  Hiaten,  die  die  >plenae<  nur  ganz  ausnahmsweise  zu- 
lassen; in  allen  solchen  Fällen  kann  man  mit  Sicherheit  annehmen, 
daß  man  nicht  den  Text  der  Originale,  sondern  nur  den  von  438 
\tor  sich  hat;  das  gleiche  Verhältnis  gilt  für  die  griechische  Epitome 
IX  45, 4  und  deren  Original  in  den  Konzilsakten.  ^)  Textkritisch 
hilft  uns  also  Stilistik  und  Rhythmik  für  den  Theodosianus  nichts  — , 
um  so  mehr  aber  für  die  Sirmondianae  und  die  Novellae.  Leider 
hat  weder  Mommsen  noch  Meyer  die  Satzschlüsse  berücksichtigt;*) 
und  so  schließt  Mommsens  Band  mit  der  unmöglichsten  aller  Klauseln, 
mit  cura  obsequioque  iubemus  (p.  921,4^),  während  das  Z.  40  voran- 
gehende cum  schon  Hänel  auf  die  richtige  Konjektur  iubeamus  ge- 
führt hatte. 

Die  schwierigsten  Fragen  auf  diesem  Gebiet  sind  jedoch  die 
nach  der  Zusammengehörigkeit  der  Fragmente  eines  Ori- 
ginalgesetzes. Eine  solche  Zusammengehörigkeit  anzunehmen  liegt 
im  allgemeinen  nahe,  wenn  verschiedene  Gesetze  dieselbe  In-  und 
Subskription  tragen.  Nun  sind  aber  die  Subskriptionen  sehr  oft  in 
einem  so  trostlosen  Zustand,  daß  nur  durch  die  kühnsten  Konjek- 
turen eine  wenigstens  einigermaßen  verständliche  Lesung  erzielt 
werden  kann ;  besonders  die  Jahreszahlen  sind  von  Seeck  und  Mommsen 
als  oft  geradezu  phantastisch  nachgewiesen  worden.  Angesichts 
dieser  Unsicherheit  wird  es  nicht  unangebracht  sein,  in  einem  Ex- 
kurs auf  ein  bisher  verkanntes  Kriterium  hinzuweisen,  an  dem  sich 
die  Zusammengehörigkeit  mehrerer  Fragmente,  also  die  ursprüng- 
liche Identität  ihrer  Subskriptionen  erkennen  läßt:  ich  meine  die 
Exzerptionsvermerke. 

Mehrere  hundert  Kapitel  des  Theodosianus  weisen  zwischen 
Adresse  und  Text  die  Worte  post  alia,  zwischen  Text  und  Datum 
die  Worte  et  cetera  auf.  Diese  Vermerke  beziehen  sich  ofifenbar  auf 
die  Teile  des  Originalgesetzes,  die  ursprünglich  vor  oder  hinter  den 
in  den  Kodex  aufgenommenen  Stücken  standen.    Nun  verlangte  die 

1)  Die  griechische  SatzschluSregel  lautet  für  die  Zeit  vom  Ende  des  lY.  Jahr- 
hunderts (Synesios,  Gregor  von  Nyssa)  bis  zum  Ende  des  Mittelalters :  das  Inter- 
vall zwischen  den  letzten  zwei  Hochtönen  jedes  Satzgliedes  soll  2,  4  oder  6  Silben 
betragen  (vgl.  P.  Maas,  Berl.  phü.  Wochenschr.  1906,  Sp.  777). 

2)  »Daß  das  Gesetz  der  rhythmischen  Prosa  in  der  von  Ihnen  bezeichneten 
Weise  die  nicht  epitomierten  Konstitutionentexte  beherrscht,  ist  im  hohen  Grade 
interessant  und  sicher  richtig.  Ich  muß  in  dieser  Hinsicht  mein  Unvermögen  be- 
kennen, das  meine  wie  aUe  übrigen  Ausgaben  dieser  SchriftsteUer  wesentlich  be- 
einträchtigt; habe  dies  auch  bei  dem  Cassiodor  und  dem  Eugippius  empfanden. 
Aber  ich  sehe  wohl  den  Mangel,  kann  ihm  aber  nicht  abhelfenc.  So  schrieb  mir 
Mommsen  am  8.  Juli  1903. 


652  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Instruktion  (11,6)  zweierlei  Bearbeitung  der  vollständigen  Eonstita- 
tionen :  erstens  si  qua  earum  in  plura  sü  divisa  capita,  unum  quodque 
eorum  diiunctum  a  ceteris  apto  stAiciatur  tittdo;  zweitens  circumdsis 
ex  quaque  constitutione  ad  vim  sanctionis  non  pertinentibus  sdum  ius 
rdinquatur.  —  Es  läßt  sich  zeigen,  daß  die  genannten  Exzerption»- 
vermerke  nur  mit  der  ersten  dieser  Kürzungen  in  Zusammenhang  zu 
bringen  sind.^) 

Das  einzige  sichere  Mittel,  die  Arbeit  der  Redaktoren  zu  prüfen, 
ist  der  Vergleich  mit  den  erhaltenen  Originaltexten,  der  uns  bei 
23  Kapiteln  möglich  ist^).  Von  diesen  Gesetzen  sind  mit  post  alia 
versehen:  IX  25, 3  XVI 5, 46.  8, 5.  10, 19,  mit  d  cetera:  XVI  5, 43.  8,5. 
19,1.  Und  betrachten  wir  den  Charakter  der  ausgelassenen  Stücke, 
so  ergiebt  sich:  in  den  ca.  40  Fällen,  wo  vor  oder  hinter  den  in  den 
Kodex  aufgenommenen  Sätzen  noch  anderes  stand,  was  aber  bei  der 
Redaktion  vollständig  wegfiel,  steht  post  alia  nie,  et  cetera  vielleicht 
einmal  (XVI  8, 5)^);  in  den  8  Fällen,  wo  das  fehlende  Stück  an  einer 
anderen  Stelle  als  selbständiges  Kapitel  auftritt,  steht  post  alia  vier- 
mal, et  cetera  zweimal.  Damit  wird  die  Beziehung  der  Exzerptions- 
vermerke auf  die  leges  iungendae  schon  so  gut  als  sicher. 

Natürlich  werden  wir  nun  zu  untersuchen  haben,  wie  es  sich 
bei  den  Kapiteln  des  Kodex,  deren  ursprüngliche  Zusammengehörig- 
keit sich  aus  der  Identität  von  Datum  und  Adresse  erschließen  läßt, 

1)  Die  Frage  scheint  noch  nicht  behandelt  zu  sein.  Gothofredns  verweist 
an  mehreren  SteUen  seines  Kommentars  (zu  II 9, 1. 4.  6.  10, 3  XV  1^  5  XVI  5, 60) 
auf  eine  Zusammenstellung,  die  er  hierüber  in  seinen  prolegomena  gemacht  habe; 
diese  muß  dann  bei  der  posthumen  Edition  verloren  gegangen  sein.  Femer  steht 
vol.  I  p.  n  seiner  Chronologia  unter  der  Rubrik  errores  auperioris  (der  früheren) 
chronologicie:  »No.  6;  in  inscriptionibus  omissa  quaedam:  post  alia,  et  inter  cetera 
et  ad  locum  (vgl.  II  9, 1.4  seiner  Ausgabe)  ut  et  de  eadem,  recedit^  (lies  „ut  et: 
de  eadem  re,  addito*^,  vgl.  XVI  5,50)  In  der  Chronologia  selbst  fehlt  post  <üia 
oft,  et  cetera  stets.  Einen  voUständigen  Ueberblick  gibt  nur  das  Mommsensche 
Konstitutionsverzeichnis  (p.  CCIXsqq.),  wo  die  Vermerke  nach  Mommsens  Tod 
auf  Grund  meines  Entwurfs  zu  dieser  Untersuchung  eingefügt  worden  sind  (nur 
p.  CCXCI  ist  bei  —  VIII  17, 4  —  das  post  olta-Zeichen  versehentlich  weggelassen). 

2)  Zusammengestellt  bei  Mommsen  proll.  XXX.  Wir  sehen  hier  ab  von  Ju- 
lian ep.  77  (Th.  IX  17, 6)  und  Sirm.  6  (Th.  XVI  2, 47  +  5, 46)  weil  sie  mit  den  von 
den  Redaktoren  benutzten  Schriftstücken  nicht  übereinstimmen;  ebenso  von  III  30,2, 
das  als  gemina  zu  VIII  12, 1  einen  besonderen  Platz  einnimmt. 

3)  Die  im  Sirm.  4  auf  Felix  parens  carissime  folgende  SteUe  ist  lückenhaft 
überliefert.  Vielleicht  stand  da  ein  in  den  Kodex  aufgenommenes,  uns  aber  ver- 
lorenes Kapitel  (die  Anrede  weist  nicht  auf  den  Schluß,  vgl.  Sirm.  14).  Seeck, 
ZRG  1889,  S.  245  verbindet  Just.  IV  62, 4  mit  Sirm.  4,  ohne  sich  über  die  Lücke 
zu  äußern;  aber  die  Verschiedenartigkeit  des  Inhaltes  macht  eine  so  enge  Ver- 
bindung unwahrscheinlich;  Just.  IV  62, 4  läßt  sich  leichter  rait  Th.  XII  1,21  zu- 
sammenstellen. 


Theodosianus  ed.  Th.  MomniBen  et  P.  Meyer  658 

mit  den  Vermerken  verhält.  Bezeichnen  wir  durch  einen  vorange- 
setzten  Strich  post  alia,  durch  einen  hinten  angesetzten  et  cetera,  so 
ergiebt  sich  als  Schema  einer  in  mehrere  Kapitel  geteilten  Konsti- 
tution: a— ,  — mi — ,  — mi  — — e\   d.h.  in  jedem  Erlaß  darf 

ein  Glied  kein  post  alia,  eines  kein  ä  cetera  aufweisen.  Und  in  der 
Tat  bleiben  von  415  Vermerken  (209  post  alia,  206  ä  cetera)  nur 
etwa  45  ohne  wahrscheinliche  Beziehung  auf  eine  erhaltene  lex 
iuncta. 

Diese  Zahl  scheinbarer  Ausnahmen  beweist  gegen  unsere  Auf- 
fassung so  gut  wie  nichts.  Denn  da  etwa  600  Kapitel  des  Theodo- 
sianus uns  durch  die  Lücken  der  ersten  acht  Bücher  verloren  ge- 
gangen sind  ^),  so  steht  die  Annahme  frei,  alle  jene  fehlenden  45  Ge- 
setze hätten  in  diesen  Lücken  gestanden.  In  der  Tat,  wenn  man 
sich  eine  gleiche  Zahl  erhaltener  Kapitel  (z.  B.  Theod.  I — IV  und  die 
nur  im  Just,  überlieferten  Stücke)  verloren  denkt,  werden  etwa  30 
weitere  Vermerke  beziehungslos.  Um  die  unbedeutende  Differenz 
zu  erklären,  sei  noch  Folgendes  zur  Erwägung  gestellt.  Durch  die 
UnZuverlässigkeit  der  Subskriptionen,  über  die  seit  den  Untersuchungen 
von  Gothofredus,  P.  Krüger,  Seeck  und  Mommsen^)  kein  Zweifel 
mehr  herrschen  kann,  gehen  uns  notwendigerweise  auch  mehrere 
Verbindungsmöglichkeiten  verloren.  Da  ferner  die  Vermerke  vor 
der  Verteilung  der  Kapitel  unter  die  einzelnen  Titel  eingefügt  worden 
sind,  so  konnte  auch  bei  späterer  Ausscheidung  eines  Kapitels  (z.  B. 
einer  Dublette)  ein  Vermerk  beziehungslos  werden.  Endlich  darf 
auch  die  irrtümliche  Einfügung  eines  Vermerkes  nicht  als  ausge- 
schlossen gelten:  eine  etwas  längere  Klausel  konnte  leicht  zu  einem 
unberechtigten  et  cetera  verführen  (vielleicht  war  dies  bei  XVI  8, 5 
der  FaU). 

Im  Allgemeinen  also  ist  das  Resultat  dieser  Untersuchung  mit 
dem  aus  dem  Vergleich  der  Originale  gewonnenen  identisch.  Nur 
in  einem  Punkte  sehen  wir  jetzt  deutlicher:  die  Exzerptionsvermerke 
können  nicht  nur  fehlen,  sondern  sie  stehen  überhaupt  nur  ver- 
hältnismäßig selten,  und  zwar  post  alia  und  e^  cetera  unterschiedslos; 
sie  sind  nicht  nur  innerhalb  der  einzelnen  Erlasse  ohne  Konsequenz 
verwendet,  sondern  fehlen  meistens  in  allen  Kapiteln  desselben  Er- 
lasses völlig  (z.B.  in  den   11  Teilen  der  Gesetze  vom  3.  Mai  361 

1)  Nach  der  von  Mommsen  p.  XXXYIII  angesteUten  Rechnung  fehlen  vor 
VI  4, 34  etwa  400000  Bachstaben,  also  etwa  6000  Zeilen  der  Ausgabe;  das  ent- 
spricht den  Raum  von  ca.  800  Kapiteln.  Außerdem  sind  noch  einige  Bl&tter  in  VUI 
ausgefallen.    Abzuziehen  sind  die  ca.  230  nur  im  Just,  überlieferten  Gesetze. 

2)  Krüger,  Conmientationes  Mommsenianae  75  sqq.  und  in  der  Ausgabe  des 
Just.;  Seeck,  ZRQ  1889, Iff.  177 ff.;  Mommsen  ebenda  1900, 178 ff,  und  in  der 
Ausgabe. 


654  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

und  vom  8.  Juni  364).  Da  man  manchmal  an  einem  Schaden  der 
Ueberlieferung  denken  könnte,  so  sei  das  Notwendige  über  diese 
hier  kurz  zusammengestellt. 

Im  Codex  Justinianus  sind  alle  Vermerke  ausgelassen;  ebenso 
in  der  Breviarhs  0  (proll.  LXVI);  in  den  übrigen  Breviarhss  fehlen 
sie  nur  vereinzelt,  selten  in  mehreren  zugleich  {—  II  30, 2  in  NBG, 
—  1 34, 2  in  AB6L,  —  mi3, 3  in  CPMLS,  IV  23, 1  —  in  CX) ;  nur  ein- 
mal haben  fast  alle  Breviarhss  ein  post  alia  ausgelassen  ^) ;  der  Ar- 
chetypus des  Breviars  und  die  Haupthss  (TRVWAE)  zeigen  in  den 
mehreren  hundert  Fällen,  wo  wir  sie  an  einander,  oder  am  Breviar 
kontrollieren  können,  nur  eine  einzige  Auslassung  (E  in  XVI  5, 26  — ), 
sodaß  die  Ueberlieferung  seit  dem  Archetypus  dieser  Hauptzeugen 
als  tadellos  gelten  muß. 

Die  Inkonsequenz  in  der  Einfügung  der  Vermerke  fällt  also  ganz 
den  Bedaktoren  des  Theodosianus  zur  Last;  sie  ist  so  groß,  daß  das 
Fehlen  eines  Vermerkes  an  und  für  sich  für  das  Fehlen  einer  lex 
iuncta  nichts  beweist.  Nur  wenn,  wie  dies  sehr  oft  der  Fall  ist,  von 
mehreren  leges  iunctae  eine  (a)  nur  ä  cetera,  eine  andere  (e)  nur 
post  alia  aufweist,  so  läßt  sich  daraus  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
die  Reihenfolge  erschließen  (a  —  . . . .  —  e),  da  man  sonst  den  Aus- 
fall zweier  Kapitel  und  zweier  Vermerke  voraussetzen  müßte*);  ein 
entsprechender  Schluß,  nur  mit  weniger  großer  Wahrscheinlichkeit, 
ist  möglich,  wenn  zu  einem  vermerklosen  Kapitel  eine  mit  einem 
Vermerke  versehene  lex  iuncta  tritt  (a — . .  e  oder  a . . .  —  e).  Bei- 
spiele bietet  fast  jede  Seite  des  Konstitutionenregisters,  und  sehr  oft 
bestätigt  auch  der  Inhalt  die  so  erschlossene  Reihenfolge  deutlich.^ 

1)  IV  14,  h  post  alia]  G:  om.  HNOEFCXPMLQSK.  Da  die  einzige 
iuncta  (II  7, 1)  et  cetera  hat,  wird  man  an  der  von  den  Herausgebern  athetierten 
I^esung  von  6  nicht  mehr  zweifeln ;  dieser  Fall  ist  nebst  YIII  18, 7?  {tU  RfiG 
Just.:  om.  brev.  [rel.])  der  Liste  jener  SteUen  hinzuzufügen,  an  denen  Q  (resp. 
OB)  als  einzige  Breviarhs  das  Richtige  erhalten  hat  (proll.  CXXXIY). 

2)  Von  den  sechs  Teilen  des  Erlasses  vom  21.  März  413  an  Priscianus  pü 
Con8t.yi  13, 1—.  —14,3.  —15, 1-.  —16, 1—.  —17, 1—.  —20, 1—  wird  also  der 
zweite  im  Original  der  letzte  gewesen  sein,  offenbar  weil  das  militärische  Amt 
von  den  andern  getrennt  behandelt  worden  war. 

3)  Das  konsequente  Fehlen  der  Vermerke  in  einem  Teil  von  mehreren  sonst 
mit  Vermerken  versehenen  Fragmenten,  die  gleiches  Datum  und  Adresse  zeigen, 
hilft  uns  mit  dazu,  in  dem  Erlaß  ad  provinciates  vom  1.  Aug.  331  zwei  verschie- 
denartige Bestandteile  festzustellen:  a— II  26, 3,  ß— III  30,4—,  7— IV  6, 1—,  6  Just 
m  19, 2  lassen  den  Propositionsvermerk  aus ;  ihre  Zusammengehörigkeit  hat  schon 
Gothofredus  (zu  7)  dargelegt  (abgesehen  von  dem  damals  noch  unbekannten  ß, 
das  sich  durch  die  tutela  an  7  anschließt;  die  ursprüngliche  Reihenfolge  war 
wohl  8.  — 7—.  — ß— .  — a).  Die  vier  vermerklosen  Fragmente  (XI  30, 16. 17.  34, 1 
Just  XU  13, 4)  behandeln  die  Frage,   wann  AppeUation  an  gewisse   höhere  In* 


Theodosianus  ed.  Th.  Mommsen  et  P.  Meyer  655 

Von  weit  größerer  Wichtigkeit  sind  die  Exzerptionsvermerke  für 
die  Textkritik  der  Subskriptionen:  sie  geben  uns  das  erste 
und  einzige  sichere  Mittel,  die  Herkunft  mehrerer  Stücke  aus  dem- 
selben Originalerlaß  nachzuweisen.  Beginnen  wir  mit  dem  prägnan- 
testen Fall.  Mommsen  (ZRG  1900,  174)  bat  die  neun  Teile  des  ein- 
zigen an  die  vv.  cc.  praefectos  praetorio  gerichteten  Gesetzes  (vgl. 
zu  VI  27, 1),  deren  Zusammengehörigkeit  Seeck  aus  der  Identität  von 
Adresse  und  Inhalt  erschlossen  hatte,  auf  mehrere  Originalschrift- 
stücke zurückgeführt,  weil  alle  verschiedene  Tagdaten  tragen.  Wenn 
dem  so  wäre,  dann  würden  zwölf  Exzerptionsvermerke  beziehungslos, 
d.  h.  wir  müßten  den  Ausfall  von  zwölf  Fragmenten  dieses  Erlasses 
annehmen,  was  schon  deshalb  unmöglich  ist,  weil  nie  mehr  als  zwölf 
Kapitel  zusammengehören.  Damit  fällt  diese  Hauptstütze  von  Momm- 
sens  Hypothese,  den  Redaktoren  hätten  einige  Erlasse  schon  in  Ka- ' 
pitel  geteilt  vorgelegen. 

Die  Tatsachen,  die  zu  jener  Hypothese  führten,  müssen  nun  also 
anders  gedeutet  werden.  Und  um  zu  erklären,  wieso  neun  Frag- 
mente desselben  Originalerlasses  zu  neun  verschiedenen  Tagesdaten 
kamen,  bleibt  nur  eine  Annahme :  das  Original  hatte  überhaupt  kein 
Datum,  und  die  heute  überlieferten  Zahlen  wurden  nach  der  Ver- 
teilung unter  die  einzelnen  Titel  aus  freier  Phantasie  ergänzt;  und 
dies  ist  wieder  nur  dann  möglich,  wenn  die  Partien  des  Theodosianus, 
in  denen  jene  Fragmente  stehen  (Buch  VI.  VII.  VIII.  XII 1),  von  den 
Bearbeitern  genau  auf  fehlende  Tagesdaten  untersucht  worden  sind: 
und  in  der  Tat  haben  sie  in  diesen  Partien  nichts  übersehen.  Uebri- 
gens  läßt  sich  dieselbe  Praxis  der  Redaktoren,  ebenfalls  mit  Hülfe 
der  Vermerke,  fast  noch  deutlicher  in  zwei  anderen  Erlassen  nach- 
weisen. Von  den  vier  durch  die  Vermerke  verknüpften  Kapiteln 
XIV  10,2—.  —11,1—.  —14,1—.  —XV 12, 3  (397  ad  populum) 
hat  nur  der  dritte  ein  Tagesdatum  (VII  id.  Apr.) ;  dies  Datum  muß 
also  interpoliert  sein.  Bei  den  vier  Fragmenten  ad  senatum  vom  Jahre 
376  (td.Fe6.  — 1X1,13  — :  id.  Aug.  Xld,8  —  :  ohne  Tag  —  XV  1,19: 
kal.  Mart.  Just.  III 24, 2) ,  deren  Zusammengehörigkeit  von  Gotho- 
fredus  erkannt  ist  (zu  XV  1,19)  und  durch  die  Vermerke  bestätigt 
wird,  geht  die  spätere  Einfügung  sowohl  aus  der  Verschiedenheit 
der  überlieferten  Daten  wie  aus  der  Lücke  in  XV  1,19  hervor. 
Offenbar  sind  die  verschiedenen  Partien  des  Kodex  nicht  gleichmäßig 

stanzen  verboten  oder  erlaubt  ist;  davon  ist  in  den  erstgenannten  vier  nicht  die 
Rede.  Es  können  zwei  Originale  gleichen  Datums  und  gleicher  Adresse  vorge- 
legen haben  (wie  Sirm.  9  und  das  Original  von  Th.  XVI  5,  45) ;  oder  die  verschie- 
denen Abschnitte  sind  an  zwei  Bearbeiter  verteüt  worden. 


656  Qött  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8 

genau  untersucht  worden:  aber  die  systematische  Interpo- 
lation von  Tagdaten  dürfte  nun  feststehen. 

Aber  wozu  diese  Fälschungen?  Die  in  großem  Maßstab  durch- 
geführte Interpolation  von  Konsulaten  ließ  sich  in  Zusammenhang 
bringen  mit  dem  Grundsatz  (11,6  pr.),  daß  von  zwei  widersprechenden 
Verfügungen  die  spätere  Geltung  erhalte  (Seeck  S.  20) ;  da  war  denn 
wirklich  ein  fitlsches  Jahr  besser  als  keines;  für  die  Tagdaten  läßt 
sich  dies  kaum  verwerten.  Ich  glaube,  zur  Erklärung  aller  die  Sub- 
skriptionen betrefifenden  Fälschungen  genUgt  das  erste  Gesetz  des 
Kodex:  8i  quaposthae  edicta  sive  consHtutianes  sine  die  et  cans^  fu- 
erint  deprehensaCy  auctaritate  eareatU.  Ofifenbar  ist  nach  Aubiahme 
dieser  Bestimmung  an  die  Bearbeiter  der  Auftrag  ergangen,  kein 
Gesetz  im  Kodex  sine  die  et  cansule  zu  lassen;  sei  es  des  guten  Bei- 
spiels wegen,  sei  es  um  eine  Anfechtung  der  undatierten  Kapitel  zu 
vermeiden.  Die  Einfügung  der  fehlenden  Daten  ist  dann  mit  dem- 
selben Mangel  an  Sorgfalt  durchgeführt  worden,  wie  die  übrigen  Ar- 
beiten am  Kodex. 

Außer  dieser  Erkenntnis  allgemeiner  Natur  liefern  uns  die  Ex- 
zerptionsvermerke auch  manche  Verbesserungen  einzelner  Daten.  Es 
ist  einleuchtend,  daß  sich  in  den  mit  Vermerken  versehenen  Frag- 
menten jede  spätere  Aenderung  von  In-  oder  Subskription  durch  die 
Beziehungslosigkeit  eines  Vermerkes  verraten  muß.  Dadurch  ge- 
winnen wir  ein  Mittel,  solche  Verbindungen  von  Fragmenten  herzu- 
stellen, die  infolge  von  Interpolation  der  Redaktoren  oder  von 
Schäden  der  späteren  Ueberlieferung  verdunkelt  worden  sind.  Frei- 
lich sind  die  Editoren,  besonders  der  unvergleichliche  Gothofredus, 
in  der  Aufdeckung  aller  nur  irgend  möglichen  Verbindungen  so  weit 
gegangen,  daß  die  Nachlese  nicht  sehr  reichlich  ausfällt^).  Immerhin 

1)  Amnerkongsweise  seien  auch  die  durch  die  Vermerke  bestätigten 
VerbindnngSYorschläge  der  bisherigen  Herausgeber,  soweit  eine  Bestätigung  noch 
von  Wert  scheint,  zusammengesteUt.  Es  sind,  abgesehen  von  den  drei  8.  665  be* 
handelten,  folgende: 

332  IV  8, 8—.  V  17, 1  (Goth.) 

339  —VI  4, 3. 4—-  (von  Goth.  angedeutet). 

343  XI 16, 5-.  Just  m  26, 6  (Herrmann). 

364  Vn  1,6-.  Vm  4,8  c(um)  i(unctis)  (Goth.). 

895  — n  12,6—.  —VII  12,3  VIÜ  8,7-  (Goth.  Krug.  Mo.) 

397  XIV2,3-.  4,7  (Goth.,  von  Krug,  abgelehnt). 

398  I  2, 11— .  XV  1,40  (Goth.  Mo.,  von  Krug,  abgelehnt). 
410  — Xm  5, 84.  Just.  IV  40, 4  (Goth.,  von  Krug,  abgelehnt). 

412  VI  26, 14-.  18, 1  (Goth.  Mo.) 

—II  8,26—  =  —VIÜ  8,8-.  XVI  8,20  (Goth.  Mo.). 

413  — Vin  17,4-.  12, 12  ci  (Goth.  Krug.). 

416  XU  12, 15—.  XVI 2, 42  (Goth.  Mo.  gegen  Krüger). 


Theodosianus  ed.  Th.  Mommsen  and  P.  Meyer  667 


^^^    j  VIII  k.  Feb.  (sic  a)     1    ;!.  ,.  I     •  i    \ 

357    -^       . ,  n      /  .    ON  \  Medwlam  populo  \ 

[  prid.  non.  Dec.  (sic  ß)  J  ^  /-       | 


3«2    i  FÄ.^pr.(8icß)   '  \ConstanUnopohiom.a') | 


lohnt  es  sich  vielleicht,  an  einigen  Beispielen  die  Methode  zu  demon- 
strieren. 

a    1X16,4 

ß— 1X16,5 

An  dem  Datum  von  ß  hat  schon  Mommsen  Anstoß  genommen. 

Der  Inhalt  ist  gleichartig. 

a  XI  12,2 
ßXI19,2— 
Beide  handeln  von  Immunität  und  fangen  mit  omnes  qui  an. 

371    M.  Mart.  Constp.  Modesto  ^{pj;Sx32,to(ohne Subskription) 
Beide  stehen  im  Titel  de  decurionüms;  ß  wird  durch  Just.  X  32, 31 
auf  die  Zeit  zwischen  Juni  370  und  Juli  371  fixiert. 
381  Vllid.Od.  da/. <rr«;.> (sie a)l  Syagrio^     |  aYSSn.lb— 

po8t.cons,Z%\V id.  Apr.  ppC?ar/Aa^.(sicß)  J  ppo  {pu  a)\  ß  — ^XII  1,88. 
Die  zwei  beziehungslosen  Vermerke  gestatten  wohl  diese  etwas 
kühnere  Verbindung,  die  in  a  den  Ausfall  des  Propositionsvermerkes, 
in  ß  den  des  Datums  voraussetzt.  Der  Inhalt  zeigt  wörtliche  An- 
klänge {quinquennium...  reddeniur).  Sechs  Wintermonate  Zwischen- 
zeit sind  für  die  Strecke  Trier-Karthago  nicht  zu  viel;  vgl.  1X40,1 
XI  36,10. 

ggg^.    XVIII k.    ^j^^^      Eutychia-    jaV  14,36  (ohne Subskription) 
^  ^        Jan.  ^'      no  ppo      |ß— XII  18,2 

Inhaltlich  verwandt. 

399        III(IIIye\IVaci)       .,^.         Messcdae    («—112,7— c(um) 
(401ß)  M.Oct.  ^^^-         ^        (ß'(HI15n^ 

Weder  die  Präfektur  des  Messala  noch  das  Ortsdatum  paßt  zu  dem 
Konsulat  401;  die  Uebereinstimmung  von  Inhalt,  Ort,  Tag  und 
Adresse  mit  a  ci  würde  auch  ohne  den  beziehungslosen  Exzerptions- 
vermerk die  Verbindung  zweifellos  machen.  In  dem  unverständlichen 
consul,  das  der  Ambrosianus  hinter  der  Inskription  einschiebt,  steckt 
vielleicht  post  alia.  Offenbar  war  das  Konsulat  in  ß  durch  Schuld 
eines  Schreibers  ausgefallen;  doch  läßt  sich  auch  an  spätere  Korrupte! 
denken,  wie  in  Vni  7, 10. 

400  (post  cons.      prid.  kal.      ^  ,  Pompeia-       1  *  -,„.  '  ,  ^ 

400t)  (wi.  T)  t/tti.  no  proc.  Afr.    J  |J  XVI2,36— 

Y  ist  inhaltlich  mit  ß  (auraria  funäiö)  verwandt. 

423  -1X6,4—.  16,11  ci  (Goth.  Krug.  Mo.). 
426  —VI  2, 26.  X 10,  33  ci  (?  Goth.) 

-TV  10,3.  6,7  (Krug.,  besser  als  mit  XVI  7,7  ci  Mo.). 

G6U.  feL  Au.  1906.  Nr.  8  46 


658  Gott,  gel  Anz.  1906.   Nr.  8 

405  prid.  id.  Jun.  Niciae (ska)  1   Optato  —  |  a  II  S3, 4 

398   VIII  k.Dec.  Constp.  (sicß)  J  (Optafio  ß)  ^"  j  ß— XII 1, 160 

Die  Unterschrift  von  ß  ist  gefälscht  (vgl.  Mommsen).  Beide  Gesetze, 
die  einzigen  an  Optatus  pu,  handeln  über  die  Senatoren. 

410     XV  Je.  Jan.  (sie  a)    1  „  ,^  ,.,.   — (f  ^1?^;]^, 

412  (409t)  XV  k.  Mart,  (sic  ß,T)  |Ä«t;enna. JlfeWu>j)po  ß-XI  16  23- 

f  Y"~"-XJ.  lo,l 

Inhaltlich  eng  zusammengehörig.  Da  alle  andern  Gesetze  an  Meli- 
tius  aus  dem  Jahre  412  stammen  (darunter  das  nah  verwandte 
XVI  2,40  =  Sirm.  11)  und  eine  Beschränkung  der  Pferdeliefemngen 
fur  die  Zeit  des  Aufenthaltes  der  Gothen  in  Italien  unwahr- 
scheinlich erscheint,  so  ist  das  Datum  von  a  schon  an  und  fur  sich 
verdächtig. 

a  XVI  5,58— 
ß— XVI10,21 

Die  inhaltliche  Verwandtschaft  hat  schon  Gothofredus  (zu  ß)  notiert; 
die  Subskription  von  ß  wird  durch  den  Namen  des  Präfekten  als 
falsch  erwiesen.  Die  beiden  Exzerptionsvermerke  geben  den  Aus- 
schlag. 

I  a  110,8 
ß  Vni3,22 
Y — XI  1,35 — 
8— XII 6, 32 


415  VIIIid.Nov.    Constp.  (s\c  a)\    ,      ,.        — ^^  f 
A-in     TTrTj  Tk  /•   f..  \  Aurehano  ppo  II  \ 

416  VII  td.  Dec (sicß)  J  ^^         | 


Die  Varianten  der  Tagesdaten  sind  schon  von  Gothofredus  und 
Hänel  beseitigt.  Der  Ausfall  des  Postkonsulatsvermerkes  findet  seme 
Parallele  in  dem  Kapitel  Vini7,4  (siehe  oben  S.  656^),  das  in  der- 
selben Handschrift  steht  wie  ß.  Andererseits  ist  die  inhaltliche  Zu- 
sammengehörigkeit, besonders  von  a  und  S  §  2  unzweifelhaft.  Der 
Beginn  von  y  :  ne  provinciales^  ad  quorum  ufilitates  spectat  omnis  haec 
provisio, . . .  paßt  vorzüglich  zu  a  und  ß.  Daß  ß  mit  seiner  Bezie- 
hung auf  die  proconsularis  provincia  in  den  Februar  429  fällt,  wird 
durch  das  am  25.  Februar  429  an  den  Prokonsul  von  Afrika,  Celer, 
abgeschickte  Gesetz  XI  1,34.  30,68  XIIl,  185. 186  sehr  wahrschein- 
lich gemacht.  Ueberhaupt  ist  sonst  aus  den  Jahren  427  und  428 
kein  im  Westen  erlassenes  Gesetz  erhalten.  Ofienbar  hat  die  XI1,34 
und  Xn  1, 186  erwähnte  legatio  proconsularis  provinciae  per  Bubulcum 
sp.  V.  com.  den  Anstoß  zur  Wiederaufnahme  der  gesetzgeberischen 
Tätigkeit  gegeben. 

Zum  Schluß  füge  ich  die  Liste  der  Vermerke  bei,  zu  denen  ich 


Theodosianus  ed.  Th.  Mommsen  und  P.  Meyer  659 

keine  wahrscheinliche  Beziehung  finden  konnte  *) :  1 1 ,5 — .  —1 5, 1 .  22, 4 — . 
34, 3—.  —II 5, 2.  8, 26  c(um)  i(unctis).  —13, 1  ei.  III 5, 12  ci.  —31, 1 
—IV  16, 2.  22, 5—  (iung.  IV 6, 5?)  VI  7, 1  ci.  10, 4  ci.  VH  18, 16— 
(iung.  —1X38,11?  beide  an  Qaiso  com.  et  mag.)  Vin5,54— .  8,9—. 
18,7—.  —1X1,17.-38,11  (?  siehe  zu  Vni8,16-).  — Xl,2— . 
3,7—.  XI  1,26—.  —3,4.7,4—.  9,3  ci—.  28,5— . —30,  38. —36, 18. 
Xni,30-.  77— . -129.  2,lci.— 9,3.  — Xin6,4— .6-.  XIVl,5— . 
10, 3—.  —XV  6, 2.  XVI  M6  ci— .  47  ci— .  8, 5  ci— .  10, 5—  (iung. 
IX  38,2  ?  beide  an  Cerealis  pu  gegen  Magnentius). 

Ueber  dem  Nutzen,  den  uns  die  Exzerptionsvermerke  für  Quellen- 
forschung und  Textkritik  bieten,  dürfen  wir  freilich  nicht  vergessen, 
daß  der  eigentliche  Zweck  dieser  Formeln  noch  nicht  aufgeklärt 
ist.  Die  Tatsache,  daß  im  Original  vor  oder  nach  einem  Kapitel 
noch  ein  anderes  ebenfalls  in  den  Kodex  aufgenommenes  stand,  ist 
ja  ohne  Interesse  für  jeden,  der  nicht,  wie  wir,  instand  gesetzt  ist, 
die  leges  iunctae  wieder  zusammenzustellen. 

Man  wird  nach  Analogien  suchen.  Aus  dem  Theodosianus  lassen 
sich  drei  Stellen  vergleichen :  inter  alia  hinter  der  Inskription  von  VI 
26,9,  et  infra  mitten  im  Texte  von  XV  1,5,  de  eadem  re,  addito  hinter 
der  Inskription  von  XVI 5, 50.  Der  letztgenannte  Vermerk  bezieht 
sich  auf  das  im  Kodex  unmittelbar  vorangehende  gleichzeitig  an  eine 
andere  Adresse  gerichtete  Kapitel  49  und  leitet  einen  syntaktisch  un- 
selbständigen Satz  ein;  hier  liegt  also  deutlich  eine  nachträgliche 
Kürzung  vor.  Es  spricht  nichts  dagegen,  die  beiden  anderen  ähnlich 
zu  deuten.  —  Anders  verhält  es  sich  mit  der  seltsamen  Notiz  de  re 
necessaria  et  ad  locum  hinter  der  Inskription  von  1110,6.  Mommsen 
(proll.  XXXVI)  schreibt  die  Verstümmlung  dieses  Kapitels ,  auf  die 
sich  die  Notiz  zweifellos  bezieht,  den  Redaktoren  des  Theodosianus 
zu.  Dagegen  spricht  sehr  viel.  Der  unentbehrliche  Begriff  advocatas, 
der  in  dem  Erhaltenen  fehlt,  scheint  in  der  Vorlage  des  Cod.  Just. 
(II 7, 4)  und  der  Interpreten  des  Breviars  gestanden  zu  haben. 
Also  würde  die  Verkürzung  den  Redaktoren  des  Breviars  zur  Last 
fallen.  Und  hierfür  haben  wir  trotz  Mommsens  bestimmter  gegen- 
teiliger Behauptung  (1.  c.)  zwei  Parallelen :  XVI 7, 3*— is  (cf.  Interpr.) 
und  IV  4, 7ii— 20  (cf.  Interpr.  extrema  pars  legis  ideo  non  habetur  scripta^ 
quia  novella  lege  calcatur).  Den  Grund  der  Verkürzung  in  1110,6 
gibt  vielleicht  die  in  der  Hs  L  erhaltene  Notiz  requiren  (sie)  de 
navellis  slmiliam  (Nov.  Theod.  X 1  oder  Val.  II 2).   Auch  die  seltsame 

1)  Wo  kein  Vermerk  angegeben  ist,  da  steht  nicht  fest,  welcher  von  den 
überlieferten  beziehungslos  bleibt.  XI  39, 5  habe  ich  nicht  mitgenannt,  da  hier 
et  cetera  (et  cera  codex)  mitten  in  der  Inskription  steht  and  deren  Satzbau  zer- 
reißt.   Vielleicht  ist  et  ceteris  zu  schreiben  (cf.  Mansi  IV  379  O  et  reliquis). 

46* 


660  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8 

Fonn  jenes  Vermerkes  weist  auf  die  Alariciani ;  er  kehrt  nur  einmal 
in  der  Literatur  wieder,  und  zwar  in  der  Nov.  Maior.  XI  (hier  ohne 
das  et),  wo  er  sicher  dem  Breviator  gehört ;  auch  der  nächstverwandte 
Vermerk  inter  cetera  et  ad  locum  läßt  sich  nur  in  diesen  späteren  Zeiten 
nachweisen  ^). 

Auch  die  übrigen  Rechtssammlungen  zeigen  nichts  Vergleichbares. 
Die  Konstitutionenkodizes  Gregorianus,  Hermogenianus,  Justinianus 
haben  überhaupt  keine  Exzerptionsyermerke  ^).  In  der  CoUatio  und 
den  Fragmenta  Vaticana  wird  manchmal  auf  ausgelassene  nicht  not- 
wendig zur  Sache  gehörige  Partien  verwiesen:  post  pauca  Fragm. 
Vat93,  cetera  149;  Collatio  (passim)  et  reliqua,  und  114,1  XU?,  1 
bei  zwei  gleichartigen  Ulpianzitaten  das  rätselhafte  et  cum  dieerei^. 

Um  also  den  Zweck  jener  post  alia  und  et  cetera  des  Theodo- 
sianus  zu  finden,  sind  wir  auf  Vermutungen  angewiesen.  Ich  ver- 
suche folgende  Deutung.  Wenn  die  Redaktoren  einen  Erlaß  in 
mehrere  Teile  zerlegten,  so  mußte  in  allen  Kapiteln  außer  dem  ersten 
die  Inskription,  in  allen  außer  dem  letzten  die  Subskription 
neu  zugefügt  werden.  Nun  hatte  es  keinen  Sinn,  diese  rein  mecha- 
nische Arbeit  schon  an  jenem  Exemplar  des  Originalerlasses  vorzu- 
zunehmen,  das  zur  Notierung  der  textlichen  Rezension  diente  (die 
wohl  in  der  oben  S.  650  veranschaulichten  Weise  vor  sich  ging) ;  hier 
genügten  zwei  Vermerke,  die  dann  den  Schreibern  der  einzelnen  Ka- 
pitel den  Hinweis  auf  die  noch  fehlenden  In-  und  Subskriptionen 
gaben.  Diese  Vermerke  glaube  ich  in  unseren  post  alia  und  ei  cetera 
zu  erkennen.  Ueber  die  Inkonsequenzen  der  Anwendung  und  Bei- 
behaltung wird  man  sich  nicht  wundern:  der  Mangel  einheitlicher 
Instruktion,  und  die  Eile  und  Nachlässigkeit,  mit  der  die  Arbeit  voll- 
endet wurde,  haben  noch  weit  schlimmere  Unregelmäßigkeiten  zur 
Folge  gehabt,  als  diese. 

1)  In  der  Consoltatio  und  in  Exzerpten  (VI.  saec.)  aus  Vegetios,  cf.  Mommsen, 
Hermes  1 130. 133.  Auch  ad  locum  allein  findet  sich  nur  im  Breviar  (Nov.  Sever.  I), 
der  Consultatio  und  in  Append.  II  leg.  Rom.  Vis.  1.  3.  5.  Zum  Gebrauch  tod 
necessarius  vgl  die  Interpretation  zu  Theod.  I  4, 3  ex  fUs  omnibus,  quae  necessaria 
causia  praeaenHum  temporum  videbantwr,  degimus. 

2)  Bei  den  ersteren  kommen  nur  die  in  der  Collatio,  den  Vaüc.  fragm.  und 
der  lex  Roman.  Visig.  überlieferten  Fragmente  in  Betracht;  der  Autor  der  Con- 
sultatio fugt  häufig  sein  inter  cetera  et  ad  locum,  et  cetera,  ad  locum,  et  rdi^ua 
ein,  wie  7a,  3.  8,  7.  9, 13  beweist ;  da  femer  auch  in  Append.  II  (cf.  1.  3.  5)  alle 
Vermerke  von  dem  Autor  der  Appendix  herrühren,  verliert  das  aUein  übrigblei- 
bende et  reliqua  in  Append.  1 6  (Greg.  VI  18, 13)  jede  Gewähr. 

3)  Ein  formelhaft  gebrauchtes  et  cum  ddceret  findet  sich  sehr  oft  in  Konzils- 
akten,  um  den  Schluß  der  Rede  zu  kennzeichnen,  und  manchmal  auch  als  Einlei- 
tung zu  dem  Rekognitionsvermerk ;  Schema:  et  cum  diceret  (et  alia  ffumn:  N,N, 
rccofnom),  P.  dixit,  z.  B.  Mansi  IV  231  C ;  233  AB  etc. 


Theodosianns  ed.  Th.  Mommsen  and  P.  Meyer  661 

Noch  ein  Wort  über  die  lexikalischen  Hülfsmittel.  Die  In- 
dices, die  Hänel  seinem  Corpus  legum  (Leipzig,  1877)  beigab, 
verdienen  nicht  das  Stillschweigen,  mit  dem  sie  allgemein  über- 
gangen werden;  nicht  nur  weil  sie  äußerst  sorgfältig  und  meist  voll- 
ständig sind,  sondern  vor  allem,  weil  sie  auf  dem  richtigen  Prinzip 
beruhen,  das  Material  des  Theodosianus  nur  im  Zusammenhang  mit 
der  gesamten  Legislative  bis  auf  Justinian  zu  behandeln  —  freilich 
eine  Aufgabe,  die  dem  modernen  Stand  der  Wissenschaft  entsprechend 
durchzuführen  die  Kräfte  eines  einzelnen  übersteigen  würde.  Hänels 
Index  p  e  r  s  0  n  a  r  u  m  (p.  95  —  1 38)  ist,  natürlich  unter  Kombination 
mit  Mommsens  und  Paul  M.  Meyers  Listen  der  acceptores  (in  den 
proleg.),  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  die  Prosopographie  jener 
Zeit.  Der  Index  geographicus  (p.  139—160)  enthält  ein  großes 
nirgends  sonst  registriertes  Material,  zu  dessen  Erläuterung  man 
Qothofredus'  Topographie  (VI  95 — 136)  heranziehen  wird.  Der  index 
rerum  (p.  161—274)  kann  natürlich  nicht  überall  Vollständigkeit 
auch  nur  erstreben,  bei  den  seltneren  Wörtern  erreicht  er  sie  je- 
doch, wie  mich  eine  eingehende  Vergleichung  mit  dem  (von  Hänel 
offenbar  unabhängigen)  Thesaurus  linguae  latinae  lehrte;  doch  auch 
bei  den  übrigen  Wörtern  sind  außerordentlich  reichhaltige  Samm- 
lungen geboten,  die  weit  über  das  von  den  Lexicis  (Dirksen,  Heu- 
mann, Thesaurus  1.  1.)  Gebotene  hinausgehn;  daneben  behält  nur 
noch  Gothofredus'  Glossarium  nomicum  (vol.  VI  137  sqq.)  seinen  Wert; 
für  die  verwaltungs geschichtlichen  Schlagwörter  ist  besonders  auf 
0.  Seecks  Artikel  in  Pauly-Wissowas  R.-E.  zu  verweisen  (Agentes 
in  rebus,  etc.).  Die  sprachliche  Forschung  wird  sich  wohl  nach 
wie  vor  vom  Theodosianus  fernhalten,  da  sie  nicht  riskieren  kann, 
den  Schwulst  und  die  Dunkelheiten  der  sorgfältig  stilisierten  Original- 
gesetze mit  den  durch  die  Schere  und  den  Kleister  der  Epitomatoren 
hervorgerufenen  Eigentümlichkeiten  zu  kontaminieren. 

Werfen  wir  zum  Schluß  noch  einen  Blick  auf  die  Gesamtleistung, 
die  in  Mommsens  Theodosianus  vor  uns  liegt,  so  können  wir  nicht 
genug  staunen  vor  der  ans  Wunderbare  grenzenden  Energie  des 
Mannes,  der  im  neunten  Jahrzehnt  eines  rastlos  durcharbeiteten 
Lebens  noch  den  Mut  und  die  Ausdauer  und  die  —  Entsagung  be- 
saß, durch  die  mühseligsten  Handschriftenvergleichungen  und  -Klassi- 
fizierungen, durch  komplizierte  Apparate  und  Register,  durch  Ueber- 
wachung  eines  ungewöhnlich  schwierigen  Druckes,  das  wichtigste 
historische  Denkmal  des  IV.  und  V.  Jahrhunderts  der  Forschung  zu 
erschließen.  Auch  dies  Ziel,  den  Gipfelpunkt  seiner  editorischen 
Tätigkeit,  hat  er  noch  erreicht:  das  Jahrhunderte  lang  verödete 
Feld,  das  durch  den  Namen  Theodosianus  bezeichnet  wird,  ist  durch 


662  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

Mommsens  letzte  Arbeit  wieder  fruchtbar  geworden.  Es  war  dem 
unermüdlichen  Pflüger  nicht  vergönnt,  die  Saat  darauf  zu  schauen; 
möge  sie  bald  und  reichlich  sprießen. 

ilünchen  P*"l  Maas 


Edwin  A.  Abbott?^ rfAfe»°°i»«  yocabulary.  A  comparison  of  the 
words  of  the  fourth>«ifel  with  those  of  the  three.  London,  A. 
and  Ch.  Black,  1905.   XVIII,  3Ä4S.    13  sh.  6  d. 

Das  vorUegende  Buch  des^JSMie  neutestamentliche  Forschung 
mannigfach  verdienten,  neuerdings  aM  als  Mitarbeiter  an  der  »En- 
cyclopaedia biblica«  bekannt  gewordenenSenglischen  Theologen  gibt 
sich  schon  durch  die  Paragraphenzählung  (eS^«"*"*  mit  1436)  als 
Fortsetzung  der  früheren  Bände  eines  große»»  unter  dem  Titel 
>Diate8sarica*  veröffentlichten  Werkes,  zugleich  W  J^'J*"'®'"  ®"j.^ 
unter  dem  Titel  >Johannine  grammar<  erscheinende^^"*^ .  .^  "  ^^^,p"^' 
Im  wesentlichen  machen  exegetische  Detailstudien,  V*^®^^*^  " 

bellen  (von   der  Tochter  des  Verfassers  angelegt)  uäJ  andere  Vor- 
arbeiten seinen  Inhalt  aus.    Also  mehr  ein  Nachschlagw"*^"'  ^'f  *'" 
Gegenstand   für  zusammenhängende  Lektüre,   wiewohl  W^  *"  .  *" 
fortlaufenden  Betrachtungen   und   sprachlichen  Erörterun«°     '*'^'"«^ 
wegs  fehlt.    Eine  solche  gilt  gleich  zu  Anfang  unter  dq 
Schrift  »Key- words <  denjenigen  Stellen,  in  welchen  von  irtol 
Rede  ist.    Für  das  Interesse,  welches  ein  englisches  Laien; 
derartigen   Dingen    widmet,    bezeichnend    ist    es,    daß    gri^ 
Wörter   zu  gunsten   der  Leser  möglichst  in  die  AnmerkungeJ 
wiesen  sind,   so   daß  beispielsweise  im  Text  für  das  Wort  Tcia 
4.  Evangelium  begegnet  übrigens  nur   das  Verbum)   drei  Ausj 
(faith,  trust,  belief)  miteinander  abwechseln:   nicht  eben  günd" 
die   Zwecke   einer   Wortvergleichung.     Das   Resultat   diesen^ 
Untersuchung  kommt  über  die  bekannte  Tatsache,  daß  der  jo^^^L 
sehe  Sprachgebrauch  ein  sehr  elastischer  ist  (Verf.  erkennt  »sFV 
an  und  übersetzt  19,35.  10,31  ohne  Weiteres   mit  grow  in  bfl^^Ä^^^» 
höchstens  in  der  dem  Origenes  abgenommenen  Behauptung  hiiu^ 
daß,  wo  als  Objekt  des  Glaubens  das  Svo^  erscheint,  an  die  TauT  ^ 
zu  denken  sei.    In  Befolgung  der  gleichen  Methode  wird  als  zweites 
>  Schlüsselwort«  authority  (i£ooaia)  nach  der  Bedeutung,   die  es  bei 
den  neutestamentlichen  Schriftstellern  überhaupt,  bei  Johannes  insbe- 
sondere aufweist,  untersucht,   ohne  daß  dabei  mehr  herauskäme,  als 
Anerkennung  gewisser  Modifikationen  des  Sinnes,  je  nachdem  Jesus 
oder  Pilatus  das  Wort  gebrauchen.   Auch  die  weiterhin  angestellte  Be- 


Abbott,  A  Johannine  Vocabulary  663 

trachtung  über  >johannei8che  Synonyma«  bleibt  insofern  vielfach  un- 
fruchtbar, als  leichtere  Nuancen  des  Sinnes  fast  ebenso  oft,  als  sie 
nachgewiesen  zu  sein  scheinen,  wieder  im  indifferenten  Gebrauch  der 
betreifenden  Wörter  verschwinden.  Beispielsweise  bleibt  doch  als 
letztes  Resultat  der  ausführlichen  Untersuchung  über  Tcpoaxovsiv  mit 
Dativ  (gewöhnlich  im  Neuen  Testament)  oder  Akkusativ  (selten)  nur 
die  schon  oft  gemachte  Beobachtung  übrig,  daß  sich  in  jener  Kon- 
struktion, gleich  der  mit  Ivcbmov,  noch  eine  Beziehung  auf  den 
Gestus  des  Niederfallens  erhalten  hat.  Nur  zu  billigen  ist  es  übrigens, 
wenn  die  Vergleichung  der  Synonyma  sich  nicht  auf  die  johanneische 
Literatur  beschränkt.  Dagegen  bezieht  sich  der  folgende  Abschnitt 
nur  auf  die  Abweichungen  des  johanneischen  Sprachgebrauches  vom 
synoptischen.  Hier  ist  es  nun,  um  gleich  bei  den  beiden  erst  vor- 
kommenden Fällen  (S.  157  f.)  stehen  zu  bleiben,  allerdings  nicht  etwa 
bloß  Sache  des  Zufalls,  wenn  statt  ÄapaßoXnJ  das  Wort  wapotjita  be- 
gegnet (S.  176);  bekannt  und  anerkannt  ist  ja  der  sachliche  Unter- 
schied der  beiderseitigen  Bilderreden.  Belangreicher  ist  schon  der 
Umstand,  daß  SovdtjiSK;,  verbunden  mit  0Y)|jL8ta  oder  tfipa-ca  (Act.  2, 22. 
8,13)  bei  Joh.  nicht,  die  besonders  in  Act.  häufige  Verbindung  ot]- 
(teia  xal  tipata  nur  4,48,  zipam  sonst  nicht  mehr  und  Sovd|ietc  über- 
haupt gar  nicht  vorkommen.  Daraus  schließt  unser  Verf.,  daß  Jo- 
hannes die  absolute  Erhabenheit  und  Einzigkeit  der  himmlischen 
Mächte  durch  Vermeidung  von  Ausdrücken  wie  S&va|ii(;  und  Sovatöc, 
sowie  der  Synonyma  xpdtroc  und  xpa-caiöc,  lox^c  und  lox^pöc  habe 
ausdrücken  wollen,  indem  er  l£ooaia  dafür  einsetzte  (S.  158.  175). 
Hier  hätte  es  nahe  gelegen,  sich  des  Gebrauches  und  Sinnes  dieses 
Wortes  in  den  Zauberbüchern  zu  erinnern.  Einstweilen  bleibt  nur 
bemerkenswert,  daß  es  so  gut  wie  allen  neutestamentlichen  Schrift- 
stellern geradezu  unentbehrlich  ist ;  ebenso  aber  auch  8&va|it^  gerade 
nur  mit  Ausnahme  des  Evangelisten  und  Schriftstellers  Johannes. 
Absicht  waltet  dabei  schwerlich  ob.  Das  gleiche  gilt  von  dem  langen 
Register  von  Wörtern,  welche  bei  den  Synoptikern  oft,  bei  Johannes 
selten  oder  nie  vorkommen.  Es  würde  wenigstens  die  teilweisen 
Dienste  einer  Konkordanz  leisten,  wenn  nur  statt  der  englischen  die 
griechischen  Vokabeln  in  alphabetischer  Ordnung  aufgeführt  wären. 
Ebenso  steht  es  um  das  folgende  Register,  das  Wörter  aufzählt,  die 
bei  den  Synoptikern  garnicht  oder  wenigstens  seltener  als  bei  Jo- 
hannes vorkommen.  Man  erkennt  daraus  wenigstens  den  Sonder- 
besitz oder  den  bevorzugten  Gebrauch  bei  diesen  Schriftstellen.  So 
ist  es  bekanntlich  nicht  zufällig,  wenn  ol  'looSaioi  bei  ihm  68  mal, 
bei  den  drei  andern  zusammen  nur  16  mal  erscheinen. 

Dagegen  bleibt  es  ein  seines  Erfolges  keineswegs  sicheres  Unter- 


664  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

nehmen,  wenn  der  Verf.  auf  Beobachtung  einer  möglichst  konse- 
quenten Durchführung  von  bezeichnenden  Nuancen  der  Synonyma 
ausgeht.  Beispielsweise  bespricht  er  mehrfach  (S.  1  f .  103  f.  210. 
240—242.  257—264.  335)  das  Verhältnis  von  ol^öltcti  (vorkommend 
bei  Mt.  1  mal,  bei  Lk.  1,  bei  Job.  7),  oder  aYairäv  (Mt.  7,  Mk.  5, 
Lk.  11,  Job.  37)  und  (ptXetv  (Mt.  4,  Lk.  1,  Job.  13).  Hier  läßt  sich 
mit  Sicherheit  fast  nur  sagen,  daß  der  Begrifi  überhaupt  charak- 
teristisch für  den  Evangelisten  und  Briefsteller  ist.  Wahr  ist  auch, 
daß  die  bekannte  Gleichung  ^sö<;  =  &Yain]  nicht  in  ^eek  =  ftXia 
umgesetzt  werden  kann.  Insofern  macht  sich  auch  hier  der  be- 
kannte, von  den  Klassikern  bestimmt  wahrgenommene  und  mehrfoch 
formulierte  Unterschied  (S.  240  f.  259)  bemerkbar.  Andererseits  ist 
beispielsweise  der  Gedanke  >der  Vater  liebt  den  Sohne  3,35  mit 
oLYaTcqf,  5, 20  mit  dem  allerdings  affektvolleren  Wort  ^iXei  ausgedrückt. 
Auch  21,15—17  dürften  vielen  Künsteleien  der  Ausleger,  die  hier 
allerlei  Geheimnisse  wittern,  zum  Trotz  beide  Ausdrücke  promiscue 
gebraucht  sein,  offenbar  lediglich  um  nicht  immer  wieder  dieselben 
Laute  zu  wiederholen,  wie  dasselbe  im  gleichen  Zusammenhang  mit 
den  Synonyma  ßöoxetv  und  icoi|ialv6tv,  ipvia  und  icpößata  oder  icpo- 
ßdua  der  Fall  ist. 

Auch  im  vorhergehenden  Abschnitt  21, 1—14  sind  ja  ähnliche 
Beobachtungen  zu  machen.  So  haben,  nachdem  schon  die  griechi- 
schen Väter  und  Augustin  keinen  Unterschied  zwischen  aYaicdtv  (dili- 
gere)  und  ^ iXeiv  (amare)  gemacht  hatten,  Exegeten  geurteilt,  wie  Eras- 
mus und  Grotius,  neuerdings  P.  Schanz  und  B.  Weiß,  speziell  auch  A. 
Cross  im  »Expositor<  1893,  S.  312—320  und  Eberhardt  (Evangelium 
Johannis  Kap.  21,  1897,  S.  52),  während  man,  wo  ein  Abstand  ge- 
wahrt werden  soll,  in  ^iXeiv  gewöhnlich  den  bescheideneren  Ausdruck 
findet.  So  neuerdings  Lütgert,  Die  Liebe  im  N.T.  1905,  S.  156 f., 
im  Grunde  auch  Horn,  Abfassungszeit,  Geschichtlichkeit  und  Zweck 
von  Evang.  Joh.  Kap.  21,  1904,  S.  167—171;  so  ferner  Godet  im 
Gommentaire  sur  T^vangile  de  St.  Jean,  4.  Aufl.  III,  S.  533  (l'amour 
de  veneration  und  ch^rir  attachement  personnel)  und  schließlich 
auch  Abbott  selbst  S.  1  f.  241  f.  Nun  ist  ja  wahr,  daß  der  freund- 
schaftliche Klang  von  ^iXeiv  in  einigen  Stellen  deutlich  vernehmbar 
ist,  aber  in  den  bezüglichen  Parallelen  3,16  (zu  16,27)  und  11,5 
(zu  11,3.36)  steht  als  gleichwertig  a7a:räv.  Die  LXX  geben  Prov. 
8,17  dasselbe  hebräische  Wort,  wo  von  Gottes  Liebe  zu  den 
Menschen  die  Rede  ist,  mit  ocYaTcav,  wo  von  des  Menschen  Liebe  zu 
ihm,  mit  ^iXeiv.  Im  Hinblick  darauf  darf  man  schwerlich  sagen,  wie 
Cremer  zu  &7&^,  daß  diesem  Wort  der  Charakterzug  der  Divinität, 
der  tpikia  derjenige  der  Humanität  eigne;  denn  gerade  bei  ihren 


Abbott,  A  Johannine  Vocabulary  665 

echt  humanen  Empfehlungen  einer  uninteressierten  Liebe  braucht  die 
Bergpredigt  den  Ausdruck  irfandyj  so  daß  dafür  doch  immer  die 
Abwesenheit  des  im  ^iXeiv  mitspielenden  unfreiwilligen  Naturzugs 
charakteristisch  sein  dürfte.  Dagegen  eignet  der  &Ya7n)  1.  Joh.  3,18 
aktive  Natur,  und  auch  das  sl^  t^Xo^  "^Ydiiniaev  ahzoix;  Joh.  13,1 
scheint  im  Vorblick  auf  die  Fußwaschung  und  ihren  symbolischen 
Sinn  gesagt,  ähnlich  wie  -^^dc^cifjasv  Lk.  7,47  mit  Bezug  auf  7,44—46 
(vgl.  die  S.  258  f.  angeführten  Stellen  aus  Klassikern).  Aber  wo 
bleibt  der  angeblich  höhere  Sinn  von  aYaTcäv,  wenn  3,19.  12,42  auch 
oxöto^  und  Sö4ot  tcov  av^pa)ic(ov  das  Objekt  dazu  bilden?  Die  Ge- 
danken, die  sich  Abbott  S.  263  f.  über  das  -rj^diryjaey  Mk.  10,21  macht, 
um  diesem  vorübergehenden  bei  Joh.  einen  dauernden  Lieblings- 
jünger gegenübergestellt  zu  finden,  sind  um  so  weniger  angebracht, 
als  ja  auch  bezüglich  des  letzteren  20, 2  ein  i^iXet  mit  dem  '^^iira 
13, 13  wechselt.  Es  wird  also  bei  dem  schon  in  den  »Theologischen 
Studien  und  Kritiken«  1849,  S.  646  von  Gelpke  gefällten  Urteil  sein 
Bewenden  haben,  daß  aYaicäv  seinen  ursprünglich  reineren  Sinn  bald 
eingebüßt  habe  und  mit  ^iXeiv  vertauscht  werden  konnte.  So  kommt 
es  in  LXX  in  verschiedenartigstem  Sinne  vor.  Ganz  fremd  aber  ist 
dagegen  der  dort  auch  vorfindliche,  unzweifelhaft  sinnlichere  Aus- 
druck ipäv  der  neutestamentlichen  Sprache  geblieben.  Die  deutsche 
Sprache,  die  für  die  3  griechischen  Ausdrücke  nur  das  eine  unend- 
lich vieldeutige  »Lieben«  hat  (> Minne«  existiert  nur  noch  bei  ar- 
chaistischen Poeten),  ist  auf  diesem  Punkt  die  ärmere. 

Nicht  viel  anders  liegt  die  Sache  bezüglich  der  gleichfalls  mehr- 
fach in  Untersuchung  gezogenen  Synonyma  für  Sehen  (S.  104—114. 
163.  192.  197),  sofern  gleich  1,32.33,  wo  nebeneinander  ^edodat 
und  ISsiv  mit  dem  gleichen  Objekt  tö  TTveopia  steht,  dem  Versuche, 
ein  > ordinäres  Sehen«  hier  vom  > Betrachten <  (contemplari)  dort  zu 
unterscheiden,  widersteht.  An  das  Anschauen  mit  der  Tendenz  auf 
Erfassung  der  Bedeutung  einer  Sache  läßt  sich  am  ehesten  1, 14 
denken;  aber  gleich  in  der  Parallele  1.  Joh.  1,1—3  wechselt  damit 
6pdv.  Von  diesem  als  den  geistigeren  Begriff  soll  sich  unserm  Verf. 
zufolge  wegen  16, 16  ^8ot>p£iv  als  Ausdruck  für  das  gewöhnliche 
Sehen  mit  leiblichen  Augen  unterscheiden.  Aber  nur  in  sehr  ge- 
zwungener Weise  findet  er  sich  mit  den  widersprechenden  Stellen 
6,40.  12,45.  14,19  ab.  Man  wird  sich  damit  begnügen  müssen,  eine 
schriftstellerische  Liebhaberei  für  Wechsel  in  den  Ausdrücken  anzu- 
nehmen, wie  sie  Cross  ohnedies  im  ganzen  Schriftstück  nachgewiesen 
hat.  Dagegen  wäre  nicht  bloß  gelegentlich  zu  einigen  der  sofort 
anzuführenden  Ausdrücke,  sondern  als  für  Joh.  charakteristische 
Erscheinung  die  schillernde  Doppeldeutigkeit  darzutun  von  Wörtern, 


666  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  8 

wie  Äscöpetv,  ßpa,  i^eCpeiv,  oTcdtYStv,  ävwÄev,  oij^oöoÄat,  Y^vv&adai,  aipeiv, 
(j>t>XT3,  «vsöfta,  xpCotc,  ipYOtCeodat,  aico^vT^oxstv,  A^tdCetv,  ixoXoo^stv. 

Die  folgenden  Abschnitte  bringen  Wörter,  die  gemeinsam  sind 
nur  1)  für  Job.  und  den  ersten,  zweiten  oder  dritten  Synoptiker, 
2)  für  Job.  und  je  zwei  unter  diesen.  Die  zuverlässig  und  genau 
gemachte  Zusammenstellung  ist  umso  brauchbarer,  als  darin  grie- 
chische Vokabeln  direkt  auftreten.  Es  wäre  ungerecht,  wenn  man 
die  Anfertigung  solcher  Register  als  eine  mechanische  Arbeit  christ- 
licher Masoreten  mißachten  und  etwa  höchstens  den  auf  die  Ab- 
zahlung so  vieler  Wörter  verwendeten  pedantischen  Fleiß  anerkennen 
wollte.  Mit  Vorsicht  gebraucht,  leisten  die  vorliegenden,  von  einem 
so  sprachkundigen  Gelehrten  angefertigten  Listen  sowohl  für  die 
richtige  Erfassung  des  schriftstellerischen  Verhältnisses  der  einzelnen 
Evangelisten,  als  auch  für  ihre  Stellung  zur  Klassizität,  zu  LXX  und 
zur  Umgangssprache  ersprießliche  Dienste  und  ersparen  uns  manchen 
verdrießlichen  Zeitaufwand.  Wünschbar  wäre  bloß  oft  mehr  Berück- 
sichtigung von  Problemen  der  neutestamentlichen  Theologie,  die  sich 
hinter  der  Wortauswahl  verstecken.  Beispielsweise  bemerken  wir 
S.  187  gelegentlich,  daß  das  Wort  ootpia  bei  Lk.  öfter  als  bei  den 
beiden  andern  zusammen,  bei  Job.  aber  gar  nicht  begegnet.  Würde 
man  nun  zugleich  auch  erfahren,  daß  das  Synonym  ^vodotc  (vgl.  Rom. 
11,33.  1.  Kor.  12,8.  Kol.  2,3)  nur  bei  Lk.  vorkommt,  also  bei  Joh. 
gleichfalls  fehlt,  so  würde  man  bei  der  amphibolischen  Stellung  des 
vierten  Evangeliums  zur  Gnosis  auf  Gedanken  geführt,  wie  sie  neuer- 
dings Grill  in  seinen  >  Untersuchungen  über  die  Entstehung  des 
vierten  Evangeliums  c  (I,  S.  183  f.  200)  angeregt  hat.  Endlich  wäre, 
da  der  Sprachgebrauch  der  Apokalypse  doch  zuweilen  zur  Verglei- 
chung  mit  dem  johanneischen  Stil  herangezogen  ist  (z.  B.  82  f.  102. 
127.  127  f.),  diesem  höchst  interessanten  und  merkwürdig  zweideu- 
tigen Problem  eine  weitergehende  Aufmerksamkeit  zu  gönnen  ge- 
wesen. Noch  näher  liegt  ein  ähnliches  Desideratum  bezüglich  der 
johanneischen  Briefe,  deren  Mitberücksichtigung  mancherlei  Modifi- 
kationen in  den  Registern  bedingt  hätte. 

Straßburg  i.  E.  H.  Holtzmann 


Theodore  Belnaeb,  l'histoire  par  les  monnaies,   essais  de  nuinis- 
matique  ancienne.   Paris,  Leroux  1902.    270  S. 

Der  Titel  des  Buches  hat  in  mir  und  wohl  noch  in  manchem 
Fachgenossen  falsche  Hoffnungen  erweckt.  Ich  freute  mich,  daß  einer 
der  berufensten  Vertreter  unserer  Wissenschaft,  wie  kaum  ein  An- 
derer heutzutage  gleichermaßen  bewandert  in  den  Gebieten  der  alten 


Th.  Reinach,  Thistoire  par  les  monnaies  667 

Geschichte  und  der  alten  Numismatik,  das  Wort  ergriffen  hätte,  um 
uns  im  Großen  Methode  zu  lehren,  und  fand  —  eine  Sammlung  von 
fünfundzwanzig  Aufsätzen  ohne  weiteren  Zusammenhang  und  durch- 
gehenden Plan. 

Die  Enttäuschung  hat  diese  Anzeige  dann  über  Gebühr  verzögert; 
glücklicherweise  nicht  zu  großem  Schaden  für  die  Fachgenossen. 
Denn  der  Verfasser  gibt  hier  nur  gesammelt  heraus,  was  er  in  frü- 
heren Jahren  in  verschiedenen  Zeitschriften  veröffentlicht  hat,  so  den 
später  Lebenden  eine  pietätvolle  Mühe  sparend.  Die  Leser  der  re- 
vues arch^ologique,  numismatique,  critique,  des  Etudes  grecques,  so- 
wie des  bulletin  de  correspondance  hell^nique  und  des  numismatic 
chronicle  kennen  die  meisten  Aufsätze.  Aus  entlegeneren  Zeitschriften 
(der  gazette  des  beaux  arts  und  der  revue  des  6tudes  juives)  sind 
nur  wenige  Beiträge  geflossen ;  neu  sind,  wie  es  scheint,  zwei  Vorträge. 

Trotzdem  wird  mit  mir  Mancher  dem  Verfasser  für  die  Sammlung 
dankbar  sein,  und  nicht  nur  derjenige,  dem  sie  das  lästige  Nach- 
schlagen in  den  Zeitschriften  gegebenen  Falls  erspart.  Wie  Alles, 
was  Th.  Reinach  schreibt,  sind  diese  Aufsätze  anregend  und  fördernd. 
Wenn  sie  das  Ziel,  was  ich  ihnen  wünsche,  erreichen,  und  in  ihrem 
einheitlichen  Gewände  weiteren  Kreisen  den  Nutzen  der  Münzkenntnis 
eindringlich  vor  Augen  führen,  so  hat  die  Sammlung  ihre  Existenz- 
berechtigung. 

Natürlich  sind  die  25  Aufsätze  und  Aufsätzchen  nicht  gleich- 
wertig. Einzelne  konnten  ohne  Schaden  wegbleiben.  So  ein  kurzer 
Nekrolog  auf  L.  de  Hirsch  (No.  25)  und  die  litterarische  Hinrichtung 
eines  Plagiators  gewöhnlichster  Sorte  oder  wohl  wegen  seiner  Frech- 
heit ungewöhnlichster  Sorte,  dessen  Elaborat  kaum  in  Jemandes 
Händen  sein  dürfte  (No.  24).  Weiter  die  Notiz  über  Talaura  (No.  12) 
und  die  sechs  Seiten  über  die  Neokorate  von  Kyzikos.  >L'histoire 
par  les  monnaies«  wird  durch  sie  nicht  gerechtfertigt  oder  gefördert. 

Anderen  Aufsätzen  hätte  man  kräftigere  Aufpolierung  gewünscht. 
Zwar  versichert  der  Verfasser,  er  habe  alle  einer  aufmerksamen  Re- 
vision unterworfen  und  das  Werk  sei  nun  wieder  au  courant  de  la 
science,  doch  hat  schon  ein  früherer  Kritiker  des  Buches  (Regling 
in  der  Wochenschrift  für  klass.  Philologie  1903,  313  f.)  einige  Fälle 
angemerkt,  wo  den  inzwischen  erschienenen  Publikationen  nicht  ge- 
nügend Rechnung  getragen  ist ;  andere  lassen  sich  anfügen.  Die  we- 
nigen Nachträge  an  Schluß  der  Sammlung  stellen  wohl  manchmal  die 
ganze  Neubearbeitung  dar^).    Doch  kann   es  nicht   meine  Aufgabe 

1)  So  findet  sieb  erst  am  Schluß  des  Baches  ein  Nachtrag  aas  der  Zeit- 
schrift für  Namismatik  XXI  =  1898  für  den  14.  Aufsatz,  trotzdem  er  ausdrück- 
lich den  Vermerk  »refondu*  trägt.  —  Der  2.  Aufsatz  behandelt  zwei  Exemplare 


668  Gott.  gel.  ABZ.  1906.  Nr.  8 

sein,  Nachlese  zu  halten  und  auch  auf  Einzelheiten  möchte  ich  am 
Schluß  nur  kurz  eingehen.  Lieber  hebe  ich  ausdrücklich  hervor,  daß 
einige  Aufsätze  noch  jetzt  ihren  yollen  Wert  behalten  haben,  und 
wie  zur  Zeit  ihres  ersten  Erscheinens  so  auch  heute  nicht  nur  Me- 
thode lehren,  sondern  auch  in  ihren  Resultaten  gültig  sind.  Dahin 
gehören  die  gediegenen  Forschungen  über  das  Wertverhältnis  der 
Edelmetalle  zu  einander  (No.  4  und  5),  über  kleinasiatische  Dynastien 
der  hellenistischen  Zeit  (No.  11,  14,  15,  21),  über  eine  Münzkrisis  im 
dritten  nachchristlichen  Jahrhundert  (No.  18)  und  eine  archäologische 
Untersuchung  über  die  kauernde  Aphrodite  (No.  16). 

Zu  allgemeinen  Bemerkungen  fordert  Yor  allen  das  Vorwort  ans 
dem  Herbste  1902  heraus,  das  den  heutigen  Reinach,  nicht  den  An- 
fänger in  numismatischen  Studien  zeigt,  und  weiter  kommt  ein  Vor- 
trag rhistoire  grecque  et  la  numismatique  (No.  1)  in  Betracht.  Auf 
sie  möchte  ich  kurz  eingehen. 

»  Une  etude  camplexe  et  delkcUei  wird  hier  die  Numismatik  genannt. 
Niemand  wird  es  bestreiten.  Auch  die  weiteren  Bemerkungen  gibt  jeder 
Kundige  zu,  daß  die  Schlüsse  noch  sehr  der  Aenderung  unterworfen 
sind  und  daß  die  Gelehrtenwelt  im  allgemeinen  von  der  Numismatik 
nichts  wissen  will,  ihr  eine  defaveur  persistante,  ein  prejugS  entge- 
genbringt und  s^obstine  ä  regarder  la  numismcUique  comme  une  itude 
d'amcUeurs,  placee  en  dehors  et  ä  coti  des  sciences  serieuses.  Aber 
diese  Mißachtung  besteht  nicht  etwa,  weil  neue  Funde  von  Münzen 
oder  Inschriften  das  Schlußgebäude  umwerfen  können,  weil  wir  mit 
andern  Worten  Mangel  an  Material  haben,  und  auch  nicht  weil  viele 
Numismatiker  sich,  zu  bescheiden,  mit  dem  bloßen  Sammeln,  Be- 
schreiben und  Erklären  begnügen.  Nein,  die  Mißachtung  stammt  aus 
der  Ueberfülle  des  Materials,  aus  dem  Unvermögen  der  Meisten,  das 
riesige  vorhandene  Material  zu  gebrauchen,  weil  es  noch  nicht  ge- 
sammelt und  gesichtet  ist.  Wozu  sollen  wir  uns  selbst  täuschen? 
Eine  der  reichsten  und  reinsten  Quellen  kann  heute  die  Altertums- 

der  Themistokles-Münze ;  in  der  Zeitschr.  f.  Num.  XXI  1898  ist  ein  drittes  yer- 
öffentlicht.  —  Der  sehr  veraltete  8.  Aufsatz  über  die  Strategen  auf  attischem 
Gteld  weist  zwar  auf  Preuners  und  Kirchners  ihn  widerlegende  Abhandlungen  hin, 
(Rhein.  Mus.  1894  und  Zeitschr.  für  Num.  1898),  setzt  sich  aber  mit  ihnen  nicht 
auseinander.  HiUs  kurze  Abweisung  der  Keinachschen  Theorie  (handbook  124 
vom  Jahre  1899),  Babelons  zögernde  Zustimmung  (traits  838  vom  Jahre  1901) 
sind  gamicht  erwähnt.  Ebenda  fehlt  Macdonalds  Aufsatz  über  die  Amphoren- 
buchstaben  aus  dem  Num.  chronicle  1899.  DaB  in  Athen  dreizehn  Tribns  etwa 
von  255  —  200  v.  Chr.  bestanden  haben  statt  von  229—200,  hätte  schon  bei  dem 
Erscheinen  des  Aufsatzes  nicht  stehen  bleiben  dürfen ;  in  der  Sammlung  des  Jahres 
1902  macht  es  sich  nach  Bates,  the  fives  postkleisthenian  Tribes  1898  nicht  schön. 
(S.  106»). 


Th.  Reinach,  Phistoire  par  les  monnaies  669 

Wissenschaft  noch  nicht  fördern  und  treiben,  weil  sie  noch  nicht  ge- 
faßt und  von  Unrat  gesäubert  ist.  Wir  sind  in  der  Verwendung  der 
Numismatik  für  alle  Zweige  der  Altertumswissenschaft  erst  auf  der 
Linie,  auf  der  wir  in  der  Verwendung  der  Epigraphik  vor  dem  In- 
schriftencorpus  standen.  Und  die  Folgeerscheinung  ist  denn  auch 
ganz  dieselbe  —  die  Mißachtung  der  Disziplin.  Man  braucht  heut- 
zutage im  allgemeinen  wohl  einmal  eine  Münze  oder  eine  Münzgruppe 
wie  früher  eine  Inschrift.  Das  macht  sich  hübsch  als  dekorative  Zu- 
tat und  zeigt  den  betreffenden  Gelehrten  als  versierten  Mann  ^).  Aber 
gründlich  eine  Frage  durch  ein  großes  Feld  des  numismatischen  Ge- 
bietes hindurch  zu  verfolgen  und  so  zu  großen  Resultaten  zu  kommen, 
ist  für  den  Historiker  wie  für  den  Nationalökonomen,  für  den  Ju- 
risten, Chronologen,  Sprachforscher,  kurz  für  Jeden  unmöglich,  oder 
nur  möglich  auf  Grund  sehr  mühsamer,  sehr  geduldiger  Sammel- 
arbeit, und  selbst  diese  führt  kaum  zum  Ziel.  Ja,  wir  stellen  auf 
allen  Gebieten  noch  nicht  einmal  die  richtigen  Fragen.  Die  Erkenntnis, 
daß  die  großen  sicheren  Ergebnisse  von  den  ygros  baiaUlons  bien 
disciplines  et  bien  diriges<  erzielt  werden,  ist  ziemlich  allgemein  und 
natürlich  auch  bei  Reinach  zu  finden,  dessen  Worte  ich  eben  zitierte. 
Hat  er  die  Konsequenz  gezogen?  Nein,  oder  doch  nur  vereinzelt. 
Er  bekämpft  sie  sogar.  Wohl  findet  sich  bei  ihm  der  Satz:  die 
Münze  sei  vor  allem  Geld;  als  historisches  archäologisches  mytholo- 
gisches Dokument  komme  sie  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht.  In 
den  Aufsätzen  aber  stellt  er  an  die  Münzen  historische,  archäologische, 
chronologische,  mythologische  Fragen  und  nur  wenige,  allerdings 
treffliche  Aufsätze  gehen  auf  das  eigentliche  Wesen  der  Münze  ein. 
Und  doch  liegen  die  Themata  so  nah.  Die  Numismatik  muß  das 
Beste  dazu  tun,  um  die  verlorene  Handelsgeschichte  des  Altertums 
wenigstens  in  großen  Zügen  wieder  zu  gewinnen.  Warum  wählt 
Reinach  so  wenig  Themata  aus  diesem  Gebiet?  Die  Antwort  ist 
einfach;  die  gros  bataillons  bien  disciplines  et  bien  diriges  sind  eben 
noch  nicht  vorhanden.  Und  so  lange  das  nicht  der  Fall  ist,  so  lange 
das  Corpus  fehlt,  das  das  gesamte  Material  nach  Zeit,  Gewicht  und 
Bild  durchaus  zuverlässig  und  leicht  übersichtlich  vorführt,  so  lange 
fragen  wir  das  antike  Geld  nur  Nebenfragen.     Erst  wenn  wir  die 

1)  Dahin  gehören  auch  einige  der  Keinachschen  Aufsätze:  No.  14,  on  non- 
veau  roi'de  Bithynie,  ist  eine  rein  historisch,  saaber  durchgeführte  Untersuchung, 
der  als  Anhang  einige  Münzbeschreibungen  beigegeben  sind.  No.  16,  Tauteur  de 
la  Venus  aecroupie  et  le  type  des  monnaies  royales  de  Bithynie,  gewinnt  für  die 
Kunstgeschichte  in  feingeführtem  Beweise  den  Künstlernamen  Doedalses  aus  dem 
verderbten  Daedalus  zurück;  zu  dem  Beweise  trägt  die  Numismatik  nichts  bei, 
und  nur  zur  Zeitbestimmung  wird  sie  am  Schluß  herangezogeiL 


670  Gott  gel.  Anz.  1906.   Nr.  8 

wichtigen  sekundären  Prägungen,  die  Ueberprägungen  und  Nach- 
stempel des  eignen  Staates  und  der  fremden  Staaten  übersehen, 
werden  aus  ihnen  und  den  Münzfußveränderungen,  aus  Funden  und 
Typennachahmungen  die  richtigen  Schlüsse  auf  Handel  und  Wandel 
gezogen  werden  können.  Erst  dann  werden  an  die  Münzen  die  großen 
Fragen  der  Religionsentwicklung  eines  Landes,  des  Münzrechts,  der 
Eunstentwicklung  u.  s.  w.  u.  s.  w.  gestellt  und  beantwortet  werden.  Ma- 
terial ist  schon  jetzt  genug  vorhanden  und  neuauftauchende  Münzen 
werden  die  aus  ihm  zu  gewinnenden  Schlüsse  viel  weniger  umstoßen, 
als  neue  Steine  die  Resultate  der  Epigraphik;  nur  gesammelt  muß 
es  werden  und  gesichtet.  Das  corpus  numorum  ist  die  dringendste 
Forderung. 

Reinach  ist  nicht  derselben  Ansicht.  Ihm  hat  sich  bei  seinen 
Studien  eine  Teilung  der  Disziplin  in  numismcUique  pure  et  numis- 
nuxtique  appliquee  ergeben.  Die  erstere  beschreibt,  klassifiziert  und 
erklärt  die  Münzen,  ihr  letztes  Wort  ist  das  corpus  numorum 
veterum.  Im  Grunde  ist  sie  inferieur  und,  wenn  Reinach  es  auch 
nicht  sagt,  das  Bild,  das  der  alte  Chronist  vom  Bischof  von  Kulm 
entwirft:  »er  sass  uff  seinem  Schlosse  zu  Lube  und  besag  die  fremde 
und  seltsame  Muntze,  die  er  hatte.  Dys  that  er  mehr  aus  Tumbheit, 
denn  anders  warumb*,  schwebt  ihm  wohl  vor  Augen.  Nur  die  letz- 
tere —  die  numisnxatiqiie  appligtUe  —  trouve  reelletnent  sa  raison  d'etre 
et  sa  pleine  justification. 

Mommsen  hatte  eine  andere  Auffassung.  >Es  ist  im  ganzen 
Kreis  der  Altertumswissenschaft,  so  referiert  er  im  Jahre  1880  über 
die  wissenschaftlichen  Unternehmungen  der  Akademie  (Reden  und 
Aufsätze  S.  100),  keine  Stelle,  wo  ein  solches  Zusammenfassen  (des 
gesamten  Materials)  so  dringend  gefordert  würde  als  hier«.  Und 
Mommsen  hat,  wie  Reinach  im  andern  Zusammenhang  selbst  aner- 
kennt (S.  19),  mit  Wort  und  Tat  bis  zuletzt  die  Verwirklichung 
dieses  Zieles  erstrebt.  Sollte  der  Verfasser  des  Römischen  Münz- 
wesens so  sehr  die  wissenschaftliche  Materialsammlung  überschätzt 
haben,  oder  sollte  Reinach  bei  der  Empfehlung  seiner  Aufsätze  im 
Eifer  ein  erhebliches  Stück  zu  weit  gegangen  sein? 

Gewiß,  es  läßt  sich  darüber  streiten,  ob  unsere  jetzige  Art,  ein 
Münzcorpus  zu  machen,  die  richtige  ist.  Ich  persönlich  halte  sie  für 
falsch,  obgleich  oder  gerade  weil  ich  Mitarbeiter  bin.  Wir  arbeiten 
zu  schwerfällig  und  haften  viel  zu  ängstlich  an  den  in  anderen 
Disziplinen,  besonders  in  der  Epigraphik  gewonnenen  Darstellungs- 
formen. Wir  hemmen  unnötig  den  Fortgang  des  Unternehmens  durch 
die  Verwertung  alter  literarischer  Zitate  und  durch  überflüssige  Häu- 
fung von  Belegen  für  die  einzelnen  Münztypen.   Wir  ermüden  uns  und 


Th.  Reinach,  I'histoire  par  les  monnaies  671 

belasten  überflüssigerweise  das  Corpus  durch  Registrierung  von  ganz 
gleichgültigen  Abweichungen  in  der  Trennung  der  Münzlegende.  Und  was 
dergleichen  noch  mehr  ist.  Aber  darauf  kommt  es  hier  nicht  an.  Ein 
Gelehrter  von  dem  Ansehen  Reinachs,  der  selbst  einmal  auf  klein- 
stem Gebiete  den  Gorpusarbeiter  spielt,  und  es  für  etwas  wissen- 
schaftliches hält,  in  längerem  Aufsatz  drei  falsche  Münzlegenden  aus 
der  Literatur  auszumerzen  (sonst  hätte  er  No.  17,  n^ocorats  de  Cyzi- 
que,  wohl  nicht  wieder  abgedruckt),  Reinach,  meine  ich,  sollte  nicht 
so  absprechend  urteilen.  Er  beeinflußt  andere  weniger  Bewanderte 
und  macht  durch  solch  schiefes  Urteil  den  Nutzen  seiner  Aufsätze 
wieder  zu  nichte. 

Ohne  das  corpus  werden  die  wichtigsten  Fragen  überhaupt  nicht 
gestellt  werden  können;  eine  Reihe  anderer  wird  ohne  es  immer 
wieder  falsch  gestellt.  Viel  zu  leicht  erscheint  bei  der  Betrachtung 
der  einzehien  Münze  die  schwerverständliche  Sprache  des  Geldes  und 
leichtfertig  fragen  wir  die  einzelnen  Münzen  nach  Dingen,  die  sie 
nicht  beantworten  können.   Reinach  gibt  auch  dafür  klassische  Belege. 

Von  dem  Größten  der  Athener,  Themistokles,  sind  in  letzter 
Zeit  drei  Münzen  zu  Tage  gekommen,  die  er  als  persischer  Untertan 
in  Magnesia  hat  schlagen  lassen.  Reinach  hat  sie  über  den  Charakter 
ihres  Prägeherrn  ausgefragt  (S.  8  f.)  und  da  eine  gefüttert  ist,  so 
bestätigt  sie  ihm  merveilleusement  die  Anekdotenliteratur  über  den 
astucieux  et  fecond  caractere.  La  numismcUique  faurnit  ainsi  ä  Vhi- 
stoire  une  illustration  piquante  et  inattendue.  In  Wirklichkeit  liegt 
eine  solche  Bestätigung  den  wenigen  Münzen  durchaus  fem.  Einmal 
kann  das  plattierte  Stück  gut  und  gern  von  einem  privaten  Falsch- 
münzer herrühren.  Aber  auch  wenn  viele  ihm  gleichartige  zu  Tage 
treten  sollten,  ist  ein  Rückschluß  auf  den  Charakter  unzulässig. 
Einen  Notstand  mögen  sie  kennzeichnen,  wenn  sie  in  Massen  auf- 
treten, weiter  nichts.  War  Livius  Drusus  qui  in  tribunatu  plebei  octa- 
vam  partem  aeris  argento  miscuit  etwa  ein  astucieux  et  fecond  caractere? 
Ist  Nero  ein  Betrüger,  weil  er  das  Gewicht  des  Denars  verringerte? 
Gewiß,  man  sagt  auch  dies.  Aber  wer  weiß  denn  heute  etwas  von 
den  Metallrelationen  jener  Zeit,  die  vielleicht  uns  eines  Tages  bei 
besserer  Kenntnis  die  Gewichtsminderung  als  eine  äußerst  verstän- 
dige Finanzmaßregel  erscheinen  lassen  werden.  Jede  Notstandsmünze 
macht  nach  diesem  Rezept,  die  Geschichtskenntnis  zu  erweitem, 
ihren  Verfertiger  zum  Schelm;  wer  mag  das  unterschreiben?  Ueber 
moralische  Eigenschaften  darf  man  Geld  in  solcher  Weise  nicht  be- 
fragen.*) 

1)  Reinachs  Aufsatz  No.  23  handelt  über  das  Bißptuveiov.  Bekannt  ist  nur, 
das  mit  dem  Wort  irgendwo  einmal  schlechtes  Geld  bezeichnet  ist,  und  wahr- 


672  Gott,  gel  Ans.  1906.  Nr.  8 

Gewiß,  auch  über  Charaktereigenschaften  gibt  das  Geld  Aufschloß. 
Es  kann  das  Bild  des  Einzelnen  wie  der  Massen  deutlich  machen. 
So,  meine  ich,  versinnbildlicht  uns  die  starke  Goldprägung  Philipps 
von  Makedonien  —  eine  für  Griechenland  einschneidende  Neuerung, 
die  ihre  Spitze  gegen  das  in  Griechenland  nur  zu  sehr  geliebte  Per- 
sergold richtete  —  den  weitschauenden,  großen  Zielen  nachgehenden, 
energischen  König.  So  kennzeichnet  das  Herumexperimentieren  mit 
verschiedenen  Münzfüßen  den  unruhigen  Diokletian.  Und  die  Ver- 
mehrung der  Titel  auf  den  Münzen  der  späteren  hellenistischen  Kö- 
nige ist  das  Zeichen  eines  in  Blüte  stehenden  hohlen  höfischen  Trei- 
bens, einer  eitel  gewordenen,  dem  Schein  nachjagenden  Welt.  Nicht 
aber  ist  sie  charakteristisch  für  die  einzelne  Person;  oder  nur  in 
sehr  beschränktem  Maße  etwa  für  den  ersten  der  Könige  mit  dem 
titelgefüllten  Geld. 

Zwei  andere  Beispiele  mögen  die  Unterstützung  zeigen,  die  die 
Münze  bei  dem  Charakterisieren  der  Massen  gewährt.  Im  achäischen 
Bund  des  3./2.  Jahrhunderts  v.  Chr.  gibt  es  Bundesgeld  in  Silber  und 
Kupfer,  das  in  mehr  als  40  Prägstätten  der  Mitglieder  geprägt  wird. 
Nach  Gewicht,  Korn  und  Hauptbild  ist  es  durchaus  einheitlich,  in 
der  Schrift  aber  zeigt  es  Unterschiede  derart,  daß  auf  dem  Silber 
neben  dem  Bundesmonogramm  X  das  Beizeichen  der  prägenden  Stadt, 
auf  dem  Kupfer  gar  neben  dem  gemeinsamen  Namen  AXAIOl  der 
vollausgeschriebene  Name  der  einzelnen  Städter  Sixoibvtot,  Alfstpitai 
steht.  Nimmt  man  hinzu,  daß  außer  diesem  von  der  Mitwelt  sehr 
bewunderten  Bundesgeld  nun  noch  von  einzelnen  Städten  eigenes 
Geld  verausgabt  ist,  so  hat  man  eine  treffende  Illustration  zum 
Partikularismus  der  Griechen,  derjenigen  üblen  Eigenschaft,  die  ihre 
politische  Macht  vernichtet  hat. 

Das  andere  Beispiel.  Auf  Sizilien  prägen  die  phönizischen  Städte 
Motye  und  Panormus  im  5.  Jahrhundert  Geld  mit  griechischer  und 
Geld  mit  phönizischer  Schrift,  Solus  zunächst  nur  mit  griechischer 
Schrift  Mit  und  nach  dem  großen  Karthagervorstoß  der  Jahre  409 
bis  406  tauchte  eine  weit  größere  Menge  von  Münzen  mit  verschie- 
dener punischer  Schrift  auf.     Einmal  Großgeld  mit  eigenen,   den 

scheinlich  ist,  daß  es  seinen  Namen  einem  Thibron  verdankt.  Es  gehört  schon 
die  Kunst,  Gras  wachsen  zu  hören,  dazu,  auf  diese  beiden  Merkmale  hin  einen 
Aufsatz  zu  schreiben.  Aber  der  Kunst  glauben  ja  yiele  mächtig  zu  sein,  und  so 
ist  das  Btßpcovctov  fast  ein  Lieblingsthema  der  Numismatiker  geworden  und  jeden- 
falls zulässig.  Völlig  unzulässig  aber  ist,  nun  von  den  beiden  Thibrons,  über 
die  die  Geschichte  dunkle  Kunde  erhalten  hat,  den  ungetreuen  Offizier  des  unge- 
treuen Harpalos  auszusuchen,  weU  das  schlechte  Geld  »admirablement  an  canu^ 
t^re  sc^l^rat  du  Thibron  IIc  pafit.    Da  ist  die  Münze  wieder  überfragt 


Th.  Reinach,  i'histoire  par  les  monnaies  678 

Griechen  Siziliens  fremden  Bildern,  wie  der  Dattelpalme,  dem  Löwen, 
dem  Pferdekopf  und  mit  Bildern  von  Syrakus,  Akragas  oder  in  spä- 
terer Zeit  mit  dem  Herakieskopf  des  weitverbreiteten  Alexander- 
geldes. Zum  andern  finden  wir  vielerlei  Kleinsilber  mit  einheitlicher, 
wenig  hervortretender  Aufschrift  und  den  Hauptbildern  vieler  in  die 
Gewalt  der  Karthager  geratenen  Städte  wie  Himera,  Akragas,  Gela, 
Kamarina.  Was  lernen  wir? 

Der  Punier,  sei  er  nun  Sidonier  oder  Karthager,  hat  von  Homer 
bis  auf  Livius  den  traurigen  Ruf  eines  betrügerischen,  perfiden 
Menschen.  Daß  damit  die  mächtige  Kaufmannschaft  zu  Unrecht 
charakterisiert  war,  die  es  verstand,  das  Westmeer  zu  ihrem  Meere 
zu  machen,  und  den  Griechen  und  ganz  Italien  ein  halbes  Jahrtausend 
Paroli  bot,  hat  sich  wohl  Jeder  gesagt.  Aber  die  Schriftsteller  halfen 
80  wenig  zur  besseren  Ausmalung  des  Bildes,  helfen  hier  die  Münzen? 
Ich  meine,  ja.  Man  glaubt  den  vorsichtigen  Kaufmann  des  5.  Jahr- 
hunderts zu  sehen,  der  im  fremden  Lande  das  neue  Verkehrsmittel 
des  Geldes  anwendet,  das  er  im  eigenen  Lande  zu  gebrauchen  noch 
ablehnt,  der  aber  das  Sein  dem  Schein  vorzieht  und  auf  einen  Teil 
seines  Geldes  ruhig  griechische  Schrift  setzt,  weil  er  weiß,  so  ge- 
winnt es  schneller  und  besser  Kurs  in  den  gewiß  kaum  zur  Hälfte 
semitisierten  sizilischen  Städten  Panormus,  Motye,  Solus.  Dann 
kommt  der  kriegerische  Erfolg  der  Jahre  409 — 406  und  man  glaubt 
das  Erwachen  des  Chauvinismus  in  der  starken  punischen  Prägung 
zu  sehen,  die  einsetzt.  Und  doch  behält  ihm  gegenüber  die  kühle 
Ueberlegung  der  Handelsherren  die  Oberhand,  die  den  geregelten 
Verkehr  nicht  in  Frage  stellen  will.  Darum  bleiben  auf  dem  Klein- 
silber des  Lokalverkehrs  die  altgewohnten  rein  griechischen  Bilder, 
des  Adlers  von  Akragas  und  des  Hahnes  von  Himera,  des  Fluß- 
gottes von  Gela  und  des  Schwanes  von  Kamarina,  und  nur  versteckt, 
fast  absichtlich  unauffällig  steht  die  punische  Legende  in  irgend  einer 
Ecke;  ja  in  dem  sizilischen  Hauptplatz  Panormus  geben  die  Kar- 
thager gar  auch  kleine  Münze  aus,  die  griechische  und  punische 
Schrift  hat.  Darum,  um  den  Verkehr  nicht  zu  gefährden,  werden 
auch  auf  dem  Großgeld  die  eigenen  Typen  bisweilen  bei  Seite  ge- 
schoben, und  statt  ihrer  und  neben  sie  die  Typen  von  Syrakus  und 
vom  Weltgeld  des  Alexander  genommen.  Man  sieht,  der  Verstand 
bestimmt  das  Denken  und  Tun  dieser  großen  Kaufleute;  in  dem 
Charakter  der  Gesamtheit  dominiert  die  kühle  Ueberlegung  über 
chauvinistischen  Trieben. 

Doch  genug.  Emwendungen  gegen  einzelne  Behauptungen  in 
den  Aufsätzen  Reinachs  sind  noch  viele  zu  machen;  sie  führen  zu 

Odtt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  8  47 


674  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  8 

weit.  ^)  Zusammenfassend  läßt  sich  von  der  Sammlung  >rhi8toire  par 
les  monnaies«  sagen,  daß  sie  nicht  gerade  mustergültig  ist,  weniger 
weil  sie  veraltet  als  weil  sie  zuweilen  methodisch  falsche  Fragen  an 
die  Numismatik  stellt,  daß  sie  aber  sicher  anregend  auf  weitere  Kreise 
wirken  kann,  und  darum  gern  zum  Lesen  empfohlen  werden  soll, 
Giessen  Max  L.  Strack 

1)  S.  7.  Das  Fehlen  des  Porträts  auf  Münzen  vor  300  wird  damit  erkl&rt, 
daß  rigaliti  democratique  füt  choquie  et  peut-Hre  la  conscience  reUgieuae  füi 
inquiitie.  Das  ist  selbst  für  einen  Vortrag  zu  wenig  gesagt  und  wird  dem  großen 
Problem  der  Menschenvergöttenmg,  die  in  dem  Wechsel  des  M&nzbildes  ihren 
Ausdruck  findet,  zu  wenig  gerecht.  —  S.  11.  Die  Kopien  von  Bildwerken  auf 
Münzen  sind  gewiß  in  ihrer  Mehrzahl  nicht  getreu,  aber  wenn  wir  getreue  finden, 
so  stammen  sie  von  Münzen  der  römischen  Eaiserzeit,  nicht  aus  der  großen  grie- 
chischen Periode  des  5.  und  4.  Jahrhunderts;  das  mußte  schärfer  hervorgehoben 
werden.  —  S.  12.  Die  Münze  von  Anchialos  mit  dem  Hermes  des  Praxiteles  kenne 
ich  nur  in  einem  Exemplar,  und  auf  ihm  [wenigstens  auf  dem  mir  vorliegenden 
Abdrucke]  ist  gerade  der  Gegenstand  der  rechten  Hand  undeutlich.  Der  Satz, 
eette  copie  ne  laisee  aucun  doute  eurla  restitution  du  bras  mutiU  kann  ich  also 
nicht  unterschreiben.  Ist  es,  nebenbei  gefragt,  so  sicher,  daß  diese  Anchialos- 
Münze  den  Praxitelischen  Hermes  genau  wiedergiebt?  Die  hohe  Stütze  läßt 
starke  Zweifel  zu.  —  S.  189  f.  Zur  Zeitbestimmung  des  Doedalses  werden  die 
Bithynischen  Münzen  herangezogen.  Auf  ihnen  ist  seit  der  Zeit  des  Prusias  I 
eine  Zeusstatue,  die  möglicherweise  —  oder  zugegeben  sei  es  —  wahrscheinlicher- 
weise der  Zeus  Stratios  desselben  Künstlers  ist.  Also,  schließt  Reinach,  Doedalses 
gehört  in  die  Zeit  des  Prusias  I,  denn  vorher  auf  Münzen  des  Nikomedes  I  und 
der  einzigen  von  Ziaelas  findet  sie  sich  nicht  Ist  der  Beweis  bündig?  M.  E.  nicht, 
und  wieder  hat  man  das  Geld  mehr  gefragt  als  es  antworten  kann.  Alexander 
der  Große  hat  auf  sein  Gold  Athenas  Kopf  und  Nike  in  ganzer  Figur  gesetzt,  auf 
sein  Silber  den  sitzenden  Zeus  mit  dem  Adler  auf  der  Rechten;  von  seinen  Vor- 
fahren hat  nur  Philipp  II  den  Kopf  des  Zeus,  sonst  bedienen  sie  sich  anderer 
Münztypen.  1st  darum  der  sitzende  Zeus  und  die  Nike  unter  Alexander  kompo- 
niert? —  S.  118.  AOKl  auf  der  Münze  eines  thrakischen  oder  makedonischen 
Stammes  als  («^xtfAov  ^argent  contröU,  de  ban  oioic  zu  erklären,  ist  wohl  unmög- 
lich. Die  alte  Erklärung  als  Anfang  eines  unbekannten  Häuptlingsnamen  muß 
bestehen  bleiben.  —  S.  AKPAFAZ  wird  als  Bezeichnung  der  Stadt  abgelehnt, 
weil  Stadtnamen  im  Nominativ  auf  Münzen  nicht  vorkämen.  Ein  Blick  in  Bout- 
kowskys  Peüt  Mionnet,  der  auf  Seite  S — 6  257  Namen  im  Nominativ  zusammen- 
trägt, belehrt  eines  Besseren.  Gewiß  lassen  manche  von  ihnen  eine  andere  Er- 
klärung zu^  aber  »un  jpareil  emploi  manquerait  d^analogits*  ist  reichlich  stark. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Göttiagen 


September  1906  Nr.  9 


Wilbelm  Helnse,  Sämtliche  Werke,  hrsg.  von  Karl  Schüddekopf.  U. 
Bd.:  Begebenheiten  des  Enkolp.  Die  Kirschen.  Erzählungen.  Leipzig  1903, 
Insel-Verlag.  IX.  Bd. :  Briefe.  Erster  Band  bis  zur  italienischen  Reise,  a.  a.  0. 
1904.   6  Mk.  und  8  Mk. 

Die  stattliche  Heinse-Ausgabe,  deren  drei  zuerst  erschienene 
Bände  (IV.  V.  VI)  ich  in  dieser  Zeitschrift  1903  Nr.  9  S.  736  flF.  an- 
gezeigt habe,  schreitet  nur  sehr  langsam  fort.  Nachdem  noch  im 
Jahre  1903  ein  vierter  Band  erschienen  war,  ist  im  folgenden  ein 
Briefband  ausgegeben  worden^  dem  in  demselben  Jahre  1904  der 
zweite  und  letzte  folgen  sollte.  Dieser  ist  aber  bis  heute  nicht  er- 
schienen; und  es  ist  endlich  Zeit,  auf  die  Ausgabe  zurückzukommen. 

Der  zweite  Band  enthält  das  einzige  Werk  von  Heinse,  zu  dem 
eine  vollständige  Handschrift  erhalten  ist;  nämlich  >Die  Kirschenc. 
Aus  ihr  hat  der  Herausgeber  II  294, 14  einen  Vers  ergänzt,  der  im 
ersten  Druck  nur  durch  ein  Versehen  ausgefallen  war  und  durch  den 
Reim  gefordert  wird.  Umgekehrt  fehlen  aber  in  der  Handschrift  die 
Verse  313,18—26,  die  anzeigen,  daß  Heinse  die  Dichtung  in  der 
Druckvorlage  erweitert  und  überarbeitet  hat.  Ich  würde  deshalb  auch 
298,13  das  »Und«  des  ersten  Druckes,  das  nach  der  Parenthese  un- 
mittelbar das  letzte  Wort  wiederholt,  nicht  zu  ändern  für  nötig 
halten.  Dagegen  hat  Scliiiddekopf  305, 19  mit  Recht  >den<  in  >dem< 
geändert,  gegenüber  Handschrift  und  Druck:  denn  offenbar  steht  der 
>eine<  (Singular)  den  >andern  insgesamt«  (Plural)  gegenüber,  wie 
in  dem  folgenden  Beispiel  >der<  General  >den<  Tagedieben.  In 
den  Lesarten  sind  die  folgenden  Druckfehler  zu  verbessern:  S.  366, 
Z.  1  von  unten  lies  281,2  (anstatt  282,1);  367,  5  f.  lies  >wenigen< 
(anstatt  >weniger<).  Bei  einigen  Lesarten  scheint  der  Herausgeber 
die  Interpunktion  übersehen  zu  haben:  fehlt  282,16  und  17  wirk- 
lich der  Punkt  nach  >verzeyhen<  und  >nüzUchsten<  in  der  Hand- 
schrift, wie  310,24  und  312,26  nach  >Manns«  der  Punkt  und  nach 
»Ohre  der  Doppelpunkt? 

Voraus  geht  am  Anfang  des  Bandes  die  Enkolpübersetzung,  wo 

OöU.  gol.  Anz.  1906.  Nr.  9.  48 


676  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

S.  269  Z.  14  »wie<  Druckfehler  (anstatt  >wir<)  und  im  kritischen 
Anhang  S.  361  Z.  7  von  unten  >Yon  der  schänderischen  Hand<  (an- 
statt >von  den  schänderischen  Hand«)  zu  lesen  ist.  In  Ermangelung 
des  ersten  Druckes  habe  ich  den  Enkolp  zur  Kontrole  mit  dem  Neu- 
druck von  Adolf  Weigel  (Leipzig  1898)  verglichen.  S.  19  Z.  13  steht 
das  Komma  nach  »gereiniget«  zwar  auch  hier,  und  also  wohl  auch 
im  ersten  Druck,  es  entstellt  aber  den  Sinn.  S.  31,  Z.  5  von  unten 
fehlt  in  beiden  Drucken,  also  wohl  auch  in  der  Vorlage,  das 
Anführungs- Schlußzeichen,  das  die  Rede  des  Agamemnon  (seit 
29, 3)  kennzeichnet.  S.  52,  Z.  9  hat  der  Weigelsche  Druck  richtig 
»ausmachte«  für  >ausmächte«,  was  nur  ein  Druckfehler  sein  kann, 
entweder  im  ersten  Druck  oder  bei  Schüddekopf.  S.  91,  Z.  12 
fehlt  das  Anführungs-Schlußzeichen  bei  Weigel;  die  Rede  geht  bis 
93,7  von  unten  fort.  S.  95,  Z.  19  steht  zwar  in  beiden  Drucken: 
»Sibylla  ti  delies «,  es  ist  aber  doch  wohl  »deleis«  (^eXet^)  zu 
schreiben.  Ebenso  ist  wohl  S.  114  S.  7  anstatt  >Ihr  Gatte  erlebte 
den  letzten  Tag  auf  einem  Landgute <,  zu  lesen:  > verlebte <.  Ist 
das  S.  251,  Z.  3  von  unten  »führte  sie  mich  zu  sie<  (anstatt:  »zu 
ihr«)  richtig?  ich  finde  kein  Beispiel  einer  solchen  Rektion  bei 
Heinse.  S.  257,  Z.  3f.:  > nichts  ist  falscher,  als  dieser  abgeschmackte 
Wahn  der  Menschen  und  nichts  ist  abgeschmackter,  als  dieser  ge- 
heuchelte Strenge«,  hat  Weigel  mit  Recht:  >als  die  geheuchelte 
Strenge«;  hier  ist  >dieser«,  entweder  im  ersten  Druck  oder  bei 
Schüddekopf,  aus  der  oberen  Zeile  auch  in  die  untere  geraten.  Daß 
Schüddekopf  S.  73,  Z.  5  >Eopfküßchen«,  aber  S.  78,  Z.  1  von  unten 
und  S.  141,  Z.  18  >Kissen<  stehen  läßt,  tadle  ich  nicht.  Entweder 
behalte  man  die  Orthographie  der  ersten  Drucke  mit  allen  Wider- 
sprüchen bei;  oder  man  führe  in  allem,  was  nicht  hörbar  ist,  die 
moderne  Orthographie  durch.  Die  beliebte  Ausgleichung  der  Ortho- 
graphie nach  der  Mehrzahl  der  Fälle  schafit  nur  Eonfusionen  und 
im  besten  Falle  halbes  Zeug;  ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Fest- 
stellung der  Mehrzahl  eine  Arbeit  ist,  die  ich  nicht  jedem  auf  Treu 
und  Glauben  hinnehme.  In  der  ausgezeichneten  Säkularausgabe  von 
Schiller  hat  man  z.  B.  >fodern<  nach  der  Mehrzahl  der  Fälle  in 
> fordern <  geändert;  bei  der  Schillerausstellung  in  Wien  1905  habe 
ich  aber  zufällig  Manuskripte  aus  verschiedenen  Zeiten  in  die  Hände 
bekommen,  wo  Schiller  stets  >fodem<  schrieb.  Es  ist  ein  einfacher 
Gewaltakt,  dem  Schriftsteller  in  Orthographie  und  Interpunktion  eine 
Konsequenz  aufzuzwingen,  die  er  nicht  gehabt  hat.  Weit  besser  ist 
es,  ihn  gleich  von  vornherein  unserer  heutigen  Konsequenz,  die  ja 
auch  noch  keine  strenge  ist,  zu  unterwerfen.  Schüddekopf  ist  sehr 
konservativ:  er  behält  sogar  »weise  und  nicht  purpurfarbene  Wolle« 


Heinse,  sämtliche  Werke,  hrsg.  v.  Schüddekopf  677 

(=  albus)  S.  102,  Z.  3  von  unten,  S.  93  Z.  12  von  unten,  S.  113 
Z.  3,  bei  und  verzichtet  also  auf  das  bei  den  modernen  Schulmeistern 
so  beliebte  Mittel,  den  Bedeutungsunterschied  durch  die  Orthographie 
anzuzeigen.  So  darf  er  auch  das  »Kissen<  nicht  von  den  >Küssen< 
unterscheiden. 

Den  ersten  Briefband,  der  ohne  kritischen  Anhang  erschienen 
ist,  lege  ich  bis  zum  Erscheinen  des  zweiten  zurück;  und  gebe  nur 
der  Hoilhung  Ausdruck,  daß  man  in  diesem  über  den  Zuwachs  von 
neuen  Briefen  und  über  die  früheren  Drucke  der  schon  bekannten 
Briefe  nicht  blos  im  Allgemeinen,  sondern  von  Nummer  zu  Nummer 
genau  orientiert  wird.  Bei  einer  modernen  kritischen  Ausgabe  sollte 
das  ja  selbstverständlich  sein  und  dennoch  geschieht  das  Selbstver- 
ständliche nicht  immer.  In  der  schönen  Ausgabe  der  Briefe  der 
Frau  Rat  zum  Beispiel  kann  man  sich  die  bisher  ungedruckten  Briefe 
herausklauben,  indem  man  sich  einmal  aus  den  Anmerkungen,  dann 
wieder  aus  dem  Personenregister  die  Druckorte  der  schon  bekannten 
zusammensucht,  was  ein  sehr  zeitraubendes  Geschäft  ist.  Es  hätte 
der  Ausgabe  in  weiteren  Kreisen  wirklich  nicht  geschadet,  wenn  die 
ungedruckten  mit  einem  Sternchen  und  die  schon  gedruckten  mit 
der  Chiffre  des  oder  der  früheren  Drucke  bezeichnet  worden  wären. 
Es  wird  heutzutage  so  vieles  zum  fünften  und  zehnten  Mal  gedruckt, 
daß  man  wirklich  nicht  verlangen  kann,  daß  einer  jedesmal  das 
ganze  Corpus  liest,  wenn  ein  paar  Briefe  neu  hinzugekommen  sind. 
Die  Methode,  die  uns  Zeit  und  Mühe  erspart,  ist  die  beste  unter 
allen,  wenigstens  für  den  kritischen  Herausgeber. 

Wien  J.  Minor 


Bernhard  Rudolf  Abeken«  Goethe  in  meinem  Leben.  Erinnerungen 
und  Betrachtangen.  Nebst  weiteren  Mitteüungen  über  Goethe,  Schiller, 
Wieland  and  ihre  Zeit  aus  Abekens  Nachlaß,  herausgegeben  von  Adolf 
Heuermann.   Weimar,  Hermann  Böhlaus  Nachfolger,  1904.  VHI,  278  S.  4M. 

Diese  Erinnerungen  eines  ganz  und  gar  Goethe  hingegebenen 
Verehrers  erinnern  in  mancher  Hinsicht  an  die  von  Graef  herausge- 
gebenen Briefe  des  jüngeren  Voss.  Es  ist  dieselbe  Neigung  und 
Fähigkeit,  sich  in  das  Wesen  eines  großen  Mannes  hineinzufühlen, 
dieselbe  Richtung  der  eignen  Persönlichkeit,  die  in  der  Verehrung 
des  Großen  ihr  wertvollstes  Leben  erkennt.  Aber  ein  bedeutender 
Unterschied  liegt  darin,  daß  Abekens  Eindrücke  und  Erinnerungen 
durch  das  Medium  späterer  Reflexion  und  reiferer  Lebensbeurteilung 
hindurchgegangen  sind;   es  fehlt  das  öfters  allzu  Naive  der  Voss- 

48* 


678  Gott.  gel.  A112.  1906.  Nr.  9 

sehen  Aufzeichnungen,  wobei  die  Bewunderung  für  Großes  und 
Kleines  sich  in  fast  kindlicher  Weise  vermischt.  Dabei  dürfte  Abeken 
trotzdem,  wenn  er  in  späterem  AJter  auf  den  Enthnsiasmns  seiner 
Jugend  zurückblickte,  sich  sagen,  daß  er  sich  als  acht  bewährt  habe, 
daß  er  selber  trotz  des  gereifteren  Urteils  doch  in  der  Pflege  jener 
Erinnerungen  noch  einen  Quell  fortwirkender  Lebenskraft  schätze 
durfte. 

Goethe,  dessen  gesamte  Persönlichkeit  ja  eigentlich  erst  seit 
einem  Menschenalter  uns  erschlossen  worden  ist,  hat  bei  Lebzeiten 
und  unter  der  nächstfolgenden  Generation  wenige  so  feinsinnige  und 
so  liebevoll  eingehende  Verehrer  gehabt  wie  Abeken,  der  gerade  ien 
schwer  verständlichen  oder  leicht  angreifbaren  Punkten  im  Wesen 
des  Dichters  besondere  Liebe  widmete,  um  die  zahllosen  daran  sich 
heftenden  schiefen  oder  bösartigen  Urteile  durch  tieferes  Verständnis 
zu  überwinden.  Dabei  hat  er  von  Goethe  zwar  Wohlwollen,  aber  doch 
bei  weitem  nicht  die  liebevolle  Fürsorge  und  Nachsicht  wie  Hemrich 
Voss  erfahren.  Seine  Verehrung  beruht  nicht  auf  Dankbarkeit,  son- 
dern sie  hätte  sich  das  schon  von  Goethe  selbst  ins  Ernste  ge- 
wandte Wort  aneignen  können:  >Wenn  ich  Dich  liebe,  —  was  gehts 
Dich  an?< 

Abeken,  in  Osnabrück  geboren,  bezog  1799  die  Universität 
Jena.  Die  gewaltige  geistige  Potenz,  die  sich  damals  dort  konzeat- 
triert  hatte,  wirkte  mächtig  auf  ihn,  besonders  Schellings  Lehre  und 
Vortrag.  Aber  noch  mehr  fühlte  er  sich  zu  der  geistigen  Sphäre 
Goethes  und  Schillers  ehrfurchtsvoll  hingezogen,  und  es  blieb  ihm 
zeitlebens  eine  der  wertvollsten  Erinnerungen,  daß  er  einmal  in 
Griesbachs  Hause  mit  beiden  Dichtem  zusammen  als  Gast  weQen 
durfte.  Nachdem  er  dann  von  1802—1808  in  Berlin  gelebt,  wo  sich 
seine  Abwendung  von  der  Romantik  und  die  unbedingte  Hingabe  an 
Goethe  entschied,  wirkte  er  von  1808—1810  als  Erzieher  der  Schiller- 
schen  Söhne  in  Weimar  und  gelangte  in  dieser  Zeit  auch  zu  näherem 
persönlichen  Umgang  mit  Goethe.  Daß  er  damals  in  der  Tat  schon 
zu  tieferem  Verständnis  Goethes  vorgedrungen  war,  bewies  er  da- 
durch, daß  er  einer  der  Wenigen  war,  der  die  von  den  Zeitgenossen 
so  seltsam  verkannten  und  mißverstandenen  >Wahlverwandt8chafteBc 
schon  bei  ihrem  Erscheinen  richtig  zu  schätzen  wußte.  —  Von  1810 
bis  1815  war  Abeken  dann  am  Rudolstädter  Gymnasium  tätig,  wo 
er  dem  Goetheschen  Kreise  auch  noch  nicht  ganz  entrückt  war. 
Darauf  in  seine  Vaterstadt  zurückgekehrt,  hat  er  mit  einer  nie  ver- 
blassenden Erinnerung  seine  Thüringer  Lebensjahre  stets  hoch  und 
wert  gehalten. 

In  seinen  Aufzeichnungen  sind  die  eigentlichen  Reminiszenzen 


Abeken,  Goethe  in  meinem  Leben  679 

an  Ooethe  nicht  grade  bedeutend.  Ihm  selbst  waren  besonders 
wertvoll  die  Fälle,  in  denen  er  durch  eigene  schriftstellerische 
Aeußerungen,  Rezensionen  u.  s.  w.  Goethes  Wohlgefallen  erregt  hatte. 
Für  uns  sind  seine  Reflexionen  gehaltreicher  als  das  beigebrachte 
tatsächliche  Material.  So  wird  man  über  daß  Problem  >Frau  von 
Stein  und  Christiane«  selten  so  verständnisvolle  und  wohl  abge- 
wogene Urteile  finden  wie  die  Abekens,  während  noch  neuerdings 
Christiane  durch  Bielschowsky  eine  so  stark  voreingenommene  Beur- 
teilung erfahren  hat. 

An  die  Goethe-Erinnerungen  schließt  sich  als  zweiter  Teil  der 
erste  originalgetreue  Abdruck  der  Aufzeichnungen  von  Abekens 
Gattin  über  ihre  mit  Schiller  geführten  Gespräche.  Unter  dem 
Mädchennamen  —  Christiane  von  Wurmb  —  der  Frau  Abeken  waren 
diese  Gespräche  schon  in  Caroline  von  Wolzogens  Schillerbiographie 
veröffentlicht  worden ;  jedoch  —  wie  wir  jetzt  erfahren,  mit  manchen 
Aenderungen.  Sehr  bedeutend  waren  diese  Aenderungen  freilich 
nicht;  um  so  weniger  erscheinen  sie  uns  heute  begreiflich.  Laien 
in  der  Editionskunst  finden  oft  den  unveränderten  Abdruck  »klein- 
lich«, in  Wirklichkeit  aber  sind  grade  derartige  Aenderungen  klein- 
lich. Es  ist  allerdings  fraglich,  ob  Frau  Abeken  Schillers  Gedanken 
immer  richtig  wiedergegeben  hat;  aber  die  Nachhilfe  einer  dritten 
Person  konnte  daran  nichts  bessern. 

Es  folgen  noch  > Weitere  Mitteilungen  über  Schiller  und  seine 
Familie  (aus  Abekens  Tagebuch  und  Briefwechsel)«.  Wie  fein  Abeken 
zu  urteilen  weiß,  möge  ein  Beispiel  zeigen  (S.  204.  205):  >In  den 
vortrefflichen  Briefen,  mit  denen  Schiller  die  Korrespondenz  mit 
Ooethe  eröfihet,  erregt  doch  eine  Stelle  mir  Anstoß.  ,So  wie  Sie 
von  der  Anschauung  zur  Abstraktion  übergingen,  so 
mußten  Sie  nun  rückwärts  Begriffe  wieder  in  Intuiti- 
onen umsetzen  und  Gedanken  in  Gefühle  verwandeln, 
weil  nur  durch  diese  das  Genie  hervorbringen  kann'. 
Sollte  es  so,  ich  möchte  fast  sagen,  mechanisch  bei  Goethe  zuge- 
gangen sein,  bei  ihm,  der  eine  wahre  Dichternatur  ist?  Schiller 
ging  hier  wohl  zu  sehr  von  Beobachtungen  aus,  die  er  in  ähnlichem 
Falle  an  sich  selbst  gemacht  hatte«.  Scharf  urteilt  Abeken  über 
Gervinus,  doch  nicht  ungerecht:  >Gervinus,  der  Deutsche,  hat  den 
Fremden,  Shakespeare,  recht  eigentlich  zu  seinem  Götzen  gemacht. 
Wo  er  nicht  umhin  kann,  Fehler  in  ihm  zu  finden,  fehlt  es  ihm  nie 
an  einer  Entschuldigung  oder  Rechtfertigung.  An  dem  Deutschen 
erfindet  er  Fehler,  oder  natürliche  Schwächen  macht  er  zu  solchen  <. 

Ueberall  aber  in  Anerkennung  wie  im  Tadel  bleibt  Abeken  sich 


680  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

selbst  getreu;  er  ist  einheitlich  in  seinem  Fühlen,  Denken   und  Ur- 
teilen. 

Ein  Brief  Ottiliens  von  Goethe  (4.  Juli  1861)  an  ihn  schließt 
das  Buch.  Nach  einer  begeisterten  Charakteristik  ihres  > Vaters« 
fügt  die  Schreiberin  hmzu:  »Der  Name  Äbeken  ist  längst  in  un- 
serer Familie  ein  Name,  den  wir  mit  herzlicher  Liebe  und  Dank 
barkeit  aussprechen«.  Dieser  Dankbarkeit  wird  sich  jeder  Leser 
heute  gern  anschließen. 

Stuttgart  0.  Harnack 


Maria  Raieh,  Fichte,  seine  Ethik  und  seine  Stellung  zu  dem 
Problem  des  Individualismus.  Tübingen ,  J.  C.  6.  Mohr  (Paul 
Siebeck),  1905.   VU,  196  S.   4M. 

Die  Verfasserin  gibt  eine  Darstellung  der  Fichteschen  Ethik. 
Mit  Recht  läßt  sie  einmal  alle  Fragen  nach  der  historischen  Be- 
dingtheit und  den  zusammenwirkenden  Einflüssen  bei  Seite  und 
unternimmt  den  Versuch  einer  rein  immanenten  Darstellung.  Es  ist 
das  bei  einem  so  geschlossenen  und  zentral  arbeitenden  Denker  auch 
durchaus  in  der  Ordnung.  So  fällt  als  ungesuchtes,  aber  nicht  un- 
wichtiges Nebenergebnis  die  Einsicht  in  die  innere  Einheit  und  kon- 
sequente Entwickelung  des  Fichteschen  Denkens  ab:  sein  Ichbegriff 
bereichert  und  expliziert  sich,  geht  aber  nicht  aus  dem  Rahmen  der 
ursprünglichen  Konzeption  heraus,  sondern  entfaltet  diese  nur  in 
ihren  Konsequenzen.  Die  Einflüsse  von  Kant,  Jacobi,  Schleiermacher, 
Pestalozzi  und  Rousseau  sind  dabei  nicht  geleugnet,  sondern  nur 
ihre  konsequente  Assimilierung  behauptet.  Die  zahlreichen  großen 
und  kleinen  Widersprüche,  die  jedem  Unternehmen  einer  System- 
bildung anhaften  müssen,  sind  dabei  gleichfalls  nicht  übersehen,  son- 
dern überall  mehr  oder  minder  deutlich  betont,  im  Ganzen  aber  mit 
Löwe  als  > Widersprüche  im  System  und  nicht  gegen  das  System< 
bezeichnet.  Freilich  hätte  gerade  bei  dieser  Frage  die  Darstellung 
schärfere  Linien  annehmen  müssen;  es  ist  vieles  in  Anmerkungen  er- 
örtert, was  in  den  Text  gehört,  und  auch  bei  der  Behandlung  dieser 
Dinge  im  Text  ihnen  nicht  der  nötige  Nachdruck  gegeben.  Gerade 
einer  immanenten  Darstellung,  die  die  Widersprüche  nicht  als  Fugen 
der  Komposition,  sondern  als  Näte  des  Gedankens  betrachten  muß 
und  nur  dadurch  den  Gedanken  selber  fortentwickeln  kann,  wäre 
das  sehr  zu  wünschen  gewesen.    Eine  bestimmtere  Stellungnahme 


Raich,  Fichte  681 

ZU  den  Erkenntniszielen  Fichtes  und  eine  stärkere  Charakterisierung 
der  dabei  zu  Überwindenden  oder  sich  ergebenden  Schwierigkeiten 
würde  der  Arbeit  mehr  Charakter  und  Nachdruck  gegeben  haben. 

Sieht  man  aber  davon  ab,  so  ist  die  Darstellung  außerordentlich 
fein  durchgedacht,  vollständig  und  gut  aufgebaut.  Die  Verfasserin 
entwickelt  zunächst  die  Grundzüge  des  Fichteschen  Denkens,  dessen 
Charakter  sie  in  der  unlösbaren  Verschmelzung  der  theoretischen 
und  praktischen  Philosophie  erblickt;  dann  die  theoretische  Speku- 
lation und  schließlich  auf  der  vorbereitenden  Grundlage  der  Rechts- 
lehre die  praktische  Philosophie  oder  Ethik.  Hier  ist  freilich  nicht 
alles  ganz  durchsichtig  und  die  Einteilung  der  Darstellung  nicht 
zweckmäßig,  insofern  die  >  allgemeine  Charakteristik  €  noch  neben 
>der  Dar8tellung<  einen  besonderen  Paragraphen  bildet  und  die  Re- 
ligionslehre etwas  stiefmütterlich  behandelt  ist.  Oft  sind  größere 
Zitate  gegeben  oder  es  wird  mit  Fichtes  eigenen  Worten  geredet, 
wo  gerade  eine  Erklärung  und  erläuternde  Umschreibung  dringend 
nötig  gewesen  wäre.  An  die  Darstellung  der  Ethik  reiht  sich  die 
besondere  Behandlung  des  Individualitätsproblemes  bei  Fichte.  Es 
ist  von  der  Verfasserin  wesentlich  als  ethisches  Problem  der  Wertung 
des  Individuums  im  Verhältnis  zu  der  nur  in  der  Gesamtheit  auszu- 
gestaltenden objektiven  ethischen  Idee  aufgefaßt.  Die  allgemeine  theore- 
tische, logische  und  metaphysische  Bedeutung  der  Individualisation  ist 
dabei  nur  gestreift;  die  dieses  Problem  ausführlich  behandelnde  Arbeit 
von  Lask  > Fichtes  Geschichtsphilosophie«  gar  nicht  erwähnt.  Es 
handelt  sich  mehr  um  das  Problem  des  Verhältnisses  von  Indivi- 
dualismus und  Sozialismus,  das  die  Verfasserin  mit  Recht  nicht  fur 
ein  eigentlich  Fichtesches  Problem  hält,  da  für  Fichte  alles  an  den 
objektiven  Werten  der  Idee  liegt.  Sehr  gut  ist  aber  betont,  wie 
weit  Fichte  hierbei  doch  in  der  Wertung  des  Individuellen  geht. 
Der  ethische  Wert  der  individuellen  Persönlichkeit,  die  Bedeutung 
der  Heroen  in  der  Geschichte,  die  Notwendigkeit  der  Massenhebung 
und  Erziehung,  die  Unsterblichkeit  als  Fortentwickelung  des  Indi- 
viduums, alle  diese  Punkte  sind  fein  hervorgehoben  und  ebenso 
fein  gegen  die  objektivistische,  universale,  demokratische  und  imma- 
nente Tendenz  Fichtes  kontrastiert:  »Und  wenn  die  Persönlichkeit 
doch  keinen  Wert  an  sich  in  seinen  Augen  besaß  und  sein  Werten 
derselben  nicht  definitiv  zur  Ruhe  kam,  so  hielt  er  doch  bei  ihr 
lange  inne,  bevor  er  über  sie  zur  Gattung  und  zur  reinen  Vernunft 
hinwegschritt«  S.  177.  Damit  ist  das  große  Problem  des  Fichteschen 
und  alles  Denkens  berührt,  die  rational-allgemeinen  und  die  indi- 
viduell-tatsächlichen Züge  der  Wirklichkeit  zusammenzudenken,  das 


682  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Rational-Deduktive  und  das  Irrational-Originale  gegenseitig  zu  durch- 
dringen. 

Hier  hätte  die  Arbeit  tiefer  gehen  können.  Aber  sie  wollte 
offenbar  nicht  selbst  an  den  Problemen  arbeiten.  Sie  wollte  mög- 
lichst getreu  darstellen  und  mit  treffenden  Exzerpten  belegen.  Das 
ist  ihr  jedenfalls  in  erfreulichem  Grade  gelungen;  und,  wenn  auch 
eine  solche  Arbeit  die  Kenntnis  der  Originale  nicht  ersetzen  kann, 
so  erfüllt  sie  doch  von  neuem  mit  Staunen  über  die  ungeheure  Ideen- 
fülle Fichtes  und  treibt  dazu,  von  neuem  die  Originale  zu  studieren. 
Von  den  vielen  berechtigten  Wiederbelebungen  der  Ideen  vor  hundert 
Jahren  scheint  mir  die  der  Fichteschen  eine  der  hoffnungsvollsten 
zu  sein. 

Heidelberg  Troeltsch 


£•  Faelis»  Vom  Werden  dreier  Denker.  Was  wollten  Fichte, 
Schelling  und  Schleier  macher  in  der  ersten  Periode  ihrer 
Entwicklung?  Tübingen,  J.  G.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck),  1904.  XXIY, 
381  S.   6M. 

Das  vorliegende  Buch  gehört  unter  die  heute  nicht  seltenen 
Bücher,  die  nur  Anregung  und  Einleitung  zur  Lektüre  anderer  sein 
wollen  und  für  sich  selbst  keine  eigentliche  Förderung  der  in  jenen 
Büchern  verhandelten  Probleme  zu  geben  beanspruchen.  Ihr  Cha- 
rakter ist:  viel  Exzerpte  und  viel  Enthusiasmus.  So  ist  es  die 
Ueberzeugung  des  Verfassers,  daß  der  neue  Idealismus,  den  wir 
brauchen,  nur  aus  der  Wiedererweckung  des  alten  deutschen  Idealis- 
mus erwachsen  könne  und  daß  unter  seinen  Vertretern  insbesondere 
Schleiermacher  eine  nicht  entfernt  genügende  Beachtung  und  Nach- 
folge gefunden  habe.  Weil  Schleiermachers  Anfänge  nach  der  An- 
sicht des  Verfassers  vorwiegend  eine  Auseinandersetzung  mit  Fichte 
sind,  so  stellt  er  zunächst  sehr  eingehend  die  Fichtesche  Wissen- 
schaftslehre dar.  Und  weil  Schelling  eine  Art  Mittelstellung  zwischen 
Fichte  und  Schleiermacher  bedeutet,  so  behandelt  er  auch  Schelling, 
freilich  nur  in  der  Periode,  die  vor  dem  Uebergang  zum  Identitäts- 
system liegt  und  die  auf  Schleiermacher  nicht,  jedenfalls  nicht  in 
dem  hier  behandelten  Zeitraum,  gewirkt  hat.  Darauf  folgt  dann  die 
Darstellung  Schleiermachers  bis  zum  Jahre  1804,  d.  h.  vor  seiner 
näheren  Berührung  mit  Schelling.  Die  Auseinandersetzung  Schleier- 
machers mit  dem  letzteren  betrachtet  der  Verfasser  als  ein  zu  wich- 
tiges und  großes  Thema,  als  daß  er  es  in  diesem  Buche  mit  hätte 
erledigen  können.   Auch  die  Beziehungen  Schleiermachers  zu  Herder 


Fachs,  Vom  Werden  dreier  Denker  683 

deutet  er  nur  an,  schließt  aber  dieses  Thema  gleichfalls  als  besonders 
sdbwer  £aßbar  und  mühsam  von  seiner  Untersuchung  aus.  Dadurch 
bekommt  das  Buch  einen  etwas  uneinheitlichen  und  unfertigen  Cha- 
rakter. Entstanden  ist  es  zweifellos  als  eine  Untersuchung  zur 
Bildungsgeschichte  Schleiermachers;  es  ist  die  in  einer  früheren  Ar- 
beit des  Verfassers  »Schleiermachers  Religionsbegriff  und  religiöse 
Stellung  zur  Zeit  der  ersten  Ausgabe  der  Redenc  (Giessen  1901) 
S.  87  versprochene  Studie  über  das  Verhältnis  Schleiermachers  zu 
Fichte  und  Schelling.  Aber  das  nun  erschienene  Buch  behandelt  nur  das 
Verhältnis  zu  Fichte  und  schließt  das  noch  sehr  wenig  geklärte,  der 
Untersuchung  äußerst  bedürftige  Verhältnis  zu  Schelling  aus.  Trotz- 
dem aber  gibt  es  eine  Darstellung  Schellings,  und  die  von  Fichte 
geht  weit  über  das  Bedürfnis  der  Aufklärung  von  Schleiermachers 
Bildungsgeschichte  hinaus.  Offenbar  hat  den  Verfasser  bei  der 
Lektüre  für  seine  geplante  Darstellung  die  Begeisterung  für  diese 
beiden  Denker  erfaßt,  und  aus  der  Untersuchung  zur  Bildungsge- 
schichte Schleiermachers  ist  ein  Buch  über  >das  Werden  dreier 
Denker<  geworden,  das  nun  zwischen  dem  Charakter  einer  Studie 
zur  Erklärung  Schleiermachers  und  dem  eines  Hymnus  auf  drei  sehr 
verschiedenartige,  sich  unter  einander  vielfach  ausschließende  Denker 
schwankt.  So  ist  es  schwer,  aus  dem  übrigens  fleißigen  und  an- 
regungsreichen Buche  klug  zu  werden.  Man  kann  sich  nicht  für  drei 
so  verschiedenartige  Theorien  zugleich  begeistern,  wenn  es  einem 
nicht  etwa  auf  die  Begeisterung  als  solche  ankommt,  und  die  neben- 
bei gegebenen  kritischen  und  problemgeschichtlichen  Andeutungen 
sind  zu  schwach,  zu  wenig  von  einer  bestimmten  eigenen  Auffassung 
und  Beherrschung  der  Probleme  getragen,  als  daß  sie  eine  erhebliche 
wissenschaftliche  Förderung  bedeuten  könnten.  Das  ist  um  so  mehr 
zu  bedauern,  als  der  Verfasser  in  seiner  bereits  angeführten  früheren 
Arbeit  einen  recht  beachtenswerten  Beitrag  zur  Schleiermacher- 
Forschung  gegeben  hat.  Es  ist  sehr  zu  wünschen,  daß  er  seine  Ab- 
sichten bezüglich  Schellings  und  Herders  noch  ausführt  und  dann 
strenger  in  eine  eigentlich  probiemgeschichtliche  Darstellung  eingeht. 
Das  Buch  nimmt  seinen  Anfang  mit  einer  Zeichnung  der  Lage, 
aus  der  die  Probleme  der  drei  Denker  herausgewachsen  sind.  Es  habe 
gerade  die  ethische  Selbstbesinnung  zum  Determinismus  geführt,  in- 
dem das  Sittliche  selbst  zu  seinem  eigenen  Verständnis,  für  die 
Selbstbildung  und  für  Beurteilung  wie  Erziehung  anderer  den  De- 
terminismus fordere.  Aber  diese  Forderung  führe  die  Ethik  in  einen 
schweren  Selbstwiderspruch,  aus  dem  sie  die  richtig  verstandene 
Freiheit  gegen  die  Gefahr  einer  Auslieferung  der  Ethik  an  die  me- 
chanische Kausalitätsbetrachtung  wieder  herstellen  müsse.    Der  Ver- 


684  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

fasser  verallgemeinert  hier  offenkundig  die  Auffassung,  die  der  junge 
Schleiermacher  von  der  Lage  hatte.  Es  ist  weder  für  Fichte  noch 
für  Schelling  der  Ausgangspunkt,  wie  überhaupt  der  moderne  De- 
terminismus nicht  in  der  Ethik,  sondern  in  den  Naturwissenschaften 
und  der  von  ihnen  inspirierten  Metaphysik  und  Psychologie  seinen 
eigentlichen  Grund  hat.  Andererseits  ist  auch  die  Behauptung  der 
Freiheit  gegen  den  Determinismus  gar  nicht  das  Ziel  aller  dieser 
Denker;  es  ist  nur  das  Ziel  Fichtes;  Schelling  erstrebt  nur  die  un- 
endliche progressive  Schaffenskraft  des  Absoluten  und  Schleier- 
macher nur  die  Unterscheidung  einer  sinnlichen  und  einer  geistigen 
Motivation,  die  aber  jede  für  sich  und  in  ihrem  gegenseitigen  Ver- 
hältnis durchaus  deterministisch  beurteilt  werden.  Die  Einleitung  ist 
ein  Versuch,  dem  Buch  eine  einheitliche  Problemstellung  und  ein 
begriffliches  Ziel  zu  geben,  aber  der  Versuch  mißlingt  von  An- 
fang an. 

Die  Darstellung  Fichtes  durch  den  Verfasser  zeigt  sehr  schön 
die  gewaltige  Denkenergie  und  die  große  Persönlichkeit  des  Mannes. 
Allein  der  kritische  Versuch  des  Verfassers,  den  rein  ethisch  moti- 
vierten Idealismus  und  den  erkenntnistheoretisch  (wofür  der  Ver- 
fasser immer  > psychologische  sagt)  begründeten  Idealismus  gegen- 
einander in  scharfen  Widerspruch  zu  stellen  und  den  letzteren  als 
Verderbung  des  ganzen  Systems  zu  verwerfen,  scheint  mir  die  Gegen- 
sätze stark  zu  übertreiben  und  ist  jedenfalls  philosophisch  ganz  un- 
haltbar. Will  man  den  Eonsequenzen  des  Fichteschen  »Atheismusc 
entgehen,  dann  sind  jedenfalls  andere  Mittel  zu  ergreifen  als  eine 
solche  Amputation,  bei  der  nichts  Lebensfähiges  übrig  bleibt. 

Viel  kürzer  und  ohne  kritische  Beigaben,  übrigens  aber  sehr 
anziehend  ist  die  Darstellung  Schellings.  Indem  Schelling  das 
ethische  Moment  des  Idealismus  zur  progressiven  Auswirkung  des 
Geistes  in  der  Natur  und  über  die  Natur  werden  läßt  und  die  Frei- 
heitstat zur  intellektualen  Anschauung  von  der  inneren  Einheit  des 
Geistes  und  der  Natur  einschrumpfen  läßt,  nähert  er  sich  dem  Iden- 
titätssystem, damit  einer  Auffassung,  der  die  Sympathie  des  Ver- 
fassers nicht  gehört.  Er  hebt  nur  die  in  der  Tat  glänzenden  Aus- 
führungen über  Dogmatismus  und  Idealismus  heraus  und  den  Begriff 
der  intellektualen  Anschauung,  der  auch  für  Schleiermacher  Bedeu- 
tung hat,  nur  freilich  von  diesem  psychologisch  gewendet  wird.  Aus 
der  erkenntnistheoretisch-metaphysischen  Position  der  intellektualen 
Anschauung  von  dem  Hervorgehen  der  Wirklichkeit  aus  der  Produk- 
tion des  Geistes  wird  bei  Schleiermacher  die  » Anschauung  <  von 
geistigen  Einheiten,    übersinnlichen  Realitäten  als  empirisch-psycho- 


Fuchs,  Vom  Werden  dreier  Denker  686 

logischer  Faktor.    Hiermit  ist  jedenfalls  ein  treffender  Hinweis  ge- 
geben. 

Am  meisten  literar-  und  problemgeschichtliche  Forschung  steckt 
in  der  Darstellung  Schleiermachers.  Er  wird  zunächst  in  seiner 
Stellung  Kant  gegenüber  geschildert,  wobei  der  Verfasser  mit  Dilthey 
das  Studium  Kants  als  den  wichtigsten  Ausgangspunkt  Schleier- 
machers betrachtet.  Von  Kant  übernimmt  er  die  Skepsis  gegenüber 
jeder  wissenschaftlichen  Metaphysik;  insbesondere  aber  setzt  er  die 
ethische  Analyse  Kants  mit  großer  Selbständigkeit  und  Nachdrück- 
lichkeit fort.  Dabei  ist  es  charakteristisch,  daß' Schleiermacher  alle 
erkenntnistheoretisch-aprioristischen  Sätze  Kants  in  psychologisch- 
empirische verwandelt,  die  metaphysische  Freiheitslehre  abstößt  und 
die  Ethik  auf  einen  rein  empirisch-psychologischen  Determinismus 
stellt.  Er  behauptet  nur  die  ideelle  Motivation  neben  der  sinnlich- 
eudämonistischen  als  einen  von  der  Selbsterziehung  und  Selbstbildung 
zu  steigernden  empirisch-psychologischen  Faktor.  Hierbei  ergeben  sich 
als  weitere  psychologische  Begriffe  die  Ideen  der  Individualität,  der 
geistigen  Selbstanschauung,  in  der  dem  Gemüt  und  der  Phantasie  ein 
Ideal  des  eigenen  Selbst  entsteht,  der  analogen  Anschauung  von  der 
fremden  Individualität,  der  sich  gegenseitig  ausbildenden,  durchdringen- 
den und  fördernden  Gemeinschaft  der  Individuen.  Dabei  sind  die  mensch- 
lichen Persönlichkeiten  Stufen  der  Ausbildung  des  Geistes  aus  der 
ihm  zum  Substrat  dienenden  Natur  heraus  und  berufen,  durch  gegen- 
seitige Ausbildung  und  Verschmelzung  der  Individualitäten  in  das 
vollendete  Geisterreich  hineinzuwachsen,  von  dem  sich  kein  mensch- 
liches Denken  eine  Vorstellung  machen  kann.  Nach  des  Verfassers 
Auffassung  ist  diese  das  Eigen-Individuum  durch  die  fremden  ergän- 
zende und  die  Natur  der  sittlichen  Ausbildung  der  Individuen  unter- 
werfende Ethik  zugleich  Schleiermachers  Realismus,  die  Durch- 
brechung des  erfahrungs-immanenten  Kantischen  Kritizismus  durch 
eine  echte  Erkenntnis  von  transsubjektiver  Wirklichkeit.  Wie  frei- 
lich durch  bloße  Psychologie  ein  derartiges  Ergebnis  erreicht  werden 
könne,  das  ist  dem  Verfasser,  der  selber  Kant  durchaus  psychologistisch 
auffaßt,  kein  Problem.  In  diesem  Punkte  ist  des  Verfassers  eigenes 
Denken  offenbar  sehr  unentwickelt;  ihm  macht  es  gar  keine  Schwierig- 
keit, aus  psychologischen  Daten  metaphysische  Realitäten  als  die 
.  diese  Wirkungen  hervorbringenden  Ursachen  zu  erschließen.  Er  achtet 
daher  gar  nicht  auf  die  Frage,  ob  Schleiermacher  das  im  Ernst  ge- 
wollt haben  könne,  ob  er  Kant  so  mißverstanden  habe,  um  ihn  derart 
> realistisch  <  korrigieren  zu  wollen,  ob  er  sich  mit  den  erkenntnistheoreti- 
schen Prinzipien  Kants  überhaupt  auseinandergesetzt  habe.  Er  bebt 
nur  billigend  diese  auf  die  Ethik  begründete  Richtung  zum  >Reali8- 


686  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Kr.  9 

mus<  hervor  und  entwickelt  aus  dem  BedürMs  nach  Vollendung  dieses 
Realismus  die  Heranziehung  der  Religion.  Auch  hier  läßt  er  Schleier- 
macher lediglich  psychologisch-metaphysisch  argumentieren.  Die  Ana- 
lyse des  religiösen  Vorgangs  ergibt  für  die  psychologische  Betrach- 
tung den  Glauben  an  ein  Handeln  des  >Universumsc  auf  die  Seele, 
aus  welchem  Handeln  eine  konkrete,  durch  irgend  eine  endliche  An- 
regung vermittelte  > Anschauung <  vom  Universum  entstehe,  ver- 
gleichbar der  Erfassung  des  eigenen  oder  des  fremden  individuellen 
Selbst  in  der  geistigen  Anschauung  des  Gemütes.  Diese  Anschauung 
ist  von  Gefühlen  begleitet,  welche  wieder  weiter  in  die  Anschauung 
hineintreiben,  und  wird  von  der  Phantasie  nach  Analogie  des  in  der 
Individualitäts-Anschauung  gegebenen  Bildes  einer  geistigen  Totalität 
ausgedeutet.  So  wird  das  die  Anschauung  erregende  und  von  der 
Phantasie  ausgedeutete  Universum  das  eigentlich  Reale,  das  die 
Einzelgeister  und  die  Natur  zugleich  trägt  und  in  einer  gemeinsamen 
Wirklichkeit  zu  einer  großen  Harmonie  verbindet.  Wie  es  möglich 
ist,  aus  dem  so  beschriebenen  psychologischen  Faktum  die  reale 
Existenz  dieses  > handelnden  Universums«,  dieses  > Universums  von 
eigener  Individualität  und  eigenem  Charakter«  zu  erschließen,  davon 
ist  hier  wieder  nicht  die  Rede.  Wir  müssen  uns  mit  folgenden  ganz 
dunkeln  Andeutungen  begnügen:  »Also  wie  jeder  sinnlichen  An- 
schauung eine  Berührung  mit  der  Außenwelt  vorangeht,  die  an  der 
Grenze  des  Bewußtseins  liegt  und  erst  in  der  Erregung  der  Ge- 
fühle und  der  Anschauung  bewußt  wird,  so  jeder  religiösen  auch 

Von  diesem  Augenblick  kann  also  auch  die  Erfahrung  nichts  aus- 
sagen. Ihr  ist  er  zu  unzugänglich.  Der  Glaube  an  seine  (des 
Augenblicks!)  Realität  ist  aber  gewissermaßen  der  Glaube  an 
die  Realität  der  Religion,  der  Glaube,  daß  die  Anschauung 
kein  Gebilde  des  Menschen  ist,  sondern  durch  die  Berührung  mit 
dem  Universum  draußen  wirklich  hervorgerufen«  (S.  372 f.). 
Dieses  Spiel  mit  > innen«  und  > außen«,  diese  gröbste  Voraussetzung 
der  Introjektion,  dieses  »Universum  draußen«  mit  seinen  Wir- 
kungen auf  den  Menschen,  alles  das  ist  nicht  in  dem  Sinne  irgend 
eines  echten  Idealismus,  auch  nicht  im  Sinne  des  Schleiermacher- 
schen.  Es  ist  schon  durch  die  Bezeichnung  des  religiösen  Objektes  als 
»Universum«  ausgeschlossen,  wie  ja  Fuchs  es  konsequent  unterläßt, 
die  Frage  nach  den  Gründen  der  Ersetzung  des  Begriffes  >Gott€ 
durch  den  >des  Universums«  aufzuwerfen.  Das  Universum  hat  doch 
wohl  nichts,  was  außer  ihm  ist.  Das  > Handeln  des  Universums«  in 
der  »religiösen  Anschauung«  muß  auch  schon  in  diesem  Stadium  des 
Schleiermacherschen  Denkens  einen  anderen  Sinn  haben,  als  den  der 
subjektiven  Formung  einer  vom  transzendenten  Objekte  bewirkten  Er- 


Fuchs,  Vom  Werden  dreier  Denker  687 

regung.  Es  ist  freilich  eine  richtige  Beobachtung,  daß  Schleiermacher 
alles  zunächst  psychologisch  wendet  und  daß  seine  eigentliche  Meister- 
schaft in  der  beobachtenden,  nachempfindenden  Psychologie  besteht;  auch 
ist  anzuerkennen,  daß  Schleiermachers  Erkenntnistheorie  und  Erweisung 
des  Realen  immer  der  schwierigste  Teil  seiner  Lehre  geblieben  ist;  aber 
eine  solche  erkenntnistheoretische  Unschuld,  wie  sie  der  Verfasser  hier 
Schleiermacher  zuschreibt  und  offenbar  selbst  besitzt,  hat  der  wirk- 
liche Schleiermacher  seit  seinen  Kantstudien  nie  gehabt.  Es  ist  daher 
völlig  unmöglich,  den  von  Schleiermacher  behaupteten  Wahrheits- 
gehalt der  religiösen  Erkenntnis  mit  dem  Verfasser  so  zu  formu- 
lieren: >Was  die  religiöse  Anschauung  dem  Menschen  erschließt,  ist 
also  geistiges  Wesen  (d.  h.  das  Universum  als  geistiges  Wesen). 
Geistiges  Wesen  wird  wie  bei  anderen  Menschen,  so  auch  hier  (d.  h. 
beim  Universum!)  nur  erkannt  und  verstanden  nach  Analogie  des 
eigenen  geistigen  Wesens.  Von  derselben  Kraft,  die  dieses  ver- 
standen hat  (d.  h.  von  Gemüt  und  Phantasie),  wird  die  religiöse  An- 
schauung gebildet,  wie  von  der  Sinnlichkeit  die  sinnliche  (d.  h.  nach 
der  Meinung  des  Verfassers  wie  von  den  subjektiven  Kategorien  der 
Sinnlichkeit  das  sie  erregende  Objekt)«  S.  373.  Der  Verfasser  hat 
sich  offenbar  nie  den  Unterschied  zwischen  Psychologie  der  Religion 
und  Erkenntnistheorie  der  Religion  klar  gemacht.  Man  wird  das  frei- 
lich in  gewissem  Maße  auch  Schleiermacher  selbst  vorwerfen  müssen ; 
aber  immerhin  der  Ausdruck  :» ursprünglich«,  den  Schleiermacher  mit 
Vorliebe  für  die  religiöse  Anschauung  gebraucht  und  der  wohl  nur  als 
eine  der  in  den  Reden  üblichen  Verdeutschungen  gleich  apriorisch  sein 
soll,  bedeutet  die  Verlegung  des  letzten  Kernes  der  religiösen  Anschauung 
in  ein  Gesetz  der  Bewußtseinsfunktionen ;  psychologisch  gemeint  ist  nur 
die  Darstellung  der  jedesmaligen  konkreten  Aktualisierung;  nur  ist 
beides  nicht  recht  unterschieden.  Jedenfalls  aber  war  die  in  seine  Reli- 
gionspsychologie eingewickelte  Erkenntnistheorie  doch  nie  so  ele- 
mentar und  naiv.  Das  Handeln  des  geistigen  Universums  ist  doch 
immer  nur  ein  Handeln  des  göttlichen  Allbewußtseins  in  seinen  ein- 
zelnen individuellen  Teilbewußtseinen,  deren  von  ihnen  vorgestellter 
Leib  die  Natur  ist,  und  alle  Erregung  der  religiösen  Anschauung  in 
den  >für  geistige  Werte  gebildeten«  Gemütern  ist  so  doch  nur  irgendwie 
ein  Handeln  des  Universums  auf  sich  selbst.  Aber  darin  hat  allerdings 
der  Verfasser  Recht,  wenn  er  den  progressiv -ethischen  Charakter 
dieses  Universums  oder  einfacher  den  bei  alier  Ablehnung  der  eigent- 
lichen Persönlichkeit  doch  geistig-theistischen  Gottesbegriff  hervor- 
hebt, der  noch  nicht  durch  den  späteren,  unter  Schellingschem  Ein* 
fluß  angenommenen  Gottesbegriff  der  absoluten  Einheit,  Indifferenz 
und  Identität  unsicher  gemacht  ist.   Auch  das  wird  richtig  sein,  daß 


688  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

die  Reden  in  den  Atheismusstreit  eingreifen  und  Fichte  zwar  Reli- 
gion, aber  nicht  das  richtige  Verständnis  der  Religion  zusprechen. 
Ueberhaupt  wird  die  Behauptung  zutreffen,  daß  diese  Periode  stark 
von  Fichte  beeinflußt  ist  und  von  ihm  nur  in  der  Feinheit  der  Psy- 
chologie, in  der  Betonung  des  Individualitätsbegriffes,  in  der  Be- 
tonung der  fremden  Iche  und  in  dem  Realismus  der  Gottesidee 
sich  unterscheidet.  Das  >Universum<  ist  eine  Umformung  des  >ab80- 
luten  Ich<.  Aber  gerade  dann  hätte  der  stark  erkenntnistheoretische, 
auf  Gesetze  des  Bewußtseins  hinausgehende  Charakter  seiner  Argu- 
mentation mehr  hervorgehoben  werden  müssen.  Hier  rächt  sich  die 
Unterschätzung  des  theoretischen  Teils  der  Fichteschen  Lehre. 

Der  Hauptwert  des  Buches  ist  der  einer  Schleiermacher-Studie. 
In  dieser  Richtung  ist  ihr  m.  E.  zutreffendes  Ergebnis,  daß  die  An- 
fänge Schleiermachers  von  Kant  ausgehen,  seine  ersten  schrift- 
stellerischen Entfaltungen  aber  von  der  positiven  und  negativen  Aus- 
einandersetzung mit  Fichte  inspiriert  sind.  Er  hat  vor  Fichte  den 
Vorzug  der  feineren  psychologischen  Beobachtung  und  psychologisiert 
alle  Fichteschen  Ideen,  worüber  er  freilich  die  erkenntnistheoretische 
deduktive  Strenge  verliert,  aber  engere  Fühlung  mit  dem  Leben  ge- 
winnt. Insbesondere  beherrscht  ihn  auch  von  Fichte  her  ein  unbe- 
dingter Progressismus,  sein  Universum  ist  ein  lebendiges  Wirken 
auf  ethische  Ziele  hin,  die  spätere  Aufnahme  der  Schellingschen 
Identitäts-  und  Indifferenzlehre,  die  Verwandlung  des  Werdens  in 
Mischungszustände  von  jeweiligem  Ueberwiegen  des  einen  oder  an- 
deren Grundelementes,  ist  eine  Störung  dieser  Grundkonzeption,  aber 
durch  das  Bedürfnis  nach  einem  stärkeren  religiösen  Realismus  ver- 
ursacht. 

Heidelberg  Troeltsch 


Kurt  Breysig,  Die  Entstehung  des  Gottesgedankens  und  der 
Heilbringe r.   Berlin,  Bondi  1905.   XI 202  S.   2,50 M. 

»Ich  bin  genötigt,  hier  auf  die  Gesamtschilderung  der  Urzeits- 
und Altertumsstufe  zu  verweisen,  sowie  auf  die  Lehre  vom  Stufen- 
bau aller  Völkergeschichte  überhaupt,  die  ich  nicht  von  neuem  vor- 
tragen kannc  (S.  180).  Diese  für  den  Ton  des  ganzen  Buches 
charakteristische  Anmerkung  zeigt,  daß  die  eigentlichen  Voraus- 
setzungen des  Buches  außerhalb  desselben  liegen  und  die  in  Wahr- 
heit entscheidende  Rolle  spielen.  Es  sind  Voraussetzungen,  die  die 
Lehren  der  Biologie  von  dem  somatischen  Gebiete  auf  das  geistig- 
kulturliche  und  damit  die  »Entwickelungslehre<  von  dem  ersten  auf 
das  zweite  übertragen.    In  der  Biologie  ist  der  Ausgangspunkt  in 


Breysig,  Entstehung  des  Gottesgedankens  689 

der  Zelle  und  das  Ende  im  Menschen  gegeben;  der  Raum  da- 
zwischen wird  dann  in  der  Weise  kontinuierlich  ausgefüllt,  daß  das 
erreichbare  Material  in  einer  kontinuierlichen  Linie  kleinster  lieber- 
gänge  aneinandergereiht  wird,  wobei  das  vorhandene  Beobachtungs- 
material oft  freilich  nur  vereinzelte  und  singulare  Fälle  betrifft,  aber 
dann  wegen  Untergangs  oder  Unbekanntheit  weiterer  Vertreter  dieser 
Arten  als  artvertretend  aufgefaßt  werden  darf,  wobei  ferner  etwa  übrig 
bleibende  Lücken  durch  konstruierte  Zwischenglieder  ausgefüllt  werden 
in  der  gelegentlich  ja  auch  bestätigten  Erwartung,  daß  diese  kon- 
struierten Glieder  von  wirklichen  Funden  noch  bestätigt  werden. 
Daß  in  dem  Verfahren  viel  problematisches  überbleibt,  daß  die  Eon- 
tinuierlichkeit  doch  keine  unbedingte  ist,  daß  die  bloße  ideelle  Ein- 
fügungsmöglichkeit noch  kein  Beweis  wirklichen  Abstammungszu- 
sammenhanges ist,  daß  in  der  Aufeinanderfolge  und  Entwickelungs- 
richtung  alle  Probleme  der  teleologischen  Metaphysik  erhalten  bleiben 
trotz  aller  Entwickelungs-Mechanik,  ist  bekannt:  es  ist  mehr  ein 
Forschuugs-  als  ein  Erklärungsprinzip.  Aehnlich  verfährt  hier  der 
Historiker  der  Beligion  der  Menschheit.  Er  hat  oder  glaubt  in  der 
Hand  zu  haben  Anfangs-  und  Endpunkt  und  füllt  den  Zwischenraum 
durch  kontinuierlich  geordnete  Arten,  artvertretende  Fälle  und  kon- 
struierte Mittelglieder .  aus,  wobei  er  die  Materialien  ohne  jede  Bück- 
sicht auf  Zeit  und  Ort  aus  der  großen  ethnographischen  und  religions- 
geschichtlichen Literatur  entnehmen  kann;  vermöge  der  Theorie 
von  dem  Verharren  der  Wilden  auf  der  Urzeitstufe,  wobei  ins- 
besondere Australien  ein  > lebendiges  Urzeitmuseum  der  Menschheitc 
(S.  63)  ist,  und  der  Theorie  von  den  Ueberlebseln  und  Wieder- 
auf lebsein  steht  das  Material  in  der  Tat  in  beliebiger  Fülle  zur  Ver- 
fügung und  kommt  es  nur  auf  den  konstruierenden  Scharfsinn  und 
auf  den  divinatorisch-psychologischen  Blick  für  die  Uebergänge  und 
Anknüpfungen  an.  Ob  diese  Verwandtschaften  und  Zusammen- 
hänge nur  Möglichkeiten  sind  oder  ob  sie  auf  nachweisbarem  wirk- 
lichen Abstammungszusammenhang  beruhen,  das  >sind  von  der  Ent- 
wickelung  selbst  gebotene  und  daher  schließlich  zu  überwältigende 
Unsicherheiten«  (S.  48).  Es  genügt,  wenn  an  einigen  Hauptstellen 
der  Bealzusammenhang  gezeigt  ist,  um  ihn  für  das  übrige  wahr- 
scheinlich zu  finden.  Es  ist  nicht  die  Arbeit  eines  Philologen  oder 
Ethnographen,  der  von  einem  bestimmten  Fachgebiet  her  arbeitet, 
sondern  die  eines  reinen  Entwickelungstheoretikers,  der  die  von  an- 
deren beschafften  Materialien  so  ordnet,  wie  es  die  >Entwickelung 
gebietet«.  Freilich  fehlt  dem  Verfasser  die  Voraussetzung,  unter  der 
streng  genommen  allein  so  geredet  werden  darf,  die  Hegeische 
Entwickelungslehre,  in  der  die  göttliche  Vernunft  sowohl  die  Ent« 


690  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

Wickelung  hervorbringt  als  auch  im  Wesen  der  sich  durch  Entgegen- 
setzungen hindurch  bewegenden  Vernunft  ein  Gesetz  ihrer  Aufein- 
anderfolge enthält.  Der  Verfasser  kann  nur  nach  dem  Prinzip  der 
Kontinuierlichkeit  die  gesammelten  Materialien  in  seine  Linie  ein- 
tragen und  kann  von  >Gebotc  und  >Notwend]gkeit<  der  Entwickelang 
nur  insofern  reden,  als  von  irgend  einem  empirisch  aufgegriffenen 
Punkte  aus  seiner  Phantasie  Vorbedingungen  oder  anschließende 
Weiterbildungen  psychologisch  wahrscheinlich  erscheinen.  Das  gibt 
der  ganzen  Konstruktion  eine  Unsicherheit,  die  dem  Verfasser  offen- 
bar nicht  bewußt  ist,  die  sich  aber  tatsächlich  sehr  deutlich  darin 
äußert,  daß  schon  Anfangs-  und  Endpunkt  der  von  ihm  auszufüllen- 
den Linie  nicht  ganz  sicher  sind.  Sie  sind  auf  diesem  Gebiet  nicht 
mit  der  empirischen  Sicherheit  zu  bestimmen  wie  in  der  Biologie, 
sondern  hier  sehr  viel  deutlicher  von  spontanen  Werturteilen  ab- 
hängig. So  muß  er  denn  etwas  mühsam  seinen  Ausgangspunkt  be- 
stimmen, indem  er  den  Seelenglauben  und  den  davon  nur  durch 
größere  Konkretheit  unterschiedenen  Geisterglauben  als  Anfangspunkt 
oder  niedersten  Entwickelungspunkt  der  Religion  und  die  persön- 
liche Gottesidee  als  Höhepunkt  definiert.  Das  sind  schon  sehr  sub- 
jektive Bestimmungen,  die  durch  die  umständlichen  und  scholastischen 
Definitionen  weder  klarer  noch  sicherer  werden.  Aber  der  Verfasser 
vertraut  sich  hier  seinem  psychologischen  Feingefühl  an.  Er  weiß, 
wie  die  Urpsyche  beschaffen  ist,  was  sie  leisten  und  denken  kann 
und  was  von  »echtem  Urzeithauch  umwittert<  (S.  21  und  noch  ein- 
mal S.  59,  78,  107)  ist,  was  >  stufenälter  oder  wenn  man  will  stufen- 
nieder<  (S.  112)  ist;  er  kennt  >das  urzeitliche  Gepräge<  (S.  62);  er 
weiß,  was  erst  die  Altertumsstufe  erreichen  kann  und  was  in  jedem 
Falle  »stufengerechtc  (S.  56,  81  f.)  ist.  Er  weiß  auch,  was  das  Höchste 
und  Letzte  ist  und  zwar  nicht  aus  spontaner  und  autonomer  Wert- 
bejahung, sondern  aus  der  gefühlsmäßigen  Divination  der  >Entwicke- 
lungsnotwendigkeit<.  Dieser  psychologische  Feinblick  ist  absolut  ent- 
scheidend für  die  Fixierung  der  einzelnen  festen  Punkte  auf  seiner  Linie. 
Für  die  Ausfüllung  der  Uebergänge  hat  er  dann  aber  den  kombinie- 
renden Scharfsinn,  der  oft  auch  in  völligen  Nebendingen  den  Uebergang 
und  die  verbindende  Nabelschnur  aufzuweisen  im  Stande  ist.  Der  rein 
gottmenschliche  Heros  Joskeha  der  Irokesen  muß  z.  B.  mit  einer 
Vorstufe  im  tiermenschlichen  Heros  zusammenhängen.  >Eine  letzte 
leise  Spur  ...  wird  der,  dem  es  darauf  ankommt,  noch  in 
jenem  Einzelzug  der  Sage  entdecken  können,  der  Joskeha  die  Kunst 
der  willkürlichen  Feuererzeugung  . . .  von  der  großen  Schildkröte  er- 
lernen läßt<  (S.  34).  So  wird  er  denn  auch  aus  der  Schilderung 
Jahwes  als  Töters  der  Urschlange,  aus  seinem  heldischen  Benehmen, 


Breysig,  Entstehung  des  Qottesgedankens  691 

seinem  Lachen  und  Reden  in  der  himmlischen  Ratsversammlung  seine 
Abkunft  aus  einem  heroisierten  Menschen  entnehmen,  der  sich  als 
Eriegsheld  und  Schlangentöter  Ruhm  erworben  hat,  ein  gesteigerter 
Joskeha,  der  mit  der  Stufe  des  tiermenschlichen  Heros  höchstens 
noch  durch  die  Gheruben  zusammenhängt,  aber  durch  sie  als  ehe- 
maliger Greif  sich  yerrät  »Jahwe,  der  Greif,  würde  Jelch,  dem 
Raben,  und  Michabazo,  dem  Großen  Hasen,  auf  das  beste  ent- 
sprechen c  (S.  93). 

Die  letzteren  Bemerkungen  fuhren  auf  die  eigentliche  Entdeckung 
Breysigs,  um  deren  willen  sein  Buch  geschrieben  ist  und  durch  die 
er  die  entwickelungsgeschichtliche  Religionsforschung  auf  eine  neue 
Grundlage  zu  stellen  hofift.  Bei  der  Ausfüllung  der  gedachten  Linie 
ergibt  sich  ihm  nämlich,  daß  vom  Geister-  und  Seelenglauben  kein 
erklärlicher  Weg  zu  dem  persönlichen  Gott  führen  kann.  Geister 
und  Seelen  seien  zu  schemenhaft,  als  daß  man  von  ihnen  zu  dem 
lebenswarmen,  von  echt  menschlichem  Leben  erfüllten  persönlichen 
Gott  gelangen  könnte,  und  die  beliebte  (freilich  heute  völlig  ver- 
altete!) Ableitung  der  Gottheiten  aus  abstrahierender  Natursymboli- 
sierung  sei  einerseits  zu  abstrakt  fur  die  Urpsyche,  andererseits  zu 
philosophisch  für  die  Wärme  und  Eonkretheit  des  persönlichen 
Gottes,  eine  >  willkürlich  dichtende  Verpersönlichung  der  Naturkräfte  < 
(S.  113).  So  sucht  er  denn  einen  Faktor  in  die  Entwickelung  einzu- 
führen, der  völlig  urzeitgemäß  ist  und  doch  die  Persönlichkeit  Gottes 
hervorzubringen  im  Stande  ist.  Wie  könnte  das  einfacher  geschehen, 
als  indem  man  das  Menschlich-Persönliche  in  den  Gottheiten  daher 
leitete,  woher  es  allein  natürlicher  Weise  stammen  kann,  nämlich 
aus  dem  lebendigen  Menschen  selbst.  Es  bedarf  nur  der  Annahme,  daß 
der  Urmensch  seine  Wohltäter  und  Helden  aufgehöht,  heroisiert,  divi- 
nisiert  hat  sowie  daß  dieser  Wohltäter  oder  Heilbringer  sich  mit  dem 
Geister-  und  Seelenkultus  verbindet,  und  die  Elemente  für  die  per- 
sönliche Gottesvorstellung  sind  beisammen.  Nimmt  man  dann  noch 
weiter  an,  daß  weiterhin  die  höhere  oder  Altertumsstufe  ihre  durch 
Abstraktion  gefundenen  Symbolisierungen  der  Naturmächte  mit  dieser 
Gottesidee  verbindet,  so  regeln  sich  auch  die  Naturbeziehungen  des 
Gottesgedankens,  und  es  wird  überdies  begreiflich,  wie  diejenigen  Reli- 
gionen, welche  die  Naturreflexionen  nicht  aufgenommen  haben  und 
die  bloß  den  Heilbringer  fortdauernd  ins  Göttliche  gesteigert  haben, 
d.  h.  die  Israels  und  der  Irokesen,  die  reinste  und  erhabenste  Gottes- 
vorstellung hervorgebracht  haben.  Es  gilt  nur  den  Begriff  des  >  Heil- 
bringers  <  oder  des  heroisierten  Ur Wohltäters  unter  die  primitiven 
Religionsideen  einzuführen,  und  die  Rätsel  der  religionsgeschicht- 
lichen Entwickelung  sind  gelöst.    Das  Wahrheitsmoment  des  Euher 

0«it.  g«l.  Abs.  19M.  Nr.  9  49 


692  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

merismus  ist  mit  Unrecht  bisher  verachtet  und  verkannt  worden, 
man  braucht  es  nur  wieder  anzuerkennen,  und  die  Hauptschwierig- 
keiten heben  sich  spielend. 

Diesen  konstruierten  Aufriß  gilt  es  nun,  aus  dem  ethnographisch- 
religionsgeschichtlichen  Material  auszufüllen  und  zu  belegen.  Und 
da  bieten  sich  nun  in  geradezu  großartiger  Weise  die  lebenden  Ur- 
zeitvölker Nordamerikas  dar,  von  denen  wir  aus  den  letzten  zwei 
bis  drei  Jahrhunderten  Berichte  haben,  die  zugleich  durch  ihre  Diffe- 
renzen die  >£ntwickelungc  bei  diesen  Urzeitvölkem  am  Werke  sehen 
lassen.  Sie  haben  den  Seelen-  und  Oeisterkult,  stehen  also  auf  der 
Urstufe,  was  auch  sonst  dem  psychologischen  Gefühl  sich  bekundet 
Aber  sie  haben  zugleich  auch  tiermenschliche  Sagen  von  einem  Heros 
und  Urahn,  der  bald  als  Tier  bald  als  Mensch  die  großartigsten  und 
wunderlichsten  Dinge,  Schlangenkämpfe,  Siege  über  Wasserfluten,  Erd- 
und  Menschenschöpfung  und  ähnliches  verrichtet  hat.  Bei  yersehie- 
denen  solchen  Stämmen  finden  sich  ähnliche  solche  Sagen,  sie  gehören 
also  zum  gesetzlichen  Urbestand  der  Urpsyche.  Insbesondere  aber  kann 
man  bei  den  Irokesen,  von  deren  >Heilbringersage€  wir  einen  Be- 
richt von  1650  und  einen  solchen,  allerdings  in  Nebendingen  christ- 
lich gefärbten  (!),  von  1850  haben,  konstatieren,  wie  der  ursprünglich 
tiermenschliche  Joskeha  zu  einem  großen,  ethische  Oebote  ver- 
tretenden persönlichen  Geist  und  Gott  emporgewachsen  ist  ohne  jede 
Dazwischenkunft  eines  weiteren  Entwickelungsfaktors,  vor  allem  ohne 
jede  Einwirkung  abstrakter  Natursymbolisierung :  »Christliche  Ein- 
wirkung hat  wohl  das  letzte  Glied  in  dieser  Kette  von  Glaubens- 
bildem  in  einzelnen  Zügen  beeinflußt,  aber  nicht  in  den  Gründen 
seines  Wesens ;  dieser  Gott,  der  vielleicht  soviel  innere  Aehnlichkeit 
mit  dem  jüdisch-christlichen  Gott  in  seiner  frühesten  vorpropheti- 
schen Jugend  hat,  wie  kein  anderer  auf  dem  Erdenrund,  ist  doch 
eine  eigenwüchsige  und  ursprüngliche  Bildung  des  Geistes  und  der 
Seele  des  großen  Volkes,  das  ihn  sich  schuf  <  (S.  43).  Sofern  man  sich 
aber  an  den  tierischen  Beimischungen  dieses  >HeUbringer8<  stoßen 
sollte,  so  geben  darüber  die  Australier  Auskunft,  welche  in  dem  Al- 
cheringa  Tiergeister  oder  »Uebertiere<  haben  mit  unglaublichen  Wir- 
kungen, die  bei  der  Aufhöhung  der  Heilbringer  verwendet  worden 
sein  möchten:  >Die  Heilbringer  sind  halb  Uebertiere  halb  Ueber- 
menschen.c 

Diese  an  den  amerikanischen  Wilden  gemachte  Entdeckung 
gilt  es  nun  auch  an  den  sämtlichen  übrigen  Göttervorstellungen  der 
Menschheit  zu  bestätigen,  und  es  folgt  daher  eine  Untersuchung 
Jahwes,  der  babylonischen,  indischen,  ägyptischen,  germanischen 
u.  s.  w.  Gottheiten  auf  den  in  ihnen  enthaltenen  Best  des  Uebertieres 


\ 


Breysig,  Entstehung  des  Gottesgedankens  693 

und  Uebermenschen  oder  des  ihnen  ihre  persönliche  Qualität  ver- 
leihenden Heilbringers.  Die  Einzelheiten  sind  hier  nicht  wieder- 
zugeben; immer  sind  es  Anspielungen  auf  eine  Flutsage  und  einen 
Drachenkampf,  die  die  übliche  Lehre  aus  einer  >abstrakten<  und  »stili- 
sierten« Natursymbolik  erkläre,  während  das  Beispiel  der  Algonkins 
die  Zusammengehörigkeit  beider  in  einem  wirklich  so  gemeinten 
Heilbringermythos  beweist.  »Wer  die  Art  und  die  Sprechweise  noch 
lebender  Urzeitvölker  kennt,  wird  aus  tausendfach  zu  beweisenden 
Gründen  immer  geneigt  sein,  die  Ausdrucksform  dieser  Stufe  für  einfach 
und  der  Wahrheit  und  Wirklichkeit  nahe  zu  halten,  nicht  aber  für 
verwickelt  und  sinnbildhaftc  (S.  70).  So  gewinnt  der  Verfasser  hier 
überall  neue  Prinzipien  entwickelungsgeschichtlicher  Deutung  mit 
reichlichen  Winken  über  neue  kritische  Behandlung  der  Urkunden. 
Erwähnt  werden  kann  davon  nur  der  Triumph  der  Methode,  der  in 
der  Deutung  der  jüdisch-christlichen  Gottesidee  erreicht  ist.  Die 
Jahwereligion  ist  von  >allen  Gottesgestalten  auf  Erden  die  mäch- 
tigste <  geworden  (S.  65),  weil  sie  rein  der  Divinisierung  des  Heil- 
bringers  gefolgt  ist  ohne  Einmischung  von  Natursymbolik;  und  ein 
indirekter  Beweis  hierfür  ist  die  Tendenz  dieser  Gottesidee,  sich  in 
ihren  Ursprung,  in  die  Heilbringeridee,  zurückzuverwandeln,  was  sie 
in  der  Messiasidee  erst  ideal  und  dann  in  der  Divinisierung  Jesu 
auch  tatsächlich  vollzieht.  Gegenüber  dieser  glänzendsten  Probe  auf 
das  Rechenexempel  treten  alle  übrigen  Beweise  zurück,  die  überall 
auf  der  durch  richtige  Kritik  der  Ueberlieferung  herstellbaren  schlagen- 
den Aehnlichkeit  mit  dem  Produkt  der  noch  lebenden  amerikanischen 
Urzeitvölker,  der  Heilbringersage,  beruhen.  Höchstens  etwa  noch  die 
der  jüdischen  erstaunlich  ähnliche,  aber  vom  Judentum,  Christentum 
und  Islam  offenbar  (!)  unbeeinflußte  Gotteslehre  und  Ursage  der  Masai 
ist  ähnlich  wichtig.  Denn  sie  zeigt  eine  der  jüdischen  völlig  parallele 
Erhebung  des  Heilbringers  und  läßt  daher  auf  einen  gemeinsamen 
semitischen  Urglaubeu  an  den  Heilbringer  schließen,  der  bei  der 
Masse  der  tieferstehenden  Semiten  leider  verloren  gegangen  ist.  Zwar 
>der  heutige  Glaube  der  Masai  nennt  den  Heilbringer  selbstverständ- 
lich Gott:  die  menschliche  Abkunft  dieser  inzwischen  längst  gestei- 
gerten Person  ist  dennoch  nicht  zu  verkennen  c  (S.  120),  was  mit 
ähnlichen  Mitteln  wie  bei  Jahwe  und  durch  die  Parallele  des  Joskeha 
der  Irokesen  bewiesen  wird. 

Aber  damit  ist  die  Entdeckung  Breysigs  nicht  zu  Ende.  Nach 
seinen  bisherigen  Ergebnissen,  in  denen  die  Völker  »auf  die  Gestalt 
des  Heilsbringers  und  die  Entstehung  des  Gottesgedankens  hin  nur 
flüchtig  überprüft  wordene  sind,  könnte  es  scheinen,  als  ob  >es  sich 
hier  um  einen  allgemeinen  Vorgang  handele,  in  dem  Sinne  wenigstens, 

49* 


694  Gott.  gel.  Anz.  1906  Nr.  9 

daß  mit  ihm  die  Richtung  umschrieben  ist,  die  einzuschlagen  mensch- 
liche Glaubensentwickelung  neigt,  sobald  sie  nur  eine  gewisse  Höhe 
erklonmien  hatc  (S.  171).  Es  wäre  also  ein  empirisch-naturwissen- 
schaftlich aufgenommenes  psychologisches  Gesetz,  das  in  primitiven 
Zuständen  die  Heilbringeridee  hervorbringt  und  diese  Heilbringeridee 
zur  Gottesidee  steigert.  Daß  in  dieser  »Richtungsneigung«  etwas 
höher  oder  tiefer  und  nicht  bloß  früher  oder  später  ist,  das  wäre 
dann  die  Eintragung  einer  subjektiven  Bewertung.  Denn  das  Gesetz 
selbst  ist  nicht  wie  das  Hegeische  Entwickelungsgesetz  ein  aus  imma- 
nenten Zielen  der  werdenden  Vernunft  hervorgehendes,  sondern  ein  ledig- 
lich allgemein  wiederkehrende,  psychologische  Tatsachen  aussagendes 
Naturgesetz  des  Seelenlebens.  Danach  möchte  es  scheinen,  als  sei  in 
diesem  Gesetz  das  jedesmal  spontane  Entstehen  der  Heilbringeridee  und 
ihrer  Abwandelungen  bei  allen  primitiven  Völkern,  uralten  und  mo- 
dernen, begründet,  und  als  hätte  man  lauter  parallele,  in  dem  Wesen  der 
Urpsyche  begründete,  Bildungen  vor  sich.  Aber  die  von  dem  modem- 
urzeitlichen  amerikanischen  Paradigma  geleitete  Prüfung  zeigt  doch 
in  all  diesen  Fällen  so  auffallende  Aehnlichkeiten,  überall  Drachen, 
Flut,  Welt-  und  Menschenschöpfung,  feindliche  Brüder  u.  s.  w.,  daß 
man  schwer  nur  an  spontane  Parallelen  und  bloße  Analogiebildungen 
denken  kann.  Es  liegt  der  Gedanke  nahe,  die  verschiedenen  Heil- 
bringersagen  nicht  in  einem  allgemeinen  psychologischen  Gesetz, 
sondern  in  einer  einmaligen  Urtatsache,  einem  wirklichen  ersten  Heil- 
bringer  und  einer  wirklichen  Ursage  von  ihm  begründet  sein  zu  lassen, 
und  alle  die  zahllosen  Heilbringer-  und  Gottesideen  nur  als  ebenso 
viele  Abzweigungen  von  diesem  Urstamme  zu  betrachten.  An  Stelle 
des  psychologischen  Gesetzes  mit  zahllosen  Einzelfällen  tritt  der 
emen  einzelnen  Fall  fortsetzende  und  variierende  Stammbaum.  Das 
Mittel  zu  diesem  Uebergang  ist  eine  neue,  der  üblichen  religions- 
geschichtlichen Forschung  entgegentretende  Entdeckung  Breysigs. 
Psychologische  Divination  sagt  ihm,  daß  Urvölker  in  einem  Bezirk 
nur  eine  Gottheit  haben  können,  daß  die  Vielheit  von  Göttern  ver- 
schiedener Völker  aus  der  Differenzierung  der  Urgruppen  zu  ver- 
schiedenen lokal  geschiedenen  Gruppen  hervorgeht,  deren  jede  d^ 
mitgebrachten  Henotheismus  in  der  neuen  Umgebung  variiert.  Der 
Polytheismus  aber  als  Vielheit  von  Göttern  eines  Volkes  geht  erst 
aus  der  politischen  Unterwerfung  dieser  verschiedenen  Gruppen  unter 
eine  Vormacht  hervor.  Auf  diese  Weise  wird  es  möglich,  die  Heil- 
bringersage  und  Gottesidee  alter  Primitiver  und  modemer  Primitiver, 
die  Gottesideen  und  Polytheismen  der  verschiedenen  Mittelalter  und 
die  Monotheismen  der  verschiedenen  Neuzeiten  an  einem  Faden  der 
Filiation  von  dem  ersten  menschlichen  Heilbringer  her  aufzureiben, 


Breysigy  Entstehung  des  Oottesgedankens  695 

der  in  der  Urgruppe,  vielleicht  in  »dem  uralten  und  doch  kinder- 
jungen« Australien,  etwa  als  Schlangentöter  und  Fluttiberwinder  großen 
Eindruck  gemacht  hat  und  entsprechend  aufgehöht  wurde,  dann  mit 
dem  Ahnen-  und  Geisterglauben  zusammenfloß  und  so  zum  Urahn 
wurde,  wobei  dann  auch  seine  halbe  Tiergestalt  aus  einer  dumpfen 
Erinnerung  der  Abstammung  des  Menschen  vom  Tier  sich  erklärt, 
wenn  man  nicht  lieber  vor  das  Zusammenfließen  des  Heilbringers 
mit  Tiergeistern  ein  solches  mit  Pflanzen-  und  Steingeistern  setzen 
will;  jedenfalls  ist  wahrscheinlich,  daß  »die  Verehrung  den  Ur- 
ahnen der  Menschheit  gälte,  die  einen  der  entscheidenden  Schritte 
vom  Tier  zum  Menschen  getan  hätten,  sodaß  in  Wahrheit,  wie  in 
so  vielen  heiligen  Sagen  behauptet  wird,  der  erste  Mensch  zum  Gott 
geworden  wäre<  (S.  201).  Von  diesem  einmaligen  und  als  solchen  zu- 
fälligen Urfaktum  geht  die  ganze  Religionsgeschichte  aus.  Von  dem 
früher  konstruierten  psychologischen  Gesetz  bleibt  also  jetzt  nur  die 
»Regelhaftigkeit<,  die  »Triebkraft  der  Entwickelung«  übrig,  die  in 
parallelen  Verläufen  überall  den  Heilbringer  steigert  bis  zur  Gottes- 
idee, wobei  es  allgemeine  und  Eulturzustände  sind,  die  im  einen 
Fall  die  Verschmelzung  mit  Natursymbolen  herbeiführen  und  im 
andern  hindern.  Fragt  man  aber  nach  den  allgemeinen  psychologischen 
Gründen,  die  diese  Steigerung  des  Heilbringers  überall  herbeiführen, 
so  erhält  man  die  Antwort:  >Für  die  Entwickelung  des  Glaubens 
aber  entscheidet,  daß  der  Anlaß  dieser  künstlerischen  Steigerung  an 
Kraft  wächst:  die  Empfindung  für  das  Heilige«  (S.  37);  oder:  >daß 
der  Gott  entstand,  war  gleichmäßig  einer  Forderung  des  schließen- 
den Verstandes,  wie  des  nach  Verehrung  und  Selbstdemütigung 
dürstenden  Herzens  der  Menschen«  (S.  95)  oder  >es  ist  eine  über 
den  ganzen  Erdteil  sich  ausdehnende  Form  entstehender  Gottheit, 
die  all  ihre  Kraft  aus  dem  Gedanken  der  Persönlichkeit  zieht,  das 
Halbtier  zum  Menschen,  den  Menschen  zum  Gott  steigert«  (S.  77); 
oder  > Spiel  der  Vorstellungskraft,  ausbauende  Folgerung  des  Ver- 
standes, mehr  als  alles  andere  die  Sehnsucht  des  Herzens  nach  immer 
unbedingterer  Hingabe,  immer  höherer  Steigerung  des  verehrten 
Wesens,  sie  alle  sind  beteiligte  (S.  188);  es  sind  >Regungen  gläubigen 
Ahnensc  (S.  185);  es  ist  »zarteste  also  auch  ichmäßigste  Betätigung.« 
Der  Verf.  merkt  gar  nicht,  daß  er  hier  die  eigentliche  Hauptsache, 
das  religiöse  Gefühl  selbst  und  eine  innere  Aufwärtsbewegung  in  ihm, 
einfach  voraussetzt.  Das  »Gesetz  eines  rastlosen  Werdeganges«,  das 
sich  in  diesen  Aufhöhungen  und  Steigerungen  offenbart,  ist  insbesondere 
etwas  ganz  anderes  als  ein  allgemeines  Naturgesetz,  es  ist  eine  im 
Wesen  des  Geistes  liegende  Tendenz,  die  einen  verborgenen  Reichtum 
entfaltet,  ein  teleologisches  Gesetz  der  Erreichung  eines  in  dieser 


696  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Tendenz  unbewußt  enthaltenen  Zielgehaltes.  Aber  für  diesen  BegriflF 
des  >£ntwickelungsgesetzes«  fehlt  in  dem  Buche  jede  philosophische 
und  religionsphilosophische  Begründung,  wie  auch  jede  Erkenntnis 
seines  Unterschiedes  von  allgemeinen  psychologischen  Naturgesetzen 
und  mit  jeder  näheren  Ausführung  auch  jede  Ahnung  von  den  darin  be- 
schlossenen logischen  und  metaphysischen  Problemen.  Ja,  die  vom 
ersten  Heilbringer  in  Bewegung  gesetzte  und  zur  Entfaltung  ihrer 
Triebkraft  gebrachte  Entwickelung,  wird  unversehens  wieder  zum 
psychologischen  Naturgesetz,  zur  gesetzlichen  Wiederholung  analoger 
Fälle,  insofern  der  erste  Heilbringer  immer  wieder  durch  neue  ab- 
gelöst wird  und  jeder  neue  in  seiner  Divinisierung  das  Erbe  und 
Produkt  der  früheren  zum  Gottesglauben  entwickelten  Heilbringersage 
übernimmt,  also  ein  psychologisches  Gesetz  der  von  Zeit  zu  Zeit  neu 
einsetzenden  Divinisierung  eines  hervorragenden  Menschen,  wovon 
die  Divinisierung  Jesu  das  hervorragendste  Beispiel  ist:  >Wer  mag 
sagen,  wieviel  rotes  warmes  Blut  lebendiger,  heldischer  oder  weiser 
Menschen  den  Kitt  fur  den  Aufbau  der  Gottesgestalten  dargeboten 
hat?<  (S.  189).  Freilich  ein  wunderliches,  völlig  unerklärtes  psycho- 
logisches Gesetz! 

Es  mag  fraglich  sein,  ob  es  sich  lohnt,  über  ein  derartiges  Buch 
soviel  Worte  zu  verlieren,  insbesondere  soviel  aus  ihm  abzuschreiben. 
Ich  glaube  allerdings,  daß  es  der  Mühe  wert  ist,  weil  bei  derartig 
leichtfertiger  Behandlung  des  >Entwickelung8begriifes<  viele  Fehler 
eines  Verfahrens  zu  Tage  treten,  das  sonst  kritischer,  besonnener 
und  geschmackvoller,  vor  allem  mit  mehr  Kenntnissen  und  Wirklich- 
keitssinn unternommen  wird,  und  weil  gerade  die  Worte  Breysigs 
selbst  in  all  ihrer  pretiösen  Ueberfeinheit  diese  Fehler  aufs  naivste 
aussprechen.  Diese  Fehler  liegen  zunächst  auf  dem  ethnographisch- 
mythographischen  Gebiet:  die  Definitionen  des  Ausgangspunktes  der 
Entwickelung,  der  Seele  und  der  Geister  und  des  Gottesbegriffes,  sind 
naivster  Dogmatismus,  und  die  Voranstellung  des  Resultates  im  Heil- 
bringer ist  die  naivste  Präokkupation.  Man  kann  sich  darum  gar 
nicht  wundem,  wenn  das,  was  erst  gefunden  werden  soll,  überall 
als  Norm  der  Auffassung  und  Kritik  vorausgeht;  »er,  heißt  es  von 
Keri,  entspricht  allen  Anforderungen  an  einen  echten  Heilbringerc 
(S.  46),  und  wo  es  in  den  Quellen  anders  steht,  da  werden  sie 
kritisch  gesäubert  oder  handelt  es  sich  gar  um  eine  >unbewußte 
Wiederholung  der  Heilbringersage«  (S.  61).  Insbesondere  ist  der  Aus- 
gangspunkt bei  den  amerikanischen  Mythen,  die  in  einem  lebenden 
Urzeitvolk  die  alte  Urhervorbringung  wiederholt  haben  sollen,  eine 
wunderliche  petitio  principii.  Diese  an  sich  natürlich  nicht  leicht  zu 
deutenden  Mythen  scheinen  nach  sonstigen  Analogien  (vgl.  Usener, 


Breysig,  Entstehung  des  Gottesgedankens  697 

Götternamen  S.  248—253)  depotenzierte  Gottheiten  zu  sein,  die  aller- 
hand ätiologische  Mythen  in  sich  aufgenommen  haben  und  zum  Spiel  der 
Fabel  geworden  sind.  Zeugnisse  für  ein  Gesetz  der  Hervorbringung 
der  Heilbringersagen  sind  sie  nur,  wenn  dies  Gesetz  schon  voraus- 
gesetzt ist.  Und  wie  ist  dann  die  Herauszupfung  von  Aehnlichkeiten 
und  deren  Verknüpfung  zu  einem  Gewebe  von  Gesetzen  völlig  spie- 
lerisch, das  allenfalls  Mögliche  mit  dem  Wirklichen  verwechselt  und  das 
ganze  Verfahren  hypnotisiert  von  der  Voraussetzung  eines  einheit- 
lichen Ursprungs  der  Gottesidee  und  einer  einfachen  Abwandelung 
dieses  Ursprungs?  Wer  das  nicht  tut,  der  ist  ihm  em  Pedant; 
>eine  dem  Ziel  zustrebende«  Forschung  . . .  wird  Art  und  Form  des 
Fortschrittes  selbst  zu  erkennen  trachten<  (S.  196),  wobei  das  Ziel 
offenbar  als  selbstverständlich  und  eindeutig  betrachtet  wird:  das 
Ziel  ist  eben  eine  in  vollster  Verworrenheit  gedachte  »Entwickelungs- 
theorie.«  Hier  aber  liegen  die  eigentlichsten  Fehler,  um  deren  willen 
sich  eine  Beachtung  des  Buches  lohnt,  während  die  ethnographisch- 
mythographischen  Einfälle  schwerlich  viel  Unheil  anrichten  werden. 
Es  ist  eine  Warnung  vor  einer  völlig  unphilosophischen  Handhabung 
des  Entwickelungsbegrififes,  der  ein  Nest  von  schweren  Problemen 
und  keine  einfache  durchsichtige  und  selbstverständliche  Methode  ist. 
Insbesondere  ist  nun  aber  seine  Anwendung  auf  die  Religion  vollends 
bedenklich,  wo  es  an  jeder  religionsphilosophischen  Bildung  und  Denk- 
gewöhnung fehlt.  Besäße  der  Verfassser  sie,  dann  würde  er  nicht  als 
nach  dem  Hauptproblem  nach  der  Entstehung  des  Gottesgedankens 
suchen,  wo  er  doch  die  Religion  selbst  als  Ahnung,  Verehrungsstreben, 
Divinisierung  überall  schon  voraussetzt;  er  würde  einsehen,  daß  das 
religiöse  Verhältnis  selbst  in  der  Grundkonstitution  des  Geistes  ge- 
geben ist  und  in  der  wirklichen  Geschichte  nur  auf  die  verschie- 
denste Weise  geweckt  und  von  den  verschiedensten  Objekten  und 
Eindrücken  her  aktualisiert  wird,  daß  eben  deshalb  der  Gottesbegrifif 
selbst  eine  sekundäre  und  durchaus  nicht  einfach  definierbare  Er- 
scheinung der  Religionsentwickelung  ist,  und  daß  die  eigentlichen  Rätsel 
der  Religionsgeschichte  gerade  in  der  Herausbildung  der  höheren  Reli- 
gionsformen liegen.  Er  würde  erkennen,  daß  die  Religion  selbst  über- 
haupt nicht  entsteht,  sondern  nur  ihre  Formen  und  Ausdrucksmittel, 
daß  sie  von  Seelen-  und  Geistervorstellungen,  von  den  Naturein- 
drücken oder  sonstigen  Erlebnissen  geweckt  werden  kann  und  von 
hier  aus  ihren  mitteilbaren  Ausdruck  und  ihren  Kultus  formt,  daß  ins- 
besondere die  persönlichen  Gottheiten  aus  der  Aufnahme  sozialer  und 
ethischer  Eindrücke,  die  das  religiöse  Gefühl  wecken,  in  die  Gottesvor- 
stellung erwachsen.  Er  würde  auch  so  nach  psychologischen  allge- 
meinen Gesetzen  und  Formenlehren  suchen  können,  aber  er  würde 


698  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

dann  von  ihnen  das  Gesetz  der  inneren  Vorwärtsbewegung  der  Reli- 
gion unterscheiden,  in  dem  der  Fortschritt  begründet  ist  und  das 
nur  ein  Gesetz  innerer  Bewegung  des  Geistes  selbst  in  der  Weise 
Hegels  oder  Euckens  sein  kann.  Er  wärde,  wenn  er  den  Satz  nieder- 
schreibt: >der  Gott  der  Brahmanen,  der  Juden  und  Christen,  der 
Mohammedaner  läßt  sich  leicht  erfassen;  es  sind  nicht  die  oberen, 
es  sind  die  unteren  Grenzen  des  Begriffes,  auf  die  die  höchste  Sorg- 
falt verwendet  werden  mußc  (S.  6),  sich  klar  machen,  daß  ihm  diese 
großartigen  oberen  Stufen  nur  so  leicht  verständlich  erscheinen,  weil 
er  das  religiöse  Apriori  des  Bewußtseins  hierbei  überall  schon  vor- 
aussetzt, und  daß  die  unteren  Stufen  ihm  nur  deshalb  so  schwierig 
scheinen,  weil  er  auf  ihnen  mit  Hilfe  von  allerhand  primitiven  Illu- 
sionen dasjenige  aus  tausend  Einzelheiten  zusammenscharren  will, 
was  sich  überhaupt  nicht  ableiten  läßt,  weil  es  ein  Apriori  des  Be- 
wußtseins, das  Zentrum  des  Normbewußtseins  ist,  das  wohl  in  seiner 
Weckung  und  Durchsetzung,  aber  nicht  in  seiner  Entstehung  reli- 
gionsgeschichtlich erforscht  werden  kann.  Die  entwickelungsgeschicht- 
liche  Methode  ist  gewiß  unumgänglich,  und  die  Frage  darf  und  muß 
im  Allgemeinen  so  gestellt  werden,  wie  Breysig  sie  gestellt  hat.  Aber 
ohne  philosophische  Besinnung  über  den  Entwickelungsbegriff  und  ohne 
religionsphilosophische  Besinnung  über  die  Stellung  der  Beligion  im 
Bewußtsein  entstehen  hier  nur  Verworrenheiten.  Es  gibt  hier  nur  die 
Alternative:  entweder  Entstehung  der  Religion  aus  allerhand  peri- 
pherischen, psychologisch  ableitbaren  Illusionen  der  Primitiven  und 
dann  ihr  Untergang  auf  höheren  Stufen  oder  Begründung  der  Reli- 
gion in  einem  Apriori  des  Bewußtseins  und  dann  Erklärung  ihrer 
höheren  Stufenentwickelung  wesentlich  aus  einer  inneren,  in  spontan«! 
Inspirationen  sich  vollziehenden  Bewegung,  die  aus  der  inneren  Bewe- 
gung des  Geistes  überhaupt  im  Zusammenhang  mit  den  allgemeinen 
Verhältnissen  hervorgeht.  Beides  aber  kann  nur  von  der  Religions- 
philosophie, nicht  aber  von  der  Religionsgeschichte  bewiesen  werden; 
die  letztere  wird  immer  nur  als  Bestätigungsmittel  der  einen  oder 
der  anderen  Lehre  dienen  können,  aber  sie  niemals  selbst  begründen 
können.  Das  alles  aber  sind  Dinge,  die  nicht  bloß  für  Breysig, 
sondern  die  auch  für  sehr  viel  ernster  zu  nehmende  Forscher  wün- 
schenswert wären  und  deren  Unentbehrlichkeit  gerade  ein  enfant 
terrible  der  entwickelungsgeschichtlichen  Methode,  wie  dieses  Buch 
Breysigs,  zeigen  kann. 

Heidelberg  Troeltsch 


W.  B.  Smithy  Der  vorchristliche  Jesos 


WlUlmm  Bei^amln  Smitb,  Der  vorchristliche  Jesus,  nebst  weiteren 
Vorstudien  zur  Entstehungsgeschichte  des  Urchristentums.  Mit  einem  Vorwort 
von  P.  W.  Schmiede!.   Gießen,  Töpelmanns  Verlag,  1906. 

Dieses  Buch  enthält  eine  Sammlung  Ton  fünf  Aufsätzen,  die  ver- 
schiedene Probleme  des  Urchristentums  in  sehr  origineller  und  scharf- 
sinniger, wenn  auch  zu  manchem  Widerspruch  herausfordernder  Weise 
behandeln.  Es  sind,  wie  der  Verfasser  im  Vorwort  bemerkt,  »Vor- 
studien, die  viel  geeigneter  sind,  Fragen  aufzuwerfen  als  sie  zu 
lösenc,  die  aber  trotz  ihrer  fragmentarischen  Form  die  aufmerksame 
Beachtung  derer  verdienen,  die  der  geschichtlichen  Wahrheit  auf 
diesem  dunklen  Gebiet  näher  zu  kommen  ernstlich  bestrebt  sind. 

Der  1.  Aufsatz:  >Der  vorchristliche  Jesus<  geht  davon 
aus,  daß  die  im  N.  T.  vorkommende  Phrase  ta  icspl  too  'Itjooö  ur- 
sprünglich nicht  die  Geschichte  Jesu,  sondern  die  dogmatische  Lehre 
über  den  Jesus  bedeutete,  wie  besonders  deutlich  erhelle  aus  Act. 
18;  24:  Apollos  lehrte  das  den  Jesus  betreffende,  obgleich  er  allein 
von  der  Taufe  des  Johannes  wußte,  d.  h. :  er  kannte  und  verkündete 
nur  die  Lehre  vom  Jesus  ohne  Bezug  auf  die  ihm  unbekannte  evan- 
gelische Geschichte.  Aehnliche  Repräsentanten  einer  vorchristlichen 
Form  des  Jesusglaubens  will  der  Verf.  auch  in  den  ephesischen 
Johannesjüngem  und  den  im  Namen  Jesu  Exorzismus  treibenden 
Priestersöhnen  Act.  19, 1—7  und  8—20  finden.  Femer  scheint  ihm 
die  Erzählung  von  der  Bekehrung  des  Magiers  Simon  durch  Phi- 
lippus  Act.  8, 9 — 24  darauf  hinzuweisen,  daß  zwischen  der  gnostisch- 
idealistischen  Lehre  Simons  und  dem  christlichen  Glauben  ursprüng- 
lich eine  nahe  Verwandtschaft  bestand,  welche  die  Kirche  später 
dadurch  verleugnete,  daß  sie  den  älteren  Vorgänger  in  einen  Häre- 
tiker verwandelte.  Ebenso  bezeugt  die  Episode  Act.  13,6 — 12  von 
dem  in  Eypros  von  Paulus  bekämpften  Pseudopropheten  Elymas  mit 
dem  Beinamen  > Barjesu <,  d.  h.  Sohn  =  Verehrer  Jesu,  das  Vor- 
handensein früherer  Gestaltungen  des  christlichen  Glaubens,  die  sich 
entweder  zur  Orthodoxie  entwickelten  oder  zur  Häresie  entarteten. 
Weitere  Spuren  vom  Vorhandensein  eines  vorchristlichen  Jesus- 
glaubens findet  Verf.  auch  in  dem  >alten  Jünger<  Mnaso  aus  Eypros 
(Act.  21, 16),  in  Ananias  aus  Damaskus,  in  dem  Verfasser  des  von 
Lukas  benutzten  Reisetagebuches,  in  dem  Ehepaar  Priscilla  und 
Aquila,  die  schon  vor  der  Begegnung  mit  Paulus  Christen  waren, 
endlich  in  den  >Brüdem€,  die  den  Paulus  in  Italien  begrüßten;  alles 
dies  beweise  eine  Vielheit  von  Zentren  der  christlichen  Propaganda, 
die  ursprünglich  von  Jerusalem  ganz  unabhängig   gewesen  seien; 


700  G4tL  gcL  ABZ.  19IK.  5r.  9 

erst  der  Verf.  der  Apostelgeschichte  habe  diesen  SadiTeiiialt  tm*- 
wischt,  indem  er  dorch  eine  künstliche  Geschichtfikoostniktion,  a 
der  seine  Oster-  und  Pfingstgeschichte  and  die  ing^liche  VerfoigiiBg 
des  Stephanos  gehörte,  Jemsalem  zu  dem  einzigen  Zentmm  machte, 
von  dem  alle  christliche  Propaganda  aasgegangen  seL  Hiermiu  zieht 
dann  Smith  den  Schlnß,  daß  >die  Lehre  Ton  dem  Jesus«  Torchrist- 
lich  gewesen,  ein  Kolt,  der  anter  Joden  and  besonders  Hdlenistei 
zwischen  100  vor  ond  100  nach  onserer  Zeitrechnung  geheim  and  ii 
Mysterien  gehüllt  verbreitet  gewesen  sei,  womit  die  Annahme  eines 
bestimmten  lokalen  ond  persönlichen  Aosgangsponktes  dieser  Lehre 
nicht  bloß  überflüssig,  sondern  sogar  anmöglich  werde.  Eine  direkte 
Bezeogong  der  vorchristlichen  theologischen  Idee  des  Jesus  findet 
er  in  dem  bekannten  Naassenerhymnos  (Hippolytos,  Phflosoph.  V,  lOX 
wo  Jesos  als  himmlisches  Wesen  und  Offenbarer  der  wahren  Gnosis 
erscheint,  —  wobei  freilich  der  entscheidende  Ponkt,  daß  dieser 
Hjmnos  der  vorchristlichen  Aera  angehöre,  eine  anbewies^ie  An- 
nahme bleibt!  Dasselbe  gilt  aoch  von  der  Bescbwörongsformel,  die 
sich  in  einem  von  Wessely  veröffentlichten  ägyptischen  Zaoberpapyms 
findet:  6pxiti»  ob  xard  too  deoö  t»v  'Eßpaiibv  'Iijooö.  Allerdings  be- 
merkt dazu  Wilcken  im  Archiv  für  Papyrosforschong  1,427:  »Daß 
die  ans  erhaltenen  Zaaberlehrbücher  trotz  der  vielen  alttestament- 
liehen  Elemente  rein  heidnisch  —  in  dem  weiteren  Sinn  mit  Ein- 
schloß des  Jüdischen  [als  jüdisch-orieDtalischer  Synkretismus]  sind, 
zeigt  nichts  deutlicher,  als  daß  die  einzige  griechische  Stelle,  an  der 
Christus  genannt  wird,  ihn  als  »Gott  der  Hebräer <  bezeichnet;  auch 
sonst  ist  mir  nichts  Christliches  in  diesen  Büchern  aufge8toßen.< 
Aber  da  das  Alter  dieser  Zauberformeln  unbestimmbar  ist,  so  wird 
doch  wohl  die  Möglichkeit  einer  christlichen  Herkunft  jenes  'Iijooö 
nicht  ausgeschlossen  sein.  Smith  aber  glaubt,  daß  >  Jesus  <  der  in  der 
hellenistischen  Diaspora  aufgekommene  Name  für  den  Gott-Heiland 
gewesen  sei,  der  sich  dann  in  Palästina  mit  dem  Namen  »Christus<, 
der  Bezeichnung  des  göttlichen  Königs  und  Richters  verschmolzt 
habe;  beides  zusammen,  der  freundliche  Jesus  und  der  strenge 
Christus,  ergab  den  »Jesus  Christus«,  den  Herrn  Gott  der  ältesten 
Christen;  weshalb  denn  auch  jeder  Versuch,  das  Christentum  von 
einem  Menschen  herzuleiten,  natürlich  immer  habe  scheitern  müssen. 
Der  zweite  Aufsatz  behandelt  den  Beinamen  Jesu  >Nazoräer.< 
Daß  dieser  bei  Matthäus  durch  den  Heimatsort  Nazareth  erklärt 
wird,  steht  nach  Smith  auf  gleichem  Boden  wie  die  übrige  mythische 
Kindheitsgeschichte.  Denn  von  der  Existenz  dieser  Stadt  ist  nirgends 
eine  Spur  bis  auf  Eusebius,  Hieronymus  und  Epiphanius.  In  der 
evangelischen  Geschichte  selbst  ist  nicht  Nazareth,  sondern  Kaper- 


W.  B.  Smith,  Der  vorchristliche  Jesus  701 

naum  »seine  Stadt<,  wo  er  zu  Hause  war  (Mc.  2,1);  wo  Markus  und 
Matthäus  nur  sagen:  er  ging  in  seine  naxpiq^  hat  nur  Lukas  in  der 
ganz  ungeschichtlichen  Episode  4, 16  ff.  daraus  Nazareth  gemacht. 
Während  also  Nazareth  erst  in  späteren  Schriften  der  Ueberlieferung 
erscheint,  gehört  dagegen  6  NaCa>pato<;  schon  der  ältesten  Geschichte 
an.  In  Act.  24, 5  ist  von  der  Sekte  der  Nazoräer  die  Rede,  im  Tal- 
mud ist  das  der  übliche  Name  für  die  Christen.  Er  erklärt  sich 
nach  Smiths  Vermutung  aus  der  altsemitischen,  auch  in  den  Keil- 
schriften häufigen  Wurzel  na^ar  =  behüten.  Beim  Gnostiker  Markus 
findet  sich  die  Form :  'Itjooö  NaCapia,  wobei  das  -ia  die  bekannte 
Kürzung  für  Jahve  ist,  also  Nazar-Ia  ein  beschreibendes  Beiwort  der 
behütenden  göttlichen  Macht,  nahezu  gleichbedeutend  mit  'Itjgoöc 
und  ocoTTjp.  Die  Konjektur  von  Cheyne  und  Wellhausen,  daß  Naza- 
reth =  Genesar  =  Galiläa  sei,  wird  aus  sprachlichen  Gründen  ab- 
gelehnt. Die  Hauptstütze  seiner  Hypothese  findet  Smith  in  dem 
Zeugnis  des  Epiphanius  (haer.  18.  29),  der  die  Nazaräer  als  eine  im 
Ostjordanland  heimische  jüdische  Sekte  beschreibt,  die  das  Opfer- 
gesetz verwarf,  sonst  aber  jüdischen  Glauben  und  Brauch  hatte;  da 
er  sie  ausdrücklich  als  nichtchristlich  und  vorchristlich  bezeichnet, 
so  läßt  sich  ihr  Name  nicht  wohl  von  dem  Geburtsort  Jesu  herleiten, 
wie  das  freilich  Epiphanius  tun  will;  die  Widersprüche,  in  die  sich 
dieser  Häreseolog  hierbei  fortwährend  verwickelt,  entspringen  aus 
seinem  vergeblichen  Bemühen,  die  Tatsache  der  vorchristlichen 
Existenz  der  Nasaräer  oder  NazorAer  (beides  gleichbedeutend)  mit 
der  kirchlichen  Tradition  auszugleichen.  Diese  und  ähnliche  jüdische 
Sekten  (Ebjonäer)  dachten  Christus  als  einen  himmlischen  Geist,  der 
sich  unter  mancherlei  menschlichen  Gestalten  offenbarte. 

Der  3.  Aufsatz  über  A  na  stasis  sucht  nachzuweisen,  daß  dieser 
Ausdruck  ursprünglich  nicht  Auferweckung  aus  dem  Tode,  sondern 
die  Einsetzung  Jesu  zum  Gottessohn,  Heiland  und  Richter  bezeichnet 
habe,  wozu  später  noch  der  neue  Sinn  der  Auferweckung  aus  dem 
Tode  hinzugetreten  sei.  Diese  Ausführung  scheint  mir  größerenteils 
erkünstelt  und  schief  zu  sein;  daß  der  Glaube  an  den  gekreuzigten 
und  auferstandenen  Christus  von  Anfang  an  der  Gegenstand  der 
christlichen  Verkündigung  und  ihr  unterscheidendes  Merkmal  dem 
jüdischen  Messiasglauben  gegenüber  gewesen  ist,  das  ist  doch  eine 
unbestreitbare  Tatsache,  wie  man  nun  auch  ihren  Ursprung  erklären 
möge.  Bedeutsamer  ist  die  Bemerkung  in  der  zweiten  Hälfte  dieses 
Aufsatzes,  daß  die  evangelischen  Parabeln  eine  der  ursprünglichen 
apokalyptischen  Reichspredigt  widersprechende,  evolutionistisch-geistige 
Lehre  vom  Reich  zu  enthalten  scheinen,  was  sich  nur  aus  einer 
späteren,  nach  der  Zerstörung  Jerusalems  aufkommenden  Korrektur 


702  Gdtt  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

der  älteren  apokalyptischen  Reichserwartung  erkliren  lasse.  Dies 
triflft  jedenfalls  für  das  Evang.  Lucä  (vgl.  17,21)  zn;  hingegen  lassen 
die  Parabeln  vom  Säemann  und  vom  allmählichen  Reifen  der  Saat 
auch  eine  andere  Deutung  zu,  die  mit  der  apokalyptischen  Reichs- 
predigt nicht  im  Widerspruch  steht.  —  Ueber  das  Säemanns^eichnis 
stellt  der  4.  Aufsatz  die  originelle  Hypothese  auf,  daß  es  eine  mora- 
lische Umbildung  der  gnostisch-kosmogonischen  Allegorie  vom  Ix)gos 
spermatikos  sei,  die  sich  in  ihrer  ursprünglichen  Fassung  in  der 
Naassenerpredigt  finde,  —  eine  Hypothese,  die  schwerlich  BeÜall 
finden  dürfte. 

Der  letzte  Aufsatz  sucht  nachzuweisen,  daß  der  Römerbrief 
vor  160  nicht  kirchlich  bezeugt,  also  auch  nicht  Viel  früher  verfaßt, 
bezw.  redigiert  worden  sei.  Die  vielfachen  paulinJlchen  Anklänge 
des  1.  Petrusbriefes  weisen  nach  Smith  nicht  auf  ein^,  Abhängigkeit 
vom  Römerbrief,  sondern  beide  Verfasser  schöpften  un9t>hängig  von 
einander  aus  dem  religiösen  Bewußtsein  des  liberalen  C%|Jstentums 
des  2.  Jahrhunderts,  das  eine  Menge  von  konventionellenVFprmeln 
und  technischen  Schlagwörtern  geprägt  hat,  die  verschiedenen  iMI''^ 
stellern  geläufig  waren.  Das  gilt  auch  für  das  Verhältnis  vom  Röil^ 
und  Jakobusbrief.  Auch  der  Verf.  des  I.  Glemensbriefes  hat  dB. 
Römerbrief  nicht  gekannt,  die  Verwandtschaft  seines  Lasterkataloges 
(35,5)  mit  Rom.  l,29fif.  erklärt  sich  aus  einer  gemeinsamen  Quelle, 
einem  jüdischen  liturgischen  Sündenbekenntnis.  Die  ignatianischen 
Briefe  haben  zwar  paulinische  Gedanken,  aber  ihr  Verf.  zitiert  den 
Römerbrief  nicht,  kennt  ihn  also  auch  nicht;  eher  ist  der  Autor  des 
Römerbriefes  von  Ignaz  abhängig,  da  dessen  christologische  Theorie 
eine  frühere  Entwicklungsstufe  als  bei  jenem  zeigt.  Da  auch  Poly- 
karp  den  Römerbrief  nicht  zitiert,  so  ist  die  traditionelle  Hypothese 
seiner  Abhängigkeit  von  diesem  nicht  wahrscheinlicher  als  die  einer 
gemeinsamen  Quelle  in  sprichwörtlichen  Redensarten.  Dasselbe  gilt 
hinsichtlich  gewisser  paulinischer  Anklänge  in  Justins  Schriften;  daß 
der  in  Rom  wohnende  Justin  den  Römerbrief  ignoriert,  wäre  nach 
der  traditionellen  Ansicht  von  dessen  früherer  Abfassung  unerklärlich.  ^ 
Schließlich  erweitert  Smith  sein  Verdikt  auf  die  sämtlichen  paulini- 
sehen  Schriften:  das  Schweigen  der  apostolischen  Väter  über  sie  be- 
weise, daß  sie  diese  Schriften  nicht  gekannt  oder  anerkannt  haben, 
und  es  gebe  also  keinen  Beweis  für  das  Vorhandensein  einer  Samm- 
lung paulinischer  Briefe  vor  140  (Marcion).  Wie  der  Verf.  dieeen 
Satz  (S.  207)  mit  I.  Clem.  47, 1  ff.  (Hinweis  auf  I.  Kor.  3)  und  mit 
Polycarp  ad  Phil.  3,1  ff.  und  mit  Ignaz  ad  Eph.  12  zu  reimen  ver- 
möge, ist  mir  nicht  klar  geworden.  Uebrigens  soll  das  Ergebnis 
dieser  Prüfung  der  äußeren  Zeugnisse  später  durch  eine  solche  der 


W.  B.  Smith,  Der  vorchristliche  Jesns  70S 

inneren  Zeugnisse,  eine  Analyse  des  Römerbriefes  ergänzt  werden, 
die  seine  Zusammensetzung  aus  verschiedenen  Fragmenten  aus  ver- 
schiedenen Zeiten  ergeben  soll.  Ob  dieselbe  überzeugender  ausfallen 
werde  als  der  vorliegende  Aufsatz  »Silentium  seculi?<  das  bleibt  ab- 
zuwarten. 

Ueberhaupt  ist  das  mein  Eindruck  von  diesem  Buch:  seine  Auf- 
stellungen haben  auf  keinem  Punkte  bis  jetzt  eine  überzeugende 
Beweiskraft,  aber  sie  zeigen  in  scharfsinniger  Weise  auf  Probleme 
hin,  die  bisher  vielleicht  nicht  genügend  beachtet  worden  sind,  und 
denen  in  ernster  und  unbefangener  Forschung  nachzugehen  die  Auf- 
gabe der  theologischen  Wissenschaft  sein  wird.  Mag  sie  dann  auch 
auf  andere  Ergebnisse  kommen,  als  der  Verf.  meinte,  so  wird  sie 
diesem  doch  immerhin  für  manche  Anregung  zum  Danke  ver- 
pflichtet sein. 

Groß-Lichterfelde-Ost  Otto  Pfleiderer 


P«  Heribert  Holzapfel,  0.  F.  M.,  Die  Anfänge  der  Montes  Pietatis 
(1462 — 1515).  VeröffentUchnngen  aus  dem  Kirchenhistorischen  Seminar  München 
No.  11.  München  1903.  Verlag  der  J.  J.  Lentnerschen  Buchhandlung  (E. 
Stahl  jun.).  140  S.   S^. 

Zu  seinem  aufrichtigen  Bedauern  kommt  der  Unterzeichnete  erst 
jetzt  dazu,  diese  treffliche  Schrift  anzuzeigen.  Eine  Fülle  von  Stoff 
ist  in  derselben  mit  knappen  klaren  Ausführungen  zur  Darstellung 
gebracht.  Der  Nationalökonom,  der  Eirchenhistoriker  und  der  Ethiker 
wird  davon  mit  gleichem  Interesse  Kenntnis  nehmen.  Zwar  ist  es 
eine  Schrift  pro  domo.  Ein  Franziskaner  schreibt  die  Geschichte 
eines  Institnts  seines  Ordens.  Doch  wird  man  die  pflichtmäßige  Un- 
parteilichkeit des  Historikers  nicht  vermissen. 

Man  darf  es  dankbar  anerkennen,  daß  der  Verfasser  in  der  Ein- 
leitung über  die  Quellen  und  die  Literatur  orientiert.  Denn  wer 
hätte,  wenn  er  nicht  Spezialist  ist,  in  dieser  Sache  Kenntnis  von 
dem  literarischen  Material,  das  herangezogen  werden  kann? 

Da  das  Institut  der  Montes  Pietatis  von  den  Franziskaner- 
Observanten  ausgegangen  ist,  so  wäre  zu  erwarten,  daß  die  Archive 
des  Ordens  die  grundlegenden  Quellen  für  den  Gegenstand  ent- 
hielten. Aber  das  Archiv  des  ganzen  Ordens  ist  seit  dem  Anfange 
des  19.  Jahrhunderts  aus  Rom  verschwunden  und  noch  nicht  wieder- 
gefunden worden.  Die  Archive  der  einzelnen  Ordensprovinzen  aber 
enthalten  außer  dem  von  Venedig  wenig  brauchbares.  Ergiebiger 
dagegen  sind  die  städtischen  und  bischöflichen  Archive  an  den 
Orten,   wo  Montes   Pietatis  (M. P.)  gegründet  sind.    Von  größter 


704  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Wichtigkeit  aber  sind  die  zahlreichen  Streitschriften  und  wissen- 
schaftlichen Gutachten  über  die  M.  P.,  die  zugleich  eine  Menge  tod 
historischen  Notizen  enthalten.  Das  zeitlich  erste  Gutachten»  das 
Consilium  almi  collegii  doctorum  utriusque  inclitae  civitatis  Perusii 
etc.  stammt  wahrscheinlich  aus  dem  Jahre  1464.  Solcher  Gutachten 
zahlt  Verfasser  eine  ganze  Reihe  auf.  Von  den  Gegenschriften  gegen 
die  M.P.  ist  die  bedeutendste  das  Werk:  »De  Monte  Impietatisc 
von  Nicolaus  Barianus  de  Placentia  von  den  Augustiner-Eremiten, 
1496.  Auch  der  bekannte  Kardinal  Cajetan  hat  gegen  die  M.P.  ge- 
schrieben. Endlich  sind  unter  den  Quellen  die  offiziellen  Erlasse  der 
Päpste  hervorzuheben,  die  sich  mit  dem  Institut  der  M.P.  beschäf- 
tigen. Da  dieselben  in  dem  BuUarium  Romanum  ed.  Taurin.  mit 
einer  Ausnahme  nicht  Aufnahme  gefunden  haben,  konnten  sie  nur  mit 
Mühe  erlangt  werden.  Sie  sind  chronologisch,  im  Ganzen  17,  auf- 
geführt. Der  letzte  Erlaß  ist  die  Bestätigungsbulle  von  Leo  X. 
aus  dem  V.  Laterankonzil  von  1515.  Bis  dahin  führt  die  vorliegende 
Geschichte  der  M.P. 

Das  erste  Kapitel  handelt  von  der  Vorgeschichte  der  M.P.  Es 
läßt  sich  erwarten,  daß  die  M.  P.,  die  Verfasser  (S.  16)  als  Wohl- 
tätigkeitsinstitute (Leihanstalten)  definiert,  die  hilfsbedürftigen  Per- 
sonen gegen  Pfand  das  Nötige  vorstrecken,  um  sie  vor  Ausbeutung 
durch  Wucherer  zu  schützen,  nicht  ohne  Weiteres  in  der  Geschichte 
auftreten.  Kommen  Montes  profani  schon  seit  dem  12.  Jahrhundert 
in  mehreren  Gestalten  vor,  so  ist  doch  erst  die  Tatsache,  daß  das 
Volk  von  den  Juden  und  Lombarden  durch  wucherische  Unternehmen 
ausgesogen  wurde,  der  Anlaß  geworden,  daß  von  selten  der  Kirche  An- 
stalt getroffen  wurde,  dem  sozialen  Mißstand  durch  Gründung  besonderer 
Leihanstalten,  eben  der  M.  P.,  abzuhelfen.  Die  erste  solcher  Anstalten 
wurde  1462  in  Perugia  gegründet.  Der  M.  P.  von  Orvieto,  den  man 
bisher  für  den  ersten  hielt,  datiert  erst  aus  dem  Jahre  1463.  Ver- 
fasser macht  es  wahrscheinlich,  daß  der  Gedanke  aus  der  Mitte  des 
Franziskaner-Ordens  wohlvorbereitet  hervorgegangen  ist.  Die  großen 
Volksredner  aus  dem  Observantenorden,  die  während  des  15.  Jahr- 
hunderts Italien  durchwanderten,  wie  Johannes  Capistran,  Bernhardin 
V.  Siena  u.  a.  kannten  am  besten  die  Not  des  Volkes.  Auf  sie  führt 
Verfasser  in  letzter  Linie  die  Anregung  zurück.  Diese  Annahme  ist 
gewiß  sehr  ansprechend.  In  Perugia  war  es  der  päpstliche  Legat 
und  Gubernator,  der  den  Franziskaner  Michael  1461  als  Fasten- 
prediger kommen  ließ.  Diesem  gelang  es  die  Privilegien  der  Juden 
zu  beseitigen.  Am  12.  April  1462  wurde  von  den  Stadtvorständen 
der  Beschluß  gefaßt,  einen  M.P.  nach  den  Angaben  Michaels  zu 
gründen.   3000  Gulden  bildeten  das  Anfangskapital,  von  denen  aller- 


Holzapfel,  Die  Anfänge  der  Monies  Pietatis  706 

dings  1200  die  Juden  borgen  mußten.  Aus  der  Verwaltung  sei  her- 
vorgehoben, daß  das  neugegründete  Institut  vom  Anfang  an  gegen 
mäßige  »Bezahlungc  auslieh.  Das  Wort  »Interesse«  oder  >Zins« 
wurde  von  selten  der  kirchlichen  Kreise  gern  vermieden,  wegen  des 
sich  auf  Luc.  6, 35  gründenden  Zinsverbotes.  Das  Entgelt  diente  zur 
Bezahlung  der  Beamten  des  Instituts.  Uebrigens  forderte  man  nur 
4—12  °/o,  während  sonst  wohl  nicht  unter  43  ^/o  Zinsen  ausgeliehen 
wurde.  Außerdem  mußte  der  Entleiher  ein  Pfand  stellen,  das  mit 
'/s  des  Wertes  eingeschätzt  wurde.  Nur  an  wirklich  Hülfsbedürftige 
gab  man  das  Geld.  Alle  Darlehn  sollten  innerhalb  von  12  Monaten 
zurückgegeben  werden.  Hatte  das  zweite  Kapitel  von  der  Gründung 
des  ersten  M.  P.  gehandelt,  so  führt  uns  Verfasser  im  dritten  die 
weitere  Entwicklung  bis  1515  vor.  Die  M.  P.  entwickelten  sich  nun 
schnell.  Orvieto  und  Gubbio  folgten  1463,  Foligno  1465,  ebenso 
Monterubbino  u.  s.  w.  Die  Entwicklung  drang  von  Mittelitalien  nach 
Oberitalien  vor.  Ueberall  ging  es  nicht  ohne  Kämpfe  ab,  denn  die- 
jenigen, die  bisher  den  Wucher  in  der  Hand  hatten,  ließen  sich  ihre 
Vorteile  nicht  ohne  Weiteres  rauben,  hatten  auch  weitreichende  Ver- 
bindungen. Ueberall  sind  es  namentlich  Franziskaner,  die  gegen  den 
Wucher  auftreten.  Besonderes  Verdienst  hat  hier  Bemhardin  v.  Feltre, 
der  1456  in  den  Orden  eintrat.  Sein  Ansehn  beginnt  mit  seiner 
Tätigkeit  zu  Trient  1475,  wo  er  eindringlich  vor  den  Juden  warnte 
(S.  67).  Wie  das  Verzeichnis  am  Ende  des  Buches  aufweist,  wurden 
von  1462—1509  in  Italien  88  M.P.  gegründet.  67  Mitglieder  seines 
Ordens  nennt  der  Verfasser,  die  besonders  für  das  Institut  gewirkt 
haben.  In  Deutschland  scheint  in  jener  Zeit  nur  ein  M.P.  ent- 
standen zu  sein,  der  in  Nürnberg  aus  dem  Jahre  1498.  Vielleicht 
hat  Verfasser  recht,  wenn  er  das  Stocken  der  Bewegung  in  Deutsch- 
land auf  den  baldigen  Beginn  der  Reformation  zurückführt.  Das 
vierte  und  letzte  Kapitel  hat  die  Ueberschrift :  >  Streitigkeiten  und 
Würdigung«  und  führt  daher  zunächst  in  die  zeitgeschichtliche  Be- 
urteilung der  M.  P.  ein.  Hier  hat  sich  ohne  Zweifel  viel  Partei- 
leidenschaft eingemischt.  Die  Gegner  des  Franziskanerordens  waren 
auch  Gegner  der  M.P.  Aber  daneben  bestand  doch  auch  für  die 
mittelalterliche  Kirche  wohl  Grund,  nach  der  Berechtigung  dieser 
Leihinstitute  zu  fragen,  die  entgegen  dem  Gebote  des  Herrn,  wie 
dasselbe  wenigstens  von  der  Kirche  verstanden  wurde  und  demge- 
mäß auch  entgegen  dem  Gebote  der  Kirche  selbst  Zins  nahmen  beim 
Ausleihen.  Dies  ist  denn  auch  der  Mittelpunkt  des  Streits  gewesen. 
Das  Uebrige  war  nebensächlich.  Es  würde  zu  weit  führen,  auf  die 
Einzelheiten  dieser  Streitigkeiten  einzugehen.  Daß  dieselben  ge- 
schärft wurden  durch  das  Interesse  der  Juden  und  ihrer  Freundei 


706  QML  gel.  Ans.  1906.  Mr.  9 

bedarf  kaum  der  Erwähnimg.  Die  prinzipielle  Frage  naeh  der  Be- 
reehtigang  der  M.P.  wurde  aber  durch  die  päpaUiehe  Bolle:  »Inter 
multiplices<  vom  4.  Mai  1515  zu  Gunsten  der  Franziskaner  und  ihm 
Instituts  entschieden. 

Will  man  die  M.P.  vom  Standpunkte  der  Ethik  beurteilen, 
so  wird  man  im  Wesentlichen  ebenfalls  dem  Ver&sser  beistimmen 
dürfen,  wenn  er  sagt,  daß  die  Errichtung  des  Instituts  zunächst  eine 
weitere  Auffassung  des  Zinsverbots  angebahnt,  namentlich  aber  auch 
durch  Kreditgewährung  unter  günstigen  Bedingungen  in  schweren 
Zeiten  unsäglich  viel  Not  lindem  half. 

Hannover  Ph.  Meyer 


Martin  Selmlse,  CalTins  Jenseits-Christentum,  in  seinem  Ver- 
hältnisse zu  den  religiösen  Schriften  des  Erasmus  unter- 
sucht.  Görlitz,  Rudolf  Dülfer,  1902.   yi,74S.    1,60  M. 

Schon  im  Jahre  1901  hat  der  Vf.  in  den  von  N.  Bonwetsch  und 
R.  Seeberg  herausgegebenen  »Studien  zu  der  Geschichte  der  Theo* 
logie  und  der  Kirchec  (VI.  Band,  4.  Heft)  eine  Abhandlung  erscheinen 
lassen  mit  dem  Titel:  >Meditatio  futurae  vitae.  Ihr  Begriff  und  ihre 
herrschende  Stellung  im  System  Calvins.  Ein  Beitrag  zum  Verständnis 
von  dessen  institutio.c  Ich  habe  diese  erste  Schrift  —  allerdings  et- 
was verspätet  —  in  der  DLZtg.  1905,  Nov.  27.  Sp.  1677  f.  ange- 
zeigt und  zugleich  für  die  nun  vorliegende  Schrift,  welche  tatsächlich 
und  nach  der  ausdrücklichen  Erklärung  des  Vf.  (S.  1)  >eine  ErgSn- 
zung  oder  Fortführung  c  der  ersten  Arbeit  ist,  eine  Besprechung  in 
diesen  Blättern  in  Aussicht  gestellt. 

Schon  in  seiner  ersten  Schrift  hatte  der  Vf.,  wie  er  in  der  Ein- 
leitung darlegt,  die  starke  und  ziemlich  einseitige  Richtung  des 
Christentums  Calvins  auf  das  Jenseits,  wie  sie  sich  in  diesem  immer 
wiederkehrenden  Begriffe  zusammenfaßt,  auf  Plato  als  die  letzte,  dem 
Calvin  selbst  nicht  unbekannte  Quelle  dieser  Art  von  Religion  zu- 
rückgeführt, ohne  damit  im  Geringsten  andere  mittelbar  platonische, 
vor  allem  aber  auch  neutestamentliche  Einflüsse  ausschließen  zu 
wollen.  Insbesondere  hatte  der  Vf.  in  der  Ankündigung  seiner  nun 
weiter  vorliegenden  Studie  auf  Erasmus,  als  den  erheblich  älterwi 
Zeitgenossen  Calvins  hingewiesen,  in  dessen  Schriften  Neutestament- 
liches  und  Platonisches  bereits  im  Bunde  miteinander  demselben 
entgegengetreten  waren.  Was  dem  Vf.  anfangs  nur  mehr  Vermutung 
war,  ist  ihm  nun  zur  Gewißheit  geworden,  daß  in  den  Schriften  des 


Schulze,  Calvins  Jenseits-Christentum  707 

großen  Humanisten,  bei  dem  ja  eine  direkte  Einwirkung  Piatos 
sicher  anzunehmen  ist,  die  Anknüpfungspunkte  für  jene,  doch  min- 
destens der  Form  nach  irgendwie  mit  dem  klassischen  Altertum  zu- 
sammenhängenden Ideen  des  Reformators  zu  suchen  und  zu  finden 
seien.  Der  Bildungsgang  Calvins  selber  lag  ja  diesem  Gedanken  an 
eine  Verbindung  mit  Erasmus  um  so  näher,  da  Calvin  bekannter- 
maßen von  humanistischen  Studien  zum  Christentum  und  zur  Theo- 
logie gekommen  ist  und  also  ohne  Frage  in  den  Werken  des  vielge- 
lesenen und  vielbewunderten  Mannes  zu  Hause  gewesen  sein  wird, 
als  er  mit  seiner  Institutio  hervortrat.  Was  nun  dem  Vf.,  dessen 
eigener  Worte  wir  uns  im  Bisherigen  meist  bedient  haben,  vorn- 
herein wahrscheinlich  geworden  ist,  soll  nun  hier  gewiß  gemacht 
werden  und  damit  zugleich  eine  indirekte  Bestätigung  bieten  für  die 
von  dem  Vf.  gegebene  Erklärung  der  Sache  in  der  ersten  Studie. 
Oegen  eine  Kritik  Lobsteins,  der  die  Auffassung  des  Vf.  in  seiner 
ersten  Schrift  dahin  gedeutet  oder  mißverstanden  zu  haben  scheint, 
als  ob  der  Vf.  bei  Calvin  das  christliche  Element  zu  sehr  hinter  dem 
Einfluß  des  Piatonismus  und  hinter  den  Einwirkungen  einer  aus 
Kränklichkeit  stammenden  Stimmungsdisposition  zurücktreten  lasse, 
sucht  der  Vf.  seine  Betrachtungsweise  mit  Bezugnahme  auf  seine 
eigenen  Erklärungen  dahin  festzustellen,  daß  Plato  nur  für  eine  ge- 
wisse, durch  den  christlichen  Ton  noch  hindurch  schimmernde  Fär- 
bung der  Sache  in  Betracht  kommen  solle.  Von  einer  chronologischen 
Behandlung  des  Materials  will  der  Vf.  in  dieser  neuen  Studie  ab- 
sehen, sich  dieser  komplizierten  Aufgabe  vielmehr  bei  einer  andern 
Gelegenheit  unterziehen,  wenn  es  sich  um  eine  Untersuchung  des 
Verhältnisses  von  Erasmus  zu  Luther  handeln  wird,  da  hier  um  des 
deutschen  Reformators  willen  die  Frage  brennend  werden  wird,  in 
welche  Zeit  Aeußerungen  des  Erasmus  fallen,  die  sich  mit  Stim- 
mungen und  Gedanken  Luthers  schneiden.  Die  Schwierigkeit  liege 
darin,  daß  in  der  Leydener  Ausgabe  der  Werke  des  Erasmus  erheb- 
liche Veränderungen  oder  Bereicherungen  in  den  verschiedenen  Auf- 
lagen nicht  berücksichtigt  sind,  namentlich  soweit  es  sich  um  den 
Wendepunkt  von  1517  handelt.  Für  Calvin  kommt  das  um  so  viel 
weniger  in  Betracht,  als  bei  dem  Auftreten  desselben  das  Lebenswerk 
des  Erasmus  so  gut  wie  abgeschlossen  war.  Daß  des  Erasmus  diatribe 
de  libero  arbitrio  gegen  Luther  vom  Jahre  1524  einen  Abfall  des 
großen  Humanisten  von  seinen  eigenen  religiösen  Prinzipien  bedeutete, 
lassen  die  Ausführungen  des  Vf.  bes.  S.  17  Anm.  4  jetzt  schon  mit 
Sicherheit  ahnen.  Wir  sind  auf  den  genaueren  Beweis  hiefür,  der 
ein  eigentümliches  Licht  auf  den  Charakter  des  Erasmus  werfen 

Q6U.  gel.  Am.  1906.  Nr.  9.  50 


Iffi  Gd«L  fdL  Abz.  1906.  Xr.  » 

würde,    in   der   nun   zo  erwartenden  weiteren  Studie   des  VL  sehr 
gespannt. 

Die  Frage,  die  for  nns  ra  bemntworten  wire.  lautet  um  dahin: 
Befindet  sieh  CalTin  mit  seinem  Jenseits-Chrstentiim  zn  den  reli- 
giösen Schriften  des  Erasmns  nnd  durch  denselben  zum  Plntonismus 
in  einem  far  seine  ganze  Anscfaannng  maßgebenden  dnrchgehaden 
Abbangigkeitsrerhaltnis?  Der  Verfaaser  fahrt  seinen  Beweis  dem 
Umfange  nach,  indem  er  das  Jenseits-Christentam  CniTins  in  die 
einzelnen  wichtigsten  Gesichtspankte  auseinanderlegt  und  sodann  dem 
Inhalt  nach  die  Aenflemgen  des  Erasmns  and  Calnns  zu  diesen 
einzelnen  Gesichtspunkten  heranshebt»  Tergleicht  and  seme  Schlosse 
daraus  zieht  oder  genauer  den  Leser  selber  ziehen  laCL  Gleich  in 
der  Einleitung  zum  1.  Kapitel  »WeltTerachtnng  und  Tode88dinsacht< 
macht  der  Vf.  mit  ebenso  großem  Nachdruck  als  Recht  gettend,  daß 
es  sich  in  dieser  Beziehung  nidit  um  einzelne,  wenn  auch  oiler 
wiederholte  Aeußerungen  des  Erasmus  handelt,  sondern  daß  er  in 
der  Weltyerachtung  und  in  der  Todessehnsucht  einen  Grundzug  des 
christlichen  Lebensideals  gesehen  hat  und  daß  bei  Erasmus  die  ganze 
nähere  Aosfuhrung  und  Begründung  sich  finde,  welche  Cnlfin  dem 
Gedanken  gibt,  sowie  eine  Menge  der  Beziehungen,  in  welche  er 
denselben  bringt,  und  daß  diese  Uebereinstimmnng  sich  erstrecke 
bis  auf  die  Verwendung  desselben  Wortschatzes  (S.  14  f.).  Daß  diese 
Wahrnehmung  durchaus  das  Richtige  tri£fl,  beweist  der  Vf.  in  doa 
vorliegenden  ersten  Abschnitt  einerseits  durch  seine  Ausführungen  im 
Text  selber,  andererseits  und  noch  mehr  durch  die  überaus  reichen 
und  ausführlichen  Beweisstellen,  die  er  in  den  Anmerkungen  ans 
den  Werken  des  Erasmus  (meist  dem  5.  Bande  der  Leydener  Aus- 
gabe, der  die  wichtigsten  hierher  gehörigen  Schriften  des  Humanistoi 
enthält,  dann  auch  aus  dem  4.  Bajide)  bringt  und  die  dann  mit  da 
entsprechenden  Aeußerungen  Calvins  in  den  verschiedenen  Bearbei- 
tungen seiner  Institutio  (Corpus  Reformatorum  tom.  29  und  30)  auf 
das  sorgfältigste  verglichen  werden.  Ich  habe  die  Zitate  aus  den  ge- 
nannten Bänden  der  Werke  Calvins  und  aus  dem  5.  Bande  der 
Werke  des  Erasmus  im  Einzelnen  nachgeschlagen  und  geprüft  und 
kann  darum  dem  umfassenden  Fleiß  und  der  punküiehen  Sorgfalt 
des  Verfassers  nur  das  beste  Zeugnis  der  Zuverlässigkeit  ausstellen. 

Aber  dieselbe  Wahrnehmung  erstreckt  sich  auch  auf  die  übrigen 
Abschnitte,  in  denen  der  Vf.  das  Jenseits-Christentum  Calvins  in 
seinem  Verhältnis  zu  Erasmus  in  seinen  einzelnen  Beziehungen  aus- 
einanderlegt. Diese  Abschnitte  sind:  Die  Folgen  (dieser  Jenseits- 
stimmung) für  die  Sittlichkeit  S.  14—30;  Die  Güter  und  Aufgaben 
des   Erdenlebens   im   Besonderen   S.  31 — 34;    Der    Glaubensbegriff 


Schulze,  Calvins  Jenseits-Christentum  709 

S.  40— 66;  Die  Eschatologie  S.  67— 73.  Es  würde  zu  weit  führen, 
wenn  wir  auf  das  Einzelne  uns  genauer  einlassen  wollten.  Nur 
einzelnes  müssen  wir  noch  herausgreifen,  um  es  besonders  zu  be- 
tonen. 

Leicht  ist  die  Lektüre  der  Schrift  schon  aus  dem  Grunde  nicht, 
weil  einmal  der  Text  an  und  für  sich  in  sehr  gedrungener  Form  ge- 
halten und  doch  selber  von  Zitaten  ganz  durchzogen  ist,  andererseits 
aber  der  Blick  und  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  immer  wieder 
vom  Text  auf  die  sehr  zahlreichen,  den  größeren  Teil  des  Raumes 
der  Schrift  einnehmenden  Anmerkungen  abgelenkt  wird,  und  endlich 
auch,  weil  es  im  Text  und  in  den  Anmerkungen  nicht  an  Exkursen 
fehlt,  durch  welche  der  Vf.  den  einheitlichen  Fluß  seiner  Darstellung 
unterbricht.  Wir  möchten  den  Grund  für  diese  Schwierigkeiten,  die 
sich  dem  Leser  umsomehr  entgegenstellen,  je  eifriger  er  bemüht  ist, 
während  der  Lektüre  der  Schrift  die  Richtigkeit  der  Zitate  zu  kon- 
trollieren, nicht  sowohl  in  einer  gewissen  Unbeholfenheit  des  Vf. 
suchen  und  finden,  als  vielmehr  in  seinem  eifrigen  und  sehr  dankens- 
werten Bestreben,  in  möglichst  zusammengedrängter  Form  seinen  Stoff 
vorzuführen  und  seiner  Beweispflicht  gerecht  zu  werden. 

Der  Gedanke,  warum  denn  der  Vf.  zur  Erklärung  der  Jenseits- 
Stimmung  Calvins  nicht  auf  Seneca  zurückgegriffen  habe,  mit  dem 
ja  Calvin  ganz  genau  bekannt  war  und  dessen  Schrift  de  dementia 
Calvin  ja  im  jugendlichen  Alter  herausgegeben  hat,  ist  mir  bald  ge- 
kommen und  wird  wohl  auch  bei  andern  Lesern  auftauchen.  Leider  er- 
fährt der  Leser  den  Grund  hierfür  erst  S.  40  Anm.  1 :  der  Vf.  wollte 
sich  bei  Seneca  nicht  aufhalten,  um  auf  die  letzte  Quelle,  nämlich 
Piatos  Phädon  zurückzugehen.  Ob  nicht  doch  ein  genaueres  Ein- 
gehen auf  die  Beeinflussung  Calvins,  bzw.  seines  Vorgängers  Erasmus 
durch  Seneca  zweckmäßig  gewesen  wäre,  wird  sich  bei  dem  gewal- 
tigen Ansehen,  dessen  sich  Seneca  im  Humanistenzeitalter  erfreute 
—  ich  erinnere  nur  an  Zwingli  —  nicht  völlig  abweisen  lassen.  Für 
die  Bedeutung  Piatos  zur  Entwickelung  dieses  weltflüchtigen  Sinnes 
möchte  ich  noch  hinweisen  auf  die  ausgezeichneten  Ausführungen  in 
Erwin  Rohdes  Psyche  «U  S.  263—295. 

Die  Anregungen,  die  der  Vf.  gegeben  hat,  werden  nach  ver- 
schiedenen Seiten  sehr  fruchtbar  sein.  Eine  davon  haben  wir  schon 
oben  berührt,  als  wir  von  des  Erasmus  diatribe  de  libero  arbitrio 
redeten:  auf  grund  des  von  dem  Vf.  erbrachten  Tatsachenmaterials 
bleibt  wohl  nichts  anderes  übrig,  als  ein  berechtigter  Zweifel  daran, 
ob  es  dem  Erasmus  mit  seiner  gegen  Luther  gerichteten  Schrift,  die 
ja  den  sonstigen  Grundanschauungen  des  großen  Humanisten  völlig 
widerspricht  (s.  Schulze  S.  17),  überhaupt  ernst  gewesen  ist.  Sodann 

50* 


710  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

ist  jedenfalls  klar,  daß,  wenn  wir  auch  den  Einfluß  der  Stimmimg 
eines  Apostels  Paulus  auf  grund  von  2.  Kor.  5  und  Phil.  1  hoch  ein- 
schätzen für  die  Anschauung  eines  Erasmus  wie  eines  CalTin,  dieses 
spezifische  persönliche  Christentum  in  seiner  ganz  eigenartigen  escha- 
tologischen  Stimmung  doch  ganz  hervorragend  platonisch  gefärbt  ist 
Von  hier  aus  angesehen  läßt  sich  auch  das  Recht  der  wider- 
täuferischen  Bewegung,  sofern  sie  wenigstens  in  ihren  besten  Ver- 
tretern, einem  Denk,  Hätzer  u.  a.  auf  das  von  Jesus  selber  gepre- 
digte Evangelium  zurückgriff,  recht  wohl  verstehen,  wenn  auch  diese 
Richtung  in  der  Art  und  Weise,  wie  sie  dieses  Evangelium  in  der 
Gegenwart  zur  Geltung  bringen  wollte,  wohl  fehlgegrüfen  hat  Es 
wäre  zu  wünschen,  daß  der  Vf.  in  den  weiteren  Arbeiten,  die  wir 
von  seiner  Hand  zu  hoffen  haben,  auch  auf  diese  und  andere  Punkte 
seine  Aufmerksamkeit  richten  möchte,  z.  6.  auf  die  gegenwärtig  viel 
behandelte  Frage,  wie  die  religiöse  Stimmung  der  reformierten,  d.  h. 
der  durch  Calvin  und  nun  auch  mittelbar  von  Erasmus  bestimmten 
Frömmigkeit  zu  dem  aus  ihm  herausgewachsenen  Geiste  kapitalisti- 
schen Denkens  und  Handelns  sich  verhalte,  vgl.  Theol.  Rundschau 
Vm  S.  507. 

Doch  sagen  wir  inzwischen  dem  Vf.  für  seine  zweite  Gabe  besten 
Dank.  Wir  sehen  seiner  weiteren  literarischen  Tätigkeit  auf  dem 
von  ihm  bearbeiteten  Gebiete  mit  lebendiger  Spannung  entgegen. 

Weinsberg  D.  A.  Baur 


BepertoriUE  über  die  in  Zeit- und  Sammelschriften  der  Jahre 
1891—1900  enthaltenen  Aufsätze  und  Mi  tteiiangen  schweizer- 
geschichtlichen Inhaltes.  Als  Fortsetzung  zu  Brandstetters  Reper- 
torium  für  die  Jahre  1812 — 1890  herausgegeben  von  der  allgemeinen  geschicht- 
forschenden Gesellschaft  der  Schweiz  und  in  ihrem  Auftrag  bearbeitet  yon  Dr. 
Hans  Barth,  Stadtbibliothekar  in  Winterthur.  Basel  1906.  Verlag  der 
Basler  Buch-  und  Antiquariatshandlung,  vormals  Adolf  Geering.  YII  and  859 
Seiten.   Lexikon-Oktav.   Preis  brosch.  8  Mk. 

Das  im  Jahre  1892  erschienene,  eben  genannte  schweizergeschicht- 
liche Repertorium  von  Prof.  Dr.  Jos.  Leop.  Brandstetter  in  Luzem 
ist  im  Jahrgang  1893  dieser  Zeitschrift,  Nr.  4  S.  181 — 184  besprochen 
worden.  Fast  möchte  man  erschrecken  bei  dem  Gedanken,  daß  die 
Literatur  weiterer  10  Jahre  einen  Band  füllt,  beinahe  ebenso  groß 
wie  der  erste.  Bei  näherem  Zusehen  ist  indes  die  Sache  doch  nicht 
ganz  so  arg.  Einmal  hat  Barth  eine  Anzahl  Zeitschriften  aufge- 
nommen und  von  Anfang  an  ausgezogen,  die  sein  Vorgänger  über- 


Barth,  Bepertoriam  üb.  Aufsätze  u.  Mitteiloogen  schweizergeschichtl.  Inhalts   711 

gangen  hatte;  ferner  wurden  als  » Sammelschriften c  eine  Anzahl 
weiterer  Werke,  hauptsächlich  biographischen  Inhalts,  hinzugenommen, 
die  ebenfalls  zahlreiche  Ergänzungen  ergaben.  Von  ausländischen 
Zeitschriften,  die  Brandstetter  nur  spärlich  herangezogen  hatte,  ist 
das  Freiburger  Diözesan- Archiv ,  Birlingers  Alemannia,  Schau-ins- 
Land  und  vielleicht  noch  ein  paar  andere  hinzugekommen,  die  alle 
willkommene  Ergänzungen  bieten.  Leider  konnten  die  übrigen  aus- 
ländischen Zeitschriften  nur  in  beschränktem  Maße  hinzugenommen 
werden,  wodurch  allerdings  ein  beträchtlicher  Ausfall  entsteht.  Von 
politischen  Zeitungen  ist  nur  die  Neue  Zürcher-Zeitung  berück- 
sichtigt, die  ja  allerdings  viele  bezügliche  Artikel  bringt;  aber  an- 
dere Tagesblätter,  selbst  Kalender,  tun  das  auch,  so  daß  hier  schwer 
eine  Grenze  zu  ziehen  ist.  Indessen,  der  Verfasser  mochte  gedacht 
haben:  Superflua  non  nocent,  ein  Grundsatz,  dem  man  noch  am 
ehesten  in  der  Bibliographie  Konzessionen  machen  kann.  Im  ganzen 
sind  249  Zeit-  und  Sammelschriften  benutzt,  deren  Titel  im  ersten 
Teil  aufgeführt  werden. 

Der  zweite  Teil  bildet  den  Hauptinhalt  und  nimmt  auch  den 
größten  Raum  des  Buches  ein.  Er  enthält,  systematisch  geordnet, 
das  Verzeichnis  der  Abhandlungen  und  Mitteilungen  und  zerfällt 
in  drei  Unterabteilungen:  vorrömische  Zeit,  römische  Zeit,  Mittel- 
alter und  Neuzeit.  Die  weitaus  größte  Abteilung  ist  naturgemäß  die 
dritte.  Unter  19  Titebi,  wovon  viele  wieder  zahlreiche  Unterab- 
teilungen einschließen,  werden  einige  tausend  Abhandlungen  ver- 
zeichnet. Die  wichtigeren  davon  sind:  Ortsgeschichte,  Kirchenge- 
schichte, Literaturgeschichte.  Zur  Sprachgeschichte  wird  auch  die 
Deutung  der  Familien-  und  Ortsnamen  gerechnet.  Gegen  die  Ein- 
teilung ließe  sich  ja  manches  einwenden ;  Barth  hat  aber  doch  gut 
getan,  bei  derjenigen  seines  Vorgängers  zu  bleiben,  da  man  in  vielen 
Fällen  beide  Werke  über  denselben  Gegenstand  wird  nachschlagen 
müssen  und  so  sich  leichter  zurechtfinden  kann.  Die  umfangreichste 
von  allen  Abteilungen,  die  wohl  auch  am  meisten  benutzt  wird,  ist 
diejenige,  welche  > Biographien  und  Nekrologec  enthält.  Ueber  5000 
Namen  werden  in  alphabetischer  Reihenfolge  verzeichnet,  die  Lebens- 
zeit der  betreifenden  Person  und  der  Fundort  des  biographischen 
Materials  über  sie  angegeben.  Die  meisten  Artikel  füllen  kaum  eine 
Zeile,  dank  den  angewandten  Abkürzungen  und  —  der  unbedeuten- 
den Persönlichkeit :  Aerzte,  Lehrer,  Militärs,  Musiker,  denen  in  einer 
Fachzeitschrift  der  verdiente  Nekrolog  gewidmet  wird;  so  etwa  auch 
einmal  einem  Tambour-Instruktor.  Auch  ließ  sich  nicht  vermeiden, 
daß  einigen  Lebenden  bereits  ihr  Denkmal  auf  diesem  großen  Kirch- 
hof errichtet  wurde;  ihre  Zahl  ist  aber  nicht  groß.    Am  meisten 


SjjEm  flXBUit  *&  Pfaulontiiceotar  ecu.  Shc  zv«  Södbl:  ZnicS 

bro^  «I  BdBt  nsz  asl 

Mf>  Kfluad  FerimBfd  ]fev«r,  GnafneA  KeOer. 

TflKt  ecwa  «ft  Dnoai  «ncr  Seite  fiOes. 

Der  drine  TesL  4»  Tenekkiä  der  Vertes 
r«fjscer  ooer  <fai  Gaue  da  bei  jeden  Xaaoi  aaf  fie  Sence  w- 
wiesen  vinL  w^  er  Torfcomat:  Tiele  smd  wkderhoic  his  ix  iiii  iiiimii 
uf  iknObetL  Sexte  «rfgefthrt,  Uefaer  1*>D0  Xaaem  inrftea  kaer  atf- 
gefihrt  leiL  tm  desea  die  Bostea  aar  esae  ZeOe  fiUks: 
obeisteigt  bei  aodera  die  Zähl  der  Zitate  das  ToOe 
Tb.  T.  Liebeiaa:  ikai  koauaea  Hoppeler^  Meyer 
Molioea,  ScodKlber;,  Tetter  aa  aidistea. 

Das  Bepertoriaai  iü  eia  aaeatbekriiches 
jeden,  der  sieh  mit  Schweizergeaciiidite  be&ifit.  Aber 
weitere  Kreise  ist  es  eiae  wichtige  Fandgrabe. 
aagefnbrt,  dafi  der  zweite  Teil  S4  Abhaadhiagea  aber 
Foade  and  Orte  Terzeidtaet,  58  aber  Schweizer  im  Aaslaad.  2ä0 
über  Wappeakaade,  77  aber  Mnazkoade,  47  über  Giaamleiei,  59 
ober  historisdie  and  Volkslieder,  68  ober  Sagen,  29  über  Masik.  Die 
AbteOnng  KnltorgeschMite  fuhrt  in  18  Rubriken  die  Tersdüedeastei 
Gebiete  Tor.  So  Terdient  der  Fleifi  des  Vertusen  alles  Loh,  der  ii 
5  Jahren  trotz  Terschiedener  Hindemisse  eiae  treflfliche  bibliogn- 
phiscbe  Leistung  zu  stände  gebracht  hat.  Aber  auch  seine  Grüad- 
licbkeit  und  ZuTerlassi^eit  Terdienen  alle  Anerkennung;  die  weniges 
und  unbedeutenden  Lücken,  die  mir  beim  Durchmustern  an^estofiea 
sind,  Termögen  die  Brauchbarkeit  nicht  zu  yerringem.  Als  sein 
besonderes  Verdienst  ist  noch  zu  erwähnen,  daß  er  die  Names 
vieler  Verfasser,  die  nur  mit  Chiffem  angedeutet  waren,  ▼oD- 
ständig  angibt.  Auch  sonst  weicht  er  in  kleineren  Dingen,  die  den 
Druck  betreflfen,  einigemal  Ton  seinem  Vorgänger  ab  und  hat  das 
Buch  dadurch  leichter  benutzbar  gemacht.  Möge  es  dem  Verfasser 
vergönnt  sein,  auch  die  folgenden  Jahrzehnte  in  möglichster  Voll- 
ständigkeit uns  vorzuführen. 

Einsiedeln  P.  Gabriel  Meier 


Festschrift  z.  50jährigeo  Bestehen  des  eidgen.  Polytechnikums  713 


Festschrift  zur  Feier  des  fnnCBigJfthrifen  Bestehens  des  Eidgen5sslsehen 
Polytechnikums.  Erster  Teil  (XYI  u.  405  S.,  mit  zahlreichen  Porträts). 
ZweiterTeil  (III,  u.  480  S.,  mit  zahlreichen  Bildern  im  Texte),  (gr.  4,  Druck 
von  Iluber  u.  Comp,  in  Frauenfeld,  1905).  (gr.  4,  gedruckt  vom  polygraphischen 
Institut  von  Zürcher  und  Furrer,  Buchdruckerei,  Zürich,  1905). 

Die  monumentale  Festschrift,  die  im  Titel  genannt  ist,  zerfällt 
in  zwei  Teile:  »Geschichte  der  Gründung  des  Eidgenössi- 
schen Polytechnikums  mit  einer  Uebersicht  seiner  Ent- 
wickelung,  1855—1905,  zur  Feier  des  fünfzigjährigen  Bestehens 
der  Anstalt  verfaßt  im  Auftrage  des  Schweizerischen  Schulrates  von 
WilhelmOechsli,  Professor  der  Schweizergeschichte«,  und:  >Die 
bauliche  Entwickelung  Zürichs  in  Einzeldarstellungen, 
zur  Feier  des  fünfzigjährigen  .  Bestehens  des  eidgenössischen  Poly- 
technikums verfaßt  von  Mitgliedern  des  Züricher  Ingenieur- 
und  Architektenvereins«. 

In  dem  Verfasser  des  G.  G.  A.,  1904,  Nr.  8,  in  seinem  ersten 
Bande  besprochenen  großen  historischen  Werkes  hatte  die  dem  eid- 
genössischen Polytechnikum  vorgesetzte  Behörde  die  Persönlichkeit 
mit  richtigem  Blicke  erlesen,  die  befähigt  war,  die  Aufgabe  der  Dar- 
stellung der  ersten  fünfzig  Jahre  der  Lehranstalt  zu  erfüllen. 

In  dem  einleitenden  Abschnitte  > Vorgeschichte«  geht  Oechsli 
zuerst  dem  Ursprung  der  Gedanken  nach,  die  1855  ihre  allerdings 
nicht  dem  vollen  Umfange  des  ersten  Ideals  entsprechende  Aus- 
führung fanden.  Denn  als  1798  der  Unterrichtsminister  des  eben 
erst  unter  schweren  Stürmen  geschaffenen  helvetischen  Einheitsstaates 
den  Plan  eines  > allumfassenden  Institutes«  aufstellte,  sollte  diese 
schweizerische  Hochschule  zugleich  als  hohe  technische  Lehranstalt 
wirken;  freilich  war  von  der  Möglichkeit  einer  Durchführung  des 
Projektes  in  den  Wirren  jener  Jahre  keine  Rede.  Neue  Anregungen 
folgten  von  1827  an,  und  die  so  fruchtbare  mit  dem  Jahre  1830  für 
die  Schweiz  eintretende  Epoche  förderte  anfangs  die  Weiterentwick- 
lung des  Programms.  Ganz  besonders  brachte  1832  der  Waadtländer 
Monnard,  der  1865  als  Professor  an  der  Universität  Bonn  starb,  den 
Vorschlag  der  Gründung  einer  Universität  großen  Stiles,  auf  dem 
Wege  des  Abschlusses  eines  Konkordates  zwischen  den  einzelnen 
Kantonen;  doch  zur  offiziellen  Verhandlung  an  der  Tagsatzung  kam 
der  Plan  nicht.  Denn  jetzt  gingen  einzelne  Kantone,  zuerst,  noch 
1832,  Zürich,  dann  Bern,  hernach  in  Verjüngung  seiner  schon  dem 
Mittelalter  entstammenden  Hochschule  Basel  vor,  in  der  Ausbildung 
eigener  Universitäten,  und  in  ähnlichen  Bestrebungen,  für  ihre  Aka- 


714  Gott  goL  Anz.  1906.  Nr.  9 

demien,  folgten  in  der  Westschweiz  Genf,  Lausanne,  Neuenbürg.  Mit 
vollem  Rechte  wendet  sich  da  der  Verfasser  gegen  die  unzutreffende 
Aeußerung  Treitschkes,  in  der  > Politik  c,  Band  II,  S.  262;  denn  nicht 
an  der  angeblichen  Abneigung  der  Demokratie  gegen  die  Hochschal- 
bildung, sondern  an  »der  historisch  gewordenen  Zersplitterung  des 
geistigen,  wie  des  politischen  Lebens  der  Schweiz«  ist  die  gesamt- 
schweizerische Hochschule  gescheitert.  Im  zweiten  Teile  dieser 
> Vorgeschichte«  bietet  dann  Oechsli  die  sorgfältig  gesammelte  Ueber- 
sicht  der  Leistungen  für  das  technische  Bildungswesen  in  den  ein- 
zelnen Teilen  der  Schweiz  bis  zum  Jahre  1855. 

In  ein  neues  Stadium  trat  die  ganze  Frage  der  Errichtung  einer 
höchsten  schweizerischen  Lehranstalt  mit  der  Annahme  der  neuen 
Bundesverfassung  von  1848,  in  die  nach  lebhaften  Diskussionen  in 
der  für  die  Revision  des  Bundesvertrages  eingesetzten  Kommission 
auch  ein  Artikel  eingefügt  erschien,  der  dem  Bunde  die  Befugnis 
gab,  eine  Universität  und  eine  polytechnische  Schule  zu  errichten. 
Freilich  verstrich  noch  eine  längere  Zeit  bis  zur  1851  vollzogenen 
Einsetzung  einer  > Hochschulkommission«,  und  wie  schon  1848  die 
während  der  Verfassungsberatungen  hervortretenden  oppositionellen 
Aeußerungen,  teils  in  den  Kantonen,  teils  auf  der  Tagsatzung,  hatten 
voraussehen  lassen  —  so  war  in  der  Schlußredaktion  des  Hocbschul- 
artikels  die  Verpflichtung  des  Bundes  eben  zu  einer  >Befugni8<  zu- 
sammengeschrumpft — ,  ebenso  regten  sich  jetzt  abermals  die  Gegner- 
schaften gegen  eine  umfassende  Gründung.  Zwar  war  schon  1849 
der  Tessiner  Franscini,  der  1827  mit  einem  erstmaligen  Ruf  nach 
einer  gemeinsamen  Universität  hervorgetreten  war,  als  Leiter  des 
Departements  des  Innern  im  neu  gewählten  Bundesrate  damit  durch- 
gedrungen, daß  aus  den  Kantonen  statistische  Materialien  zu  der 
Frage  der  Durchführung  des  Hochschulartikels  gesammelt  wurden; 
allein  die  weiter  angefügte  Fragstellung,  ob  die  Errichtung  eidge- 
nössischer Anstalten  zu  wünschen  sei,  fand  eher  ablehnende  Er- 
widerungen. So  kam  eben  das  Jahr  1851  heran,  ehe,  wieder  anf 
Franscinis  Antrag,  die  Expertenkommission  erwählt  wurde  und  zu- 
sammentrat. In  derselben  wurde  nun  von  Anfang  an  der  Regierungs- 
präsident von  Zürich,  Alfred  Escher,  der  Vorfechter  für  die  >  schönste 
schweizerische  Kulturfrage  <,  allerdings  in  dem  Sinne,  daß  Zürich, 
nachdem  Bern  Sitz  der  Bundesgewalt  geworden  war,  durch  die  Zu- 
weisung der  eidgenössischen  Hochschule  entschädigt  werde;  die 
schließUche  Abstimmung  erklärte  Universität  und  Polytechnikum  als 
wünschenswert,  gab  aber  der  ersteren  für  den  Fall,  daß  gleichzeitige 
Errichtung  ausgeschlossen  erscheine,  die  Priorität.  Bei  der  Bera- 
tung der  von  der  Kommission  ausgearbeiteten,  durch  den  Bundesrat 


Festschrift  z.  50  jährigen  Bestehea  des  eidgen.  Polytechnikams  715 

unterbreiteten  Gesetzesvorschläge  zeigten  die  eidgenössischen  Räte 
Gunst  und  Gegnerschaft,  und  so  wurde  eine  abermalige  mehijährige 
Verschleppung  hervorgerufen.  Nur  durch  Eschers,  des  Sprechers  der 
Mehrheit  der  bestellten  Nationalrats-Kommission,  rhetorischen  Sieg 
wurde  endlich  am  29.  Januar  1854  der  Nationalrat  dazu  gebracht, 
die  Gründung  der  Universität,  samt  polytechnischer  Schule,  und  zwar 
für  Zürich,  zu  beschließen.  Aber  der  Ständerat  wies  es  drei  Tage 
später  in  seiner  Abstimmung  ab,  dem  Beschlüsse  zu  folgen,  und  gab, 
mit  knapper  Not,  nur  seine  Einwilligung  für  das  Polytechnikum,  so 
daß  nun  auch  der  Nationalrat,  um  wenigstens  diesen  Teil  des  Ganzen 
zu  retten,  sich  dem  Ständerate  anschloß.  Bis  zum  7.  Februar  kam 
das  Polytechnikumsgesetz  zu  Stande;  es  entsprach  völlig  dem  wohl 
in  sich  gefügten  Entwürfe,  den  Escher  schon  1851,  als  maßgebendes 
Mitglied  der  damals  arbeitenden  Kommission,  vortrefflich  beraten 
durch  den  aus  Nidwaiden  stammenden  Mathematiker  und  Techniker 
Deschwanden,  Rektor  der  Zürcher  Industrieschule,  aufgestellt  hatte, 
in  überlegtem  Anschluß  an  das  Vorbild  der  Karlsruher  Schule  und 
im  Gegensatz  zu  der  Skizze  des  Genfers  General  Dufour,  für  den 
das  französische  Muster  maßgebend  gewesen  war.  Daneben  konnten 
die  unterlegenen  Hochschulfreunde  doch  daraus  einen  Trost  ge- 
winnen, daß  der  Ständerat  gleich  nach  seiner  negativ  lautenden  Ab- 
stimmung am  1.  Februar  in  einem  weiteren  Beschlüsse  der  in  Zürich 
zu  errichtenden  polytechnischen  Schule  eine  Schule  der  exacten,  poli- 
tischen und  humanistischen  Wissenschaften  hinzufügte,  was  als  ein 
schöner  Anfang  für  die  zunächst  nicht  durchführbare  Universität  an- 
zusehen sei. 

Nachdem  Zürich  sich  bereit  erklärt  hatte,  die  durch  die  Zu- 
weisung der  Lehranstalt  erwachsenden  Verpflichtungen  zu  über- 
nehmen, und  nach  Feststellung  des  vom  31.  Juli  1854  datierten 
Reglements,  bei  dessen  Ausarbeitung  abermals  Deschwanden  am 
meisten  beteiligt  war,  wurde  vom  Bundesrat  der  Schulrat  bestellt, 
und  der  Thurgauer  Kern,  der  schon  in  der  großen  Debatte  im  Ja- 
nuar in  einer  ausgezeichneten  Rede  im  Nationalrate  für  die  Sache 
gekämpft  hatte,  erhielt  den  Vorsitz  in  der  Behörde,  den  er  bis  1857, 
wo  er  zum  bevollmächtigten  Minister  der  Eidgenossenschaft  in  Paris 
erwählt  wurde,  beibehielt.  Am  15.  Oktober  1855  fand  die  Eröffnungs- 
feier statt.  Es  war  dem  Schulrate  gelungen,  in  die  Reihe  der  32 
Professoren  Kräfte  ersten  Ranges  hineinzuziehen.  Der  Architekt 
Semper,  die  Ingenieure  Culmann  und  Wild,  für  die  mechanisch-tech- 
nische Abteilung  Zeuner  und  Reuleaux,  die  Chemiker  Städeler  und 
BoUey,  die  Physiker  Mousson  und  Glausius,  die  Botaniker  Heer  und 
Nägeli,  der  Geologe  Escher  von  der  Linth,  der  Mathematiker  Raabe, 


716  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

der  Astronom  Wolf  zählten  zu  den  Gewählten,  und   dabei   bestand 
auch  die  Fühlung  mit  der  Zürcher  Universität,  schon   dadurch,   daß 
Lehrer  der  Hochschule  unter  den  ernannten  Professoren  waren.    In 
der  literarisch-staatswirtschaftlichen  Abteilung  waren  Friedrich  Yischer, 
der  spätere  italienische  Unterrichtsminister  de  Sanctis,  der  Historiker 
Adolf  Schmidt,    und   ganz  besonders  Jakob  Burckhardt  Glieder  des 
Lehrkörpers;    das    vom  Verfasser    aus    den   Akten   hervorgezogene 
Schreiben  Kuglers,   an  Kern,   über  Burckhardt  (S.  209  u.  210)  ist 
ebenso  ehrend  für  den  Schreiber,  wie  für  den  Empfohlenen.    Aller- 
dings dauerte  es  dann  noch  bis  1863,  ehe  ein  erster  Teil   des  auf 
stolzer  Höhe  über  Zürich  nach  dem  Projekte  Sempers  erbauten  Poly- 
technikumsgebäudes bezogen  werden  konnte.    Inzwischen  war  auch 
—  schon  1857  —  an  Kerns  Stelle  der  gleichfalls  dem  Kanton  Thur- 
gau  entstammende  Kappeier,  der  auch  schon  1851  als  Berichterstatter 
im  Ständerate  in  der  großen  Redeschlacht  geschickt  gekämpft  hatte, 
Schulratspräsident  geworden,   und  er  bewies  durch  seine  organisato- 
rische Befähigung,  durch  die  Findigkeit,  wodurch  er  Lehrkräfte  neu 
aufzusuchen  und  zu  gewinnen  wußte,  seine  Tüchtigkeit. 

Durch  die  Fülle  des  Stoffes  genötigt,  hält  sich  der  Verfasser 
über  die  näher  liegenden  Zeiten,  bis  1880,  und  über  das  zweite 
Vierteljahrhundert,  seit  diesem  Jahre,  kürzer,  besonders  auch  in  der 
Behandlung  der  Personalveränderungen,  und  er  schließt  mit  einer 
zutreffenden  Würdigung  der  Bedeutung  der  polytechnischen  Schule 
für  die  Schweiz  als  Gesamtheit. 

Die  22  eng  gedruckten  Seiten  der  >Anmerkungen<  geben  einen 
Begriff  von  dem  ausgedehnten  Material,  das  für  die  Arbeit  zu 
suchen  und  zu  durchdringen  war.  Neben  den  Akten  im  Bundesarchiv, 
in  denjenigen  des  Schulrates  sind  es  besonders  die  im  umfangreichsten 
Maß  herangezogenen  Zeugnisse  in  Zeitungen,  Brochuren,  anderen 
zerstreuten  Mitteilungen.  Gerade  dadurch  verstand  es  der  Verfasser, 
der  Geschichte  der  so  interessanten  einleitenden  Stadien  eine  fessebide 
Anschaulichkeit  zu  verleihen,  so  daß  oft  ein  eigentlich  dramatisches 
Leben  zu  Tage  kommt.  Die  verschiedenartigen  Wandelungen  im 
Gründungsplane,  die  persönlichen,  lokalen,  kantonalen  Schattierungen 
im  Kampfe  um  denselben  finden  ihre  klare  Erfassung  und  nachdrück- 
liche Würdigung.  Ganz  vorzüglich  sind  aber  auch  die  wohl  gelun- 
genen Charakteristiken  der  handelnden  Persönlichkeiten,  der  zur 
ersten  Unterrichtserteilung  berufenen  Lehrer  hervorzuheben.  Ein 
den  Schluß  des  Bandes  (S.  393—406)  bildendes  alphabetisches  Be- 
gister  bringt  den  Schlüssel  des  reichen  Inhaltes. 

Der  Verfasser  dankt  im  Vorwort  seinem  Kollegen  Theodor  Vetter 
für  die  vielfache  Mithülfe,  besonders  bei  dem  illustrativen  Teil;  denn 


Festschrift  z.  50  jährigen  Bestehen  des  eidgen.  Polytechnikoms  717 

37  Porträts  begleiten  den  Text.  Neben  den  hier  schon  genannten 
Persönlichkeiten  sind  z.  B.  noch  die  Professoren  Kenngott,  Johannes 
Scherr,  Rambert,  Lübke,  Kinkel,  Viktor  Meyer,  Christoffel  und  Veith, 
die  Bundesräte  Schenk  und  Forrer,  die  Schulratspräsidenten  Bleuler 
und  Gnehm  aufgenommen. 

>Die  bauliche  Entwicklung  Zürichs«  ist,  wie  schon  be- 
merkt, der  zweite  Band  der  »Festschrift«  betitelt.  Unter  der 
Redaktion  von  Architekt  Oberländer-Rittershaus  haben  sich  Mitglieder 
des  Zürcher  Ingenieur-  und  Architekten  Vereins,  zu  denen  auch  einige 
nicht  zum  Verein  zählende  Verfasser  kommen,  zur  Erstellung  einer 
umfassenden  Darstellung  der  architektonischen,  technischen  und  in- 
dustriellen Bedeutung  des  Sitzes  des  eidgenössischen  Polytechnikums, 
in  dreißig  Abschnitten,  vereinigt. 

Gleich  die  zwei  ersten  Kapitel,  >Die  kirchlichen  Baudenkmäler 
des  alten  Zürich«,  von  dem  Zürcher  Kunsthistoriker  Dr.  Ganz,  Privat- 
dozenten in  Basel,  und  >Die  bürgerlichen  Bauwerke  des  alten  Zürich«, 
von  Architekt  Dr.  Bär,  bieten  sorgfältige,  kurzgefaßte  und  —  die 
erste  in  Uebereinstimmung  mit  den  neuesten  Entdeckungen  —  dem 
Stande  der  Kentnisse  ganz  entsprechende  Würdigungen  des  Denk- 
mälerbestandes. Ganz  legt  selbstverständlich  das  Hauptgewicht  auf 
die  Fraumünsterkirche,  deren  älteste  Bauteile,  Reste  der  Krypta  der 
874  geweihten  Säulenbasilika,  erst  vor  wenigen  Jahren  ausgegraben 
wurden^),  und  auf  das  Großmünster,  von  dem  möglicherweise  noch 
ein  Rest  der  1078  durch  Brand  zerstörten  Anlage  vorhanden  ist.  Bär 
sucht  mit  pietätvollem  Verständnis  in  der  modernen,  vielfach  ent- 
stellend modernisierten  Stadt  die  Ueberbleibsel  origineller  Bauweise 
auf;  er  sieht  in  der  Möglichkeit,  die  ganze  jahrhundertelange  Ent- 
wicklung des  alten  Zürcher  Stadthauses  aus  den  frühmittelalter- 
lichen Bauten  nachweisen  zu  können,  ein  allgemein  kultur-  und  kunst- 
geschichtliches Interesse  bei  dieser  Betrachtung  der  bürgerlichen 
Bauweise  Zürichs,  wendet  sich  aber  am  Schlüsse,  für  die  Zeit  seit 
Ende  des  17.  Jahrhunderts,  wo  insbesondere  das  Rathaus  neu  gebaut 
wurde,  den  mit  größerem  Aufwände  erstellten  öffentlichen  Gebäuden 
zu.  Der  Abhandlung  kommt  das  Verdienst  zu,  ein  erstes  Mal  diese 
ganze  Entwicklung  zusammengefaßt  zu  haben.  —  Von  dem  seither 
verstorbenen  Ingenieur  S.  Pestalozzi  ist  >Die  bauliche  Entwicklung 
der  Stadt  Zürich  hinsichtlich  Tiefbauten  und  Quartieranlagen  von 
1855  bis  1893«  vorgeführt,  mit  der  notwendigen  nachdrücklichen  Be- 


1)  Vgl.  Rahn  und  Zeller -WerdmOller:  Die  Baabeschreibang  des  Fraa- 
münsters  (1901),  in  Band  XXY  der  Mitteüongen  der  Antiquarischen  Gesellschaft 
in  Zürich. 


718  Odtt  gd.  Anz.  1906.    Nr.  9 

tonung  der  Tätigkeit  des  Stadtingenieurs   Bürkli^).   —   Der   nun- 
mehrige Stadtingenieur  Wenner  läßt  Abschnitte  über  Straßen  und 
öffentliche  Plätze,  Brückenbauten,  Kanalisation  folgen,   Stadtgärtner 
Rothpletz  denjenigen  über  Gartenanlagen  und  Baumpflanznngen,  wei- 
tere über  das  Abfuhrwesen  dessen  Chef  Fluck,  über  die  Wasserversor- 
gung Ingenieur  Peter,  über  die  Beleuchtung  Gasdirektor  Weiß,  über 
das  Elektrizitätswerk  der  Direktor  Wagner.  —  Aehnlich  zerfallt  das 
Gesamtkapitel  Bahnen,  Dampfschiffe,  Post  und  Telegraphie  in  meh- 
rere Unterabteilungen.      Den  Abschnitt   Haupt-  und   Nebenbahnen 
schrieb  Oberingenieur  Moser,  der  selbst  Projektierung  und  Bau  der 
Mehrzahl  unter  ihnen  leitete,  ebenso  den  über  die  DampfschiSiahrt, 
woneben  die  Straßenbahnen  von  Direktor  Bertschinger  bearbeitet  sind. 
Die  kurzen   Abschnitte   über  Post,   über  Telegraph  und  Telephon 
gaben   die   betreffenden  Direktionen.  —  Wieder  zur   Baugeschichte 
zählen  Professor  Bluntschlis  Beschreibung  der  neuen  —  im  Ganzen 
dreizehn  —  Kirchenbauten,  von  denen  der  Verfasser  selbst  die  Kirche 
des  Außenquartiers  Enge  schuf.    Kantonsbaumeister  Fietz  behandelt 
einerseits  die  Militärbauten  und  Polizeigebäude,  andemteils  die  Kan- 
tonallehranstalten.    Von  Prof.   Gull   ist  in   dem  Abschnitt:    > Ver- 
waltungsgebäude«  besonders  das  von  ihm  auf  der  Stelle  der  alten 
Fraumünsterabtei  errichtete  neue  Stadthaus  behandelt;  in  einem  zweiten 
schildert  er  sein  erstes  Hauptwerk,  das  Landesmuseum  (vgl.  G.  G.  A. 
1899  Nr.  2).    Die  zahlreichen  seit   1893  neu  errichteten  Schulhaus- 
bauten der  Stadt  nahm  Stadtbaumeister  Geiser  zum  Gegenstand.  Mit 
dem  ersten  Teile  der  »Festschrift«  steht  der  Beitrag  von  Professor 
Lasius:   >Die  Gebäude  der  eidgenössischen  polytechnischen  Schule« 
in  engster  Verbindung;  neben  dem  Hauptbau  kommen  die  nachher 
hinzugefügten  Bauten  —  Sternwarte,  land-  und  forstwirtschaftliche 
Schule,  die  Gebäude  für  Chemie-  und  Physik-Unterricht,  zuletzt  noch 
besonders  das  Maschinenlaboratorium  —  zur  Schilderung.    Noch  an- 
dere neue  Anlagen  —  Banken,  Postgebäude,  Börse,  dann  Eranken- 
und  Versorgungsanstalten,  Theater  und  ähnliche  Lokale  und  Gasthöfe, 
Geschäftshäuser  werden  durch  die  Architekten  Müller,  listen,  Wehrli, 
Pfleghard  vorgeführt.   >  Städtische  Wohnhäuser«  —  von  Architekt  P. 
Ulrich  —  und   »Villen«   —  von   Architekt  Kuder  —  machen  den 
Schluß.   —   Endlich   bieten  noch   der  Professor  am  Polytechnikum 
Prasil  und  Ingenieur  Zegher  das  Kapitel:  »Aus  Zürichs  Maschinen- 
industrie«. 

Es  darf  wohl  gesagt  werden,   daß  wenige  Städte  eine  so  reich- 
haltige, vollständig  in  sich  geschlossene  Darstellung  ihres  jetzigen 

1)  Vgl  auch  Escher-Bürkli:    Lebensbild   von   Dr.  Arnold   Bfirkli-Zia^ 
(Netgahrsblatt  zum  Besten  des  Waisenhauses  in  Zürich  für  1905). 


Festschrift  z.  öOj&hrigen  Bestehen  des  eidgen.  Polytechnikums  719 

Standes,  sowie  der  Wege,  auf  denen  er  erwachsen  ist,  aus  der  Feder 
kompetentester  Autoren,  besitzen,  wie  das  jetzt  in  diesem  fast  500 
Seiten  starken  Bande  der  Fall  ist. 

Acht  eng  gedruckte  Seiten  enthalten  das  Verzeichnis  der  Illu- 
strationen. Ganz  besonders  reich  und  wertvoll  für  die  historische 
Erkenntnis  sind  die  Bilder  zu  den  drei  ersten  baugeschichtlichen 
Abschnitten.  In  den  Kapiteln  »Städtische  Wohnhäuserc  und  >Villen< 
nehmen  sie  auch  den  meisten  Raum  ein.  Reich  sind  ferner  die 
beiden  Arbeiten  Gulls,  diejenige  Bluntschlis  illustriert.  Aber  über- 
haupt sind  durchgängig  durch  Grundrisse,  Profile,  Ansichten  und 
andere  notwendige  erläuternde  Beigaben  die  schriftlichen  Ausführungen 
unterstützt. 

lu  typographischer  Durchführung  und  gesamter  Ausstattung  ent- 
sprechen die  beiden  Bände  ganz  dem  hohen  Zwecke  einer  Jubiläums- 
schrift, dem  sie  bestimmt  sind. 

Zürich  G.  Meyer  von  Enonau 


Mitteilungen  zur  raterländlschen  Gesehlehte,  herausgegeben  vom  Histori- 
schen Verein  in  St.  Gallen,  XXIX  (dritte  Folge,  IX).  St.  Gallen,  Huber 
u.  Comp.  (Fehrsche  Buchhandlung)  1903  u.  1905.   IV  u.  748  S.   gr.  8^ 

Zu  der  zuletzt  G.  G.  A.,  1903,  in  Nr.  5,  behandelten  Vadiani- 
schen  Briefsammlung  ist  hier  durch  die  beiden  Herausgeber, 
Emil  Arbenz  und  Hermann  Wartmann,  die  fünfte  Abteilung, 
über  die  Jahre  1531  bis  1540,  hinzugefügt  worden.  Das  >Vorwort<, 
das  insbesondere  über  die  Behandlung  der  Texte  der  deutschen 
Briefe  sich  ausspricht  und  den  Dank  für  die  Mithülfe  des  G.  G.  A., 
1905,  in  Nr.  3  erwähnten  Stadtarchivars  Dr.  Traugott  Schieß  und 
des  Stadtbibliothekars  Dr.  Dierauer  ausspricht,  stellt  in  Aussicht, 
daß  in  Band  XXX  Vadians  Todesjahr  1551  werde  erreicht  werden. 

Das  Jahrzehnt,  das  in  den  Briefen  dieses  Bandes  vorliegt,  be- 
ginnt mit  dem  Jahr,  in  dem  durch  den  Ausgang  des  zweiten  Cappeler 
Krieges  und  den  darauf  folgenden  für  die  unterliegende  Sache  der 
Zürcher  Reformation  so  nachteiligen  Friedensschluß  auch  die  großen 
politischen  Aussichten  dahin  fielen,  die  für  die  Stadt  Vadians  sich 
durch  den  Anschluß  an  Zwingli  ergeben  hatten.  Die  Möglichkeit, 
der  Mittelpunkt  eines  ausgedehnten  in  der  neuen  Lehre  zusammen- 
gefaßten Gebietes  zu  werden,  war  verloren,  als  das  aufgelöste  Stift 
St.  Gallen  wieder  ervQichs  und  rings  um  die  Stadt  St.  Gallen  die  Be- 
völkerung in  die  alte  Kirche  zurückgebracht  wurde.  Mit  der  Zurück- 


720  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Schiebung  der  politischen  Tätigkeit  Vadians,  die  sich  hieraas  ergeben 
mußte,  wuchs  dagegen  wieder  seine  literarische  Arbeit,  teils  auf 
theologischem  Felde,  teils,  vorzüglich  durch  die  aUerdings  erst  nach 
der  hier  vorliegenden  Zeitgrenze,  erst  1545,  geschehene  engere  Ver- 
bindung mit  Johannes  Stumpff  in  Zürich,  auf  dem  Gebiete,  das  Va- 
dians Ruhm  ausmacht,  in  der  Pflege  geschichtlicher  Studien. 

Den  Hauptgegenstand  der  Korrespondenz  im  ersten  der  hier 
vorliegenden  Jahre  bilden  selbstverständlich  die  Vorgänge,  die  den 
im  Herbst  ausbrechenden  Krieg  einleiteten;  im  Frühjahre  ist  es  ins- 
besondere der  Müsserkrieg,  der  Kampf,  der  von  dem  räuberisch  ge- 
waltsamen Freibeuter,  dem  Kastellan  von  Musso  am  Comersee,  gegen 
die  Graubündner  angehoben  worden  war,  der  die  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch  nimmt,  und  am  Ende  des  Jahres  steht  das  Unglück  von 
Cappel  und  am  Gubel  im  Vordergrund,  dessen  erschütternder  Ein- 
druck Vadian  auf  das  Krankenlager  geworfen  hatte.  1532  treten 
nun  die  Folgen  der  Niederlage  hervor,  die  Zurückwerfung  der  neuen 
Lehre,  die  Beängstigungen  aller  Art,  wegen  der  Haltung  Berns,  des 
Mißverhältnisses  dieser  Stadt  gegenüber  Zürich,  ja  sogar,  bis  1533,  wo 
BuUinger  sich  über  das  Auftauchen  eines  tollen  Gerüchtes  lebhaft 
wundert  (Nr.  730,  745),  ob  nicht  auch  Zürich  selbst  im  Glauben 
wankend  werde ;  um  so  mehr  wird  Vadian  in  einer  Reihe  yen  Briefen 
wegen  seiner  festen  Standhaftigkeit  gelobt.  Die  lebhafteste  Teilnahme 
an  den  Ereignissen  in  Württemberg,  der  Rückkehr  Herzog  Ulrichs, 
der  Besiegung  Oesterreichs  tritt  1534  zu  Tage;  daneben  erkundigen 
sich  die  Freunde  eifrigst  nach  der  in  Arbeit  liegenden  und  bald  er- 
scheinenden Vadianschen  Erklärung  der  Apostelgeschichte  in  der 
Schrift  »Epitome  trium  terrae  partium <.  Vielfach  ist  schon,  seit 
1531,  über  die  Unversöhnlichkeit  Luthers  geklagt,  der  nach  der 
Schlacht  bei  Cappel  die  >  bestraften  Schwärmer <  Münzer  und  Zwingli 
auf  eine  gleiche  Linie  gestellt  habe,  der  sich  die  eigenen  Anhänger 
durch  seine  Heftigkeit  entfremde  (Nr.  672,  733);  um  so  mehr  zog 
nun  bis  zum  Ende  des  Jahres  1534  der  von  Butzer  ausgehende 
Einigungsversuch  in  der  Abendmahlslehre  die  Augen  auf  sich,  und 
ungeduldig  wird  ein  Jahr  später  die  dann  1536  erschienene  eigene 
AeuOerung  Vadians  in  dieser  brennenden  Frage  —  seine  >Aphorismorum 
libri  sex  de  consideratione  Eucharistiae«  —  erwartet.  Der  siegreiche 
Kriegszug  Berns  gegen  Savoyen,  die  Eroberung  der  Waadt  und  die 
Errettung  Genfs  1536  erscheinen  als  von  Gott  gesegnete  Ereignisse. 
Im  gleichen  Jahre  1536  begann  nun  die  Erwägung  über  die  Möglich- 
keit eines  Beitrittes  der  Schweizer  zur  Wittenberger  Konkordie  auch 
Vadian,  dem  eine  Einigung  sehr  am  Herzen  lag,  stark  zu  beschäf- 
tigen:  am  30.  August  schrieb  er  selbst  an  Luther,  am  6.  Oktober 


Mitteilnngen  zur  vaterl.  Geschichte.   XXIX  721 

Melanchthon  an  Vadian  (Nr.  911,  919),  und  am  2.  November  ver- 
breitete sich  Vadian,  wieder  im  Sinne  einer  Verständigung  mit  Luther, 
mit  dem  Bedauern  über  die  sich  weigernde  Haltung  der  Zürcher,  in 
einem  längern  Briefe  an  BuUinger  (Nr.  924),  dem  er  am  28.  des 
Monates  noch  ein  zweites  Schreiben  an  Luther  folgen  ließ  (Nr.  929). 
Daneben  beschäftigte  das  nach  Mantua  in  Aussicht  genommene  Konzil 
die  Gemüter.  Noch  bis  1538  empfing  Vadian  Briefe,  die  sich  über 
die  Zurückhaltung,  den  Argwohn  der  Zürcher  gegen  Luther  miß- 
billigend äußerten,  ihn  wegen  seines  Eifers,  zu  vermitteln,  rühmten, 
und  Stimmen  von  Berner  Geistlichen,  zuletzt  noch  1540  Briefe  Sulzers 
und  Sebastian  Meyers  (Nr.  1098,  1142),  lauten  auch  in  diesem  Sinne. 
Doch  treten  bei  Vadian  jetzt  andere  Fragen  in  den  Vordergrund, 
der  für  ihn  sehr  ärgerliche  Streit  mit  Appenzell,  der  sogenannte 
Pannerhandel,  dann  1540  die  literarische  Auseinandersetzung  mit 
Schwenkfeld;  ebenso  ist  er  mit  einer  historischen  Arbeit,  dem  Trak- 
tate: >Von  Stand  und  Wesen  der  Stifter  und  Klöster«,  dessen  Ver- 
öffentlichung allerdings  zur  Zeit  verschoben  wird  (Nr.  1117),  be- 
schäftigt. Dazu  nahm  1540,  im  Schlußjahr  dieses  Bandes,  das  Reli- 
gionsgespräch zu  Hagenau,  dem  dasjenige  zu  Worms  alsbald  folgte, 
von  auswärtigen  Dingen  die  Teilnahme  zumeist  in  Anspruch. 

Die  hier  mitgeteilten  Briefe  reichen  von  Nr.  625  bis  zu  Nr.  1147. 
Von  120  Briefschreibem  sind  Stücke  abgedruckt.  Vadian  selbst  ist 
in  diesem  Male  stärker  vertreten,  mit  23  Briefen.  Neben  den  schon 
erwähnten  Schreiben  an  Luther  stehen  noch  in  den  >Nachträgen< 
zwei  Briefe  an  Zwingli,  von  1530;  im  Weitern  sind  im  Ganzen  6 
Briefe  an  BuUinger,  4  an  Butzer,  3  an  Blaurer,  je  einer  an  Haller 
und  Pellican  gerichtet.  Außerdem  sind  mehrere  in  die  Sammlung 
aufgenommene  offizielle  Schreiben  von  Bürgermeister  und  Rat  von 
St.  Gallen  aus  Entwürfen  von  Vadians  Hand  hervorgegangen. 

Von  den  unendlich  viel* zahlreicheren  Briefschreibern  an  Vadian 
sind  manche  schon  in  den  früheren  Anzeigen  —  G.  G.  A.  1890:  Nr. 
25,  1896:  Nr.  5,  1899:  Nr.  2,  1903:  Nr.  5  —  zu  nennen  gewesen; 
allein  mehrere  neue  fleißige  Korrespondenten,  so  vor  Allem  BuUinger, 
kommen  hinzu. 

Denn  eben  Zürich  bUeb  für  Vadian  ein  Hauptplatz  geistigen 
Austausches.  Von  Zwingli  ist  in  den  >Nachträgen<  —  in  Nr.  4  — 
noch  ein  Brief  von  1525  nachgebracht;  Nr.  628,  von  1531,  weist 
schon  deutlich  auf  die  kommenden  Gefahren  hin,  während  Nr.  643 
nur  private  Dinge  berührt.  Dann  aber  tritt  Zwingiis  ebenbürtiger 
Nachfolger,  BuUinger,  wie  in  die  Leitung  der  Zürcher  Kirche^),  so 
in  die  Erbschaft  des  Briefwechsels  mit  Vadian  ein,  so   daß  schon 

1)  Vgl.  G.G.A.,  1905:  Nr.  3. 


722  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  9 

dieser  Band  40  Briefe  von  ihm  enthält,  die  mit  dem  Jahre  1533  be- 
ginnen (der  schon  erwähnten  Nr.  730),  und  zwar  so,   daß   zuwdlen 
auch  deutsche  Stücke  —  so   gleich  der  erste  Brief  —  dazwischen 
stehen.    Bald  verbreiten  sich  dann  die  Schreiben  über  die  Terschie* 
densten  Fragen,  der  Theologie,  der  Eirchenorganisation,  der  innere 
und  äußeren  Politik;  die  beiden  Männer  teilen  sich  gegenseitig  ihre 
Schriften  mit,  und  auch  die  erst  in   Aussicht  gesteUten   Arbeitai 
Yadians  reizen  schon  Bullingers  Wißbegierde :  Yadian  habe  ja  jetzt 
Yor  > seinen  Appenzeller  Freunden <  Ruhe,  schreibt  Bollinger   1540 
ironisch  nach  St.  Oallen  (Nr.  1088).    Koch  ein  zweiter  neuer  Korre- 
spondent in  Zfirich  ist  der  Buchdrucker  Christoph  Froschaner,  dessea 
12  Briefe  1532  mit  Nr.  660  einsetzen;  er  druckt  Arbeiten  Yadians, 
und   1540  bewirbt  er  sich  eifrig  um  den  oben  erwähnten  Traktat 
(Nr.  Uli,  1112).    Aber  auch  Leo  Jud  blieb  unter  den   fleißigstea 
Briefschreibem :  er  ist  mit  10  Stücken  vertreten,  unter   denen  be- 
sonders zwei  längere  Fragestellungen  wegen  der  Ehescheidung  (Nr. 
978,  1032)  in  das  Gewicht  fallen.    Ebenso  stellt  sich  Georg  Binder 
wieder  mit  5  Briefen  ein,  die  meist  literarische  Fragen,   Arbeiten 
Yadians  betreffen;  in  Nr.  829  —  von  1535  —  wird  die  Bitte  ansge- 
sprechen,  daß  zur  Unterstützung  des  in  Basel  neu  als  Buchdrucker 
sich  niederlassenden  Thomas  Platter  Yadian  gestatte,  der  Publikation 
des  Julius  Solinus  und  des  Pomponius  Mela  —  dessen  erste  Ausgabe 
durch  Yadian  war  von  1518  —  seinen  Namen  vorzusetzen.   Yon  ähn- 
lichem Inhalt  sind  die  1532  —  mit  Nr.  714  —  beginnenden  7  Briefe 
Pellicans,  von  denen  Nr.  896  interessant  ist,  wegen  der  da  erwähntoi 
Aeußerung  des  wieder  in  St.  Gallen  lebenden  Abtes,  daß  eine  Förde- 
rung des  wissenschaftlichen  Lebens  in  seinem  Kloster  nicht  in  seiner 
Absicht  liege.    Der  G.  G.  A.  1901,  Nr.  3,  erwähnte  junge  Gelehrte 
Bibliander,  mit  6  Briefen,  gehört  gleichfalls  in  diese  Kategorie ;  1536 
Überläßt  er  es  dem  Urteile  Yadians,  ob  er  wirklich  Butzer,  wie  ihm 
vorgeworfen  werde,  in  der  Abendmahlsfrage  zu  hart  angegriffen  habe 
(vgl.  Nr.  897,  910,  924,  939,  »Nachträgec  Nr.  29  zu  Nr.  916),  und  in 
den  » Nachträgen  <  sind  noch  Proben  der  im  Briefe  Biblianders  Nr.  922 
erwähnten  lateinischen  Yerse  mitgeteilt.    Aus  Zürich  schickte  auch 
Karlstadt  1532  Yersicherungen  seiner  Dienstwilligkeit,  dann  einen 
Bericht  über  seinen  Streit  ;mit  dem  längere  Zeit  unstet  hemmge- 
triebenen, später  in  St.  Gallen  als  Prediger  wirkenden  FnrtmOIler 
—  auch  von  diesem  steht  ein  Brief  als  Nr.  694  — ,  worauf  noch  1535 
eine  kurze  Mitteilung  ans  Basel  folgt  (Nr.  665,  699,  810).   Auch  ein 
Yerwandter  Yadians,  Hans  Konrad  Escher  —  seine  Frau,   Dorothea 
Grebel,   war  eine  Schwester  der  Frau  Yadians  — ,   der    1540  als 
Schirmhauptmann  der  Abtei  nach  St.  Gallen  übersiedelte,  stand  m  5 


Mitteilungen  zur  vaterl.  Geschichte.  XXIX  723 

—  deutsch  geschriebenen  —  Briefen  mit  Vadian  in  Verbindung.  Der 
aus  Zug  nach  Zürich  ausgewanderte  Wernher  Steiner  schrieb  2  Briefe 
in  Geschäftsangelegenheiten. 

Von  Bern  kamen  zuerst  noch  von  Berchtold  Haller,  bis  kurz  vor 
seinem  Tode  —  der  letzte  Brief,  Nr.  871,  schildert  Ende  Januar 
1536  dem  Arzte  Vadian  die  stets  wachsende  Krankheit  — ,  im  Ganzen 
13  Schreiben:  1532  ist  der  Reformator  Berns  mit  der  Haltung  des 
dortigen  Rats,  mit  den  verworrenen  Verhältnissen  wenig  zufrieden, 
schreibt  aber  daneben  auch  über  litterarische  Dinge,  so  (in  Nr.  716) 
über  ein  in  Aussicht  stehendes  Werk  Aventins;  die  Vadian  bewegen- 
den Fragen  werden  besprochen  —  in  Nr.  783  hofft  Haller,  das  her- 
gestellte Württemberg  werde  ein  Asyl  Glaubensverfolgter  werden  — , 
besonders  die  Nachrichten  über  Genf,  Savoyen  nach  St.  Gallen  ver- 
mittelt. In  den  nach  Haller  eintretenden  Predigern  —  Peter  Eunz, 
Sebastian  Meyer,  Simon  Sulzer  —  kam  dann,  wie  schon  erwähnt, 
in  den  von  Nr.  1036  (Januar  1539)  an  folgenden  6  Briefen  in  der 
streitigen  dogmatischen  Frage  die  Auffassung  Luthers  greifbar  zum 
Ausdruck;  besonders  Nr.  1095,  von  Sebastian  Meyer,  der  lebhaft 
über  das  Widerstreben  der  Zürcher  gegen  die  angestrebte  Einigung 
klagt,  gehört  zu  den  längsten  Stücken  des  ganzen  Bandes. 

Auch  in  Basel  starb  ein  früherer  Hauptkorrespondent,  Oeko- 
lampad,  schon  1531.  Myconius  konnte  schon  im  ersten  seiner  14 
Briefe,  in  Nr.  709,  melden,  er  sei  als  sein  Nachfolger  erwählt  worden; 
Nachrichten  aus  Deutschland  —  er  freut  sich  in  Nr.  1008,  den  brief- 
lichen Verkehr  zwischen  Schweizern  und  Fremden  zu  vermitteln  — , 
Aeußerungen  des  Aergers  und  Kummers  auch  von  seiner  Seite,  daß 
Zürich  der  Einigung  mit  den  Anhängern  der  Eonkordie  widerstrebe, 
sind  Hauptkennzeichen  dieser  Kundgebungen.  Auch  der  Prediger 
der  St.  Leonhardkirche,  Bersius,  setzte  seine  fleißigen  Mittheilungen, 
in  18  Briefen,  fort;  deren  Inhalt  berührt  sich  mehrfach  mit  den 
Schreiben  des  Myconius,  betrifft  aber  auch  vielfach  litterarische 
Fragen,  wie  denn  beispielsweise  die  Briefe  Oekolampads  an  Vadian 
zum  Zweck  der  Veröffentlichung  begehrt  werden  (Nr.  851,  854). 
Auch  der  Buchdrucker  Cratander  fuhr  in  seiner  Korrespondenz  fort: 
die  8  Briefe  betreffen  ganz  besonders  buchhändlerische  Fragen,  da- 
neben eine  gereizte  Verhandlung  mit  dem  Abt  von  St.  Gallen,  der 
sich  weigerte,  Bücher  aus  der  Klosterbibliothek  herauszugeben,  ehe 
alle  verschleppten  Bücher  —  aus  der  Zeit  der  Auflösung  des  Kon- 
ventes —  wieder  zur  Stelle  gebracht  seien  (Nr.  686,  wozu  vgl.  Nr.  635, 
771,  785).  Sind  schon  die  Briefe  dieses  Druckers,  entgegen  denjenigen 
Froschauers,  durchaus  lateinisch  geschrieben,  so  ist  das  vollends 
selbstverständlich  bei  den  15  Schreiben  des  gelehrten  Buchdruckers 

UOU.  gd.  Arn.  1906.  Nr.  9.  51 


724  Gdtt  gel  Ans.  1906.  Nr.  9 

Oporin  der  Fall,  die  1537  mit  Nr.  943  beginnen;  for  seinen  Verlag 
wirbt  er  nm  Vadians  neue  Ausgabe  des  Pomponins  Mela,  beriditet 
—  in  Nr.  1123  —  über  die  von  ihm  selbst  gesehene  Hmgenaner  Ver- 
sammlung, ist  in  immer  erneuten  Aufträgen  dem  St.  Galler  beson- 
ders auch  fur  die  Besorgung  des  Verkehrs  mit  Bologna  zu  Dank 
verpflichtet.  Denn  mit  dem  Buchhändler  Arien  Arnold  Permxjdos, 
von  dem  3  Briefe  an  Vadian  hier  stehen,  und  mit  dem  eimnal  ver- 
tretenen Torrentinus  in  Bologna  stand  Basel  nur  aber  St.  Gallen  in 
Verbindung;  ein  hier  1539  in  Bologna  genannter  Bnchdrocker  Grr- 
phius  schrieb  1536  aus  Lyon.  1537  wenden  sich  ans  Solothum  wegen 
ihres  Glaubens  Vertriebene  aus  Basel  in  deutsch  geschriebenen  Briden 
an  Vadian,  mit  der  Bitte,  etwas  bei  ihnen  drucken  zu  lassen  (Nr. 
945,  965).  Von  dem  gelehrten  Professor  an  der  Universität  Grfnios 
endlich  liegen  5  Briefe  vor,  die  zumeist  wieder  auf  das  Projekt  der 
dogmatischen  Einigung  mit  Luther  sich  beziehen;  in  Nr.  939  weiS 
Grynäus  im  Anfang  des  Jahres  1537,  daß  Bibliander  nochmals  gegen 
Butzer  zu  schreiben  im  Sinne  habe.  Von  Sebastian  Monster  kam 
aus  Basel  Nr.  961. 

Aus  Schafifhausen  ging  auch  eine  lebhaftere  Brieüsendung  nn 
Vadian  vor  sich.  Erasmus  Ritter  war  ein  getreuer  Berichterstatter, 
in  4  Briefen,  über  den  Stand  der  Dinge  in  Schaffhausen,  bis  1534^ 
nicht  ohne  berechtigte  Klagen  über  die  Haltung  des  in  der  gleichen 
Stadt  tätigen,  gleichfalls  in  8  Briefen  —  1531  und  1536  ans  Schaff- 
hausen, bis  1539  aus  Tuttlingen,  1540  aus  St.  Margrethen  im  Rhein- 
tal  —  vertretenen  Benedict  Burgauer,  des  unruhigen  ehemaligen 
Geistlichen  in  St  Gallen,  den  Ritter  in  Nr.  625  geradezu  als  >Hale- 
dictus<  bezeichnet  und  der  1531  in  Nr.  634  Vadian  am  Aossohnnng 
anfleht,  dann  1536  nach  seiner  Absetzung  in  SchafiThansen  diesen 
bittet,  ihm  eine  AnsteUung  wieder  zu  verschaffen  (Nr.  892),  was  er 
alsbald  schon  1537  aus  Tuttlingen,  wo  er  Pfarrer  geworden  war, 
wiederholt  (Nr.  972).  Vereinzelt  stehen  noch  Briefe  des  Ludwig 
Oechslin  (Nr.  700),  die  Bitte  um  ein  angeblich  von  Vadian  erstelltes 
Heilmittel,  und  des  Schafihauser  Predigers  Simprecht  Vogt  (Nr.  991). 

Mit  Gomander  in  Cur  dauerte  der  Verkehr  unvermindert  fort: 
in  40  ziemlich  gleichmäßig  über  die  Jahre  sich  verteilenden  Brief» 
des  auch  mit  Bullinger  ^)  in  enger  Verbindung  stehenden  Pfarrers  vcm 
St  Martin.  Neben  den  Nachrichten  aus  Graubttnden  stehen  die  Mit- 
teilungen über  Dinge  vom  Boden  Italiens,  und  sichtlich  ist  &ber  diese 
Angelegenheiten  Gomander  eine  Hauptquelle  von  Auskunft  ffir  Va- 
dian. Nr.  658  ist  ein  beredter  Ausdruck  des  Jammers  nach  den 
Niederlagen  von   1531;   Nr.  724  klagt,   daß  RäUen   yon   Bauborn 

1)  VergL  G.G.A.,  1905:  Nr.  3. 


Mitteilungen  zur  vaterl.  Geschichte.   XXIX  725 

wimmle;  aber  auch  wissenschaftliche  Fragen  kommen  zur  Erörterung, 
so  in  Nr.  707  und  718  über  die  Anfänge  der  Curer  Kirchen. 

Der  G.  G.  A.,  1889:  Nr.  18,  genannte  Glamer  Valentin  Tschudi, 
der  schon  früher  —  G.  G.  A.,  1896 :  S.  419  —  an  Vadian  geschrieben 
hatte,  verdankt  in  seinen  4  Briefen  teils  litterarische  Geschenke  Va- 
dians,  teils  berichtet  er  über  seine  schwierige  Stellung  gegenüber 
seinen  Gegnern,  1532  und  1534.  Aehnlich  setzte  auch  der  gleich- 
falls schon  früher  erwähnte  Appenzeller  Walther  Klarer  aus  Urnäsch 
in  4  deutsch  geschriebenen  Briefen  seinen  Verkehr  mit  Vadian  fort; 
es  sind  Anfragen  an  den  Arzt,  Berichte  über  Konflikte  mit  dem  Abt 
von  St.  Gallen. 

Aus  dem  angrenzenden  Thurgau  erteilt  in  Nr.  632  ein  Pfaff 
Heinrich  Auskunft  über  eine  alte  Chronik;  Pfarrer  Fer  in  Bischofs- 
zeil wendet  sich  5  Male  mit  dringendem  Anliegen  an  Vadian.  Aus 
dem  Toggenburg  läßt  Martin  Edelmann  Berichte  und  Bitten  ab- 
gehen. 

Ganz  besonders  ergeben  sich  aber  aus  oberdeutschen  Plätzen 
wichtige  Gruppen  von  Briefen. 

Voran  stehen  hier  die  Briefe  aus  Straßburg.  Bei  der  eingreifen- 
den Tätigkeit  Butzers,  für  die  Annäherung  der  Schweizer  Kirchen 
an  die  Teilnehmer  der  Konkordie,  fallen  seine  12  Schreiben,  die 
bis  1536  reichen,  in  Betracht.  1533  war  er  mit  dem  gleichfalls 
durch  Nr.  736  vertretenen,  aus  Venedig  vertriebenen  Fontius  in  Bern 
und  schrieb  von  dort  Nr.  735 ;  dann  beginnt  ein  sehr  eifriger  Aus- 
tausch, wie  sich  von  selbst  versteht,  zumeist  zur  Erzielung  der  be- 
gehrten Einigung.  Neben  Butzer  steht  Bedrotus,  mit  6  Briefen,  die 
noch  recht,  in  ihren  einleitenden  stereotjrpen  Worten  über  das 
Schweigen  des  Korrespondenten,  an  die  inhaltlosen  Briefe  der  früheren 
humanistischen  Jahrzehnte  erinnern;  in  Nr.  897  wünscht  er,  daß 
Bibliander  von  scharfem  Auftreten  gegen  Butzer  abgemahnt  werde. 
Von  Capito  sind  bis  1538  bald  aus  Straßburg,  bald  aus  Basel,  11 
Briefe  geschrieben;  auch  er  wollte  um  jeden  Preis  die  Konkordie 
mit  Hülfe  Vadians,  entgegen  dem  Widerstreben  der  Zürcher,  zum 
Siege  bringen  und  stellte  insbesondere  1538  —  in  Nr.  1002  —  ge- 
radezu drei  Begehren  in  dieser  Richtung  auf.  Der  Astronom  und 
Geograph  Jakob  Ziegler,  der  schon  1526  aus  Ferrara  an  Vadian  ge- 
schrieben hatte,  führte  nun  aus  Straßburg  die  Korrespondenz  weiter; 
er  bittet  1532  um  Beurteilung  des  von  ihm  verfaßten  Geschichtswerks 
und  wünscht  noch  1540  eine  persönliche  Besprechung  mit  Vadian. 
Gerbellius,  Professor  in  Straßburg,  knüpft  1532  an  die  alte  in  Wien 
gepflegte  Freundschaft  an. 

Die   größte   auf  einen  einzelnen   Namen   fallende  Zahl  —  58 

51* 


726  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Briefe  —  kamen  Vadian  von  dem  Pfarrer  Johannes  Zwick  in  Con- 
stanz  zu.  Empfehlungen  von  Persönlichkeiten,  von  streitigen  Ange- 
legenheiten, abermals  Aeußerungen  im  Sinne  Butzers  für  den  Aus- 
gleich, immerhin  so,  daß  nicht  durch  zu  große  Nachgiebigkeit  der 
Schein  erweckt  werde,  als  ob  man  von  Zwingli  und  Oekolampad  ab- 
gewichen sei  (Nr.  949),  da  Butzers  Einigungseifer  übermäßig  sei 
(Nr.  963),  dann  Berichte  aller  Art,  aus  Württemberg,  über  Schwenk- 
feld, Mitteilung  von  Pasquillen  gegen  Papst  Paul  III.  zeigen  die 
Mannigfaltigkeit  des  Inhalts.  Dagegen  ist  von  Ambrosius  Blaurer 
blos  der  eine  Brief  Nr.  751  von  1533  vorhanden;  in  einem  zweiten 
—  Nachträge  Nr.  13  —  berichten  von  der  Reformation  in  Ulm  außer 
ihm  noch  Butzer,  Oekolampad  und  Som.  Der  Arzt  Menlishofer  ver- 
breitet sich  in  3  Briefen  neben  medizinischen  Fragen  auch  über  poli- 
tische Angelegenheiten. 

Von  anderen  schwäbischen  Städten  ist  besonders,  durch  den 
Prädikanten  Thomas  Gaßner,  Lindau  fruchtbar  an  Briefen,  15  an  der 
Zahl.  Auch  er  war  eifrig  für  die  Einigung  und  konnte  1535  seinem 
Briefe  Nr.  808  eine  Zuschrift  Butzers  beilegen.  Aus  Ulm  schrieb 
Eonrad  Som,  der  Reformator  der  Stadt,  1531  und  1532  im  Ganzen 
3  Briefe.  Von  dem  dortigen  Prediger  Martin  Frecht  beginnt  die 
Korrespondenz  erst  1537;  auch  seine  5  Briefe  enthalten  neben  dem 
Theologischen  allerhand  politische  Neuigkeiten.  Aus  Isni  schrieben 
1535  Gabriel  Hummelberger  und  Melchior  Volmar.  Aus  Stuttgart 
übersandte,  als  ehemaliger  Schüler  Vadians,  1538  der  Eontrapunktist 
Brätel  mit  Nr.  1024  eine  Komposition.  Der  Apotheker  Oswalt,  der 
vielleicht  andere  Briefe  aus  Wil  schrieb,  berichtete  1534  über  den 
württembergischen  Krieg  aus  Nördlingen.  1540  meldet  Leonhard  Beck, 
der  über  neapolitanische  Geschichte  schreiben  will,  aus  Augsburg, 
Vadians  i  Epitome  <  sei  als  ketzerisch  durch  ein  kaiserliches  Edikt 
verboten. 

Vereinzelt  steht  der  Ende  1537  geschriebene  Brief,  Nr.  986,  des 
Erzbischof  Cranmer,  der  um  jeden  Preis  die  Glaubenseinigung  be- 
gehrt, die  von  Vadian  ihm  geschickten  Aphorismen,  Zwingiis  und 
Oekolampads  Abendmahlslehre  völlig  mißbilligt. 

Noch  bleibt  eine  Gruppe  überwiegend  deutsch  verfaßter  Briefe 
übrig,  von  Persönlichkeiten,  die  als  St.  Galler  Vadian  nahe  standen. 
Voran  steht  hier  Vadians  Freund  Fridbolt,  der  1531  als  Führer  des 
Zuzugs  aus  St.  Gallen  —  Nr.  649,  650,  651,  653,  654  —  aus  dem 
Felde  teils  an  Vadian,  teils  offiziell  an  die  städtische  Obrigkeit 
Berichte  schickte ;  später  gab  Fridbolt  Meldungen  von  auswärts,  1532 
in  6  Briefen  über  den  Regensburger  Reichstag,  sowie  über  weiter 
folgende  Begebenheiten,  besonders  die  Türkengefahr.   Ebenso  sandte 


Mitteilungen  zur  vaterl.  Geschichte.  XXIX  727 

iin  gleichen  Jahre  der  St.  Galler  Kaufmann  Billwiller  in  Nr.  676  po-. 
litische  Nachrichten  aus  Nürnberg.  Sebastian  Appenzeller,  ein  Ver- 
wandter Vadians,  schickte,  teils  für  Ambrosius  Eigen,  teils  in  eigenem 
Namen,  1531,  1532  und  weiter  in  den  nächsten  Jahren  politische 
Nachrichten  aus  Solothurn,  Bern,  Zürich,  Lyon.  Fleißige  Korre- 
spondenten waren  fernerhin  die  St.  Galler  Sebastian  und  Jakob 
Grübel,  jener  seit  1520  Pfarrer  in  Berg  bei  Rorschach,  hernach,  als 
er  der  Gegenreformation  weichen  mußte,  in  Schaflfhausen,  von  wo  er 
seit  1534  schrieb,  Sebastian  mit  17,  Jakob  mit  9  bis  1540  und  1539 
reichenden  Briefen.  Besonders  fallen  Jakobs  Berichte  in  Betracht, 
der  seit  1535  im  Dienst  des  durch  den  hergestellten  Herzog  Ulrich 
als  Obervogt  auf  der  Honburg  ob  Tuttlingen  eingesetzten  Freiherrn 
Georg  von  Hewen  sich  befand,  wodurch  dann  auch  dieser  sein  Herr 
1536  bis  1539  an  Vadian  9  Briefe  schickte.  Jakob  war  1535  an 
Landgraf  Philipp  nach  Kassel  geschickt  worden  und  kam  so  in  den 
Fall,  in  Nr.  826  einläßlich  über  die  Eroberung  von  Münster  und  das 
Ende  des  Wiedertäuferkönigtums  zu  berichten;  1536  schrieb  er,  zur 
Zeit  der  Eroberung  der  Waadt,  von  den  Werbungen  des  französischen 
Gesandten  in  der  Schweiz,  1539  und  schon  vorher  über  Kompreise, 
über  den  Freiherrn  angehende  Geschäftssachen.  Von  dem  in  Ange- 
legenheit der  französischen  Pensionen  1540  an  den  französischen  Hof 
reisenden  Hauptmann  Franz  Studer  enthält  Nr.  1141  die  Mitteilung 
über  seine  Audienz  in  Solothurn  beim  Gesandten.  Ein  Schutzbe- 
fohlener Vadians  war  der  durch  die  Gegenreformation  aus  seiner, 
angesehenen  Stellung  als  Amtmann  zu  Altstätten  im  Rheintal  ver- 
triebene Hans  Vogler^),  der  13  Briefe  sandte,  den  zweiten  (Nr.  672) 
im  Februar  1532  über  seine  Flucht  nach  Lindau;  schon  1536  er« 
scheint  Vogler  dann  in  Nr.  921  in  nahen  Beziehungen  zu  Württem- 
berg, und  seit  1538  schickt  er  als  Schaffner  des  Grafen  Georg  Briefe 
aus  Reichenweier  im  Elsaß.  Auch  für  einen  weiteren  heimatlos  ge- 
wordenen St.  Galler,  den  früher  in  Memmingen  tätigen  Prediger 
Schappeler,  der  selbst  Nr.  849  und  864  schrieb,  gaben  sich  Vadian, 
Sebastian  Appenzeller,  Berchtold  Haller,  Bibliander  Mühe,  um  ihn 
mit  einer  Pfründe  zu  versorgen. 

Eine  eigentümliche  Persönlichkeit  ist  noch  Nikiaus  Guldin,  für 
den  als  für  einen  bekehrten  Wiedertäufer  1531  Capito  Fürsprache 

1)  Vgl.  hiezu  Iläne :  Das  Famüienbnch  zweier  rheintalischer  Amtmänner  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  (Jahrbuch  für  schweizerische  Geschichte,  Band  XXV, 
1900,  S.  48  ff.).  Ein  anderer  Johannes  Vogler,  zuerst  Pfarrer  im  Rheintal,  später 
in  Mömpelgard,  schrieb  auch  8  Briefe,  von  denen  die  1539  aus  Mömpelgard  ge- 
schriebenen, mit  Nachrichten  aus  dem  dortigen  württembergischen  Gebiete,  ans 
dem  Elsaß,  Metz  u.  s.  f.,  interessant  sind. 


728  Qött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

einlegte.  Er  beschrieb  dann  1533  in  Nr.  748  den  Zusammenstoß 
zwischen  den  Religionsparteien  in  Solothurn  und  1536  in  einem 
höchst  einläßlichen  und  anschaulichen  Bericht  Nr.  865  Karls  V.  Unter- 
nehmen gegen  Tunis;  aber  Guldin  muß  als  ein  »miserrimus<  zurück- 
gekehrt sein,  da  Butzer  gleich  darauf  für  ihn  dringend  bitten  muß: 
1537  schreibt  er  aus  einem  Dorfe  im  Aargau,  wo  er  Schule  hält. 

Ueberhaupt  enthalten  sehr  viele  Briefe  Bitten  und  Klagen,  die 
der  angesehene  reiche  Yadian  erhören  soll.  Leo  Jud  schreibt  oft 
wegen  eines  Schwagers  und  der  hUlf losen  Kinder  desselben;  ein  in 
Naumburg  studierender  St.  Galler  empfiehlt  Yadian  seinen  verwaisten 
Bruder;  vier  Petenten  zu  Marbach  im  Rheintal  können  ihren  Prädi- 
kanten  nicht  zahlen  und  bitten  um  ein  Darleihen,  und  was  andere 
Wünsche  mehr  sind.  Verhältnismäßig  recht  oft  wird  auch  noch 
Vadians  ärztliche  Kunde  angerufen.  So  schrieb  ihm  ein  Arzt  aus 
Hall  bei  Innsbruck,  und  das  wurde  die  Ursache,  daß  auch  ein  frü- 
herer Wiener  Hörer  aus  Hall  1540  wieder  an  Vadian  sich  wandte. 
Auch  sonst  kommen  noch  solche  Anknüpfungen  neuerdings  vor.  Ein 
Pfarrer  im  Allgäu  dankt  dem  Lehrer  1537  —  Nr.  976  —  für  reiche 
Belehrung,  sendet  eine  Schrift,  erkundigt  sich  nach  Persönlichkeiten 
aus  der  Wiener  Zeit  und  läßt  dann  noch  2  Briefe  folgen,  deren 
einem  er  eine  Münze  mit  dem  Bilde  Karls  des  Kahlen  als  Geschenk 
beilegt.  Auch  der  Herr  der  Herrschaft  Elgg,  Johannes  von  Hinwfl, 
meldet  sich  noch  1538  als  dankbarer  Schüler.  Aber  ebenso  nahm 
aus  weiter  Feme,  aus  Böhmen,  Wolfgang  Heiligmaier  den  zuletzt 
1519  gepflegten  Verkehr  1539  wieder  auf. 

Die  >Nachträge<  (S.  663  if.)  enthalten,  aus  den  Jahren  1519  bis 
1540,  38  Nummern,  von  denen  mehrere  schon  erwähnt  wurden.  Be- 
sonders erwünscht  ist,  daß  jetzt  hier  als  Nr.  15  auch  ein  Brief  Aven- 
tins  an  Vadian,  von  1532,  geboten  wird,  da  bisher  ein  Zeugnis  über 
eine  Berührung  der  in  ihren  Bestrebungen  und  Arbeiten  sich  so 
vielfach  gleichstehenden  großen  Gelehrten  fehlte^).  Fridbolt  schrieb 
aus  Regensburg  am  15.  Mai  in  Nr.  684  an  Vadian,  daß  er  >Kunt- 
schaift  mit  dem  Aventino<  gemacht,  und  schon  am  14.  war  durch 
Aventino  ein  Brief  an  Vadian,  mit  der  beigelegten  Inhaltsübersicht 
der  von  ihm  geplanten  » Germania  <,  abgegangen. 

Verzeichnisse  der  Briefschreiber,  der  Personen-  und  Ortsnamen 
sind  beigegeben.  »Ergänzungeil  und  Berichtigungen«,  zumal  zu 
diesem  Band  XXIX:  Serie  V,  folgen  noch  S.  745—748. 

Zürich  G.  Meyer  von  Knonau 

1)  Vgl.  Anzeiger  für  schweizerische  Geschichte,  1905 :  Nr.  1,  in  Band  IX. 


Festgabe  für  Felix  Dahn  729 


Festgabe  für  Felix  Bahn  za  seinem  fünfzigjährigen  Doktorjabiläam 
gewidmet  von  gegenwärtigen  und  früheren  Angehörigen  der 
Breslauer  juristischen  Fakultät.  IL  Teil.  Römische  Bechtsgeschichte. 
III,  106  S.  3  M.  m.  Teil.  Recht  der  Gegenwart  IE,  341  S.  9  M.  —  Breslau, 
1905,  M.  u.  H.  Marcus. 

Der  zweite  Band  der  dem  Altmeister  des  deutschen  Rechts 
Felix  Dahn  zu  seinem  fünfzigjährigen  Doktorjubiläum  gewidmeten 
Festgabe  enthält  drei  Beiträge  zur  römischen  Rechtsgeschichte  und 
zwar  »Beiträge  zur  Kenntnis  der  lex  Poetelia«  von  Feodor  Kleinei- 
dam, »lieber  Klagenverjährung  und  deren  Wirkung«  von  Fritz  Kling- 
mttUer  und  »Die  Replik  des  Prozeßgewinns  (replica  rei  secundum 
me  judicatae),  em  Beitrag  zur  Lehre  von  den  beiden  Funktionen  der 
exceptio  rei  judicatae<  von  Rudolf  Leonhard. 

1)  Kleineidam  gibt  uns  in  vorstehender  Arbeit  eine  Fortsetzung 
seiner  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  römischen  Personalexekution. 
Als  Grundlage  dient  ihm  seine  bereits  veröffentlichte  umfassendere 
Abhandlung  >Die  Personalexekution  der  Zwölftafeln«,  auf  welche 
wiederholt  verwiesen  wird.  Um  300  vor  Christus  wurde  eine  gesetz- 
liche Abänderung  der  Personalexekution  vorgenommen,  welche  unter 
dem  Namen  der  lex  Poetelia  bekannt  ist.  Zur  Klarstellung  dieser 
lex  Poetelia  und  zwar  insbesondere  ihres  Verhältnisses  zur  Personal- 
exekution beizutragen,  stellt  Kleineidam  sich  zur  Aufgabe. 

Es  ist  eine  alte  Streitfrage,  ob  die  lex  Poetelia  die  Personal- 
exekution gänzlich  abgeschafft  hat  oder  nicht.  Mit  dieser  Frage  be- 
schäftigt sich  Kleineidam  hauptsächlich.  Voran  stellt  er  eine  kurze 
Uebersicht  der  wichtigsten  in  Betracht  kommenden  Quellenstellen. 
Darunter  sind  die  bedeutsamsten  Livius  Vin28  lussique  consules 
ferro  ad  populum,  ne  quis,  nisi  qui  noxam  meruisset,  donee  poenam 
lueret,  in  compedibus  aut  m  nervo  teneretur ;  pecuniae  creditae  bona 
debitoris  non  corpus  obnoxium  esset.  Ita  nexi  soluti  cautumque  in 
posterum  ne  necterentur,  sodann  Varro  de  lingua  Latina  Vn  105 
hoc  . . .  sublatum,  ne  fieret,  et  omnes,  qui  bonam  copiam  iurarent,  ne 
essent  nexi  dissoluti.  Hieraus  hat  Huschke  (nexum  S.  132)  das  Ge- 
setz zu  restituieren  versucht  und  demselben  vier  Kapitel  zuge- 
schrieben: 1)  Ne  quis  nisi  qui  noxam  meruisset,  donec  poenam  lueret, 
in  compedibus  aut  in  nervo  teneretur;  2)  Pecuniae  creditae  bona 
non  corpus  obnoxium  esset;  3)  Ne  quis  posthac  ob  aes  alienum  nec- 
teretur;  4)  Ut  omnes,  qui  bonam  copiam  iurarent,  ne  essent  nexi 
solverentur.  Huschke  nimmt  also  »einerseits  die  Bestimmungen  des 
Senatsschlusses  vollständig  und  wortgetreu  in  seinen  Gesetzestext  auf 


730  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

und  fügt  andrerseits  aus  den  anderweiten  Nachrichten  noch  zwei 
weitere  Kapitel  hinzu«  (El.  S.  10).  Diese  Methode  erklärt  Kleinei- 
dam für  unhaltbar,  gleichgültig  wie  das  Verhältnis  des  Senatsschlusses 
zur  Rogation  aufzufassen  sei.  >  Enthält  der  Senatsschluß  nur  die  all- 
gemeine Tendenz,  so  dürfte  sein  Wortlaut  nicht  in  der  Rogation 
wiederkehren.  Enthält  er  aber  die  Fixierung  des  Wortlauts  der  Ro- 
gation, so  ist  eine  «Ergänzung'  durch  die  Konsuln  ausgeschlossen < 
(S.  10).  Hierin  kann  man  Kleineidam  wohl  beistimmen.  Freilich  ist 
dabei  vorauszusetzen,  daß  Livius  nicht  etwa  den  zweiten  Teil  des 
Gesetzes  als  nach  seinem  Ermessen  unwesentlich  weggelassen  hat, 
was  nicht  so  ganz  unwahrscheinlich  ist.  Andrerseits  steht  ja  auch 
nicht  einmal  das  außer  allem  Zweifel,  ob  sich  die  Varrostelle  über- 
haupt auf  die  lex  Poetelia  bezieht. 

Kleineidam  selbst  nimmt  wörtliche  Uebereinstimmung  des  Senat&- 
schlusses  mit  der  Rogation  an.  Seine  Gründe  haben  dann  zwar 
wiederum  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  aber  zwingend 
sind  sie  nicht.  Insbesondere  gibt  die  von  ihm  herangezogene  1.  6  C. 
quae  res  pignori  8, 16  doch  nur  eine  recht  schwache  Stütze.  Die 
einzige  Schwierigkeit  gegen  seine  Auffassung  sieht  er  in  dem  Schluß- 
satz des  Livius  und  in  Yarros  bonam  copiam  iurare.  Livius  erkläre 
sich  leicht:  > Sobald  verordnet  war,  daß  künftighin  bona,  non  corpus 
obnoxium  esset  und  überdies  die  schwere  Fesselung  des  bloßen 
Forderungsexequierten  aufgehoben  war,  fiel  ohne  weiteres  das  nexum, 
richtig  als  Zustand  der  schrankenlosen  Schuldsklaverei  verstanden, 
künftig  vollkommen  hinweg,  und  auch  die  bisherigen  Schuldsklaven 
durften  von  diesem  Augenblicke  nicht  mehr  in  der  alten  strengen 
Weise  als  nexi  im  technischen  Sinn  behandelt  wordene  (S.  lli). 
Dem  kann  man  zustimmen,  indessen  auch  ohne  Kleineidams  Auf- 
fassung vom  nexum  zu  acceptieren.  Uebrigens  ist  der  Einwand  gegen 
Huschke,  sein  Kapitel  3  der  lex  folge  nur  aus  seiner  irrigen  Theorie 
vom  nexum,  nicht  begründet.  Auch  Huschke  brauchte  mit  Rücksicht 
auf  das  obnoxium  in  Kapitel  2  das  dritte  Kapitel  nicht.  Er  hat  Ka- 
pitel 3  wohl  nur  mit  Rücksicht  auf  das  Livianische  in  posterum  ne 
necterentur  aufgestellt.  Mehr  dürfte  der  Huschkeschen  Darstellung 
(nexum  S.  135—137)  schwerlich  zu  entnehmen  sein. 

In  Bezug  auf  das  bonam  copiam  iurare,  dem  er  einen  beson- 
deren §  3  widmet,  schließt  Kleineidam  sich  der  herrschenden  Mei- 
nung an:  es  bedeute  >die  eidliche  Versicherung  des  Schuldners,  daß 
er  zur  Deckung  der  Exekutionsforderung  im  Werte  hinreichendes 
aktives  Vermögen  besitze  <  (S.  13),  Solvenzeid.  Diese  Auffassung  er- 
kläre zur  Genüge,  daß  die  Personalexekution  trotz  der  lex  Poetelia 
noch  fortblühte,  da  nicht  jeder  Schuldner  hinreichendes  Vermögen 


Festgabe  für  Felix  Dahn  731 

besessen  habe.  Beiläufig  bemerkt  scheint  mir  der  >In8oIvenzeid<, 
wenn  man  ihn  wie  Schloßmann  Altrömisches  Schuldrecht  und  Scbuld- 
Yerfahren  S.  54  Anm.  2  (»diejenigen,  die  beschwören,  daß  bei  ihnen 
nur  Insolvenz,  nicht  Insuffizienz  bestehe«  u.  s.  w.)  aufiaßt,  praktisch 
auf  dasselbe  hinauszulaufen.  Merkwürdiger  Weise  geht  Kleineidam, 
der  S.  25  Anm.  3  Schloßmann  zitiert,  hierauf  nicht  ein. 

Der  Widerspruch,  der  zwischen  Varro  und  dem  nexi  soluti  und 
omnium  nexa  civium  liberata  der  außervarronianischen  Quellen  bleibt, 
löst  sich  nach  Kleineidams  Ansicht  dadurch,  daß  die  Worte  nexum 
und  nexi  in  dem  varronischen  Schlußsatz  eine  andre  Bedeutung  als 
in  den  übrigen  Quellenstellen  hätten,  bei  Varro  bedeuteten  sie  Per- 
sonalhaft überhaupt,  sonst  die  schrankenlose  Schuldsklaverei.  Aber 
Varro  gebraucht  kurz  vorher  selbst  an  derselben  Stelle  nexum  im 
alten  Sinn.  Da  müßte  der  Gegensatz  in  der  Bedeutung  doch  grade 
bei  dem  Grammatiker  wohl  deutlicher  hervortreten.  Kleineidam  über- 
sieht dies  auch  nicht,  glaubt  sich  jedoch  darüber  hinwegsetzen  zu 
können,  weil  er  diesen  Ausweg  für  den  einzig  möglichen  hält,  Ueber- 
einstimmung  in  das  gesamte  Quellenmaterial  zu  bringen.  Ein  wei- 
terer Grund,  daß  nexi  auch  am  Ende  auf  die  alte  Schuldhaft  mit 
Stricken,  Ketten  u.  dgl.  sich  bezieht,  liegt  m.  E.  in  dem  dissoluti. 
Bei  der  einfachen  Personalhaft  kann  von  einem  solvere  oder  dissol- 
vere  doch  wohl  kaum  die  Rede  sein.  Hinzukommt,  daß  Varro  grade 
in  dieser  Beziehung  mit  den  übrigen  Quellen  übereinstimmt. 

So  gelangt  Kleineidam  zu  der  Rechtslage:  das  bonam  copiam 
.iurare,  der  Solvenzeid,  habe  dazu  gedient,  die  erleichterte  Form 
der  Personalhaft  abzuwenden ;  Grundgedanke  des  Solvenzeides  sei  die 
Subsidiarität  der  Personalhaft.  Wenn  nun  die  beiden  Livianischen 
Normen  das  Gesetz  in  toto  darstellen,  müsse  diese  Subsidiarität  aus 
ihnen  abgeleitet  werden  können  (S.  19).  Ob  das  möglich  sei,  das  sei 
die  zu  lösende  Frage,  und  sie  bejaht  Kleineidam.  Aber  hier  gerade 
ist  die  Begründung  sehr  schwach:  die  Worte  pecuniae  creditae  etc. 
sollten  nach  dem  Willen  des  Gesetzgebers  nicht  so  schroff  aufgefaßt 
werden,  das  gehe  schon  aus  dem  Vorkommen  der  Personalexekution 
in  späterer  Zeit  hervor.  —  Es  sind  jedoch  hier  nur  zwei  Möglich- 
keiten denkbar:  Entweder  bezieht  sich  obnoxius  überhaupt  gamicht 
auf  die  Personalhaft  schlechthin,  sondern  nur  auf  eine  besondere  Art, 
das  alte  nexum;  das  ist  wohl  das  Richtige,  und  dazu  scheint  auch 
Kleineidam  zu  neigen  (S.  12).  Das  läßt  sich  mit  der  Gegenüber- 
stellung von  bona  und  corpus  begründen:  die  der  Sachunterwerfung 
gleichgestellte  Unterwerfung  der  Person  soll  verboten  sein.  Oder 
wenn  man  das  nicht  annehmen  will,  der  Gesetzgeber  hat  die  Per- 
sonalhaft schlechthin  beseitigt,  und  sie  ist  dann  später  wieder  in 


732  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

milderer  Form  eingedrungen.  Allerdings  steht  bei  beiden  Auslegangen 
die  Yarrostelle  mit  einem  Gesetz,  das  nur  die  Livianischen  Normen 
enthält,  in  Widerspruch.  Aber  mit  der  Auslegung,  obnoxius  beziehe 
sich  auf  Personalhaft  schlechthin,  doch  habe  der  Gesetzgeber  sein 
Gesetz  nicht  so  schroff  aufgefaßt  wissen  wollen,  wird  —  so  unwahr- 
scheinlich sie  schon  an  sich  ist  —  der  Charakter  der  Gesetzgebung 
in  alten  Zeiten  verkannt.  Der  Gesetzgeber  schneidet  hier  stets  die 
zu  lösende  Frage  gewaltsam,  mit  aller  Schärfe  durch.  Ueberall 
finden  wir  kurze  Bestimmungen,  die  einerseits  unzulänglich,  andrer- 
seits zu  scharf  sind.  Die  Praxis  führte  dann  das  Gesetz  auf  das 
richtige  Maß  zurück. 

Eleineidam  führt  sodann  als  zweiten  Grund  an :  jedenfalls  hätten 
die  späteren  Praktiker  bei  der  effektiven  Fortdauer  der  Personalhaft 
zu  dieser  Interpretation  kommen  müssen.  Dieser  Grund  setzt  voraus, 
daß  die  Personalhaft  in  Wirklichkeit  durch  das  Gesetz  total  abge- 
schafft ist;  dann  vermag  ich  jedoch  nicht  mehr  den  Einklang  zu 
Kleineidams  weiteren  Ausführungen  zu  ersehen. 

Kleineidam  entwickelt  bezüglich  der  Möglichkeit  der  Personal- 
haft weiter:  Außer  dem  corpus  obnoxium  non  esset  bestimme  das 
Gesetz  noch  ne  quis  nisi  qui  noxam  meruisset,  donee  poenam  lueret, 
in  compedibus  aut  in  nervo  teneretur.  Auf  den  zweiten  Satz  müsse 
mehr  Gewicht  gelegt  werden.  Hier  sei  ausgesprochen,  daß  das 
nexum  mit  dem  teneri  compedibus  aut  in  nervo  abgeschafft  sein 
solle;  aber  grade  das  teneretur  zeige,  daß  die  Personalhaft  ohne  die 
schwere  Fessel  fortdauern  sollte,  und  zwar  wie  sich  aus  dem  donec 
poenam  lueret  entnehmen  lasse  (?),  bis  zur  Zahlung  des  geschuldeten 
Betrags.  Das  läßt  sich  mit  der  Auffassung,  daß  obnoxius  sich  nur 
auf  das  alte  nexum  beziehe,  vereinen. 

Im  §  5  findet  sich  Kleineidam  schließlich  mit  den  einschlägigen 
Stellen  bei  Sallust  und  Quintilian  ab. 

Beiläufig  ist  mir  aufgefallen ,  daß  Kleineidam  S.  4  Anm.  7  bz. 
des  Alters  der  lex  Poetelia  auf  Huschke  hinweist ;  zweckmäßiger  wäre 
wohl  auf  Kariowa  Rechtsgeschichte  II  S.  559  verwiesen,  da  Huschke 
insbesondere  Mommsen,  Rom.  Forschungen  II  S.  244  ff.  noch  nicht 
berücksichtigt.  Weitere  Literatur  jetzt  zu  dieser  Frage  bei  Senn, 
Nouvelle  Revue  Historique  29.  Jahrg.  S.  93  Anm.  4. 

Das  Mißgeschick  mit  Novius  setzt  sich  fort:  Z.  14  S.  98  wird 
man  ihn  vergeblich  suchen,  es  muß  heißen  13  S.  98  (S.  6  Anm.  15). 

Was  das  Gesamturteil  anbelangt,  so  ist  anzuerkennen,  daß 
Kleineidam  das  Material  mit  großer  Sorgfalt  gesichtet  und  durchweg 
einen  vorsichtigen  objektiven  Standpunkt  gewahrt  hat.  Trotzdem  kann 
ich  eine  besondere  Förderung  der  Wissenschaft  in  der  Arbeit  nicht 


Festgabe  für  Felix  Dahn  783 

erblicken.  Es  werden  zwar  einzelne  Hypothesen  wahrscheinlicher  ge- 
macht, auch  neue  aufgestellt  und  zwar  mit  großer  Gedankenschärfe. 
Aber  in  der  Kenntnis  dessen,  was  nun  wirklich  war,  bringt  die  Ab- 
handlung doch  wenig  oder  gamicht  weiter.  Daran  mag  freilich 
weniger  Eleineidam  als  das  dürftige  Quellenmaterial  schuld  sein,  wie 
denn  Überhaupt  wohl  ohne  neue  Quellen  auf  diesen  dunklen  Gebieten 
schwerlich  etwas  zu  erreichen  ist.  In  vielen  Punkten  wird  man 
Kleineidam  ein  energisches  non  credo  entgegensetzen  müssen.  Sollte 
aber  der  Wissenschaft  hier  nicht  mehr  damit  gedient  sein,  wenn  wir 
uns  mit  einem  non  liquet  begnügen,  als  daß  eine  neue  Hypothese 
die  andre  überholt  und  dadurch  nur  die  Kenntnis  dessen,  was  auf 
Grund  sorgfältiger  Forschung  als  gewiß  feststeht,  verdunkelt  wird? 

2)  In  der  zweiten  Arbeit  referiert  Fritz  Klingmüller  >Ueber 
Klagen  Verjährung  und  deren  Wirkung.«  Er  behandelt  im  wesent- 
lichen nur  die  Frage,  ob  die  Klagenverjährung  stärkere  'oder 
schwächere  Wirkung  hat.  Unter  Darlegung  der  gesamten  Entwick- 
lung der  Verjährung  im  römischen  Recht  entscheidet  er  sich  für  die 
stärkere  Wirkung.  Dabei  stimmen  seine  Ausführungen  durchweg  mit 
Dahns  Dissertation  >Ueber  die  Wirkung  der  Klagenverjährung  bei 
Obligationen«,  Demelius  >Untersuchungen  aus  dem  römischen  Civil- 
recht  Ic  und  Heymanns  > Vorschützen  der  Verjährung«  überein. 
Ueber  die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  dieser  drei  Abhandlungen 
kommt  Klingmüller  eigentlich  nirgends  hinaus.  Neues  bietet  die 
Arbeit  wenig  oder  gamicht. 

3)  Rudolf  Leonhard.    Die  Replik  des  Prozeßgewinns  (S.  65—106). 
Seit  Kellers  Litiskontestation   und  Urteil  legt  die  herrschende 

Lehre  der  exceptio  rei  iudicatae  eine  doppelte  Bedeutung  bei.  Man 
unterscheidet  eine  negative  und  eine  positive  Funktion  jener  exceptio. 
Keller  selbst  hat  seine  Auffassung  am  schärfsten  und  klarsten  in  dem 
zitierten  Werk  in  Anmerkung  4  S.  223  ausgesprochen:  »Wenn  wir 
von  verschiedenen  Funktionen  der  exe.  rei  iudicatae  sprechen, 
so  kann  dies  natürlich  nicht  in  Beziehung  auf  die  endliche  Wir- 
kung, den  Erfolg  derselben  gemeint  sein,  denn  dieser  ist  bei  allen 
Exceptionen  immer  derselbe,  nämlich  Abweisung  der  Klage:  wohl 
aber  kann  eine  bestimmte  Exceptio  bald  aus  diesem,  bald  aus 
jenem  Grunde  erteilt  werden,  mit  andern  Worten,  die  recht- 
liche Idee,  welche  durch  eine  gewisse  Exceptio  und  die  daraus 
folgende  Abweisung  der  Klage  realisiert  werden  soll,  kann  in  ver- 
schiedenen Fällen  eine  verschiedene  sein;  und  so  verhält  es  sich 
grade  bei  der  exe.  rei  iudicatae,  indem  dadurch  bald  die  rein  nega- 
tive, zerstörendeWirkung  des  Urteils,  die  Konsumtion, 
welche  seine  bloße  Existenz  ohne  Rücksicht  auf  seinen  Inhalt  zur 


734  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

Folge  hat,  bald  dagegen  der  positive  Inhalt  desselben  geltend 
gemacht  werden  soll  Und  so  reden  wir  denn  auch,  freilich  etwas  un- 
eigentlich, von  negativer  oder  positiver  Funktion  der  exa 
rei  iudicatae,  je  nachdem  sie  aus  dem  einen  oder  andern  dieser 
Gründe  der  Klage  entgegengesetzt  wird.«  Seiner  AufiGassung  ist 
dann  Bekker  mit  aller  Schärfe  entgegengetreten.  Bekker  behauptet, 
die  exceptio  rei  iudicatae  habe  im  römischen  Recht  stets  nur  nega- 
tive Funktion  gehabt.  Für  das  geltende  Recht  ist  man  sich  im 
wesentlichen  darüber  einig  (abweich.  Ansicht  z.  B.  Windscheid-Eipp 
8.  Aufl.  §  130  Anm.  26),  daß  die  exceptio  rei  iudicatae  in  ihrer  ne- 
gativen Funktion  nicht  mehr  dem  gegenwärtigen  Recht  angehört. 

Grade  gegen  den  letzten  Satz  wendet  sich  Leonhard.  Ohne  sich 
auf  den  Boden  der  Bekkerschen  Theorie  zu  stellen,  bekämpft  er  die 
Kellersche  Lehre,  deren  praktisch  bedeutsamste  Konsequenzen  er  in 
folgenden  beiden  Sätzen  sieht:  1)  Der  bereits  gewonnene  Prozeß 
darf  nach  spätrömischem  und  modernem  Rechte  vom  Kläger  wieder- 
holt werden.  2)  Die  Einrede  der  rechtskräftig  abgeurteilten  Sache 
verlangt  heutzutage  immer  eine  Angabe  des  vollen  Urteilsinhalts 
(S.  75).  Leonhard  teilt  seine  Abhandlung  in  einen  kritischen  und 
einen  exegetischen  Teil. 

Im  kritischen  Teil  bekämpft  er  hauptsächlich  Kellers  Unter- 
scheidung von  der  positiven  und  negativen  Funktion  der  exceptio  rei 
iudicatae.  Keller  sei  sich  merkwürdigerweise  der  Unrichtigkeit  dieser 
Terminologie  voll  bewußt  gewesen.  »Er  schrieb  sich  selbst  die  schärfste 
Kritik.  Funktion  und  Begründung  sind  zweierlei.  Einreden  haben 
nach  Keller  streng  genommen  immer  nur  negative  Funktionen.  Trotz- 
dem konnte  Keller  dem  Gelüst  nicht  widerstehen,  die  »Begründunge 
der  Einrede  mit  »Funktion«  zu  bezeichnen,  in  der  HofEaung,  daß 
man  den  unpassenden  Namen  nicht  mißdeuten  werden  (S.  73). 
> Keller  würde  jedoch  schwerlich  seinen  terminologischen  Mißgriff  be- 
gangen haben,  wenn  nicht  eine  sachliche  Verwechslung  dem  zu 
Grunde  gelegen  hätte.  Er  betont,  daß  die  beiden  Funktionen  der 
Einreden  mindestens  ungefähr  mit  den  beiden  Funktionen  des  Urteils 
(oder  Prozesses),  von  denen  er  spricht,  gleichen  Schritt  halten.  Die 
Funktion  des  Urteils,  von  der  er  öfters  redet,  fließt  in  Folge  dessen 
bei  ihm  zusammen  mit  der  Einrede  des  rechtskräftigen  Urteils.  So 
verwechselt  er  die  positive  Funktion  der  Einrede  des  Urteils  mit 
der  Einrede  der  positiven  Funktion  des  Urteils.  Daher  erscheint 
denn  schon  bei  Savigny  die  »Funktion'  als  ,Gestalt\  der  neueren 
Doktrin  ist  sie  nichts  als  ,Kraft'  und  ,Wirkung'  des  Urteils<  (S.  74  f.). 
Dieser  Vorwurf,  der  sowohl  Keller  als  auch  der  gesamten  herr- 
schenden Lehre  einen  logischen  Fehler  zur  Last  legt,  ist  nur  zum 


Festgabe  für  Felix  Dahn  785 

allergeringsten  Teil  begründet.  Leonhards  Angriff  könnte  nur  dann 
als  berechtigt  anerkannt  werden,  wenn  Keller  nicht  die  oben  zitierte 
Anmerkung  seiner  Darstellung  hinzugefügt  hätte.  Der  Text  allein 
rechtfertigt  Leonhards  Behauptung.  Aber  wenn  ein  so  scharfsinniger 
Gelehrter  wie  Keller  klar  und  deutlich  zugibt,  daß  die  ihm  von 
Leonhard  vorgeworfene  Verwechslung  nahe  liege  —  denn  das  besagt 
doch  im  Grunde  die  Anmerkung  —,  ist  schwerlich  anzunehmen,  daß 
die  ganze  Lehre  auf  diesem  Fehler  basiere.  Und  grade  wenn  man 
bei  jedem  Teil  der  Kellerschen  Ausführungen  sich  die  Anmerkung 
gewärtig  hält,  —  das  will  doch  Keller  — ,  schwinden  die  von  Leon- 
hard erhobenen  Bedenken.  Daß  eine  falsche  Terminologie  stets 
schwere  Gefahren  in  sich  birgt,  das  unterliegt  keinem  Zweifel.  Auch 
der  Vorwurf,  daß  sich  diese  Verwechslung  durch  die  ganze  neue 
Literatur  hindurch  zieht,  ist  nicht  berechtigt.  Die  Bedeutung,  welche 
Keller  der  Unterscheidung  beilegt,  ist  doch  nirgends  zu  verkennen. 
Selbst  da,  wo  Funktion  voll  im  Sinne  von  Wirkung  gebraucht  ist, 
mag  zwar  rein  äußerlich  die  Verwechslung  zu  konstatieren  sein, 
nirgends  aber  sind  aus  dieser  Verwechslung  wirklich  bedeutsame  und 
falsche  Konsequenzen  gezogen,  indem  man  stets  die  Kellersche  Lehre 
richtig  zu  Grunde  legte.  Es  ist  denn  auch  bei  Leonhard  selbst 
nicht  zu  erkennen,  daß  seine  Ausführungen  notwendig  die  Richtig- 
stellung dieses  Fehlers  zur  Voraussetzung  haben. 

Auch  gegen  die  Gegenüberstellung  von  Urteilstatsache  und  Ur- 
teilsinhalt in  dieser  Lehre  zieht  Leonhard  zu  Felde.  Bei  der  nega- 
tiven Funktion  genüge  die  bloße  Tatsache  eines  irgendwo  und  irgend- 
wann unter  den  Parteien  gefällten  Urteils  nicht.  >Die  Identität  der 
früheren  und  der  späteren  Sache  mußte  dargetan  werden.  Das  ist 
aber  bereits  ein  Stück  vom  Urteilsinhalt.  Die  sogenannte  negative 
Funktion  betrifft  also  ebenfalls  eine  Einrede  des  Urteilsinhalts,  das 
heißt  des  nur  oberflächlich  (unter  Verschweigung  des  Prozeßsiegers) 
angegebenen  Urteilsinhalts,  die  sogenannte  positive  Funktion  bezieht 
sich  dagegen  auf  die  Einrede  des  vollständig  angegebenen  Prozeß- 
inhalts<  (S.  74).  Hier  bringt  Leonhard  zwei  Momente  unter  eine 
Decke,  die  in  Wirklichkeit  durchaus  nicht  zusammengehören.  Da, 
wo  es  sich  um  die  Wirkung  der  Urteilstatsache  handelt,  haben  wir 
es  mit  der  Tatbestandswirkung  zu  tun.  Wo  jedoch  der  Lihalt  des 
Urteils  in  Frage  kommt,  kann  zwar  auch  Tatbestandswirkung  vor- 
liegen, so  z.  B.  wenn  die  Wirkung  sich  nicht  an  das  Vorhandensein 
des  Urteils  überhaupt,  sondern  etwa  an  die  Verurteilung  knüpft, 
regelmäßig  aber  kommt  hier  die  Rechtskraftwirkung,  das  ist  Fest- 
stellungswirkung, in  Frage.  Das  römische  Recht  hat  diese  beiden 
Wirkungen  noch  nicht  in  voller  Klarheit,  ja  soweit  es  sieb  um  ex* 


736  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

ceptio  rei  iudicatae  handelt,  wohl  überhaupt  nicht  unterschieden.  Die 
Ansätze  fur  die  moderne  Rechtskraft  haben  wir  wohl  viehnehr  in 
der  Lehre  vom  praeiudicium  zu  suchen,  die  dann  später,  als  die  Kon- 
sumtionswirkung  mehr  zurücktrat,  mit  der  Lehre  von  der  res  iudi- 
cata zusammengeworfen  wurde  (vgl.  meine  >streitgenössische  Neben- 
intervention«  S.  136  Anm.  18,  auch  S.  137).  Das  zeigt  sich  so  recht 
klar  und  deutlich  in  der  mittelalterlichen  romanistisch-kanonistischen 
Lehre.  Grade  die  Eellersche  Lehre  hat  jedoch  in  der  positiven  Funk- 
tion der  exceptio  rei  iudicatae  stets  mehr  eine  Feststellungswirkung 
gesehen,  und  deshalb  kann  man  sie  nur  von  diesem  Gesichtspunkt, 
auf  dieser  Grundlage  bekämpfen,  wenn  man  nicht  mit  Bekker  die 
Eellersche  Lehre  von  vornherein  verwirft.  Bei  der  Feststellungs- 
wirkung ist  volles  Eingehen  auf  den  Urteilsinhalt  erforderlich.  Bei 
der  Tatbestandswirkung  ist  jedoch  nur  Eonstatierung  des  Tatbestands 
zur  Feststellung  der  Identität  nötig;  soweit  dazu  ein  Eingehen  auf 
den  Urteilsinhalt  erforderlich  ist,  ist  dieses  stets  sekundärer  Natur 
und  ohne  ausschlaggebende  Bedeutung.  Insofern  ist  die  Gegenüber- 
stellung bei  Eeller  durchaus  gerechtfertigt.  Darin  aber  hat  Leonhard 
Recht,  daß  beide  Wirkungen,  wie  auch  schon  vor  ihm  G.  Rümelin 
betont  hat,  keinen  Gegensatz  darstellen.  >Die  negative  Funktion 
verneint  das  Recht  zur  Anspruchswiederholung,  die  positive  bejaht 
den  Urteilsinhalt.  Jene  Verneinung  schließt  aber  diese  Bejahung 
nicht  aus<  (S.  77).  Grade  hiermit  hat  Leonhard  einen  wunden  Punkt 
der  Eellerschen  Theorie  getroffen,  ohne  dies  schärfer  hervorzuheben. 
Wenn  nämlich  beide  Funktionen  nicht  im  Gegensatz  stehen,  dann  ist 
die  replicatio  der  1.  9  §  1  D.  de  exe.  rei  iud.  44, 2  im  Eellerschen 
Sinn  ungeeignet,  die  exceptio  aufzuheben.  Die  beste  Erklärung 
dürfte  noch  immer  die  von  Westerburg  (Arch.  Prakt.  Rw.  N.  F.  9, 
S.  337)  und  Bülow  (Arch.  Civ.  Prax.  83  S.  30  Anm.  35)  vertretene 
sein,  daß  die  viel  besprochene  replicatio  rei  secundum  actorem  iudi- 
catae der  1.  9  §  1  D.  44,2;  1.  16  §  5  D.  20,1  und  1.  9  §  2  D.  40,12 
nichts  anderes  als  eine  in  factum  konzipierte  replicatio  doli  generalis 
gewesen  ist.  Darnach  kann  es  sich  allerdings  nur  um  bloOe  Tatbe- 
standswirkungen handeln. 

Auf  den  Fall,  daß  der  Beklagte  das  im  ersten  Prozeß  vertei- 
digte Rechtsgut  nunmehr  selbst  einklagt  und  hier  exceptio  rei  iudi- 
catae erhoben  wird,  —  eine  Hauptstütze  für  die  positive  Funktion  — 
geht  Leonhard  überhaupt  nicht  ein. 

Der  exegetische  Teil  beginnt  mit  der  Auslegung  der  L  9  §  1  D. 
exe.  rei  iud.  44.2.  Si  quis  fundum,  quem  putabat  se  possidere,  de- 
fenderit  mox  emerit:  re  secundum  petitorem  iudicata  an  restituere 
cogatur,  et  ait  Neratius,  si  actori  iterum  petenti  obiiciatur  exceptio 


Festgabe  für  Felix  Dahn  787 

rei  iudicatae,  replicare  euni  debere  de  re  secundum  se  iudicata. 
Leonhard  legt  diese  Stelle  folgendermaßen  aus:  Gegen  den  Nicht- 
besitzer  ist  ein  günstiges  £ndurteil  ergangen.  Ulpians  Frage  lautete 
nun:  >Kann  die  Verurteilung  des  Nichtbesitzers  vollstreckt  werden, 
wenn  der  Verurteilte  den  Besitz  erst  später  erlangt?<  Diese  Frage 
verneine  Ulpian  indirekt,  indem  er  Neratius,  der  die  wiederholte 
Klage  für  zulässig  erklärt,  anführe.  Der  Grundsatz  >  Jede  neue  Eigen- 
tumsverletzung erzeugt  einen  neuen  Anspruch  <  sei  nicht  römischen 
Rechts  gewesen.  Nur  wenn  der  Kläger  den  Eigentumsprozeß  früher 
gewonnen  habe,  wäre  dem  Kläger  die  replicatio  eingeräumt.  —  Den 
Widerspruch  zwischen  §  1  einerseits  und  pr.  der  1. 9  D.  44,2  und  1. 17 
eod.  andrerseits  sucht  er  dadurch  zu  lösen,  daß  er  in  beiden  Stellen 
die  replicatio  ergänzt  (S.  80  ff.).  Diese  Lösung  erscheint  doch  reich- 
lich willkürlich. 

Die  zweite  in  Betracht  kommende  Stelle  1.  16  §  5  D.  de  pign. 
20, 1  (Marcianus)  libro  singulari  ad  formulam  hypothecariam :  Creditor 
hypothecam  sibi  per  sententiam  adiudicatam,  quemadmodum  habi- 
turus  sit,  quaeritur:  nam  dominium  eins  vindicare  non  potest,  sed 
hypothecaria  agere  potest,  et  si  exceptio  obiicietur  a  possessore  rei 
iudicatae,  replicet:  si  secundum  me  iudicatum  non  est,  versteht 
Leonhard  so:  »Die  Sache  ist  durch  ein  Teilungsurteil  einem  Pfand- 
gläubiger zugeschlagen  worden.  Da  er  aber  als  solcher  garnicht 
Partei  im  Teilungsprozesse  sein  konnte,  ist  dies  nur  so  denkbar,  daß 
sein  Pfandrecht  (das  vielleicht  ererbt  war),  ihm  selbst  und  dem 
jetzigen  Besitzer  (der  vielleicht  ebenfalls  als  Erbe  in  fremde  Ver- 
hältnisse hineingekommen  war),  unbekannt  blieb,  während  beide  irr- 
tümlicher Weise  als  Miteigentümer  galten.  Dem  einen  wurde  dann 
im  Teilungsprozesse  die  ganze  Sache  allein  zugesprochen,  der  andere 
für  den  Verlust  seines  Anteils  auf  andere  Weise  entschädigte  (S.  99). 
Wenn  sich  später  ergibt,  daß  er  bloß  Pfandgläubiger  ist,  könne  er 
nach  Marcian  nicht  das  Urteil  geltend  machen,  weil  das  Teilungs- 
verfahren ihm  kein  Eigentum  verschaffen  konnte.  Es  bleibe  ihm  nur 
die  Pfandklage.  >  Beruft  sich  der  Gegner  nunmehr  darauf,  daß  das 
Zuschlagsurteil  dies  Pfandrecht  nicht  erwähnt,  also  zerstört  habe,  so 
antwortet  der  Kläger  mit  der  Replik  der  Chikanec  (S.  101).  —  Daß 
diese  Erkärung  unmöglich  ist,  läßt  sich  wohl  nicht  behaupten.  Viel 
Wahrscheinlichkeit  kann  sie  aber  kaum  beanspruchen.  Marcianus 
würde,  wenn  dem  hypothecam  adiudicare  hier  nicht  die  regelmäßige 
Bedeutung  zukommen  soll,  wohl  mehr  vom  Teilungsverfahren  gesagt 
haben. 

Mag  man  nun  über  diese  Interpretationsversuche  denken  wie  man 
will;  so  glaube  ich  doch,  daß  energisch  Widerspruch  gegen  die  Inter« 


738  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

pretationsmethode  Leonhards  erhoben  werden  muß.  Leonhard  em- 
pfiehlt, man  solle  »neben  der  bekannten  duplex  interpretatio  der 
Quellentexte  auch  ihre  Beziehungen  zu  dem  gemeinrechtlichen  Pro- 
zesse und  endlich  auch  noch  ihr  Verhältnis  zu  den  Rechtssätzen  der 
Gregenwart  feststellen,  um  so  in  einer  quadruplex  interpretatio  das 
volle  Mafi  der  Anregung  zu  gewinnen,  das  uns  die  Ueberlieferungen 
des  römischen  Rechts  zu  gewähren  vermögen  <.  (S.  80).  Eine  Di- 
gestenstelle  kann  doch  stets  nur  von  dem  Geist  der  Zeit,  in  welcher 
sie  entstanden  ist,  interpretiert  werden^  und  da  ja  für  sie  tatsächlich 
eine  doppelte  Zeit  in  Frage  kommt,  ist  allenfalls  die  duplex  inter- 
pretatio zulässig.  Aber  für  die  Gegenwart,  genauer  für  das  gemeine 
Recht  kann  die  Stelle  nur  dann  in  Frage  kommen,  wenn  die  zu 
Grunde  liegenden  Verhältnisse  dieselben  sind.  Es  kann  sich  zwar 
auch  bei  veränderter  Sachlage  der  Rechtssatz  gewohnheitsrechtlich 
erhalten  haben;  dann  ist  im  Grande  genommen  neues  Recht  ent- 
standen, aber  von  einer  quadruplex  interpretatio  kann  doch  keine 
Rede  sein.  Leonhard  macht  tatsächlich  mit  diesem  Satz  Ernst  und 
zieht  aus  den  Quellenstellen  Eonsequenzen  für  das  geltende  Recht 
Ganz  klar  ist  allerdings  nicht  zu  erkennen,  wie  weit  er  hier  gehen 
will.  Geltendes  Prozeßrecht,  Sätze,  die  sich  allgemein  aus  dem 
Wesen  des  Prozesses  insbesondere  des  Urteils  ergeben  sollen,  und 
der  Inhalt  der  Digestenstelle  werden  so  durcheinander  gewirbelt,  daO 
man  m.  E.  nicht  mit  Bestimmtheit  ersehen  kann,  wieweit  die  für  das 
geltende  Recht  gezogenen  Eonsequenzen  nach  seiner  Ansicht  ihren 
Grund  im  römischen  Recht  haben.  Es  handelt  sich  insbesondere  um 
die  Frage:  Eann  der  Eläger,  der  außer  Stande  ist,  sein  siegreiches 
Urteil  zur  Vollstreckung  zu  bringen,  die  Elage  wiederholen?  Leon- 
hard verweigert  dem  Eläger  grundsätzlich  die  Elagenwiederholnng 
und  verweist  ihn  auf  die  actio  iudicati.  Die  praktisch  bedeutsamste 
Folgerung  gewinnt  er  für  den  Fall,  daß  der  Eläger  hier  >auch  nicht 
einmal  die  Tatsache  und  den  Inhalt  des  früheren  günstigen  Urteils 
nachweisen  kann,  also  nicht  einmal  die  actio  iudicati  zu  begründen 
in  der  Lage  ist.  Wiederholt  hier  der  Eläger  den  früheren  Anspruch 
und  beruft  sich  dagegen  der  Beklagte  auf  das  frühere  Urteil,  ohne 
aufzuklären,  wer  damals  Sieger  war,  so  ist  der  Elageanspruch  ver- 
loren. Eine  replicatio  rei  secundum  actorem  iudicatae  würde  dem 
Eläger  deshalb  nicht  zustehen,  weil  er  ihre  tatsächliche  Grundlage 
nicht  beweisen  könnte.  Das  mag  unbillig  scheinen,  es  ist  dies  aber 
nur  eine  Anwendung  der  allgemeinen  Regel,  daß  es  vor  dem  Richter 
ohne  Beweis  kein  Recht  gibt«.  (S.  94).  Die  Frage,  ob  der  Kläger 
seine  Elage  wiederholen  darf,  oder  anders  formuliert,  ob  der  Richter 
zum  zweiten  Mal  über  denselben   Anspruch    entscheiden  darf,  ist 


Festgabe  für  Felix  Dahn  739 

lediglich  eine  Frage  des  Prozeßrechts.  Sie  kann  also  nur  auf  Grund 
unsrer  ZPO.  und  wenn  diese  schweigt,  im  Geist  unsres  modernen 
Rechts  entschieden  werden.  Hier  besteht  ein  Verbot  der  Klage- 
wiederholung nicht.  Aus  dem  Wesen  des  Urteils  läßt  sich  eine  Ant- 
wort nicht  gewinnen.  Das  Urteil  enthält  weder  das  Verbot  der 
Eiagewiederholung,  wie  Leonhard  will,  noch  umgekehrt  die  Erlaubnis 
dazu.  Beides  liegt  außerhalb  des  Begriffs  des  Urteils,  beides  hat 
mit  dem  Urteil  an  sich  gar  nichts  zu  tun.  Aus  dem  allgemeinen 
Prinzip,  daß  eine  Klage  nur  dann  zulässig  ist,  wenn  für  den  Kläger 
ein  Bedürfnis  nach  Rechtsschutz  vorliegt,  folgt  allerdings,  daß  regel- 
mäßig eine  Klagewiederholung  unzulässig  ist.  Sobald  aber  ein 
Rechtsschutzbedürfnis  vorhanden  ist,  z.  B.  weil  die  Akten  verbrannt 
sind,  steht  der  erneuten  Klage,  und  zwar  nicht  als  actio  iudicati, 
sondern  als  wiederholter  Geltendmachung  desselben  Anspruchs  nichts 
entgegen.  Daß  das  zweite  Urteil  wie  das  erste  lauten  muß,  folgt 
aus  der  Rechtskraft.  Mit  dem  Einwand,  daß  bereits  ein  Urteil  ge- 
fällt ist,  kann  der  Beklagte  also  nur  insofern  die  erneute  Klage  zur 
Abweisung  bringen,  als  er  damit  mangelndes  Rechtsschutzbedürfius 
geltend  macht.  Im  praktischen  Resultat  wird  diese  wohl  jetzt  als 
herrschende  zu  bezeichnende  Auffassung  (vgl.  Seuffert  Kommentar  zu 
ZPO.  §  322,  1;  Stein  Kommentar  zu  ZPO.  §  322  VII  3b;  Motive  z. 
BGB.  I  S.  375  f.,  RGZ.  16  S.  435  und  RG.  in  Gruchots  Beitr.  42 
Nr.  1129  und  allerneustens  Fischer  > Vollstreckbarkeit <  im  dritten  Teil 
der  Festschrift  S.  61  Anm.  1)  mit  der  Leonhards  größtenteils  auf 
dasselbe  hinauskommen.  Uebrigens  wird  sich  der  Fall,  so  wie  Leon- 
hard ihn  aufstellt,  in  praxi  wohl  kaum  ereignen. 

Der  dritte  Teil  der  Festgabe  besteht  aus  sieben  Abhandlungen, 
die  das  Recht  der  Gegenwart  betreffen.  Von  diesen  Arbeiten  liegen 
vier  auf  dem  Gebiet  des  bürgerlichen  Rechts,  davon  zwei  speziell 
auf  dem  des  Handelsrechts,  ferner  zwei  auf  dem  des  Strafrechts,  eine 
schließlich  gehört  dem  Zivilprozeßrecht  an^). 

1)  Den  Reigen  eröffnet  Beling  mit  einer  strafrechtlichen  Ar- 
beit unter  dem  Thema  >Die  Beschimpfung  von  Religionsgesellschaften, 
religiösen  Einrichtungen  und  Gebräuchen,  und  die  Reformbedürftig- 
keit  des  §  166  StGB.<  Beling  stellt  sich  zur  Aufgabe  kurz  den 
für  Religionsdelikte  geltenden  Rechtszustand  zu  skizzieren  und  so- 
dann kritisch  zu  prüfen,  ob  die  einschlägigen  Strafbestimmungen  ab- 
zuschaffen, umzugestalten  oder  unverändert  beizubehalten  sind. 

Zunächst  bespricht  er  de  lege  lata  die  Beschimpfung  von  Reli- 
gionsgesellschaften, ihren  Einrichtungen  und  Gebräuchen,   also  den 

1)  Bei  den  Abhandlangen  von  Beling,  Gretener,  Heymann  und  Jacobi  ist 
von  einer  Besprechung  abgesehen. 

Qiü.  geL  Au.  1906.  Nr.  9  52 


740  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

zweiten  Tatbestand  des  §  166  StGB.  Bezüglich  des  Angriffisobjektes 
stimmt  er  mit  der  herrschenden  Ansicht  überein.  Dagegen  tritt  er 
der  von  der  herrschenden  Meinung,  insbesondere  von  der  Judikatur 
des  Reichsgerichts  angenommenen  Begriffsbestimmung  der  Beschim- 
pfung, daß  ein  Schimpf  nur  dann,  aber  auch  immer  schon  dann  vor- 
liege, wenn  die  Handlung  eine  Herabwürdigung  >in  roher  Form<  ent- 
hält, energisch  entgegen.  Für  Beling  heißt  Beschimpfen  »eine  Hand- 
lung vornehmen,  die  das  Hohe  In  den  Schmutz  zieht',  das  Heilige 
in  sein  Gegenteil  verkehrt«  (S.  8),  wobei  vom  Standpunkt  der  be- 
troffenen Religionsgesellschaft  zu  bestimmen  sei,  ob  eine  solche  Ent- 
heiligung in  der  Handlung  lag.  Eine  eingehende  Erörterung  widmet 
Beling  dem  Beschimpfungsvorsatz.  Er  ist  >nur  da  vorhanden,  wo 
der  Täter  die  von  ihm  auf  das  Niveau  des  Antiheiligen  gestellte 
Einrichtung  etc.  selber  als  heilig  oder  wenigstens  als  nicht  antiheüig 
anerkennt«  (S.  13).  Die  verteidigte  Auffassung  in  Bezug  auf  den 
Begriff  der  Beschimpfung  und  den  Beschimpfungsvorsatz  ¥rird  von 
Beling  dann  auch  für  die  übrigen  Tatbestände  des  §  166,  die 
ebenso  wie  die  des  §  167  nur  ganz  kurz  skizziert  werden,  zu  Grunde 
gelegt. 

De  lege  ferenda  verlangt  Beling,  daß  das  Angrifiisobjekt  in  §  166 
geändert  werde  und  nicht  fernerhin  >die  abstrakten  Gebilde  reli- 
giöser Anschauung  als  rechtliche  Schutzobjekte  figurieren«  (S.  19). 
»Solche  Abstrakta,  die,  wie  heilige  Einrichtungen  und  Gebräuche, 
nicht  vom  Staate  selber  in  absoluter  Weise  inhaltlich  bestimmt 
werden,  sondern  derart  auf  subjektiver  Auffassung  beruhen,  daß  der 
Staat  als  gleichberechtigte  Auffassung  ebensosehr  diejenige  anerkennt, 
die  die  Einrichtung  oder  den  Gebrauch  als  heilig  ehrt,  wie  umgekehrt 
diejenige,  die  sie  als  sündhaft  ablehnt,  eignen  sich  nicht  zu  recht- 
lichen Schutzobjekten,  weil  sie  eben  einer  eindeutigen  Ojektivierung 
ermangelnc  (S,  19).  >Noch  weniger  als  die  kirchlichen  Einrich- 
tungen etc.  eignet  sich  als  rechtliches  Schutzobjekt  das  Eulturinter- 
esse  des  religiösen  Bewußtseins  der  Menschheit«  (S.  22).  Das,  was 
des  staatlichen  Schutzes  bedarf,  ist  vielmehr  >die  reale  religiöse  Em- 
pfindung der  Menschen.  Als  Angriffsobjekt  im  Tatbestande  ist  sie 
in  der  Weise  zu  nennen,  daß  das  Delikt  zum  Erfolgsdelikt  gemacht 
wird,  d.  h.  daß  nur  dann  der  Tatbestand  für  voll  erfüllt  erklärt  wird, 
wenn  jemand  in  seinem  religiösen  Empfinden  verletzt  worden  ist« 
(S.  23).  >Von  der  Verwendung  des  Begriffs  der  'Beschimpfung'  sollte 
der  Gesetzgeber  der  Zukunft  Umgang  nehmen  c  (S.  30).  Alle  diese 
Sätze  werden  eingehend  begründet.  So  gelangt  Beling  schließlich 
zu  folgender  Formulierung  des  §  166:  >Wer  vorsätzlich  das  religiöse 
Gefühl  eines  anderen  verletzt,  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  sechshon- 


Festgabe  für  Felix  Dahn  741 

dert  Mark  oder  mit  Haft  oder  mit  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre  be- 
straft. Die  Verfolgung  tritt  nur  auf  Antrag  ein.  Nicht  rechtswidrig 
ist  ein  Handeln  dieser  Art,  wenn  es  nur  der  Ausdruck  ernster  reli- 
giöser Ueberzeugung  ist;  ingleichen  handelt  nicht  rechtswidrig,  wer 
in  harmloser  Weise  Religiöses  vermenschlicht <,  (S.  32  f.). 

2)  Otto  Fischer,  Vollstreckbarkeit  (S.  37—98). 

>In  unserer  ZPO.  aber  auch  in  den  andren  Gesetzen  werden  die 
Ausdrücke  vollstreckbar  und  Vollstreckbarkeit  häufig  und  als  tech- 
nische gebraucht <.  Der  nächste  Sinn  von  Vollstreckbarkeit  ist  offen- 
bar die  Geeignetheit  als  Grundlage  zur  Zwangsvollstreckung.  Eine 
weit  verbreitete  Meinung  geht  jedoch  dahin,  daß  ein  Bedürfnis  be- 
stehe, einen  weiteren  Sinn  von  vollstreckbar  und  Vollstreckbarkeit 
anzunehmen,  der  die  ganze  der  Rechtsverwirklichung  und  Rechtsbe- 
friedigung  im  Gegensatz  zur  Rechtsfeststellung  dienende  Rechts- 
pflegetätigkeit des  Staates  umfasse.  Dieser  Meinung,  der  auch  das 
Reichsgericht  in  der  Entscheidung  B.  16  S.  477  huldigt,  tritt  Fischer 
energisch  entgegen.  Er  verteidigt  mit  aller  Schärfe  die  Auffassung, 
daß  der  ZPO.  nur  die  Bedeutung  der  Vollstreckbarkeit  zu  Grunde 
liegt,  welche  dem  äußeren  Wortsinn  entspricht,  die  Geeignetheit  als 
Grundlage  zur  Zwangsvollstreckung  im  Sinne  der  ZPO.  Fischer 
stützt  seine  Ansicht  im  wesentlichen  auf  eine  äußerst  sorgfältige 
Durchmusterung  der  Entstehungsgeschichte  der  Zwangsvollstreckung 
unsrer  ZPO.  Zunächst  wird  geprüft  das  französische  Recht,  der 
Ausgangspunkt,  sodann  die  hannoversche  ZPO.  von  1850  und  dar- 
nach die  einzelnen  Entwürfe.  Das  Resultat  der  Untersuchung  für  die 
ZPO.  von  1877  faßt  Fischer  dahin  zusammen:  >In  der  hannoverschen 
Prozeßordnung  wurde  der  Begriff  Vollstreckbarkeit  (einschließlich  der 
Vollziehung  von  Arresten  und  einstweiligen  Verfügungen)  ganz  streng 
lediglich  im  Sinne  von  zur  Zwangsvollstreckung  geeignet  gebraucht. 
Das  Gesetz  kannte  keinerlei  Erweiterungen  oder  Widersprüche  in 
dieser  Beziehung.  Die  Durchforschung  sämtlicher  für  die  ZPO.  in 
Betracht  kommenden  Entwürfe  und  der  ZPO.  selbst  hat  nicht  er- 
geben, daß  grundsätzlich  von  diesem  Ausgangspunkte  abgewichen  ist. 
Insbesondere  kann  daraus,  daß  in  den  Bestimmungen  über  vorläufige 
Vollstreckbarkeit  nicht  überall  ausdrücklich  ein  vollstreckbarer  Inhalt 
gefordert  wird,  nicht  gefolgert  werden,  daß  ein  solcher  nicht  sowohl 
für  die  Erklärung  als  vorläufig  vollstreckbar  m  der  Hauptsache,  wie 
für  Vollstreckungsklausel  und  Vollstreckungsurteil  grundsätzlich  er- 
forderlich sei.  Das  Verbot  der  vorläufigen  Vollstreckbarkeit  in 
Ehesachen  kann  umsoweniger  hiergegen  in  Betracht  kommen,  als  es 
nicht  nur  für  den  Kostenpunkt,  sondern  auch  für  Verurteilungen  zur 
Herstellung  des  ehelichen  Lebens  auch  in  der  Hauptsache  seinen 

62* 


742  Gdtt  gri.  Ajb.  1906.  Xr.  9 

gnten  Sinn  bat.  Als  Enreitenmgen  sind  zn  bezeklmen:  1)  Die  tot- 
Uofige  VoUstreckbarkeh  im  Kodtenpnnkt  als  Gnmdlage  eines  Kosten- 
festsetzongSTerfahiens.  2)  Die  Vollstreckbarkeit  der  Entscheidongen, 
welche  die  Zwangsvollstreckung  aufheben  oder  hindern.  3)  Die  Er- 
teilnng  einer  Tollstreckbaren  Ansfertignng  for  Urteile,  welche  znr 
Abgabe  von  Willenserklärungen  Terurteilen,  die  im  Urtefl  von  einer 
Gegenleistung  abhangig  genuu:ht  sind<  (S.  75f.).  Sodann  untersucht 
Fischer,  ob  die  ProzeßnoyeDen  und  schließlich  die  neuen  am  1.  Ja- 
nuar 1900  in  Kraft  getretenen  Gesetze  hier  eine  Aenderung  ge- 
bracht haben.  Es  werden  insbesondere  die  Neuerungen  in  den  §§  103, 
722,  726  Absatz  2,  866,  888  Absatz  2  und  895  ZPO.,  femer  in 
§  775  BGB.  und  §§  16  und  371  HGB.  durchgesprochen.  Auch  aDe 
diese  Bestimmungen  sollen  prinzipiell  nichts  nach  Fischers  Ansidit 
geändert  haben.  »Nur  im  einzelnen  sind  die  Wirkungen  der  Tor- 
ULufigen  Vollstreckbarkeit  über  den  Rahmen  der  ZwangsvoilstreckoDg 
hinaus  erweitert,  auch  Yollstrecknngsklausel  und  Vollstrecknngsnrteü 
auf  Fälle  erstreckt,  in  denen  es  sich  nicht  um  Zwangsvollstreckung 
handelt.  Das  reicht  aber  nicht  aus,  um  für  das  System  einen  wd- 
teren  Begriff  der  Vollstreckbarkeit  zn  konstruieren,  der  alle  realen 
Urteils  Wirkungen  umfaßte«  (S.  98). 

Aus  seiner  Darlegung  gewinnt  Fischer  folgende  praktische  Eon- 
sequenzen: I.  Vorläufige  Vollstreckbarkeit  1)  Die  Erklärung  ehies 
Urteils  für  vorläufig  vollstreckbar  setzt  voraus,  daß  ein  Fall  vor- 
liegt, in  dem  das  Gesetz  insbesondere  die  §§  708—719  ZPO.  sie  ge- 
stattet. 2)  Hier  kann  die  Vollstreckbarkeitserklärung  im  Kostenpunkt 
ohne  weiteres  erfolgen.  3)  Sonst  ist  sie  nur  auszusprechen,  wenn 
das  Urteil  einen  geeigneten  Inhalt  hat,  so  a)  im  allgemeinen  nur  bei 
einer  Verurteilung  zu  einer  Leistung,  bez.  deren  eine  Zwangsvoll- 
streckung möglich  ist,  b)  in  den  singulären  Fällen  a)  des  §  895  ZPO., 
ß)  bei  Urteilen,  welche  eine  Zwangsvollstreckung,  Arrest,  einst- 
weilige Verfügung  aufheben,  hindern  oder  einschränken,  y)  des 
§  371  Abs.  3  HGB  und  3)  des  §  16  HGB.  >In  allen  anderen  Fällen 
ist  die  Vollstreckbarkeitserklärung  in  der  Hauptsache  ausgeschlossen, 
also  namentlich  bei  allen  abweisenden  Urteilen,  sowie  bei  Fest- 
stellungs-  und  Bewirkungsurteilen,  Urteilen  über  den  Grund  oder 
über  prozeßhindernde  Einreden,  bedingten  Endurteilen.  Andere 
,reale  Urteilswirkungen'  sind  mit  der  Vollstreckbarkeitserklärung  nicht 
verbunden«  (S.  90).  Sodann  H.  Vollstreckungsklausel  1)  sie  ist  regel- 
mäßig nur  zu  erteilen,  wenn  das  Urteil  ei^en  zur  Zwangsvoll- 
streckung in  dem  zu  3a  angegebenen  Sinn  geeigneten  Inhalt  hat, 
jedenfalls  nicht,  wenn  das  Urteil  nur  im  Kostenpunkt  für  vorläufig 
vollstreckbar  erklärt  ist  und  in  den  Fällen  3b.    2)  Dazu  als  beson- 


Festgabe  fur  Felix  Dahn  743 

derer  Fall  §  894  Satz  2.  III.  >Ein  Vollstreckungsurteil  kann  nur 
dann  erlassen  werden,  wenn  das  inländische  Urteil  oder  der  Schieds- 
spruch einen  geeigneten  Inhalt  hat<  (S.  90).  Dazu  gehört  a)  die 
Verurteilung  gemäß  1 3a,  b)  singulare  Fälle  a)  Fall  II 2 ;  ß)— 8)  die 
Fälle  3ß  bis  S).  In  allen  andern  Fällen  ist  das  Vollstreckungsurteil 
ausgeschlossen. 

M.  E.  wird  man  Fischer  in  der  scharfen  Abgrenzung  des  Be- 
griffs der  Vollstreckbarkeit  Beifall  zollen  müssen.  Nur  auf  diesem 
Wege  wird  Klarheit  in  Bezug  auf  die  Urteilswirkungen  gewonnen. 
Wenn  insbesondere  die  Judikatur  den  Begriff  der  Vollstreckbarkeit 
erweitert  und  z.  B.  das  hanseatische  OLG.  erklärt,  durch  den  Aus- 
druck Vollstreckbarkeit  werde  bezeichnet,  daß  das  Urteil  rechtswirk- 
sam die  Verhältnisse  der  Parteien  zu  einander  regele,  so  werden 
damit  die  verschiedenen  Wirkungen  des  Urteils  aufs  bedenklichste 
durch  einander  gebracht.  Das  Urteil  hat  nicht  bloß  Vollstreckungs- 
wirkung, vor  allen  Dingen  sind  nicht  Rechtskraft  und  Vollstreck- 
barkeit Wirkungen,  die  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dasselbe  be- 
sagen. Vielmehr  sind  mit  voller  Schärfe  drei  Wirkungen  zu  trennen : 
Rechtskraft  Wirkung,  Vollstreckungswirkung  und  Tatbestandswirkung  ^). 
Unter  Tatbestandswirkung  ist  die  Wirkung  des  Urteils  als  eines 
bloß  faktischen  Ereignisses  zu  verstehen.  Sie  ist  die  allgemeinste 
Wirkung  des  Urteils  und  umfaßt  alle  Urteilswirkungen,  die  nicht  in 
der  Rechtskraft  und  der  Vollstreckbarkeit  bestehen.  Die  Bedeutung 
der  Unterscheidung  liegt  hauptsächlich  darin,  daß  die  Voraussetzungen 
für  den  Eintritt  der  Wirkungen  verschieden  sind.  Grundfalsch  ist 
es,  die  Voraussetzungen,  die  das  Gesetz  für  die  Vollstreckungswirkung 
aufstellt,  ohne  Einschränkung  auf  die  Tatbestandswirkung  zu  über- 
tragen. Das  gilt  insbesondere  für  die  Vollstreckungsklausel.  Für  die 
Tatbestandswirkung  ist  diese,  wo  nicht  das  Gesetz  sie  singulärerweise 
vorschreibt,  grundsätzlich  nicht  erforderlich.  Fischer  legt  der  Tat- 
bestandswirkung keinen  besonderen  Namen  bei;  das  ist  ja  schließ- 
lich auch  Nebensache.  Aber  in  der  scharfen  Abgrenzung  dieser 
Wirkung  gegen  die  Vollstreckbarkeit  liegt  m.  E.  das  größte  Ver- 
dienst der  Arbeit.  Insofern  wird  diese  Lehre  von  Fischer  ganz  er- 
heblich gefördert. 

Das  gilt  besonders  für  die  Untersuchung  des  Urteils,  das  'zu 
einer  Willenserklärung  verurteilt.  Man  hat  behauptet,  daß  derartige 
Urteile  zu  den  Bewirkungsurteilen  zu  zählen  seien.  Fischer  tritt 
dem  entgegen  und  erklärt  dieses  Urteil  für  ein  wirkliches  Leistungs- 

1)  Vgl.  meine  Streitgenössische  Nebenintervention  S.  130  ff. ;  dort  ist  bez.  der 
Vollstreckbarkeit,  wenn  auch  nur  in  kurzer  Skizzierung  der  gleiche  Standpunkt 
wie  in  der  vorstehenden  Arbeit  von  Fischer  vertreten. 


744  Oött  gel.  Ans.  1906.  Nr.  9 

urteil:  der  Beklagte  wird  zur  Abgabe  der  Willenserklärung  verur- 
teilt. Seine  Aufifassung  hat  schon  rein  äußerlich  den  Wortlaut  des 
Gesetzes  für  sich.  Indessen  auch  mit  Rücksicht  auf  das  innere 
Wesen  dieses  Urteils  ist  ihm  beizustimmen.  Das  Wesentliche  im  Be- 
wirkungsurteil  besteht  darin,  daß  der  Richter  kraft  gesetzlicher  Be- 
fugnis das  streitige  Rechtsverhältnis  für  die  Zukunft  normiert.  Die 
Rechtsgestaltung  kommt  im  Urteil  zum  Ausdruck.  Ganz  anders  ist 
das  Verhältnis  bei  dem  Urteil  auf  Abgabe  einer  WillenserkräruDg. 
Hier  enthält  das  Urteil  keine  Rechtsgestaltung,  sondern  die  Verur- 
teilung zu  einer  Leistung.  Erst  wenn  diese  Verurteilung  rechtskräftig 
geworden  ist,  knüpft  sich  an  den  Tatbestand  des  Urteils  nach  ge- 
setzlicher Vorschrift  die  :gleiche  Wirkung  wie  an  die  Erfüllung  des 
Urteilsinhalts  selbst.  Hier  tritt  die  Rechtsgestaltungswirkung  gleich- 
sam von  außen  an  den  Tatbestand  des  Leistungsurteils  als  Ersatz- 
funktion heran,  dort  liegt  sie  im  Urteil  selbst.  Daß  in  der  Haupt- 
wirkung große  Verwandtschaft  besteht,  ist  nicht  zu  leugnen.  Mit 
Recht  betont  Fischer  femer,  daß  die  Ersatzfunktion  keine  Zwangs- 
vollstreckung enthält.  >Nicht  durch  Zwangsvollstreckung  und  nach 
dem  Rechtsstreit  wird  die  Ersatzwirkung  hergestellt,  sondern  durch 
das  Urteil  selbst  und  schon  im  Rechtsstreit,  den  wir  bis  zum  Ein- 
tritt der  Rechtskraft  fortzudenken  haben.  Es  ist  daher  eine  Urteils- 
wirkung und  nicht  eine  Wirkung  der  noch  gar  nicht  begonnenen, 
und  insoweit  auch  ausgeschlossenen  Zwangsvollstreckung <  (S.  62). 
Das  Verhältnis  zwischen  der  Ersatzfunktion  und  der  Vollstreckung 
aus  dem  auf  die  Abgabe  der  Willenserklärung  gerichteten  Urteü 
denkt  Fischer  sich  so,  daß  die  letztere  wegen  mangelnden  Rechts- 
schutzbedürfnisses fortfällt,  soweit  die  Ersatzfunktion  reicht  Das 
erscheint  auch  mir  zutreffend.  Denn  schlechthin  die  allgemeine  Norm 
>Bei  Willenserklärungen  findet  kein  Strafzwang  statt<  in  die  §§  894ff. 
hineinzuinterpretieren,  ist  doch  recht  willkürlich.  Nur  konsequent  ist 
es,  wenn  Fischer  von  seinem  Standpunkt  folgert,  daß  das  fragliche 
Urteil  für  vorläufig  vollstreckbar  erklärt  und  nach  §  888  ZPO.  voll- 
streckt werden  kann,  ferner  daß  §  888  ZPO.  zur  Anwendung  gelangt 
bei  Verurteilung  zur  Abgabe  einer  Willenserklärung  im  Ausland, 
während  das  entsprechende  ausländische  Recht  die  Ersatzfunktion 
nicht  kennt,  und  daß  auf  dem  Wege  des  §  888  ZPO.  die  Unterschrift 
eines  Wechsels  zu  erzwingen  ist.  Dem  Vergleich  spricht  Fischer  mit 
Recht  die  Ersatzfunktion  ab,  da  er  keine  Rechtskraftwirkung  hat. 

Dem  Satze  Fischers,  daß  ein  Urteil  nur  dann  für  vorläufig  voll- 
streckbar erklärt  werden  darf,  wenn  es  einen  vollstreckbaren  Inhalt 
hat,  gegenüber  könnte  sich  das  praktische  Bedenken  erheben,  ob 
nicht  das  Gesetz  der  Partei  selbst  die  Entscheidung  überlassen  will,  ob 


Festgabe  für  Felix  Dahn  745 

das  Urteil  zur  Zwangsvollstreckung  benutzt  werden  kann,  insbe- 
sondere vom  Standpunkt  der  bekämpften  Reichsgerichtsentscheidung 
aus.  Wenn  man  indessen  die  Vollstreckbarkeit  des  Urteils  ihrem 
Wesen  nach  grundsätzlich  nur  bei  vollstreckbarem  Inhalt  anerkennt, 
ist  die  Folgerung,  daß  der  Richter  die  Prüfung  vorzunehmen  hat, 
schwerlich  abzulehnen.  Ich  glaube  auch  kaum,  daß  praktische  Unzu- 
träglichkeiten daraus  erwachsen  können.  Man  findet  zwar  bisweilen, 
daß  der  Parteiwille  im  Vertrag  schon  an  das  vollstreckbare  Urteil 
gewisse  Folgerungen  knüpft  und  daß  sich  insofern  vielleicht  Fälle 
ergeben  können,  wo  die  Partei  ein  Interesse  an  der  Vollstreckbar- 
keitserklärung haben  kann.  Diesem  Umstand  darf  aber  nicht  eine 
solche  Bedeutung  beigemessen  werden,  daß  man  lediglich  deshalb 
Folgerungen,  die  sich  korrekt  aus  dem  geltenden  Gesetz  ergeben, 
ablehnt. 

Auch  sonst  finden  sich  in  der  Abhandlung  noch  manche  in- 
teressante Einzelheiten.  Doch  wird  man  Fischer  hier  nicht  überall 
beistimmen  können.  So  bemerkt  Fischer  zu  der  Festsetzung  des 
Kostenbetrags  im  amtsgerichtlichen  Urteil:  >Da  dieser  Teil  des  Ur- 
teils ausschließlich  mit  der  sofortigen  Beschwerde  angegriffen  werden 
kann  (§  103  Abs.  1,512),  so  ist  die  Festsetzung  nach  §  794  Nr.  3 
ohne  Vollstreckbarkeitserklärung  vollstreckbar  und  ist  daher  auch 
auf  Antrag  alsbald  eine  gesonderte  vollstreckbare  Ausfertigung  dieses 
Teils  des  Urteils  zu  geben,  auch  wenn  das  Urteil  im  übrigen  gar 
nicht  oder  noch  nicht  vollstreckbar  sein  sollte <  (S.  78).  Das  halte 
ich  nicht  für  richtig.  Dieser  Beschluß  hat  sein  Rückgrat  in  der 
Kostenentscheidung  des  Urteils.  Er  kann  daher  seine  Vollstreckungs- 
wirkung trotz  des  §  794  Nr.  3,  der  hier  als  lex  generalis  dem  be- 
sonderen Fall  sich  unterordnen  muß,  nur  aus  dem  Urteil  selbst  ent- 
nehmen. 

3)  Xaver  Gretener,  Die  Religionsverbrechen  im  Strafgesetzbuch 
für  Rußland  vom  Jahre  1903  (S.  99—131). 

Oreteners  Abhandlung  bietet  ein  interessantes  Seitenbild  zu  der 
Belings.  Er  gibt  uns  eine  eingehende  Uebersicht  über  die  Religions* 
verbrechen  des  russischen  Strafgesetzbuchs.  Diese  Bestimmungen 
sollten  nach  Vorschrift  des  Gesetzes  am  1.  Januar  1906  in  Kraft 
treten.  Zunächst  legt  Gretener  die  Anschauungen  und  Verhältnisse 
klar,  auf  denen  die  Regelung  der  Religionsverbrechen  im  neuen 
russischen  Strafgesetzbuch  beruht.  Dabei  geht  er  in  weitem  Umfang 
auf  die  historische  Entwicklung  und  die  Entstehung  der  Bestim- 
mungen in  den  gesetzlichen  Körperschaften  ein.  Dann  behandelt  er 
die  einzelnen  Delikte.  Es  sind  dies  1)  Gotteslästerung  und  Ent- 
weihung des  Heiligtums  (S.  120),  2)  Schmähung  von  Einrichtungen 


746  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

bder  Gebräuchen  der  rechtgläubigen  Kirche  oder  des  Christentniiis 
überhaupt,  tätliche  Beschimpfung  und  Schmähung  der  durch  den 
Gebrauch  beim  Gottesdienst  geweihten  Gegenstände  und  die  unge- 
bührliche Verspottung  heiliger  Gegenstände  (S.  121).  3)  Yerübang 
von  Unfug  in  der  Kirche  und  Störung  des  christlichen  Gottesdienstes 
(S.  121  f.),  4)  entsprechende  Delikte  gegen  die  nicht  christlichen  Be- 
kenntnisse (S.  122),  5)  Beerdigung  eines  Christen  ohne  christlieheii 
Ritus  (S.  122),  6)  Entwendung  von  Leichen  und  Leichenschändang 
(S.  123);  7)  Angriff  auf  die  Freiheit  der  Ausübung  der  Religion 
(S.  123),  8)  Verleitung  zum  Abfall  oder  zur  Häresie,  mit  einer  großen 
Anzahl  von  Unterarten  (S.  124—127),  9)  Hinderung  am  Uebertritt 
zur  orthodoxen  Kirche  (S.  127),  10)  Zugehörigkeit  zu  einer  rasskolj- 
nistischen  Lehre  oder  Sekte,  welche  mit  fanatischen  Angriffen  auf 
das  Leben,  Entmannung  oder  unsittlichen  Handlungen  verbunden  ist 
(S.  127 f.);  11)  Anmaßung  der  Würde  eines  Geistlichen  (S.  128);  12) 
Beleidigung  eines  orthodoxen  Geistlichen  (S.  128). 

4)  Ernst  Heymann,  Die  dingliche  Wirkung  der  handelsrecht- 
lichen Traditionspapiere  (Konnossement,  Ladeschein,  Lagerschein). 

Heymann  unterzieht  die  alte  Streitfrage  nach  der  dinglichen 
Wirkung  der  handelsrechtlichen  Traditionspapiere,  die  nach  der  Neu- 
regelung wieder  zu  neuem  Leben  erwacht  ist,  einer  gründlichen 
Untersuchung  (S.  133—241,  die  längste  unter  den  zehn  Arbeiten). 
Er  leitet  seine  Abhandlung  ein  mit  einer  Uebersicht  über  die 
dogmengeschichtliche  Entwicklung  dieser  Frage,  an  deren  Schlofi 
er  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lehre  skizziert  und  ankündigt, 
eine  Lanze  für  die  absolute  Wirkung  der  Traditionspapiere  zu 
brechen,  ateo  für  die  Theorie,  daß  die  Papierbegebung  eine  beson- 
dere eigenartige  Form  des  Erwerbs  von  Sachenrechten  sei  (S.  136 
bis  146).  Dann  prüft  er  noch,  bevor  er  auf  das  eigentliche  Thema 
eingeht,  die  Besitzfrage.  Der  Schiffer  oder  sonstiger  Uebemehmer 
der  Ware  wird  Besitzer,  nicht  bloß  Besitzdiener.  Sind  mehrere 
Konnossemente  ausgestellt  und  gelangen  sie  in  verschiedene  Hände, 
so  haben  die  sämtlichen  Konnossementslegitimierten  mittelbaren  Mit- 
besitz (S.  150).  Die  Beendigung  des  Besitzes  wird  kasuistisch  be- 
sprochen (S.  151),  die  Theorie  vom  fiktiven  Besitz  zurückgewiesen 
(S.  153  f.).  In  der  Sache  selbst  stellt  Heymann  zunächst  die  ab- 
solute Theorie  und  die  relative  Theorie,  welche  den  Rechtserwerb 
auf  die  allgemeinen  Grundsätze  über  den  Erwerb  von  Sachenrechten 
zurückführt,  scharf  gegenüber.  Bei  der  letzteren  werden  die  ver- 
schiedenen Standpunkte  von  Boyens,  Schaps,  Gierke  und  insbe- 
sondere Hellwig  einer  genauen  Kritik  unterzogen.  Als  besonders 
wichtigen  Unterschied  in  den  praktischen  Konsequenzen  hebt  Hey- 


Festgabe  für  Felix  Dahn  747 

mann  hervor,  daß  in  allen  Fällen  der  Papierbegebung  durch  einen 
nichtbesitzenden  Nichteigentümer  der  Zeitpunkt  des  Eigentumser- 
werbs für  den  gutgläubigen  Erwerber  der  des  nachträglichen  Besitz- 
erwerbs ist  >im  Gegensatz  zur  absoluten  Theorie,  nach  welcher  der 
Erwerb  mit  der  Papierbegebung  eintritt«  (S.  169  S.).  Auch  bei  Er- 
werb eines  Vertragspfandes  zeigt  sich  der  Gegensatz  in  voller 
Schärfe  (S.  172flF.)'  Heymann  führt  für  die  von  ihm  vertretene  ab- 
solute Theorie  selbst  im  wesentlichen  drei  Gründe  ins  Feld:  den 
Wortlaut  des  Gesetzes  (S.  177  f.),  sodann  die  Entwicklungsgeschichte 
der  neuen  reichsgesetzlichen  Bestimmungen  (S.  179  ff.)  und  drittens 
hauptsächlich  die  Stellung  dieser  Papiere  in  unserm  Rechtssystem 
(S.  183  ff.).  In  letzter  Hinsicht  legt  er  dar,  daß  eine  analoge  An- 
wendung der  allgemeinen  Sätze  des  BOB.  über  Sachenrechtserwerb 
hier  nicht  haltbar  sei,  weil  die  Voraussetznngen  für  die  Analogie 
hier  fehlten.  Auf  die  absolute  Wirkung  soll  schließlich  auch  die 
historische  Entwicklung  jener  Papiere  hinweisen  (S.  187  ff.).  Hey- 
mann führt  die  dingliche  Konnossementswirkung  in  ihren  Ursprüngen 
im  Gegensatz  zu  Goldschmidt  und  im  Anschluß  an  Brunner  auf 
die  fränkisch-romanische  Urkunde  und  die  traditio  cartae  zurück 
(S.  188  f.).  Der  Zusammenhang  des  Konnossements  mit  einer  der  im 
mittelalterlichen  Verkehr  zur  Mobiliarübertragung  oder  Verpfändung 
verwendeten  cartae  traditionis  ergibt  sich  nach  Heymanns  Ansicht 
aus  dem  Seödarlehn:  der  Gläubiger  erhielt  fur  das  Seedarlehn  einen 
Seewechsel  mit  Pfandklausel.  Daneben  war  die  dingliche  Wirkung 
der  Konnossementsbegebung  selbst  zunächst  überflüssig,  weil  die 
Verpfändung  der  Ware  durch  Begebung  des  Seewechsels,  der  als 
carta  traditionis  fungierte,  erfolgte.  Mit  der  Entwicklung  der  Tratte 
wurde  die  Pfandklausel  im  Wechsel  unpraktisch,  sie  ging  in  das 
Konnossement  über,  und  dieses  übernahm  die  Funktion  als  carta 
traditionis  (S.  205  ff.).  Die  römisch-rechtliche  Doktrin  hat  die  Weiter- 
entwicklung der  carta  traditionis  gehemmt.  Aber  die  dingliche 
Wirkung  des  Konnossements  hat  sich  erhalten.  >Au8  der  Präsen- 
tationspapierqualität des  Konnossements  erklärt  sich,  daß  hier  ein 
Fall  der  traditio  cartae  bis  in  die  neueste  Zeit  fortbestehen  konntet 
(S.  216).  —  Sodann  wird  noch  die  Brauchbarkeit  der  absoluten 
Theorie  an  Einzelfragen  erprobt  (S.  219  ff.).  Es  wird  insbesondere 
die  Regelung  bei  Mehrheit  der  Konnossementsexemplare  besprochen 
(S.  219  ff.).  Vollen  Parallelismus  zwischen  Papier-  und  Warenerwerb 
lehnt  Heymann  jedoch  mit  Rücksicht  auf  den  Wortlaut  der  §§  424, 
450,  647  HGB.  ab:  der  gutgläubige  Erwerber  eines  Konnossements 
erwirbt  nicht  das  Sachenrecht  an  der  gestohlenen  Ware  (S.  230  ff.). 
—  Zum  Schlüsse  wird  näher  ausgeführt,  daß  die  dingliche  Wirkung 


748  GGit  gd.  Anz.  1906.  Nr.  9 

des  Traditionspapiers  sich  nur  auf  Rechte  an  Sachen  und  den  Er- 
werb solcher  Rechte  durch  Uebergabe  bezieht  (S.  234^-41). 

5)  Ernst  Jacobi,  Die  Pflicht  zur  Berufung  der  Generalyersamm- 
lung  einer  Aktiengesellschaft  (S.  243 — 267). 

Der  Verfasser  behandelt  die  Frage,  wann  die  Voraussetzung  des 
§  253  Abs.  2  H6B. :  >Die  Generalversammlung  ist . . .  zu  berufen, 
wenn  das  Interesse  der  Gesellschaft  es  erfordert <  vorliegt  Das  Reichs- 
gericht hat  in  einer  Entscheidung  vom  3.  Mai  1902  ausgesprochen, 
»daß  Vorstand  und  Aufsichtsrat  verpflichtet  seien,  sich  vor  Einlassung 
auf  wichtige,  kostspielige,  riskante  und  deshalb  das  Interesse  der 
Aktionäre  in  besonderem  Maße  berührende  Unternehmungen  der  Ein- 
willigung der  GV.  zu  versichern  <.  Diese  Entscheidung  rief  einen 
Sturm  der  Entrüstung  hervor.  Der  Juristentag  von  1904  beschäftigte 
sich  eingehend  mit  der  Frage.  Jacobi  spricht  die  sämtlichen  diesbe- 
züglich vertretenen  Ansichten  durch.  Er  selbst  kommt  zu  folgendem 
Resultat.  >  Abgesehen  von  den  einzelnen  im  Gesetz  oder  Statut  an- 
gegebenen Fällen  ist  hiernach  vom  Vorstand  eine  GV.  zu  berufen: 
1)  wenn  der  Vorstand  von  ihm  erteilten  Weisungen  abweichen  will; 
er  braucht  es  nicht,  wenn  Gefahr  im  Verzuge  ist  und  er  die  Geneh- 
migung vermuten  darf;  2)  wenn  das  Abweichen  von  jenen  Weisungen 
der  Gesellschaft  vorteilhaft  ist.  Hier  gilt  das  gleiche,  wie  wenn  der 
Vorstand  abweichen  will;  3)  wenn  Verhältnisse  eingetreten  sind,  die 
Maßnahmen  nahe  legen,  zu  denen  ein  Beschluß  der  GV.  notwendig 
ist  oder  die  doch  solchen  Maßnahmen  wirtschaftlich  gleich  oder  sehr 
ähnlich  sind.  —  Bei  dieser  Auflassung  ist  die  Pflicht  zur  Berufung, 
wie  sie  Rehm,  und  noch  mehr,  wie  sie  Simon  annimmt,  zu  eng,  wie 
sie  Lehmann  und  Staub  annimmt,  zu  weit  gesteckt;  die  Riessersche, 
auch  vom  Juristentage  angenommene  Auffassung  ist  dagegen  die 
richtige,  sie  ist  aber  einer  festeren  Umgrenzung  fähige.  (S.  265). 

6)  Herbert  Meyer,  Die  rechtliche  Natur  der  nur  scheinbaren 
Bestandteile  eines  Grundstücks  (§  95  BGB.).  (S.  269—301). 

Meyer  beschäftigt  sich  hauptsächlich  mit  der  Frage,  ob  die  mit 
dem  Grund  und  Boden  verbundenen  Nichtbestandteile  (§  95  BGB.) 
zu  den  beweglichen  Sachen  gerechnet  werden  müssen  oder  unbeweg- 
liche sind.  Das  Reichsgericht  hat  sie,  von  dem  Standpunkt  ausge- 
hend, daß  nur  Grundstücke  und  die  mit  diesen  verbundenen  Bestand- 
teile unbeweglich  sind,  für  bewegliche  Sachen  erklärt.  Gegen  diese 
Entscheidung  (Urteil  des  fünften  Zivilsenats  vom  19.  September  1903 
RGZ.  55  S.  284)  wendet  sich  Meyer:  >wenn  wir  näher  betrachten, 
was  für  Sachen  im  einzelnen  zu  diesen  juristisch  beweglichen,  tat- 
sächlich unbeweglichen  gehören  können  —  Häuser,  Eisenbahnober- 
bauten, Brunnenschächte,  Tunnel  — ,  dann  sträubt  sich  bei  jedemi 


Festgabe  fur  Felix  Dahn  749 

der  nicht  ganz  in  juristischem  Formalismus  erstarrt  ist,  das  Rechts- 
gefühl gegen  eine  solche  Einordnung<.  (S.  271).  Der  Entwurf  I  sagte 
in  §  781  positiv  ^ Unbewegliche  Sachen  sind  die  Grundstücke  <.  Diese 
Bestimmung  ist  zwar  gestrichen,  aber  ohne  daß  die  Gesetzgeber  ihre 
Ansicht  geändert  hätten.  Meyer  weist  dieses  gegen  ihn  sprechende 
Moment  damit  zurück,  daß  jene  Worte  jedenfalls  nicht  Gesetz  ge- 
worden seien.  Nach  seiner  Ansicht  soll  die  Natur  der  Sache  darüber 
entscheiden,  ob  sie  zu  den  beweglichen  oder  den  unbeweglichen  zu 
rechnen  ist ;  zu  verwerfen  sei  die  Auffassung,  daß  für  das  BGB.  un- 
bewegliche Sachen  und  Grundstücke  identisch  seien.  Eine  Haupt- 
stütze sieht  Meyer  für  seine  Ansicht  darin,  daß  sich  das  Sachenrecht 
streng  an  das  deutsche  Rechtsbewußtsein  anschließt.  Er  legt  die 
deutschrechtliche  Entwicklung  in  den  Grundzügen  dar.  Die  Gewere 
und  ihre  rechtliche  Behandlung  und  Bedeutung  für  den  Gegensatz 
von  Fahrnis  und  Liegenschaft  sowie  der  Zubehörbegriff  des  deutschen 
Rechts  werden  eingehend  besprochen.  Aus  der  Betrachtung  gewinnt 
er  sodann  folgende  Konsequenz:  >Die  völlige  Uebereinstimmung  der 
geschilderten  Grundgedanken  des  deutschen  Sachenrechtes  mit  un- 
serm  geltenden  bürgerlichen  Recht  macht  es  zweifellos,  daß  es  sich 
bei  diesem  um  eine  organische  Fortbildung  germanischen  Rechtes  im 
modernen  Sachenrecht  handelt.  Bei  dieser  Lage  der  Dinge  dürften 
historische  Gründe  bei  der  Entscheidung  der  Frage,  ob  diese  Nicht- 
bestandteile  Fahrnis  oder  liegendes  Gut  sind,  wohl  mit  Fug  schwer 
ins  Gewicht  fallenc.  (S.  288).  Dann  weist  er  an  der  Hand  einiger 
Lübecker  Stadtbucheintragungen  nach,  >daß  ihrer  Natur  nach  unbe- 
wegliche Anlagen  auf  fremdem  Boden  nach  deutscher  Rechtsauffassung 
auch  juristisch  selbständige  Immobilien  sind  und  als  solche  behandelt 
werden €.  (S.  290). 

Es  scheint  mir  doch  recht  fraglich,  ob  man  der  historischen  Ent- 
wicklung in  dem  Maße  entscheidende  Bedeutung  für  diese  ganz  spe- 
zielle Frage  beimessen  kann,  wie  Meyer  es  will.  Das  steht  doch 
außer  Zweifel,  daß  das  BGB.  nur  den  Gegensatz  > bewegliche  Sachen < 
und  »Grundstücke€  kennt.  Grade  wenn  das  BGB.  den  Ausdruck  un- 
beweglich sorgfältig  vermeidet,  so  spricht  dies  doch  in  hohem  Grade 
dafür,  daß  es  begrifflich  nur  diese  Teilung  gelten  lassen  und  die 
Sachen  entweder  als  beweglich  oder  als  Grundstück  behandelt  wissen 
will.  Zuzugeben  ist  Meyer,  daß  sich  aus  dem  BGB.  die  Identität 
des  Ausdrucks  »unbewegliche  Sache<  mit  Grundstück  mit  überzeu- 
gender Bestimmtheit  nicht  nachweisen  läßt,  ebesowenig  indessen  auch 
das  Gegenteil.  Der  Standpunkt  des  Reichsgerichts  gewinnt  jedoch 
m.  E.  eine  erhebliche  Stütze  in  dem  Wortlaut  des  §864  ZPO.:  >Der 
Zwangsvollstreckung  in  das  unbewegliche  Vermögen  unterliegen  außer 


750  66tt  gel  Anz.  1906.  Nr.  9 

den  Grandstücken  die  Berechtigungen,  für  welche  die  sich  auf  Grund- 
stücke beziehenden  Vorschriften  gelten,  und  die  im  Schi£Esregis(er 
eingetragenen  Schiffe«.  Hier  wird  man  bei  einigermaßen  objektiyer 
Betrachtung  kaum  umhin  können  zuzugeben,  daß  das  unbewegliche 
Vermögen  aus  den  Grundstücken  und  nur  aus  diesen  besteht.  Das 
trifft  umsomehr  zu,  als  die  fraglichen  Nichtbestandteile  unter  die 
Zwangsvollstreckung  in  das  unbewegliche  Vermögen,  wie  auch  Meyer 
zugibt,  nicht  fallen. 

Dem  Einwand,  daß  sich  das  Rechtsgefühl  sträuben  muß,  Häuser, 
Tunnel  und  andere  ihrer  Natur  nach  zweifellos  unbewegliche  Gegen- 
stände unter  die  beweglichen  Sachen  zu  rechnen,  ist  schwerlich  so 
übermäßig  große  Bedeutung  beizulegen.  Man  wivd  sich  durch  der- 
artige Aeußerlichkeiten  in  der  Rechtswissenschaft  und  ganz  besonders 
in  der  Praxis  dann  nicht  beirren  lassen,  wenn  die  dadurch  erzielten 
Resultate  praktisch  sind  und  dem  Gerechtigkeitsgefühl  entsprechen. 
Natürlich  müssen  solche  Unebenheiten  nach  Kräften  im  Gesetz  ver- 
mieden werden.  Wir  haben  es  ja  aber  hier  grade,  wie  Meyer  mit 
Recht  im  Anschluß  an  Gierke  hervorhebt,  mit  einem  Fall  zu  tun, 
dessen  Regelung  der  Gesetzgeber  übersehen  hat,  wo  also  die  Un- 
ebenheit eine  unbeabsichtigte,  rein  zufällige  ist. 

Meyers  Auffassung  führt  in  manchen  Einzelheiten  zu  bedenklichen 
Resultaten.  Ihr  entsprechend  rechnet  er  Gebäude,  die  dazu  be- 
stimmt sind,  von  Ort  zu  Ort  bewegt  zu  werden,  wie  Zirkusgebäude 
u.  dgl.,  ferner  Baracken,  Bretterbuden  u.  s.  w.  zu  den  Mobilien.  Alle 
anderen  Bauwerke  dagegen  sollen  als  unbewegliche  Sachen  gelten,  so 
Tunnel,  Brunnenschächte  u.  dgl.,  ebenso  aber  auch  unterirdisch  ge- 
legte Rohr-  und  Eabelnetze.  Wenn  demgemäß  mit  einer  Betriebs- 
anlage, wie  das  besonders  im  Bergwerksbetriebe,  aber  auch  sonst 
durchaus  nicht  selten  der  Fall  ist,  derartige  Anlagen  (Rohr-  und  Ea- 
belnetze, Wasseranlagen  zur  Speisung  der  Maschinen,  die  weite 
Strecken  durch  fremdes  Gebiet  geführt  werden)  verbunden  sind,  die 
über  fremde  Grundstücke  gehen,  müßten  bei  einer  Veräußerung  und 
zwar  sowohl  beim  obligatorischen  als  auch  beim  dinglichen  Geschäft 
über  solche  Anlagen  besondere  Geschäfte  abgeschlossen  werden,  weil 
sie  wegen  ihrer  Immobiliarqualität  nicht  Zubehör  sein  können;  das 
scheint  mir  doch  unpraktisch  zu  sein. 

Wenn  Meyer  dazu  gelangt,  eine  große  Anzahl  der  Vorschriften 
über  Mobilien  auf  diese  nach  seiner  Ansicht  unbeweglichen  Sachen 
anzuwenden,  so  sehe  ich  darin  keinen  Gegengrund  gegen  seine  Auf- 
fassung. Man  wird,  wenn  man  von  der  Mobiliarqualität  ausgeht, 
auch  umgekehrt  gewisse  für  Grundstücke  gegebene  Vorschriften  an- 
zuwenden haben.    So  dürfte  z.  B.,  wenn  der  Nießbraucher  das  von 


Festgabe  für  Felix  Dahn  751 

ihm  auf  dem  Nießbrauchsgrundstück  errichtete  Gebäude  vermietet, 
für  die  Kündigung  §  565  Abs.  1  BGB.  und  nicht  Abs.  2  anwend- 
bar sein. 

Meyer  will  die  Reichsgerichtsentscheidung  —  es  handelt  sich  um 
die  Frage,  ob  A,  der  ein  Fabrikgrundstück  in  der  Zwangsverstei- 
gerung erstand,  auch  einen  Anbau,  den  der  Vorbesitzer  als  Pächter 
eines  Nachbargrundstücks  auf  diesem  errichtet  hatte,  mit  erwarb  — 
in  folgender  Weise  begründen:  >Der  Anbau  ist  Bestandteil  des 
Fabrikgebäudes  und  steht  als  solcher  im  Eigentum  des  A<.  Dem 
stimme  ich  zu.  Aber  dabei  ist  doch  nicht  notwendige  Voraus- 
setzung, den  Anbau  für  unbeweglich  zu  erklären;  diese  Begründung 
hätte  auch  bei  dem  Standpunkt  des  Reichsgerichts  gepaßt,  und  m.  E. 
sogar  besser  als  die  aus  der  Zubehöreigenschaft. 

Bekanntlich  hat  das  Reichsgericht  in  seiner  neusten  Entscheidung 
auf  diesem  Gebiet  (B6Z.  59  S.  21)  seinen  Standpunkt  mit  aller 
Schärfe  festgehalten.  Demnach  dürfte  kaum  noch  Aussicht  vor- 
handen sein,  daß  Meyers  Auffassung  für  die  Praxis  den  Sieg  ge- 
winnt. Den  gleichen  Standpunkt  wie  Meyer  vertritt  auch  Kohler, 
Lehrbuch  des  bürgerlichen  Rechts  B.  I  S.  455. 

Wenn  ich  auch  dem  Verfasser  in  der  Hauptsache  nicht  beizu- 
treten vermag,  so  erscheint  mir  die  Abhandlung  doch  als  ein  wert- 
voller Beitrag  zu  dieser  dunklen  Frage. 

7)  Richard  Schott.  Ueber  Veräußerungsverbote  und  Resolutiv- 
bedingungen im  bürgerlichen  Recht,  (S.  303--341). 

§  137  BGB.  Satz  1  bestimmt  >Die  Befugnis  zur  Verfügung  über 
ein  veräußerliches  Recht  kann  nicht  durch  Rechtsgeschäft  ausge- 
schlossen oder  beschränkt  werden«.  Können  die  Vertragschließenden 
den  hiermit  verbotenen  Zweck  privater  dinglicher  Verfügungsbe- 
schränkung im  Wege  der  auflösenden  Bedingung  erreichen  und 
damit  das  Veräußerungsverbot  umgehen?  Diese  Frage,  die  von  er- 
heblicher praktischer  Bedeutung  ist,  unterzieht  Schott  einer  genau- 
eren Prüfung.  Er  legt  zunächst  (S.  309—316)  die  Vorgeschichte  der 
einschlagenden  Bestimmungen  des  BGB.  dar,  ohne  jedoch  fur  die 
streitige  Frage,  für  deren  Verneinung  nur  Cromo  und  vielleicht  auch 
noch  Schlossmann  (S.  306)  eingetreten  sind,  eine  Ausbeute  zu  ge- 
winnen. Auch  die  bloße  Betrachtung  nach  allgemeinen  Grundsätzen 
genügt  nach  Schotts  Ansicht  nicht,  um  zu  einer  Entscheidung  zu 
gelangen.  Mit  Recht  weist  er  die  Begründung  der  Zulässigkeit  der 
Resolutivbedingung  >im  Fall  der  Veräußerung<  mit  der  allgemeinen 
Erwägung,  daß  Bedingungen  überall  zulässig  seien,  wo  sie  nicht  be- 
sonders verboten  sind,  entschieden  zurück.    Im  Gegenteil  steht  die 


752  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

Lehre  von  den  Bedingungen  genau  so  unter  den  Verbotsgesetzen  der 
§§  134  ff.  wie  jeder  andere  Teil  des  BGB. 

Schott  geht  sodann  auf  eine  nähere  Prüfung  der  einzelnen  Fälle 
ein.    Hier  unterscheidet  er  drei  Gruppen: 

1)  Das  reine  Veräußerungsverbot,  ohne  daß  eine  andre  Person 
bestimmt  wird,  der  die  Sache  bei  Uebertretung  des  Verbots  zufallen 
soll  (S.  322£f.).  Kasuistisch  werden  eine  große  Anzahl  hierher  ge- 
hörender Geschäfte  aufgezählt.  Sie  alle  fallen  unter  §  137.  Eine 
Schwierigkeit  entsteht  hier  nicht,  die  fragliche  Resolutivbedingung 
kann  hier  nicht  praktisch  werden. 

2)  In  einem  Vertrag  unter  Lebenden  wird  bestimmt,  daß  ein 
Gegenstand  nicht  veräußert  werden  darf  und  daß  er  im  Fall  der 
Veräußerung  auf  den  andern  Kontrahenten  oder  auf  einen  Dritten 
übergehen  soll,  (S.  324  £f.).  Hier  kommt  in  Frage,  ob  sich  nicht 
hinter  einer  solchen  Verabredung  eine  Resolutivbedingung  mit  ding- 
licher Wirkung  verbirgt.  Schott  weist  nach,  daß  die  Möglichkeit  in 
solchen  Geschäften  Resolutivbedingungen  zu  erblicken,  nur  eine  be- 
schränkte ist  (S.  325  f.).  Es  muß  schon  eine  Veräußerung  des  Gegen- 
standes seitens  des  verbietenden  Kontrahenten  an  den  anderen  vor- 
liegen. Ist  ein  Dritter  als  Anfallsberechtigter  benannt,  so  ist  die 
Annahme  der  Bedingung  nach  Schotts  Meinung  ausgeschlossen,  weil 
der  Dritte  nur  ein  obligatorisches  Recht  erwirbt.  Immerhin  ließe 
sich  m.  £.  die  dingliche  Wirkung  dadurch  herbeifuhren,  daß  der 
verbietende  Kontrahent  von  vom  herein  dem  Dritten  Eigentum  unter 
der  Suspensivbedingung  des  Eintritts  der  Resolutivbedingung  über- 
trägt. Bei  Grundstücken  kommt  hier  wie  auch,  wenn  eine  Ver- 
äußerung nicht  erfolgt,  die  Sicherung  des  obligatorischen  Anspruchs 
durch  Vormerkung  in  Frage.  Schott  führt  gegen  die  Zulässigkeit 
der  Bedingung  in  diesen  Fällen  drei  Gründe  an.  Einmal  spricht 
dagegen,  daß  im  Verkehr  Veräußerungsverbot  und  Resolutivbedingung 
sich  häufig  nicht  scharf  scheiden  lassen.  Das  ist  richtig.  Die  Folge 
wäre,  daß  man  die  Bestimmung,  da  nicht  anzunehmen  ist,  daß  die 
Parteien  Nichtiges  gewollt  haben,  bei  Zulässigkeit  der  Resolutivbe- 
dingung stets  als  solche  auslegen  müßte.  Schott  weist  auch  mit 
Recht  auf  §  140  BGB.  hin.  Sodann  würde,  wie  Schott  darlegt,  die 
Möglichkeit  gegeben  sein,  auf  diesem  Wege  Vermögensstücke  in  Ewig- 
keit dem  Verkehr  zu  entziehen.  Der  Hauptgrund  gegen  die  Za- 
lässigkeit  ist  jedoch  der,  >daß  durch  sie  genau  der  Tatbestand  ge- 
schaffen würde,  dem  der  §  137  die  Rechtswirksamkeit  versagen  will«. 
Damit  wendet  Schott  sich  gegen  die  überwiegende  Meinung,  welche 
die  streitige  Frage  bejaht  (Dernburg,  Riezler,  Endemann,  Scherer  u.a.}. 
Diese  Meinung  sieht  nämlich,   hauptsächlich  wohl  mit  Rücksicht  auf 


Festgabe  für  Felix  Dahn  768 

die  Motive  (B.  III  S.  77),  in  der  Beifügung  der  betreffenden  Resolu- 
tivbedingung ein  in  fraudem  legis  agere  nicht,  weil  dieselbe  nicht 
gegen  die  ratio  des  Gesetzes  verstoße ;  ratio  sei  die  Verhinderung 
relativ  dinglicher  Rechte,  diese  Gefahr  bestehe  bei  der  Einfügung 
der  fraglichen  Bedingung  nicht.  Schott  wendet  sich  unmittelbar 
gegen  diese  Stütze  der  von  ihm  bekämpften  Auffassung  eigentlich 
nirgends.  Ich  halte  schon  jenen  Satz  nicht  für  durchschlagend.  Ob 
ich  mit  jemandem,  dem  ich  eine  Sache  übertrage,  ein  Veräußerungs- 
verbot vereinbare,  daß  jede  Veräußerung  mit  dinglicher  Wirkung 
nichtig  sein  soll,  oder  ob  ich  sie  ihm  unter  der  Resolutivbedingung 
der  Veräußerung  übertrage,  wobei  die  Bedingung  lediglich  zu  dem 
Zweck  eingefügt  ist,  die  dingliche  Wirkung  gegen  den  Dritten  zu 
erzielen,  ist  doch  völlig  gleichbedeutend.  In  zweiten  Fall  wird  im 
praktischen  Resultat  genau  so  ein  relativ-dingliches  Recht  herbeige- 
führt wie  im  ersten.  Angedeutet  ist  auch  bereits  in  den  Motiven, 
daß  §  137  in  sachlicher  Hinsicht  schon  dadurch  gerechtfertigt  werde, 
daß  der  Schuldner  nicht  vermittelst  solcher  Rechtsgeschäfte  sein 
Vermögen  den  Gläubigern  entziehen  dürfe.  An  diesen  Punkt  knüpft 
Schott  an:  > Genau  dasselbe  würde  aber  auch  bei  Vorliegen  einer 
solchen  Bedingung  eintreten,  da  sie  ja  ausdrücklich  schon  auf  den 
Fall  der  Weiterveräußerung  und  der  ihr  gleichstehenden  Pfändung 
gestellt  ist«  (S.  331).  Treffend  weist  er  den  Einwand,  das  sei  bei 
allen  Resolutivbedingungen  so,  zurück:  grade  bei  der  Resolutivbe- 
dingung sei  im  allgemeinen  die  Zwangsvollstreckung  zulässig.  Da- 
durch wird  wenigstens  >die  Sache  seinem  Schuldner  einstweilen  ent- 
zogen, und  ist  diesem  so  die  Möglichkeit  genommen,  hinter  Reso- 
lutivbedingungen verschanzt  seiner  Gläubiger  zu  spotten  und  behaglich 
im  Genuß  der  Sachen  zu  leben.  Dieses  Sicherungsmittel  entfällt  na- 
türlich, wenn  schon  der  Fall  der  Weiterveräußerung  oder  der  ihr 
nach  §  161  stets  gleichstehenden  Zwangsvollstreckung  den  Eintritt 
der  Bedingung  bildet«  (S.  332). 

3)  Letztwilliges  Veräußerungsverbot  und  Resolutivbedingung 
(S.  333  ff.).  Reines  Veräußerungsverbot  ist  auch  hier  nichtig.  Be- 
zweckt der  Erblasser  mit  einem  derartigen  Verbot  den  Vorteil  oder 
die  Sicherung  der  Anwartschaft  eines  Dritten,  der  jedoch  genannt 
sein  muß,  dann  liegt  kein  eigentliches  Veräußerungsverbot  vor,  son- 
dern es  handelt  sich  nur  um  Vor-  und  Nacherbschaft.  Dement- 
sprechend ist  dann  das  Verhältnis  zu  regeln  (S.  335).  Der  Erb- 
lasser muß  sich  aber  mit  seinen  Bestimmungen  in  dem  gesetz- 
lichen Rahmen  dieser  Institute  halten.  Verbietet  er  darüber  hinaus 
etwas,  so  versagt  die  Umdeutung  im  Wege  der  Auslegung.  Dann 
greift  wieder  §  137  platz.    Kann  nun  der  Erblasser  durch  Setzen 


754  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  9 

der  Resolutivbedingung  >im  Falle  der  Veräußerung  oder  Pfänduogc 
den  §  137  BGB  umgehen?  Da  es  sich  um  die  Auflösung  des  Erb- 
rechts des  Erben  handelt,  braucht  ein  Dritter  in  diesem  Falle  nicht 
genannt  zu  werden.  Schott  prüft  auch  hier  wieder  die  Fälle  im 
einzelnen.  Bei  beweglichen  Sachen  und  Forderungen  ist  die  Bestim- 
mung des  Erblassers,  daß  sie  im  Falle  der  Veräußerung  an  den 
Dritten  fallen  sollen,  unzulässig,  weil  darin  ein  >  Einsetzen  zum  Vor- 
erben unter  gleichzeitiger  Wegnahme  der  vom  Gesetz  dem  Vorerben 
gelassenen  Befugnisse,  über  Mobilien  und  Forderungen  zu  verfugenc 
liege.  Die  Bedingung  >Fall  der  Pfändung  oder  Beschlagnahme«  ist 
mit  Rücksicht  auf  §  773  ZPO.  bedeutungslos.  Für  Grundstücke 
könnte  man  geneigt  sein,  die  Bedingung  für  zulässig  zu  erachten, 
weil  der  Vorerbe  zu  deren  Veräußerung  nicht  befugt  ist.  Indessen 
weist  Schott  darauf  hin,  daß  dem  Vorerben  nach  Erbrecht  doch 
immer  ein  interimistisches  Verfügungsrecht  bleibt,  das  ihm  nicht 
durch  solche  Bedingungen  entzogen  werden  darf.  Die  Rücksicht  anf 
die  Gläubiger  fällt  hier,  wie  Schott  hervorhebt,  wegen  §  773  ZPO. 
nicht  weg,  weil  §  773  ja  nicht  die  Zwangsverwaltung  ausschließe, 
welche  als  eine  der  privaten  Veräußerung  gleichstehende  > Verfügung 
im  Wege  der  Zwangsvollstreckung«  im  Sinne  der  §§  161.  2115  BGB. 
angesehen  werden  müsse.  Ich  trage  kein  Bedenken,  wie  in  der 
Hauptsache  so  auch  bei  der  dritten  Gruppe  den  Ausführungen  Schotts 
beizustimmen. 

Die    klare   und   gründliche    Abhandlung    verdient    volle    Aner« 
kennung. 

Göttingen  H.  Walsmann 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Gottingea 


Oktober  1906  Nr.  10 


Badolf  Smend ,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach,   hebräisch  und  deutsch 

heransgegeben.  Mit  einem  hebräischen  Glossar.  Berlin,  G.  Reimer,  1906  (VI,  % 

und  XXIV,  82  S.). 
Derselbe:  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  erklärt.    Mit  Unterstützung  der 

Königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Göttingen.     Berlin,  G.  Reimer, 

1906  (CLX,  518  S.). 

Durch  die  Entdeckung  des  Urtextes  der  Weisheit  des  Jesus 
Sirach  ist  uns  eins  der  wichtigsten  Apokrypha  des  Alten  Testaments 
gleichsam  neu  geschenkt.  Der  Bestand  der  althebräischen  Literatur 
ist  damit  um  einen  nicht  unerheblichen  Bruchteil  gewachsen,  dessen 
innerer  Gehalt  seinem  äußeren  Umfang  entspricht  Nach  seiner 
spi  achlichen  und  literarischen  Form  von  den  kanonischen  Büchern 
eigenartig  verschieden,  trägt  das  hebräische  Buch  zu  ihrer  Erklärung 
und  zu  ihrer  geschichtlichen  Würdigung  in  hohem  Maße  bei,  nicht  zum 
wenigsten  auch  dadurch,  daß  es  zur  Geschichte  ihrer  Ueberliefenmg 
sehr  lehrreiche  Parallelen  bietet.  Bedeutsam  ist  der  Fund  aber  zu- 
nächst deshalb,  weil  eine  hervorragende  Persönlichkeit  und  eine 
wichtige  Epoche  der  jüdischen  Geschichte  durch  ihn  zum  ersten  Mal 
näher  bekannt  geworden  ist.  In  allen  diesen  Beziehungen  waren  die 
Uebersetzungen  ein  sehr  unvollkommener  Ersatz  des  Originals. 

Man  hatte  längst  erkannt,  daß  der  griechische  und  der  syrische 
Uebersetzer,  die  beide  aus  dem  Urtext  schöpften,  ihre  Vorlagen  an 
sehr  vielen  Stellen  schlecht  wiedergegeben  haben.  Aber  jetzt  hat 
sich  herausgestellt,  daß  sie  oft  auch  da  willkürlich  verfahren  sind, 
wo  man  sich  unbedenklich  auf  sie  verlassen  hatte.  Obendrein  weichen 
sie  gerade  an  solchen  Stellen  ab,  an  denen  der  Urtext  über  die 
Entstehungszeit  des  Buches  deutlichen  Aufschluß  gab.  Damit  war 
die  geschichtliche  Bedeutung  Sirachs  und  die  Tendenz  des  Buches 
verdunkelt.  Denn  auf  Grund  der  Uebersetzungen  ließ  sich  nicht 
mit  voller  Sicherheit  entscheiden,   ob  der  Hohepriester  Simon  ben 

G6it.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  10  53 


756  Gott  gel.  Anz.   1906.  Nr.  10 

Onia,  der  Sir.  50  als  ein  älterer  Zeitgenosse  Sirachs  erscheint,  Simon  L 
ben  Onia  I.  war,  der  nach  Josephus  etwa  am  Anfang  des  3.  Jahr- 
hunderts y.  Chr.  anzusetzen  wäre,  oder  Simon  n.  ben  Onia  IL,  der 
am  Anfang  des  2.  Jahrhunderts,  nicht  lange  vor  der  syrischen  ReB- 
gionsverfolgung  lebte.  Herzfeld  und  Grätz  hatten  freilich  an  einigen 
wenigen  Stellen,  die  für  sich  allein  nichts  bewiesen,  Polemik  gegen 
den  Hellenismus  gefunden.  An  anderen  hatte  neuerdings  H.  WUlrich 
(Juden  und  Griechen,  Göttingen  1895,  S.  Ii2fif.)  Hinweise  auf  die 
Streitigkeiten  um  das  Hohepriestertum  gesehen,  die  zum  Ausbmch 
der  syrischen  Religionsverfolgung  den  Anlaß  gaben.  Auch  diese 
scharfsinnigen  Vermutungen  konnten  auf  Grund  des  griechischen  und 
des  syrischen  Textes  nicht  zur  Gewißheit  erhoben  werden.  Dagegen 
hat  der  Urtext  sowohl  Willrich  als  auch  Herzfeld  und  Grätz  in  über- 
raschendem Maße  Hecht  gegeben. 

Der  hebräische  Wortlaut  von  c.  50  zeigt,  daß  der  damalige  Hohe- 
priester im  Unterschiede  von  seinem  Vorgänger,  dem  in  v.  i— st  hoch- 
gefeierten  Simon,  ein  Hellenist  war,  und  das  in  solchem  Grade,  daß  er 
am  Versöhnungstage  im  Tempel  nicht  mehr  funktionierte.  Unzweideutig 
ergibt  sich  das  aus  der  im  Griechen  und  im  Syrer  unkenntlich  gewor- 
denen Apostrophe  v.  23.14.  Denn  nach  dem  Hebräer  hält  Sirach  hi» 
den  Söhnen  Simons  die  Herrlichkeit  vor  Augen,  in  der  ihr  Vater  an 
jenem  Festtage  inmitten  des  hohenpriesterlichen  Geschlechts  und  der  ge- 
samten Priesterschaft  seines  Amtes  gewaltet  hatte.  Deshalb  müssen  die 
Leute,  die  sich  nach  42,  s  des  Gesetzes  des  Höchsten  und  der  heUigen 
Institutionen  schämen,  in  der  Tat  Hellenisten  sein.  Ebenso  steht  et 
mit  den  Verächtern  des  Gesetzes,  die  41,5— 10  so  ingrimmig  ver- 
wünscht werden.  Sie  sind  auch  hier,  wenigstens  zu  einem  Teil,  in 
der  hohenpriesterlichen  Familie  zu  suchen.  Denn  41,6  des  hebni- 
schen  Textes  wird  ihnen  das  warnende  Beispiel  des  Hauses  Elis  vor- 
gehalten. 

Aus  dem  hebräischen  Text  geht  ferner  hervor,  daß  das  in- 
brünstige Gebet  von  33, 1—12  sich  speziell  gegen  die  Griechen  und 
ihren  König  richtet.  In  der  32,u~26  vorhergehenden  Anklage  sind 
aber  die  jüdischen  und  die  heidnischen  Unterdrücker  des  Volkes  so 
eng  zusammengefaßt,  daß  man  kaum  feststellen  kann,  wo  der  Ueber- 
gang  von  den  einen  auf  die  anderen  gemacht  wird.  Man  muß  daraus 
schließen,  daß  die  jüdische  Aristokratie  schon  damals  mit  den  grie- 
chischen Oberherren  gemeinsame  Sache  gegen  das  Volk  noachte. 

Einigermaßen  sieht  Sirach  41,6.  45,26.  50,28.24  den  Sturz  des 
hohenpriesterlichen  Hauses  voraus,  und  dabei  ermahnt  er  es  xor 
Treue  gegen  die  väterliche  Religion,  zu  Gerechtigkeit  und  Eintracht 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  757 

Schon  in  seiner  Zeit  bestanden  somit  innerhalb  der  Dynastie  die 
Zwistigkeiten,  die  ihren  Untergang  veranlaßten. 

Man  muß  nach  alledem  annehmen,  daß  der  Sir.  50  gefeierte 
Simon  kein  anderer  als  Simon  II.  ist,  und  Sirach  unter  Onla  III., 
nicht  lange  vor  der  syrischen  Religionsverfolgung  geschrieben  hat. 
Es  ist  kaum  denkbar,  daß  die  inneren  Zustände  des  jüdischen  Volkes, 
die  das  Einschreiten  des  Antiochus  Epiphanes  herbeiführten,  schon 
nach  dem  Tode  Simons  I.,  d.h.  etwa  100  Jahre  früher,  in  allen 
diesen  Beziehungen  dieselben  waren.  Obendrein  hat  Willrich  (a.  a.  0. 
S.  107  £f.)  gezeigt,  daß  Simon  I.,  den  Josephus  den  Gerechten  nennt, 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur  ein  Doppelgänger  Simons  II.  ist. 
Es  ist  nun  weiter  zu  vermuten,  daß  Simon  II.  als  der  letzte  ge- 
setzestreue Sadokide  ha-saddi^  hieß.  Eben  dahin  wird  der  Name 
auch  in  den  beiden  Talmuden  gedeutet. 

Zu  dieser  Datierung  des  Sirach  stimmt  die  antihellenistische 
Tendenz  des  Buches,  die  sich  viel  weiter  erstreckt,  als  Herzfeld  und 
Grätz  vermuteten.  Sie  hätte  auch  aus  den  Uebersetzungen  erkannt 
werden  können  und  wäre  längst  erkannt,  wenn  man  sich  in  neuerer 
Zeit  um  die  Auslegung  des  Buches  ernstlich  bemüht  hätte.  Im 
Gegensatz  gegen  die  jüdische  Ueberlieferung  hatte  schon  Ewald  ge- 
meint, daß  die  Religionsverfolgung  nicht  allein  durch  den  Ehrgeiz 
einiger  Aristokraten  und  die  Politik  und  die  Geldnot  der  Seleuciden 
hervorgerufen  sein  könne.  Er  hatte  daneben  eine  vorausgehende 
friedliche  Hellenisierung  der  Juden  postuliert.  Was  er  nur  postu- 
lierte, bezeugt  das  Buch  Sirachs  durch  seinen  gesamten  Inhalt.  Es 
ist  ein  Kompendium  jüdischen  Glaubens  und  jüdischer  Bildung,  das 
Sirach  in  Verteidigung  der  väterlichen  Religion  dem  Griechentum 
entgegenstellt.  Dieser  Gegensatz  erhellt  deutlich  aas  der  eigentüm- 
lichen Art,  in  der  Sirach  die  Weisheit  definiert,  and  aus  der  Bedeu- 
tung, die  er  für  sich  selbst  in  Anspruch  nimmt,  die  er  aber  auch 
tatsächlich  in  seiner  Zeit  gehabt  haben  muß. 

Sirach  hat  nicht  nur  in  seiner  Schulstube  und  in  den  öffent- 
lichen Disputationen  geredet,  in  denen  die  Weisbeitslehrer  im  Wett- 
kampf Schüler  an  sich  zu  ziehen  suchten  (6,84—86).  Er  ist  auch  im 
Tempel  aufgetreten  (31,  si— 33,18».  36,i6b— 22,  vgl.  51,1—12)  und  hat 
bei  den  Fürsten  und  Häuptern  des  Volkes  Gehör  verlangt  (30,2? 
vgl.  45,26.  50,22— 2i).  Im  Unterschiede  von  den  übrigen  Weisheits- 
lebrem  des  A.  T.,  die  entweder  anonym  oder  unter  fingiertem  Namen 
schreiben,  nennt  er  sich  mit  Namen  (50, 27),  und  in  höchst  auffälligem 
Selbstgefühl  spricht  er  von  seiner  Aufgabe.  In  göttlicher  Inspiration 
will  er  die  Lehre  weithin  leuchten  lassen  und  für  alle  Zukunft  die 
Wahrheit  verkündigen.    Denn  wenngleich  er  wie  ein  Spätling  aufge- 

53* 


758  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Standen  war  und  er  selbst  anfänglich  auf  keinen  großen  Erfolg  ge 
rechnet  hatte,  meinte  er  gleichwohl  den  kanonischen  Autorität^  u 
die  Seite  getreten  zu  sein  (24,so— S4.  30,25-2?).  Dies  Selbstgefühl 
ist  bei  einem  gewöhnlichen  Weisheitslehrer  unbegreiflich,  es  kam 
nur  dahin  gedeutet  werden,  daß  Sirach  ein  hervorragender  Wort- 
führer der  Religion  gegenüber  einer  ihr  feindlichen  und  gefährlichen 
Zeitströmung  war,  d.  h.  aber  gegenüber  dem  Hellenismus. 

Hieraus  begreift  sich  auch  der  bei  aller  Verwandtschaft  mit  dei 
Proverbien  sehr  eigentümliche  Inhalt  seines  Buches.  Im  unter- 
schiede von  den  Proverbien  und  vom  Buche  Hieb  hat  er  die  Weis- 
heit, die  bis  dahin  neben  und  über  der  Religion  ihren  Weg  gegangea 
war,  mit  der  Religion  identifiziert  und  umgekehrt  hat  er  das  ge- 
samte Gebiet  des  Glaubens  in  die  Weisheit  einbegriffen.  Die  Wee- 
heit  Salomos  ist  ihm  darin  gefolgt.  Soviel  er  auch  von  der  Moni 
und  nebenher  von  der  Weltklugheit  handelt,  die  Moral  ist  für  ilm 
identisch  mit  dem  väterlichen  Gottesglauben,  und  überall  will  er  in 
Grunde  dem  jüdischen  Selbstbewußtsein,  namentlich  auch  nach  mva 
geschichtlichen  Seite,  Ausdruck  geben.  Daher  tritt  die  Weltklugheit 
bei  ihm  hinter  der  Moral  zurück,  dagegen  redet  er  ganz  ausführlich 
von  der  Geschichte  und  der  gesamten  Eigenart  seines  Volkes,  anck 
von  seinem  Kultus.  Er  ist  deshalb  auch  ein  Beter  und  Psalmdichter. 
Das  berühmte  Selbstlob  der  Weisheit  (c.  24)  ist  nur  das  abstrakte 
Komplement  des  Lobes  der  Väter  Israels  (c.  44 — 49).  Antihellenistisck 
wie  der  ursprüngliche  Schluß  des  Buches  (c.  50)  ist  auch  der  Ein- 
gang (l,i-2o).  >Alle  Weisheit  kommt  von  dem  Herrn  und  bei  ihm 
ist  sie  von  Ewigkeit  her«.  Damit  formuliert  er  seine  Absage  an  die 
griechische  Allerweltsweisheit.  Gegen  hellenistische  Skepsis  richtea 
sich  aber  auch  seine  Ausführungen  über  Willensfreiheit,  Verantwort- 
lichkeit und  über  die  individuelle  Vergeltung,  über  die  Auserwählong 
Israels,  über  die  Vollkommenheit  der  von  Gott  geschaffenen  Welt, 
über  das  menschliche  Leiden  und  den  Tod. 

Als  das  Wesen  der  väterlichen  Religion  erscheint  ihm  der  Glaube 
an  die  Allmacht  des  Guten,  das  in  Israel  seine  Stätte  hat  Gegen 
den  Kultus  ist  er  freilich  keineswegs  gleichgültig.  Er  ist  für  um 
sogar  von  hohem  Wert  als  die  äußere  Form  des  Bekenntnisses  zu 
Gott  und  als  die  höchste  Auszeichnung  Israels  vor  der  Welt.  Aber 
als  der  eigentliche  Inhalt  des  Gesetzes  gilt  ihm  die  Moral  (17,i4). 
sie  ist  der  Maßstab,  nach  dem  Gott  jeden  einzelnen  Menschen  un- 
fehlbar behandelt.  In  hohem  Ernst,  und  doch  frei  von  pietistischer 
Aengstlichkeit,  tritt  er  für  ihre  Forderungen  ein.  Der  Mensch  soll 
sich  aber  auch  damit  begnügen,  diese  Offenbarung  Gottes  zu  er- 
forschen.   Das  Verborgene,  das  darüber  hinaus  liegt,  geht  ihn  nichts 


B.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  759 

an.  Denn  vielerlei,  unsicher  und  gefährlich  sind  die  Spekulationen 
der  Menschen  (d.  h.  der  Griechen),  ewig  gewiß  ist  die  Eine  Wahr- 
heit der  Gebote  Gottes  (3,21—24).  Von  hier  aus  nimmt  er  in  uner- 
schütterter Zuversicht  Stellung  gegenüber  der  griechischen  Welt. 
Die  Späteren  konnten  sich  in  Folge  des  gewaltsamen  Zusammen- 
stoßes mit  ihr  nur  auf  Kosten  der  geistigen  Freiheit,  und  auf 
griechischem  Boden  auch  nur  auf  Kosten  der  inneren  Wahrheit, 
gegen  sie  behaupten.  Die  Hoffnung  auf  ein  Leben  nach  dem  Tode, 
die  Sirach  ohne  Zweifel  kannte,  lehnt  er  ab,  aber  aufs  engste  schließt 
er  die  Rechtfertigung  des  Einzelnen  mit  der  endlichen  Rechtfertigung 
Israels  zusammen.  Damit  gibt  er  dem  religiösen  Gemeingefühl  den 
größten  Inhalt  und  die  größte  Kraft. 

Als  Schriftgelehrter  war  er  zunächst  Weisheitslehrer  gewesen, 
d.  h.  er  unterrichtete  die  vornehme  Jerusalemische  Jugend,  die  viel- 
fach in  den  Dienst  der  griechischen  Könige  trat.  An  den  Höfen  in 
Alexandria  und  Antiochia  waren  diese  jungen  Aristokraten  der  Helle- 
nisierung  am  meisten  ausgesetzt  und  sie  übertrugen  das  fremde 
Wesen  von  da  in  die  Heimat.  Uebrigens  hatte  Sirach  selbst  weite 
Reisen  gemacht,  Gutes  und  Böses  unter  den  Menschen  kennen  ge- 
lernt und  vielleicht  auch  in  griechischem  Dienst  gestanden.  So 
wurde  er  in  kritischer  Zeitlage  aus  einem  Weisheitslehrer  zu  einem 
Wortführer  der  Religion.  Für  ihn  fiel  daher  die  Weisheit  mit  der 
Religion  zusammen,  und  diese  Identität  ergab  sich  fortan  für  das 
gesamte  Judentum.  Gegenüber  dem  Hellenismus  mußte  es  sich  mehr 
als  je  zuvor  auf  seine  geschichtliche  Eigenart  zurückziehen  und  in 
einem  früher  unerhörten  Grade  zu  einer  Schule  werden.  Diesen 
Umschwung  kündigt  Jesus  Sirach  an,  so  verschieden  er  auch  von 
der  Juristerei  der  späteren  Schriftgelehrten  ist. 

Sirach  appelliert  an  das  jüdische  Selbstbewußtsein,  indem  er  die 
Reihe  der  Väter  von  Henoch  bis  auf  Nehemia  aufzählt.  Jede  mensch- 
liche Größe  war  dem  Volke  Gottes  in  seinen  Helden  beschieden;  es 
stellt  den  Adel  der  Menschheit  dar,  der  seinen  Stammbaum  auch  auf 
die  unvergleichliche  Herrlichkeit  des  ersten  Menschen  zurückführen 
kann.  Zugleich  aber  war  Israel  in  der  Succession  der  Propheten 
von  Anfang  an  der  Träger  der  Weisheit.  Henoch,  >das  Wunder  der 
Erkenntnis  für  alle  Geschlechter«,  eröffnet  die  Reihe  seiner  Ahnen. 
Als  die  göttliche  Intelligenz,  von  der  das  All  erschaffen  wurde  und 
immerdar  beherrscht  wird,  ist  sie  Israel  als  die  Führerin  zum  Heil 
verliehen  und  als  solche  ist  sie  immerdar  in  Israel  gegenwärtig  und 
sein  unverlierbares  Gut.  Den  Frommen  ist  sie  angeboren  und  bei 
ihren  Nachkommen  wird  sie  ewig  bleiben.  Wie  in  prophetischer  In- 
spiration darf  daher  noch  Sirach  als  ihr  Lehrer  auftreten.    Sie  ist 


760  Gdtt  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

aber  auch  identisch  mit  dem  Gesetzbuch,  das  durch  Mose  ein  für 
alle  Mai  geoffenbart  ist  und  als  die  unerschöpfliche  Quelle  der  Er- 
kenntnis für  alle  Zukunft  ausreicht,  das  keiner  VervoUkommnang 
fähig  ist  und  keinen  Abzug  und  keine  Zutat  verträgt.  Die  Zeit  der 
Offenbarung  liegt  deshalb  doch  dahinten,  und  in  femer  Vergangen- 
heit liegt  auch  die  menschliche  Verwirklichung  der  Weisheit  in  den 
heiligen  Männern  Israels.   Nehemia  war  der  letzte  Heilige. 

Mit  unverkennbarer  Absicht  weist  Sirach  im  Lobe  der  Väter 
nebenher  auch  auf  die  heiligen  Bücher  hin,  die  neben  dem  Penta- 
teuch die  Wahrheit  bezeugen.  Der  Prophetenkanon  bestand  zu 
seiner  Zeit  im  Wesentlichen  so,  wie  wir  ihn  besitzen,  auch  der 
Hagiographenkanon  war  seiner  Grundlage  nach  vorhanden.  Die 
Psalmen,  die  Proverbien  und  Hieb  galten  ihm  augenscheinlich  als 
heilige  Bücher.  Er  kennt  sodann  außer  Ezra-Nehemia  die  Chronik 
selbst  oder  ein  ihr  ähnliches  Buch.  Auch  auf  Koheleth  scheint  er 
anzuspielen  und  ihn  für  salomonisch  zu  halten.  Aber  autoritativ  ist 
für  ihn  weniger  die  Sammlung  der  heiligen  Bücher,  als  die  heilige 
Geschichte,  in  der  die  Wahrheit  geoffenbart,  überliefert  und  verwirk- 
licht war.  Diese  kanonische  Zeit  der  Religion  schließt  mit  Nehemia, 
dem  schon  Sirach  die  eigentliche  Wiederherstellung  Jerusalems  zu- 
schreibt. Von  Ezra  schweigt  er,  vermutlich  deshalb,  weil  er  über 
die  Entstehung  des  Kanons  noch  nicht  reflektiert.  Dagegen  war  die 
Wiederherstellung  Jerusalems  die  letzte  große  Tat,  die  Gott  za 
Gunsten  seines  Volkes  vollbrachte,  und  das  Angeld  auf  die  zukünftige 
Herrlichkeit  Zions.  Weiterhin  war  der  große  Umsturz  gefolgt,  den 
die  völlig  fremdartigen  Griechen  in  Asien  anrichteten.  Seitdem  hatte 
man  erst  recht  die  Gegenwart  den  Heiden  überlassen  und  die  Zo- 
kunftshoffhung  auf  die  Erinnerung  an  eine  ferne  Vergangenheit 
gründen  müssen.  Die  kanonische  Zeit  war  deshalb  auch  die  vor- 
griechische und  als  solche  wird  sie  namentlich  Sirach  erschienen  sein. 

Die  hebräischen  Fragmente  geben  uns  aber  nicht  nur  über  eine 
bedeutende  Persönlichkeit  und  eine  wichtige  Epoche  der  jüdischen 
Geschichte  authentische  Kunde,  sie  sind  mindestens  ebenso  wertvoll 
als  eine  Ergänzung  der  althebräischen  Literatur.  Sie  umfassen  nahe- 
zu Vs  <l6S  Buches,  was  ungefähr  dem  Umfang  des  Buches  Hieb  ent- 
spricht. Der  Bestand  der  uns  erhaltenen  althebräischen  Literatur 
ist  also  etwa  um  V«^  vermehrt.  Ueber  manche  Stelle  des  A.  T.  ver- 
breiten die  Fragmente  neues  Licht,  unsichere  Worterklärungen  wer- 
den durch  sie  sichergestellt  und  allgemein  angenommene  korrigieit, 
woneben  zugleich  eine  Reihe  von  bisher  unbekannten  Wörtern,  Wort- 
verbindungen und  Wortbedeutungen  auftauchen.  Ueberhaupt  aber 
tritt  uns  ein  nach  Form  und  Inhalt  eigenartiger  schriftstellerischer 


B.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  701 

Typus  entgegen,  der  bei  aller  Anlehnung  an  die  kanonischen  Muster 
nicht  unwesentlich  von  ihnen  abweicht.  Deshalb  gibt  dies  mit  Sicher- 
heit zu  datierende  Apokryphon  den  wichtigsten  Anhalt  für  die  An- 
setzung  der  so  schwer  zu  datierenden  Hagiographen.  Lexikalisch 
merkwürdig  ist  z.  B.  npre  in  der  Bedeutung  Almosen,  pbn  in  'der 
Bedeutung  schaffen  und  das  50, 12  freilich  nur  indirekt  bezeugte  briD 
=  Palme.  Aramäisch  erscheint  der  Gebrauch  des  Pronomens  der 
dritten  Person  als  Kopula,  an  das  Neuhebräische  erinnert  die  Stellung 
des  Frageworts  am  Schluß  des  Fragesatzes,  fast  ohne  Analogie  ist 
der  reflexivische  Gebrauch  des  Suffixes  der  zweiten  Person  am  Ver- 
bum.  Auffällig  ist  das  große  Ebenmaß  des  Distichons,  das  Sirach 
ausschließlich  gebraucht,  und  daneben  die  strophische  Gliederung, 
die  sich  fast  überall  bei  ihm  beobachten  läßt.  Ausdrücklich  redet  er 
von  Gesetzen  der  dichterischen  Form,  die  in  den  Psalmen  befolgt 
seien  und  die  er  selbst  beobachtet  haben  will.  Im  Unterschiede  von 
den  Proverbien  bewegt  er  sich  fast  überall  in  zusammenhängender 
Rede,  in  der  er  namentlich  die  Probleme  der  Religion  ausführlich 
erörtert.  Seine  Diktion  klingt  in  hohem  Maße  an  die  kanonischen 
Bücher  an,  und  er  gefällt  sich  dabei  in  zahllosen  Anspielungen,  die 
bei  den  Lesern  eine  völlige  Vertrautheit  mit  dem  Wortlaut  der 
heiligen  Schrift  voraussetzen.  Anderseits  weiß  er  sich  auch  sehr 
originell  auszudrücken,  und  er  ist  darauf  bedacht  es  zu  tun.  Des- 
halb verfällt  er  öfter  in  Künstelei  und  zugleich  in  Ausdrucksweisen, 
die  dem  Althebräischen  fremd  sind.  In  beider  Hinsicht  verrät  er 
sich  als  Epigone.  Indessen  erklären  sich  die  Vulgarismen  seiner 
Sprache  zum  Teil  wohl  auch  daraus,  daß  er  nicht  nur  in  der  Schul- 
stube geredet  hat,  sondern  auch,  und  das  in  erregter  Zeit,  ein  Wort- 
führer im  Parteikampf  war. 

Das  Buch  hat  im  älteren  Judentum  in  hohem  Ansehen  gestanden. 
Im  Talmud  und  im  Midrasch  werden  über  80  Stichen  aus  ihm 
zitiert.  Oefter  geschieht  das  in  derselben  Form,  in  der  die  Schrift- 
zitate eingeführt  werden,  einmal  wird  das  Buch  sogar  zu  den  Ke- 
thnbim  gerechnet.  Außerdem  läßt  die  jüdische  Liturgie  an  manchen 
Stellen  seine  Einwirkung  erkennen.  Gleichwohl  wurde  es  als  un- 
kanonisch verketzert,  florilegistische  Auszüge,  die  das  Brauchbare  aus 
ihm  ausscheiden  sollten,  traten  an  seine  Stelle,  und  auch  diese  Aus- 
züge gingen  unter  bis  auf  dürftige  Reste.  Daß  in  Kairo  Fragmente 
von  eigentlichen  Sirachhandschriften  entdeckt  wurden,  erscheint  des- 
halb als  ein  sonderbarer  Zufall.  Denn  R.  Saadia  (10.  Jahrb.),  dessen 
Sirach-Zitate  sich  durch  die  Güte  ihres  Textes  vor  allen  andern  aus- 
zeichnen, hat  nicht  mehr  das  Buch  selbst,  sondern  nur  zwei  Flori- 
legien  aus  ihm  gekannt,  und  auch  diese  vielleicht  nur  von  Hören- 


762  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

sagen.  Danach  war  das  Buch  zu  seiner  Zeit  verschollen,  denn 
Saadia  kannte  die  damalige  jüdische  Welt  vom  Fajjum  bis  nach 
Babylonien.  Aber  schon  betr.  der  älteren  rabbinischen  und  der 
talmudischen  Zitate  ist  es  zweifelhaft,  wie  weit  sie  auf  vollständige 
Sirachtexte  zurückgehen. 

Wann  die  Eairiner  Handschriften  in  der  Geniza  vergraben  wur- 
den, läßt  sich  nicht  bestimmen,  und  unsicher  ist  auch  ihr  Alter,  be- 
treffs dessen  die  Meinungen  der  jüdischen  Gelehrten  zwischen  dem 
9.  Jahrhundert  und  dem  Anfang  des  12.  schwanken.  Ueber  das  9. 
Jahrhundert  kann  aber  deshalb  keine  hinaufdatiert  werden,  weil  sie 
sämtlich  von  Papier  sind.  Sicher  ist  dagegen,  daß  wenigstens  zwei 
von  ihnen,  B  und  D,  aus  der  Peripherie  des  Judentums,  nämlich  aus 
Persien  stammen.  Entweder  sind  sie  selbst  dort  geschrieben  oder  sie 
sind  Kopien  von  persischen  Vorlagen.  Denn  der  Text  des  Cod.  B, 
der,  abgesehen  von  zwei  größeren  Lücken,  c.  30,  n— 51,  so,  umfaßt, 
ist,  wie  seine  Randbemerkungen  zeigen,  von  einem  persischen  Juden 
mit  einer  Handschrift  verglichen,  die  völlig  oder  fast  völlig  mit  Cod. 
D  (=  36,29— 38,  i)  übereinstimmte.  Für  Cod.  A  (=  3,6—16,26)  ist 
derselbe  Ursprung  zu  vermuten,  weil  sein  Text  mit  dem  der  Codd. 
B  und  D  wesentlich  gleichartig  ist.  Sowohl  A  wie  B  und  D  haben 
nämlich  einen  Text,  der  durch  Addition  von  zwei  oder  gar  drei 
Textgestalten  entstanden  ist.  Nur  der  florilegistische  Cod.  C  scheint 
von  anderer  Herkunft  zu  sein.  Es  ist  sodann  kaum  zufällig,  daß  A 
und  B  in  so  glücklicher  Weise  einander  ergänzen.  Von  beiden  hat 
der  letzte  Eigentümer  schwerlich  viel  mehr  besessen  als  uns  vorliegt, 
und  wahrscheinlich  sind  alle  diese  Sirachiana  von  einem  Sammler  in 
Kairo  importiert.  Friedrich  Andreas  möchte  annehmen,  daß  sie  aus 
dem  südlichen  Persien  stammen  und  von  da  auf  dem  Seewege  nach 
Aegypten  gelangt  sind. 

Die  in  A  B  D  vorliegende  Addition  verschiedener  Textgestalten 
reicht  in  ziemlich  frühe  Zeiten  hinauf,  im  Wesentlichen  hat  sie  eben- 
so schon  dem  syrischen  Uebersetzer  vorgelegen.  Freilich  hat  der 
Syrer  im  Anschluß  an  den  Griechen  die  meisten  Dubletten  des 
hebräischen  Textes  übergangen,  aber  an  manchen  Stellen  verrät  er 
deutlich,  daß  er  sie  las.  Ueberhaupt  war  seine  Vorlage  von  dem 
gegenwärtigen  hebräischen  Text  nicht  sehr  verschieden.  Namentlich 
war  das  alphabetische  Lied  am  Schluß  des  Buches  in  ihr  fast  genau 
so  verstümmelt  und  entstellt. 

Die  talmudischen  und  rabbinischen  Zitate  haben  im  Ganzen  einen 
viel  schlechteren  Text  als  die  Fragmente,  einzelne  talmudische  Zitate 
zeigen  übrigens  auch  die  hochgradige  Entartung,  die  der  Text  der 
Fragmente  an  vielen  Stellen  aufweist.    Es  ist  sehr  unwahrscheinlich, 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesas  Sirach  763 

daß  die  Fragmente  hierbei  vom  Talmud  beeinflußt  sind.  In  einem 
merkwürdigen  Fall  läßt  sich  sogar  beweisen,  daß  der  stark  entartete 
Text  eines  talmudischen  und  rabbinischen  Zitats  auf  sehr  alter  hand- 
schriftlicher Grundlage  beruht.  Der  von  den  Kirchenvätern  viel 
zitierte  Vers  3,  »i  lautet  im  Babylonischen  Talmud  (Cowley-Neubauer, 
The  Original  Hebrew  etc.  p.  XIX  zitieren  falsch)  und  bei  Saadia 
fast  genau  so  wie  in  der  hebräischen  Handschrift,  und  wenig  anders 
hat  Sirach  ihn  geschrieben.  Stark  entstellt  erscheint  der  Vers  da- 
gegen im  Jerusalemischen  Talmud,  und  zu  einem  Tetrastichon  er- 
weitert wird  er  in  Bereschith  Rabba  zitiert.  Hier  sind  die  Lesarten 
der  beiden  Talmude  vorausgesetzt.  Daneben  hat  der  Midrasch  einer- 
seits im  Unterschiede  von  den  Talmuden  eine  ältere  Lesart  erhalten, 
wogegen  er  anderseits  eine  neue  Variante  aufweist.  Aber  den  eigen- 
tümlichen Lesarten  des  Jerusalemischen  Talmuds  und  des  Midrasch 
folgte  schon  die  zweite  griechische  Uebersetzung  des  Sirach,  die 
älter  und  wahrscheinlich  viel  älter  ist  als  der  Lateiner.  Jene  hebräi- 
schen Lesarten  dürften  daher  mindestens  bis  in  das  1.  Jahrhundert 
n.  Chr.  zurückreichen. 

Viele  und  z.  T.  unheilbare  Verderbnisse  sind  übrigens  älter  als 
die  Uebersetzung  des  Enkels. 

So  wertvoll  der  hebräische  Sirach  für  die  A.  Tl.  Wissenschaft  ist, 
er  stellt  ihr  zugleich  ein  sehr  schwieriges  textkritisches  Problem.  In 
vergrößertem  Maßstabe  läßt  er  die  Faktoren  erkennen,  die  die  Ent- 
artung der  kanonischen  Texte  herbeigeführt  haben.  Insofern  ist  er 
geeignet,  für  den  Zustand  der  kanonischen  Texte  unsem  Blick  zu 
schärfen.  Alle  möglichen  Schreibfehler,  die  durch  Verwechslung,  Aus- 
lassung und  Wiederholung  von  Buchstaben  und  Wörtern,  durch  Ab- 
irren des  Auges  von  einem  Wort  zum  andern  oder  von  einer  Zeile 
zur  andern  entstehen  konnten,  harmlose  Korrekturen  und  Glossen, 
die  den  Ausdruck  erleichtern  oder  erklären,  Einschiebung  von  Pa- 
rallelstellen aus  Sirach  selbst  oder  auch  aus  dem  Kanon,  rein  will- 
kürliche Abwandlungen  des  Ausdrucks  nach  kanonischen  Parallelen, 
Glossierung  durch  vollständige  Stichen  oder  Distichen,  souveräne 
Umdichtungen  von  ganzen  Versen,  zuweilen  mutwilliger,  zuweilen 
auch  tendenziöser  Natur,  —  alle  diese  Erscheinungen  lassen  sich 
hier  durch  zahlreiche  Beispiele  belegen.  Oft  stehen  im  Text  zwei 
Varianten  neben  einander,  anderswo  sind  Varianten  an  falscher  Stelle 
in  den  Text  geraten  und  haben  dabei  manches  Mal  echte  Bestand- 
teile des  Textes  verdrängt.  Es  erklärt  sich  das  aus  der  Art,  in  der 
Cod.  B,  gewiß  nach  alten  Mustern,  auf  Grund  genauer  Kollation  des 
Cod.  D  (oder  einer  mit  ihm  übereinstimmenden  Handschrift)  mit 
Randlesarten  versehen  ist.    In  derselben  Weise  sind  oft  Varianten 


764  GöU.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

von  ganzen  Versen  oder  auch  Parallelstellen,  die  an  den  Rand  ge- 
schrieben waren,  in  den  Text  eingedrungen,  wodurch  mehrmals  echte 
Verse  verdrängt  sind.  Zu  alledem  kommt,  daß  die  Blätter  durch 
Abnutzung,  namentlich  aber  durch  Feuchtigkeit,  stark  gelitten  haben. 
Etwa  200  Zeilen  smd  mehr  oder  weniger  zerstört. 

Die  Emendation  des  hochgradig  verderbten  Textes  wird  einiger- 
maßen dadurch  erleichtert,  daß  diese  Aufgabe  von  keiner  exegeti- 
schen Tradition  belastet  ist.  Zu  Gute  kommt  ihr  ferner  die  Durch- 
sichtigkeit des  Gedankengangs  Sirachs,  die  Regelmäßigkeit  des  Vers- 
baus und  der  strophischen  Gliederung  und  namentlich  die  Eonstanz 
der  Ausdrucksweise.  Eine  Konkordanz  des  hebräischen  Textes  wird 
schon  aus  diesem  Grunde  auf  die  Dauer  unentbehrlich  sein.  In 
erster  Linie  muß  aber  die  griechische  Uebersetzung  des  Enkels  zur 
Korrektur  des  Hebräers  herangezogen  werden.  Vorher  bedarf  diese 
Uebersetzung  freilich  eingehender  Untersuchung,  sowohl  in  Betreff 
ihrer  Uebersetzungsart,  als  auch  in  Betreff  ihrer  Ueberlieferung. 

Der  Enkel  sah,  wie  er  selbst  sagt,  den  Mangel  jeder  Ueber- 
setzung in  der  Wörtlichkeit,  und  findet,  daß  die  Septuaginta,  den 
Pentateuch  einbegriffen,  aus  diesem  Grunde  vom  Original  sehr  ver- 
schieden sei.  Er  weiß  sich  selbst  von  jenem  Fehler  nicht  frei,  er 
hat  ihn  aber  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden  gesucht  und  bewegt 
sich  im  Ganzen  mit  ebenso  großer  Freiheit  wie  etwa  die  Uebersetzer 
der  Proverbien  und  des  Hiob.  Offenbar  reflektiert  er  auf  Leser,  die 
kein  > griechisch  verkleidetes  Aramäisch«,  sondern  wirkliches  Grie- 
chisch sprachen.  Er  hat  dabei  auch  schwerlich  allein  die  ägyptischen 
Juden  im  Auge,  sondern  auch  die  Griechen,  auf  die  er  im  ersten 
Satz  des  Prologs  einen  Seitenblick  wirft.  Denn  die  Vergleichung  des 
Hebräers  zeigt,  daß  er  an  manchen  Stellen  den  Sinn  des  Originals 
abgeschwächt,  unterschlagen,  ja  geradezu  gefälscht  hat,  und  dabei 
ist  er  eher  wohl  von  der  Rücksicht  auf  Griechen  als  von  der  auf 
seine  Glaubensgenossen  geleitet.  Abgesehen  vom  Prolog,  bei  dem  er 
sich  vielleicht  fremder  Hülfe  bediente,  erscheint  sein  Griechisch  oft 
sonderbar.  Er  setzt  z.  B.  (hierin  weit  über  die  LXX  hinausgehend) 
für  jedes  hebräische  b  gelegentlich  ein  iv.  Ungriechisch  sind  auch 
wohl  manche  der  rhetorischen  Floskeln,  mit  denen  er  seine  Arbeit 
reichlich  aufgeputzt  hat.  Rhetorisch  ist  seine  Uebersetzung  über- 
haupt. Vielfach  löst  er  die  hebräischen  Wortverbindungen  auf,  an- 
derswo kehrt  er  sie  um  oder  knüpft  sie  neu;  oft  vertauscht  er  auch 
die  Synonyma  der  parallelen  Sätze.  Zuweilen  gibt  er  ganze  Sätze  in 
freier  Umschreibung  wieder.  Man  kann  deshalb  den  Wert  seines 
Zeugnisses  nur  durch  Massenbeobachtung  feststellen,  und  ich  habe 
meinem  Kommentar  einen  vollständigen  griechisch-syrisch-hebräischen 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  765 

Index  zu  Grunde  gelegt,  der  demnächst  im  Druck  erscheinen  soll. 
Es  ergibt  sich  daraus,  daß  der  Uebersetzer  sehr  oft  willkürlich  ver- 
fahren ist,  aber  auch,  daß  seine  Willkür  gewisse  Regeln,  und  daß 
sie  überdies  bestimmte  Schranken  hat,  die  ihr  namentlich  durch  seine 
mangelhafte  Kenntnis  des  Griechischen  gezogen  waren.  Deshalb  kann 
der  von  ihm  gelesene  Text  in  den  meisten  Fällen  immerhin  mit 
einiger  Wahrscheinlichkeit  erschlossen  werden. 

Von  besonderer  Schwierigkeit,  aber  auch  von  hohem  Interesse, 
ist  sodann  die  kritische  Aufgabe,  die  der  griechische  Text  fur  sich 
selbst  stellt.  Die  Diskrepanz  seiner  Ueberlieferung  ist  seit  den  ersten 
Ausgaben  der  griechischen  Bibel  bekannt.  Sie  trat  in  der  Complu- 
tensis  einerseits  und  der  Sixtina  und  der  ihr  naheverwandten  Aldina 
anderseits  auch  sofort  in  ihren  äußersten  Gegensätzen  zu  Tage. 
Augenfällig  war  sie  in  den  120—130  Stichen,  die  die  Complutensis 
voraushatte,  sie  besteht  aber  hauptsächlich  darin,  daß  der  Sixtinische 
Text  (=  Cod.  B)  ebenso  sehr  spontan  verdorben  ist  wie  der  Gomplu- 
tensische  (=  Cod.  248)  durch  Korrektur,  und  daß  die  beiden  in  un- 
gefähr gleichem  Maße  mit  guten  Sonderlesarten  einander  gegenüber 
stehen.  Alle  später  bekannt  gewordenen  Textzeugen  erscheinen  in 
jeder  Hinsicht  mehr  oder  weniger  als  Mittelglieder  zwischen  diesen 
Gegensätzen,  aber  so,  daß,  wenn  auch  in  verschiedenem  Grade,  fast 
jeder  von  ihnen  gute  Sonderlesarten  hat.  Dabei  sind  junge  Minuskeln 
den  Uncialen  vollkommen  gleichwertig. 

Allerdings  sind  der  Cod.  Venetus  I  (===  Cod.  23)  und  die  11 
Minuskeln,  die  neben  der  Sixtina  und  dem  Cod.  A  von  Holmes- 
Parsons  benutzt  sind,  z.  T.  wenigstens  schlecht  verglichen.  Für 
Codd.  23,  106  ergibt  sich  das  aus  Lagardes  Kollationen,  für  Cod.  253 
aus  der  Kollation  von  £.  Klostermann,  für  Cod.  *  308  aus  den  An- 
gaben David  Höschels,  der  eine  Kollation  dieser  früher  Heidelberger, 
jetzt  Vatikanischen,  Handschrift  besaß.  Schlecht  verglichen  ist  auch 
der  sehr  leicht  zu  lesende  Cod.  *307  (=  Monacensis  129),  den  ich  noch 
nach  Vollendung  des  Druckes  untersucht  habe.  Aus  dieser  Hand- 
schrift fehlen  bei  Holmes-Parsons  etwa  100  Varianten,  die  freilich 
zumeist  von  keiner  Bedeutung  sind.  Bemerkenswert  ist  aber,  daß 
auch  er  30,ii.i2  die  Stichen  xal  [x-J]  TcaptSiQc  tag  ar^voiaq  a6toö.  xd|i- 
(|)ov  t6v  TpdxT]Xov  a^Toö  h  vsöttju  mit  den  meisten  Handschriften  aus- 
läßt, dagegen  die  Stichen  7,i6.i7  mit  SA  und  den  meisten  Hand- 
schriften in  richtiger  Beihenfolge  liest.  Im  letzten  Satz  des  Prologs 
läßt  er  Y^P  ^us,  hat  34,  le  [it^tcots  (iioyj^c»  37,22  inl  otö|iatoc  inl 
oTÖ|iaTO(;  Tctotot  (so).  Vor  9,2  hat  er  die  sonst  nicht  bezeugte  Ueber- 
schrift  TTspl  Y^vaixÄv  und  vor  12,?  wepl  lx*P^^-  Sodann  liest  er  3,t7 
singular  und  gut  if'  a(Lapt(av  und  im  ersten  Satz  des  Prologs  f&r 


766  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Tooc  <ptXo|tadoöVTac  xpT]ot|i.ooc  nur  ^iXoTi(jLoövTa<;.  Er  nähert  sich  da- 
mit dem  nur  vom  Syrohexaplaris  bezeugten  ytXoÄovoDvta<;  Ypnoi^o^. 
Man  wird  nun  aber  auch  wohl  touc  tilgen  müssen.  Dazu  kommt 
noch,  daß  bis  jetzt  kaum  die  Hälfte  der  vorhandenen  Handschriften 
verglichen  ist,  allein  in  Paris  befinden  sich  zehn  bisher  unbenutzte. 
Gleichwohl  darf  der  Text  von  5  Uncialen  (Aß CS 23)  jetzt  als  zu- 
verlässig bekannt  gelten,  wozu  außer  dem  Syrohexaplaris  noch  6  Mi- 
nuskeln kommen,  nämlich  der  in  der  Complutensis  anscheinend  gut 
wiedergegebene  Cod.  248,  sodann  Codd.  106,  253,  sowie  die  von 
mir  verglichenen  Codd.  *  307, 70  (=  Cod.  Hoeschelii)  und  k  (=  Cod.  6 
der  großen  Königlichen  Bibliothek  zu  Kopenhagen).  Auf  Grund 
dieses  Materials  glaube  ich  den  Zustand  der  Ueberlieferung  im  We- 
sentlichen mit  Sicherheit  beurteilen  zu  können  und  dabei  auch  die 
übrigen  von  Holmes-Parsons  aufgeführten  Minuskeln  verwerten  zu 
dürfen,  so  fehlerhaft  die  von  ihnen  benutzten  Kollationen  im  Ein- 
zelnen auch  sein  mögen.  Denn  unverkennbar  tritt  in  der  Oxforder 
Ausgabe  die  relative  Selbständigkeit  der  Gruppen  55,254  —  155,296, 
♦308  sowie  ihre  Beziehung  zu  den  übrigen  248, 70  —  Syroh.  253,23, 
S  —  B  —  A,  C  —  106,  k,  157,  *307  hervor. 

Innerhalb  gewisser  Grenzen  läßt  sich  ein  Stammbaum  der  hand- 
schriftlichen Ueberlieferung  aufstellen,  wozu  neben  den  einzelnen  Les- 
arten auch  die  Vollständigkeit  und  die  Anordnung  des  Textes  den 
Maßstab  an  die  Hand  geben.  Indessen  ist  die  ursprüngliche  Ver- 
wandtschaft der  einzelnen  Textgestalten  durch  Korrektur  im  höchsten 
Grade  alteriert.  Es  erscheint  deshalb  als  fraglich,  ob  man  für  den 
Sirach  neben  der  Rezension  des  Origenes,  die  vielleicht  im  Syro- 
hexaplaris vorliegt,  auch  eine  Rezension  des  Lucian  und  des  Hesy- 
chius  wiederherstellen  kann.  Obendrein  wäre  damit  nur  eine  gewisse 
Phase  der  Textgeschichte  aufgehellt,  auf  den  ursprünglichen  Text 
würden  diese  drei  Rezensionen  keinen  Rückschluß  erlauben.  Denn 
es  ist  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Urheber  der  drei  Rezensionen  von 
derselben  Textgestalt  ausgingen,  und  vollends  zweifelhaft,  ob  das  der 
ursprüngliche  Text  war.  Dazu  kommt,  daß  die  weitaus  meisten 
Fehler  unserer  Handschriften  älter  sind  als  die  Vetus  Latina.  Im 
Wesentlichen  bietet  also  der  uns  vorliegende  Text  dasselbe  Bild  der 
Verwirrung,  die  vor  Origenes  bestand.  Sodann  hat  der  Text  des 
Sirach  schon  in  vorhexaplarischer  Zeit  eine  ziemlich  weitgehende 
Korrektur  erfahren,  die  in  allen  unseren  Handschriften  durchge- 
drungen ist.  An  manchen  Stellen  las  die  Vetus  Latina  noch  ri]v 
<|«)X'i(]v  000  (a&toö),  wo  jetzt  alle  Handschriften  oeaotöv  (iaotöv)  haben, 
ebenso  las  sie  Sn^xoooev  t^c  ycovfjc  aÜTwv  für  jetziges  iTnjxoooev  ah- 
Töv,   cL'xcL^A   und   Stayopa    für  xP'^V'^'^^i  YXwooa  eöxapt«  (=  "jn  ^TWtD) 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  767 

für  '(XiboocL  eöXaXoc.  Daß  in  solchen  Fällen  die  Latina  wenigstens  nicht 
überall  der  zweiten  griechischen  Uebersetzung  folgt,  sondern  einem  un- 
korrigierten  Text  der  ersten,  zeigt  18,23,  wo  Lat.  hat  praepara  animam 
tuam,  die  griechischen  Handschriften  kxoi^aooy  asaoTÖv.  Nur  der  erste 
Korrektor  des  Cod.  S  bietet  das  ursprüngliche  lTo(|iaoov  rJjv  s^xi^v 
000,  das  früh  in  lToi|iaoov  rfjv  tl^uxu^v  aoo  entstellt  war.  Die  genannten 
Korrekturen  gehen  aber  auch  nicht  auf  den  Prototyp  aller  unserer 
griechischen  Handschriften  zurück,  sondern  sie  beruhen  auf  einer 
Diorthose  des  Textes,  die  wahrscheinlich  jünger  ist  als  die  Yetus 
Latina.  Aus  dieser  Diorthose  ist  es  zu  erklären,  daß  bald  diese  bald 
jene  Gruppe  von  Handschriften,  und  bald  diese  bald  jene  einzelne 
Handschrift  gegen  den  Consensus  aller  übrigen  das  Richtige  bewahrt 
hat.  In  allen  solchen  Fällen  liegt  die  Annahme  vor  der  Hand,  daß 
eine  schlechte  Korrektur  nicht  völlig  durchgedrungen  ist.  44,  le  heißt 
Henoch  in  den  Handschriften  uTcöSeiYiia  {xetavoiac  taic  ^B)fBalqj  wo  die 
Latina  hat:  ut  det  gentibus  poenitentiam.  Allein  Cod.  23  hat  ent- 
sprechend dem  Hebräer  (nach  Lagardes  Kollation)  8iavo[ac,  und  eben- 
so ein  Cod.  Corbeiensis:  sapientiam.  Im  Allgemeinen  kommt  dem 
Cod.  23  keineswegs  eine  führende  Rolle  zu. 

Noch  merkwürdiger  sind  folgende  Erscheinungen,  die  ich  in  den 
Prolegomena  des  Kommentars  nicht  genügend  hervorgehoben  habe. 
4,2s  und  40,7  ist  h  xaipcj)  ocoTTQptag  (=  opiag)  beide  Mal  Fehler  für 
iy  xaipcp  xP^'^^^y  ^^»17  ii  a&twv  Fehler  für  l£  avdpcoicüov  (=  avwv). 
Diese  Fehler  sind  allen  bisher  bekannten  Handschriften  gemeinsam, 
sie  werden  auch  von  sämtlichen  Uebersetzungen,  den  Lateiner  ein- 
begriffen, ausgedrückt.  Nun  sind  die  hierbei  in  Betracht  kommenden 
Abkürzungen,  so  viel  man  weiß,  christlichen  Ursprungs,  für  opia 
=  oa>TY]p[a  ist  das  nicht  zu  bezweifeln.  Ist  die  Latina  4, 28  und  40, 7 
nicht  nachträglich  korrigiert,  so  steht  man  vor  der  Alternative:  ent- 
weder gehen  alle  bekannten  Handschriften  und  Uebersetzungen  auf 
Ein  christliches  Exemplar  zurück,  in  dem  diese  Abkürzungen  ver- 
lesen waren,  oder  es  hat  eine  allgemein  durchgedrungene  Diorthose 
der  christlichen  Sirachtexte  gegeben,  die  älter  ist  als  der  Lateiner, 
der  noch  in  das  zweite  Jahrhundert  gehört.  Das  letztere  ist  das 
allein  denkbare. 

Für  die  Rekonstruktion  des  griechischen  Textes  ergibt  sich  so- 
mit die  Notwendigkeit  eines  eklektischen  Verfahrens.  Maßgebend  sind 
für  die  Auswahl  unter  den  Varianten  überall  nur  innere  Gründe, 
wobei  in  erster  Linie  die  Uebersetzungsweise  und  der  Sprachgebrauch 
des  Enkels  in  Betracht  kommen. 

Wichtig  sind  für  die  Emendation  des  Griechen  die  Zitate  der 
Kirchenväter,  von  denen  sich  in  Lagardes  Nachlaß  eine  reichhaltige 


768  Gott  «eL  Anz.  1906  Nr.  10 

Sammloog  findet  An  mehreren  Steilen  ist  in  ihnen  allein  das  Rich- 
tige erhalten.  Unter  den  Afterübersetznngen  nimmt  die  Vetos  Laüna 
den  ersten  Rang  ein.  Allerdings  befindet  sich  ihr  eigene  Text  in 
Folge  zufälliger  Entstellung  und  mehr  noch  in  Folge  fortgesetzter 
Korrektur  nach  dem  Griechen  in  einem  höchst  desolaten  Zustande. 
Wie  weit  es  überhaupt  möglich  ist,  ihn  wiederherzustellen,  wird  die 
Yon  Ph.  Thielmann  vorbereitete  Ausgabe  zeigen.  Für  die  Erschließung 
des  hebräischen  Textes  kann  freilich  die  jüngste  Korrektur  nach  dem 
Griechen  gelegentlich  ebenso  gut  den  Schlüssel  bieten,  wie  die  ur- 
sprüngliche Lesart  des  Lateiners.  Denn  seine  griechische  Vorlage 
war  ein  merkwürdiges  Gemisch  von  guten,  z.  T.  sonst  nirgends  über- 
lieferten, Lesarten  und  völlig  sekundären.  Sie  war  übrigens,  wie  die 
höchst  auffallige  Uebereinstimmung  des  Lateiners  mit  Clemens  Alexan- 
drinus  zeigt,  ägyptischen  Ursprungs.  Dagegen  waren  die  jüngeren 
ägyptischen  Texte,  die  der  sahidisch- koptischen  und  der  äthiopi- 
schen Uebersetzung  zu  Grunde  liegen,  weniger  originell,  aber  auch 
freier  von  sekundärer  Entartung.  Näherer  Untersuchung  bedürfen 
noch  die  armenische  und  die  altslavische  Uebersetzung. 

Die  Kritik  des  griechischen  Textes  ist  übrigens  noch  dadurch 
erschwert,  daß  mit  der  Uebersetzung  des  Enkels  in  den  Handschriften 
eine  zweite  griechische  Uebersetzung  vermischt  ist,  die  auf  einem 
erweiterten  hebräischen  Text  beruht.  Wenigstens  der  Hauptsache 
nach  müssen  dieser  zweiten  Uebersetzung  die  etwa  150  Stichen  an- 
gehören, die  Codd.  248,  70  Syroh.  253,  23,  106  u.  a.  vor  dem  Vulgär- 
text voraushaben.  Denn  für  eine  Anzahl  von  diesen  Stichen  findet 
sich  in  deutlich  sekundären  Versen  der  hebräischen  Fragmente  das 
Original,  andere  weisen  unverkennbare  Uebersetzungsfehler  auf.  Da- 
bei haben  alle  diese  Stichen  wesentlich  denselben  sehr  eigenartigen 
Sprachgebrauch.  Der  zweiten  Uebersetzung  werden  zumeist  auch  die 
kürzeren,  oft  nur  aus  einem  Worte  bestehenden  Zusätze  entstammen, 
die  sich  in  denselben  Handschriften  am  Schluß  von  manchen  Stichen 
finden.  6,ii  liegt  in  den  hebräischen  Fragmenten  sowohl  der  ältere 
kürzere  wie  der  jüngere  erweiterte  Urtext  vor,  dem  ein  kürzerer 
und  ein  erweiterter  griechischer  Text  gegenüberstehen.  Die  jüngere 
hebräische  Textgestalt  wich  aber  auch  abgesehen  von  größeren  und 
kleineren  Zusätzen  von  der  älteren  ab.  Der  erste  Korrektor  des 
Cod.  S  (S^)  hat  z.  B.  3,21.  16,8  Varianten,  die  jüngeren  hebiüischen 
Lesarten  entsprechen.  l,io  ist  eine  Korrektur  nach  der  zweiten 
griechischen  Uebersetzung  in  sämtlichen  griechischen  Handschriften 
mit  einziger  Ausnahme  des  Cod.  106  durchgedrungen.  Stärker  als 
unsere  griechischen  Handschriften  war  die  Vorlage  des  Lateiners  von 
der  zweiten  Uebersetzung  kontaminiert.    Gelegentlich  finden  sich  in 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  769 

den  hebräischen  Handschriften  ganze  Distichen  in  doppelter  Gestalt, 
von  denen  die  eine  im  Griechen,  die  andere  im  Lateiner  übersetzt 
ist.  In  geringerem  Grade  lassen  die  übrigen  Afterübersetzungen  des 
Griechen  den  Einfluß  der  zweiten  Uebersetzung  erkennen.  Inhaltlich 
ist  sie  dadurch  merkwürdig,  daß  sie  vom  Leben  nach  dem  Tode 
bezw.  der  Unsterblichkeit  redet,  imd  an  die  Stelle  der  Gottesfurcht 
regelmäßig  die  Liebe  zu  Gott  setzt.  Wie  weit  sie  darin  auf  dem 
jüngeren  hebräischen  Text  beruht,  ist  bis  jetzt  nicht  festzustellen. 

Neben  dem  Griechen  kommt  der  Syrer  für  die  Emendation  des 
Hebräers  nur  in  zweiter  Linie  in  Betracht,  d.  h.  im  Wesentlichen 
nur  an  den  freilich  sehr  zahlreichen  Stellen,  an  denen  der  Grieche 
seine  Vorlage  schlecht  wiedergegeben  oder  schlecht  gelesen  hat. 
Denn  so  weit  die  Vorlage  des  Griechen  für  uns  erkennbar  ist,  er- 
weist sie  sich  fast  überall  als  der  Vorlage  des  Syrers  bezw.  dem 
Text  der  hebräischen  Handschriften  überlegen,  zugleich  aber  können 
die  beiden  letzteren  als  aus  ihr  entartet  begriffen  werden.  Die  Vor- 
lage des  Syrers  war  nicht  nur  bedeutend  jünger  als  sie,  sondern  auch 
im  Ganzen  nicht  viel  besser  als  der  Text  der  Handschriften.  Sodann 
hat  der  Syrer,  obwohl  seine  Aufgabe  viel  leichter  war,  seine  Vorlage 
noch  schlechter  wiedergegeben  als  der  Grieche.  Er  ist  nicht  nur  an 
manchen  Stellen  nachlässig  und  willkürlich  verfahren,  er  hat  auch, 
was  Bickell  schon  vor  der  Entdeckung  des  hebräischen  Textes  ver- 
mutete, den  Griechen  benutzt,  und  zwar  in  viel  höherem  Grade,  als 
Bickell  meinte.  Dabei  folgt  er  öfter  einem  stark  verderbten  griechi- 
schen Text  oder  auch  der  zweiten  griechischen  Uebersetzung,  und, 
was  noch  schlimmer  ist,  er  hat  manches  Mal  zwischen  dem  Hebräer 
und  dem  Griechen  einen  Kompromiß  geschlossen.  Schließlich  ist  er, 
wenigstens  in  einzelnen  Handschriften,  nachträglich  nach  dem  Griechen 
korrigiert.  Daraus  ergibt  sich,  daß  die  Uebereinstimmung  des  Grie- 
chen, des  Lateiners  und  des  Syrers  gegen  den  Hebräer  an  sich  nichts 
beweist,  und  daß,  wo  der  Hebräer  fehlt,  die  Uebereinstimmung  des 
Lateiners  und  des  Syrers  gegen  den  Griechen  an  sich  nichts  beweist. 
Dabei  können  der  Syrer  und  Lateiner  durch  Vermittelung  der  zweiten 
griechischen  Uebersetzung,  der  Syrer  aber  auch  direkt,  auf  einen 
jüngeren  hebräischen  Text  zurückgehn,  der  möglicher  Weise  in  un- 
seren hebräischen  Handschriften  vorliegt.  Deshalb  kann  auch  der 
Grieche  gegen  den  Konsensus  des  Hebräers,  des  Lateiners  und  des 
Syrers  im  Becht  sein. 

Trotz  aller  dieser  Hindernisse  ist  es  innerhalb  gewisser  Grenzen 
möglich,  den  Text  der  hebräischen  Fragmente  auf  die  Gestalt  zu- 
rückzuführen, in  der  der  Enkel  das  Werk  des  Großvaters  gelesen 
bat.  In  manchen  Fällen  kann  auch  darüber  hinaus  die  ursprüngliche 


770  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

Lesart  mit  Sicherheit  konjiziert  werden.  Hierbei  ergänzen  einander 
die  bei  aller  ihrer  Willkür  inunerhin  kontrolierbare  Ueberseizongs- 
weise  des  Griechen  and  die  konstante  Aasdmcksweise,  die  stets  skh 
gleichbleibende  poetische  Form  und  der  konsequente  Gedankengang 
des  Autors.  Außerdem  bieten  die  hebräischen  Fragmente  so  Tiele 
ParaUelen  zu  den  nur  griechisch  und  syrisch  erhaltenen  Stücken,  dafi 
auch  für  diese  der  hebräische  Wortlaut  an  sehr  vielen  Stellen  er- 
schlossen werden  kann.  Wie  weit  das  möglich  ist,  kann  überall  nur 
der  Erfolg  lehren.  Ueberall  aber  muß  durch  eine  vergleichende 
Statistik  des  hebräischen  Textes  und  der  Uebersetzungen  der  Dissens 
der  Textüberlieferung  geschlichtet  und  zugleich  positiv  ihr  Wert  ge- 
sichert werden.  Dies  Denkmal  des  älteren  Judentums  ist  auch  wert- 
voll genug,  um  den  Aufwand  an  Mitteln  zu  rechtfertigen,  den  seine 
Erschließung  erfordert. 

Meine  gleichzeitig  erscheinende  Gesamtausgabe  des  hebräischen 
Textes,  die  ich  im  Kommentar  voraussetze,  beruht  zu  allermeist  auf 
den  im  J.  1901  veröfifentlichten  Facsimiles  of  the  fragments  hitherto 
recovered  of  the  book  of  Ecclesiasticus  in  Hebrew,  Oxford,  Cam- 
bridge, University  Press.  Aus  Autopsie  kenne  ich  nur  die  Oxforder 
Blätter  des  Cod.  B,  die  ich  im  J.  1897  an  Ort  und  Stelle  unter- 
sucht habe.  Für  diese  Blätter  (wie  auch  für  das  Blatt  Lewis-Gibson) 
standen  mir  außerdem  Photographien  zu  Gebote,  die  mir  damals  aus 
England  nachgesandt  wurden.  Auf  der  in  Oxford  angefertigten  Kolla- 
tion und  diesen  Photographien  beruhte  meine  Ausgabe  der  zuerst 
gefundenen  Blätter  vom  J.  1897  (Das  hebräische  Fragment  der  Weis- 
heit des  Jesus  Siracb,  in  den  Abhandlungen  der  Königlichen  Gesell- 
schaft der  Wissenschaften  zu  Göttingen,  Philologisch-historische  Klasse, 
N.  F.,  Bd.  2,  Nr.  2).  Die  Facsimiles  vom  J.  1901  sind  jedoch  so  gut, 
daß  sie  im  Wesentlichen  für  den  Originalen  gleichwertig  gelten 
können.  Das  gilt  auch  fur  die  Facsimiles  der  Oxforder  Blätter,  die 
ich  anfangs  zu  niedrig  eingeschätzt  habe.  Sie  sind  mir  bei  näherer 
Untersuchung  wertvoll  gewesen  zur  Kontrole  von  Lesungen,  die  ich 
allein  aus  den  Photographien  gewonnen  und  in  meine  frühere  Aus- 
gabe aufgenommen  hatte.  Ich  habe  aus  den  Facsimiles  gesehen,  daß 
ich  die  Lesbarkeit  der  Photographien  an  einzelnen  Stellen  überschätzt 
hatte  und  deshalb  mehrfach  von  ihnen  irre  geführt  war.  Immerhin  be- 
halten die  Photographien,  die  von  den  Oxforder  Blättern  vor  ihrer 
Reinigung  und  Ueberklebung  genommen  sind,  ihren  besonderen  Wert 
und  an  den  meisten  und  wichtigsten  Lesungen,  die  ich  aus  ihnen  ge- 
wonnen hatte,  muß  ich  auch  im  Besitz  der  Facsimiles  festhalten. 
Außerdem  aber  habe  ich  auf  Grund  der  Facsimiles  für  fast  sämtliche 


R.  Smend,  Die  Weisheit  des  Jesus  Sirach  771 

Blätter  die  Lesungen  der  ersten  Herausgeber  auch  jetzt  noch  er- 
gänzen und  verbessern  können. 

Von  einer  Vokalisation  des  Textes  glaubte  ich  absehen  zu  sollen. 
Auch  der  Anfänger  wird  sie  überall  leicht  aus  der  dem  hebräischen 
Text  beigegebenen  deutschen  Uebersetzung  finden,  die  zugleich  zur 
Entlastung  des  Kommentars  bestimmt  ist. 

Bei  Benutzung  des  Kommentars  bitte  ich  die  am  Schluß  beige- 
fügten Berichtigungen  und  Zusätze  zu  beachten.  Uebrigens  ist  in 
den  Prolegomena  S.  LXXXU  Z.  13  v.u.  >45,3  h  8ö£ig«  zu  streichen, 
ebenso  S.  CXLVI  Z.  2  v.  o.  >47,8  üV^by^  (Berol.)«.  In  der  deutschen 
Uebersetzung  ist  S.  27  Z.  3  v.  u.  >Werke<  für  »Worte<  zu  lesen. 

Göttingen  R.  Smend 


Antonio  Baamstark,  Liturgia  Romana  e  Liturgia  delF  Esarcato. 
II  rito  detto  in  seguito  patriarchino  e  le  origini  del  canon  missae  Romano.  Ri- 
cerche  storiche.   Roma,  Frederico  Pustet  MDCCCCIV.    192  S.   4,80  Mk. 

Dieses  Buch  habe  ich  mit  großer  Freude  begrüßt.  Ich  hatte  in 
einer  Studie  >Zur  Entstehungsgeschichte  des  Kanons  in  der  römischen 
Messe  €  (Studien  zur  Geschichte  des  Gottesdienstes  und  des  gottes- 
dienstlichen Lebens  I,  Leipzig  und  Tübingen  1902)  zum  erstenmal 
die  traditionelle  Anschauung,  als  sei  der  römische  Kanon  eine  alte, 
im  Wesentlichen  einheitliche  Schöpfung  ohne  besondere  Geschichte, 
zu  erschüttern  und  die  Thesen  zu  beweisen  versucht:  1.  Der  heutige 
römische  Meßkanon  hatte  einst  denselben  Aufbau  wie  die  syrische 
Jakobus-Liturgie  (Renaudot,  Liturg.  orient.  coUectio  II,  29  ff.  und 
Swainson,  The  Greek  Liturgies  1884,  p.  335  ff.).  2.  Der  römische 
Meßkanon  hat  seine  heutige  Gestalt  durch  eine  gewaltsame  Um- 
stellung, eine  Zerbrechung  erhalten,  und  zwar  wahrscheinlich  durch 
Papst  Gelasius  I.  (f  496).  3.  Diese  Umgestaltung  ist  auf  Einfluß 
der  ägyptisch-alexandrinischen  Liturgie  zurückzuführen.  Gegen  mich 
hatte  sich  unter  den  Katholiken  namentlich  Professor  Funk  in  meh- 
reren Artikehi  gewendet  (Historisches  Jahrbuch  der  Görres-Gesell- 
schaft  1903,  S.  62  ff.  und  S.  283  ff.,  Tübinger  Theol.  Quartalschrift 
1904,  S.  122).  Er  lehnte  meine  These  rundweg  ab.  So  stark  stand 
auch  er  noch  im  Banne  überlieferter  Anschauung,  daß  er  den  Satz 
schreiben  konnte:  > Soweit  man  sieht,  hat  der  Kanon  bei  der  Schöpfung 
den  überlieferten  Aufbau  erhaltene.  Da  trat  B.  in  die  Diskussion 
ein.  Er  hat  meine  Thesen,  von  denen  er  schon  vor  meiner  Dar- 
legung überzeugt  war,  bestätigt;  nur  in  Bezug  auf  den  Zeitpunkt 
der  Umstellung  ist  er  anderer  Meinung  als  ich.  Aber  er  erhebt 
gegen  mich  den  Vorwurf,  daß  meine  Beweisführung  an  mehr  als 

aOit.  g«l.  Ans.  1906.  Nr.  10  54 


772  Oött  gel  Ans.  1906.  Nr.  10 

einem  Punkte  oberflächlich  und  auf  eine  zu  schmale  Basis  gestellt 
sei.  Mit  dem  ersten  Vorwurf  steht  es  aber  in  merkwürdigem  Wider- 
spruch, dafi  er  es  wiederum  Funk  vorwirft,  er  habe  nicht  einmal 
den  von  mir  vorgetragenen  >Bin8enwahrheiten€  Glauben  geschenkt 
Also  kann  meine  Beweisführung  doch  nicht  so  wertlos  sein.  Auch 
habe  ich  an  nicht  wenigen  Stellen  seines  Buches  den  Eindruck  ge- 
habt, daß  gerade  er  nicht  das  Recht  hatte,  mir  diesen  Vorwurf  zu 
machen.  Wäre  ich  unhöflich,  so  könnte  ich  ihm  mit  gleicher  Münze 
zahlen,  aber  das  will  ich  nicht  tun.  Was  aber  die  >  breitere  Basis« 
betrifit,  auf  die  er  nun  selbst  seine  Untersuchung  gestellt  hat,  so 
fragt  es  sich,  ob  er  sie  wohl  auch  würde  für  nötig  gehalten  haben, 
wenn  er  Funks  Kritik  nicht  gekannt  hätte?  Hätte  ich  geahnt,  wie 
ungewöhnt  an  eine  historische  Kritik  auf  liturgischem  Gebiet  auch 
ein  so  trefflicher  Historiker  wie  Funk  noch  ist,  so  würde  ich  wahr- 
scheinlich auch  weiter  ausgeholt  haben.  Femer  fragt  es  sich,  ob  die 
»breite  Basi8<  B.s  auch  so  tragfähig  ist,  wie  er  anninmit  B.8  Buch 
hat,  obwohl  es  für  die  Grundthese  keinerlei  neues  Beweismaterial 
beibringt,  nun  auch  Funk,  wenn  auch  nicht  in  jedem  Punkte,  so 
doch  in  der  Hauptsache  überzeugt^).  Daß  B.  durch  eine  neue  um- 
sichtige Begründung  meinen  Thesen  zum  Siege  verhelfen  und  mir 
die  Arbeit  der  Gegenkritik  gegen  Funk  in  der  Hauptsache  abge- 
nommen hat,  dafür  bin  ich  ihm,  abgesehen  von  der  reichen  För- 
derung, die  ich  sonst  seinem  höchst  anregenden  Buche  verdanke, 
herzlich  dankbar.  B.  verfügt  über  eine  reiche  Kenntnis  des  Stoffes. 
Er  sieht  auch  scharf.  Allein  er  ist  in  seinen  Schlüssen  oft  zu  rasch 
und  zu  kühn.  Ich  glaube  nicht,  dafi  die  Gesamtstruktur  der  Ent- 
wicklung des  römischen  Kanons,  die  er  uns  vorlegt,  sich  durchsetzen 
wird.  Aber  in  Einzelheiten  hat  er  ohne  Zweifel  das  Problem  sehr 
gefördert. 

Nach  einer  Einleitung  (p.  9—25),  in  der  B.  über  die  bisher  über 
den  römischen  Meßkanon  geltenden  Anschauungen,  bez.  angestellten 
Untersuchungen  Rechenschaft  gibt,  wendet  er  sich  im  ersten  Kapitel 
(p.  27 — 62:  Eucharistia,  anaphora  e  canon  missae)  den  >  Funda- 
mentalfragen <  zu,  nämlich  1.  der  Frage  nach  der  ursprünglichen 
inneren  Verwandtschaft  zwischen  der  römischen  und  den  orientali- 
schen Liturgien,  und  2.  der  Frage,  ob  sich  im  Orient  die  ursprüng- 
liche Form  wirklich  länger  als  in  Rom  erhalten  habe. 

Als  sichrer  Ausgangspunkt  für  die  erste  Frage  soll  Justins  Be- 
richt über  die  eucharistische  Feier  gelten.  Justin  kenne  den  litor- 
gischen  Brauch  von  Palästina,  Kleinasien  und  Rom,  aber  er  wisse 

1)  Tübinger  Theol  Quartalschrift  1904,  S.  600  ff. 


Baumstark,  Litorgia  Romana  773 

nur  von  einem  einzigen  liturgischen  Typus:  zu  seiner  Zeit  gab  es 
noch  keinen  Unterschied  in  der  Liturgie  im  Orient  und  im  Occident, 
in  Aegypten  oder  in  Gallien  oder  Rom.  Schon  diese  Voraussetzung 
hat  etwas  Verblüffendes.  Diese  Behauptung  hat  m.  W.  auch  noch 
niemand  so  rundweg  aufzustellen  gewagt  ^).  Zunächst  sagt  Justin  keine 
Silbe  davon,  daß  es  in  der  Kirche  seiner  Zeit  nur  einen  litur- 
gischen Typus  gebe.  Es  wird  wohl  richtig  sein,  daß  zu  seiner  Zeit 
ungefähr  in  gleicher  Weise  die  Christen  überall  den  Gottesdienst 
hielten,  aber  der  Beweis  dafür  muß  auf  ganz  andern  Stützen  ruhen 
als  allein  auf  den  Angaben  Justins.  Denn  selbst  wenn  er  in  dieser 
Meinung  seine  Angaben  gemacht  hat,  wer  bürgt  dafür,  daß  er  da- 
mit recht  hatte?  daß  nicht  um  150  schon  in  Aegypten  oder  auch  in 
Gallien  oder  in  Mailand  sonderliche  Bräuche  sich  eingestellt  hatten? 

Nun  will  B.  zeigen,  daß  die  von  Justin  geschilderte  Liturgie  in 
den  Liturgien  und  Zeugnissen  des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts 
deutlich  wiederzuerkennen  sei.  Man  erwartet  hier  mit  Recht  eine 
sorgfältige  Feststellung  dessen,  was  sich  aus  Justin  ergibt.  Aber 
auch  das  tut  B.  nicht.  Er  stellt  nur  fest,  daß  Justin  ein  großes 
eucharistisches  Gebet  kenne,  daß  sogar  e6xapiaTia  schlechtweg  ge- 
nannt werde  ^),  aber  aus  Dank-  und  Bittgebet  (eoxai)  bestanden  habe. 
Auf  die  Frage,  ob  Justin  die  Einsetzungsworte  als  liturgisches  Ge- 
betsstück kenne,  ob  sich  nicht  sonst  deutliche  Anklänge  an  die  wei- 
teren Gebetsstücke  der  altkirchlichen  Liturgien  finden,  geht  er  gar 
nicht  ein.  Nur  behauptet  er  schlankweg,  die  ehxoii  Justins  seien  das 
Interzessionsgebet.  Den  nötigen  Beweis  dafür  bleibt  er  schuldig. 
Allerdings  läßt  sich  das  beweisen,  und  ich  glaube  es  bewiesen  zu 
haben  ^).  Aber  so  ohne  Weiteres  genügt  doch  die  bloße  Behauptung 
nicht.  Auch  läßt  sich  zeigen,  daß  Justin  ein  Konsekrationsgebet 
kennt,  so  daß  B.s  Bemerkung,  er  erwähne  es  nicht  ausdrücklich 
(S.  31),  sehr  der  Einschränkung  bedarf. 

Will  man  also  für  die  Frage  nach  der  ursprünglichen  Gestalt 
des  römischen  Kanons  eine  >  breite  Basis  <  schaffen,  dann  muß  man, 
will  man  bei  Justin  einsetzen,  diesem  eine  wirklich  eingehende  Unter- 
suchung widmen,  oder  man  baut  auf  unsichren  Boden. 

Aber  wird  man  überhaupt  von  Justin  allein  ausgehen  können? 
Es  ist  ein  Problem  für  sich  und  von  großer  Schwierigkeit,  die  Abend- 

1)  Vgl.  allerdings  Rietschel,  Lehrb.  der  Litorgik  I,  1900,  S.  252. 

2)  Diese  Behauptung  ist  sicher  nicht  richtig,  vgl.  über  den  Gebrauch  von 
tbxapmia  in  der  altchristl,  Literatur  Ztschr.  f.  prakt.  Theol.  XX  (1898),  S.  98 ff.; 
üher  Justin  S.  108  f. 

3)  Vgl.  Heft  n  u.  ni  meiner  Studien  zur  Gesch.  des  Gottesdienstes  u.  des 
gottesdienstl.  Lebens  1906,  S.  69  ff. 

54* 


774  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

mahlsliturgie  um  150  auch  nur  in  ihren  Hauptumrissen  zu  rekon- 
struieren. Möglich  scheint  es  mir,  und  ich  bin  dabei,  in  den  »Unter- 
suchungen über  die  sogen,  dement  Liturgie  im  VIU.  Buch  der  apo- 
stolischen Konstitutionen«  es  zu  versuchen.  Aber  das  geht  nicht  ab  ohne 
die  eingehendsten  Einzeluntersuchungen.  Damit,  daß  man  im  Allge- 
meinen feststellt,  daß  sich  mit  dem  Abendmahl  ein  Dankgebet  für  die 
Schöpfung  und  Bittgebete  verbunden  haben,  ists  nicht  getan.  Wenn 
daher  B.  den  ersten  Abschnitt  des  letzten  Kapitels  mit  den  Worten 
schließt:  >L'  e^xapiatia  cristiana  antica  —  presa  sempre  nel  suo 
largo  senso  —  h  passata  sostanzialmente  in  tutte  le  liturgie  occiden- 
tali  non  meno  che  in  tutte  le  orientali<  (S.  36),  so  ist  damit  erst 
dann  etwas  wirklich  Wertvolles  gesagt,  wenn  der  Inhalt  dieses  alt- 
christlichen Gebetes  genau  untersucht  und  festgestellt  ist  und  mne 
Anklänge  in  allen  Liturgien  eingehend  nachgewiesen  sind. 

Einen  weiteren  Beweis  für  die  Uebereinstimmung  der  östlichen 
und  westlichen  Liturgien  sieht  B.  in  der  Tatsache,  daß  sich  von 
Westsyrien,  Aegypten  und  Konstantinopel  aus  als  Bezeichnung  f&r 
das  Mittel-  und  Hauptstück  der  eucharistischen  Liturgie  der  Opfer- 
gedanke durchgesetzt  und  die  alte  Bezeichnung  e^x^ptoTla  verdrängt 
habe.  In  den  genannten  Kirchengebieten  trage  dies  Stück  den  Namen 
iva^opd.  In  der  Mailändischen  Liturgie  erscheine  diese  Bezeichnung 
wieder  als  oblatio,  in  der  gallikanischen  als  immolatio,  in  der  spani- 
schen als  illatio.  Von  Afrika  wisse  man  so  gut  wie  nichts.  Nur  R(Hn 
scheine  eine  Ausnahme  zu  machen.  Allein  in  Bezug  auf  die  Mai- 
ländische Liturgie  befindet  sich  B.  im  Irrtum.  Die  von  ihm  p.  37 
Anm.  1  und  2  angeführten  Stellen  beweisen  nichts.  Vielmehr  ist 
schon  mehrfach,  wie  mir  scheint,  mit  Recht  beobachtet  worden,  daO 
Ambrosius  das  eucharistische  Dankgebet  mit  oratio  bezeichnet^). 
Jedenfalls  wird  sich  nicht  beweisen  lassen,  daß  er  es  oblatio  nenne. 
Daß  auch  Augustin  dieses  Gebet  oratio  nennt,  scheint  mir  auch  außer 
Zweifel  zu  sein  ^).  Was  nun  den  Ausdruck  canon  actionis  oder  canon 
betrifft,  den  wir  in  Rom  treffen,  so  behauptet  B.,  daß  das  Wort  actio 
nach  dem  Sprachgebrauch  zu  erklären  sei,  den  dieses  Wort  in  der 
römischen  Rechtssprache  gefunden  hat.  Nach  seiner  Meinung  ver- 
stand man  darunter  »un  formulario  obligatorio  per  compiere  valida- 
mente  Pincarico  avuto  dal  Signore,  corrispondente  ai  formulari  di 

1)  Vgl.  Probst,  Die  Liturgie  des  4.  Jahrh.  und  deren  Beform  S.  245.  247; 
Magistretti,  La  Liturgia  della  chiesa  Milanese  nel  secolo  lY.,  I  (1899),  p.  88 
u.  96  f.  Vgl.  Ambrosius,  de  Cain  et  Abel  I,  c.  9  n.  85  u.  de  instit.  virg.  c.  2  n.  8 
u.  9  (opp.  cur.  Ballerini,  Mediolani  I  (1875),  266;  IV  (1879),  817). 

2)  Vgl.  Probst  a.  a.  0.  u.  Magistretti  a.  a.  0. ;  vgl.  Augustin  ep.  149,  n.  16 
MSL  33;  636  f. 


Baomfltark,  Litorgia  Bomana  775 

accusa  prescritti  dalla  legge  pei  procedimenti  giudiziari  ossia  ai 
formulari  processuali  ed  in  generale  ai  giuridici<  (p.  38).  Gegen 
diese  Ableitung  spricht,  daß  dann  der  Ausdruck  canon  actionis,  wie 
B.  selbst  zugiebt,  eine  Tautologie  ist.  Und  ehe  man  einen  kultischen 
Ausdruck  aus  der  Rechtssprache  erklärt,  empfiehlt  es  sich,  sich  erst 
einmal  in  der  kultischen  Sprache  umzusehen.  So  gut  wie  der  Aus- 
druck praefatio  der  altrömisch-heidnischen  Kultsprache  entlehnt  ist  ^), 
so  wird  das  Wort  actio  der  Kult-  und  nicht  der  Rechtssprache  ent- 
stammen. Nun  kann  ich  das  Substantiv  actio  allerdings  nicht  in 
einer  kultischen  Bedeutung  nachweisen,  wohl  aber  das  Verbum  agere  ^. 
Nicht  allein,  daß  es  mit  Substantiven  wie  sacra,  sacramenta,  my- 
steria,  baptismus,  sacrificium  verbunden  erscheint,  es  wird  auch 
absolut  gebraucht,  um  den  Vollzug  einer  heiligen  Handlung  zu  be- 
zeichnen'). Beachtet  man  das,  so  wird  der  Ausdruck  canon  actionis 
ganz  verständlich:  >Richtschnur  für  den  Vollzug«  sc.  des  heiligen 
Gebetes  oder  des  Sakraments  oder  Mysteriums  oder  Opfers.  Ein 
besonderer  Zusatz  war  gar  nicht  unbedingt  nötig.  Wie  es  denn  auch 
im  liber  Pontific.  heißt:  »Hie  constituit,  ut  intra  actionem  populus 
hymnum  decantaret:  Sanctus«  (ed.  Mommsen  11).  Mit  der  &va(popd 
des  Ostens  hat  aber  diese  Bezeichnung  nichts  zu  tun.  Man  hat  sie 
jedenfalls  eingeführt,  als  bereits  in  dem  folgenden  Stück  Abweichungen 
vom  bisherigen  Brauch  vorgenommen  worden  waren,  die  man  nun 
durchsetzen  wollte. 

Faßt  man  das  Alles  ins  Auge,  so  schrumpft  der  an  diesem  Punkt 
behauptete  Zusammenhang  des  Westeos  mit  dem  Osten  bedenklich 
zusammen. 

Im  Weiteren  wendet  sich  B.  der  Tatsache  zu,  daß  sich  der 
römische  Kanon  von  den  östlichen  Liturgien  durch  das  Fehlen  der 
Epiklese  und  durch  die  auffallende  Unordnung  der  einzelnen  Gebete 
unterscheide.  Die  Frage  wegen  der  Epiklese  wäre  gegenstandslos, 
wenn  die  Behauptung  Schermanns  richtig  wäre  (Rom.  Quartalschr. 
17,  1903,  S.  248  ff.),  daß  die  Epiklese  nicht  ursprünglich  sei.  lieber 
diese  Frage  habe  ich  mich  in  dem  Artikel  Epiklese  in  Herzog-Haucks 
Realencyklopädie  der  protestantischen  Theologie  (Bd.  V,  S.  409  ff.) 
ausgesprochen.  Auch  ich  bin  der  Ueberzeugung,  daß  die  Epiklese 
erst  später  in  die  Liturgie  eingedrungen,  daß  noch  später  ihr  konse- 
krierende  Kraft  zugeschrieben  worden  ist.    Dennoch  kann  es  keinem 

1)  Praefatio  sacroram  bedeutet  hier  die  Einleitung  des  eigentlichen  Opfers 
durch  ein  Yoropfer  (Wissowa,  Religion  u.  Kultus  der  Römer,  1902,  S.  147),  bez. 
die  solenne  Einleitungsformel  der  Opferhandlung  (Liv.  45,5). 

2)  Vgl  Thesaurus  linguae  latinae  I,  p.  1390, 18  ff. 

3)  Vgl.  z.B.  Augustin,  ep.  108,8  MSL83,203;  Itin.  Sylviae  27,5;  35,1. 


776  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Zweifel  unterliegen,  daß  zar  Zeit  Gelasins  I.  die  römische  Litargie 
eine  Epiklese  hatte,  und  zwar  als  Konsekrationsgebet  ^).  Auch  B. 
ist  davon  überzeugt. 

Der  nächste  Abschnitt  schreitet  zu  der  Frage  nach  dem  Aufbau 
des  großen  eucharistischen  Gebetes  in  den  verschiedenen  Liturgien 
fort,  um  aufs  klarste  zu  zeigen,  daß  der  heutige  römische  Kanon  in 
seiner  Struktur  allein  steht.  Zwei  Haupttypen  sind  zu  unterscheiden: 
Die  orientalischen  Liturgien  (mit  Ausnahme  der  alexandrinischen,  der 
nestorianischen  und  der  alten  maronitischen)  zeigen  folgenden  Auf- 
bau: 1.  Dank  für  die  Schöpfung  und  Erlösung,  unterbrochen  durch 
das  Trishagion;  2.  Einsetzungsbericht;  3.  Anamnese  und  Epiklese; 
4.  Interzessionsgebet  —  eine  Konstruktion  von  einleuchtender  innerer 
Logik.  Dem  gegenüber  stehen  die  alexandrinische  Markus-Liturgie, 
die  koptische  Liturgie  des  Cyrill,  die  abessinische  Liturgie,  auch 
z.  T.  die  oberitalienische,  gallikanische  und  spanische  Liturgie,  ja 
auch  die  nestorianische  und  alt-maronitische.  Hier  ist  der  Aufbau 
folgender:  1.  Lob-  und  Dankgebet;  2.  Interzessionsgebet;  3.  Trishagion; 
4.  Konsekration.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  Typen  ist  also 
der,  daß  einmal  das  Interzessionsgebet  der  Konsekration  nachsteht 
(tipo  postpositive),  das  andere  Mal  ihr  vorgerückt  ist  (tipo  preposi- 
tivo).  Der  römische  Kanon  schließt  sich  nun  keinem  dieser  Typen 
an,  denn  in  ihm  ist  das  Interzessionsgebet  zerrissen  und  teils  den 
Konsekrationsgebeten  vor-,  teils  nachgestellt.  So  stehen  wir  vor  der 
zweiten  grundlegenden  Frage:  Haben  wir  die  orientalische  avo^pd 
nach  dem  römischen  Kanon  oder  umgekehrt  den  römischen  Kanon 
nach  der  orientalischen  ava^opd  zu  rekonstruieren? 

Das  führt  weiter  zur  Frage  nach  der  Bezeugung  des  römischen 
Kanons.  B.  meint :  Wir  sind  ausschließlich  auf  den  Meßkanon  Gregors 
d.  Gr.,  also  auf  einen  Text  angewiesen,  der  aus  dem  Ende  des 
sechsten  oder  aus  dem  Anfang  des  siebenten  Jahrhunderts  stammt. 
Damit  >  müssen  wir  die  Lücke  ausfüllen,  die  zwischen  der  Liturgie 
des  zweiten  Jahrhunderts  und  den  ältesten  orientalischen  Anaphoren 
liegt. <  Wie  alt  aber  sind  diese?  Ihre  ältesten  Bezeugungen  fallen 
in  die  Zeit  etwa  von  der  Mitte  des  dritten  bis  zum  Ende  das  vierten 
Jahrhunderts.  >  Angesichts  dieser  Tatsache  sagen  zu  wollen,  der 
römische  Meßkanon  gehe  in  seiner  jetzigen  Gestalt,  obwohl  er  nur 
erst  an  der  Schwelle  des  siebenten  Jahrhunderts  erscheint,  dennoch 
recht  wohl  weiter  zurück,  wäre  in  der  Tat  eine  grundlose  Behaup- 
tung und  darum  ohne  wissenschaftlichen  Wert,  auch  wenn  wir  nicht 
wüßten,  daß  diese  Form  wenigstens  in  einem  Punkt,  nämlich  in  der 

1)  Meine  »Entstebungsgeschicbte  des  Kanons«  S.  28f. 


Baamstark,  Litargia  Romana  777 

Epiklese,  nach  dem  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  geschaffen 
worden  ist«  (p.  62).  B.  kommt  also  zu  dem  Ergebnis :  Bei  diesen 
Ältersverhältnissen  der  östlichen  Liturgien  und  des  römischen  Meßka- 
nons hat  man  keinen  Grund,  die  Konstruktion  des  letzteren  als  die 
ursprünglichere  anzusehen  und  demnach  die  Anaphoren  in  jenen  nach 
dieser  zu  rekonstruieren,  sondern  das  Umgekehrte  wird  richtig  sein. 

Wir  stellen  fest,  daß  wir  damit  keineswegs  auf  sicherem  Boden 
stehen,  sondern  nur  auf  Hypothesen.  Es  ist  eine  Hypothese,  daß 
der  uns  vorliegende  Kanonstext  auf  Gregor  d.  Gr.  zurückgehe;  es 
ist  eine  Hypothese,  daß  der  Kanon  im  Gelasianum  eine  spätere  Ein- 
Schiebung  sei  ^).  Aber  angenommen,  dies  alles  sei  der  Fall,  wir  könnten 
keine  Spur  des  Kanons  vor  Gregor  d.  Or.  nachweisen,  so  ist  es  doch 
wieder  nur  eine  Hypothese,  zu  sagen:  Also  hat  der  Kanon  auch 
nicht  früher  so  existiert.  Denn  wer  bürgt  dafür,  daß  es  nicht  ein 
Zufall  ist,  daß  wir  keine  ältere  Bezeugung  haben? 

So  ist  also  keineswegs  mit  Sicherheit  jene  Frage  beantwortet, 
die  B.  als  die  zweite  Fundamentalfrage  bezeichnet.  Wir  sehen,  B. 
hat  uns  allerdings  auf  eine  »breite«,  aber  auf  keine  sichere  Basis 
gestellt,  und  ich  bedauere  nicht,  diese  seine  Basis  nicht  zur  Grund- 
lage meiner  ersten  > Studie«  gemacht  zu  haben. 

Ich  gebe  zu,  wenn  sich  jene  Frage  mit  aller  Sicherheit  dahin 
beantworten  läßt:  nicht  der  römische  Kanon,  sondern  die  syrische 
Anaphora  zeigt  den  ältesten  Aufbau,  so  hat  man  von  vornherein  ge- 
wonnenes Spiel,  wenn  man  an  die  Rekonstruktion  des  römischen  Ka- 
nons herantritt.  Aber  diese  Frage  läßt  sich  nicht  auf  zehn  Seiten, 
wie  B.  tut,  beantworten.  Sie  setzt  den  Nachweis  voraus,  daß  Rom 
ursprünglich  ein  eucharistisches  Gebet  hatte,  das  nicht  das  des  heu- 
tigen Kanons,  sondern  im  wesentlichen  das  des  Ostens  war,  daß  in 
Syrien  besondere  Umstellungen  in  diesem  Gebetsstück  nicht  vorge- 
nommen worden  sind,  daß  überhaupt  die  syrischen  Liturgien  die  ver- 
hältnismäßig ältesten  sind,  bezw.  die  ältesten  Bestandteile  weiter- 
tragen. Das  zu  beweisen,  dazu  gehört  nicht  allein  die  Frage  der 
äußeren  Bezeugung,  sondern  die  sorgfältigste  Vergleichung  der  Li- 
turgien unter  einander.  Das  ist  eine  ganze  große  Aufgabe  für  sich. 
Ich  habe  sie  in  meiner  » Studie  <  nicht  aufgegrilBfen,  weil  bei  dem 
völligen  Brachliegen  der  Untersuchungen  der  Liturgien  überhaupt 
irgend  an  einem  Punkte  einmal  kühn  und  frisch  eingesetzt  werden 
mußte.  Ich  ging  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  der  Kanon  der 
römischen  Messe  wegen  seines  unlogischen,  offenbar  zerstückelten 
Aufbaus,  den  auch  B.  nicht  leugnen  kann,  sondern  offen  zugibt,  nicht 

1)  Vgl.  Funk,  Theol.  Qaartalschrift  1904,  S.  607 ff.  Kann  nicht  in  Hanc 
igitar  die  SteUe:  diesque  nostros  etc.  sp&terer  Zusatz  sein? 


778  Oott.  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

ursprünglich  sein  könne.    Diese  Voraussetzung  ist  um  kein  Hatr 
kühner,  als  die  Voraussetzungen  sind,  von  denen  B.  ausgeht. 

Im  zweiten  Kapitel  (Te  igitur  ed  Hanc  igitur.  Dnplicati  uel 
canon  missae  romano  prima  del  racconto  della  istituzione  p.  63 — 113) 
geht  B.  zunächst  der  engen  Verwandtschaft  zwischen  den  einzelnen 
Gebeten  im  römischen  Kanon  und  der  jerusalemischen  Liturgie  nach, 
während  andrerseits  der  Abstand  zwischeä  jenen  und  der  alexandri- 
nischen  Liturgie  ins  Licht  gestellt  wird,  so  daß  der  Schluß  als  ge- 
sichert erscheint,  daß  ursprünglich  die  Interzessionsgebete  nicht  ?or, 
sondern  nach  den  Einsetzungsworten  auch  in  der  römischen  Messe 
gestanden  haben  müssen.  Eine  Bestätigung  dieses  Schlusses  findet 
B.  mit  Recht  in  dem  Brief  Innocenz'  L  an  Decentius  von  Gubbio 
vom  Jahre  416.  Die  betreffende  Stelle  ist  nicht  so  ohne  weiteres 
klar.  Die  Deutung,  die  ich  ihr  in  meiner  >Studie«  I,  S.  35  gegeben 
habe,  versuchte  Funk,  Histor.  Jahrb.  1903,  S.  68  ff.  zu  entkräften. 
Ich  hatte  behauptet,  Innocenz  kenne  die  Verlesung  der  Namen  nor 
nach  der  Konsekration,  habe  also  noch  den  früheren  Aufbau  des  Ka- 
nons. Funk  aber  meint,  die  Angaben  jenes  Briefes  wären  durchaus 
verständlich,  wenn  der  Kanon  schon  damals  seine  heutige  Gestalt 
hatte.  B.  tritt  in  allem  Wesentlichen  auf  meine  Seite.  Funk  hat  in 
der  Besprechung  der  B.schen  Schrift  in  der  Theol.  Quartalschr.  1904, 
S.  614  nur  kurz  bemerkt,  daß  er  auch  durch  B.'s  Ausführungen  noch 
nicht  überzeugt  sei,  er  geht  aber  auf  die  Sache  nicht  wieder  ein. 
Sein  früher  vorgetragener  Hauptgrund  gegen  die  Annahme,  unter 
den  sacra  mysteria  seien  die  konsekrierten  Elemente  zu  verstehen, 
war  der,  daß  das  commendare  oblationes,  wie  einige  Sekrete  im  sa- 
cramentarium  Gelasianum  ^)  zeigten,  schlechterdings  jeden  Gedanken 
an  eine  Konsekration  ausschlössen.  Auch  gebe  es  wohl  keine  Stelle, 
in  der  das  commendare  den  Sinn  von  konsekrieren  habe.  Nun  hat 
B.  tatsächlich  in  der  mozarabischen  Liturgie  eine  solche  Stelle  nach- 
gewiesen (M  S  L  85,  205).  Aber  abgesehen  davon,  so  geht  es  nicht 
an,  den  Ausdruck  bei  Innocenz  nach  einigen  Sekreten  im  Gelasianum 
zu  deuten.  Denn  entweder  hatte  man  in  Gubbio  —  und  Innocenz 
wußte  doch  darüber  ganz  offenbar  Bescheid  —  bei  der  Verlesung 
der  Namen  außerhalb  des  Kanons  zugleich  eine  nichtkonsekrierende 
commendatio,  wie  sie  jene  römischen  Sekreten  zeigen,  dann  schlug 
sich  der  Papst  mit  seiner  Entgegnung  selbst  ins  Gesicht  Oder  sie 
kannten  in  Gubbio  diese  römische  Sekreten-commendatio  nicht»  dann 
kann  Innocenz  dem  Bischof  von  Gubbio  auch  nicht  von  einer  com- 
mendatio in  einem  spezifisch  römischen  Sinn  reden.    Also  darf  man 

1)  Vgl.  ed.  Wüson  p.  7.  164.  167.  173.  188.  195  (zwei). 


Baumstark,  Liturgia  Bomana  779 

den  Ausdruck  commendare  oblationes  im  Briefe  des  Innocenz  nicht 
nach  dem  Sinn  auslegen,  den  die  Formel  in  einigen,  noch  dazu  gar- 
nicht  datierbaren  römischen  Sekreten  hat,  sich  also  nicht  darauf  ver- 
steifen, daß  comm.  obl.  keineswegs  eine  Konsekration  in  sich  schließen 
könne.  Aber  wenn  das  auch  der  Fall  wäre,  so  ist  damit  gamichts 
entschieden.  Die  Hauptsache  ist  doch  die  Frage:  Mit  welchen 
Gründen  verteidigt  Innocenz  die  römische  (offenbar  jüngere)  Sitte, 
die  Namen  im  Kanon  zu  verlesen  und  nicht  bei  dem  Dar- 
bringungsakt  vor  dem  Kanon,  wie  die  ältere  in  Gubbio  noch  heimi- 
sche Sitte  war?  Er  sagt:  Es  ist  sinn-  und  zwecklos,  an  dieser 
Stelle  die  Namen  zu  nennen.  Denn  Gott  weiß  doch  wahrlich  diese 
Namen  auch  ohne  ihre  Verlesung.  Der  Zweck  der  Namensnennung 
kann  doch  nur  sein,  über  die  Genannten  möglichst  sicher  und  mög- 
lichst reich  Gottes  Gnade  herabzuflehen.  Das  wird  man  am  besten 
erreichen,  wenn  man  die  Gaben  der  zu  nennenden  Darbringer  wirk- 
lich erst  einmal  Gott  als  Opfer  dargebracht  und  um  freundliche  An- 
nahme dieser  Opfer  gebeten  hat.  Worin  aber  besteht  diese  freund- 
liche Annahme?  Darin,  daß  Gott  seinen  heiligen  Geist  über  sie 
sendet,  sie  wandelt  zu  sacra  mysteria  und  sie  hinaufnimmt  auf  seinen 
himmlischen  Altar.  Dem  so  gnädig  gestimmten  und  gesinnten  Gott 
tragen  wir  nun  unsre  Bitten  sicher  mit  Erfolg  vor,  meint  Innocenz. 
Hat  Gott  so  die  Gaben  angenommen,  wird  er  auch  unsre  Bitten  an- 
nehmen. Der  Nerv  der  ganzen  Beweisführung  ist  doch  ohne  Zweifel 
r-  es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  man  das  verkennen  kann  ^,  daß  aus 
den  oblationes  sacra  mysteria  müssen  geworden  sein :  sie  erst  bürgen 
für  eine  wirkliche  Erhörung  des  Gebets.  Nach  Funk,  der  unter  den 
sacra  mysteria  einen  Teil,  und  zwar  das  Te  igitur  des  Kanons  ver- 
steht und  diesem  andre  mysteria,  andre  Gebete,  außerhalb  des  Ka- 
nons entgegensetzt  (zu  alia,  quae  ante  praemittimus,  ergänzt  er  my- 
steria), schrumpfte  der  Gegensatz  zwischen  der  römischen  und  gubbio- 
nischen  Praxis  zu  einer  Lappalie  zusammen  und  die  Ausführungen 
des  Papstes  gipfelten  in  einer  kleinlichen  Spitzfindigkeit,  die  auf  den 
bedenklichen  Bischof  kaum  einen  Eindruck  machen  konnte.  Darnach 
waren  die  Gaben  hier  wie  dort  ungeweiht,  wenn  die  Namen  der 
Opfernden  genannt  wurden.  Was  machte  es  aus,  wenn  diese  nur 
an  einer  andren  Stelle  genannt  wurden?  Endlich  aber  hat  Funk  — 
aber  auch  B.  und  ich  selbst  habe  in  meiner  >  Studie  c  darauf  nicht 
Wert  gelegt  —  ganz  übersehen,  daß  nach  des  Papstes  Meinung  die 
Gaben  als  Opfer  dargebracht  sein  müssen  (cuius  hostiam  necdum 
oflFeras),  ehe  die  Namen  verlesen  werden.  Ich  frage :  Welches  Kanons- 
gebet ist  denn  das  eigentliche  Darbringungsgebet?  Etwa  Te  igitur, 
weil  das  Wort  offerre  darin  vorkommt?    Funk  kann  nicht  leugnen, 


780  Gott.  goL  Anz.  1906.  Nr.  10 

daß  jenem  kleinen  Gebetsstück  auch  diesen  Charakter  noch  auf- 
bürden wollen,  die  Tatsachen  vergewaltigen  heißt.  Te  igitur  ist  ein 
Interzessionsgebet.  Oder  sollte  Funk  das  Haue  igitur  dafür  an- 
sprechen? Auch  dies  ist  ein  verkürztes  Interzessionsgebet.  Das 
eigentliche  Darbringungsgebet  ist  vielmehr  Unde  et  memores,  mit 
den  Worten:  offerimus  praeclarae  maiestati  tuae  etc.,  denen  sich  die 
Empfehlung  des  Opfers  in  Supra  quae  und  Supplices  te  anschließt 
So  scheidet  bei  einer  vorurteilsfreien  Behandlung  der  Stelle  tatsach- 
lich das  Te  igitur  aus.  Es  wird  also  dabei  bleiben:  Innocenz  kennt 
noch  die  alte  Struktur  des  Kanons,  wonach  die  Namensnennung 
nach  dem  Einsetzungsbericht,  der  Anamnese,  der  Darbringung  und 
Epiklese  stand. 

Des  Weiteren  zieht  B.  (p.  74  ff.)  für  unsre  These  eine  Stelle 
aus  einem  Briefe  Cölestins  I.  an  Theodosius  n.  v.  J.  432  heran,  auf 
die  auch  ich  schon  aufmerksam  gemacht  hatte  (meine  >  Studie  <  S.  35, 
Anm.  1).  Es  sind  die  Worte:  »Ecce  nunc  domus  Domini  orationibus 
vacant,  et  vestrum  per  omnes  ecclesias  Deo  nostro  oblatis  sacrificiis 
commendatur  Imperium c.  B.  versteht  die  Formel:  oblatis  sacrificüs 
von  der  Rubrik  Unde  et  memores.  Dagegen  hat  Funk  (Theol.  Quar- 
talschr.  1904,  615  f.)  bemerkt,  man  dürfe  den  Ausdruck  nicht  pressen; 
er  sei  dem  Zusammenhang  nach  sehr  wohl  vom  eucharistischen  Got- 
tesdienst überhaupt  zu  verstehen.  Allein  einmal  ist  das  nun  wieder 
eine  ungerechtfertigte  Abschwächung  des  Wortlautes;  und  sodann 
fragt  es  sich,  wie  die  Stelle  zu  übersetzen  ist.  Doch  ohne  Zweifel: 
>in  allen  Kirchen  empfehlen  (die  Priester  oder  die  Gläubigen)  euer 
Reich  unserm  Gotte  durch  die  dargebrachten  Opfere.  Das  com- 
mendare  will  doch  berücksichtigt  sein.  Die  commendatio  geschieht 
nicht  durch  Gebet  allein,  sondern  durch  die  Opfer,  die  Gott  darge- 
bracht smd  und  die  Gott  angenommen  hat  ^) ;  durch  sie  gewinnt  das 
Gebet  die  Bürgschaft  für  die  Erhörung.  Wir  haben  also  hier  genau 
denselben  Gedanken,  den  wir  soeben  in  der  Briefstelle  des  Innocenz 
gefunden  haben.  Ist  diese  meine  Auslegung  richtig,  so  spricht  in  der 
Tat  auch  dieses  Briefzitat  für  unsere  These.  Keineswegs  ist  die 
Briefstelle  so  leichter  Hand  zur  Seite  zu  schieben,  wie  Funk  meint. 
Und  ist  i.  J.  416  die  alte  Struktur  des  Kanons  nachweisbar,  so  ist 
es  sehr  wahrscheinlich,  daß  sie  auch  noch  432  vorhanden  war.  We- 
nigstens liegt  nicht  das  geringste  Anzeichen  vor,  daß  sie  in  der 
Zwischenzeit  verlassen  worden  sei. 

1)  Die  Konstruktion  ist  hier  also  genau  dieselbe  wie  in  der  Sekrete  bei  dem 
EvangeUsten  Johannes  im  Sacr.  Gelas. :  »Supplicationibus  apostolicis  beati  loannis 
evangelistae,  quaesomus,  ecciesiae  suae,  Domine,  commendetor  oblatioc  (ed. 
Wilson  p.  7). 


Bamnstark,  Litnrgia  Eomana  781 

Ferner  geht  B.  auf  die  auffallende  Tatsache  ein,  auf  die  ich  in 
meinem  Artikel:  >Messe<  in  der  Protest.  Realencyklopädie  (3.  Aufl. 
Bd.  12,  706)  hingewiesen  hatte,  die  ihm  aber  selbst  vorher  schon  ins 
Auge  gefallen  war,  daß  nämlich  im  Sacramentarium  Leonianum  in 
der  Pfingstmesse  das  Communicantes  dem  Hanc  igitur  folgt,  also  die 
umgekehrte  Ordnung  erscheint  wie  im  heutigen  Kanon.  Funk  hatte 
sich  dagegen  gewendet  (Histor.  Jahrb.  1903,  S.  301  f.),  daß  ich  daraus 
Kapital  für  meine  These  geschlagen  hatte.  B.  tritt  erneut  für  die 
Beweiskraft  dieser  Stelle  ein,  während  Funk  (Theol.  Quartalschr.  1904, 
S.  611  f.)  von  neuem  sich  bemüht,  sie  lahm  zu  legen.  Man  wird  zu- 
geben müssen,  daß  eine  sichere  Entscheidung,  ob  wir  oder  ob  Funk 
recht  hat,  nicht  gefällt  werden  kann.  Aber  zu  beachten  bleibt,  daß 
diese  eigentümliche  Anordnung  in  der  der  Taufe  folgenden  Messe 
erscheint.  Wie  leicht  ist  es  möglich,  daß  diese  besondere  Messe 
eine  alte  Anordnung  beibehielt,  während  sonst  schon  die  Umstellung 
üblich  war.  Ein  strikter  Beweis  ist  freilich  aus  dieser  Stelle  des 
Leonianums  nicht  zu  führen. 

Hatte  mir  B.  bisher  in  allem  Wesentlichen  zugestimmt,  so  erhebt 
er  von  nun  (p.  79  ff.)  an  lebhaften  Widerspruch  gegen  mich.  Gern 
gestehe  ich  zu,  daß  er  in  seiner  Kritik  mir  gegenüber  in  vielem 
recht  hat,  so  wenn  er  es  zurückweist,  daß  für  meine  These  einige 
Gebete  der  gallikanischen  Liturgie  herangezogen  werden  könnten. 
Aber  ich  bin  leider  nicht  in  der  Lage,  nun  meinerseits  seinen  posi- 
tiven Aufstellungen  in  den  wichtigsten  Punkten  zuzustimmen.  Seit 
ich  meine  erste  >  Studie  <  geschrieben  habe,  glaube  ich  mancherlei 
gelernt  zu  haben,  das  mich  über  B.  hinausführt.  Um  es  sofort  zu 
sagen,  was  mich  von  B.  trennt,  so  ist  es  dies:  B.  nimmt,  wie  auch 
ich  getan  habe,  als  den  Urtypus  der  römischen  Liturgie  den  der 
jerusalemischen  (Jakobus-)Liturgie  an.  Ich  bin  jetzt  der  Ueberzeu- 
gung,  daß  die  Jakobus-Liturgie  zwar  auf  die  römische  Liturgie  stark 
eingewirkt  hat,  daß  diese  aber  ursprünglich  dem  Typus  der  sogen, 
clementinischen  Liturgie  zugehört,  deren  für  uns  erreichbare  älteste 
Relation  im  8.  Buch  der  apost.  Konstitutionen  vorliegt  und  die  auch 
in  der  Byzantinischen  Basilius-Liturgie,  weniger  deutlich  in  der 
Chrysostomus-Liturgie  noch  weiterlebt.  In  der  Fortsetzung  meiner 
»Studien«  (Heft  II/III)  glaube  ich  für  diese  These,  daß  Roms  Liturgie 
ursprünglich  von  dement.  Typus  war,  den  ausführlichen  Erweis  er- 
bracht zu  haben. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  muß  ich  sofort  meinen  Widerspruch 
gegen  die  Behauptung  B.s  erheben,  man  könne  aus  I.  Gl.  34,  7  den 
Beweis  dafür  entnehmen,  daß  unmittelbar  auf  das  Trishagion  in  der 
'ältesten  römischen  Liturgie  der  Dank  für  die  Wohltaten  der  Erlö- 


1 


782  Gdit  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

suDg  gefolgt  sei.  GewiQ,  darin  hat  B.  recht,  in  der  ältesten  Stroktor 
des  römischen  Kanons  kann  auf  das  Trishagion  nicht  das  H&nc  igitor 
oblationem  gefolgt  sein.  Das  war  auch  meine  Meinung  nicht,  die 
ich  wohl  mißverständlich  ausgesprochen  habe,  wenn  ich  das  Wort 
> ursprünglich«  hier  brauchte  (>Studie<  I,  S.  25).  Allein  aus  I.  Gl. 
37,  y.  7  und  —  füge  ich  hinzu  —  v.  8  folgt  vielmehr  mit  ziemlicher 
Sicherheit,  daß  man  »die  großen  und  herrlichen  Verheißungen«,  von 
denen  Clemens  hier  spricht,  nicht  auf  die  Erlösung  beziehen  darf, 
sondern  auf  die  Segnungen,  die  durch  die  Eucharistie  verbürgt  werden. 
Vergleicht  man  nämlich  die  in  Betracht  kommenden  Liturgien  von 
clementinischem  Typus  unter  einander  und  mit  I.  Cl.  37,  7  u.  8,  so 
kann  es  kaum  zweifelhaft  sein,  daß  Clemens  hier  eine  Stelle  zitiert, 
die  in  dem  üblichen  Gebet  vor  der  Kommunion  vorgekommen  sein 
wird  *). 

Wenn  B.  weiter  die  drei  alten  Ueberleitungsformeln  zum  Trishagion 
im  Kanon  mit  den  entsprechenden  Formeln  im  Osten  vergleicht  und 
dabei  zu  dem  Schlüsse  kommt,  daß  auch  hier  die  Verwandtschaft 
mit  der  jerusalemer  Liturgie  handgreiflich  sei,  so  hat  er  völlig  recht. 
Dagegen  erscheint  es  mir  sehr  unwahrscheinlich,  daß  die  Formel: 
Per  Christum . . .  per  quem  ein  Rest  des  zweiten  Teiles  des  ursprüng- 
lichen eucharistischen  Gebetes  sei,  wie  es  sich  nach  dem  Trishagion 
fortgesetzt  habe,  in  Analogie  zur  jerusalemer  Liturgie.  Die  Formel 
sei  nur  eben  vor  das  Trishagion  geraten.  Wenn  man  nämlich  die 
Tatsache  ins  Auge  faßt,  daß  ursprünglich  das  ganze  große  euchari- 
stische  Gebet  in  Rom  analog  dem  Gebet  in  den  apost.  Konstitutionen 
VIII,  12  gestaltet  war,  und  daß  jedenfalls  diejenigen  Uebergänge  zum 
Trishagion  in  der  römischen  Liturgie,  in  denen  nicht  für,  sondern 
mit  der  Schöpfung  gedankt  wird,  auf  eine  spätere  Beeinflussung 
durch  die  jerusalemer  Liturgie  zurückgehen,  so  kann  das  per 
Christum  etc.  noch  sehr  wohl  der  Rest  eines  Passus  sein,  der  mit 
Ap.  Const.  VIII,  12,5  (Brightmann,  p.  15, 7flF.)  verwandt  war*). 

Ein  besonderes  Wort  muß  noch  über  die  Formel:  »Cum  quibus 
et  nostras  voces  ut  admitti  iubeas,  deprecamur  supplici  confessione 
dicentesc  gesagt  werden.  B.  meint,  daß  sie  ursprünglich  nach  dem 
Trishagion  der  Engel  gestanden  und  die  Einleitung  zu  dem  Vere 
sanctus,  das  er  auch  für  die  älteste  römische  Liturgie  als  sicher  an- 
nimmt, gebildet  habe.  Er  beruft  sich  zum  Beweis  dafür  vor  allem  ein- 
mal auf  die  kappadozische  Basilius-Liturgie  (Brightmann,  p.  325%  5  ff.), 
und  zwar  besonders  auf  die  Worte  (jLaxapicov  Sovdc|ie(iDv,  in  denen  er  eine 
Parallele  zu  dem  beata  Seraphim  in  der  röm.  Formel  sieht,  nnd  so- 

1)  Das  Nähere  vgl.  in  meinen  »Studienc  II/III,  S.  161  ff. 

2)  Vgl.  meine  »Studienc  n/m,  S.  182. 


Baumstark,  Liturgia  Romana  788 

dann  auf  I.  Gl.  34,  7*.  In  dem  hier  vorkommenden  ixtev&c  sieht  er 
die  Vorlage  fur  das  lateinische:  supplici  confessione.  Er  glaubt,  weil 
in  I.  Gl.  34  auf  das  Trishagion  (v.  6)  jene  Stelle  folgt,  die  ihm  als 
die  Grundlage  zu  dem  Gum  quibus  etc.  erscheint,  so  werde  auch 
ursprünglich  das  Gum  quibus  nach  dem  Trishagion  gestanden  haben. 
Allein  so  ohne  weiteres  läßt  sich  das  aus  I.  Gl.  nicht  herauslesen. 
So  sklavisch  braucht  sich  Glemens  in  seinem  Brief  nicht  an  die  Li- 
turgie gehalten  zu  haben  und  hat  er  sich  sicher  nicht  gehalten.  Nun 
liegt  aber  auch  gedanklich,  selbst  wenn  B.  mit  seiner  Deutung  des 
supplici  confessione  recht  hätte,  zwischen  I.  Gl.  34,  7*  und  der  Ea- 
nonsstelle  eine  tiefe  Kluft.  Und  es  läßt  sich  nicht  aus  der  Welt 
schaffen,  daß  der  Gedanke  der  römischen  Formel  eben  im  ägyptischen 
Typus,  von  dem  allerdings  prinzipiell  die  römische  Liturgie  ver- 
schieden ist,  wie  B.  mit  Recht  annimmt,  seine  greifbaren  Parallelen 
hat  (die  Stellen  bei  B.  S.  92  Anm.  1 ;  hinzuzufügen  ist,  noch  Serapi- 
onsgebete  I,  ed.  Wobbermin  p.  5, 10).  Nun  ist  aber  ein  doppeltes 
möglich:  Entweder  die  syrischen  Liturgien  haben  den  Gedanken  um 
freundliche  Annahme  des  Gememdelobgesangs  ursprünglich  auch  ge- 
habt, haben  ihn  aber  getilgt;  nur  Rom  hätte  ihn  dann  in  jenem 
Sätzchen  bewahrt.  Oder  aber  er  ist  wirklich  ein  spezifisch  ägypti- 
sches Gut,  und  dann  hat  Rom  eben  diese  Formel  von  Aegypten  her 
aufgenommen;  dann  ist  sie  aber  aus  der  ursprünglich  römischen  Li- 
turgie zu  tilgen.  Und  dies  letztere  ist  meine  Meinung.  Denn  ver- 
wunderlich wäre  es  doch,  wenn  dieser  Gedanke  in  der  syrischen  Li- 
turgie so  gründlich  getilgt  worden  wäre,  daß  keinerlei  Spur  davon 
noch  zu  entdecken  wäre. 

Von  nun  an  kann  ich  mich  in  meinem  Bericht  und  in  meiner 
Kritik  viel  kürzer  fassen.  Denn  wenn  B.  nunmehr  darangeht  (3.  Ka- 
pitel :  Supra  quae,  Supplices  e  Te  igitur ;  il  Nobis  quoque.  Duplicati 
nel  canon  missae  romano  depo  il  racconto  della  istituzione  p.  115 — 
156),  den  Gharakter  der  einzelnen  Kanonsgebete  zu  untersuchen  — 
und  darin  sieht  er  vieles  sehr  Richtige  —  und  sie  auf  ihre  Herkunft 
zu  prüfen,  so  sind  dies  Fragen,  die  ich  gleichzeitig  auch  in  meinen 
>  Studien <  Heft  H/III,  S.  130  ff.  behandele,  und  ich  kann  daher  auf 
sie  verweisen.  Wir  sind  insofern  verschiedener  Meinung,  als  B.  eine 
Reihe  von  Kanonsgebeten  (das  vorgregorianische  Hanc  igitur,  das 
Quam  oblationem,  den  größten  Teil  des  Supra  quae,  des  Supplices 
und  Teile  des  Nobis  quoque)  als  nichtrömisch  ansieht,  die  mir,  weil 
ich  in  der  dement.  Liturgie  den  Urtypus  der  römischen  Liturgie  er- 
kannt zu  haben  glaube,  in  ihrem  Kerne  alle  als  echt  römisch  er- 
scheinen. B.  läßt  sie  aus  einer  fremden  Liturgie  eindringen,  die  er 
erst  konstruieren  muß.    Daß  dies  für  seine  These  nicht  günstig  ist, 


784  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

liegt  auf  der  Hand.  Ebenso  ungünstig  steht  es  mit  seiner  Behaup- 
tung, daß  die  Fusion  des  römischen  mit  einem  ausländischen  Kanon 
Leo  der  Große  begonnen,  Gregor  der  Große  aber,  indem  er  die  Um- 
stellung vorgenommen  habe,  vollendet  habe.  Es  lohnt  sich  nicht, 
auf  diese  so  gut  wie  ganz  in  der  Luft  schwebenden  Thesen  näher 
einzugehen.  Auch  Morin  sagt  in  seiner  Besprechung  mit  Recht: 
>L'attribution  du  travail  de  fusion  ä  saint  L^on,  de  simplification  et 
de  transposition  ä  saint  Gr^goire,  repose,  on  pent  le  dire,  sur  de 
vraies  pointes  d'epingles^).<  Vorläufig  habe  ich  jedenfalls  keinen 
Grund,  von  meiner  These,  daß  Gelasius  I.  die  Umstellung  des  Kanons 
vorgenommen  habe,  abzugehen,  denn  sie  hat  ohne  Zweifel  stärkere 
Zeugnisse  der  Ueberlieferung  für  sich.  Ich  hatte  auf  den  Aufenthalt 
des  orthodoxen  Bischofs  von  Alexandrien,  Johann  TalaKa,  unter 
Felix  III.  und  Gelasius  I.  in  Rom  hingewiesen^.  Ich  stellte  es  als 
möglich  hin,  daß  auf  dessen  Einfluß  hin  der  zu  zweit  genannte  Papst 
die  römische'  Liturgie  nach  der  alexandrinischen  gestaltet  habe.  B. 
weist  diesen  Gedanken  als  ganz  verunglückt  ab.  Aber  wenn  nun 
der  Papst  dadurch,  daß  er  sich  auch  von  der  Liturgie  von  Byzanz 
lossagte,  deutlich  und  entschieden  seinen  Widerspruch  gegen  das 
ketzerische  Byzanz  zum  Ausdruck  bringen  wollte?  Ist  das  so  ganz 
undenkbar?  Hatte  nicht  Acacius  von  Byzanz  den  Namen  des  Pap- 
stes aus  den  in  der  Messe  zu  verlesenden  Diptychen  gestrichen? 
Konnte  es  nicht  sehr  wirkungsvoll  sein,  wenn  sich  Rom  auch  in  der 
Liturgie  von  Byzanz  lossagte  und  dafür  an  Alexandrien  anschloß? 
Gab  es  einen  lauteren  und  deutlicheren  Beweis  der  Parteinahme  des 
Papstes  für  die  Orthodoxie  Alexandriens  gegen  Byzanz?  So  halte  ich 
noch  immer  meine  Hypothese  für  erwägenswert.  Jedenfalls  hat  sie 
B.  durch  keine  irgend  bessere  ersetzt. 

Das  letzte,  das  vierte  Kapitel  (Roma,  Ravenna  ed  Aquileia. 
I  piü  antichi  monumenti  del  rito  detto  in  s6guito  patriarchino; 
p.  157 — 180)  setzt  alles  Bisherige  als  sicher  erwiesen  voraus  und 
baut  nun  munter  einen  luftigen  Bau  auf  dieser  unsicheren  Grundlage 
auf.  Den  bisher  allein  bekannten  liturgischen  Typen  Italiens,  dem 
römischen  und  Mailändischen,  setzt  B.  kühnlich  einen  bisher  vöUig 
unbekannten  an  die  Seite,  >perciocche  S.  Leone  M.  ha  certamente 
tolto  da  una  liturgia  italiana  gli  ampliamenti  fatti  da  lui  alia  patria 
anafora,  supposto  che  li  abbia  desunti  da  una  latina.  Ora  i  brani  in 
questione  del  nuovo  canon  romano  non  fanno  Timpressione  di  ver- 
sioni  dal  greco<  (p.  158).  So  viel  Sätze,  so  viel  unbewiesene  Be- 
hauptungen.   Denn  unbewiesen  ist  es,  daß  die  von  B.  als  fremdartig 

1)  Revue  Bdn^ctine,  1905,  p.  378. 

2)  »Studiec  I,  S.  38. 


Baumstark,  Liturgia  Romana  785 

bezeichneten  Gebete  des  Kanons  wirklich  nicht  römisch  sind  —  ich 
halte  sie,  wie  gesagt,  für  römisch  — ;  unbewiesen  ist  es,  daß  Leo  diese 
Fusion  vorgenommen  habe;  unbewiesen  ist  es,  daß  diese  angeblich 
fremdartigen  Stücke  in  einer  lateinischen  Liturgie  wurzeln  müßten. 
Aber  B.  ist  kühn  genug,  von  dieser  Basis  aus  auf  die  Suche  nach 
dieser  bisher  unbekannten  lateinischen  Liturgie  Italiens  auszugehen. 
Er  glaubt  sie  in  Ravenna  gefunden  zu  haben,  und  zwar  soll  sie  in 
der  pseudo-ambrosianischen  Schrift  de  sacramentis  enthalten  sein, 
deren  Verfasser  in  jener  wichtigen  norditalischen  Stadt  zu  suchen 
sei.  Leo  der  Große  habe  dann  die  Liturgie,  wie  sie  hier  bezeugt 
werde,  auf  die  römische  angewendet.  Das  sind  alles  nichts  mehr 
als  Vermutungen,  die  B.  zwar  mit  großer  Sicherheit  vorträgt,  die 
aber  nicht  ernst  genommen  werden  können.  Und  wenn  er  nun  gar 
Bildwerke  von  Ravenna  als  Belege  für  seine  These  heranzieht,  so 
folge  ihm  auf  diesem  unsicheren  Wege,  wer  den  Mut  dazu  hat.  Man 
habe  bisher  in  Rom  auf  keiner  bildlichen  Darstellung  Abel,  Abraham 
und  Melchisedek  vereinigt  gefunden,  während  diese  drei  tatsächlich 
in  Mosaiken  von  Ravenna  erscheinen.  Folglich,  so  schließt  B.,  ist 
die  Rubrik  Supra  quae,  in  der  jene  drei  alttestamentlichen  Gestalten 
erscheinen,  ravennisch,  nicht  römisch;  sie  fehlt  in  der  römischen 
Messe  vor  Leo  d.  Gr.  Allein,  wer  bürgt  dafür,  daß  nicht  morgen  in 
Rom  das  gleiche  Bild  zu  Tage  tritt?  Und  wer  bürgt  femer  dafür, 
daß  die  Mosaiken  von  Ravenna  nicht  schon  römisch  beeinflußt  sind? 
Aber  eins  fällt  besonders  ins  Gewicht,  was  B.  nicht  beachtet.  Jene 
drei  Namen  stehen  bereits  in  der  clementinischen  Liturgie,  und  zwar 
im  eucharistischen  Gebet  nahe  bei  einander  (Brightman,  p.  17,  15 f.: 
xal  too  |jiv  'AßäX  o)c  6o[oo  9rpoo56£d(jL6Voc  fyjv  ^ooiav;  17, 28 f.:  oo  ei  6 
töv  'Aßpaa(jL  ^i)oa(ievoc  icpOYOVixTjc  ^losßeiac  xal  xXt]pov6(jlov  too  x6o|i.oo 
xataotTJoac  xal  i[tyavtoac  aotcp  töv  y(fiiaz6y  ooo,  6  töv  MeX^toeSte  ^PX^" 
epda  o^c  Xatpeiac  icpox£tptod|i8voc).  Sodann  fahrt  auch  ein  Präfations- 
gebet  des  Leonianums  (ed.  Feltoe  p.  161)^)  jene  drei  an.  Wenn  ich 
nun  recht  habe  mit  meiner  Annahme,  daß  die  altrömische  Liturgie 
Clement.  Liturgie-Typus  trug  —  und  dafür  spricht  doch  eben  auch, 
daß  sowohl  in  der  Rubrik  Supra  quae,  als  auch  im  Leonianum  jene 
drei  Männer  genannt  werden,  während  in  keiner  andren  alten  Litur- 
gie diese  drei  zusammenstehen  — ,  so  dürfte  auch  jenes  Stück  von 
Supra  quae  auf  einer  altrömischen  Vorlage  beruhen.  Jedenfalls  ist 
gegen  diese  Vermutung  aus  den  Bildwerken  Roms  oder  Ravennas 
kein  irgendwie  stichhaltiger  Beweis  zu  führen. 

So  glaubt  B.,  die  Liturgie  von  Ravenna  entdeckt  und  sicher  in 
der  Hand  zu  haben,  so  sicher,  daß  er  sogar  im  Anhang,  wo  er  die 
verschiedenen  liturgischen  Typen  des  Kanons  in  Paralleldruck  wieder- 

1)  Vgl  meine  »Stadiet  I,  S.  21,  Anm.  1. 


786  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

gi^bt,  den  Kanon  von  Ravenna  (unter  B)  uns  zu  bieten  wagt.  Kein 
Wunder,  daß  seine  Kombinationsgabe  nun  noch  weitergreift:  er  glaubt 
mit  dieser  Liturgie  von  Ravenna  den  sogen,  ritus  patriarchinus,  der 
in  Aquileja  und  dessen  Gebiet  herrschend  gewesen  sein  soll,  in  Ver- 
bindung bringen  zu  können.  Hier  fehlt  freilich  jegliche  Einzelunter- 
suchung, und  unsere  Ueberzeugung,  daß  es  sich  hier  doch  wohl  um 
den  Mailändischen  Typus  handle,  wird  durch  nichts  erschüttert.  Denn 
auch  der  letzte  Punkt,  den  B.  behandelt,  und  der  zur  Stütze  seiner 
These  dienen  soll,  steht  auf  so  schwankenden  Füßen,  daß  er  das  Un- 
sichere sicher,  ja  auch  nur  wahrscheinlich  zu  machen,  nicht  im  Stande 
ist.  Nämlich  das  Sakramentarium  von  Brescia  aus  dem  neunten  Jahr- 
hundert, das  Ebner  (Missale  Romanum;  Iter  Italicum,  1896,  S.  22  f.) 
beschreibt,  enthält  ein  langes  Hanc  igitur,  das  der  Ueberschrift  in 
der  Handschrift  nach  von  Paulinus  von  Aquileja  eingefugt  sei  (Ebner 
a.a.O.  S.  415f.).  Das  mag  richtig  sein.  Aber  folgt  daraus,  daß  wir 
es  hier  mit  einem  echten  Stück  des  von  B.  entdeckten  Liturgie-Typus 
zu  tun  haben?  Kann  das  Gebet  in  seinem  Grundstock  nicht  sehr 
gut  römisch  oder  auch  mailändisch  sein? 

So  muß  ich  die  Lösung,  die  B.  für  das  Problem  der  Entstehung 
des  römischen  Kanons  bietet,  ablehnen.  Gewiß,  ohne  Hypothesen, 
ja  ohne  kühne  Hypothesen  wird  man  hinter  die  Entstehung  der  rö- 
mischen Messe,  wie  überhaupt  hinter  die  Entwicklung  der  alten  Li- 
turgien nicht  kommen.  Aber  reine  Luftschlösser  soll  man  nicht 
bauen.  Ich  fürchte  aber,  daß  B.  dieser  Gefahr  an  nicht  wenigen 
Stellen  seines  lehrreichen  Buches,  vor  allem  im  zweiten  Teil,  erlegen 
ist.  Uebrigens  bleibt  die  Frage,  wie  denn  nun  eigentlich  der  alexan- 
drinische  Typus  auf  Gregor  d.  Gr.,  den  ja  B.  als  den  Umsteller  der 
Kanonsstruktur  ansieht,  so  habe  einwirken  können,  daß  er  ihm  fol- 
gend den  Kanon  gestaltete,  ganz  bei  Seite  liegen. 

Wir  werden  also  im  Ganzen  durch  B.  nicht  über  den  Punkt 
hinausgeführt,  bis  zu  dem  uns  meine  erste  >Studie<  bereits  gebracht 
hatte.  Er  hat  Verbesserungen  im  Einzelnen  und  viele  Anregung  ge- 
boten, das  erkenne  ich  gern  dankbarst  an,  aber  so  sehr  er  sich  auch 
mir  gegenüber  auf  das  hohe  Pferd  setzt,  seinen  Untersuchungen  und 
seinen  Ergebnissen  werden  wenige  Gefolgschaft  leisten. 

Nicht  unerwähnt  kann  ich  lassen,  daß  sich  in  den  Stellenangaben 
in  den  Anmerkungen  viele  Ungenauigkeiten  finden.  Aus  den  von 
mir  nachgeprüften  Stellen  könnte  ich  eine  ziemlich  stattliche  Reihe 
von  Korrekturen  zusammenstellen. 

Das  Buch  ist  dem  Papste  gewidmet.  Deshalb  erfreut  es  sich 
wohl  einer  so  selten  vornehmen  Ausstattung. 

Gießen  P.  Drews 


Haassleiter,  Zwei  apostol.  Zeugen  f.  d.  Johannesevangeliam  787 


Johannes  Haassleiter,  Zwei  apostolische  Zeugen  für  das  Johannes- 
Evangelium.    München  1904.    C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung.    58  S. 

Karl  Horn,  Abfassungszeit,  Geschichtlichkeit  und  Zweck  von 
Evang.  Joh.  Kap.  21.  Leipzig  1904.  A.  Deichert'sche  Verlagsbuchhandlung. 
XII,  199  S. 

Die  beiden  Schriften  von  Haussleiter  und  Horn  behandeln  das 
gleiche  Thema,  denn  auch  die  Haussleitersche  Schrift  beschäftigt 
sich  mit  dem  Schlußkapitel  des  vierten  Evangeliums.  Beide  sind  im 
Geiste  der  Rechtgläubigkeit  verfaßt  und  kommen  auf  verschiedenem 
Wege  zu  nahe  beieinander  liegenden  Zielen  oder  vielmehr  sie  ver- 
teidigen, jede  auf  ihre  Weise,  zwei  sich  nah  berührende  Behaup- 
tungen. 

Mit  größerem  Anspruch  tritt  die  kleinere  Schrift  auf.  Sie  ver- 
spricht nichts  geringeres,  als  die  Frage  nach  dem  Ursprung  und 
Urheber  des  Evangeliums  durch  die  Autorität  der  berufensten  Zeugen 
zu  entscheiden  (S.  1). 

Ich  stelle  fest,  daß  hier  ausdrücklich  die  Frage  nach  der  Ur- 
heberschaft des  vierten  Evangeliums  anerkannt  und  somit  das  Zeugnis 
der  Ueberlieferung  nicht  ohne  weiteres  als  genügend  angesehen  wird. 
Es  wird  vielmehr  eine  neue  und  einwandsfreie  Entscheidung  ange- 
strebt. Das  strittige  6  YP<*^ac  taöta  21, 24  wird  auf  c.  1—20  einge- 
schränkt und  der  Nachweis  versucht,  daß  die  Verfasser  des  Schluß- 
kapitels die  beiden  Apostel  Andreas  und  Philippus  seien.  Es  ist 
klar,  daß  alles  darauf  ankommt,  wie  dieser  Nachweis  geführt  wird. 
Wird  eine  sichere  Kunde  an  irgend  einem  Orte  außerhalb  des 
Evangeliums  nachgewiesen,  daß  Andreas  und  Philippus  das  Schluß- 
kapitel verfaßt  haben,  schön,  so  haben  wir  ein  Zeugnis  dieser  Apostel 
für  die  Urheberschaft  des  Evangeliums.  Es  ist  dann  nur  noch  nach- 
zuweisen, wer  der  Jünger  war,  den  der  Herr  lieb  hatte,  es  sei  denn, 
daß  man  dies  ohne  weiteres  für  ausgemacht  hält.  Ist  aber  ein 
äußeres  Zeugnis  nicht  zu  finden,  so  kann  es  sich  nur  darum  handeln, 
aus  dem  21.  Kapitel  selbst  durch  innere  Gründe  seine  Verfasser  zu 
ermitteln.  Gelingt  dies,  so  wäre  ein  Zeugnis  gewonnen,  dem  zwar 
die  äußere  Beglaubigung  fehlte,  das  aber  durch  seine  innere  Kraft 
um  so  stärker  ins  Gewicht  fallen  möchte.  H.  hat,  da  ihm  nicht 
etwa,  wie  man  nach  dem  Titel  des  Buches  vermuten  könnte,  ein  sen- 
sationeller Fund  geglückt  ist,  den  zweiten  Weg  betreten.  Aber  er 
hat  dabei,  ohne  es  zu  merken,  seinem  Nachweis  die  Kraft  genommen, 
das  zu  erhärten,  worauf  es  ihm  doch  ankam,  nämlich  den  johannei- 
schen  Ursprung  des  Evangeliums,  indem  er  bei  seinem  Nachweis 
diesen,  den  er  doch  erst  sicherstellen  wollte,  vielmehr  schon  voraus- 

QOti.  gaL  Ans.  1900.  Nr.  10  55 


788  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

setzte.  Denn  er  hat  das  Schlußkapitel  nicht  losgelöst  von  dem  E?aD- 
gelium  betrachtet,  sondern  im  engsten  Zusammenhang  mit  diesem 
und  zwar  so,  daß  er  nicht  sowohl  bewies  als  behauptete,  daß  dieses 
von  einem  Augenzeugen  aus  dem  Kreis  der  Zwölfe  geschrieben  und 
daß  dieser  Augenzeuge  der  Zebedaide  Johannes  sei,  und  erst  aus 
dieser  Behauptung  hat  er  gefolgert,  daß  das  Schlußkapitel  von  An- 
dreas und  Philippus  hinzugefügt  sei. 

Es  ist  also  in  Wahrheit  in  der  Schrift  von  H.  nicht  sowohl  die 
Rede  von  dem  Zeugnis  des  Schlußkapitels  für  die  Urheberschaft  des 
Evangeliums  als  vielmehr  von  einem  Zeugnis  des  Evangeliums  für 
die  Urheberschaft  des  Schlußkapitels.  Daraus  ergibt  sich,  daß  fur 
das  eigentliche  Evangelium  auf  keinen  Fall  etwas  gewonnen  ist, 
möglicherweise  aber  etwas  für  das  Schlußkapitel,  wenn  der  Zu- 
sammenhang zwischen  beiden  ein  solcher  ist,  daß  er  einen  Schluß 
von  der  Autorschaft  des  einen  auf  die  des  andern  zuläßt.  Da  aber 
H.  davon  ausgegangen  ist,  daß  das  Evangelium  sich  selbst  als 
johanneisch  bezeuge,  dieses  vermeintliche  Selbstzeugnis  aber  auf  seine 
Wahrheit  nicht  geprüft  hat,  so  können  seine  Folgerungen  im  besten 
Falle  nur  eine  bedingte  Gültigkeit  haben.  Denn  angenommen,  es 
wolle  das  Evangelium  von  Johannes  und  das  Schlußkapitel  von  An- 
dreas und  Philippus  verfaßt  sein,  so  brauchten  sie  doch  darum  tat- 
sächlich gar  nicht  beide  verschiedene,  sondern  könnten  sehr  wohl 
denselben  Verfasser  haben,  der  eben  diesen  Schein  hervorrufen  wollte. 
Das  ist  aber  das  Resultat,  auf  welches  man  geführt  wird,  wenn  man 
H.S  Voraussetzungen  anerkennt. 

H.  findet  nämlich,  daß  Joh.  1,35  ff.  der  Name  des  Johannes  in 
durchsichtiger  Weise  verschleiert  und  daß  mit  ihm  der  Jünger,  den 
der  Herr  lieb  hatte,  identisch  sei.  Dieselbe  Art  durchsichtiger  Ver- 
schleierung ist  nach  seiner  Meinung  auch  in  dem  Schlußkapitel  an- 
gewendet, wo  neben  Simon  Petrus,  Thomas,  Nathanael  und  den 
beiden  Söhnen  des  Zebedaeus  zwei  Jünger  ohne  Namen  eingeführt 
werden,  in  welchen  beiden  er  eben  Andreas  und  Philippus  deutlich 
zu  erkennen  glaubt.  In  dieser  Uebereinstimmung  aber  sieht  er  >das 
bedeutsamste  Moment  des  Johanneischen  oder  Johannisierenden  der 
Darstellung.  €  Wenn  aber  diese  beiden  ungenannten  Jünger  Andreas 
und  Philippus  seien,  so  seien  sie  auch  die  Verfasser  des  Schluß- 
kapitels, und  eben  diesen  Zusammenhang  zwischen  der  Anonymität  der 
beiden  Jünger  und  der  Verfasserschaft  des  Nachtrags  findet  er  echt 
johanneisch  (S.  41).  Gesetzt,  es  wäre  das  bewiesen  und  es  wäre 
wirklich  das  gleiche  schriftstellerische  Raffinement  in  dem  Schluß- 
kapitel wie  in  dem  Evangelium  selbst  angewendet,  so  müßte  man 
doch  fragen,  welchen  Orund  zwei  Apostel  zu  einem  solchen  Verfahren 


Haassleiter,  Zwei  apostol.  Zeugen  f.  d.  Johannesevangeliam  789 

gehabt  hätten,  die  als  ebenbürtige  Zeugen  für  ihren  Mitjünger  ein- 
treten wollten  und  dem  Evangelium  zugleich  eine  von  diesem  nicht 
beabsichtigte  Ergänzung  gaben.  Hätte  das  Schlußkapitel  wirklich 
einen  so  echt  johanneischen,  d.  h.  so  sehr  im  Geiste  des  Evangeliums 
gehaltenen  Zug,  so  läge  es  doch  näher,  dem  Verfasser  des  Evan- 
geliums auch  das  Schlußkapitel  zuzuschreiben,  in  welchem  Falle 
freilich  schwerlich  H.  in  ihm  den  Apostel  würde  sehen  wollen. 

Die  Annahme  aber,  daß  Schlußkapitel  und  Evangelium  von  dem- 
selben Verfasser,  aber  nicht  von  Johannes  sind,  legt  H.  unabsichtlich 
gleich  von  vornherein  nahe.  Seine  ganze  Argumentation  geht  von 
dem  Gedanken  aus,  daß  in  dem  vierten  Evangelium  auf  das  Zeugnis 
ein  ganz  besonderer  Wert  gelegt  und  die  Forderung  anerkannt 
werde,  daß  ein  Zeugnis  unter  Umständen  auch  beglaubigt  werden 
müsse.  >Wenn  der  Evangelist  sich  mit  den  ersten  Jüngern  Jesu  zu- 
sammenschließt, wer  beglaubigte  sein  Zeugnis  ?<  fragt  H.  und  er 
stellt  die  Beglaubigung,  die  Jesus  8,18  für  sich  geltend  macht,  mit 
der  Beglaubigung  in  Parallele,  die  das  Zeugnis  des  Evangelisten  in 
dem  Schlußkapitel  erfährt  (S.  14).  Wenn  aber  das  Evangelium  wirk- 
lich der  Beglaubigung  bedarf,  die  ihm  in  dem  Schlußkapitel  erteilt 
wird,  so  sieht  es  doch  ganz  so  aus,  als  wenn  das  Evangelium  von 
vornherein  auf  dies  Kapitel  angelegt  sei.  Da  dies  nun  aber  in  Wirk- 
lichkeit nur  möglich  war,  wenn  der  Verfasser  des  Evangeliums  mit 
denen,  die  es  beglaubigen  sollten,  also  nach  H.  Johannes  mit  An- 
dreas und  Philippus,  sich  sogleich  ins  Emvemehmen  setzte,  H.  aber 
diese  Annahme  ausdrücklich  ablehnt  (S.  34  ff.),  so  sehe  ich  nicht 
ein,  was  anders  übrig  bleibt,  als  die  Annahme  einer  schriftstellerischen 
Fiktion. 

Zeigt  sich,  daß  man  auf  logischem  Wege  von  den  angenommenen 
Voraussetzungen  zu  ganz  andern  als  den  gewünschten  und  ver- 
heißenen Resultaten  gelangt,  so  ist  es  kaum  nötig,  sich  auf  die 
Voraussetzungen  selber  einzulassen.  Diese  stehen  zudem  mit  meiner 
eigenen  Auffassung  des  Evangeliums  in  einem  solchen  Widerspruch, 
daß  ich  fürchten  muß,  ihnen  nicht  gerecht  werden  zu  können.  Ich 
will  daher  nur  kurz  andeuten,  was  ich  dagegen  einzuwenden  habe. 

Nach  meiner  Meinung  kann  man  den  Verfasser  des  Evangeliums 
nicht  stärker  mißverstehen,  als  wenn  man  ihm  zutraut,  er  habe  eine 
Beglaubigung  von  menschlicher  Seite  für  zulässig,  geschweige  denn 
für  wünschenswert  oder  gar  nötig  gehalten.  Es  ist  doch  von  Zeugnis 
in  dem  vierten  Evangelium  nur  darum  so  viel  die  Rede,  um  zu 
beweisen,  das  es  ein  Zeugnis  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des 
Wortes,  so  wie  es  das  Gesetz  vorschreibt,  von  dem  eingebornen 
Sohne  des  Vaters  nicht  geben  kann,  sondern  daß  der  Sohn  sich 

65* 


790  Gott  gel  Adz.  1906.  Nr.  10 

selbst  als  solchen  bezeugt  hat,  und  dadurch  daß  er  es  getan  hat,  ihn 
zugleich  der  Vater.  Der  Evangelist  aber  stellt  Jesus  Christus  mit 
und  in  seiner  Umgebung  so  dar,  wie  er  ist  und  wie  er  sich  zeigen 
mußte.  Er  gibt  im  Wort  ein  unmittelbares  Bild  von  ihm ;  wozu  soll  das 
bezeugt  werden,  da  es  sich  doch  dem  Gläubigen  eben  so  durch  sich 
selbst  bezeugt,  wie  das  Urbild  es  tat? 

Der  Evangelist  bezeugt,  was  er  gesehen  hat,  und  er  weiß,  daß 
es  wahr  ist,  weil  er  den  Geist  hat  und  weil  es  mit  der  Schrift 
stimmt  (auf  die  ganz  unmögliche  Interpretation  von  19,35  auf  S.  27 
kann  ich  mich  hier  nicht  einlassen).  Nicht  darauf,  daß  er  zeugt, 
sondern,  was  er  zeugt,  kommt  es  an.  Er  hat  alles  geschaut  als  der 
Jünger,  den  der  Herr  lieb  hat,  aber  er  ist  nicht  dieser  oder  jener 
von  den  Zwölfen.  Es  ist  nirgendwo  im  Evangelium  gesagt  und  auch 
nicht  angedeutet,  daß  dieser  Jünger  der  Zebedaide  Johannes  sei. 
Wenn  H.  sagt,  die  Exegese  von  1,35  bis  42  zeige,  daß  das  eine 
Brüderpaar,  von  dem  dort  die  Rede  ist,  Andreas  und  Simon  Petrus, 
das  andere  Johannes  und  Jakobus  sei  (S.  44,  vgl.  S.  4  f.),  so  ist  da- 
gegen zu  bemerken,  daß  aus  dem  Satze  v.  42  »dieser  (nämlich  An- 
dreas) fand  zuerst  seinen  eignen  Bruder«  (wo  die  Handschriften 
zwischen  np&zov  und  icpcdtoc  schwanken,  eine  Differenz,  die  aus 
Gründen  handschriftlicher  Autorität  nicht  entschieden  werden  kann), 
keineswegs  mit  Notwendigkeit  folgt,  daß  der  zweite  von  den  beiden 
V.  35  erwähnten  Jüngern,  der  ungenannt  bleibt  und  von  dem  nicht 
weiter  die  Rede  ist,  darauf  gleichfalls  seinen  Bruder  gefunden  habe. 
Gesetzt  aber,  es  wäre  v.  42  wirklich  so  zu  interpretieren  und  es 
hätte  der  vierte  Evangelist  eben  das  Brüderpaar  Jakobus  und  Jo- 
hannes im  Auge,  so  möchte  ich  wissen,  wer  mir  beweisen  will,  der 
Evangelist  habe  gemeint,  Johannes  habe  den  Jakobus  und  nicht  etwa 
Jakobus  den  Johannes  gefunden.  Ich  meine,  Jakobus  hätte  genau 
denselben  Anspruch,  unter  dem  ungenannt  bleibenden  Jünger  ver- 
standen zu  werden.  Also  gerade,  wenn  man  in  v.  42  eine  Andeutung 
der  Zebedaiden  findet,  so  kann  man  nicht  annehmen, .  daß  der  Ver- 
fasser des  Evangeliums  sich  v.  35  habe  verstecken  wollen,  da  man 
ja  aus  der  Situation  allein  unmöglich  erschließen  könnte,  welcher  von 
den  beiden  Zebedaiden  gemeint  wäre. 

Wenn  nun,  unter  einer  mehr  als  unsicheren  Voraussetzung, 
1,35  ff.  eine  Andeutung  der  Zebedaiden  vorliegt,  so  ist  dagegen  auf 
keine  Weise  einzusehen,  warum  wir  21,2  für  die  beiden  hier  unge- 
nannt bleibenden  Jünger  just  auf  Andreas  und  Philippus  raten  sdlen. 
Wenn  H.  sagt,  wir  würden  auf  den  Anfang  des  Evangeliums  zurück- 
gewiesen (S.  44),  so  ist  dagegen  zu  erwidern,  daß  1,35  ff.  von  fünf, 
resp.  sechs  Jüngern  die  Rede  ist,  21, 1  dagegen  von  sieben;  daß  von  dies» 


HaoBsldter,  Zwei  apostol.  Zeugen  f.  d.  Johannesevangeliom  791 

im  1.  Kap.  bestimmt  genannt  nur  zwei  werden,  nämlich  Petrus  und 
Nathanael,  daß  aber  der  c.  21  genannte  Thomas  c.  1  nicht  genannt 
wird.  Aber  wären  auch  v.  2  Andreas  und  Philippus  gemeint,  so  ist 
doch  völlig  unerfindlich,  warum  daraus  folgen  sollte,  daß  diese  beiden 
auch  die  Verfasser  des  Kapitels  sind.  Was  H.  zugunsten  des  Andreas 
anzuführen  hat  —  denn  für  Philippus  hat  er  überhaupt  nichts  anzu- 
führen, daher  es  denn  auch  heißt,  der  eigentliche  Erzähler  sei  An- 
dreas gewesen  (S.  45)  — ,  nämlich  daß  grade  Andreas  als  Bruder  ein 
Interesse  daran  gehabt  hätte,  von  der  Rehabilitierung  des  Petrus  zu 
reden  und  dgl.  mehr,  so  lohnt  es  wirklich  nicht,  sich  dabei  aufzu- 
halten. Was  sollten  aber  Andreas  und  Philippus  oder  irgend  welche 
anderen  Apostel  bezeugen,  wenn  das  Evangelium,  wie  H.  meint,  das 
Oesamtzeugnis  der  Apostel  zum  Ausdruck  bringt?  Stellt  es  sich 
nicht  durch  sich  selbst  als  solches  hinlänglich  sicher  dar,  so  kann  es 
auch  nicht  durch  ein  Zeugnis  aus  diesem  Kreise  an  Sicherheit  ge- 
winnen, das  seinerseits  erst  wieder  erschlossen  werden  muß.  Nun 
soll  aber  nach  der  eigenen  Meinung  des  Evangelisten  dies  Gesamt- 
zeugnis auch  einer  Beglaubigung  gar  nicht  bedurft  haben  (S.  34), 
aber,  meint  H.,  der  scharfe  und  gefährliche  Gegensatz  —  darunter 
versteht  er  Kerinth  und  Genossen  — ,  gegen  den  sich  das  Zeugnis 
19,35  richte,  habe  die  Bezeugung  von  Augenzeugen  nötig  gemacht 
(S.  37).  Aber  gerade  für  dieses  Zeugnis  konnten  weder  Andreas  und 
Philippus  noch  sonst  wer  als  Augenzeugen  eintreten,  da  es  einen 
Vorgang  betrifft,  den  der  Evangelist  ganz  allein  erlebt  hatte. 

Wenn  nun  ferner  dem  Gesamtzeugnis  das  Zurücktreten  des  ein- 
zelnen >Ich<  zur  Beglaubigung  dient,  wie  H.  sagt  (S.  21),  so  be- 
greift man  um  so  weniger,  warum  die  Zeugen  für  den  Evangelisten  sich 
ebenfalls  in  Anonymität  hüllen,  da  sie  doch  kein  Gesamtzeugnis  zum 
Ausdruck  bringen.  Freilich  haben  nach  H.  Andreas  und  Philippus 
gerade  dadurch,  das  sie  ihre  Namen  verhüllt  haben,  Sorge  dafür 
getragen,  daß  man  sie  kennen  kann  (S.  49) ;  aber  man  muß  doch 
sagen,  daß  sie  damit  keinen  sonderlichen  Erfolg  gehabt  haben,  wenn 
es  erst  im  Anfang  des  20.  Jahrhunderts  dem  Scharfsinn  eines  Theo- 
logen gelang,  die  Welt  über  ihre  Absicht  aufzuklären. 

Ueber  die  zweite  Schrift  kann  ich  mich  kürzer  fassen.  Auch 
Horn  nimmt  an,  daß  Kap.  21  ein  zu  Lebzeiten  des  Apostels  Johannes 
geschriebenes  Nachtragkapitel  sei.  Aber  nach  ihm  ist  es,  wenn  auch 
nicht  unmittelbar  aus  der  Feder  des  Johannes  geflossen,  so  doch  in 
seinem  Auftrag  und  auf  Grund  seiner  Erzählung  von  Männern  nieder- 
geschrieben, die  ein  Urteil  über  die  Geschichtlichkeit  des  johannei- 
schen  Berichtes  haben  konnten  (S.  77).  Er  nimmt  an,  daß  dies  die 
ephesinischen  Presbyter  waren,  daß  unter  jenen  Männern  auch  Augen- 


792  Gott  sei.  Ans.  1906.  Nr.  10 

zeugen  gewesen  seien  und  nennt  vermutungsweise  eben  die  Apostel, 
die  Haussleiter  für  die  Verfasser  des  Kapitels  erklärt  (S.  29  Anm.  5). 
Horn  setzt  sich  vorzugsweise  mit  fremden  Meinungen  auseinander, 
am  eingehendsten  mit  der  Rohrbachschen  Hypothese,  daß  Kap.  21 
eine  Umgestaltung  des  verlorenen  echten  Markusschlusses  sei.  In  der 
Kritik  dieser  Hypothese  scheint  mir  H.  in  manchen  Punkten  Recht 
zu  haben,  aber  seine  eigenen  Ansichten  lassen  sich  nicht  diskutieren. 
Wenn  er  meint,  das  Schlußkapitel  sollte  >die  unbedingte,  aber  ge- 
segnete Abhängigkeit  der  Jünger  von  ihrem  souveränen  Herrn  <  ver- 
anschaulichen, und  erklärt,  in  der  Erzählung  des  Fischzuges  zeige 
sich  »wie  erforderlich,  aber  auch  wie  gesegnet  es  sei,  wenn  eben  die 
Jünger  alles  Eigenwählen  dem  Willen  ihres  Meisters  unterordnen«, 
so  mögen  solche  Betrachtungen  von  der  Kanzel  herab  vielleicht  der 
frommen  Einfalt  erbaulich  klingen,  aber  mit  wissenschaftlicher  Exe- 
gese haben  sie  nichts  zu  tun. 

Wihnersdorf  bei  Berlin  P.  Corssen 


Haas  LIetmmui,  Apollinaris  von  Laodicea  and  seine  Schole. 
Texte  und  Untersuchongen.  I.  Tubingen,  J.  C.  6.  Mohr  (F.  Siebeck)  1904. 
XVI  u.  323  S.    8».    9  Mk. 

Die  Göttinger  Gesellschaft  der  Wissenschaften  hat  vor  10  Jahren 
die  Sammlung  und  Untersuchung  der  Hinterlassenschaft  des  ApolU- 
naris  als  Preisaufgabe  gestellt,  und  dadurch  H.  Ldetzmann  anger^ 
diese  ebenso  große  Anforderungen  an  den  Bearbeiter  stellende  wie 
dringend  notwendige  Arbeit  zu  wagen.  Dräsekes  Monographie  über 
ApoUinarios  von  Laodicea  1892  hatte  mehr  Verwirrung  als  Klarheit 
geschaffen;  hier  galt  es,  durch  die  vorsichtigste  Verwertung  des 
Ueberlieferten  einmal  erst  sichere  Grundlagen  zu  schaffen,  die  auf 
Apollinaris  und  seine  Schüler  zurückgehenden  Texte  in  zuverlässiger 
Gestalt,  soweit  das  bei  solchen  Fragmenten  möglich  ist,  vorzulegen,  an 
der  Hand  dieser  Quellen  zu  prüfen,  wie  weit  die  kirchlichen  Bericht- 
erstatter über  Apollinaris  und  seine  Schule  Glauben  verdienen,  die 
>  Jagd«  aber  nach  anonymen  oder  pseudonvmen  Schriften  des  4.  Jahrb., 
die  vielleicht  apolllnaristischen  Ursprungs  sein  könnten,  der  Zukunft 
vorzubehalten. 

Im  Unterschied  von  G.  Voisin,  der  1901  in  seinem  Werke 
TApoUinarisme  mehr  literar-  und  dogmengeschichtliche  Unter- 
suchungen anstellti  bat  sich  Lietzmann  in  erster  Linie  bemüht,  die 
vorhandenmi  »apoDinaristischen«   Texte  in  einer  Mustenrasgibe  xn 


H.  Lietzmann,  Apollinaris  und  seine  Schule  793 

edieren.  Von  entbehrlichem  Ballast  bat  er  diese,  ohnehin  bei  der 
Sprödheit  des  Stoffes  nicht  bequem  zu  genießende,  Sammlung  frei- 
halten können,  weil  gleichzeitig  die  Göttinger  Gesellschaft  in  ihren 
Abhandlungen  (phil.-hist.  Klasse  N.  F.  VII 4)  die  von  Flemming  und 
Lietzmann  bearbeiteten  syrischen  Uebersetzungen  apoUinaristischer 
Texte  mit  den  Versuchen  griechischer  Rekonstruktion  erscheinen  ließ. 
Hier,  S.  166—322,  sind  es  ganz  überwiegend  griechische  Urtexte,  die 
uns  geboten  werden,  nur  Weniges  ist  blos  in  lateinischer  oder  syrischer 
bzw.  arabischer  —  dies  wird  uns  in  deutscher  Sprache  zugänglich 
gemacht  —  Uebersetzung  vorhanden;  doch  haben  wir  blos  einen 
ersten  Band  vor  uns,  der  die  dogmatischen  Schriften  und  Fragmente 
von  solchen  enthält ;  ein  zweiter  wird  (außer  den  Registern)  die  exe- 
getischen Fragmente  und  >eine  etwaige  Nachlese«  bringen;  von 
einer  Darstellung  der  Theologie  des  Apollinaris  scheint  L.  in  diesem 
Zusammenhang  Abstand  zu  nehmen.  Von  den  4  Kapiteln,  die  in 
unserem  Bande  den  Texten  vorangehen,  bildet  das  letzte  (S.  129 — 163) 
die  zu  einer  wissenschaftlichen  Textausgabe  unentbehrliche  Einleitung; 
die  Schriften,  die  nachher  folgen,  werden  in  der  gleichen  Reihenfolge 
wie  im  zweiten  Teil  genannt,  charakterisiert,  soweit  es  angeht,  der 
Gedankengang  aufgezeigt,  die  Anhaltspunkte  zur  Bestimmung  von  Ab- 
fassungszeit, Veranlassung,  Tendenz,  eventuell  der  Adressaten,  und  was 
über  den  Zustand  ihrer  Erhaltung  zu  sagen  ist,  mitgeteilt.  Vielfach 
empfängt  dies  Kapitel  eine  Ergänzung  aus  UI  (S.  79—128),  wo  in 
einheitlicher  Darstellung  die  Ueberlieferung  der  apoUinaristischen 
Schriften  beschrieben  wird.  Klar  wird  da  unterschieden  zwischen 
den  Fragmenten,  welche  uns  Zeitgenossen  in  direkter  Polemik  gegen 
den  Apollinarismus  gerettet  haben,  und  den  weit  zahlreicheren,  die 
den  Interessen  des  monophysitischen  Kampfes  ihr  Fortleben  verdanken, 
teils,  wie  bei  Theodoret,  herangezogen  unter  ihrem  echten  Namen, 
um  den  Monophysitismus  als  Nachgeburt  einer  längst  abgetanen  Hä- 
resie zu  diskreditieren,  teils,  wie  bei  Cyrill,  unter  den  hochtönenden 
Namen  orthodoxer  Größen  wie  Gregorius  Thaumaturgus,  um  die  eigne 
Theologie  damit  zu  stützen.  Also  hat  inzwischen  der  Kunstgriff  der 
Apollinaristen,  die  Bücher  ihrer  Lehrer  unter  fremden  Namen  in  An- 
sehen zu  erhalten,  oder  geradezu  unter  den  Namen  unangefochtener 
Orthodoxer  aus  älterer  Zeit  ihre  Lieblingssätze  in  neuer  Darstellung 
vorzulegen,  Erfolg  gehabt:  zum  ersten  Mal  wird  i.  J.  452  ein  Zweifel 
an  der  Echtheit  dieser  >  Zeugnisse  <  laut,  und  mit  Leontius  nach  500, 
dessen  Werk  Kaiser  Justinian  gründlich  fortsetzt,  beginnt  die  Auf- 
deckung dieser  dem  Ansehen  des  Monophysitismus  nun  natürlich  blos 
noch  schädlichen  apoUinaristischen  Unterschiebungen.  Bis  in  7.  Jahrh. 
(Lateransynode  649,  6.  ökumenische  zu  Constantinopel  680)  reichen 


794  Q(Ht  gd.  Aitt.  1906.  Nr.  10 

die  Enthüllungen  dieser  Art:  alle  Handschriften,  die,  wenn  aoch  bios 
indirekt,  in  die  Periode  der  monophysitischen  und  monotheletisdien 
Streitigkeiten  zurückreichen,  insbesondere  Florilegien,  müssen  auf 
etwaige  Apollinariszitate  durchsucht  werden. 

Was  uns  nun  Lietzmann  an  Fragmenten,  bereits  gedruckten  und 
ungedruckten,  liefert,  erweist  den  Herausgeber  als  würdigen  Schüler 
von  Hermann  Usener.  Mit  gleicher  Sorgfalt  wird  das  Wichtigste  und 
das  Unbedeutendste  behandelt,  immer  und  bei  allem  die  best^ 
Quellen  aufgesucht,  und  kein  Mittel  ungenutzt  gelassen,  um  dem 
Leser  den  Ueberblick  über  das  Verhältnis  der  Texte  zu  den  bisweüeo 
ziemlich  frei  mit  den  Worten  des  Gegners  umgehenden  Zeugen  zq 
erleichtem.  Für  den  Apparat  an  Varianten  gilt  der  yerständige 
Grundsatz,  daß  hier  nur  sachlich  interessante  Notizen  hergehöre; 
was  ich  kontrolieren  konnte,  rechtfertigt  das  Vertrauen.  Einige  un- 
klare oder  zweideutige  Stellen  sind  ja  wohl  vorhanden:  zu  216,24 
fehlt  die  Angabe,  ob  das  erste  oder  zweite  t6  gemeint  sei,  ahnlich 
306,19  bei  xaC,  auch  304,1  mußte  Y  für  mind^tens  i^v  6  xoptoc 
h  (?)  icv60|jAti  ÄYicp  iay(t  angegeben  sein.  Die  Notizen  über  Y  zn 
307,1  (wonach  ti^c  fehlt)  und  zu  307,1  f.  (wonach  es  verschoben 
ist)  stimmen  nicht  ganz;  die  Note  zu  287,1  gibt  einen  Sinn  nur, 
wenn  man  8 f.  in  4 f.  verbessert;  ob  zu  210,22  C  wirklich  ooxoc  td 
liest  und  nicht  oStcoc  td,  oder  208,25  Seiv  und  nicht  wie  Zacagni 
sagt  §£i?  In  dem  Text  des  Antirrheticus  Gregors  von  Nyssa  hat  L. 
einzelne  Versehen  des  ersten  Herausgebers  (Zacagni)  »stillschweigend« 
verbessert;  in  mehreren  Fällen  wünschte  ich  doch,  daß  er  sich  darüber 
geäußert  hätte,  weil  Andere  geneigt  sein  werden  Zacagnis  Text  za 
bevorzugen  oder  wenigstens  genau  wissen  möchten,  ob  er  ohne  hand- 
schriftliche Unterlage  verfahren  ist,  z.  B.  208, 19,  wo  xstTssan^U^srai 
(Zac.)  sicher  richtig  ist  (statt  L.  xataYYdXXetai),  oder  208,28  oi>v6{l- 
;csoo5<3a  (Zac.)  neben  oo|i.9ceoo!>oa  (L.)  211,8  f.  em{Lvi2odi2a»|uda 
(Zac.)  St.  -oö(uda  (L.),  vgl.  auch  208,12.  209,11.  211,14.  Denn 
daß  sich  auch  Lietzmann  verschreiben  kann,  zeigt  sein  oove'pcetv  im 
Text  208,26  statt  oovsveYxeiv,  von  den  Accentfehlem  210,5.  218,26. 
274,10  und  dem  sehr  fatalen  xr.org  236,35  statt  xuotq  sowie  den 
falschen  Anführungsstrichelchen  304, 9  f.  oder  irreführender  Inter- 
punktion (z.  B.  das  Komma  vor  obra  305, 5)  zu  schweigen.  Ich  be- 
daure,  daß  L.  nicht  kurze  Anmerkungen,  die  seine  Auffassung  vom 
ursprünglichen  Text  gegenüber  Korruptionen  rechtfertigen,  in  seinen 
Apparat  aufgenommen  hat,  etwa  so  wie  es  in  der  neuen  Berliner  Aus- 
gabe der  Kirchenväter  und  in  einigen  Bänden  der  Wiener  (Tertullian!) 
mit  großem  Geschick  gemacht  worden  ist:  die  Hinweise  auf  F&- 
rallelstellen,  die  in  einem  derartigen  Kommentar  nie  fehlen  werden 


H.  Lietzmann,  Apollinaris  and  seine  Schale  795 

and  bei  einer  Fragmentensammlung  das  Wichtigste  sind,  können  doch 
nicht  als  erschöpfend  gelten;  bei  den  notierten  Bibelstellen  habe  ich 
sogar  größere  Lücken  wahrgenommen.  Z.  B.  288, 29  fehlt  I.  Tim. 
1,7,  287,5  Rom.  16,17,  291,25  Gal.  6,16,  303,23  I.  Tim.  6,20.  Zu 
304,1  war  das  ttjv  Sixaioa6vir]v  und  h  icveGpiaTi  als  Paraphrase  von 
I.  Tim.  3, 16  ISixaicoth]  h  icve6|iati  kräftig  zu  kennzeichnen.  Hätte  L. 
das  bemerkt,  so  würde  er  das  unentbehrliche  Komma  vor  xal  303, 26 
wohl  nicht  fortgelassen,  dagegen  die  Streichung  des  ^v  vor  Soxev  als 
Wiederholung  der  Schlußbuchstaben  von  SixaiooovYjv  erwogen  haben; 
jedenfalls  soll  das  6|ioXoYetv  303,25  zwei  Objekte  erhalten. 

In  der  Konstituierung  des  Textes  bei  verschiedener  Ueber- 
lieferung  wird  man  in  den  meisten  Fällen  ohne  Bedenken  L.  bei- 
treten ;  daß  noch  verdorbene  Stellen  in  seiner  Edition  übrig  geblieben 
sind,  wird  er  sich  selbst  nicht  verhehlen.  Warum  er  zwar  210, 15 
nicht  mit  H  oaitooatdcoc  (st.  oaiKooat^coc  Zacagni)  schreibt  wie  296,21. 
305, 11,  ist  mir  unklar;  210, 1  würde  ich  erst  recht  mit  H  6&ifvco|ioo&vT)c 
statt  i'{y(ü^.  wählen,  da  hier  nur  ein  (ironisches)  Lob  angebracht  ist; 
aus  dem  guten  Gedanken  des  Apollinaris,  den  Gregor  sofort  formu- 
liert, daß  Gott  nicht  eine  seelenlose  odpg  erhalten  haben  kann, 
folgert  er  ja  dann  bequem  die  Vollkommenheit  des  vom  Logos  ange- 
nommenen Menschen.  Die  Zeile  209,16  hätte  ich  fortgelassen,  da 
sie  das  Endstück  des  vorhergehenden  Satzes  darstellt;  303,20  mag 
s^ifteiac  pure  Konjektur  von  Y  sein,  es  gehört  aber  doch  in  den  Text, 
weil  l7ci^|iiac  Unsinn  ergibt.  307, 1  sollte  ebenfalls  mit  Y  Sia  toö 
o6oapxä>o^ai  statt  Sia  zh  gelesen  werden,  306,24  halb  nach  Y  icpic 
iaoTÖv  statt  icpöc  aotöv;  305,7  halte  ich  onsSiga)  aller  Handschriften 
für  echt  (die  avtiX^Y^vtec  t(i>  \6^i^  rufen  das  dem  Logos  zu!),  oics- 
SdgaTo  bei  c  ist  matte  Erleichterung.  305,10  wird  man  mit  (lövov, 
das  dem  orthodoxen  Schreiber  in  die  Feder  floß,  sowie  der  Name 
des  Samosateners  erklang,  doch  nichts  anfangen  können,  Y  streicht 
es  mit  Recht,  (was  noch  keine  Rechtfertigung  für  seinen  gescheiten 
Ersatz  |i^  t6v  ist);  303,5  dürfte  auch  ßXaofYjitia  (vgl.  307,12)  dem 
ßXao(p7i(tt(üv  vorzuziehen  sein.  168,4  (vgl.  132  f.)  verbessert  L.  den  Un- 
sinn der  codd.  VM,  die  Gegner  führten  einen  Logos  ein  ö|ioto>c  t$ 
xata  Tcpoyopdv  tj  Siavotav  o&8^  [tt^  OÄoatAoei  o^k  [iöviQ ;  es  müsse  jiovg 
heißen;  weder  Persönlichkeit  noch  ewige  Dauer  schrieben  die 
Ketzer  dem  Logos  zu.  Auf  169,25  z.  B.  könnte  sich  L.  zu  Gunsten 
dieser  Fassung  berufen;  nur  ist  diese  |ioviQ  doch  etwas  gar  zu  kühn 
in  einem  Abschnitt,  wo  Alles  von  (lovo^evu^c,  (tövoc,  (lovdc  ertönt:  sollte 
nicht  gegenüber  167,15  [itdc  xal  {iövTjc  oSoyjc  tfjc  v.  ftpYjoxeiac  auch 
lediglich  für  die  oTcöotaoic  des  Xö^oc  dasselbe  (tfa  xal  jiövr]  in  An- 
spruch genommen  werden?    Unannehmbar  daucht  mir  die  Konjektur 


796  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  10 

169,21  (=  S.  133),  zwischen  TtatdXaßev  "EXXtJvcov  iolßetav  und  rijv 
'looSaicov  aniotiav  k^i^iioaxo  für  das  überlieferte,  allerdings  recht  stil- 
lose inl  taonjv  07cd0Tp6(|)sv  zu  setzen:  in  aTcdnjv  oTc^otp.  Denn  stil- 
los ist  auch  das  ohne  eine  dritte  Person  wie  Heiden  und  Juden: 
sollte  nicht  vielmehr  iid  zabrqy  6ffdotpe(|)6V  zu  streichen  sein  als  alte 
Glosse,  die  das  Annehmen  heidnischer  Gottlosigkeit  zensieren  wollte 
im  Sinne  von  II.  Petr.  2, 22  als  Rückkehr  des  Hundes  zu  seinem 
Gespei? 

Manche  Frage  ähnlicher  Art  wird  sich  leicht  beantworten  lassen, 
wenn  erst  die  vollständigen  Register  vorliegen  und  die  reichen  Ueber- 
reste  aus  den  Bibelkommentaren  des  Apollinaris  im  2.  Bande  ebenso 
musterhaft  wie  hier  die  dogmatischen  Fragmente  publiziert  sein 
werden. 

>Untersuchungen<,  die  auch  ganz  unabhängig  von  den  Quellen 
hätten  veröffentlicht  werden  können  und  die  namentlich  von  denen 
gründlich  gelesen  werden  sollten,  die  den  öden  Weg  durch  die 
Wüstenei  apollinaristischer  Spekulation  scheuen,  bieten  die  Kapitel  I 
und  U  in  unserm  Band.  Die  Ueberschrift  des  ersten,  >  Politische 
Geschichte <  ist  nicht  gerade  glücklich,  während  die  des  zweiten, 
> Quellen  und  Chronologie c  den  Inhalt  genau  umschreibt:  Kap.  I 
erzählt  die  Geschichte  des  Apollinaris  und  der  von  ihm  in  der  Kirche 
hervorgerufenen  Erschütterungen.  Vielleicht,  so  denkt  man  beim 
Lesen  manchmal,  stünde  Kap.  I  besser  hinter  H,  oder  auch  beide 
hinter  den  Quellen  des  2.  Teils  —  denn  durch  Verweisung  auf  die 
dort  abgedruckten  Stücke  hätte  sich  z.B.  S.  43— 45  Manches  rascher 
erledigen  lassen,  und  woher  das  Wissen  des  Verfassers  über  die 
Jugendgeschichte  des  Apollinaris  S.  1— 3  stammt,  erfährt  man  erst 
in  Kap.  IL  Daß  auch  Kap.  IH,  die  Geschichte  der  Ueberliefernng, 
wertvolle  Beiträge  zu  der  »politischen  Geschichte<  liefern  muß,  ist 
jedem  Kenner  der  kirchlichen  Kämpfe  des  4.  Jahrh.  von  vornherein 
klar.  Und  der  Historiker  Lietzmann  verdient  nicht  minder  Aner- 
kennung als  der  Philolog.  Nicht  daß  er  überall  Neues  vortrüge 
—  in  der  chronologischen  Einordnung  der  Basiliusbriefe  schließt  er 
sich  durchweg  an  Loofs  an  — ,  aber  er  hat  sich  mit  der  Kirchen- 
geschichte jener  Zeit  aus  den  Quellen  gründlich  vertraut  gemacht, 
geht  z.  B.  in  der  Verwertung  der  Briefe  und  carmina  Gregors  von 
Nazianz  seine  eignen  Wege  und  weiß,  wie  etwa  in  der  Darstellung 
der  Zustände  in  Antiochien  seit  der  meletianischen  Spaltung,  die 
maßgebenden  Momente  scharf  herauszuheben. 

Es  liegt  an  der  außerordentlichen  Schwierigkeit  der  Materie, 
wenn  in  diesen  Partien  öfter  Einwendungen  gegen  Lietzmanns  Re- 
sultate erhoben  werden  können.    Ein  bloßer  Schreibfehler  wird  76,1 


H.  Lietzmann,  Apollinaris  and  seine  Schule  797 

>Theophilus<  für  Timotheus  verschuldet  haben,  ebenso  82,35  >fünftenc 
Jahrhunderts  statt  sechsten,  und  92,21  Synode  von  428  statt  448. 
Encyclicon  S.  92, 28  statt  Encyclion  wird  dem  Korrektor,  dem  über- 
haupt mehrere  Versehen  entgangen  sind,  zur  Last  fallen,  und  für 
Lesarten  wie  Sirmondi,  Edyssa,  Scurialensis,  scizziert  würde  ich  den 
Vf.  so  wenig  verantwortlich  machen,  wie  es  ein  Unglück  ist,  wenn 
er  den  guten  Griechen  Ephraimios,  Bischof  von  Antiochien  konstant 
Ephraem  schreibt,  den  berühmten  Syrer  aber  Ephraim.  S.  XV  soll 
Theodosius  noch  378,  vor  1.  Januar  379,  Kaiser  geworden  sein,  er 
ist's  aber  erst  im  Januar  379  geworden.  Mehr  komisch  berührt  es, 
wenn  der  Tod  des  Apollinaris  zwischen  388  und  395  angesetzt  wird 
unter  Berufung  auf  das  Zeugnis  des  Hieronymus,  der  ihn  sub  Theodosio 
imperatore  sterben  läßt.  Da  das  Zeugnis  des  Hieronymus  anno  392 
niedergeschrieben  worden  ist,  fallen  die  Jahre  zwischen  392  und  395 
wohl  fort,  und  der  alte  Ansatz  >um  390«  bleibt  in  Ehren.  Beharrlich 
hat  L.  es  verschmäht,  eine  Vermutung  über  das  Geburtsjahr  des  Apoll, 
zu  äußern,  ein  wenig  zu  seinem  Schaden;  denn  etwas  rasch  stellt  er 
uns  S.  2  Vater  u'nd  Sohn  Apollinaris  schon  als  die  Wortführer  der 
orthodoxen  Partei  in  Laodicea  unter  Bischof  Theodotus  vor:  dieser 
hat  zwischen  332  und  335  bereits  einen  Nachfolger  gehabt,  demnach 
käme  jene  Exkommunikation  der  beiden  ApoUinare  durch  Theodotus 
um  330  zu  liegen.  Der  Jüngere,  unser  Held,  war  damals  Lektor  (6 
waic,  ÄvaYvoxjTTfjc  Stt)  —  und  doch  bereits  der  Wortführer?  S.  4  em- 
pfiehlt L.  die  Annahme,  Apollinaris  sei  360  von  den  strengen  Nicaenem 
in  Laodicea  zum  Bischof  erhoben  worden  an  Stelle  des  abtrünnigen 
Georg,  den  Acacius  durch  einen  in  seinem  Sinn  Oesinnungstüchtigeren, 
den  Pelagius  ersetzt  hätte,  sodaß  Laodicea  nun  zwei  Bischöfe  besaß. 
>In  der  Metropole  Antiochia  hatte  es  seit  330  bereits  so  ausgesehene  fügt 
L.  hinzu ;  in  Wahrheit  stellt  sich  die  Zweiheit  der  Bischöfe  dort  erst 
361  ein,  und  der  jüngere  Apollinaris  als  Bischof  einer  Gemeinde,  in 
der  —  doch  bestimmt  noch  i.  J.  362  —  sein  Vater  als  so  viel  amts- 
älterer Presbyter  funktionierte,  kommt  mir  nicht  natürlich  vor.  Be- 
darf übrigens  die  Erklärung  des  Basilius  ep.  224,2,  er  habe  etwa 
i.  J.  350  einmal  an  Apollinaris  geschrieben,  aber  als  sie  beide  noch 
Laien  waren,  in  diesem  Zusammenhang  gar  keiner  Erwähnung?  Bios 
dem  Sokrates  zuliebe ,  dem  ja  L.  S.  45  zu  meiner  Verwunderung 
unehrliche  Benutzung  seiner  Quellen  zutraut,  würde  ich  das  Jahr 
360  nicht  als  Epoche  in  der  apollinaristischen  Bewegung,  am  wenig- 
sten als  das  Jahr  der  Ordination  des  Apoll,  zum  Bischof  von  Laodicea 
festlegen;  alles  spricht  für  einen  späteren  oder  einen  viel  früheren 
Termin.  S.  13  f.  wird  die  Reise  des  Silvanus  von  Tarsus  mit  Ge- 
nossen nach  Sicilien  und  Bom  ins  J.  367   verlegt;  da  sie  aber  bei 


798  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

Liberius  noch  gute  Aufnahme  fanden  und  dieser  im  Herbst  366  ge- 
storben ist,  wird  die  Verbesserung  in  366  unausweichlich  (audi  auf 
S.  XIV).  S.  124  (vgl.  S.  XII)  wird  das  Religionsgespräch  zu  Con- 
stantinopel,  bei  dem  Hypatius  von  Ephesus  den  SeTerianem  ihre 
orthodoxen  Zeugnisse  als  apoUinaristische  Fälschungen  entwand,  auf 
553  datiert,  S.  92  heißt  es  statt  dessen:  Konzil  zu  Constantinopd 
von  531.  Nach  den  Konzilienakten  bestände  die  letzte  Zahl  zu  Recht, 
aber  533  wird  das  Richtige  sein,  s.  Kugener  im  Oriens  Christianas 
II 1902,  279. 

Daß  Gregor  von  Nyssa  zu  dem  Konzil  von  Ancyra  gefesselt 
transportiert  worden  ist,  will  Basilius  225, 1  schwerlich  sagen,  er  be- 
zeugt nur  militärische  Eskorte;  für  die  Berechnung  der  Episkopats- 
jahre des  Theodotus  von  Antiochien  den  Theophanes  S.  78  auch  nor 
zu  nennen,  heißt  ihm  zu  viel  Ehre  antun,  da  er  doch  die  beiden 
Vorgänger  des  Theodotus,  den  Porphyrins  und  Alexander  ein&ch 
unterschlagen  hat:  419 — 427  ist  für  Theodotus  ein  im  Anfang  wie 
Ende  sehr  wenig  glaubhafter  Ansatz. 

Befremdlich  wirkt  die  Sicherheit,  mit  der  L.  S.  143  Tillemonts 
Identifizierung  des  nostrum  ipsorum  episcopum  Diodorum  im  Brief 
der  verbannten  Bischöfe  in  Diocaesarea  mit  dem  Metropoliten  der 
Provinz,  Diodor  von  Tyrus  >äber  jeden  Zweifel  erhaben«  findet.  Dio- 
caesarea hat  im  6.  Jhrh.  nachweisbar  eigne  Bischöfe,  ist  eine  Stadt 
in  Galilaea  (=  Sepphoris),  die  als  solche  zur  Provinz  Palaestina  II 
gehört:  was  geht  die  Diocaesareenser  der  Metropolit  von  Phoenicia  I 
an?  Die  Verwandlung  des  Tarsensem  in  Tyrensem  wäre  an  der 
fraglichen  Facundus-Stelle  eine  weit  leichtere  Hebung  des  Anstoßes. 
Es  kann  nicht  wohl  an  zwei  verschiedene  Personen  gedacht  sein  (ab- 
stinuisset!);  den  von  Apollinaris  bedrohten  Diodorus  bezeichnen  sie  als 
einen  durch  die  Gemeinschaft  mit  Athanasius  hinreichend  beglaubigten 
und  vielleicht  um  sie  durch  persönliche  Wohltaten  verdienten  (ob  darom 
nostrum  ipsorum  episcopum?)  Mann:  den  Tarsenser  hat  aus  einer 
sehr  begreiflichen  Sehnsucht  nach  Zeugnissen  zu  Gunsten  der  3  >Ka- 
piteh  Facundus  in  seinen  Text  hineingelesen.  S.  76  f.  bemüht  sich  L., 
für  die  Homilie  des  Chrysostomus  de  anathemate  den  Spätherbst 
386  als  Abfassungszeit  durchzusetzen.  Die  Hypothese  von  F.  Cavallera 
(le  schisme  d'Antioche)  und  von  Ed.  Schwartz  über  Flavian  als  Ver- 
fasser dieser  sicher  nicht  chrysostomischen  Homilie  konnte  L.  noch 
nicht  bekannt  sein;  aber  es  wundert  mich,  daß  er  die  auf  Apoll,  be- 
zügliche Stelle  daraus  abdruckt  (verbessere  auch  Sid  tootfov  in  Sii 
TooTo)  mit  dem  Schluß  t)  Sta  HaoXtavöv  t]  'ATcoXXivdpiov  X^ovtec  und 
sie  übersetzt:  > damit  meinen  sie  den  Paulinus  oder  den  ApoUinaris.« 
Wenigstens  eines  Wortes  hätte  das  HaoXiavöv  doch  bedurft;  mir 


H.  Lietzmann,  Apollinaris  and  seine  Schnle  799 

drängt  der  Zusammenhang,  zumal  der  darauf  folgende  dunkle  Satz 
über  die  xaivoto^tCa  ixdotoo  to6To>v  —  übrigens  zur  Beleuchtung  von 
14  n.  1  mit  S)caotoc  (nicht  Ixdtepoc)  zu  verwenden!  —  immer  wieder 
den  Verdacht  auf,  es  sei  gar  nicht  von  Paulinus,  sondern  von  einem 
der  indirekten  Schüler  des  Paulus  von  Samosata,  die  man  ja  Paulianer 
nannte,  Arius  oder  Aetius  oder  Eunomins  die  Rede:  jener  Paulinus 
eignete  sich  doch  gar  zu  übel  zum  Seitengänger  des  Apollinaris! 

S.  82  erblickt  L.  den  Gipfel  des  gegen  die  Schriftstellerei  des 
Apollinaris  gerichteten  Fanatismus  in  der  Vertilgung  selbst  seiner 
Streitschrift  wider  Porphyrins,  obwohl  darin  doch  schwerlich  Erheb- 
liches an  Ketzerei  gestanden  haben  werde.  Nun,  bekanntlich  sind 
alle  Streitschriften  gegen  Porphyrins  von  der  Kirche  vertilgt  worden, 
seitdem  Porphyrins'  Werk  selber  verbrannt  worden  war,  in  der 
klugen  Berechnung,  daß  das  Gift  des  Porphyrins  nur  dadurch  ganz 
aus  der  Welt  gescha£ft  werde.  Dann  aber  darf  keine  Nichtachtung 
des  Apoll,  aus  dem  Verschwinden  dieses  einst  »so  gefeierten  Werkes < 
erschlossen  werden.  Ich  erwähne  das  als  einzige  Korrektur,  die  ich  an 
dem  3.  Teil  von  Lietzmanns  Untersuchungen  anzubringen  wüßte;  gerade 
was  er  über  die  Geschichte  der  Ueberlieferung  feststellt,  über  die 
Quellen,  aus  denen  das  bescheidene  Wissen  der  Späteren  stammt,  über 
die  Kirchengeschichte  des  Timotheus  von  Berytus,  auch  seinen  Pinax, 
der  vielleicht  die  Vorarbeit  zu  einer  geplanten  Gesamtausgabe  der 
Schriften  seines  Meisters  Apoll,  sein  sollte,  ist  ein  Muster  literar- 
geschichtlicher  Analyse. 

Möchte  nur  der  2.  Band  nicht  zu  lange  mehr  ausbleiben,  und 
Lietzmann  sich  doch  noch  entschließen,  in  einem  dritten  Bande  die 
Darstellung  der  Theologie  des  Apollinaris  anzufügen.  Denn  die  Ge- 
schichte dieses  Mannes  muß  unmittelbar  über  den  wiederaufgedeckten 
Ruinen  apollinaristischer  Bauten  auferbaut  werden ;  seine  Schule  lebt 
ja  vollständig  von  ihm,  und  durch  einen  größeren  Zusammenhang, 
den  man  hier  aufsucht,  würde  man,  fUrchte  ich,  das  Interesse  fär 
die  Einzelheiten  und  Eigentümlichkeiten  des  Zusammenhanges  in  dem 
bunten  Garten  apollinaristischer  Hinterlassenschaft  gefährden. 

Marburg  i.  H.  Ad.  Jülicher 

Ben6  DnsMad,  Notes  de  Mythologie  Syrienne.    II— IX  et  Index.    Paris 
1906.   Ernest  Leroux.   (S.  67—189). 

In  diesem  zweiten  Teil  seiner  syrischen  Mythologie  hat  Dussaud 
wiederum  —  wie  in  dem  ersten,  der  GGA.  1904  S.  282  £f.  ausführlich 
rezensiert  ist  —  eine  große  Fülle  von  zerstreutem  Material  ge- 
sammelt und  durch  zahlreiche  Abbildungen  illustriert,  wofür  allein 
schon  ihm  jeder  Forscher  auf  diesem  Gebiet  dankbar  sein  wird.  Da^ 


800  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

ZU  kommt  noch,  daß  auch  hier  neue  Probleme  aufgeworfen,  bereits 
behandelte  Probleme  neu  beleuchtet  und  alte  Erkenntnisse  neu  be- 
gründet werden.  Da  freilich  unser  Wissen  von  der  syrischen  Mytho- 
logie so  gering  ist  und  da  wir  oft  auf  die  recht  unsichere  Deutung 
von  Bildwerken  beschränkt  sind,  so  kann  der  Widerspruch  nicht 
fehlen.  Häufig  wird  man  Fragezeichen  setzen  zu  dem,  was  der  Ver- 
fasser als  gewiß  oder  wahrscheinlich  vorträgt,  immer  aber  gleich 
dankbar  sein  für  die  Belehrung  wie  für  den  Widerspruch. 

In  Kap.  II  (S.  67—71)  bespricht  Dussaud  eine  verloren  gegangene 
Statue  des  Jupiter  Heliopolitanus  der  Sammlung  Garimberto.  Das 
mit  symbolischen  Ornamenten  und  mit  Bildern  geschmückte  Gewand 
des  Gottes  bietet  mancherlei  interessante  Einzelheiten.  Aus  den 
darauf  dargestellten  Greifen  wie  aus  anderen  Nachrichten  dürfen  wir 
vielleicht  schließen,  daß  der  Sonnenwagen  nach  der  in  Syrien  — 
nicht  in  Indien,  wie  Philostratus  (Vita  Apollonii  III 48)  behauptet  — 
geläufigen  Anschauung  von  Greifen  gezogen  wurde,  wie  nach  der 
israelitischen  Vorstellung  Kerube  vor  den  Himmelswagen  gespannt 
sind. 

Kap.  HI  (S.  72—80)  handelt  von  dem  Gottesnamen  Bei  in  Syrien. 
Bei  ist  ursprünglich  ein  mesopotamischer  Gott,  der  speziell  in  Nippur 
verehrt,  dann  aber  mit  Marduk  verschmolzen  und  zu  einem  Sonnen- 
gott gemacht  wurde.  Auf  syrischem  Boden  ist  Bei  ein  fremdes  Epi- 
theton geblieben,  das  den  Lokalnumina  beigelegt  ist  oder  deren  Namen 
verdrängt  hat.  In  Palmyra  gibt  es  keinen  Gott  Bei,  sondern  Bei  ist 
bloßes  Epitheton  und  als  Aequivalent  für  Schamasch  aufzufassen,  da  es 
in  gleicher  Weise  neben  den  Namen  der  beiden  Sonnengötter,  Malakbel 
und  Jarchibol,  steht.  Denn  während  'Aglibol  ein  Mondgott  ist,  sind 
Malakbel,  der  Stammgott  der  Banü-Taimi,  und  Jarchibol,  speziell 
der  Gott  der  Quelle  Ephka,  Sonnengötter  wie  der  Bei  von  Edessa 
und  der  von  Apameia.  Auch  Dagon,  über  den  sich  Dussaud  aus- 
führlicher verbreitet,  ist  weder  Fischgott  noch  Getreidegott,  sondern 
Sonnengott  so  gut  wie  der  Melkart  von  Tyros  und  der  El-Eronos  von 
Byblos. 

In  Kap.  IV  (S.  81— 116)  unterscheidet  Dussaud  zunächst  (§  1) 
scharf  zwischen  dem  syrischen  und  dem  phönikischen  Pantheon.  Def 
Gott  Hadad  gehört  nicht  zu  diesem,  sondern  zu  jenem.  Ebenso  ist  ^ 
Atargatis  eine  syrische  Göttin,  deren  Name  aus  Ischtar  und  Ate  — 
eine  analoge  Bildung  haben  wir  in  dem  Doppelnamen  Hadad-Ramman 
—  zusammengesetzt  ist  und  die  nicht  zu  verwechseln  ist  mit  der 
phönikischen  Astarte.  Das  Attribut  des  Hadad  und  der  mit  ihm  ver- 
schmolzenen Götter  ist  der  Stier,  während  der  Löwe  das  Attribut 
der  Atargatis  und  ähnlicher  Göttinnen  ist.    Andererseits  finden  wir 


Ren^  Dussaud,  Notes  des  Mythologie  Syrienne  801 

den  Löwen  als  Sonnensymbol  und  den  Stier  als  Mondsymbol,  das 
erst  unter  griechischem  Einfluß  nach  Syrien  gekommen  ist.  Beiläufig 
leugnet  Dussaud  schwerlich  mit  Recht,  daß  Europe  und  Astarte 
irgend  etwas  mit  einander  zu  tun  hätten.  Daran  schließt  sich  die 
Erörterung  zweier  höchst  interessanter  Reliefs  von  ed-Duwair  (bei 
Tyrus)  und  von  Qasr  el-Abiad  (e^-Safä).  —  In  §  2  wendet  sich 
Dussaud  gegen  die  These  Lajards,  der  fälschlich  in  der  Zypresse  ein 
Symbol  der  orientalischen  Venus  gesehen  hat.  Die  Zypresse  dient 
vielmehr  in  den  mythologischen  Abbildungen  zur  Bezeichnung  der 
himmlischen  Meta.  —  In  §  3  bespricht  Dussaud  die  Darstellungen 
der  Atargatis  und  verwandter  Gottheiten.  —  §  4  handelt  von  Simios 
und  Simia.  Simios  (=  Mercurius)  war  neben  Hadad  (=  Jupiter 
Heliopolitanus)  und  Atargatis  (=  Venus)  die  dritte  Hauptgottheit 
der  Syrer.  Der  Sohn  der  Atargatis,  den  der  Lyder  Xanthus  'Ix^6c 
nennt,  ist  Simios.  Was  Diodorus  Siculus  II 4  von  der  Semiramis  er- 
zählt, bezog  sich  ursprünglich  auf  die  Simia,  deren  Name  verderbt  ist. 

In  Kap.  V  (S.  117 — 130)  weist  Dussaud  zunächst  auf  die  Votiv- 
hände  hin,  die  dem  phrygischen  Gotte  Sabazios  geweiht  sind:  die 
drei  ersten  Finger  geöffnet,  die  beiden  letzten  geschlossen.  Sie 
symbolisieren  die  Macht  des  Gottes.  Man  weiht  solche  Hände,  um 
der  Gottheit  zu  danken  oder  um  sich  die  Erfüllung  eines  Wunsches 
zu  erbitten.  In  der  römischen  Epoche  sind  Votivh'ände,  deren  Finger 
sämtlich  geöffnet  und  die  mit  Inschriften  versehen  sind,  auch  im  sy- 
rischen Kult  nachweisbar.  Im  Anschluß  an  Cumont  nimmt  Dussaud 
einen  historischen  Zusammenhang  an  zwischen  den  Händen,  die  man 
dem  Sabazios,  und  denen,  die  man  dem  Jupiter  Dolichenus  darge- 
bracht hat.  Es  wäre  lehrreich,  das  Problem  der  >Hand  Gottes<  und 
der  Votivhände  in  größerem  Zusammenhang  zu  verfolgen.  Was 
Dussaud  über  diesen  Gegenstand  ausführt,  erschöpft  nicht  im  Min- 
desten die  Fülle  von  Material,  die  uns  in  den  Abbildungen  und  in 
der  Literatur  benachbarter  Völker  überliefert  ist. 

In  Kap.  VI  (S.  131-— 155)  behandelt  der  Verfasser  das  phöniki- 
sche  Pantheon  und  geht  zunächst  auf  den  Bericht  des  Philon  Byblios 
ein,  dem  er  sehr  skeptisch  gegenübersteht  Er  weist  gewiß  mit 
Recht  die  Annahme  zurück,  daß  dieser  ein  phönikisches  Original 
übersetzt  habe,  gibt  aber  zu,  daß  Philon  phönikische  Traditionen  ge- 
kannt habe,  die  jedoch  mit  zeitgenössischen  Ideen,  d.  h.  aramäi- 
schen und  griechischen  Elementen,  stark  durchsetzt  seien.  Wenn 
man  so  auch  der  Hauptthese  Dussauds  im  Allgemeinen  zustimmen 
wird,  so  scheint  doch  manches  Einzelne  wenig  stichhaltig,  wie  z.  B. 
die  Ableitung  des  Ooacöoc  von  nto  >der  (erste)  Künstler <,  oder 
[i&Yoc  als  eine  Verderbnis  aus  Sl'^oq  u.  a.  m.    Zum  Schluß  behauptet 


802  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Dussaud,  daß  Herakles  auf  Melkart  gewirkt  habe  und  nicht  umge- 
kehrt, und  daß  keine  Verbindung  zwischen  Melkart  und  Melikertes 
Palaimon  bestehe.  Seine  Gründe  haben  mich  ebenso  wenig  überzeugt 
wie  die  von  Maass.  Ausführlich  wird  dann  noch  Eschmun-Adouis, 
sein  Kult  und  seine  Darstellung  behandelt. 

In  Kap.  VII  (S.  156—161)  leugnet  Dussaud  mit  Recht  die  Exi- 
stenz eines  phönikischen  Gottes  Meiek  oder  Milk,  die  man  früher, 
ohne  Beweise  dafür  zu  haben,  angenommen  hat.  Denn  die  theophoren 
Eigennamen,  die  mit  Melek  zusammengesetzt  sind,  reichen  dazu  nicht 
aus.  Einen  Gott  Melek  (Molek)  kann  es  schon  deshalb  nicht  gegeben 
haben,  weil  das  Wort  stets  mit  dem  Artikel  begegnet.  Ham-molek 
ist  daher  eine  Abkürzung  für  den  melek  qart  von  Tyrus,  wie  hab-ba'al 
für  den  Baal  von  Tyrus.  In  einem  Schlußabschnitt  wendet  sich 
Dussaud  gegen  die  allerdings  nur  vermutungsweise  von  Baudissin 
ausgesprochene  These,  daß  die  Menschenopfer  in  eine  Zeit  des  Ea- 
nibalismus  zurückreichten,  wo  auch  die  Götter  Menschenfleisch  aßen. 
Er  beruft  sich  dabei  auf  die  von  unseren  Theologen  viel  zu  wenig 
beachtete  Studie  von  Hubert  et  Mauss:  Essai  sur  la  nature  et  U 
fonction  du  sacrifice,  die  im  U.  Bande  der  Ann^e  Sociologique  er- 
schienen ist. 

In  Kap.  VUI  (S.  162—166)  macht  Dussaud  den  Vorschlag,  das 
viel  behandelte  ßpa^o  des  Philon  Byblios  in  ßpa/o  zu  emendieren 
und  dies  mit  dem  Gebel  Barük,  einem  Teile  des  libanon,  zu  identi- 
fizieren, der  bei  Polybios  ßpö/oi  genannt  wird. 

Kap.  IX  (S.  167—181)  sucht  aus  den  Münzen  von  Adraa  und 
Bostra  Kapitd  zu  schlagen  für  den  Kult  des  Dusares.  Das  Baitylion 
—  bisweilen  sind  es  drei  Baitylien  —  des  Gottes  ruht  darnach  auf 
einer  breiten  kubusartigen  Basis,  genannt  die  Ka'aba,  die  durch 
einen  calembour  des  heiligen  Epiphanius  zu  einer  Jungfrau,  zur 
Mutter  des  Dusares,  geworden  ist.  Bei  den  Nabatäem  hieß  sie  mit 
einem  speziell  nabatäischen  Ausdruck  mötab,  was  mit  >  Altar <  zu 
übersetzen  ist.  Die  Spiele  zu  Ehren  dieses  Gottes,  die  Actia  Dusa- 
ria,  sind  oft  auf  Münzen  erwähnt.  Dusares  selbst  wird  dargestellt 
nach  dem  Muster  des  zur  Römerzeit  berühmten  Jupiter  Ammon. 

Einige  Zusätze  und  Verbesserungen  und  ein  ausführlicher  Index 
schließen  den  Band,  aus  dessen  reichem  Inhalt  nur  eine  kleine  Aus- 
lese geboten  werden  konnte. 

Kiel  Hugo  Greßmann 


Dutoit,  Das  Leben  des  Buddha 


Das  Leben  des  Buddha.  Eine  Zusammenstellung  alter  Berichte  aus  den 
kanonischen  Schriften  der  südlichen  Buddhisten.  Aus  dem  P&li  übersetzt  und 
erläutert  von  Dr.  Jaiios  Dutolt«  Leipzig  1906,  Lotus-Verlag. 

Als  ich  dieses  Buch,  dessen  Besprechung  in  diesen  Anzeigen  ich 
übernommen  hatte,  zu  Gesicht  bekam,  war  mein  erster  Eindruck 
der,  daß  für  eine  wissenschaftliche  Kritik  hier  eigentlich  kein  Grund 
vorlag,  weil  es  sich  eben  nicht  um  eine  wissenschaftliche  Leistung 
handelt.  Ich  dachte  sogar  daran,  das  Rezensionsexemplar  der  Redak- 
tion zurückzusenden  mit  der  Bitte  mich  aus  besagtem  Grunde  der 
übernommenen  Verpflichtung  zu  entheben.  Bei  näherer  Betrachtung 
und  genauerer  Durchmusterung  ergab  sich  mir  dennoch,  daß  die  ge- 
wissenhafte Arbeit  Dutoits,  dessen  Gelehrsamkeit  und  methodische 
Forschung  ich  aus  seiner  früheren  wissenschaftlichen  Schrift  >Die 
duskaracaryä  des  Bodhisattva  in  der  buddhistischen  Tradition«  (von 
mir  angezeigt  in  der  niederländischen  kritischen  Zeitschrift  Museum^ 
Juli  1906,  Spalte  368 fg.)  kannte,  ein  Totschweigen  wissenschaft- 
licherseits  nicht  verdient.  Erstens,  welchen  Zwecken  auch  diese 
aus  Uebersetzungen  von  Pälitexten  aneinander  gereihte  Sammlung 
dienen  mag,  der  Zusammensteller  und  Uebersetzer  erweist  sich  als 
ein  selbständig  arbeitender,  philologisch  geschulter  Gelehrter,  der  dem 
großen  Publikum  kein  Machwerk  zweiter  Hand,  sondern  die  Früchte 
eignen  Studiums  darbietet,  und  zweitens  könnte  eine  Anzeige  dieser 
Catena  von  Berichten  der  heiligen  Schrift  über  den  Buddhawandel 
an  sich  auch  ihren  Nutzen  haben,  insofern  sie  in  einem  kritischen 
Blatt  erscheint,  das  auch  für  Andre  als  Sanskritisten  und  Pälicisten 
vom  Fache  bestimmt  ist. 

In  der  Tat  ist  das  geschmackvoll  ausgestattete,  mit  großen 
Lettern  auf  starkem  Papier  schön  gedruckte,  358  u.  XXTTT  Mittel- 
Oktavseiten  zählende  Buch  auf  einen  größeren  Leserkreis,  nicht  auf 
die  Fachgelehrten  berechnet.  Dieses  liest  man  nicht  in  dem  Vor- 
worte des  Verfassers  (S.  V— VI),  wo  man  sich  vor  allem  darüber  er- 
kundigen möchte.  Nachdem  D.  gesagt  hat,  daß  »in  den  letzten  Jahr- 
zehnten eine  solche  Fülle  von  wissenschaftlichen  wie  populären  Werken 
über  Buddha  und  Buddhismus  veröffentlicht  worden,  daß  es  fast  als 
Kühnheit  erscheinen  möchte,  diese  so  reiche  Literatur  durch  ein 
neues  Buch  zu  vermehren«,  und  sich  mit  ein  paar  Worten  des  Nach- 
weises enthoben  hat,  warum  er  demungeachtet  sich  an  ein  neues 
Leben  Buddhas  herangemacht  hat,  unterläßt  er  es  völlig,  seine  Leser 
zu  belehren,  welcher  Gattung  der  betreffenden  Werke,  der  »wissen- 
schaftlichen« oder  der  »populären«,  das  vorliegende  neue  Buch  zu- 

G«ti  gel.  Abi.  190«.  Nr.  10  56 


804  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

zurechnen  sei.  Aus  dem  Buche  selbst  können  sie  sich  aber  bald  Yest- 
gewissem,  daß  diese  Sammlung  ausgewählter  heiliger  Texte  der 
sogenannten  südlichen  Buddhisten  abgefaßt  ist,  um  in  weiteren  Kreisen 
das  richtige  Verständnis  und  die  Würdigung  des  Buddhismus  %ü 
fördern.  Das  spricht  sich  schon  in  der  Art  und  Weise  aus,  wie  die 
Uebersetzungen  eingerichtet  und  gehalten  sind:  vielfach  ohne  ge- 
naue Angabe  der  übersetzten  Stellen  nach  der  Seitenzahl  der  Aas- 
gaben der  Originaltexte;  ohne  Literaturangabe;  ohne  daß  —  wenn 
nicht  ausnahmsweise  ein-  oder  zweimal  —  bei  Meinungsverschieden- 
heit der  abweichenden  Auffassung  früherer  Uebersetzer  ErwähnuDg 
getan  wird;  für  gewöhnlich  werden  diese  nicht  einmal  mit  Namen 
genannt.  Die  Erläuterung  der  alten  kanonischen  Berichte,  von  wel- 
cher auf  dem  Titel  die  Rede  ist,  ist  mager.  Sie  besteht  aus  20 
Seiten  >  Anmerkungen <  (S.  319 — 339)  und  einem  19seitigen  erklären- 
den >  Register  <  der  Eigennamen  und  technischen  Ausdrücke  (S.  339 
bis  358),  welche  bei  dem  Leser  so  gut  wie  gar  keine  Vorkenntnisse 
voraussetzen  und  meistens  ziemlich  oberflächlich  gehalten  sind.  So 
viel  vom  Standpunkte  des  Sammlers  und  Uebersetzers. 

Vom  Standpunkte  des  Verlegers  ist  es  klar,  daß  er  das  Buch 
für  propagandistische  Zwecke  herausgegeben  hat.  In  dem  mir  zuge- 
schickten Rezensionsexemplar  fand  sich  der  Prospekt  einer  deutschen 
Uebersetzung  der  nachgelassenen  Schriften  von  H.  P.  Blavatsky^), 
und  am  Ende  des  Buches  ist  ein  zwei  Seiten  ausfüllendes  Verzeichnis 
einer  Reihe  im  Lotus -Verlag  erschienener  Werke  theosophiscben 
oder  neo-buddistischen  Inhalts  angehängt. 

Es  sei  mir  gestattet,  in  parenthesi  mich  über  diese  propagan- 
distische Literatur  auszusprechen.  Ich  halte  es  nicht  für  gut,  daß 
wissenschaftliche  Indologen  tun,  als  ob  die  Sache  sie  nichts  angeht 
Dafür  ist  sie  von  zu  großer  Bedeutung.  Es  ist  ein  nicht  zu  leugnen- 
des Faktum,  daß  bei  den  Kulturvölkern  Europas  und  Amerikas  es 
heutzutage  eine  philo-indische,  teilweise  mit  schärferer  Begrenzung, 
philo-buddhistische  Bewegung  der  Oeister  gibt,  welche  auf  nicht 
Wenige  einen  großen  Reiz  ausübt.    Diese  Bewegung  soll  man  ja 

1)  Für  Manchen,  der  sich  zu  den  kontemplativen  und  ekstatischen  Uehongen 
modemer  Theosophen  hingezogen  fühlen  möchte,  mag  es  seinen  Nutzen  hahen, 
folgendes  Zeugnis  über  die  tibetanischen  Mahatmas  dieser  Schwindlerin  ans 
Waddells  Lhasa  and  its  mysteries  (London  1905,  John  Murray) .auszuschreiben. 
W.  erzählt  da,  wie  er  sich  in  Lhasa  mit  dem  Regenten  Tibets,  dem  Ti  Bem- 
pochd,  unterhalten  hat.  »Regarding  the  so  called  'Mahatmas',  it  was  important  to 
elicit  the  fact  that  this  Cardinal,  one  of  the  most  learned  and  profound  scholars 
in  Tibet,  was,  like  the  other  learned  Lamas  I  have  interrogated  on  the  subject, 
entirely  ignorant  of  any  such  beings.  Nor  had  he  ever  heard  of  any  secrets  of 
the  ancient  world  having  been  preserved  in  Tibet«  (S.  409  fg.). 


Datoit,  Das  Leben  des  Buddha  805 

nicht  unterschätzen.  Sie  läßt  sich  am  einfachsten  begreifen,  wenn 
man  bedenkt,  wie  wenig  die  alte,  anthropozentrische,  einen  mehr 
oder  weniger  anthropomorphen  Gott  bedingende  Naturanschauung, 
wie  sie  in  den  unter  sich  nahe  verwandten  jüdisch-christlich-moham- 
medanischen Dogmen  vorliegt,  zu  einer  Weltanschauung  paßt,  welche 
mit  den  Fortschritten  der  modernen  physischen,  chemischen  und  bio- 
logischen Wissenschaften  im  Einklang  sein  soll.  Es  existiert  bei 
Manchen  ein  religiöses  Bedürfnis,  das  von  den  herrschenden  occi- 
dentalischen  Glaubenslehren  und  Glaubensdogmen  nicht  oder  nicht 
genügend  befriedigt,  zur  indischen  Theosophie  und  Mystik  sich 
flüchtet,  um  den  alten,  überkommenen  Glaubensinhalt  entweder  zu 
ersetzen  oder  zu  ergänzen.  Wie  einmal,  nach  Alexanders  des  Großen 
Eroberungen,  die  Bekanntschaft  mit  den  west-asiatischen  Religionen 
allmählich  eine  gänzliche  Umgestaltung  der  religiösen  Kulte  im  Occi- 
dent hervorbrachte,  um  zur  Entstehung  und  schließlich  zum  Siege 
des  Christentums  zu  führen,  so  fängt  in  unseren  Tagen  die  grandiose 
indische  Weltanschauung  mit  ihren,  jeder  Zeit  und  jedes  Raumes 
spottenden  Vorstellungen  des  Unendlichen  an,  für  viele  Gemüter 
eine  große  Anziehungskraft  zu  haben.  Daß  diese  in  mancher  Hin- 
sicht gerechtfertigte  Bewunderung  auch  leider  nur  zu  oft  mit  falschen 
Ansichten  zusammengeht  und  bedauernswerten  Verirrungen  und  Tor- 
heiten Vorschub  gegeben  hat,  ist  bekannt.  In  den  Sekten  der  Neo- 
buddhisten  und  der  Theosophen  unsrer  Zeit  herrschen  nicht  richtige, 
sondern  phantastische  und  sektarisch  gefärbte  Vorstellungen  uralter 
indischer  Weisheit  vor.  Diesem  Uebel  und  den  damit  zusammen- 
hängenden Schäden  für  das  körperliche  und  geistige  Wohlsein  der- 
jenigen, welche  dem  sogenannten  indischen  Yoga  nachhängen,  kann 
die  Verbreitung  nüchtern  objektiver  Tatsachen  und  die  Belehrung 
über  die  indischen  Theosophien  in  historischer  Beleuchtung  steuern 
und  dadurch  Nutzen  stiften.  Und  wer  ist  besser  im  stände,  dieses 
zu  leisten  als  die  Gelehrten  vom  Fach?  Doch  gehört  diese  Ver- 
wendung ihrer  Kenntnisse  und  ihrer  Arbeitskraft  nicht  zu  ihrer 
wissenschaftlichen  Tätigkeit,  und  so  gehe  ich  auf  diese  Angelegenheit 
hier  nicht  weiter  ein. 

Ob  Dr.  Dutoit  das  schon  1896  als  Volume  3  von  Lanmans  rühm- 
lichst bekannter  Harvard  Oriental  Series  erschienene,  ausgezeichnete 
Buch  H.  G.  Warrens  Buddhism  in  Translations  gekannt  hat,  als 
er  es  unternahm,  die  wichtigsten  Zeugnisse  über  Buddhas  Leben  und 
Wirken  aus  dem  Tipitaka  ins  Deutsche  zu  übertragen  und  zusammen- 
zustellen, ist  nicht  ersichtlich.  Ich  glaube  es  kaum;  sonst  würde  er 
in  den  Fällen,  wo  er  dieselben  Texte  wie  jener  übersetzt  hat,  hier 

56* 


806  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  10 

und  da  einige  Uebersetzungsfehler  vermieden  haben  ^).  Hat  er  es 
gekannt,  so  würde  er  seinem  Zwecke  bei  weitem  besser  gedient 
haben,  wenn  er  anstatt  seine  eignen  Wege  zu  gehen,  dieses  eng- 
lische Buch  ins  Deutsche  übertragen  hätte.  Die  Warrensche  Samm- 
lung läßt  die  neun  Jahre  später  erschienene  Dutoitsche  Schrift  eboi- 
soweit  hinter  sich,  als  der  in  der  Ghändogya  upani^ad  (4,16)  er- 
wähnte ekapad  vrajan  ratho  vaikena  cahrena  vartcunänah  hinter 
demjenigen  zurücksteht,  der  als  ubhayapäd  vrajan  raiko  vöbhäbkyä^ 
caJcräbhyäfii  vartamänah  bezeichnet  ist.  Während  D.  nur  über  den 
Buddha  berichtet,  über  den  Dharma  und  den  Sangha  nur  gelegent- 
lich handelt,  insofern  als  in  seinen,  das  >Leben  des  Buddha<  be- 
tre£fenden  Texten  davon  die  Rede  ist,  verteilt  sich  der  Inhalt  des 
Warrenschen  Werkes,  wie  es  sich  gehört,  über  jedes  der  drei  ratnäni; 
110  Seiten  sind  dem  Buddha,  281  der  Lehre,  97  der  Mönchsgemeinde 
gewidmet.  Auch  sind  die  Erläuterungen  Warrens  reichlicher,  ein- 
gehender und  gründlicher  als  die  ziemlich  oberflächlichen,  manchmal 
unbedeutenden  Anmerkungen  Dutoits. 

Noch  eme  andere  Diskrepanz  mag  hervorgehoben  werden.  Sie 
ist  prinzipieller  Natur.  Während  Beide  sich  auf  den  Pfilikanon  be- 
schränken, und  die  in  Sanskrit  und  Pseudosanskrit  abgefaßten  heiligen 
Texte  der  sogenannten  nördlichen  Buddhisten  beiseite  lassen,  be- 
trachtet W.  das  Tipitaka  mitsamt  den  von  der  orthodoxen  Kirche 
autorisierten  Kommentaren  als  ein  einheitliches  Ganze,  D.  aber  will 
sich  nur  an  die  »alten  Erzählungen<  halten,  wo,  wie  er  im  Vorwort 
sagt,  »uns  das  Bild  Buddhas  in  seiner  Menschlichkeit  entgegentritt, 
ohne  noch  viel  durch  mythisches  Beiwerk  entstellt  zu  8ein.<  Eine 
konsequente  Durchführung  dieses  Prinzips  würde  für  das  Bodhi- 
sattvastadium  des  Lebens  des  ^ftkyaprinzen  uns  der  einzigen  zu- 
sammenhängenden Darstellung  der  betreffenden  Ereignisse  im  Pali 
Tipitaka  berauben.  Sie  liegt  bekanntlich  vor  in  der  sogenannten  Ein- 
leitung in  das  Jätaka  (1, 47—77  ed.  F.),  d.  h.  dem  ersten  Teile  des 
kanonisch  anerkannten  Jätakakommentars,  und  gehört  gewiß  nicht 
zu  den  ältesten  Schriften.  Dennoch  hat  W.  keinen  Anstand  ge- 
nommen, für  diese  Periode  alle  seine  Berichte  dieser   »jüngerenc 

1)  z.  B.  Samafig.  Viläs.  1,45  ap.  Dutoit  S.  211  ft,  ap.  Warren  S.  91ff.  W. 
hat  Praesentia  »while  the  Lord  of  the  World  is  entering  . . .  gentle  winds  clear . . . 
other  winds  bring  . .  .<  etc.,  D.  Praeterita ;  bei  D.  S.  218  dnd  die  Worte  »be- 
trachtete er  ihre  Verhältnisse«  unverständlich,  W.  (p.  92)  besser  »with  dne  con- 
sideration for  the  different  dispositions  of  their  mind« ;  S.  214  D.  »nach  religiöseD 
Erwägungen  zu  fragen«,  richtiger  W.  (p.  93)  »At  this  point  some  would  ask  the 
Blessed  One  for  exercises  in  meditation«,  »Stoff  zum  Nachdenkenc  wfirde  der 
adäquate  Ausdruck  sein;  köstlich  ist  (S.  213)  die  Uebersetznng  »Laienbmderc  an 
einen  upäsaka  zu  bezeichnen. 


Dntoit,  Das  Leben  des  Buddha  807 

Quelle  zu  entnehmen.  Praktisch  ist  D.s  System  schwerlich  durch- 
föhrbar  und  hat  sich  ihm  auch  als  solches  erwiesen.  In  den  aner- 
kannt älteren  Teilen  der  heiligen  Schrift,  wo  der  Buddha  in  zahl- 
losen Gesprächen  und  Lehrreden  Punkte  der  Lehre  erörtert  oder 
autoritative  Vorschriften  für  das  Betragen  der  Mönche  gibt,  wo  er 
selbst  spricht  oder  richtiger:  loquens  inducitur,  werden  die  Ereig- 
nisse seiner  Bodhisattvaperiode  nur  gelegentlich  erwähnt,  und  wird 
oft  nur  teilweise  auf  solche  Sachen  angespielt.  Dieses  Material  hat 
sich  D.  selbstverständlich  als  zu  dfirftig  erwiesen,  als  daß  er  auf  die 
»jüngeren <  Quellen  völlig  hätte  verzichten  können;  das  wäre  auch  dann 
nicht  angegangen,  wenn  er  jenes  Material  völlig  erschöpft  hätte.  Er 
hat,  seiner  Theorie  zum  Trotz,  Einiges  aus  dem  Jätakakommentar, 
ja  selbst  ein  paar  Abschnitte  aus  einem  so  späten  Werke  wie  der 
Sumangalavilftsini,  aufgenommen.  Wenn  er  in  seinem  Vorwort  sagt, 
daß  er  das  tat  um  den  Unterschied  in  der  Behandlungsart  der 
älteren  und  der  jüngeren  Quellen  klarer  hervorzuheben,  so  ist  das 
eben  nur  Selbsttäuschung,  wie  schon  hinlänglich  aus  der  äußerlichen 
Form  der  Darstellung,  da  beiderlei  Berichte  unterschiedslos  dem  ge- 
bildeten Laien  vorgeführt  werden,  zu  ersehen  ist. 

Der  Strauß,  den  Dutoit  sich  also  zusammengelesen  hat,  besteht 
aus  Folgendem.  Für  die  Bodhisattvaperiode  hat  er  aus  dem  Majjh. 
Nik.  die  Suttas  12.  26.  36  und  123  verwertet,  111,38  des  Aiig. 
Nik.,  aus  dem  Saiby.  Nik.  den  Abschnitt  in,  4  und  5.  Drei  Texte 
entnahm  er  dem  Suttanipäta:  in,  1.  2  und  11.  Dem  Jätaka  ent- 
lehnte er  zwei  Abschnite  aus  der  Einleitung,  nl.  1,50  Z.  3  ed.  F. 
Tada  kira  bis  53  Z.  19  S^nodarh  nadi  und  1,58  Z.  3  v.  u.  AtV 
ekadimsam  bis  66, 1  Räjagaham  pavisi,  letzteren  »etwas  gekürzte. 
Für  den  Zeitraum  der  >Lehrtätigkeit  Buddhas«  fand  er  im  Vinaya- 
pitaka,  und  in  diesem  besonders  im  ersten  Buche  des  Mahävagga 
eine  Anzahl  ihm  passender  Stellen,  diesem  entnahm  er  1, 1 — 24  und 
54;  VI,31;  Vm,15;  dem  Cullavagga  VI4,9;  VII2-4;  Xlfg.  Dazu 
kommen  aus  den  > jüngeren  Quellen  c  das  paccuppannavaUhu  von 
Jät.  nr.  285  (11,415 — 417  ed.  F.)  und  Sumangalaviläsini  1,45 — 48; 
239—242.  Den  letzten  Abschnitt  > Buddhas  letzte  Lebenszeit  und 
Tod<  bildet  die  vollständige  Uebersetzung  des  Mahäparinibbänasutta 
(S.  221-318). 

Ich  will  nicht  mit  Dr.  D.  darüber  rechten,  in  wie  weit  eine  der- 
artig zusammengebrachte  Blütenlese,  in  der  so  viel  qualitativ  Un- 
gleichartiges quantitativ  so  ungleich  verteilt  und  ohne  Ebenmaß 
disponiert  ist,  ein  Laienpublikum  dazu  anzuleiten  vermag,  sich  in 
den  Geist  des  Buddhismus  und  der  buddhistischen  heiligen  Schrift 
hineinzudenken,  und  ich  will  ihm  gerne  die  Ulusion  belassen,  daß  er. 


808  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

indem  er  einerseits  manchen  allbekannten  und  jedem  Buddhisten  ab 
wesentlich  zur  Buddhageschichte  gehörenden  Zug  entweder  beiseite 
läßt  oder  nur  kurz  berührt,  andrerseits  mancherlei  dogmatischen  Ans- 
führungen,  wie  über  die  dui^ikaracaryä  (S.  36-— 50),  über  die  Tugenden 
der  Mönche  (S.  226 — 231),  über  die  »Sphären  des  üeberwinders«  und 
die  acht  >6efreiungen<  (S.  261—263)  einen  verhältnismäQig  großen 
Platz  einräumt,  seinen  Lesern  das  ihnen  versprochene  Leben  des 
Buddha  nach  >historischen<  Quellen  vorführt.  Ihm  selbst  möchte  ich 
raten,  seine  gute  Schulung  und  sein  Studium  des  Päii  lieber  durch 
fortgesetzte  Forschung  zu  erweitem  und  zu  vertiefen,  um  sie  seiner 
Zeit  zum  Nutzen  der  Wissenschaft  anzuwenden,  als  durch  populäre 
Schriftstellerei  Gefahr  zu  laufen,  daß  seine  Gelehrsamkeit  nicht  aus- 
reift und  er  im  Dilettantismus  untergeht. 

Uebrigens  gebe  ich  gerne  zu,  daß,  nach  verschiedenen  Stich- 
proben zu  urteilen,  D.  sein  Päli  ziemlich  gut  versteht,  besser  als 
das  buddhistische  Sanskrit,  gegen  das  er  in  seinen  Uebersetznngen 
aus  Lalitav.,  Buddhacarita  und  Mahävastu  in  seiner  Schrift  über  die 
du^karacarya  sich  arge  Verstöße  hat  zu  Schulden  kommen  lassen^). 
Allein  in  den  Geist  des  Buddbismus  und  in  das  richtige  Verständnis 
der  Vorstellungen  und  Begriffe  dieser  Religion  hat  er  sich  nicht 
genug  hineingelebt,  um  jetzt  schon  dem  großen  Publikum  der  Ge- 
bildeten ein  sicherer  und  didaktisch  tüchtiger  Führer  in  diese  fremde 
Gedankenwelt  zu  sein.  Selbst  für  einen  Meister  ist  diese  Aufgabe 
eine  schwer  zu  lösende.  Es  ist  ziemlich  leicht,  die  indischen  Wörter, 
welche  die  termini  der  Heillehre  sind,  durch  deutsche  Wörter  wieder- 
zugeben, aber  bei  dem  Worte  soll  sich  doch  etwas  Richtiges  denken 
lassen!  Die  Anmerkungen  D.s,  auf  welche  ich  hier  weiter  nicht  ein- 
gehe, sind  nicht  geeignet,  die  Begriffe,  um  die  es  sich  handelt,  in 
ihrer  Bedeutung  für  die  Lehre  und  ihren  Zusammenhang  anschaulich 
zu  machen. 

Eine  Kritik  der  Richtigkeit  von  D.s  Uebersetzungen  zu  liefern, 
hat  weiter  keinen  Zweck.    Im  großen  und  ganzen  sind  sie  gelungen, 

1)  Z.  B.  in  seiner  Uebersetzang  von  Lal.  ed.  Lefm.  248, 13 — 251, 15  sieht 
er  S.  59  seiner  genannten  Schrift  phtüa  für  phcUaküf  jcUa  für  jala  an,  verkennt 
er  den  Dvandva  aväkchirotkutuka,  and  glaubt  daß  mit  väsoblUh,  dem  Instr.  Ton 
väsah  »Kleid«,  »Aufenthaltsorte«  gemeint  sind ;  S.  60  faBt  er  paratra  als  param 
auf.  Sonderbar  auch,  daß  Jemand  der  so  tut,  als  sei  er  in  der  buddhistischen 
hdUgen  Schrift  bewandert,  S.  63  einen  so  gewöhnlichen  Ausdruck  wie  sammiiijana- 
prasärana  mißversteht  und  S.  64  die  drei  yäna^s  mit  »die  drei  Beförderungen« 
wiedergibt.  Das  Schönste  auf  diesem  Gebiete  bleibt  S.  73  »YoUe  zwölf  Nayutas 
Marumenschen  sind  durch  die  drei  Beförderungen  gezügelt«  als  Aequivalent  von 
dvädmanayuiä  pürnä  vimiä  marumäntA^äs  tribhir  yänaih  (Lal.  ed.  LefoL  260, 13). 
Anderes  siehe  in  meiner  oben  (S.  803)  zitierten  Anzeige  im  Museum, 


Dntoit,  Das  Leben  des  Buddha  809 

was  auch  nicht  zu  schwer  war,  da  die  von  ihm  übersetzten  Texte 
schon  längst  in  guten,  von  ausgezeichneten  Gelehrten  gemachten 
englischen  Uebersetzungen  in  den  Sacred  Books  veröffentlicht  sind 
(Suttanipäta  in  Bd.  X,  Mahävagga  und  Gullavagga  des  Vinayapitaka 
Bd.  Xin,  XVin  u.  XX,  das  Mahäparinibbänasutta  Bd.  XI),  das  Jä- 
takabuch  in  der  bekannten  Version  von  Cowells  Schülern.  Es  ist 
auch  schwerlich  anzunehmen,  daß  wer  in  der  Folge  eine  maßgebende 
Uebersetzung  dieser  Texte  für  wissenschaftliche  Zwecke  braucht,  das 
D.sche  Buch  den  genannten  englischen  Standardwerken  vorziehen 
wird.  Dazu  kommt,  daß  D.  nur  sehr  selten  zu  seinen  Vorgängern 
Stellung  nimmt  *),  was  er  doch  tun  würde,  wenn  er  selbst  seinen  et- 
waigen Abweichungen  wissenschaftlichen  Wert  beimäße. 

Dabei  könnte  ich  es  bewenden  lassen,  denn  über  das  Buch  habe 
ich  gesagt,  was  ich  zu  sagen  auf  dem  Herzen  hatte.  Ich  will  aber 
diese  Gelegenheit  benutzen,  um  einigen  alten  und  irrigen  Meinungen 
entgegenzutreten,  welche  noch  aus  der  Zeit  stammen,  als  man  die 
buddhistische  Sanskrit-  und  Pseudosanskritliteratur  kaum  oder  wenig 
kannte,  und  welche  am  schärfsten  formuliert  gerade  in  den  Kreisen 
der  Nicht-Indologen  verbreitet  sind. 

Ich  greife  auf  den  Passus  in  D.s  Vorwort  zurück,  wo  er  sagt: 
»In  diesen  alten  Erzählungen  tritt  uns  das  Bild  Buddhas  in  seiner 
Menschlichkeit  entgegen,  ohne  noch  viel  durch  mythisches  Beiwerk 
entstellt  zu  sein.«  Ich  möchte  fast  sagen:  das  sind  beinahe  ebenso 
viele  Irrtümer  als  Worte.  Die  » Menschlichkeit  <  Buddhas,  obgleich 
er  als  Mensch  und  in  der  Menschenwelt  geboren  ist,  ist  doch  nicht 
mit  dem  gewöhnlichen  Maßstabe  zu  messen.  In  dem  ersten  von  D. 
übersetzten  Text,  einer  >  alten  Erzählung  <,  erzählt  er  selbst,  wie  er, 
Bodhisattva,  noch  vor  seiner  letzten  Geburt,  aus  dem  Tu^ita-Himmel 
in  den  Schoß  seiner  Mutter  einging,  von  welchem  Wunderzeichen 
dieses  Ereignis  begleitet  wurde,  und  wie  die  Devas  und  Devaputtas 
während  der  Schwangerschaft  über  Mutter  und  Frucht  wachten.  Der 
letzte  von  D.  übersetzte  Text,  auch  >eine  alte  Erzählung  <,  das 
Mahäparinibbänasutta  enthält  den  Zug:  >Als  aber  der  Erhabene  zum 
vollkommenen  Nirvana  eingegangen  war,  entstand  zugleich  mit  seinem 
Eingang  ins  vollkommene  Nirvana  ein  großes  Erdbeben,  ein  furch- 
bares, schaudererregendes,  und  die  Donner  des  Himmels  brachen 
los€  (D.  S.  305).  Und  daß  der  >in  seiner  Menschlichkeit«  uns  ent- 
gegentretende Meister  und  Lehrer  des  Saddharma  das  divyam  cak^u^^ 
besitzt,  womit  er  Götter  und  göttliche  Dinge  schaut,  bezeugt  wieder 

1)  Genannt  werden  Rhys  Davids  (Anm.  3;  71)  und  FausböU  (Anm.  31),  auch 
sonderbarerweise  Neumann  (Anm.  83),  dessen  dumme,  nur  seine  Unwissenheit  dar- 
legende Erklärung  von  aotäpanna  doch  wahrUch  der  Erwähnung  nicht  wert  ist. 


810  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

eine  Stelle  aus  einer  von  D.  Übersetzten  »alten  Erzihlang«,  siehe 
S.  288.  So  viel  über  die  >Men8chlichkeit€. 

Ferner  ist  das  »Mythischec  in  der  Buddhageschichte  nicht  >Bei- 
werkc.  Es  macht  vielmehr  einen  wesentlichen  Bestandteil  der  Tradi- 
tion aus,  auch  der  ältesten.  In  der  legendären  Geschichte  des  ^- 
kyamuni  stimmen  die  verschiedenen  Abteilungen  der  Kirche  (der 
nördlichen  und  der  südlichen)  bis  in  Kleinigkeiten  überein,  and  im 
großen  und  ganzen  herrscht  hier  zwischen  den  verschiedenen  >ältereo< 
und  »jüngeren«  Quellen  die  schönste  Uebereinstimmung.  Die  Wunder- 
geschichte  des  Großen  Wesens,  das  für  das  Heil  der  Geschöpfe  als 
Mensch  geboren  wird,  um,  nachdem  es  selbst  den  Besitz  der  höchsten 
Wahrheit  sich  erobert  hat,  den  zum  Nirvana  führenden  Weg  zu 
lehren,  gehört  eben  zu  den  wesentlichsten  und  ursprünglichsten 
Dogmen  der  Kirche.  Die  »supposed  accumulations«,  wie  Kern, 
Manual  of  Indian  Buddhism  S.  12  sie  nennt,  finden  sich  schon  in 
den  ältesten  Teilen  des  Tipitaka  vor.  Will  man  Beweise?  Sie  liegen 
auf  der  Hand,  selbst  in  den  von  Dutoit  selbster  wählten  »historischen 
Texten«  (Vorwort,  S.  V).  Schon  im  123.  Sutta  des  Majjh.  Nik. 
(Dutoit,  S.  1—5)  verläßt  der  Bodhisattva  den  Tu^ita-Himmel;  halten 
vier  devaputtas  Wache  zum  Schutz  der  schwangeren  Frau;  macht 
der  künftige  Buddha  gleich  nach  seiner  Geburt  die  legendarischen 
sieben  großen  Schritte,  und  läßt  er,  purusottama  wie  er  ist,  sein 
gewaltiges  Wort,  seinen  slhanäda,  hören!  Auch  heißt  es  daselbst, 
daß,  >als  der  Bodhis.  aus  dem  Schöße  seiner  Mutter  hervorginge  in 
allen  Welten,  auch  in  den  finstersten,  >  unermeßlich  großer  Glanz« 
sichtbar  wurde,  »der  noch  die  überirdische  Macht  der  Götter  übe^ 
stieg.«  Auf  das  Wunder  des  dhyäna  unter  dem  Jambübaume  wird 
in  einer  von  D.  (S.  59)  aus  dem  36.  Sutta  des  Majj.  Nik.  übersetzten 
Stelle  angespielt;  ein  anderes  Wunder  von  dem  zur  Sambodhi  ge- 
langten Gotama  wird  in  der  alten  Quelle  Vinayapitaka,  Mahavagga, 
1,8  (bei  D.,  S.  91)  erzählt;  u.  s.w.  Daß  der  zukünftige  Buddha  in 
der  Gestalt  eines  weißen  Elephanten  seinen  patisamdhüh  ganhi,  wissen 
wir  nicht  nur  aus  dem  Zeugnisse  der  >jüngeren  Quelle«  Nidänakathä 
des  Jätakakommentars  (D.,  S.  5—11),  sondern  dieses  wunderbare  Er- 
eignis steht  bekanntlich  schon  auf  dem  Stüpa  von  Bharhut  abge- 
bildet. 

Auch  die  Prophezeiung  des  Asita,  welche  D.  (S.  11—14)  nach 
S.  N.  ni,  11, 1— 20,  wiedergibt,  ist  voll  mythischer  Züge.  Der 
seinerzeit  von  Oldenberg  (Buddha,  S.  101  der  ersten  Ausg.,  1881) 
vertretenen  Ansicht,  daß  Suddhodana  ursprünglich  ein  reicher  adliger 
Grundbesitzer  vom  ääkyastamme  gewesen  sei,  den  erst  spätere  Tradi- 
tion zum  Inhaber  der  Eönigswürde  gemacht  habe,  scheint  D.  jetzt 


Dtttoit,  Das  Leben  des  Buddha  811 

noch  zu  huldigen,  wenn  er  überall,  wo  in  dem  Nälakasutta  der  jung- 
geborene Bodhisattva  kumara  genannt  wird,  dieses  Wort  mit  »Knabe  < 
übersetzt,  und  nicht  mit  >Prinzi.  FausböU  hat  hier  überall  >prince€, 
und  das  mit  Recht,  denn  vs.  8  tato  Jcumarath  jalitam  iva  suvanmth 
. . .  dassesu  puttam  Äsitavhayassa  Sakyä  wird  kumära  mit  putta  ver- 
bunden (bei  D.  heißt  es  etwas  komisch:  >Darauf  zeigten  die  Sakyas 
ihm ...  das  Kind,  den  Knaben c).  Auch  vs.  12  Sakyaputigavam  weist 
darauf  hin,  daß  äuddhodanas  Sohn  als  Königssohn  und  zukünftiger 
Erbe  des  Königreiches  gedacht  ist.  Um  schließlich  jeden  Zweifel  zu 
heben,  verweise  ich  auf  eine  andre,  von  Dutoit  nicht  ausgewählte 
Stelle  desselben  Suttanipäta:  V,  1,16  Purä  kapilavatthunä  j  nikkhanto 
hkanäyako I apacco  OkJcäkarajassa  [zu  lesen:  apacc' Okk.] / SaJcyapiMo 
päbharhkaroj  in  Fausb.s  üebersetzung:  >  Formerly  went  out  from  Kapila- 
vatthu  a  ruler  of  the  world,  an  ofifspring  of  the  Okkäka  king,  the 
Sakya  son,  the  light-giving.«  Also  auch  in  den  ältesten  Quellen  des 
Pali  Tipitaka  —  s.  über  Suttanipäta  V  die  Preface  p.  IV  Fausbölls 
in  seiner  Ausgabe  dieser  Perle  der  buddh.  heiligen  Schrift  —  ist  der 
Bodhisattva  Säkyamuni  nicht  ein  steinreicher,  in  drei  Palästen  wohnen- 
der Sohn  eines  adligen  Grundbesitzers,  sondern  ein  Prinz  aus  einer 
alten  Dynastie. 

Daß  die  von  den  Wahrsagern  aufgestellte  Alternative,  entweder 
Cakravartin  oder  Buddha,  im  Dutoitschen  »Leben  des  Buddha«  gar 
nicht  erwähnt  wird,  darf  nicht  zu  dem  Irrtum  verleiten,  als  sei  dieser 
Iv  toic  {idXiota  essentielle  Zug  der  Legende  nur  aus  jüngeren  Zeug- 
nissen bekannt.  Sein  Bestehen  und  seine  Bedeutung  für  die  Ge- 
meinde der  Buddhabekenner  schon  zur  Zeit  der  Abfassung  des  Suttani- 
päta geht  so  klar  wie  möglich  aus  Selasutta  (S.  N.  III,  5)  hervor,  in 
Fausb.s  Üebersetzung  S.  100.  Hier  werden  dieselben  Merkmale  eines 
zukünftigen  Cakravartin  oder  Buddha  und  dieselben  ratnäni  des 
Ersteren  aufgezählt  und  mit  Gotama  Buddha  in  Verbindung  gebracht, 
wie  sie  der  Senartschen  Solartheorie  zu  Grunde  liegen.  Also  auch 
hier  zeigt  sich  diese  Legende  als  uraltes  Element  buddhistischer 
Tradition;  übrigens  vgl.  noch  S.  N.  V,  1, 25— 28  (in  F.s  üebers. 
S.  187). 

Die  schlichte  Weise,  auf  welche  die  nächtliche  Flucht  aus  dem 
Palaste  zu  Kapilavastu  in  Majjh.  Nik.  Sutt.  26  (ed.  Trenckn.  S.  163) 
erzählt  wird:  So  klio  aJiam  bhikkhave  aparena  samayena  daharo  va 
saniäno  stisu  kalakeso  u.  s.  w.,  übersetzt  bei  D.  S.  18,  darf  nicht  als 
argumentum  ex  silentio  gelten,  um  zu  beweisen,  wie  Oldenberg  es 
tat,  daß  Gotamas  Weltflucht  dort  erwähnt  wird  von  Leuten,  welche 
die  wunderliche  und  poetische  Fassung  dieser  folgeschweren  Begeben- 
heit nicht  kannten.    Der  Buddha  erinnert  in  diesem  Passus  seine 


812  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Hörer  einfach  daran,  daß  er,  nachdem  er  zu  der  Einsicht  gekommen 
war,  daß,  um  die  jatij  die  jara,  den  byodhi^  das  maranaj  den  soka^ 
die  saiMc%lesä{s)  los  zu  werden,   er  nach  dem  nibbana   zu   forschen 
hätte,  sein  Haus  verließ  um  ein  Hausloser  zu  werden,   und  bedient 
sich  dabei   der   bekannten  Formel:   agarasmä  anagariyam  pabbajm. 
Wie  sein  agara^  als  er  noch  in  der  Welt  lebte,   beschaffen  war, 
und  unter  welchen  mirakulösen  Umständen  sein  mahäbhini^kramana 
stattfand,   dieses  zu  erwähnen  lag  ja  an   der   betreffenden   Stelle 
kein  Grund  vor,   wo   von   der  Art  und  Weise,  wie  er  durch  Nach- 
denken  und  Uebung  allmählich  zur  samhodhi  kam,    die   Rede  ist 
Diese  Stelle  beweist  nichts,   weder  pro  noch  contra.    Die  überein- 
stimmende Fassung  in  der  späteren  südlichen  und  der  meinetwegen 
»späterenc    nördlichen    Ueberlieferung ,    welche    hier    aber    zeitlich 
zweifelsohne  älter  ist  als  Buddhaghosa,  hat  dagegen  eine  sehr  große 
Beweiskraft.    Wenn  Dutoit  in  seiner  Anm.  55  in  der  Bekehrungs- 
geschichte  des  Yasa  das  Prototyp   des  Weltekels  des  Bodhisattva 
sieht,  stellt  er  eben  die  Sache  auf  den  Kopf. 

Noch  eine  andere  Bemerkung  über  den  Ausdruck  »das  Bild 
Buddhas  in  seiner  Menschlichkeit.«  Er  enthält  eine  contradictio  in 
adiecto.  Der  Name  Buddha  benennt  keinen  Menschen;  höchstens 
würde  Uebermensch  hier  der  annähernd  entsprechende  Ausdruck  sein. 
Auch  ist  >  Buddha  c  nicht  ein  individueller  Eigenname.  Man  kann 
nur  sagen  >der  Buddha«.  Vor  dem  Säkyamuni,  dem  Stifter  des 
Buddhismus,  hat  es  eine  Unzahl  von  Buddhas  gegeben,  und  wird  es 
nach  ihm  wieder  geben;  daß  sie  durch  endlos  lange  Zeiträume  von 
einander  getrennt  sind,  ändert  die  appellative  Natur  des  Begn& 
nicht.  Die  in  D.s  alphab.  Register  ausgesprochene,  und  wenn  ich 
nicht  irre,  außerhalb  der  Kreise  der  Fachgelehrten  von  Vielen  ge- 
teilte Ansicht,  daß  das  Dogma  von  der  Pluralität  der  Buddhas  sich 
erst  »allmählich«  ausgebildet  habe,  sollte  doch  auch  einmal  be- 
wiesen werden!  Nach  dem  Sachverhalte  der  Tradition  über  die 
Erleuchtung,  die  samydksamhodhi,  zu  urteilen  ist  der  Begriff  eines 
Erleuchteten,  eines  Buddha,  das  Prius,  Gautamas  Erreichung  dieser 
übermenschlichen  und  übergöttlichen  Stellung  das  Posterius.  Mit 
andern  Worten,  die  Buddhaidee  ist  älter  als  der  Buddhismus,  wie  er 
von  Gautama  gelehrt  und  gepredigt  ist,  ganz  wie  die  messianische 
Idee  älter  ist  als  das  Christentum.  Wenn  das  Päli  und  das  Sanskrit 
einen  Artikel  besäßen,  wie  das  Griechische,  würde  man  auch  in  der 
ältesten  Tradition  bei  dem  Worte  Buddha  den  Artikel  finden,  auf 
analoge  Weise  wie  z.  B.  Ev.  Joh.  3, 22.  7, 26  fg.  6  Xpiotö«.  Und 
während  Xpiatöc  früh  zum  individuellen  Eigennamen  geworden  ist, 
weil  es  nur  einen  geben  konnte,  war  solches  mit  dem  Namen  des 


Datoit,  Das  Leben  des  Buddha  813 

Buddha  nicht  möglich,  weil  theoretisch  die  Erlangung  der  samyaJcsam- 
bodhi  nicht  auf  eine  Person  beschränkt  war.  Schon  vor  dem  Buddhis- 
mus muß  das  Wort  buddha  >der  Erwachte,  der  Wache«  in  der  Be- 
deutung von  ßanin  (in  den  Augen  der  großen  Menge  ja  ein  »Doktor 
Allwissend«)  Kurs  gehabt,  und  in  engerem  oder  weiterem  Sinne  bald 
jeden  Asketen,  bald  den  Meister  der  Asketen,  der  die  höchste  Weis- 
heit erlangt  hat,  bezeichnet  haben.  Streng  genommen  heißt  letzterer 
der  sambuddha  und  samyaksambuddha.  Von  der  weiteren,  älteren, 
durch  die  Existenz  der  Buddhareligion  früh  verblichenen  Bedeutung 
des  substantivierten  Adjektivs  bvddha,  finden  sich  im  Tipitaka  noch 
einige  Beispiele.  Ghilders  zitiert  die  Stelle  Dhp.  338  ed.  F.  (1855) 
hifh  samano  Gotamo  buddho  mayam  pi  buddha.  Eine  andere  Stelle 
ist  Jät.  111,408,  vs.  142,  für  welche  ich  auf  die  Anm.  zu  S.  21  meiner 
Uebersetzung  der  Jätakamälä  (Sacred  Books  of  the  Buddhists,  vol.  I) 
verweise.  Und  eine  allgemeinere  Bedeutung  möchte  das  Wort  auch 
Jät.  11,417, 15  fgg.  haben,  wo  Buddhanarh  steht,  obgleich  man  Bod- 
dhänath  [=  skt.  Bauddhänäm]  erwartet. 

Auch  die  Geringschätzung  der  kanonischen  Schriften  der  nörd- 
lichen Buddhisten,  welche  man  besonders  in  populären  Werken  über 
den  Buddhismus  antrifift  und  die  auch  von  Dutoit  zur  Schau  getragen 
wird,  ist  unberechtigt  und  durch  unzulängliche  Kenntnisse  bedingt. 
Wie  viel  auch  im  Mahäyäna  an  den  Dogmen  und  den  metaphysischen 
Ansichten  des  älteren  Buddhismus  geändert  sein  mag,  in  Betrefif  der 
Tradition  über  ^äkyamuni  besteht,  wie  oben  gesagt,  die  schönste 
Uebereinstimmung  zwischen  der  Einleitung  in  das  Jätaka,  welche 
notorisch  später  schriftlich  abgefaßt  ist  als  Lalitavistara  und  Buddha- 
carita,  und  diesen  Werken.  Die  nördliche  Tradition  enthält  bisweilen 
mehr  als  die  südliche.  Sind  diese  Züge  darum  >  Entstellungen  ?€ 
Kann  nicht  auch  Altes  und  Aechtes  vorliegen?  Wer  von  vornherein 
diese  ganze  Tradition  der  Sanskritbücher  beiseite  schiebt  oder  als 
minderwertig  betrachtet,  stellt  sich  auf  den  orthodoxen  Standpunkt 
eines  buddhistischen  Singhalesen,  nicht  auf  den  wissenschaftlichen 
eines  unparteiischen  Forschers.  In  seiner  Schrift  über  die  du9kara- 
caryä  gibt  Dutoit  selbst  ein  Beispiel,  wie  eine  vorgefaßte  Meinung 
das  Urteil  beirren  kann.  Sein  S^  genanntes  Zeugnis  des  Majjh.  Nik. 
nr.  12,  dessen  Unsinnigkeit  er  selbst  (S.  49  der  betreffenden  Schrift) 
eingesteht,  soll  nach  ihm  das  Vorbild  gewesen  sein,  das  in  Lalita- 
vistara 248, 13 fgg.  (ed.  Lefm.)  verwertet  worden  ist!  Es  ist  aber 
ofifenbar,  daß  im  Gegenteil  letztere  Sanskrit-Stelle  eine  ältere,  die 
den  ältesten  Teilen  des  Tipitaka  zugehörige  Stelle  des  Majjh.  Nik. 
nr.  12  eine  jüngere  Fassung  derselben  Sache  enthält.  Hiermit 
hängt  auch  zusammen,  daß  in  solchen  Fällen,  wo  derselbe  Text  in 


81i  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

mehr  oder  weniger  yerschiedener  Redaktion  in  beiden  heiligen  Schriften, 
der  nördlichen  und  der  südlichen,  vorliegt  —  und  wie  man  wdfi, 
sind  diese  Fälle  gar  nicht  selten  — ,  D.  gar  nicht  daran  gedacht 
hat,  wie  nützlich  in  kritischer  und  exegetischer  Hinsicht  für  die 
richtige  Feststellung  des  Textes  und  das  richtige  Verständnis  die 
Vergleichung  beider  ist.  Namentlich  hat  er  bei  seiner  Uebersetzung 
des  Padhänasutta  des  S.  N.  (111,2)  von  den  Ergebnissen  der  von 
Windisch,  Mära  und  Buddha  (S.  7fgg.)  angestellten  Vergleichung 
dieses  alten  Liedes  mit  der  an  mancher  Stelle  besser  erhaltenen  Ver- 
sion in  Lalitavistara  (S.  327  fgg.  ed.  Räj.  =  263  fgg.  ed.  Lefm.)  keinen 
Gebrauch  gemacht.  Das  ist  umso  sonderbarer,  als  er  das  Buch  von 
Windisch  nennt  und  kennt  (in  seiner  Anm.  über  M&ra,  S.  350).  Nor 
vs.  25  des  betreffenden  Liedes  stimmt  seine  Aufifassung  mit  der  von 
W.  überein;  vs.  7. 16. 19.  21  hat  er  offenbar  falsch  übersetzt,  wdl  er 
die  darauf  bezügliche  Stelle  bei  W.  nachzuschlagen  versäumte.  Wu 
er  über  vs.  16  a  esa  muüjath  [oder  murlcafh]  pariharß^  einen  evident 
korrupten  päda,  schreibt,  ist  reiner  Unsinn;  FausböU,  dessen  weises 
Stillschweigen  er  in  seiner  Anm.  30  (S.  322)  seiner  eigenen  Erklärung 
gegenüber  mißfällig  erwähnt,  wollte  nicht  übersetzen,  was  er  nicht 
verstand.  Was  gemeint  ist,  ist  aus  der  Lal.  Version  ersichtlich,  s. 
Windisch,  1. 1.  S.  7  Anm. 

Bekanntlich  ist  Fausbölls  Ausgabe  des  Suttanipäta  drei  Jahre 
nach  seiner  englischen  Uebersetzung  im  X.  Teile  der  Sacred  Books 
erschienen,  und  betonte  er  S.  VIII  seiner  >Preface< :  >The  reader  ynü 
see  from  the  punctuation  of  my  text  that  I  now  understand  a  few 
passages  otherwise  and,  as  I  hope,  better  than  when  I  translated 
the  book.i  Dieses  hat  Dutoit  richtig  im  Auge  behalten,  z.  B.  bei 
S.N.m,l,16.17. 

Pabba]jäsutta(S.N.  in,l)  vs.  2:  sambädho  'yam  gharovaso  rajas- 
säyatanofk  üi  abbhokäso  ca  pcibbajja.  D.s  Uebersetzung  verhüllt  den 
Gedanken.  Etwas  besser  F.  Die  Schwierigkeit  der  Uebersetzung  liegt 
hier,  wie  oft,  in  der  Doppelsinnigkeit.  >Das  Leben  im  Hause  (d.  h. 
in  der  Welt)  ist  Bedrängnis,  weil  es  der  Sitz  des  gu^a  rajas  ist, 
Hauslosigkeit  {pabbajja)  dagegen  ist  abbhokä$a€  (zugleich  »die  gänz- 
liche unbeschränkte  Freiheit  von  Fesseln  jeder  Art<  und  >the  open- 
air  lifec  wie  F.  es  übersetzt).  —  vs.  9  Sapadänam  caramano  bedeutet 
nicht  > unausgesetzt  weiter  wandelnd«  sondern  >den  Bettelrundgang 
machend  Haus  an  Haus,  in  regelmäßiger  Folge,  ohne  jemand  vorzu- 
ziehen oder  zu  übergehen,  c  Man  sehe  Ghilders  s.  v.  sapadänam.  Die 
Bedeutung  ist  sicher,  die  Etymologie  des  Wortes  völlig  unbekannt 
Die  von  Ghilders  erwähnte  Stelle  in  Ehaggavisänas  (S.  N.  1, 3)  hat 
nicht  padänacarij  sondern  gleichfalls  sapadänacäri. 


Datoit,  Das  Leben  des  Buddha  815 

VS.  19  na  käme  abhipatthayam.  Die  Uebersetzung  »da  ich  kein 
Gefallen  fand  an  den  Lüsten  <  ist  nachlässig.  ÄbhipaUheti  hat  nur 
6me  Bedeutung,  die  des  Begehrens,  Verlangens,  Bittens;  daher  muß 
iäma  hier  >  Genuß  c  bedeuten,  nicht  >Lust<.  FausböU  richtig  >not  longing 
for  sensual  pleasures«.  Solche  Uebersetzungsnachlässigkeiten  sind  in 
populären  Werken  noch  schlimmer  als  in  wissenschaftlichen,  da  sie  nicht 
so  gut  der  Kontrolle  zugänglich  sind.  Sie  finden  sich  in  der  D.schen 
Uebersetzung  leider  auch  da,  wo  sie  gar  nicht  zu  entschuldigen  sind. 
So  gibt  erMahäv.  (des  Vin.  Pit.)  VI,  31, 7  >Lust,  Sünde  und  Irrtumc 
als  Aequivalent  von  kätna,  dosa^  moha^  indem  er  übersieht,  daß  dosa 
hier  nicht  =  skrt.  do^a^  sondern  =  dve^a  ist,  und  obgleich  er  aus 
der  englischen  Uebersetzung  der  Stelle  (S.B.E.  XVU,112)  hätte 
lernen  können,  daß  käma  mit  >Lust<,  dosa  mit  >ill-will<,  moha  mit 
»delusion«  wiedergegeben  wird.  Was  soll  sich  »the  general  reader« 
dabei  denken,  wenn  er  S.  129  von  der  Verabredung  Säriputtas  und 
Mogallänas  liest:  »Wer  zuerst  zum  Ewigen  gelangt,  der  soll  es  dem 
anderen  mitteilenc  =  Mahäv.  1. 1. 1, 23, 1  yo  pafhamam  amatam  adhi- 
gacchoH  so  aroceitUi?  Auch  hier  ist  die  Uebersetzung  von  Rhys- 
Davids  und  Oldenberg  (S.B.E.  XIII,  144)  verständlicher:  »to  the  im- 
mortal (am ata,  i.  e.  Nirvana).«  In  der  Jätakaeinleitung  (1,50,11 
ed.  F.)  sagt  D.  (S.  5  a.  E.):  >Da  hatte  sie  folgenden  Traum:  Vier 
Großkönige  hoben  sie  samt  ihrem  Bett  auf  c  u.  s.  w.  Wie  kann  der 
geneigte  Leser  daraus  begreifen,  daß  die  vier  mythischen  Lokapälas 
gemeint  sind?  Bei  Kem-Jacobi  oder  bei  H.  C.  Warren  hätte  er  das 
Richtige  finden  können. 

4  vädayanti  heißt  nicht  »reden«,  wie  D.  gedankenlos  schreibt, 
sondern  >make  music«  (F.). 

6  vattessati  cakkam  >will  tum  the  wheel  (of  the  Dhamma)«,  so 
richtig  F.  Warum  zerstört  D.  die  Vielseitigkeit  des  Ausdrucks  durch 
die  nur  eine  Seite  berücksichtigende  Uebers.  »wird  sein  Reich  be- 
gründen?« 

17  Wie  kann  Asita  seinen  Neffen  in  der  Lehre  des  Buddha 
unterweisen,  welche  erst  in  der  Zukunft  offenbart  werden  sollte?  Zur 
Zeit  gab  es  doch  keinen  Buddha.  Diese  auch  dem  >general  reader« 
von  selbst  hier  auftauchende  Frage  hätte  D.  darauf  aufmerksam 
machen  sollen,  daß  seine  Uebersetzung  von  samadapesi  falsch  ist. 
F.s  »induced  him  to  embrace  the  Dhamma  of  the  incomparable  one« 
kommt  der  Wahrheit  viel  näher.  Asita  bewog  seinen  Neffen  Nälaka 
zum  Gelübde,  die  Lehre  des  Buddha,  wenn  sie  einmal  verkündigt 
werden  würde,  anzunehmen.  Samädiyaii  >  generally  used  of  a  reli- 
gious undertaking  or  vow  to  fulfil  some  or  all  of  the  religious  pre- 


816  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

ceptsi  (Childers  s.  v.)  wird  in  dem  Tipitaka  in  dieser  Bedeutung  oft 
genug  verwendet. 

Zum  Schluß  ein  paar  Bemerkungen  zu  Jät.  11,415—417  (über- 
setzt S.  198—202).    Hier  hat  D.  Rouses  Uebersetzung  benutzt.    S.  199 
»Zu  dem  Asketen  Gotama,   denn  ich  wohne  mit  ihm  zusammen  in 
einem  duftenden  Gemache«  ==  Jät.  11,416,5  samanassa   Gotamassa 
santikaih  aham  hi  tena  ekagandhdkutiycm  vasätnUi,     Warum   nicht 
lieber  >ich  übernachte  mit  ihm  zusammen  in  seinem  Schlafzimmer«? 
Die  Zelle  Gotamas  ist  die  gandluxkuß,  —  Einige  Zeilen  weiter  (Jät 
1. 1.  Z.  16)  ranna  anurlnCUa  attano  upaffhäke  gahetva  Jetavanatk  ganivä 
vicinantä;  hier  sind  beide  Uebersetzer  irre  gegangen;  es  sind  nicht 
des  Königs  Diener,  welche  nach  Sundari  suchen,  die  Tirthikas  hatten 
nur  um  Erlaubnis  gebeten,  dieses  selbst  durch  ihre  Diener  verrichten 
zu  dürfen.    UpafthäJco  =  upasthüyakah  (skt.)  heifit  eines  Mönches  Auf- 
wärter, nicht  eines  Königs  Scherge;  attano  Gen.  Sing,  nach  der  be- 
kannten Regel,   daß  das  refl.  ätman  im  Sing,  steht,  auch  wenn  es 
sich  auf  Mehrere  bezieht.  —  Dem  ibid.  Z.  30  aus  Dhp.   (vs.  306) 
zitierten  Spruch  äbhütavaäl  nirayam  apet%\yo  väpi  katvä  na  karamiH 
cäha/ubho  pi  te  pecca  sama  bMvanti  /  nihTnaJcammä  manuja  paraUha 
tun  Rouse  und  D.  Unrecht,  indem  sie  das  letzte  Wort  anders  fassen 
als  Max  Müller   in   seiner  Dhp.  -  Uebersetzung   (S.  74).      Paratiha 
kann  unmöglich  etwas  anderes  bedeuten  als  >in  the  next  world <; 
R.S  >as  men  of  evil  deeds  elsewhere  shall   risec   ist  unrichtig,  und 
D.S   >die  Menschen,    die   anderswo   Niedriges    getan   haben<   noch 
schlimmer.    Doch  auch  nihindkamma  ist  m.  E.  in  dieser  Verbindung 
nicht  richtig  verstanden.  Der  Sinn  des  Ganzen  ist:  »Der  Lügner,  so 
wie  derjenige  der  Wahres  verhehlt,  gehen  zur  Hölle.    Beide  Kate- 
gorien von  Menschen  stehen  nach  dem  Tode  gleich,  indem  sie  in 
der  andern  Welt  ein  trauriges  Los   haben,    weil    ihr   Karma  ein 
niedriges  ist.< 

Leiden  J.  S.  Speyer 


Jacob,  Erwähnungen  des  Scbattentheaters  817 


1.  Erwähnungen  des  Schattentheaters  in  der  Welt-Litteratur 
zusammengestellt  von  Dr.  Georg  Jaeob,  ao.  Professor  an  der  Universität  Er- 
langen. 3.  Termehrte  Ausgabe  der  Bibliographie  über  das  Schattentheater.  Berlin, 
Mayer  &  Müller  1906.  49  S.   kl.  8«.   (Mit  einer  Tafel  in  Photographie). 

2.  Die  Liebenden  von  Amasia.  Ein  Damascener  Schattenspiel, 
niedergeschrieben,  übersetzt  und  mit  Erklärungen  versehen  von  Dr.  Joh«  Gott- 
fried Wetzstein,  weiland  Kgl.  preußischem  Konsul  in  Damascus.  Aus  dem  Nach- 
lasse desselben  herausgegeben  von  G.  Jahn.  Leipzig.  In  Kommission  bei  F. 
A.  Brockhaus.  (Mit  dem  Bilde  Wetzsteins).  X  +  160  S.  8^  (=  Abhand- 
lungen für  die  Kunde  des  Morgenlandes,  hrsg.  von  der  Deutschen  Morgen- 
ländischen Gesellschaft.    XIL  Band,  No.  2). 

3.  Ein  ägyptisches  Schattenspiel.  Von  Dr.  Curt  Prflfer.  Erlangen  1906. 
Druck  der  Üniv.-Buchdruckerei  von  E.  Th.  Jacob.  XXUI  +  151  S.  8«.  (Er- 
langer Inaugural-Dissertation.) 

Seit  einer  ganzen  Reihe  von  Jahren  beschäftigt  sich  nun  schon 
mein  werter  Erlanger  Kollege  Jacob  mit  Studien  Über  das  Schatten- 
theater, und  eine  recht  stattliche  Anzahl  von  Publikationen  über 
diesen  Gegenstand  stammt  aus  seiner  Feder  oder  aus  der  Feder 
andrer,  jüngerer  Leute,  die  J.  für  diese  Studien  zu  interessieren 
wußte.  Mit  großem  Fleiße  hat  J.  die  Weltlitteratur  über  dieses  in- 
teressante Produkt  der  menschlichen  Kultur  durchmustert  und  zu- 
sammengetragen, was  er  in  den  Werken  von  Philologen  und  Literar- 
historikern, Geschichtsschreibern  und  Geographen  hierüber  finden 
konnte;  die  Ergebnisse  dieser  Sammelarbeit  erscheinen  hier  zum 
dritten  Male  ediert  und  in  willkommener  Weise  erweitert.  Eines 
beschämt  mich  geradezu,  wenn  ich  von  J.  im  > Vorbemerke  das  voll- 
begründete Verlangen  nach  Veröflfentlichung  von  Proben  des  tunisi- 
schen  Schattenspiels  ausgesprochen  sehe,  daß  nämlich  ich,  der  ich 
schon  viermal  auf  längere  Zeit  in  Tunis  gewesen  bin,  diesem  Zweige 
der  arabischen  Volksliteratur  niemals  meine  Aufmerksamkeit  geschenkt 
habe.  Hoffentlich  übernimmt  diese  Pflicht  bald  ein  andrer.  Wenn 
ich  J.s  reichhaltige  Liste  von  Monographien  über  diesen  Gegenstand 
oder  von  Publikationen,  in  denen  er  berührt  wird,  durchmustere,  so 
wird  es  mir  schwer,  Zusätze  zu  machen.  In  einem,  in  meinem  Be- 
sitze befindlichen  Buche  finde  ich  noch  etwas  hierüber,  nämlich  in 
dem  alten  Zweibänder  Malerische  Reise  um  die  Welt  verfaßt  von 
einer  Gesellschaft  Reisender  und  Gelehrter  unter  der  Leitung  des 
Herrn  Dümont  d'Urville.  Ins  Deutsche  übertragen  von  Dr.  A.  Diez- 
mann,  Leipzig  1835  fif.  J.,  U.  Band,  S.  152  (und  dazu  Tafel  32), 
—  das  javanische  Schattenspiel  betreffend ;  doch  sind  die  betreffenden 
Mitteilungen  augenscheinlich  einem  früheren  Werke  entnommen.  Zu 
beachten  ist  aber  die  von  mir  weiter  unten  (S.  820)  zitierte  Stelle 


818  Oött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

ans  Y.  Hammers  »Schirinc,  wenngleich  es  daselbst  nicht  recht  er- 
sichtlich wird,  ob  Schatten-  oder  Marionettentheater  gemeint  ist  (doch 
weist  der  »Mann  hinter  dem  Vorhangec  auf  das  erstere  hin).  Herrn 
Prof.  J.  ist  aber  vielleicht  der  Hinweis  willkommen,  daß  mein  Vetter 
Dr.  med.  K  G.  Stumme  in  Leipzig,  der  Eigentümer  einer  sdir 
bedeutenden  Faust -Sammlung,  ihm  gewiß  noch  Beiträge  zu  dieser 
Materie  liefern  könnte.  Eorrekturversehen  finde  ich  bei  J.  so  got 
wie  gar  nicht,  S.  9  Z.  15  heißt  es  aber  doch  wohl  beidemal  entweder 
jaer  oder  jaar;  23,8  L  Mickiewicz  für  Minckiewicz;  27,3  y.  u.  ist 
für  '  H  (lat.  Antiqua)  natürlich  V  (griech.  Kurrent)  zu  setzen. 

Als  neue  Proben  einer  Volksliteratur  der  berührten  Art  sind  die 
im  folgenden  zu  besprechenden  beiden  Schattenspiele  freudigst  zu 
begrüßen.  Das  erste  der  beiden,  das  arabisch  ^^^Ult^  iyäXmSi  und 
deutsch  (wie  oben  ersichtlich)  >Die  Liebenden  von  Amasiac  betitelt 
ist,  hat  der  treffliche  Wetzstein  (f  18.  Januar  1905  zu  Berlin)  Ende 
der  fünfziger  Jahre  (s.  S.  148  Anm.  des  Buches)  in  Damaskus  auf- 
gezeichnet, übersetzt  und  mit  Exkursen  versehen.  Der  jetzt  in  Berlm 
lebende,  ehemalige  Eönigsberger  Professor  G.  Jahn,  der  im  Vor- 
worte der  Person  und  der  verdienstvollen  Privat-Lehrtätigkeit  des 
Verstorbenen  in  warmen  Worten  gedenkt,  hat  das  Stück  auf  den 
Wunsch  der  Frau  Eapitänleutnant  Rust  (W.s  Tochter)  ediert,  bei 
dieser  Arbeit  unterstützt  von  Herrn  A.  Ma'arbes  vom  Orientalischen 
Seminar  zu  Berlin.  Die  Editionsarbeit  scheint  keine  einfache  ge- 
wesen zu  sein  bei  dem  >  stellenweise  fast  unleserlichen  Zustande  des 
längst  vergilbten  Manuscriptes<  (S.  VI).  Im  Allgemeinen  hat  J.  am 
W.schen  Manuskripte  wohl  nichts  geändert,  doch  giebt  er  (S.  VII) 
an:  >ich  habe  die  von  Wetzstein  herrührende,  vom  Schrift- Arabischen 
abweichende  Vocalisation  selbstverständlich  beibehalten  und  nur  in 
den  metrischen  Gedichten,  die  in  Schrift-Arabisch  geschrieben  sind 
(abgesehen  von  den  Mawals),  öfter  ein  Gezm  als  Fingerzeig  für  das 
von  der  strengen  Metrik  abweichende  Metrum,  ebenso  die  Sterne 
und  Interpunktionszeichen  hinzugefügt.  Den  metrischen  Mängeln, 
welche  sich  im  Original  hier  und  da  finden,  habe  ich  abzuhelfen  ge- 
sucht, auch  offenbare  Schreibfehler  verbessert,  aber  die  Lesart  des 
Originals  gewissenhaft  unter  den  Text  gesetzt.  In  den  deutsche 
Partien  habe  ich,  da  das  Manuskript  nicht  druckfertig  ist,  hier  und 
da  stilistische  Aenderungen  vorgenommen.  <  Nun,  hoffentlich  ist  dies 
Hierunddaändem  nicht  allzuoft  eingetreten,  —  J.  dürfte  es  da  sehr 
genau  zu  nehmen  haben,  da  er  dies  m  semer  Streitschrift  >Fort- 
setzung  des  Mesha-Streites  trotz  des  Sträubens  des  Vorstands  der 
morgenländischen  GeseUschaft.  Anti-Eönig,  zweiter.  Von  G.  Jahn. 
Göttingen  1906<  in  dieser  Beziehung  so  tragisch  nimmt    Daß  J.  die 


Wetzstein,  Die  Liebenden  Ton  Amasia  819 

Oesamtarbeit  (Text,  Uebersetzung ,  Exkurse)  W.s  mit  erläuternden 
Noten  versieht,  ist  sehr  verdienstvoll;  zwischen  den  J.schen  Glossen 
stehen  noch  Originalnoten  Wetzsteins  und  solche  Noten,  die  auf 
Information  von  selten  Ma'arbes'  zurückgehen  (stets  durch  W.  oder 
M.  signalisiert).  Indeß  hat  W.  seine  Noten  recht  ungleich  verteilt 
und  oft  gerade  da,  wo  wir  sie  brauchten,  sie  zu  geben  unterlassen; 
ebenso  ist's  mit  seinen  Exkursen:  das  W.sche  Manuskript  war  eben 
noch  nicht  druckfertig  (s.  oben  S.  818),  und  die  Exkurse  waren  noch 
nicht  zu  Ende  geführt  (YII,  20).  Deshalb  müssen  wir  die  später  zu 
rügende  Unterlassung,  daß  wir  über  den  Ursprung  des  Vor- 
wurfs des  Stückes  so  rein  gar  nichts  erfahren,  J.  zu  Lasten 
schreiben.  Die  Namen  der  Spieler  des  Stückes  läßt  W.  (in  leider 
nicht  konsequenter  Transkription)  folgendermaßen  lauten  (s.  S.  2  und 
den  dann  folgenden  arab.  Text):   Dali  Ferhät  (oL£>^  i\S),   Sitt 

Shirin  (^^xä  y^y^S,  auch^^^i  va^umJOi  Umm  Shkurdum  (p>yC&  ^i)» 
Rama(Jän  Aga  (Ul  q^^J),  Karakoz  (j^^y5),  'Ewäz  (^1,^),  El-Mu- 
dellel  CyJodl),   Shebanlko  (yCJU&),  Umm  Earküz  (j^y'^^t,  —  sie 

ist  die  >Frau  des  Earakoz«)  und  Umm  MaVaza  (Kb^^t,  die 
Frau  des  'Ewäz).  Von  diesen  Namen  wird  nur  äkurdum  von  W. 
mit  einer  Anmerkung  bedacht,  nämlich  mit  der  Angabe  (S.  7)  >= 
Knoblauch«,  wozu  dann  J.  setzt:  >ich  finde  es  nirgends <;  scordium 
=  oxöpStov!  Zu  Schlrin  giebt  J.  die  Note  >persisch,  =  süß<  (S.  13), 
womit  wohl  keinem  orientalistischen  Leser  etwas  neues  gesagt  wird. 
Aber  zur  Schreibung  des  Namens  des  alten  guten  Färhäd  als  ^b 
ol»ji  war  eine  philologische  Bemerkung  vonseiten  J.s  zu  erwarten, 
da  nicht  alle  Arabisten  hier  zu  einem  richtigen  Urteile  kommen 
werden  (da  leider  nicht  alle  Arabisten  das  Türkische  verstehen);  d.  h., 
es  war  etwa  zu  sagen:  ^L^^  und  ol»*y  ist  dem  Türken  für  die 
Aussprache  beides  gleich  f^rhat,  und  das  $  des  türkischen  Wortes 
d^li  (v^,y^)  >Held<  ist  für  den  syrischen  Araber  seinem  Imäle-ä 
so  ähnlich,  daß  er  skrupellos  dieses  für  jenes  q  einsetzt.  Beim  Namen 
'ewäz  genügte  ein  Hinweis  auf  G.  Jacobs  Schriften;  zur  Erklärung 
von  Sebanlko  (oder  Sbäniku,  wie  wir  uns  den  Namen  vorstellen) 
möchten  wir  auf  neugriech.  oicavixt  > Spinat <  verweisen  und  eine 
Verdrehung  des  Wortes  auf  der  Basis  plebejischer  Angleichung  an 
die  v/^lui  nicht  für  unmöglich  halten;  warum  die  Frau  des  l^aräköz 
sich  als  umm  ^arküz  giebt,  bleibt  uns  allerdings  räthselhaft  (d.  h. 
nicht  das  umm,  denn  das  ist  hier  Titel).  Doch  die  Hauptsache 
—  nämlich  daß  in  diesen  > Liebenden  von  Amasiac  wieder  einmal 
eine  Bearbeitung  der  alten   Färhäd-u-Sirln-Geschichte  vorliegt  — 

Göti.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  10  57 


I 


820  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

durfte  von  J.  nicht  verkannt  werden.     Die  Art ,  wie  J.  den  Vorwurf 
des  Stückes  (S.  VIII  f.)  würdigt ,   sieht  deshalb  recht  sonderbar  aus. 
Hat  denn  J.  so  wenig  Erinnerung  an   Goethes  West-östlichen 
Divan,    und  an   Hammers  Schirin?     Wie  kann  einem  diese 
Schirin  mit  ihrer  unglaublich  drolligen  Pathetik  entschwinden,  —  dies 
kuriose  Lied,  in  dem  Färhäd  in  seiner  Einöde  zum  Zeitvertreibe  die 
Fledermäuse,   die  sich  an  seinem   blauen  Schwefelfeuer  verbrennen, 
mit  Petroleum  einbalsamt  und  ihnen  feierlich  >Maal  und  Stein<  setzt! 
Es   scheint   mir   als  habe  den  verdienstvollen  Arabisten  die  turko- 
arabisierte  Schreibung  oL>i  statt  ^LP^  dermaßen  hinters  Licht  ge- 
führt, daß  er  gar  nicht  auf  das  dritte  der  wohlzubewahrenden  sechs 
Liebespaare  verfiel.     Die  Romanze  vom  Färhäd  und  der  Schirm  ist 
heute  ein  ganz   abgedroschenes  Puppen-  und  Schattentheaterthema 
des  Orients;   interessant  ist,   daß  das  auch  schon  der  Fall  war,  als 
V.  Hammer  sich  mit  seinem  Schlrln-Gedicht  im  Busen  trug,  denn 
wir  lesen  in  diesem   (mir  liegt  es  in  folgender,   anonymer  Ausgabe 
vor:   Schirin.    Ein   persisches  romantisches  Gedicht   nach  morgen- 
ländischen Quellen.    Zwei  Teile.   Leipzig,  bei  Gerhard  Fleischer  dem 
Jüngern.    1809)  auf  S.  XXVII ff.:  »Nicht  nur  in  Persien,  als  in  ihrer 
Heimath,  sondern  auch  in  ganz  Vorderasien,  und  besonders  in  Con- 
stantinopel  ist  Schirins  Geschichte  allgemein  gäng  und  gäbe.    In  der 
jüngsten  Zeit  nahm  man  aus  ihr  in  der  Sultansstadt  sogar  den  Stoff 
zu   dramatischen    Vorstellungen,     wenn   dies   Drahtpuppenspiel   der 
Türken,  wo  der  Mann  hinter  dem  Vorhange  mit  wechselnder  Stimme 
für  alle  Personen  spricht,  anders  diesen  Namen  verdienet.    Auf  einem 
solchen  Marionettentheater  wurde  noch  vor  ein  Paar  Jahren  Schirins 
Geschichte  mit  Chosru  und  Ferhaden  als  Tragödie  vorgestellt.    Eine 
wahre  Karikatur,  wiewohl  auf  das  ernstlichste  angelegt,  so  wie  z.  B. 
ehemals  die  Passionspiele  nichts   weniger  als  die  Leidensgeschichte 
zu  entweihen  gemeint  waren.     Schirin,   die  georgische  Prinzessinn, 
und  Chosru,  der  persische  Eayser,   sprachen  gerade  wie  die  Markt- 
weiber und  Lastträger  zu  Constantinopel,  deren  Leben  den  täglichen 
Stoff  zu  den  Possen  dieses  Puppenspiels  hergiebt.     Ferhad  zerhieb 
mit  seiner  Axt  den  ganzen  Berg  Bisutun  in  Stücke,  und   die  Stelle 
Schaburs,  des  kayserlichen  Unterhändlers,  vertrat  eine  ganz  gemeine 
Kupplerinn.<   Vielleicht  geht  nun  der  ^y^t^  /^^  so  direkt  auf  eine 
türkische  Vorlage  zurück,    daß  er  teilweise  geradezu  eine  üeber- 
setzung  einer  solchen  ist  (eingeflochtenen  türkischen  Redensarten,  wie 
hä  ku§um  >auf,  mein  Vogel  [Falke]  !c,    der  jagenden  Schirin  [S.  19] 
möge  man  in  dieser  Hinsicht  seine  Beachtung  schenken). 

Jahn  schließt  die  Vorrede  zum  ^yiUll^  fjjSJa  mit  den  Worten: 
>Dem  Stücke  prophezeie  ich,  daß  es  zur  Lieblingslectüre  der  Arabisten 


Wetzstein,  Die  Liebenden  von  Amasia  821 

gehören  wird.«  Dem  pflichte  ich  gern  bei;  denn  ist  auch  der  Ge- 
genstand, den  das  Stück  behandelt,  kein  neuer,  so  tut  doch  die 
schlichte  und  innige  Sprache  des  Stückes  dem  Herzen  wohl,  und  die 
Handlung  langweilt  den  Leser  niemals.  Zu  betonen  ist  aber  auch 
noch,  daß  die  W.sche  Uebersetzung  eine  ganz  vorzügliche  ist,  wenn- 
gleich wir  die  sowohl  metrische  wie  gereimte  Uebersetzung  der  Lieder 
als  eine  bisweilen  allzufreie  bezeichnen  müssen.  Die  philologische 
Ausbeute  beim  Lesen  der  verdienstvollen  Publikation  ist  eine  recht 
bedeutende,  denn  zahlreiche  neue  oder  bisher  wenig  gebrauchte  Aus- 
drücke treten  uns  hier  vor  die  Augen;  nur  ist  es  schade,  daß  J.  in 
seinen  Erläuterungen  eigentlich  nur  Dozys  Supplement  aux  dic- 
tionnaires  arabes  zur  Hand  nimmt,  Schriften  neueren  und  neuesten 
Datums  dagegen  ignoriert,  —  von  solchen  hätten  namentlich  heran- 
gezogen werden  sollen:  Hartmann,  Arabischer  Sprachführer'; 
Landberg,  Proverbes  et  Dictons  de  la  Province  de  Sjrie  1883; 
AI  m  k  V  i  s  t ,  Kleine  Beiträge  zur  Lexikographie  des  Vulgärarabischen 
1891;  Tallqvist,  Arabische  Sprichwörter  und  Spiele  1897 ;  Oestrup, 
Contes  de  Damas  1897;  Bauer,  Lehrbuch  zur  prakt.  Erlernung  der 
arab.  Sprache  (Jerusalem)  1897;  So  ein,  Diwan  aus  Gentralarabien 
1900/1;  Da  Im  an.  Palästinischer  Diwan  1901;  Littmann,  Arabi- 
sche Schattenspiele  1901;  Sag 'an,  Sprichwörter  und  Redensarten 
aus  dem  Libanon  1902  (Mitt.  des  Or.  Seminars);  Littmann,  Neu- 
arabische Volkspoesie  1902  (Abh.  d.  Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Gott.); 
Litt  mann.  Modern  Arabic  Tales,  Vol.  I  1905;  Löhr,  Der  vulgär- 
arabische Dialekt  von  Jerusalem  1905.  —  Wir  geben  nun  eine  Reihe 
von  Einzelbemerkungen: 

S.  8, 7:  über  ^^Ij  >augenscheinlich<,  das  W.  (in  S'^\  ^1  e^b 
^juüi^  >ich  sehe,  du  bist  eine  im  Schatten  und  Tau  gezogene  Pflanze«) 

nicht  übersetzt  und  das  Ma'arbes,  wie  es  scheint,  auf  ^<^l;  bringen 

will,  s.  Socin,  Diwan  §  54f  isfSS)  \\   S.  8, 11:  zu  ^1  in  »^  ^1  ^J 

>in  welcher  Gegend?«   setzt  J.  >aus  ^t  entstanden«;  richtiger:  aus 

^  ^1  entstanden  ||   S.  10, 15:  sy^^  ^  Jub  ^Jd  ^  ^  >ei,  betrachte 

doch  dieses  Grün!«.  J.  dazu:  > woher  kommt  dies  €l^  in  der  Bed. 
,sehen'?«.  Hier  liegt  kein  Verbum  €l^  vor,  sondern  ein  stark  ver- 
ändertes ^1  tfkJI;  s.  hierzu  folgende  Stellen:  88, 10  \:j^^  ^^y^^ 
^^S^[t  »Lieber,  soeben  wird  man  dich  zur  Hochzeit  abholen  Ic  (das 
sufl&gierte  Pron.  der  3.  pers.  plur.  comm.  lautet  im  syr.  Vulgär  be- 
kanntlich hin);  70,14  ^jXt  J^t  t^  >seht  das  aufgeputzte  Ea- 

57* 


822  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

mel!<;   76,3  s^aaXJI  t^\y^\  ]ySLi  >seht  ihr  das  große  Tor  dort?<; 

100, 5  i^L>  jy^l  IP^  <k^  1>^3  > wartet  etwas !  Da  kommt  die  Alte!« 
Hier  wird  niemand  die  Ableitung  von  A^\,  ^iXJI  verkennen.    Wird 

dieses  in  der  arabischen  Grammatik  auch  mehr  als  =  J^,  tyX^ 
erklärt,  so  ist  andrerseits  von  >da  hast  da!<  zu  > da  siehst  du! <  nur 
ein  Schritt.  Daß  ein  ^t  ^t  zu  Jj  eU  gekürzt  werden  kann,  er- 
scheint mir  nicht  befremdlich,  da  ich  ihm  den  Wert  eines  Imperativ- 
Exponenten  gebe  und  dem  Vulgärarabisten  bekannt  sein  muß,  welche 

Schicksale  Ausdrücke  wie  ^\j ,  yL» ,  ^XaII  ,  J^  u.  a.  in  dieser  Be- 
ziehung haben  können.  Daß  aber  im  Damaszener  Arabisch  dieses 
^uT,  \ySi^  hinsichtlich  seiner  Suffigierung  mit  ^uU,  ^U  'alek, 
'al£kon  (nicht  'alfiku)   diskrepiert,   kommt  daher,   daß  die  jUk  in 

jenem  ^^  doch  schließlich  ein  verbales  Etwas  sieht,  dem  bei 
Pluralisierung  eine  Imperativ-Endung  anzufügen  sei.  Für  eine  Ana- 
logie hierzu  auf  vulgärarab.  Gebiete  s.  meine  >  Märchen  und  Gedichte 
aus  der  Stadt  Tripolis  in  Nordafrikac  (Leipzig  1898),  S.  246  (§  68), 
woselbst  tripolit.  dünek  > wohlan.  Manne  ic  und  düüku  »wohlan, 
Leute!«  angeführt  werden  (diskrepierend  hiervon:  'alik,  'altkum)  | 
S.  20, 6 :  Zu  dem  von  W.  nicht  übersetzten  t^ß^  in  den  Worten 
der  Mutter  Schlrins  an  ihre  auf  die  Jagd  ziehende  Tochter  kx>>  ^ 

jjs^^l  3t  j4c>^^iJl  er  1^^^  i^^  C^^  JuU'l^t  Q«  AhijnA^  »wenn 
dich  nur  kein  Landstreicher  beleidigt  oder  kein  Wegelagerer  anfallt ic 
setzt  J.:  »aus  türk.  ^^^>ojiC^  ,Läufer'?<;  ich  erblicke  »Trunkenbolde« 

darin  und  möchte  das  Wort  siker^iji  lesen  (Thema:  ydJ).  Aus  mag- 
rebinischen  Gegenden  kenne  ich  in  dieser  Bedeutung  sikr&fi  und 
sekk&rgi||  S.  36,6:  Die  Bemerkung  »«  coj^^c  J.s  zu  v;>^^  »du 
hast  abgewiesen«  ist  recht  unnötig,  da  die  Abwandlungsweise  radd, 
raddet,  raddßt  eine  fundamentale  Sache  der  vulgärarabischen  Gram- 
matik ist.  Doch  scheint  J.  jenes  s:;^^  W.s  sich  falsch  als  r(e)dtt 
vorzustellen,  statt  als  radd6t,  —  weil  er  nämlich  zu  (42, 17)  ^ßi^JCf^ 

>du  bist  toll  geworden«  in  der  Note  bemerkt:  »,/II>  statt  j:sls>'< 

(als  Explikator  darf  er  sich  aber  das-  von  ^^^^  nicht  schenken!) 

und  weil  er  zu  (90, 5 v.u.)  LfJC^fi^K^t  »ich  habe  sie  verdient«  be- 
merkt ,  daß  die  ägyptische  Mischform  (U  -[-  X)  istarajja^  und  »die 
entsprechende  äthiopische  Form«  zum  Vergleiche  herangezogen  werden 


Wetzstein^  Die  Liebenden  von  Amasia  823 

könne!  Aber  ^4s,J^3^iM^  gehört  zur  einfachen,  X.  Form:  istaba^, 
ista^ialpHet,  ista^ia^kfit.  Andrerseits  liegt  aber  in  Jjuu  >du  wartest  < 
(wiederum  36,6)  gerade  eine  Mischform  II  +  X  vor,  denn  istanna 
steht  nicht  (wie  J.  in  Anm.  3  will)  fur  ista'nä,  sondern  fUr  ista'annä 
(vgl.  meine  Grammatik  des  tunisischen  Arabische,  Leipzig  1896,  §  36 
und  dazu  Völlers  in  ZDMG.  50,  331  oder  etwa  auch  Nallino  im 
Oriente,   Vol.  II  [Rom  1897]  Anm.  2  der  9.  Seite  des  Artikels)]  || 

S.  46,  vi.  Z.  ^jSü  (>wir  durchstöbern«)  Druckfehler  fur  ^Ji^  || 

S.  52, 10 :  iXJIj:^  tSj^^  ^t/^  ^  ^  6ß^  y^^  >und  was  soll  ich  dir 
von  seinem  Schlosse  und  dessen  (sie)  Einrichtung  und  von  seinen 

Mamluken  sagen  ?<;  zu  ^yii^  sagt  noch  ganz  speziell  die  Anmer- 
kung: > Einrichtung.  W.c  Mir  ist  dies  ^yX»  vollständig  rätselhaft; 
ferner  kann  aber  das  Suffix  «  nicht  auf  das  Feminin  iL^jm  gehen. 
Mir  schössen  hier  e&vooxo^  durch  den  Sinn;  ich  will  sie  aber  lieber 
fortlassen.  An  pers.  3^^  £f^T,  das  u.  a.  >in8titutum<  bedeutet, 
mußte  ich  auch  denken  ||  S.  54, 3 :  Zu  \oS^  in  li>»  ^^^t  U  t jJ^ 
>angenommen,   es  findet  sich  keiner<   (vgl.  94,3  v.  u.  tJaal  ^^ 

luiadlj  aJ^  aI  v£>JC>  (^^t  ot J  Q«  |i^  ^^ji  v«>^^  L^cXi^  ^^j^  ^  c;^  ^ 

i^j  Lü  ij^  f^  »wie  könnten  wir  ihm  dies  Mädchen,  diese  Rose 

geben?  Er  nähme  sie  zu  sich  und  eines  Tages  sagte  sie  ihm  viel- 
leicht ein  unpassendes  Wörtchen ;  da  spränge  er  auf  und  schlüge  ihr 

den  Kopf  entzwei<)  bemerkt  W.:  >=  jUj«.    Also  etymologisch 

wohl  \s>S  ^  II  S.  54, 16:  UUÄÄyd  Ji^^  :i  > schreie  (Weib)  uns  nicht 

die  Ohren  taub!<;  W.  hierbei  zu  Jo^If:  >plärre  nicht!«,  J.  zu 
LUÄfi;^:  >Du  wirfst  uns  zu  Boden,  machst  uns  tot<.  W.'s  Mscr. 
bietet  aber  wohl  UaäcJü^  ||  S.  56,13:  ^xJS  ^  j^joitl  eUt  oo»^ 
Lß^  l>>l  J^  /4^  ^^^^  Sii^S  zu  ihnen,  hob,  wendete  und  legte  sie, 
bis  ich  sie  hatte,  wie  ich  wolltet.     J.  sagt  hier  zu  ^:  >=  <ius! 

oder  J}Out^<  und  zu  j2lL>:  >so  im  Ms.  corrigirt  statt  jfh^  des 
urspr.  Textes.  Letzteres  giebt  auch  einen,  freilich  derberen  Sinne. 
Wir  bemerken  hierzu:  Das  Verbum  feäm,  je^dm  des  syr.  Vulgärs  ist 

nur  aus  IV  abzuleiten ;  W.'s  <2lL>  könnte  aber  nurauf  J^l»  zurück- 
gehen (=  ;2uL> ,  wie  jenes  ^hx^  natürlich  auch  als  ;iuLl3*  gemeint 
ist)  II    S.  62,1  »Ju^  >Kissen<,  4  v.  u.  1^,   2  v.  u.   g^l  Druck- 


824  Mit.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  10 

fehler  für  »o^,  l^,  f^^  II  S.  62,  5  giebt  J.  za  J^Uo  U  >  meinet- 
wegen <  in  der  Note:  >=  ich  frage  nicht  darnach«.  Das  fahrt  aber 
irre,  denn  es  liegt  die  3.  s.  m.  impf,  von  Ju.  III  vor;  man  spricht 
hier  nämlich  nur  selten  bi,  sondern  meist  bi  (also  bisSjil),  und  des- 
halb bleibt  das  ja  oft  ungeschrieben  ||  S.  66, 4  v.  u.  (js>  s^^jl^^  U 
L(a9  sKj^Juufr'i  JUM^  >du  wirst  nicht  den  Preis  eines  Strickes  finden, 
an  dem  du  dich  aufhängen  kannst«.  So,  wie  dasteht,  ist  allerdings 
zu  übersetzen :  >an  dem  du  riechen  kannst«  jj    S.  70, 3  |^y  >zeigt!< 

und  90,  3  V.  u.  A^/  »ich  habe  dir  gezeigt«  geben  das  Verbum  f&r 
> zeigen«  nicht  so,  wie  ich  es  hinsichtlich  seiner  Aussprache  in  Da- 
maskus (wo  ich  mich  1889  und  1890  dreiviertel  Jahr  aufgehalten 
habe)  kenne,  wohl  aber  tut  dies  fargini  bachti  in  Exkurs  72.  Ich 
habe  nämlich  immer  fär2a,  ifär2i  in  Damaskus  gehört,  wie  dies  anch 
Hartmann,  Sprachführer^  S.  282  auffuhrt,  während  Oestrnp 
1.  c.  S.  143  nur  den  Imperativ  >fer2i«  gelten  lassen  will.  Dieser 
Erweiterungsvorgang  der  ^Tsp^i  zu  ^j^/  hat  übrigens  gerade  hier 
im  ÄyMüd^^  (Jf^  seine  Analogie,  nämlich  in  sz^^^jJ^^  v^^^m^  va^uJ^ 
^^>wa^  >ich  weinte  mir  die  Augen  aus  und  lief  mir  die  Schuhe  durch« 
(86,  2 f.),  wozu  J.  ganz  richtig  bemerkt:  >Quadrilitera  in  der  Bed. 
,sich  abmühen*  und  ,einem  zusetzen',  wie  es  scheint  durch  Anhängen 
eines  schwachen  Buchstaben  aus  Triliteris  gebildet.  Vgl.  ^  ,den 
Knochen  abnagen'  und  sJlJ-  ,bedrängen'«.    Wenn  nur  W.  im  obigen 

\ys>^  und  tflÄ>^  nicht  etwa  etymologisierend  geschrieben  hat !    Ganz 

sonderbar  und  unbegreiflich  ist  aber  die  Schreibung  90, 10  ^u^ij) 

J^3  ^^  jjL=^I  L5^y  »ich  werde  dir  zeigen ,  wie  weit  die  Hände 
einer  alten  Frau  reichen«.  —  Für  > zeigen«  finden  wir  in  dieser 
Publikation  jedoch  noch  einen  andern  Ausdruck,  nämlich  .  J,  dem 
ein  ^^j\  (wie  dem  J^  ein  ,^jS)  zur  Seite  steht ;  s.  72,  3  v.  n. 
jjCi^  li^^t  »zeigt  uns  eure  Künste!«  und  76, 15  ^  m^\  Aa>.^ 
jüCflj^  U  dy  v3^  »ich  werde  dir  heute  zeigen,  was  du  dein  Lebelang 
nicht  gesehen  hast«  (zum  letzteren  (f)uo^^^  setzt  aber  W.  selber  em 
»sie«);  rätselhaftes  Wort!  ||  S.  74,8  setzt  J.  Jijt^  (»wieviel?«)  für 
^jMbjJü)  des  Ms.  ein,  hätte  aber  lieber  ^Ji!jiijs3  schreiben  sollen! 
S.  76,14:  zu  k>yj5;,yt  >Schaukel«  bemerkt  J.  »sonst  i»^:>y««.  Sicher 
Hörfehler  (stimmloses  für  stimmhaftes  seh  verhört)  W.b,  —  aber  &m 


Wetzstein,   Die  Liebenden  von  Amasia  825 

Fehler,  der  viel  öfter  begangen  wird,  als  im  Allgemeinen  angenommen 
wird,  was  ich,  der  ich  nachgerade  zahlreiche  Dialektstudien-Manu- 
skripte durchgesehen  habe,  wohl  aussprechen  darf  ||  S.  84, 9  fif. :  zu 
dem  im  Hochzeitsgesange  der  Umm  gkurdum  jedem  Verse  nach- 
gesetzten LP33T  awüha  (so!,  mit  a  vorn)  bemerkt  W.  in  der  Note: 
>Die  Beduinen  sagen  LpLp.    Man  sagt,   L^^^T  sei  Plural  des  imperat. 

3T  ,bringt  sie  Lii^U  (in  ihr  neues  Domizil)'.  <  Ohne  daß  wir  uns  über 
diese  Deutung  aussprechen  wollen,  verweisen  wir  auf  äwiha  bei 
Da  Im  an.  Pal.  Diwan  S.  186  ff.,  und  auf  hä-i-ä  in  Jerusalemer  und 
aha  in  syrischen  Hochzeitsliedem  bei  Litt  mann,  Neuarab.  Volks- 
poesie S.  96  bezw.  139  ||  S.  106,3:  s^^  /öaL  Jju^jud^  jc>^  »ein 
Gesicht  und  ein  Busen,  die  einem  Körbchen  Apfelblüten  gleichen <. 
Nach  J.  bemerkt  W.  zu  s^IZi  > Präsentierteller < ;  doch  das  geht  wohl 
auf  (jt^'f  bei  Almkvist  1.  c.  399  steht  übrigens  ein  nammüra  ü«Ji, 
das  > Butterkuchen <  u.  a.  bedeutet  ||  S.  130,  vi.  Z. :  U3yü  eU>  U 
>hast  du  uns  noch  nicht  kennen  gelernt ?<.  J.  bemerkt  hierzu,  >in 
eU>  steckt  dl^  in  der  Bed.  Jetzt'«.     Ich  halte  t£U>  vielmehr  für 

Zusammenziehung  von  eU  J^,  vgl.  Dozy,  Suppl.  I,  311bÄl3^U 
^^,  >il  ne  peut  pas  encore  6tre  venu«  (Bocthor).  Vielleicht  hat  J. 
eine  Explikation  Ma'arbes'  falsch  verstanden,  der  mit  hallaq,  halla' 
operiert  zu  haben  scheint.  S.  136:  von  hier  an  häufen  sich  die 
Eorrekturversehen  (korrigiere  etwa  auch  schon  84,  11  L  zu  l^;  106,7 

j^xaJ^  zu  j^^joals^;  112,10  ßA\f  zu  jj^l)'  So  ist  136,5  v.  u. 
Tum^me  statt  Tumeme  zu  lesen,  4  v.  u.  Hashabshab  st.  ^ash.,  1.  Z. 
Strick  St.  Stück;  137,4  lä'ib  st.  lä  'ib,  Z.  13,  18  u.  21  Makra'a  statt 
Makra'a,  Z.  23—26  i^\  o^^^'  zökän,  köra  st.  hJü\  qI^,  gokän, 
^ura  (doch  könnte  man  ein  kura  wohl  durchgehen  lassen ;  auch  wollen 
wir  das  g  von  gokän,  da  W.  darunter  i  meint,  nicht  bemängeln,  wohl 
aber  das  kurze  0  dieses  Wortes,  das  auf  pers.-türk.  qI(^  geht); 
138,  6  ganz  st.  genz,  Z.  34  Anatolien  st.  Anastolien  u.  s.  f. 

Beim  Zitieren  habe  ich  gelegentlich  etwas  reichlich  gegeben 
und  mehr  als  bloß  das  zu  besprechende  einzelne  Wort  herangezogen, 
da  der  Leser  sehen  sollte,  in  welcher  Gestalt  sich  der  Dialekt  in  der 
Schreibart  W.s  präsentiere ;  der  Vulgärarabist  verschafft  sich  hierüber 
sofort  das  richtige  Urteil :  in  einer  Gestalt,  die,  wegen  des  bis  in  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  üblichen  aszetischen  Verzichtleistens 
auf  Anwendung  europäischer  Schriftzeichen  fur  Darstellung  des  ge- 
sprochenen Arabisch,   das  richtige  Lautbiid  nur  hier  und  da  ahnen 


826  0«tt  gel  Anz.  1906.  Nr.  10 

läßt.  W.  folgt  darin  eben  dem  Znge  seiner  Zeit.  Sehen  wir  ?on 
diesem  fundamentalen  Mangel  ab ,  so  ist  die  Arbeit  W.s  höchst  be> 
lehrend  und  verdienstvoll,  wie  nicht  minder  ihre  Herausgabe  durch 
Jahn. 

Der  Vorwurf  des  zweiten  arabischen  Schattenspieles,  das  wir 
hier  anzeigen  wollen  —  des  Li'b  ed-d6r  (>Das  EIoster<)  — ,  ist 
nicht  von  der  Art  jenes  romantischen  Vorwurfs  des  ersten  Stückes 
und  redet  nicht  so  warm  zum  Herzen  wie  jener ,  vielmehr  redet  er 
zum  Verstände  und  zum  theologischen  Gewissen,  —  er  charakterisiert 
sich  als:  Besserung  eines  lasterhaften  Muslim  und  Bekehrung  einer 
Koptin  zum  Islam.  Dabei  ist  das  Stück  an  Widersprüchen,  wie  an 
Trivialitäten  reich.  Aber  anderseits  ist  die  Handlung  in  ihrem  Kul- 
minationspunkte recht  gut  disponiert,  nämlich  da,  wo  die  Koptin 
'Alam  mit  ihrem  Vater  Menagge  über  den  Islam  disputiert,  wenn 
auch  hier  öfters  Entgleisungen  vorkommen,  teils  auf  dem  Gebiete 
der  Aesthetik  (der  Vater  nennt  sein  Töchterchen  >Schweinemädchen< 
u.  dgl.),  teils  auf  dem  der  Realität  (die  Kopten  sind  gelegentlich 
Juden!).  Dies  alles  erkennt  Dr.  Prüfer  natürlich  selber  und  setzt 
es  ins  richtige  Licht.  Sehr  willkommen  sind  uns  die  Illustrationen 
des  Buches,  die  uns  Szenerie  und  Spieler  sehr  anschaulich  vor  Augen 
führen.  Interessant  bleibt  das  Stück  aber  trotz  aller  jener  Mängel 
und  steht  höher  als  die  große  Masse  andrer  z.  B.  der  türkischen 
Schattenspielstücke.  Dr.  P.  überliefert  uns  den  Text  des  Stückes 
natürlich  in  Transcription,  —  so,  wie  er  es  > Herbst  1905<  (so 
S.XVIU,  4;  die  Arbeit  muß  dann  fabelhaft  rasch  fertiggestellt  worden 
sein)  in  Kairo  nach  mündlichem  Vortrag  aufgezeichnet  hat.  Zahl- 
reich sind  die  poetischen  oder  sag'-Partien  des  Stückes ;  bei  der  Fes^ 
Stellung  der  Versmaße  und  den  metrischen  Emendationen  hat  Prof. 
Martin  Hartmann  seine  Hilfe  geliehen,  bei  der  sehr  fleißigen  und 
umfangreichen  Kommentierung  des  Stückes  nach  Sprache  und  Inhalt 
dagegen  Herr  Prof.  G.  Jacob  (der  auch  zahlreiche  Originalnoten 
dieser  Erlanger  Dissertation  beigiebt).  Daß  der  Transcriptionstext 
aller  Interpunktion  entbehrt,  können  wir  nicht  billigen  (hiergegen 
habe  ich  aber  schon  oft  genug  gepredigt).  Im  Einzelnen  bemerken 
wir  zu  der  fleißigen  Arbeit  folgendes: 

S.  2,2:  Was  die  Anmerkung  zu  filxajäl  —  die  übrigens  einen 
Passus  aus  Spittas  Grammatik  (§  22  u.  23)  zitiert,  den  ich  nicht 
unterschreiben  möchte  —  besagen  soll,  wird  mir  nicht  klar;  auch 
fürs  klass.  Arabisch  liest  man  doch  schon  fil^yäl,  nicht  filhüäl  | 
4, 1  I.  e^sädiq  es^iddiq  für  e^sädiq  e^sidiq  ||  6, 9  1.  wel  meraqqis 
wäqif  'ala  \ß\uh  sab'e  käsir  jöm  elwagä  haggäm  (nicht  hag&m !)  >aiif- 
gerichtet  steht  der  Tänzer  da,   ein  reißender  Löwe,  der  am  Tage 


Prüfer,  Ein  ägyptisches  Schattenspiel  827 

des  Eampfgetümmels  angreifte  ||  8,  Anm.  2 :  Was  soll  die  Schreibung 
^äggi  in  Qäggi  Mu^mmad  el-Gindl?||  20,3:  Hier  findet  sich  ein 
Ausdruck  kali'ün,  den  P.  mit  > Kanaille <  übersetzt;  besser  schon  mit 
>Kiyong< ,  denn  dieses  —  d.  h.  ital.  coglione  —  liegt  vor.  In  der 
Anmerkung  müht  sich  ein  kairenser  Gelehrter  ab  mit  einer  kasuisti- 
schen Herleitung  des  Wortes  vom  Müristän  Qalä'ün,  die  Dr.  P.  na- 
türlich nicht  acceptiert  ||  28,  2  beginnt  ein  Gedicht ,  bei  dem  sich 
Dr.  P.  (wie  bei  den  übrigen)  um  die  Emendierung  des  Metrums  in 
anerkennenswerter  Weise  bemüht  hat,  bei  dem  er  aber  unterläßt, 
die  strophische  Einteilung  des  Gedichtes  zu  veranschaulichen  (da- 
mit Text  und  Uebersetzung  immer  auf  gleich  hohe  Zeilen  der  linken 
und  rechten  Seiten  zu  stehen  kommen,  unterbleibt  —  wie  es  scheint  — 
die  Veranschaulichuug  der  strophischen  Technik).  Das  Gedicht  (Me- 
trum sarf ),  das  88  Verse  (Zeilen)  umfaßt,  besteht  aus  einem  4zeiligen 
Eingange,  dessen  1.  und  4.  Vers  auf  ä^  reimen;  dann  folgen  10 
Strophen  zu  je  8  Zeilen,  deren  letzte  wieder  auf  ftb  reimt.  D.  h. : 
so  sollte  es  sein.  Da  nun  4  +  10 . 8  =  84  ist,  hat  das  Gedicht  ent- 
weder 4  Zeilen  zu  wenig  oder  zu  viel.  Unschwer  ist  nun  zu  er- 
kennen, daß  die  Zeilen  2  und  3  auf  S.  32  zu  streichen  sind  und 
ebenso  2  Zeilen  der  letzten  (36, 10)  beginnenden  Strophe.  Es  be- 
ginnen dann  also  die  Strophen  (nach  dem  4zeiligen  Eingange)  fol- 
gendermaßen: 1:  28,7;  2:  Z.  15;  3:  30,5;  4:  Z.  13;  5:  32,5;  6: 
Z.  13;  7:  34,3;  8:  Z.  11;  9:  36,2;  10:  Z.  10.  Ein  strophen- 
endendes was§abah  in  Strophe  2  (30, 4)  ist  natürlich  Druckfehler 
für  wa§sabäb,  wie  in  Str.  6  (34,2)  luqum  f.  lukum  ||  86,15  (u. 
Anm.):  Bei  magür  >ein  Holznapf,   aus  dem  gegessen  wird«  war  ein 

Verweis  auf  Dozy  I,  10  b  (^~o^1)  angebracht  ||  88, 2  v.u.:  Sonderbar 
und  in  ihrer  etymologisierenden  Art  unangebracht  ist  die  Schreibung 
gaj-buh  in:  ana  mä-li  wemä-lahl  (warum  hier  ein  -?)  edd£r  jaxdum 
minni  ellaban  wana  gaj-buh  lik  >was  scheeren  mich  die  Klosterleute ! 
Sie  nehmen  mir  die  Milch  ab,  und  ich  komme  zu  dir  damit«  (und 
warum  nicht:  >ich  bringe  sie  dir?«)  ||  93,1  —  1.  Z. :  Herr  Dr.  P. 
weist  nicht  extra  darauf  hin,  daß  wir  es  hier  mit  allerhand  bösen 
Obszönitäten  zu  tun  haben.  Die  meisten  Leser  merken  wohl,  um 
was  es  sich  handelt,  und  das  Unterlassen  eines  Hinweises  ist  voll- 
kommen berechtigt.  In  arab.  Volksrätseln  wird  der  y)  s^^^  häufig 
als  Vogel  (Hahn,  Sperling,  Tauber)  charakterisiert,  der  im  einsamen 
Neste,  zwei  Eier  bebrütend,  klagt  u.s.  w.  u.s.w.  ||  132,13  1.  iza 
(=  ]i\)  st.  izza. 

Abgesehen  von  diesem  wenigen  ist  hinsichtlich  Textgestalt  und 
Uebersetzung,   sowie  im  Notenapparate  nur  noch  wenig  zu  bean- 


828  G6tt,  eel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

standen.  Die  von  Prof.  Jacob  eingeführte  und  hier  angewandte 
Transkriptionsmethode  der  Buchstaben  fjo,  Jo,  Jo  durch  kursives  d, 
sf,  t,  der  Buchstaben  a,  und  ^  durch  x  iind  y  und  des  (J^  durch  das 

schreckliche  seh  (bei  ,^  hat  der  Setzer  also  sechsmal  in  den  Kasten 
zu  greifen !)  gefällt  mir  nicht,  doch  wäre  das  schließlich  eine  Aenßer- 
lichkeit;  etwas  bedenklicher  ist  die  Tatsache,  daß  Dr.  P.  in  seine 
phonetische  Schreibung  gelegentlich  eine  etymologisierende  einmengt, 
—  vgl.  dazu  das  oben  (827)  erwähnte  gaj-buh  lik  (das  wir  gdbülik 
zu  lesen  haben)  und  Äeußerungen  wie  >w  wird  in  'afw  fast  wie  u 
gesprochene  (8,  Anm.  1),  »das  h  ist  in  ismuh  nicht  hörbar,  ich 
schreibe  es  nur,  um  die  Form  zu  verdeutlichen  <  (21,  Anm.  3),  femer 
S.  3,  Anm.  6  und  S.  XIX,  13—21.  An  der  letzten  Stelle  wird 
Spittas  Theorie  >die  meisten  Vokalnüancen  kommen  von  selbst, 
wenn  die  begleitenden  Konsonanten  scharf  und  richtig  artikuliert 
werden«  angenommen;  aber  gerade  dieser  haben  wir  es  zu  verdanken, 
daß  der  ägyptische  Dialekt  des  Arabischen  der  heutzutage  am  schlech- 
testen transkribierte  geworden  ist.  —  Haben  wir  nun  auch  dies  und 
jenes  an  P.s  Arbeit  auszusetzen  gehabt,  so  ist  diese  Erlanger  Doktor- 
schrift trotz  alledem  eine  sehr  lobenswerte  Leistung,  zu  der  wir  ihren 
Verfasser  beglückwünschen. 

Leipzig  Hans  Stumme 


Georf  Graf,  Die  christlich-arabische  Literatur  bis  zur  frän- 
kischen Zeit  (Ende  des  11.  Jahrhunderts),  f^e  literarhistorische 
Skizze.  (Straßburger  theologische  Studien,  hrsg.  von  A.  Ehrhard  und  E. 
Müller.  Vn.  Bd.  I.Heft.)  Freiburg  i.  B.  Herdersche  Yerlagshandlung.  1905. 
X,74S.   2Mk. 

Die  christlich-arabische  Literatur  ist  von  der  Wissenschaft  lange 
als  Stiefkind  behandelt  worden.  Der  koptischen  Kirchengeschichten 
in  arabischer  Sprache  hatten  freilich  schon  im  17.  Jahrh.  Pococke 
und  im  18.  Renaudot  und  die  Maroniten  sich  angenommen ;  aber  der 
große  Aufschwung  unserer  Studien  im  19.  Jahrh.  kam  fast  aus- 
schließlich der  islamischen  Literatur  zu  gute.  Man  interessierte  sich 
wohl  gelegentlich  auch  für  einen  christlichen  Text,  aber  meist  doch 
nur,  weil  er  als  Quelle  für  den  Vulgärdialekt  wichtig  schien,  oder 
weil  er  wie  die  Bibelübersetzungen  die  Geschichte  des  Kanons  zu 
fördern  versprach.  Erst  in  den  letzten  Jahren  hat  man  begonnen, 
diese  ja  freilich  armselige  Literatur  um  ihrer  selbst  willen  zu  bear- 
beiten als  eine  Quelle  für  die  Geschichte  des  Christentums  im  Orient. 
Es  ist  hauptsächlich  das  Verdienst  der  Jesuiten  in  Bairut  und  der 


Graf,  Die  christlich -arabische  Literatur  829 

Herausgeber  der  beiden  in  Paris  erscheinenden  Patrologien  uns  diese 
Literatur  ei*st  einmal  zu  erschließen.  Es  mag  noch  recht  lange 
währen,  bis  wir  sie  auch  nur  so  genau  kennen  wie  das  syrische  oder 
das  abessinische  Schrifttum.  Eine  wirkliche  Geschichte  dieser  Lite- 
ratur zu  schreiben  ist  zur  Zeit  noch  unmöglich,  da  man  für  die 
meisten  Werke  lediglich  auf  die  Angaben  der  Kataloge  angewiesen 
ist.  Trotzdem  ist  es  äußerst  wünschenswert,  einen  Ueberblick  über 
das  erhaltene  Material  zu  gewinnen.  Im  Anschluß  an  seine  Bear- 
beitung der  islamischen  Literatur  gedachte  der  Ref.  einen  solchen  zu 
geben,  verzichtete  aber  auf  diesen  Plan,  da  er  erfuhr,  daß  Garra  de 
Vaux  ihn  gleichfalls  auszuführen  beabsichtigte.  Nun  ist  Graf  jenem 
zuvorgekommen.  Seine  Arbeit  reicht  zunächst  allerdings  nur  bis  zu 
den  Kreuzzügen,  doch  dürfen  wir  wohl  hofien,  daß  er  sie  noch  wei- 
terführt, sodaß  wir  in  Deutschland  mit  Steinschneiders  Geschichte 
der  jüdisch-arabischen  Literatur  eine  vollständige,  wenn  auch  nur 
vorläufige  Aufnahme  des  arabischen  Schrifttums  besitzen  werden. 

Graf  beginnt  mit  einer  Einleitung  über  die  Literatur  der  christ- 
lichen Araber  in  der  vorislamischen  und  der  ersten  Kalifenzeit,  in 
der  er  mit  Recht  Cheikhos  überkühnen  Versuch,  so  ziemlich  die 
ganze  alte  Poesie  für  das  Christentum  zu  reklamieren,  zurückweist. 
Sein  eigentliches  Thema  gliedert  er  etwas  äußerlich  in  zwei  Ab- 
schnitte über  die  anonyme  Literatur  und  über  die  einzelnen  Autoren. 
Im  ersteren  handelt  er  recht  ausführlich  über  die  Bibelübersetzungen, 
läßt  aber  die  zahlreichen  Uebersetzungen  von  Apokryphen  beiseite, 
da  er  sie  durchweg  in  eine  spätere  Zeit  setzen  zu  müssen  glaubt. 
Seine  Notiz  über  die  älteste,  nicht  erhaltene  Evangelienübersetzung 
des  jakobitischen  Patriarchen  Joliannan  (S.  l)  ist  unvollständig  geblieben, 
weil  er  nur  aus  Barhebraeus  schöpft,  der  seine  Quelle  Michael  Syrus 
422  a  (Chabot)  nur  zur  Hälfte  ausgeschrieben  hat.  Mich,  berichtet 
weiter,  daß  der  Patriarch  die  Bischöfe  und  Laien  aus  seiner  Diözese, 
die  Syrisch  und  Arabisch  verstanden,  um  sich  versammelte,  von  ihnen 
in  gemeinsamer  Arbeit  die  Evangelien  übersetzen  ließ  und  dies  Werk 
dann  dem  Prior  überreichte.  Dankenswert  sind  seine  eingehenden 
Mitteilungen  über  die  beiden  Münchener  Handschriften  der  spanisch- 
arabischen Evangelienübersetzung,  auf  die  neuerdings  wieder  Völlers 
und  V.  Dobschütz  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  haben. 

Der  zweite,  über  die  einzelnen  Schriftsteller  handelnde  Abschnitt 
ist  rein  chronologisch  geordnet,  obwohl  es  doch  wünschenswert  ge- 
wesen wäre,  die  Leistungen  der  Kopten  von  denen  der  Syrer  und 
hier  wieder  die  der  Jakobiten  und  die  der  Nestorianer  zu  sondern. 
Seine  Angaben  über  Hss.  und  Ausgaben  sind  durchweg  vollständig 
und  zuverlässig.   Bei  Severus  b.  al  Muqafifa'  S.  43  fehlt  noch  Evetts' 


830  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Ausgabe  (Patrologia  or.  1, 2).  Unbekannt  ist  ihm  wie  den  beiden 
Herausgebern  geblieben,  daß  in  Hamburg  eine  von  den  Clodices  in 
London  und  Tübingen,  von  denen  Oraf  den  letzteren  anch  nicht 
nennt,  stark  abweichende  Handschrift  der  Patriarchengescbichte  liegt, 
über  die  der  Katalog  des  Ref.  demnächst  eingehend  berichten  wird. 
Entgangen  ist  Graf  auch  der  Nachweis  von  A.  A.  Vasiliev  un 
BH3aHT.  BpeMeHHHRB  XI,  Nr.  3  und  4,  daß  die  im  Florentiner  Codex 
CXXXn  erhaltene  Weltgeschichte  des  Erzbischofs  von  Mabbug  Mat^büb 
(Agapius)  b.  Konstantin  i.  J.  941  verfaßt  ist,  also  noch  in  die  Yon 
ihm  behandelte  Periode  gehört. 

Verdient  Grafs  Fleiß  in  der  Materialiensammlung  alles  Lob,  so 
darf  leider  doch  nicht  verschwiegen  werden,  daß  seine  philologische 
Akribie  etwas  zu  wünschen  übrig  läßt.  Die  Umschrift  der  arabischen 
und  der  syrischen  Namen  ist  gar  zu  sorglos.  Die  langen  Vokale  smd 
ganz  inkonsequent  bezeichnet,  und  Formen  wie  ümmaija  S.  5,  Abd 
*Iäua*  S.  33,  Hödatha  S.  37,  üseibij  S.  47,  Mijäfariqin  S.  52,  'Bnjib 
S.  61,  'ISäjäb  63  u.  a.  wird  man  nicht  als  Druckfehler  ansehn  können, 
an  denen  es  freilich  auch  nicht  mangelt.  Al-nab!  al-ummt  ist  nicht 
der  Nationalprophet  (S.  26),  sondern  der  illiterate  Prophet 

Königsberg  G.  Brockelmann 


Die  Ma^allika  des  Zahair  mit  dem  Kommentar  des  Abu  Qa*far  Ahmad 
Ibn  Muhammad  An-Nahhis,  nebst  einer  Einleitung  und  Anmerkungen  heraus- 
gegeben von  J.  Haasheer.  Berlin,  Reuther  &  Reichard,   1905.  83,  Tö  S.  SM. 

Unter  den  arabischen  Kommentaren  zu  den  sieben  Ma'allalMU 
ist  der  älteste,  uns  vollständig  erhaltene,  der  des  ägyptischen  Gram- 
matikers an-Nabbäs  (1338/950).  Er  ist  recht  ausfuhrlich  gehalten 
und  enthält  mancherlei  wertvolles  lexikalisches  Material,  daneben 
allerdings  auch  viele  unsere  Erkenntnis  nicht  eben  fördernde  gram- 
matische Erörterungen.  Dieser  Kommentar  ist  in  dem  von  Lyall 
herausgegebenen  Scholienwerke  des  Qamasaerklärers  al-Tibrizi  sehr 
stark  benutzt  und  oft  wörtlich  ausgeschrieben.  Bei  der  hohen 
Wichtigkeit  der  Mu'alla^ät  für  unsere  Kenntnis  der  altarabischen 
Dichtung  und  des  Beduinenlebens  ist  es  wünschenswert,  daß  alles 
noch  erhaltene  Material  für  ihre  Erklärung  nutzbar  gemacht  werde. 
So  war  es  ein  guter  Gedanke  von  Hausheer,  dem  1876  in  einer 
Hallenser  Diss,  von  E.  Frenkel  herausgegebenen  Kommentar  des  an- 
Na^^äs  zur  Mu'allal^a  des  Imru'ulkais  den  zu  Zuhair  folgen  zn 
lassen.  Ein  Teil  seiner  Arbeit  ist  schon  vor  längerer  Zeit  gleichfalls 
als  Hallenser  Diss,  erschienen. 

In  einer  Einleitung  stellt  H.  noch  einmal  alle  Nachrichten  fiber 
den  Namen  des  Dichters  und  die  Veranlassung  des  Gedichtes  in 


Hausheer,  Die  Ma'allaka  des  Zohair  831 

Zitaten  zosammen.  £r  führt  dann  die  Ausgaben  und  Uebersetzungen 
aller  Mu'allal^ät  an;  darunter  fehlt  nur  die  neueste:  The  seven  golden 
odes  of  pagan  Arabia,  known  also  as  the  Moallakat,  translated  from 
the  original  Arabic  by  Lady  Anne  Blunt,  done  into  english  verses 
by  Wilfrid  Scawen  Blunt,  London  1903.  Er  geht  dann  zur  Be- 
sprechung der  Kommentare  über.  Bei  dem  ältesten  Erklärer  erwähnt 
er  nur  die  den  Kommentar  zu  Imru'ull^ais  enthaltende  Handschrift 
des  India  Office,  nicht  aber  die  die  Schollen  zu  Imru'ull^ais,  Tarafa> 
Labid,  'Amr  und  ^ärit  enthaltende  Berliner  Hs.  Glaser  41  (Ahl- 
wardt  7440),  aus  der  Schlössinger  ZA.  16,15—64  den  Kommentar  zu 
'Amr  herausgegeben  hat,  obwohl  er  auf  ZA.  16, 15fif.  selbst  hinweist. 
Ausfuhrlich  bespricht  er  dann  den  Kommentar  des  An-Na^tiäs  und 
seine  Ueberlieferung.  Die  Textausgabe,  der  die  Leidener  und  die 
Berliner  Hss.  zugrunde  liegen,  für  die  aber  auch  die  Tibrizihss.  mit 
herangezogen  sind,  ist  sehr  sorgfältig  hergestellt;  selbst  Druckfehler 
wie  sXs>\^\  für  Jc>t^l  rf ,  l  sind  sehr  selten.  Zu  beanstanden  wäre 
höchstens  die  mißbräuchliche  Verwendung  der  Medda  auch  für  ä', 
die  in  europäischen  Drucken  nicht  mehr  geduldet  werden  sollte.  In 
den  Anmerkungen  hat  er  mit  großem  Fleiß  die  Varianten  der  sonstigen 
Ueberlieferung  des  Gedichtes  zusammengestellt.  Auch  zu  den  Sawähid 
des  Kommentars  bietet  er  sehr  reichhaltige  weitere  Nachweise. 
Königsberg  G.  Brockelmann 


Semitle  Study  Series,  edited  by  R.  J.  H.  Gottheil  and  M.  Jastrow.  Nr.  lY : 
A  Selection  from  the  Prolegomena  of  Ibn  KhaldiUi  with  Notes  and 
an  engliflh-german  Glossary  by  D.  B.  Macdonald.  Leiden,  £.  J.  BriU,  1905. 
VI,  f .  109  S.  2  8.  6  d. 

Dieses  Heft  bringt,  von  Macdonald  besorgt,  einen  Ausschnitt  aus 
Ibn  galdäns  Mul^addama,  der  seit  A.  Sprengers  und  A.  v.  Kremers 
Arbeiten  auch  in  weiteren  Gelehrtenkreisen  bekannt  gewordenen  ge- 
schichtsphilosophischen  Einleitung  des  magrebinischen  Historikers  in 
seine  Weltgeschichte.  Mit  glücklichem  Griflf  wurde  jener  lehrreiche 
und  für  das  weit  seiner  Zeit  vorauseilende,  wenn  auch  z.  T.  recht 
befangene  Denken  Ibn  Haldüns  charakteristische  Abschnitt  gewählt 
(pag.  7—23  des  I.  Bandes  der  Büläl^erausgabe),  welcher  die  Methode 
einer  an  unverbürgten  Nachrichten  zu  übenden  Kritik  zum  Gegen- 
stand hat  und  diese  an  mehreren  berühmten  Beispielen  erläutert, 
z.  B.  an  der  'Abbäsageschichte  als  Ursache  des  Falles  der  Barme- 
kiden. 

Die  Sammlung  soll  Lehrzwecken  dienen  und  diesen  wurde  auch 
Heft  IV  angepaßt.  Einige  vom  Hrsg.  und  Bearbeiter  selbst  als 
dunkel  bezeichnete  Stellen  werden  dem  Lehrer  Gelegenheit  zu  text- 


832  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

kritischen  Auseinandersetzungen  geben,  ebenso  dürften  einige  ?om 
Verf.  im  Glossar  gebotene  Erläuterungen  zu  modifizieren  oder  schärfer 
zu  fassen  sein.  Daß  der  arabische  Text  ganz  ohne  Interpunktion 
fortläuft^),  wird  man  vielleicht  —  der  mangelnden  Uebersicht 
wegen  —  bedauern.  Die  Araber  wenden  in  ihren  Hss.  zwar  keine 
Interpunktion  in  unserem  Sinne  an,  aber  sie  bezeichnen  selbst  kleinere 

Einschnitte  mit  c  fc  u.  s.  w.  Wir  sollten  es  ihnen  nachahmen,  beson- 
ders in  Textausgaben,  welche  Schülern  in  die  Hand  gegeben  werden. 

Mit  der  Einrichtung  des  Glossary  kann  ich  mich  nicht  einyer- 
standen  erklären.  Es  gibt  die  Vokabeln  nicht  nach  Wurzeln  in 
alphabetischer  Ordnung,  sondern  nach  Art  von  Schulpräparationen 
in  der  Reihenfolge  des  Textes.  Die  Bedeutung  der  Wurzelderivate 
wird  aber  der  Schüler  bei  seiner  späteren  Lektüre  erst  aus  ihrer 
Vergleichung  an  mehreren  Stellen  schärfer  erkennen  lernen.  Dazn 
kann  er  nur  durch  wirkliche  Glossare  mit  Konkordanz  erzogen 
werden. 

Das  Büchlein  erlebt  hofifentlich  bald  eine  Neuauflage.  Dann 
möge  ein  auch  der  deutschen  Sprache  vollkommen  mächtiger  Arabist 
in  die  Redaktion  des  Glossars  eingreifen,  einige  störende  Druckfehler 
tilgen  und  Unklarheiten  des  Ausdrucks  ebnen.  Z.  B.  pag.  56  des 
Glossars  Z.  3  unten  >Faselnc  statt  >Toben<,  57  Z.  1  >auf  etwas 
kommen,  es  merkenc  statt  >stolpern<,  59  Z.  1  >weithergeholte<  statt 
>  alberne  i.    Ebenda  im  Text  pag.  11  Z.  16  möchte  ich  vorschlagen, 

die  2.  Person  JUU^'  statt  des  Feminins  zu  lesen  und  auf  das  Zitat 
bei  Dozy  s.  v.  tks>^  II  hinweisen.  Pag.  103  wäre  der  malerische  Aus- 
druck >schluckt  seinen  Speichel,  würgt  an  seinem  Speichel<  wört- 
lich zu  übersetzen  gewesen. 

Graz  N.  Rhodokanakis 


Max  Beisohle,  Aufsätze  und  Vorträge.    Herausgeg.  u.  mit  einer  biograph. 
Einleitung  versehen  von  Th.  Häring  a.  Fr.  Loofs.    Tübingen,  Mohr,  1906. 

Am  IL  Dezember  1905  wurde  Max  Reischle,  noch  nicht  48 
Jahre  alt,  aus  seiner  Wirksamkeit  abberufen.  Er  war  keiner  der 
bahnbrechenden  Geister  in  seiner  Wissenschaft,  aber  einer  der  tüch- 
tigsten Arbeiter  in  ihr.  Es  ist  sehr  berechtigt,  daß  zwei  seiner 
nächsten  Freunde,  Theodor  Häring  und  Friedrich  Loofs,  eine  Samm- 
lung von  einer  Anzahl  seiner  wissenschaftlichen  Abhandlangen  und 
Vorträge  veranstaltet  haben.  Die  Arbeiten,  die  sie  bieten,  waren  bis 
auf  zwei  bereits  früher  gedruckt  und  auch  nicht  allzu  schwer  zu  er- 
reichen.   Aber  es  entspricht  wirklich  ihrem  Werte,   nicht  nur  der 

1)  pag.  10  Z.  5, 15  Z.  3  findet  sich  ein  lobenswerter  Ansatz  dazn. 


Reischle,  Aufsätze  und  Vorträge  833 

Schätzung,  die  die  Freunde  für  sie  hegen,  daß  sie  zusammengestellt 
und  nun  doch  wohl  weiterer  Beachtung  und  größerer  Nachwirkung 
erhalten  sind,  als  die  ihnen  in  der  Zerstreuung  zu  Teil  geworden 
wäre.  Vorangestellt  ist  der  Sammlung  eine  knappe  biographische 
Skizze.  Häring,  der  ältere  Freund  und  württembergische  Landsmann, 
schildert  uns  R.s  Jugend  und  seinen  Entwicklungsgang  bis  dahin,  wo 
er  recht  eigentlich  die  Höhe  beschreitet,  nämlich  bis  zu  seiner  kurzen 
Wirksamkeit  in  Göttingen,  Herbst  1895  bis  Ostern  1897.  Loofs  hat 
dann  den  Jahren,  in  denen  er  R.  als  seinen  Kollegen  und  speziellsten 
Altersgenossen  (R.  war  einen  ganzen  Tag  älter)  in  Halle  neben  sich 
sah,  die  zweite  Hälfte  der  Lebensskizze  gewidmet.  In  den  Halle- 
schen Jahren  war  es  R.  beschieden,  vollends  zur  Anerkennung  in 
weitem  Kreise  zu  gelangen.  Ich  selbst  habe  den  Verewigten  3^1% 
Jahre  in  Gießen  zum  Kollegen  gehabt.  Er  bekleidete  dort  die  Pro- 
fessur der  praktischen  Theologie,  die  er  mit  größter  Gewissenhaftig- 
keit und  mit  herzlicher  Anteilnahme  an  den  mannigfachen  Disziplinen, 
die  sie  umfaßt,  verwaltete,  war  aber  unverkennbar  von  der  stillen 
Hoffnung  beseelt,  einmal  in  eine  Professur  der  systematischen  Theo- 
logie übergeführt  zu  werden,  die  seinem  eigentlichen  wissenschaft- 
lichen Interesse  mehr  entsprach.  Eine  solche  war  es  denn  auch,  die 
ihm,  in  erwünschter  Kombination  mit  einem  Teile  der  Verpflichtungen 
eines  >Praktikers<,  an  der  Georgia-Augusta  und  dann  in  Halle  zu 
Teil  wurde.  In  Göttingen  war  R.,  nächst  Häring,  der  zweite  Nach- 
folger Albrecht  Ritschis  auf  dem  Lehrstuhle.  Er  hatte  als  einer  der 
ersten  jungen  schwäbischen  Theologen  sich  den  Einwirkungen  der 
Theologie  dieses  Mannes  erschlossen,  in  seiner  Kandidatenzeit  noch 
einmal  als  Student  zu  seinen  und  Hermann  Schultz'  Füßen  gesessen 
und  als  Tübinger  Repetent  der  >Ritschlschen  Theologie«  Jünger  ge- 
worben. Er  hat  es  nie  verläugnet  Ritschlianer  zu  sein,  aber  er  war 
es  von  Anfang  an  mit  großer  Selbständigkeit  im  wissenschaftlichen 
Urteil  und  in  der  inneren  Stellung.  Als  er  zuerst  hervortrat,  hatte 
der  Streit  um  die  Ritschlsche  Theologie  schon  begonnen  an  Heftig- 
keit zu  verlieren,  und  es  war  dann  gerade  R.s  ebenso  sachkundiger 
wie  freier  Weise  besonders  mit  zu  verdanken,  daß  Ritschi  wenigstens 
nach  dem  Tode  allmählich  gerechtere  Würdigung  auch  bei  Gegnern 
fand,  als  ihm  bis  dahin  zu  Teil  geworden.  Man  kann  sagen,  daß  R. 
der  > jüngste  <  Ritschlianer  war.  Die  Generation,  zu  der  er  seinem 
Alter  nach  gehörte,  begann  bereits  wieder  nach  neuen  Sternen  aus- 
zuschauen. Er  hörte  es  gern,  wenn  man  ihn  noch  der  »älterenc 
Generation  zurechnete.  Seine  letzte  größere  wissenschaftliche  Arbeit 
galt  noch  der  Auseinandersetzung  mit  der  » neuen  c  Richtung,  die 
sich  als  die  religionsgeschichtliche  zu  bezeichnen  pflegt. 


834  G5tt  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

Aus  Härings  feiner,  mit  Recht  nirgends  in  das  Detail  allzo 
intim  eintretender  Darstellung  von  R.s  persönlicher  Art  habe  ich 
erst  erfahren,  welch  sinniger  künstlerische,  dichterische  Zag  in  dem 
werten  Manne  lag;  mir  war  nur  sein  musikalischer  Sinn,  seine 
Freude  am  Singen,  ofifenbar  geworden.  Dazu  die  sonnige  Freundlich- 
keit, die  ihm  eigen  war.  R.  war  in  erster  Linie  zum  Lehrer  veran- 
lagt. Seine  Neigung  zum  Psychologisieren ,  seine  strenge  Selbst- 
disziplin, seine  ungewöhnliche  Fähigkeit  die  Probleme  klar  und  über- 
sichtlich vorzuführen,  seine  sichere  Art  das  Wichtige  an  einer  Sache 
zu  erkennen,  machte  ihn  im  besten  Sinne  zum  »Professorc.  In  pfarr- 
amtlicher Tätigkeit  hat  er  nur  kurz  gestanden.  Ehe  er  an  die  Uni- 
versität berufen  wurde,  war  er  Lehrer  am  Gymnasium,  schon  damals 
als  solcher  von  großem  Einfluß  auf  die  Jugend.  Als  Prediger  war  er 
vorwiegend  überlegsam,  warm,  aber  nüchtern  und  schlicht,  kein  hin- 
reißender Redner,  aber  ein  gewinnender,  immer  selbst  ergriffen  von 
seiner  Sache,  aber  bescheiden  zurückhaltend  in  der  Bezeugung  seiner 
Ergriffenheit.  In  der  Sammlung,  die  Häring  und  Loofs  bieten,  steht 
eine  Predigt  voran,  die  letzte,  die  er  hier  in  Göttingen  hielt  Sie 
ist  in  ihrer  taktvollen  Weise,  die  Situation  eigentlich  gar  nicht  zu 
berühren  und  doch  gerade  etwas  zu  sagen,  was  einem  Abschied  en^ 
spricht,  so  recht  eine  Probe  von  seiner  herzlichen,  maßvollen  und 
doch  innerlich  kraftvollen  Art.  R.  war  ein  Mann  von  Greist,  eben 
darum  zeigt  er  sich  nie  geistreich;  er  hatte  offensichtlich  Scheu  vor 
glitzernder  Rede  und  Darstellung.  Seine  Methode  ist  zuweilen  etwas 
umständlich,  aber  man  folgt  seiner  Erörterung  auch  dann  ohne 
Langeweile,  da  man  erkennt,  daß  er  sich  nie  ins  Kleinliche  verliert 
Ganz  reizend,  inhaltreich  und  doch  in  der  Form  dem  Stoffe  ent- 
sprechend leicht  und  gefällig,  im  besten  Sinne  spielend,  ist  sein  Vor- 
trag über  >Das  Spielen  der  Kinder  in  seinem  Erziehungswert«  R. 
war  von  Herzen  an  der  Pädagogik  interessiert  und  wenigstens  in 
Gießen  gehörte  sie  auch  zu  den  Thematen  seiner  Vorlesungen.  Man 
merkt  den  Kinderfreund  in  dem  Vortrage  allenthalben.  Dem  Ge- 
biete der  Pädagogik  gehört  auch  der  Vortrag  über  >  Simultan-  und 
Konfessionsschule«  an.  Er  ist  aus  abkürzungsreichem  Konzepte  ge- 
druckt, das  R.s  treue  Lebensgefährtin  mühsam  entziffert  hat;  ihn 
drucken  zu  lassen  legte  sich  schon  durch  den  Umstand  nahe,  daß  er 
unmittelbar  vor  R.s  schwerer  und  nicht  mehr  zur  Genesung  führen- 
der Erkrankung  gehalten  ist.  R.  greift  hier  in  die  Verhandlungen 
über  das  neue  preußische  (erst  nach  seinem  Tode  verabschiedete) 
Schulgesetz  mit  ein.  Wie  sachlich,  als  rechter  Akademiker,  er  das 
tut!  Es  ist  eine  knappe,  klare,  absolut  nicht  advokatische,  aber  ein- 
dringliche  Empfehlung  der  Konfessionsschule,  was  wir  bei  ihm  leaen; 


Reischle,  Aufsätze  and  Vorträge  836 

im  Vordergrunde  steht  die  Rücksicht  auf  die  notwendigen,  nicht 
abstrakt  zu  formulierenden,  sondern  durch  das  Leben  unsers  Volkes 
gebotenen  Ziele  des  Unterrichts  der  Volksschule.  R.  ist  sehr  weit 
entfernt  von  konfessionellem  Fanatismus;  er  hat  nur  einen  klaren 
Blick  für  die  Realitäten,  unter  denen  die  Schule  wirken  muß,  und 
erwartet  von  der  durch  den  Staat  beherrschten  konfessionellen  Schule 
am  ehesten  etwas  für  den  wirklichen  konfessionellen  Frieden. 

Aus  dem  Gebiete  der  systematischen  Theologie  sind  vier  Auf- 
sätze in  die  Sammlung  aufgenommen.  Einer,  mit  der  Ueberschrift 
>Kirchliche  und  unkirchliche  Theologie, <  vom  Jahre  1901,  hat  Be- 
zug auf  eine  gerade  damals  etwas  hitzig  betriebene  Debatte.  Daß 
die  Kirche  nicht  das  Recht  hat,  der  wissenschaftlichen  Erforschung 
des  Christentums  einen  Riegel  vorzuschieben,  ist  unter  protestanti- 
schen Theologen  im  Grunde  für  jeden  eine  Selbstverständlichkeit, 
aber  wer  soll  sich  noch  für  die  Theologie  und  ihre  Arbeit  interessieren, 
wenn  nicht  die  Kirche?  R.  erörtert  die  Frage,  welches  das  richtige 
Interesse  der  Kirche  an  der  Theologie  sei,  und  bringt  umgekehrt 
den  Theologen  zum  Bewußtsein,  daß  ihrer  Arbeit  der  Lebensodem 
ausgehen  würde,  wenn  sie  ihrerseits  die  Kirche  einfach  ignorieren 
wollten.  Schleiermachersche  Gedanken  bilden  das  Grundgewebe  der 
R.8chen  Erörterung,  die  übrigens  darin  ausläuft,  daß  im  Einzelnen 
Konflikte  zwischen  dem  kirchlichen  Interesse  und  der  theologischen 
Forschung  nie  ganz  zu  vermeiden,  bei  Einsicht  in  die  wirkliche 
Sache  des  Glaubens  aber  auch  zu  ertragen  und  letztlich  auch  auszu- 
tragen seien.  R.  lebt  der  guten  Zuversicht,  mit  der  Kirche,  daß  der 
christliche  Glaube  nicht  Lügen  zu  strafen  sei.  Zwei  kleinere  Aufsätze 
behandeln  die  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Historischen  für  den 
Glauben,  der  eine  in  allgemeiner  Fassung:  »Der  Glaube  an  Ge- 
schichtstatsachen,« der  andere  in  besonderer  Zuspitzung:  > Zur  Frage 
nach  der  leiblichen  Auferstehung  Jesu  Christi.«  Die  Aufsätze  sind 
in  der  > Christi.  Welt«  erschienen  und  wollen  Laien  orientieren.  Für 
ihren  Zweck  vortrefflich  geeignet,  sind  sie  wissenschaftlich  nicht  sehr 
eingehend.  R.  selbst  hat  in  anderen,  strengeren  Untersuchungen  sich 
den  gleichen  Fragen  noch  mehrfach  zugewendet.  Ich  denke,  die 
beiden  Abhandlungen  werden  das  Interesse  wecken,  gerade  auch  das 
zu  lesen,  was  R.  anderwärts  zu  ihren  Problemen  gesagt  hat.  üeber- 
baupt  soll  niemand  denken,  daß  er  R.s  andere  Arbeiten  bei  Seite 
lassen  könne,  wenn  er  die  paar  Stücke  der  Sammlung  kennen  gelernt! 

Die  umfänglichste  Abhandlung,  die  der  Sammlung  einverleibt  ist, 
trägt  die  Ueberschrift  > Erkennen  wir  die  Tiefen  Gottes?«  Sie  war 
es,  die  R.s  wissenschaftlichen  Ruf  besonders  begründete.  Mit  ;ihr 
rechtfertigte  er  es  sogleich  im  ersten  Jahrgang  der  von  Gottschick 
herausgegebenen   »Zeitschrift  für   Theologie   und  Kirche, <   daß    er 

Ofttt  g«l.  Au.  1906.  Mr.  10  58 


836  QOtt.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  10 

unter  die  Zahl  der  >Mitheraasgeber<  aufgenommen  war.  Sie  war 
auch  der  direkte  Anlaß  für  seine  Berufung  nach  Gießen.  Ich  meine, 
daß  die  Abhandlung  wohl  überhaupt  die  bedeutendste  unt^  K& 
wissenschaftlichen  Arbeiten  sei.  Es  ist  ja  gar  nicht  so  selten,  d&fl 
ein  hoch  veranlagter  Geist  in  jugendlicher  Leistung  bereits  das  Größte 
hervorbringt,  was  ihm  beschieden  sein  soll.  Das  macht  die  späteren 
Leistungen  nicht  an  sich  geringwertiger.  Denn  sie  können  geeign^ 
sein,  einem  erst  recht  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  was  ihr  Urheber 
schon  längst  im  Rate  der  Forscher  an  Geltung  beanspruchen  durfte. 
In  der  Tat  hat  R.  nachher  noch  recht  vieles  geschaffen,  wie  auch 
jene  Abhandlung  nicht  die  erste  Leistung  war,  die  er  den  Fachleuten 
vorlegte.  Aber  jene  Abhandlung  offenbart,  zumal  im  Rückblick,  wie 
voUreif  R.  als  Systematiker  schon  damals  als  Dreiunddreißigjähriger 
war.  Gerade  gegenüber  allemeuesten  Strebungen  der  ReligionsphQo- 
Sophie  und  theologischen  Glaubenslehre  erscheint  R.s  Abhandlung 
wie  eine  Vorwegnahme  wichtiger  Probleme  und  Lösungen;  sie  kann 
in  dem  Streite  um  Transszendenz  oder  Immanenz  Gottes,  am  Mög- 
lichkeit und  Recht  Gott  als  Persönlichkeit  zu  denken,  um  die  rechte 
Bewertung  all  des  Irrationalen  im  Weltleben,  welches  die  christlidie 
Anwendung  der  Liebesidee  auf  den  Inhalt  des  Wesens  Gottes  be- 
drängt, gerade  jetzt  vielleicht  ihre  vollste  Bedeutung  erlangen.  Idi 
meine,  wir  dürfen  in  dieser  Abhandlung  auch  eine  gewisse  Aus- 
gleichung der  schmerzlichen  Spannung  der  Gefühle  finden,  die  R.8 
vorzeitiges  Ende  uns  hinterließ.  Gewiß  ist  es  R.  nicht  beschieden 
gewesen,  sich  auszuwirken.  Er  hatte  seither  vieles  in  Arbeit  ge- 
nommen und  hoffte  noch  auf  die  eigentliche  Frucht  seines  Lebens. 
Er  hatte,  zumal  in  Halle,  weitere  Einzelproben  seiner  philosophischen 
Gelehrsamkeit  und  Veranlagung  so  reichlich  vorgelegt,  daß  wir  alle 
uns  freuten  auf  die  > Religionsphilosophie«,  die  er  zu  schreiben  zu- 
gesagt hatte.  Aber  den  >Wurf<,  daß  ich  so  sage,  gerade  seiner  Beli- 
gionsphilosophie,  hat  er  ohne  Zweifel  in  jener  Abhandlung  schon 
getan  gehabt.  So  mag  sie,  auch  in  der  geschliffenen,  feinen  Form, 
die  sie  trägt,  uns  die  innere  Befriedigung  gewähren  zu  glauben,  dafi 
er  doch  das  >Ganze<  seiner  Gedanken  andeuten  durfte. 

Ein  Verzeichnis  sämtlicher  literarischer  Arbeiten  R.s,  das  seine 
Gattin  hergestellt  hat,  bildet  den  Schluß  des  kleinen  Bandes.  Ein 
gutes  Bild  des  Verblichenen  erinnert  seine  Freunde  an  den  lebhaften 
gütigen  Gesichtsausdruck,  den  wir  an  ihm  kannten;  es  wird  ihm  ge- 
wiß noch  bei  vielen  etwas  von  der  Sympathie  erwecken,  die  er  wohl 
jedem  unmittelbar  eingeflößt  hat,  der  sich  in  seinem  Leben  mit  ihm 
berührte. 

Göttingen  ^___^__^^^  F.  Kattenbnsdi 

Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  Eduard  Schwarts  in  GMtiBfen 


November  1906  Nr.  II 


€•  Lneilil  e«niiinain  reliqniae,  recensuit  enarravit  FridericusMarx.  volamen 
prius:  prolegomena,  testimonia,  fasti  Luciliani,  carminum  reliquiae',  indices. 
1904.  Yolumen  posterius :  commentarius.  1905.  Lipsiae,  in  aedibus  B.  G.  Teubneri. 
8«.   I:  CXXXVI  +  169  S.,  II:  XXIV  +  437  S. 

Dieses  Buch  loben  ist  leicht.  Wer  nur  ein  paar  Seiten  des 
Commentars  liest,  muß  sehn  daß  jeder  hinfort  den  es  angeht  das 
Buch  nicht  nur  lesen  sondern  studiren  muß.  Es  ist  nicht  zuviel  ge- 
sagt, daß  es  durch  mehr  als  eine  Eigenschaft  an  Lachmanns  Lucrez 
erinnert,  vor  dem  es  die  allseitige  Erklärung  voraus  hat,  während 
es  sich  freilich  auf  Untersuchungen,  die  die  Grenzen  des  Gegen- 
standes überschreiten,  nicht  einläßt.  Eine  solche  Fragmentenerklärung 
gibt  es  überhaupt  bisher  nur  in  Proben;  jede  folgende  kann  sich 
getrost  an  dieser  das  Muster  nehmen.  Jedes  Wort  überlegt  und  ge- 
prüft, aller  Stoff,  der  grammatische  litterarische  historische  staats- 
rechtliche archäologische,  ins  Tiefe  durchgepflügt,  alles  mit  voll- 
kommener Knappheit  und  Klarheit  vorgelegt;  ein  sicher  schreitendes 
und  führendes  Gefühl  für  das  Richtige;  ein  Latein  so  scharf  und 
persönlich  wie  die  Untersuchung.  Denn  persönlich  ist  sie  durchaus, 
nichts  von  Schema  und  Schablone.  Solche  Arbeit  an  den  Trümmern 
einer  großen  Production  geleistet  ist  schöpferisch,  der  Dichter,  sein 
Kreis,  seine  Zeit  fügen  sich  vor  unsern  Augen  zusammen.  Man  darf 
sagen,  daß  wir  Lucilius  erst  jetzt  kennen.  Marx  hat  selber  vor  25 
Jahren  durch  seine  Erstlingsschrift  den  Weg  bereitet;  man  hat  auf 
ihn  gewartet,  und  er  führt  uns  nun  so  sicher  aufs  Ziel  zu,  daß  man 
glaubt  es  greifen  zu  können. 

Ein  Buch  wie  dieses  lobt  sich  selbst;  wer  es  nur  zu  loben  hat, 
soll  das  lieber  dem  Buche  überlassen.  Wer  seine  productive  Wirkung 
spürt,  muß  sich  vor  allem  mit  dem  Buche  auseinandersetzen  und  zu- 
sehn ob  er  weiter  kommt.  Ich  unterlasse  aber  nicht  ausdrücklich  zu 
betonen,  daß  wenn  ich  irgendwo  einen  Schritt  weitergekommen  sein 
sollte,  mir  das  nur  durch  die  von  Marx  geleistete  und  oft  kaum 
durch  Worte  angedeutete  Arbeit,  die  Sichtung  des  Ueberlieferten, 

OOtt  g»].  Au.  1906.  Nr.  11  59 


838  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

Vorlegung  des  Tatsächlichen,  Auscheidung  der  Meinungen  und  Vor- 
urteile, möglich  geworden  ist.  neque  tarnen  finitam  esse  poetae  diffi- 
cillimi  emendationem  et  interpretationem,  sed  coepisse  sagt  Marx  I 
S.  CXVII. 

Es  war  bisher  in  der  Tat  schwer  an  Lucilius  heranzukommen. 
L.  Müller  verstrich  die  Nichtigkeit  seiner  Leistungen  durch  ein  ödes 
stilwidriges  Interpoliren,  und  die  elende  Dürftigkeit  seines  C!om- 
mentars,  ohne  Ahnung  von  den  Aufgaben  die  im  Gegenstande  liegen, 
führt  in  die  Irre  oder  doch  auf  dem  Wege  nicht  weiter.  Lachmann, 
so  vieles  er  richtig  gesehen,  hat  doch  zu  viel  conjicirt  und  zu  wenig 
interpretirt.  Marx  spricht  I  S.  CXV  S.  über  seine  Vorgänger  kurz 
und  treffend.  Zwischen  J.  Dousa  und  Scaliger  dort  und  Marx  hier 
kann  man  außer  Lachmann  eigentlich  nur  Bücheier  nennen  als  einen 
der  die  Kritik  der  Fragmente  wirklich  gefördert  hat 

Die  Ueberlieferungsgeschichte  der  Satiren  und  der  Grammatiker- 
citate  behandelt  Marx  I  S.  L  if.  Philocomus  ist  ihm  grammaiicorum 
equitum  doctissimus;  die  dagegen  erhobenen  Einwendungen  beachtet 
er  nicht;  mir  erscheinen  sie  noch  heute  sehr  triftig.  An  gar  zu 
dünnem  Faden  hängt  leider  die  Reconstruction  der  chronologisch 
geordneten  Ausgabe,  die  er  (S.  LIII)  aus  Varro  de  1.  1.  VII 47  er- 
schließt; daß  die  drei  Citate  auf  einer  Sammlung  von  Fischglossen  aus 
Lucilius  beruhen,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Das  Princip  der  metrisch 
geordneten  Ausgabe  erläutert  er  sehr  schön  durch  die  Folge  episch 
elegisch  jambisch.  Daß  Macrobius  III 16. 17  aus  alten  Luciliusscholien 
schöpft,  ist  einleuchtend  und  wichtig.  Von  Verrius  Flaccus  sucht 
Marx  (S.  LXU  if.)  nachzuweisen,  daß  er  seine  Luciliuscitate  nur  aus 
zweiter  Hand  habe;  ob  die  Argumente  ausreichen,  eine  so  auffallende 
These  zu  beweisen,  ist  mir  zweifelhaft.  Auf  die  eingehende  Unter- 
suchung über  das  Verhältniß  des  Charisius  und  Priscian  zu  Caper 
(LXVff.)  kann  ich  nur  hinweisen.  Marx  beweist  aus  der  verschie- 
denen Art  zu  citiren,  daß  bei  beiden  Capers  eigne  Excerpte  aus 
Lucilius  vorliegen,  daß  aber  lulius  Romanus  (bei  Charisius)  Lucilius 
nicht  aus  Caper  citirt  hat.  In  den  Abschnitt  über  Probus  ist  eine 
aufklärende  Erörterung  über  den  Vergilcommentar  eingelegt  (LXmf.), 
der  als  (syp^^i^h'^  6icö(i.vifjjta  auf  Probus'  Vorlesungen  zurückgeführt 
wird. 

Der  Hauptabschnitt  ist  natürlich  über  Nonius  (S.  LXXVIII  ff.). 
Sehr  hübsch  erläutert  Marx,  wie  Nonius  die  Aufgabe  des  Excerpirens 
an  seine  servi  litterarii  verteilt  hat,  von  denen  der  eine  immer  Af. 
Tullit4S,  der  andere  immer  Cicero^  der  eine  Lucilius  satyrarum  lib.  /, 
der  andere  Lucilius  lib.  I  setzte;  was  dann  der  Redactor  der  ganzen 
Compilation,  d.  h.  Nonius,  beibehielt.  Weittragende  Folgerungen  zieht 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  11  839 

Marx  aus  dem  Umstände,  daß  in  den  Citatenreihen  aus  Buch  XXVI 
bis  XXX  in  der  Regel,  in  denen  aus  I — XXI  zuweilen  die  Bücher 
des  Lucilius  in  umgekehrter  Folge  aufgeführt  sind  (tabellarische 
üebersicht  S.  LXXXVII— CVI).  Wo  diese  Folge  der  Bücher  erscheint, 
sind  nach  seiner  Ansicht  auch  die  Citate  nicht  in  der  vom  Anfang 
zum  Ende  vorschreitenden  Folge,  sondern  vom  Ende  zum  Anfang 
zurückschreitend  in  die  Compilation  aufgenommen  worden.  Marx 
stellt  sich  das  so  vor  (S.  LXXXIII),  daß  die  Excerptoren  die  Rollen 
aufgewickelt  hatten,  um  die  Citate  zu  bezeichnen,  und  nun,  um  die 
Arbeit  des  Zusammen-  und  Wiederaufrollens  zu  sparen,  beim  Zu- 
sammenrollen die  Citate  von  hinten  nach  vorn  auflasen.  Hierdurch 
gewinnt  Marx  ein  festes  Princip  für  die  Anordnung  eines  großen 
Teils  der  Fragmente,  indem  er  die  Reihen  des  Nonius  umdreht; 
woraus  sich  dann  weitere  Schlüsse  über  die  Zahl  und  metrische  Ord- 
nung der  Satiren  ergeben. 

Ich  glaube  nicht,  daß  sich  diese  Ansicht  wird  aufrecht  erhalten 
lassen.  Für  die  Umdrehung  der  Bücherreihe  gibt  es  freilich  bisher 
keine  rationelle  Erklärung  (vgl.  Lindsay  Non.  Marc'  diet,  of  republ. 
Latin  S.  101);  aber  diese  ist  auch  durch  die  Voraussetzungen  von 
Marx  nicht  erreicht.  Denn  die  umgekehrte  Bücherfolge  bedeutet  nicht 
umgekehrte  Excerptenfolge.  Das  würde  nur  der  Fall  sein  können, 
wenn  wir  einen  Pergamentband  anzunehmen  hätten,  der  die  Bücher 
XXVI— XXX  zusammen  enthielt;  dann  aber  wäre  zu  dem  von  Marx 
angenommenen  Verfahren  kein  Anlaß  gewesen,  und  seine  ganze 
Hypothese  gründet  sich  daher  auf  die  Voraussetzung,  daß  es  ein- 
zelne Rollen  waren.  Wenn  man  zugibt,  daß  diese,  da  sie  einmal  auf- 
gerollt waren,  beim  Zurückrollen  gleich  die  angezeichneten  Citate 
hergeben  mochten,  .ist  doch  garnicht  einzusehn,  warum  man  5  Rollen 
eine  nach  der  andern  aufrollen  und  dann  das  Zurückrollen  mit  der 
letzten  hätte  beginnen  sollen.  Diesen  Einwand  hat  sich  Marx  ohne 
Zweifel  selber  gemacht;  aber  die  Beweisführung,  mit  der  er  ihm  be- 
gegnet, ruht  auf  zwei  sehr  wenig  tragfähigen  Stützen.  Einmal  sind 
die  Horazcitate  in  Kap.  II  bis  IV,  wenn  man  sie  zusammennimmt,  in 
umgekehrter  Buchfolge  (sat.  II.  I  carm.  IV.  I),  zwei  von  ihnen,  aus 
sat.  I,  in  umgekehrter  Satirenfolge  (3,81;  2,89)  gegeben.  Aber  es 
sind  im  ganzen  5  Citate,  über  155  Noniusseiten  (vielmehr  über  die 
drei  Kapitel  von  mehr  als  350  Seiten)  verteilt;  sat.  13,81  ist  p.  134, 
sat.  12,89  ist  p.  196  citirt.  Daraus  ist  in  der  Tat  garnichts  zu 
folgern,  der  ganze  von  Marx  vorausgesetzte  Vorgang  ist  auf  5  Stellen, 
die  aus  9  bis  10  HorazroUen  herausgeholt  worden  wären,  die  auf  eine 
Compilation  von  557  Seiten  unsrer  Zählung  zu  verteilen  waren,  gar- 
nicht anzuwenden.  Noch  weniger  beweisen,  wie  Marx  selber  andeutet, 

69* 


B40  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

die  Excerpte  aus  Ciceros  Academica  posteriora  und  dem  15.  Buch 
der  Episteln,  da  in  jenen  die  Folge  wechselt,  in  diesen  die  Reihe 
nicht  gleichmäßig  abläuft.  Von  andrer  Art  sind  die  drei  Gitaten- 
gruppen  aus  Ciceros  Tusculanen,  die  Marx  in  einem  Nachtrage  II S.  VI 
anführt.  Sie  stehen  im  ersten  Teil  von  Kap.  IV,  ihnen  gegenüber 
eine  große  Zahl  von  Citaten  aus  demselben  Werk  in  diesem  und 
anderen  Kapiteln  des  Nonius.  Von  den  drei  Gruppen  scheidet  die 
zweite  (V  97.15)  aus,  da  man  doch  nicht  umhin  kann,  die  auf  p.  266 
überlieferten  Belege  für  contentus  unter  dies  Lemma  p.  264  zu  stellen. 
Auf  die  zweite  (1 42. 37)  komme  ich  gleich  zu  sprechen.  Die  erste 
(V  62. 57. 4)  bleibt  übrig;  das  zweite  dieser  drei  Citate  ist  vom  ersten 
fast  6,  das  dritte  vom  zweiten  über  10  Noniusseiten  entfernt;  die 
drei  zusammenzunehmen  ist  so  wenig  angezeigt  wie  bei  den  Horaz- 
citaten.  Nimmt  man  sie  aber  zusammen,  so  bilden  sie  gegen  die 
übrigen  Citate  aus  den  Tusculanen  (z.  B.  p.  66. 443)  eine  Ausnahme, 
die  nicht  geeignet  ist  einem  Princip  als  Grundlage  zu  dienen,  es 
auch  nicht  wäre  wenn  die  Ausnahmen  zahlreicher  wären.  Das  zweite 
Argument  betrifft  die  Luciliuscitate  selbst:  Nonius  citirt  p.  405 sq. 
Buch  XXIX.  XXIX.  XXVI  (diese  Zahl  falsch,  da  es  ein  Senar  ist; 
richtig  XXIX  oder  XXVIII)  XXVUI.  XXVII.  Die  beiden  ersten  dieser 
Citate  hat  Lachmann  und  nach  ihm  Marx  in  umgekehrter  Folge  zu- 
sammengefügt (830— 833  M.): 

et  amabat  omnes.  nam  ut  discrimen  non  facit 
neque  signat  linea  alba  (in  albo  marmore), 
sie  Socrates  in  amore  et  in  adulescentulis 
meliere  paulo  facie:  signabat  nihil 
quem  amaret. 

(über  den  Text  s.  u.).  Daß  die  Verse  in  dieser  Folge  zusammen- 
gehören, steht  außer  Zweifel;  wer  sie  in  der  Folge,  in  der  Nonius 
sie  bietet,  zu  interpretiren  versucht,  wird  sich  davon  überzeugen. 
Hier  liegt  also  eine  Umkehrung  der  Citate  innerhalb  umgekehrter 
Bücherfolge  vor.  Die  Sache  liegt  aber  so:  Nonius  führt  unter  dem 
Lemma  signare  an  v.  832  für  die  Bedeutung  designate ,  ostendere^ 
V.  830  für  die  Bedeutung  discernere,  separate.  Er  hat  sich  also  die 
Versgruppe,  in  der  das  Verbum  zweimal  vorkommt,  ausgeschrieben, 
hat  die  Bedeutungen  von  signare  nach  seiner  Gewohnheit  in  c  IV 
(z.  B.  grade  vorher  squalidum^  sicut  plerumque,  dicüur  sardidum^  dann 
fülgens;  sedet  significationem  habet  claram,  dann  placet;  susiuia  est 
susum  tülitj  er  exit,  dann  abstulit;  spargere  significat  destülare  vd 
guttoHm  fundere,  dann  madefacere  —  separate  —  inplere)  so  geordnet,  dafi 
die  ursprüngliche  Bedeutung  voransteht,  die  Variationen  folgen,  und 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  11  841 

hat  nun  selbstverständlich  den  Vers  mit  der  ursprünglichen  Bedeu- 
tung als  Beleg  vor  dem  mit  der  abgeleiteten  eingesetzt.  Dieser  Fall 
klärt  sich  also  vollkommen  aus  der  inneren  Anordnung  der  Artikel 
auf  und  beweist  durchaus  nichts  für  die  von  Marx  aufgestellte  These. 
Von  ähnlicher  Art  sind  die  beiden  Gitate  Cic.  Tusc.  1 42  und  37,  von 
denen  oben  die  Bede  war:  beide  sind  Belege  für  constat,  42  für  die 
erste  Bedeutung  (vcUet,  consistit),  37  für  die  dritte  (eredus  est):  da- 
her die  umgekehrte  Folge  der  ursprünglich  in  der  Folge  des  Textes 
excerpirten  Stellen. 

Es  scheint  mir  danach,  daß  die  These  mit  ihren  Gonsequenzen 
fallen  und  Lindsay  mit  seinem  in  drei  Besprechungen  des  Werkes 
und  im  Philol.  64, 461  ff.  erhobenen  Widerspruch  recht  behalten  wird. 

Ein  wertvolles  Supplement  zu  diesem  Abschnitt  über  Nonius 
bringt  der  2.  Band  S.  VIII ff.:  das  Verzeichniß  der  Gitate  aus  Luc. 
I— XXV,  die  in  einer  von  der  stehenden  Gitirweise  des  Nonius  ab- 
weichenden Art  eingeführt  werden.  Marx  weist  zu  jedem  einzelnen 
nach,  daß  das  Gitat  mit  der  Glossirung  aus  grammatischer  Arbeit 
stammt. 

Was  die  Ueberlieferung  des  Lucilius  durch  die  Noniushand- 
schriften  angeht,  so  hat  Marx  ganz  recht  mit  der  Hindeutung  (S.  GXIU), 
daß  eine  Luciliusausgabe  keine  Noniusausgabe  ist.  Er  beschränkt 
seinen  Apparat  auf  den  Leidensis  (L)  und  den  Guelferbytanus  (G). 
Das  ist  freilich  zu  wenig  oder  zu  viel,  denn  G  konnte  man  entbehren 
und  L  ist  nicht  immer  genug.  Im  allgemeinen  ist  wohl  eine  Ueber- 
lieferung wie  die  des  Nonius,  die  auf  einem  Archetypus  etwa  des 
8.  Jahrhunderts  beruht,  durch  die  beste  der  vorhandenen  Hand- 
schriften hinreichend  repr'äsentirt  und  es  kommt  nicht  viel  darauf 
an,  ob  die  Lesart,  um  die  die  Handschrift  gerühmt  wird,  wirklich 
nur  in  ihr  erscheint  (wie  v.  473  inquin)  oder  die  allgemeine  der  nicht 
interpolirten  Handschriften  ist  (wie  v.  480  versi  fictOy  680  inpura 
modum).  Aber  es  kommt  vor,  daß  die  adnotatio  LG  in  die  Irre 
führt,  wie  z.  B.  79. 80,  wo  L^  parum  statt  fartim  hat,  fartim  purum. 
(G)  aber  überhaupt  schlecht  bezeugt  und  die  Wahrscheinlichkeit  da- 
für ist,  daß  parum  verschriebenes  fartim  ist.  Nicht  zu  billigen  ist 
die  Mißachtung  der  Varianten  des  Florentinus.  Sie  bieten  p.  67  im 
Varrofragment  pareutactae  (Marx  II 123  *non  magni  faciendum');  v.  733 
das  erlesene  und  ganz  tadellose  miserlnum,  wo  miserrimum  proso- 
disch  bedenklich  und  der  Superlativ  schlecht  ist  (ardumy  miserrimum 
atque  infelix  lignum);  v.  1062  mensu  iabinOf  das  mit  mensülibano  der 
Handschriften  auf  das  längst  gefundene  mensula  vino  zurückgeht; 
Marx  erwähnt  die  Variante  nicht.    Für  die  bei  Gharisius  erhaltenen 


842  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

Fragmente  verwertet  er  sehr  sorgfältig  die  von  Dousa  mitgeteilten 
Lesarten  des  verlornen  Goloniensis. 

Die  Hauptsache  ist  die  Behandlung  der  Fragmente,  das  Schwer- 
gewicht des  Werkes  liegt  durchaus  im  Commentar.  Ich  will  ihn 
nicht  noch  einmal  rühmen  oder  auf  die  schlagenden  Emendationen 
und  einleuchtenden  Erklärungen  überall  besonders  hinweisen.  Den 
Leser  nehmen  besonders  die  Beconstructionen  des  Inhalts,  von  der 
aus  den  Studia  Luciliana  bekannten  Art,  gefangen  und  geben  ihm  in 
einziger  Weise  ein  die  Zerstückelung  der  Reste  überwindendes  Ge- 
fühl des  Zusammenhanges,  des  Ganzen.  Die  Götterverhandlung  in  I, 
der  Proceß  des  Albucius  und  Scaevola  in  II,  vor  allem  die  Reise  in 
III  und  so  fort:  es  sind  Meisterstücke  der  Interpretation  besonders 
durch  das  Aufspüren  und  Verknüpfen  der  zueinander  gehörigen  und 
ineinander  greifenden,  die  verlorene  Einheit  herstellenden  Momente. 
Was  ich  im  folgenden  bespreche  sind  nur  Einzelheiten;  meist  solche 
die  ich  anders  als  Marx  beurteile;  das  Ganze  wird  kaum  irgendwo 
dadurch  berührt. 

Gleich  in  v.  1 

aetheris  et  terrae  genitabile  quaerere  tempus 

genitabüe  zu  Substantiviren  und  quaerere  temptis  est  zu  verstehn  ist  eine 
Härte,  die  zu  motiviren  Prop.  1110,1  keineswegs  ausreicht  und  die  man 
nur  acceptiren  könnte,  wenn  die  natürliche  Verbindung  genitabüe 
tempus  (wie  genitabilis  aura,  genitalis  origo  bei  Lucrez)  Schwierigkeiten 
machte.  Die  Frage  nach  der  Zeit,  in  der  Himmel  und  Erde  (Diog. 
L.  VII 138  xöofjLoc  —  Sc  fTQOi  HooeiScoviog  —  ooonjfjia  IS  o^pavoö  xai 
Y*^?)  entstehen  können,  setzt  die  Y^veoig  voraus,  ist  also  stoisch  und 
bezog  sich  je  nach  dem  Zusammenhang  entweder  auf  das  periodische 
Vergehen  und  Werden  (Zeno  frg.  98  Arn.  xatd  ttvag  6l|i.ap|iivoD<;  xpo- 
voog  IxTcopoöodat  töv  oüjiTcavta  xöojiov,  eit'  audic  ÄoXtv  Staxoojteio^at) 
oder  auf  den  Frühling  als  Werdezeit:  Chrysipp  frg.  584,  II  p.  180 
Am.  (Philo)  tempus  autem  tnundi  conditi  —  vemum  tempus  est;  hoc 
enim  tempore  omnia  universim  florescunt  ac  germinantur. 

V.  33  ist  überliefert  (bei  lulius  Rufinianus  als  Beispiel  des  en- 
thymema):  si  me  nescire  hoc  nescis  quad  quaerere  dico,  quare  divinas 
quicquam  aut  quare  debes  ipse?  et  si  scis  q.  b.  e.  scire  hoc  d.  t.  Marx 
schreibt,  nach  Gesner,  an  tu  quaerere  debes  ipse?  Aber  der  Gegensatz 
zu  si  nescis  ist  doch  durch  et  si  scis  gegeben,  das  am  Versanfang 
seine  beste  Stelle  hat;  und  da  aut  quare  vollkommen  gut  anschlieüt, 
darf  man  dem  Schein  der  Conjectur  nicht  folgen.  Die  Comiptel  liegt 
nur  in  dd)e$,  emendiren  kann  ich  sie  nicht;  die  Anfangsbuchstaben 
im  dritten  Verse  lassen  nur  ein  Raten  zu: 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  II  843 

si  me  nescire  hoc  nescis  quod  quaerere  dico, 

quare  divinas  quicquam  aut  quare  sapis  ipse? 

et  si  scis,  quare  bonus  es?  scire  hoc  dabis?  tempta. 

bantis^  wie  die  Götter  sein  müssen  (Apollo,  der  dem  Redner  nicht 
aus  der  Verlegenheit  hilft);  hoc,  die  eben  gestellte  Doppelfrage.  Zu 
vergleichen  Lukian  lup.  tr.  26  ff. 

V.  36  schreibt  Marx  nodum  in  scirpo  insane  quaerere  vtUtis,  über- 
liefert ist  nodum  in  scirpo  insano  facere  ulcus;  das  ist  Buchstabe  für 
Buchstabe  richtig: 

nodum  in  scirpo,  in  sano  facere  ulcus. 

Vorher  ging  etwa  hoc  quid  erit?  Es  ist,  in  deutlicher  ümbiegung 
des  bekannten  Sprichworts,  gesagt  von  dem,  der  an  der  Binse  einen 
Knoten  macht,  weil  er  keinen  findet;  so  am  gesunden  Körper  eine 
Wunde.  Cicero  pro  Sest.  135  non  ea  est  medicinal  cum  sanae  parti 
corporis  scalpellum  adhibetur  atque  integrae:  carnificina  est  isla  et 
crudelitas.  Der  Versschluß  wie  v.  426  neque  mu  facere  umquam  (nicht 
inquam).  Uebrigens  ist  das  Fragment  in  Wessners  Donatausgabe 
(Andr.  941)  richtig  gedruckt. 

Bei  Donat  ist  auch  v.  56  überliefert:  zu  Phorm.  123  {qui  ilium 
di  omnes  perduint):  ^qui*  utinam  est,  ut  Lucilius  in  secundo:  ^qui  te 
montane  malum  ad  cetera  pergiV.  aut  per(tinet  ad)  ^hoc  consilium  quod 
dicam  dedif^).  Marx  hat  mit  Recht  montane  (nicht  Nomentane)  bei- 
behalten; er  versteht  es  als  rauh  und  bäurisch,  vgl.  Friedländer  zu 
luv.  2,74.  Auch  mit  der  Auffassung  des  Ganzen,  daß  der  Redner 
nach  einer  Verwünschung  des  Gegners  ad  cetera  pergit,  hat  Marx 
ohne  Zweifel  recht.  Nur  die  Form,  die  er  dem  Satze  gibt,  kann 
nicht  richtig  sein:  qui  (di)  te,  montane,  malum  —  {atque)  ad  cetera 
pergit.  Erstens  darf  qui  te  nicht  getrennt  werden  (PI.  Trin.  997  be- 
weist nichts) ;  wollte  man  qui  te  di  (wie  v.  240  qui  te  bonus  luppiter) 
einsetzen,  so  würde  malum  nach  Marxens  Auffassung  nicht  mehr  leicht 
mit  te  zu  verbinden  sein.  Aber  diese  ganze  Construction  von  malum 
ist  nicht  statthaft ;  es  folgt  auf  das  Fragewort  oder  auf  das  Personal- 
pronomen (Lorenz  zu  Pseud.  236,  zu  Most.  p.  203).  Also  läßt  sich 
malum  nur  als  Subject  verstehn: 

-  qui  te,  montane,  malum  —  (tum)  ad  cetera  pergit, 

wobei  ein  Verbum  wie  perdat  zu  verstehen  ist.  Man  muß  sich  wohl 
damit  begnügen;  aber  zu  wünschen  wäre,  daß  qui  te  den  Vers  an- 

1)  Ich  habe  den  SchluE  des  Scholions  miitausgeschrieben,  weü  erst  dadurch 
die  Grenze  des  Fragments  bestimmt  ist.  Der  Sinn  ergibt  sich  aus  dem  nächsten 
Scholion  und  aus  dem  später  folgenden  secundum  quosdam  ordo  est  *qui  Aoc  cofi- 
silium  quod  dicam  dedit\   Wessner  hat  die  SteUe  gewaltsam  behandelt. 


844  Oött  gel  Abk.  1906.  Nr.  11 

finge,  der  Ausdruck  gebräuchlicher  und  montane  durch  ihn  motivirt 
wäre.  So  bin  ich  auf  folgende  Fassung  gekommen: 

qui  te  (mens,)  montane,  mali  —  tum  ad  cetera  pergit. 

Fl.  Epid.  84  in  te  innu>nt  monies  mäli,  Most.  352  malt,  maeroris 
montem  (Mere.  163  ffiensaurum  malt).  Zu  verstehen  obruat. 

V.  66  fällt  es  schwer  an  impuno  zu  glauben,  zumal  in  den  Frag- 
menten noch  zweimal  impune  vorkommt;  auch  macht  die  von  Marx 
eingeführte  Frageform  den  Ausdruck  gezwungen.  Bei  impuno{e)  est  ist 
doch  auf  keine  Weise  zu  bleiben,  die  Umstellung  heilt  den  Vers: 
homo  impuratus  et  est  impune  rapister.  —  Zu  v.  67 :  quae  harts  stMaia 
duabus  omnia  sunt  sole  occaso  ductu  Qtuius  man%^)que. 

Scaligers  Nomentanus  hat  Marx  mit  Recht  auch  aus  v.  69  ent- 
fernt; namen  ist  hier  so  passend  wie  dort  montane.  Aber  der  Vers- 
anfang den  er  gebildet  hat:  nunc  (in)  nomen  iam  ist  schwerUch 
statthaft.  Cäsur  in  einsilbigem  Wort  nach  spondeischem  Wort  kommt 
sonst  in  den  Fragmenten  nicht  vor  (nach  daktylischem  oft),  449 
acribus  inter  se  ist  anders;  in  vierter  Hebung  1067  quis  totum  sets 
corpus  iam  perolesse  bisulcis  (wo  Lachmann  mit  Recht  corpus  scis  ge- 
stellt hat)  will  Marx  durch  den  Vers  Lucr.  II 907  sed  tarnen  esto  iam 
stützen,  der  auch  nunc  in  nomen  iam  zu  sichern  nicht  ausreicht. 
Doch  würde  man  das  hinnehmen,  wenn  es  überliefert  wäre;  nicht 
gegen  den  überlieferten  Anfang  nunc  nomen.  Diesem  nunc  ist  das 
folgende  iam  entgegengesetzt: 

nunc  nomen,  iam  (iam)  quae  ex  testibus  ipse  rogando 
exculpo,  haec  dicam. 

nämlich  nunc  nomen  (dico),  d.  h.  den  von  ihm  in  die  Abrechnung 
eingetragenen  Posten,  gleich  werde  ich  euch  durch  die  Zeugen 
darüber  aufklären. 

V.  82  interpungirt  Marx:  non  dico:  ^vincat  licä,  et  vagus  exulet, 
err  et  exlex'  und  erklärt  sehr  künstlich;  et  sei  adversativ;  wenn  d 
adversative  Begriffe  verbindet,  so  verbindet  es  doch  nur  und  kann 
nicht  selbst  ein  so  starkes  adversatives  Element  hinzugeben  wie  es 
hier  der  Fall  sein  müßte.  Draeger,  auf  den  Marx  verweist,  hat 
nichts  dergleichen  und  überhaupt  meist  Unzutreffendes.  Das  un- 
brauchbare einfache  et  führt  auf  den  richtigen  Ausdruck: 

non  dico  'vincat  licet':  et  vagus  exul  et  erret 
exlex. 

exlex  steigert  das  asyndetisch  (wie  292  solem  auram,  293  tristes 
difßcüeSt  296  graciia  pemix)  zusammengenommene  vagus  exul.  Beide 
Adjectiva  Accius  415,   Cicero  pro  Cluent.  175  (cum  vagus  et  exd 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  II  845 

erraret,  vgl.  Ovid  Ib.  113  exuJ  inops  err  es),  erret  iicö  xoivoo.  'Ich 
sage  nicht  'mag  er  den  Proceß  gewinnen' :  im  Elend  soll  er  schweifen 
und  vogelfrei\ 

Zu  den  Stellen  für  inimicus  —  Jiostis  (v.  94)  möchte  ich  (zu 
II S.  44)  hinzufügen  Cicero  ad  Att.  11 19, 3  inimici  erant  equitibus  — 
hostes  Omnibus;  und  zu  andern  Stellen  einiges  was  nicht  ganz  über- 
flüssig sein  mag.  Zu  v.  210  (IIS.  86):  Cicero  ad  Att.  118,3  consul 
—  quem  nemo  —  aspicere  sine  suspiritu  possit;  v.  356  (II 133)  vero: 
Cicero  de  rep.  158;  v.  442  (II 165):  PL  Men.  101;  v.  540  (II  203) 
Cic.  de  nat.  deor.  179,  Hör.  sat.  16,67,  Sen.  contr.  112,12;  v.  881 
(11298)  fehlen  die  Plautusstellen :  Bacch.  1101,  Most.  1109;  884  sq. 
(II  299):  PI.  Irin.  n4;  v.  1020  (n327):  PI.  Men.  115;  v.  1268 
(II401):  Arist.  £q.  94.  Anderes  gelegentlich.  Ausdrücklich  bemerke 
ich,  daß  Marx  nur  gewählte  und  charakteristische  Stellen  zur  Er- 
läuterung anzuführen  pflegt. 

Die  Behandlung  von  v.  185—188  in  dem  großen  Brie£fragment 
des  5.  Buches  erregt  Bedenken.  Marx  nimmt  Anstoß  an  der  Bildung 
oo(i.(i.6ipaxio)86(;  {symmiradodes  die  maßgebenden  Handschriften  des 
Gellius;  Marx  schreibt  die  griechischen  Fremdwörter  mit  lateinischen 
Lettern:  mitBecht,  vgl.  II  S.  10,79.114.203).  Das  Compositum  hat 
in  der  Tat  keine  ratio,  aber  die  Verbindung  lerodesque  simül  totum  ac 
symmiradodes  zeigt,  daß  der  Dichter  den  Begriff  des  Vollständigen 
recht  kräftig  pressen  und  herausdrücken  wollte;  er  hat  darum  das 
Wort  gebildet  nach  der  Analogie  einerseits  von  o6|i.9cX6a)g  ot)|i.9cXi^pT)g, 
andrerseits  von  lateinischen  Adjectiven  der  Umgangssprache  wie  con- 
dignus  condensus  consucidus  combardus,  deren  con  lediglich  steigert. 
Daß  im  Parisinus  s.  XIII  si  mircUiodes  steht,  hat  garnichts  zu  sagen. 
Der  durch  si  miraciodes  entstehende  Gedanke  verlangt  si  (videtur)^ 
nicht  das  allein  von  selbst  entstehende  si  (est) ;  dagegen  in  der  Ver- 
bindung delectat  quod  gibt  quod  (est)  den  richtigen  Gedanken.  Man 
darf  also  nicht  quod  atechnon  absondern,  wie  Marx  es  tut: 

hoc  nolueris  et  debueris  te 
si  minus  delectat  (quod  atechnon)  et  Eissocratium  hoc 
lerodesque  simul  totum  ac  si  miraciodes, 
non  operam  perdo,  si  tu  hie. 

Vielmehr  muß  man  fragen,  was  die  auffallende  Verbindung  atechnon 
et  Isocratium  zu  bedeuten  hat,  die  Scaliger  und  alle  Herausgeber, 
selbst  Lachmann,  verführt  hat  texviov  Isocratium  zu  schreiben;  damit 
hat  erst  Marx  aufgeräumt.  Da  nun  'looxpdxetov  und  t&x^iq  kein  Gegen- 
satz ist,  kann  itexvov  hier  nicht  die  allgemeine  Bedeutung  'sine 
arte'  haben  ('casu  non  arte  effectum'  Marx),  sondern  die  sich  von 


846  G5tt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

selbst  specialisirende  'praeter  artem\  d.  h.  gegen  einen  bestimmten 
Teil  der  td^viQ  verstoßend,  ixe/voc  heißt  'kunstlos'  und  'kunstwidrig' 
wie  Svo|i.oc  'gesetzlos'  und  'gesetzwidrig',  atechnon  et  Isoeraiium,  ver- 
stoßend gegen  den  Teil  der  t^viq,  der  die  gorgianisch-isokrateische 
Figur  ausschließt,  d.  h.  gegen  die  Lehre  vom  loxvöv,  speciell  und 
durch  den  Fall  gegeben  gegen  die  peripatetische  Brieftheorie,  wie 
sie  bei  Demetrios  n.  Ip(i..  223  fi.  vorliegt.  Artemon,  der  die  Lehre 
bei  Demetrios  vertritt,  kann  man  mit  einiger  Sicherheit  in  die  Gene- 
ration nach  Aristarch  setzen,  also  in  die  Zeit  des  Lucilius.  Daß  die 
Rhetorik  an  Herennius  und  Cicero  de  inventione  die  Lehre  nicht  er- 
wähnen, hat  nichts  zu  bedeuten,  da  Cicero  sie  kennt  (ep.  1X21,1 
epistulas  cotidianis  verbis  texere  solemus,  Demetr.  231  Sv  Ävöjjiaoiv 
^TcXoiCt  228  al  —  xata  t^jv  IpitTjvetav  b^YAüSioTzpaa  oh  |i.a  rJjv  iXi^dstov 
IfftotoXal  Y^votvt'  $v  etc.).  Vgl.  Radermacher  Dem.  S.  109,  Peter  der 
Brief  in  der  röm.  Litt.  21  ff.  Brief  ist  Gespräch:  mintis  tibi  accuratas 
a  me  epistulas  mitti  quereris ;  quis  enim  accurate  loquitur  nisi  qui  vult 
putide  loqui?  beginnt  Seneca  ep.  75;  6  y^P  c>otc0<;  SiaXe^öftevoc  ki- 
S6ixvoiLdv(|>  lotxe  iidXXov,  o&  XaXoövtt  Dem.  225,  i^  fip  Totaonj  «doa 
ip|i.Y)V6Ca  xal  (jL((i.ir]oig  (hier  handelt  sichs  um  die  X&oic:  §  193)  oico- 
xpiT^  icp^et  (idXXov,  oh  7pafO|i.^vaic  ImoxoXatc  226.  Gorgianische 
Figuren  im  Brief  anzuwenden  ist  für  diese  Theorie  schlimmste  Ge- 
spreiztheit; der  gebildete  Leser  nimmt,  sobald  er  das  nolueris  cum 
debueris  gehört  hat,  Anstoß  an  der  Stilwidrigkeit.  Isokrates  dagegen 
schreibt  seine  Briefe  in  genau  demselben  Stil  wie  die  Reden  (Wila- 
mowitz  Arist.  u.  Ath.  II 392).  In  dem  atechnon  et  Isocralium  ist  ein 
Ton  des  alten  Gegensatzes  zwischen  Peripatetikern  und  Isokrateem. 
So  schreibt  also  Lucilius: 

ut  periisse  velis  quem  visere  nolueris  cum 

debueris.   hoc  *nolueris'  et  'debueris'  te 

si  minus  delectat,  quod  atechnon  et  Isocratium  hoc 

lerodesque  simul  totum  ac  symmiraciodes : 

non  operam  perdo,  si  tu  hie. 

'Wenn  dir  der  Gleichlaut  nicht  recht  behagt,  weil  er  regelwidrig  und 
Isokrateisch  und  zugleich  läppisch  ganz  und  gar  und  gründlich  schul- 
jungenhaft ist :  ich  verschwende  meine  Mühe  nicht,  wenn  du  bist  wie 
du  bist'.  Er  leugnet  den  Verstoß  nicht,  kündigt  aber  gewissermaßen 
an,  daß  er  sich  in  diesem  Brief  überhaupt  nicht  um  den  Stil  kümmern 
werde;  dissimulator  opis  propriae. 

V.  193  bezieht  Marx  auf  die  lex  Fannia  oder  auch  Licinia  de 
sumptu,  wie  er  denn  mit  großem  Erfolge  alles,  was  sich  in  den 
Fragmenten  auf  überlieferte  Zeitereignisse  beziehen  läßt,  ins  Licht 


Lncilius  ed.  Marx  vol.  I.  II  847 

stellt.  Aber  weder  dieses  noch  die  folgenden  Fragmente  enthalten 
eine  Andeutung,  daß  von  gesetzlich  eingeschränktem  Luxus  die  Rede 
war.  Vielmehr  gibt  Charisius,  der  v.  193  citirt,  den  Zusammenhang 
an:  deridens  rusticam  cetiam  enumercUis  muUis  herbis  bringe  Lucilius 
den  Vers.  Das  bedeutet  viel  eher  ein  ländliches  Mahl  in  einem 
Bauernhause,  zu  dem  sich  Lucilius  irgendwo  unterwegs  hat  bequemen 
müssen,  als  eine  schlechte  Bewirtung  in  der  Stadt,  o  rus  —  quando 
faba  Pythagorae  cognata  simulque  unda  satis  pingui  ponentur  holus- 
ctda  lardo?  sagt  Horaz  mit  anderm  Ethos  (sat.  II 6, 60).  Das  ein- 
fache Mahl  in  der  Stadt  hat  auch  Lucilius  in  andern  Tönen  be- 
schrieben: nugari  cum  illo  et  discindi  ludere  donec  decoquerdur  Jiolus 
soliti  (111,73).  Es  wird  durch  diese  Verschiedenheit  der  Situation 
von  der  des  Briefes  überhaupt  schwierig,  die  Fragmente  des  5.  Buches 
einem  Gedichte  zuzuweisen  {^cenam  modestam  aegroto  poetae  apposuit 
familiaris  quidam  legis  siimptuariae  observans*  Marx).  —  Die  Notiz 
über  assidue  bei  Terenz  II  S.  83  trifft  nicht  zu,  vgl.  Ihm  Thes. 
1.  1.  II 887;  und  wie  kann  man  an  der  terenzischen  Form  zweifeln, 
weil  der  Victorianus  einmal  dssiduo  hat? 

V.  241  ist  die  Ergänzung  improbe  neben  dominum  nicht  recht 
verständlich;  vielleicht  dominum  (male)  fortem.  Warum  v.  259  nobili- 
tate  facul  propellere  iniquos  der  einfache  Ablativ  nicht  zu  verstehen 
sei,  leuchtet  nicht  ein;  wenn  es  aber  Genetiv  sein  soll,  so  ist  er 
überliefert  und  bedarf  es  nicht  der  ungrammatischen  Schreibung 
nobilitatij  so  wenig  wie  v.  491  der  Aenderung  von  aäate  in  aetati. 
Die  bekannten  Beispiele  sind  sehr  stark  zu  vermehren;  tellure  in  der 
Inschrift  CLE  1829,9  hat  Bücheier  als  Genetiv  erkannt. 

V.  264  führt  Nonius  für  desquamor  an :  rador  subvellor  desquamor 
pumicor  ornor  expilor  pingor.  Mit  expüor  nach  subvellor  müßte  man 
sich  auseinandersetzen,  wenn  expilor  pingor  den  Vers  beginnen  könnte; 
da  aber  die  Corruptel  sicher  ist,  muß  ohne  Frage  expüor  expingor 
oder  exque  pilor  pingor  hinter  Tousas  expolior  pingor  zurückstehn. 
rador  bis  pumicor  die  Toilette  beim  Bade,  ornor  bis  pingor  beim  An- 
kleiden; wie  PL  Poen.  220  lavari  aut  fricari  aut  tergeri  aut  omari 
poliri  expoliri  pingi  fingi  die  erste  Gruppe  lavari  bis  tergeri,  die 
zweite  omari  bis  fingi.  So  das  Mädchen  bei  Terenz  Heaut.  288 
ornata  ita  uti  quae  ornantur  sibi,  nulla  mala  re  esse  (n.  arte  malas 
Fleckeisen)  expolita  midiebri.  In  der  Mostellaria  tritt  Philematium 
nach  dem  Bade  auf  (157),  läßt  die  Dienerin  das  eben  angelegte  Kleid 
prüfen  (166),  dann  den  Spiegel  et  cum  ornamentis  arculam  geben, 
ornata  ut  sim,  quom  hue  adveniat  Philolaches  (248,  vgl.  282  aurum), 
vollendet  die  Frisur  (254)  und  geht  dann  ans  Schminken  (258). 

V.  287  behält  Marx  nicht  nur  iratae  ad  bei,  was  durch  v.  25  zu 


848  GöH.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

begründen  wäre,  wenn  der  Vers  vollständig  wäre;  er  ergänzt  anch 
(fltque  leae)  iratae  ad  cattdos  accedere  tnuföum,  wie  er  anch  v.  1029 
speciem  vitae  esse  ptUamus  umstellt.  So  viel  liegt  ihm  an  den  Unter- 
suchungen andrer  Leute.  Was  die  Ergänzung  anlangt,  so  bedeutet 
zwar  der  Einwand  gegen  tigris  nichts,  da  ein  solches  Bild  nicht  auf 
die  persönliche  Erfahrung  des  Lesers  Bezug  nimmt  und  die  Römer 
wohl  auch  nach  dem.  4.  Mai  des  Jahres  743  nicht  häufig  versucht 
haben  werden,  einer  Tigerin  ihre  Jungen  zu  rauben,  aber  Marx  hat 
recht  daß  an  die  Löwin  zu  denken  näher  liegt ;  und  ein  vollkommen 
guter  Vers  ist  iratae  {leae)  ad  cattdos  accedere  inuUum.  Diese  Ver- 
wendung des  jambischen  Worts  steht  mit  der  übrigen  Technik  des 
Hexameters  bei  Lucilius  im  Einklang.   S.  unten  zu  1072. 

V.  294  muginamur  molimur  subdudmur  erklärt  Marx  kaum 
richtig  ^dum  muginamur  et  cessamuSy  dum  nova  molimur  praesen- 
tium  contemptores  bonorum,  vitalibus  auris  subducimur\  Vielmehr 
'wir  wollen  nicht  daran,  wir  machen  uns  zu  schaffen,  wir  drücken 
uns\  subdudmur  oicoxc0poö(jL6V,  Ter.  Eun.  628  se  ülinc  subducet  scio, 
795  cum  eo  te  dam  subduocti  mihi, 

V.  314  ergänzt  Marx  velle  tolutim  hie  semper  (agt)  inc^turus 
videtur.  Er  stellt  unbedenklich  ein  jambisches  Wort  in  Synalöphe  vor 
ein  mehrsilbiges,  ebenso  durch  Ergänzung  v.  478  und  1299  (wie  287). 
Ueberliefert  ist  es,  soviel  ich  sehe,  nur  vor  atque  v.  544  (315.  570). 
In  V.  314  aber  wird  durch  die  Conjectur  der  sehr  fragliche  Gebrauch 
des  Participium  in  -urus  hergestellt,  fraglich  überhaupt  und  auch 
durch  die  üeberlieferung  hier  wie  v.  567  und  662  (s.  u.).  Ueber  die 
drei  Stellen  hat  kürzlich  Sjögren  Zum  Gebrauch  des  Futurums  im 
Altlateinischen  S.  226  gehandelt  und  mit  Recht  wieder  (e^  incepturus 
videtur  empfohlen :  'er  scheint  immer  zu  wollen  und  im  Begriff  zu 
sein'.   Vorher  ging  vielleicht  ire  gradatim, 

V.  344  schreibt  Marx :  (et)  laterem  qui  dudt^  habet  nihü  ampHus, 
natum  quam  commune  lutum  a  palds  cenoque  aceratum.  Die  Hand- 
schriften (Nonius)  haben  nam  statt  natum,  das  neben  commune  nicht 
erforderlich  scheint.  Die  letzten  Worte  sind  mir  nicht  recht  verständ- 
lich (Marx  sagt  nichts  zur  Erklärung) ;  überliefert  ist  a  paleis  cenum- 
que  aceroso  (das  letzte  Wort  aus  dem  Lemma  emendirt);  lutum  ac 
paleas  caenumque  aceratum  (Francken)  gibt  den  richtigen  Ausdruck. 
Das  Ganze  hat  Marx  durch  die  Zusammenstellung  mit  322  (vom 
frumentarius)  aufgeklärt:  der  Gutsherr  spricht,  dem  Ziegelstreicher 
hat  er  nichts  zu  liefern  als  Lehm  und  Häcksel: 

(et)  lateres  qui  ducit  habet  nihil  amplius  a  me 
quam  commune  lutum  ac  paleas  caenumque  aceratum. 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  II  849 

Für  habet  a  me  Beispiele  bei  Lommatzsch  Thes.  1. 1. 1 18, 12  sq.  Die 
Handschriften  haben  kUere;  man  schreibt  later em,  ohne  Not;  freilich 
wendet  Vitruv,  der  sonst  lateres  ducere  sagt  (113),  das  Wort  auch 
einmal  coUectiv  an :  §  2  Vticenses  latere  si  sit  aridas  et  ante  quin- 
quennium  duäus  —  tduntur. 

V.  328  wird  doch  wohl  in  cerno  das  Subject  stecken,  ein  Name 
von  der  Form  Cicero^  Capita.  Danach  ist  fluvium  schwerlich  Genetiv, 
sondern  zuerst  allgemein  ostrea  fluvium  sapere^  dann  speciell  limum 
ac  caenum  ipsum.  —  V.  332  hat  der  Leidensis  ramite,  und  das  ist 
die  richtige  Form,  s.  zu  PI.  Mere.  138. 

V.  334  hat  man  bisher  in  nimmi  opus  atque  obsit  statt  obsit  mit 
Lipsius  geschrieben  assis;  Marx  atque  subit,  gewiß  besser,  ja  assis 
nach  nummi  ist  augenscheinlich  falsch.  Aber  mir  scheint  die  Ueber- 
lieferung  das  Ursprüngliche  fast  rein  erhalten  zu  haben: 

si  nihil  ad  faciem  et  si  olim  lupa  prostibulumque, 
nummi  opus  atque  obsi. 

Wo  Plautus  und  Terenz  obsonium  sagen,  sagt  Lucilius  obsum,  2!<{)ov 
(im  Sprichwort  mantisa  obsonia  vincit  1208);  das  ist  ganz  in  seiner 
Art.  Antiphanes  ine.  28  M.  lottv  ^o)f  xpirjotöv,  iTcaYcoY^^  ndvo.  Solche 
Hetären  gibt  es  in  der  Komödie  freilich  nicht;  aber  in  größerem 
Maßstabe  schickt  Diniarchus  (True.  580)  dona  quae  vides  illos  ferre 
et  has  quinque  argenti  minas:  die  dona  sind  obsonium  (561.  609). 

V.  385  ist  (bei  Nonius  262)  nach  einem  Citat  aus  Paeuvius  nur 
durch  idem  lib.  eingeführt,  idem  lib.  X  hat  nur  G  und  die  Correc- 
turen  der  nicht  interpolirten  Handschriften.  Das  Zeugniß  für  das  10. 
Buch  ist  also  unzuverlässig,  darum  aber  aus  dem  Verse  einen  Vers 
des  Paeuvius  zu  machen  (Lindsay  im  Nonius,  vgl.  Class.  Rev.  1906, 
63)  geht  nicht  an,  einmal  weil  improbus  confidens  nequam  malus 
videatur  keine  tragische  Diction,  zum  andern  weil  es  kein  seenisches 
Metrum  ist.  Sowohl  die  Beziehung  auf  Lucilius  wie  die  Herstellung 
(ui)  videatur  wie  die  Folgerung,  daß  ein  Luciliuscitat  vorher  ausge- 
fallen, wird  richtig  sein. 

V.  386  (Nonius  sumere  significat  eligere)  hat  bei  Marx  folgende 
Fassung : 

herum  est  indicium,  crisis  ut  discribimus  ante, 
hoc  est,  quid  sumam,  quid  non,  in  quoque  locemus 

was  er,  in  der  Hauptsache  mit  Bücheier  Rh.  Mus.  39, 288  überein- 
stimmend, fortsetzt  unumquidque  loco;  dies  gewiü  richtig,  sei  es  von 
den  Worten  (Bücheier)  oder  mit  Marx  von  den  Sachen  zu  verstehn. 
Ueberliefert  ist  honorum  est  iudicium  crassis  ut  discribimus  ante. 
Dousa  hat  descripsimus  geschrieben,   wobei  Bücheier  geblieben  ist; 


850  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

phrasis  Bücbeler,  dafür  crisis  Marx,  honorum  est  iudicium  Orassis 
mit  seinem  scheinbaren  Sinn  ist  in  der  Tat  sinnlos  und  das  Nächste 
zeigt,  daß  von  ganz  anderem  die  Rede  war.  bonorum  und  homm  ist 
gleichermaßen  probabel.  Aber  'discribimt^  eodem  modo  quo  nos  did- 
mus  'ut  Lucilius  ante  scribit'  potuit  opinor  dicere  poeta'  ist  eine 
kühne  Behauptung.  Marx  meint  wohl  describimtiSj  aber  abgesehn 
vom  Tempus  paßt  auch  das  Verbum  gamicht  in  den  Satz,  crisis 
soll  Lucilius  'tamquam  interpretamentum  necessarium'  auf  iudicium 
haben  folgen  lassen.  Brauchte  denn  iudicium  eine  Uebersetzung  ins 
Griechische?  'Grasses  exturbat  metrum'  sagt  Marx;  sobald  aber  fest 
steht,  daß  discribimus  corrupt  ist,  kann  davon  keine  Rede  mehr  sein; 
denn  warum  sollte  der  Vers  nicht  mit  iudicium  beginnen?  Lucilius 
spricht  von  iudicium  mit  Bezug  auf  litterarische  Arbeit;  Leuten, 
denen  dies  iudicium  zukommt  (horum,  nämlich  subtiliorum  hominum, 
von  denen  eben  die  Rede  war)  stellt  er  crassi  gegenüber;  die  crassi 
sind  also  was  bei  Martial  1X22,2  vulgus  crassaque  turba;  zum  Dativ 
crassis  gehört  nicht  discribimus  sondern  scrihimus.  Flinius  schreibt 
an  Vespasian  (praef.  6):  quid  ista  Ugis,  imperatar?  humüi  vulgo 
scripta  sunt,  agricolarum  opificum  turbae,  denique  studiorum  otiasis.  quid 
te  iudicem  facis?  Gleich  darauf  citirt  er  die  bekannte  Stelle  aus 
Lucilius  XXVI  (592  ff.),  wo  Lucilius  gesagt  hat  (Gic.  de  fin.  1 7),  daß 
er  des  Persius,  Scipio,  Rutilius  iudicium  reformidans  TarenHnis  se 
et  Consentinis  et  Siculis  scribere.  Ob  er  sich  mit  ante  so  viele  Jahre 
später  auf  diese  Aeußerungen  bezieht,  steht  dahin;  wenn  nicht,  so 
hat  er  im  Anfang  des  10.  Buchs  oder  dieser  Satire  des  10.  Buchs, 
in  der  er  selber  die  Dichter  seiner  Zeit  kritisirte,  bei  passender  Ge- 
legenheit ähnliche  Aeußerungen  getan.  Horaz,  wo  er  Lucilius  kriti- 
sirt  (1 10)  und  an  dessen  Dichterkritik  erinnert  (53)  und  zugibt  daß 
Lucilius  mehr  gekonnt  habe  als  die  andern  Alten  (65),  erhebt  mit 
guter  Absicht,  ehe  er  die  Repräsentanten  des  vulgus  abweist  und  in 
die  Anrufung  der  erlesenen  iudices  einmündet,  die  entgegengesetzte 
Forderung  (73):  neque  te  ut  miretur  turba  labores,  contentus  pauds 
lectoribus.  Es  bleibt  also  crassis  scribimus  und  zu  ui  ante  fehlt  das 
Verbum: 

herum  est 

iudicium;  crassis,  ut  dixi,  scribimus,  ante. 

hoc  est,  quid  sumam,  quid  non,  in  quoque  locemus 

(singula  verba  loco). 
Für  die  kühne  Wortverschränkung  hat  Marx  I  S.  161  f.  (im  Lidex) 
Beispiele  gegeben  und  II  S.  22.  287.  391  (zu  v.  44.  825.  1229)  be- 
sondere Fälle  besprochen.  Das  eligere  und  locare  in  derselben  Reihen- 
folge Horaz  A.  P.  42  sq. :  hoc  amet  hoc  spernat^  dann  caUida  iunäura. 


Lucilius  ed.  Marx  vol.  I.  II  851 

V.  388  ist  ne  (ilium  ego)  schwerlich  richtig,  ne  (ego)  muß  bei- 
sammenstehn.  —  Wie  firmiter  essent  (390)  mit  a  construirt  werden 
kann,  sehe  ich  nicht;  gewiß  reicht  das  anzunehmen  die  Analogie  von 
tutus  nicht  aus.  Hier  scheint  ac  für  a  so  notwendig  wie  v.  325  (fludi- 
bus  ac  vmtis  quae  adver  sis  firmiter  essent  Bücheier).  —  V.  391  lan- 
guor ohrepsitque  pigror  torporque  quietis  gehört  languor  nicht  zu  einem 
andern  Verbum  ('homines  invasit  inertes  languor  ohrepsitque  pigror' 
Marx),  sondern  das  eine  umfaßt  die  drei  nomina  (Anal.  PL  1 8  f.).  — 
V.  447  cut  parilem  fortuna  locum  fatumque  tulit  fors  ist  es  schwerlich 
statthaft,  fatum  als  Genetiv  zu  fassen ;  deutlich  der  Gegensatz  fortuna 
locumj  fors  faium.  Zeugmatisch  ist  nicht  nur  parilem^  sondern  auch 
tulit,  —  V.  461  düectum  video  studiose  vulgus  habere  vielleicht  vom 
Volk,  das  sich  seine  Lieblinge  auswählt.  PL  Pseud.  391  tibi  nunc 
düectum  para  ex  multis. 

Das  Fragment  v.  474. 5 

idne  aegre  est  magis,  an  quod  pane  et  viscere  privo? 
*quod  viscus  dederas  tuquidem,  hoc  est:  viscera  largi' 

ist  durch  Bücheier  und  Marx  vollständig  aufgeklärt.  Aber  sollte 
privo  nicht,  wie  v.  49  (abdomina  tunni  advenientibus  priva  dabo)  oder 
Hör.  sat.  H  5, 11,  das  Adjectiv  sein?  *Seid  ihr  ungehalten  mehr  (daß 
ich  euch  so  selten  ein  Mahl  ausrichte)  oder  daß  ich  es  tue  mit 
einem  Brod  und  dem  zugehörigen  Fleisch  für  jeden?'  So  erklärt 
sich  der  Nominativ  viscere,  der  durch  pane  privo  motivirt  ist;  und 
so  die  Pointe  der  Antwort:  'nicht  viscus  möchten  wir,  sondern 
viscera\  Mit  dem  Verbum  privo  ist  viscus  dederas  nicht  verständlich. 
In  V.  504.5 

cum  tecum  est,  quid  vis  satis  est;  visuri  alieni 
sint  homines,  spiram  palias  redimicula  promit 

enthält  sint  einen  hypothetischen  Vordersatz  und  verlangt,  da  ein 
einzelner  Fall  vorgestellt  wird  (anders  z.  B.  Ov.  met.  VUI187  omnia 
possideatj  non  possidet  aera  Minos),  im  Nachsatz  promet.  Beispiele 
der  Construction  aus  Dichtern  Sen.  trag.  I  224  (fehlt  u.  a.  Prop. 
IV  5, 9  ilia  velit,  poterit  magnes  non  ducere  ferrum) ;  Cicero  de  har. 
resp.  55  (anderes  Kühner  II 761,  Reisig  Haase  Landgraf  Lat.  Synt 
389).  Die  älteste  mir  bekannte  Stelle  ist  diese  des  Lucilius.  Flautus 
hat  in  ähnlicher  Weise  den  Imperativ:  Rud.  1010  tange:  adfligam 
ad  terram  te  und  umgedreht  1015  mittam:  omüte  vidulum  (anders, 
d.  h.  rein  parataktisch.  Mere.  770  eras  petitOj  dabitur,  von  Dräger 
II  218  angeführt).  Marx  stellt  im  Index  (1 163)  einige  Verse  unter 
^si  ut  vulgo  dicitur  omissum'  zusammen.  In  458  ist  die  innere  Ver- 
bindung der  parataktischen  Sätze  adversativ ;  322  und  1077  ist  indic. 


862  GM.  geL  Ans.  1906.  Nr.  11 

praes.,  786  indic.  füt.  in  beiden.  Beispiele  mit  fat.  n  im  Vordersatz 
gibt  Marx  zu  y.  788  (II 277).  v.  505  ist  auch  promat  syntaktisch  mög- 
lich, liegt  aber  der  Ueberliefemng  und  dem  Sinne  femer.  Durch  die 
zu  y.  532  yon  Marx  angefahrten  praesentia  wird  prcmü  nicht  ge- 
schätzt 

Die  Berofang  auf  Ennins'  Satiren  zn  y.  530  (11 200)  dfirfite  doch 
nur  mit  allem  Vorbehalt  gemacht  werden,  da  aus  der  Ueberlieferung 
nichts  heryorgeht  als  daß  die  Verse  yon  einem  Dichter  yor  Terenz 
herrühren.  —  Daß  das  Fragment  540—546  yon  Penelope  oder  im 
Gespräch  mit  ihr  gesprochen  werde,  läßt  sich  nicht  halten;  allein 
habuisse  y.  545  widerlegt  es.  Es  spricht  ein  Leser  des  Epos.  —  Gar 
kein  Anlaß  ist  zu  glauben,  daß  Lucilius  docentum  gemessen  habe, 
weil  bei  Nonius  y.  555  geschrieben  ist  mUia  dueewtum  frumenH 
tcilis  medimnumy  y.  1051  quid  vero  est,  centum  ac  dueenium  passideas 
8i  tnilia,  beides  ohne  besondere  Bezeugung  des  Worts;  dort  ist  tu 
centum  oder  dum  centum  gegeben,  hier  ac  nur  Schreibang  für  atgue. 
Zum  Ueberfluß  hat  y.  481  dücentos,  ygl.  y.  108. 

V.  567  rausuro  tragicus  gut  carmina  perdit  Oreste  kann  nicht 
richtig  sein,  nicht  nur  wegen  der  Construction  (s.  o.  zu  314),  sondern 
auch  weil  für  den  yon  Marx  geforderten  Sinn  ein  part,  praes.  oder 
rauco  erforderlich  wäre.  Wackeruagel  bei  Sjögren  Zum  Gebr.  des  Fu- 
turums im  Altlat.  S.  226  yermutet  rausura  tragicus  qui  carmina  perdit 
Orestes,  bedenklich  wegen  der  doppelten  Correctur  und  weil  Priscian 
eine  Verbalform  bezeugt.  Die  Satzform  wird  gewesen  sein:  (scimus) 
rausurum^  tragicus  qui  carmina  perdit  Orestae  (Orestae  die  Hand- 
schriften). Orest  singt  bei  Euripides  nicht,  aber  Cicero  Tusc.  11159 
führt  eine  ^fjotg  aus  der  Hypsipyle  als  Euripideum  carmen  an;  so 
wird  auch  carmina  Orestae  am  sichersten  zu  yerstehen  sein. 

In  dem  Epigramm  auf  Metrophanes  y.  579  hält  Marx  das  über- 
lieferte quamquam,  und  die  Erklärung  ist  sehr  erwägenswert.  Aber 
es  ist  doch  schwer  zu  glauben,  daß  auf  das  erhaltene  Distichon 

seryos  neque  infidus  domino  neque  inutilis  quamquam 
Lucili  columella  hie  situs  Metrophanes 

ein  zweites  gefolgt  sei  des  Inhalts  iXX'  apsToc  ßiotdc  ai^  C«>oiot  (lire- 
oTtv  oder  a&Tap  i<;  at^pTjy  ^x)x^  ^ßv)-  Die  so  construirten  Epigramme 
(z.  B.  CLE  1375  quamvis  note  tuos  mors  invida  ruperit  annos  —  non 
tarnen  etc.,  1439  sis  licet  in  numero  —  ista  tamen  miseros  neqwwiA 
solare  par entes,  1849  quamvis  saeva  tuos  prqperans  mors  ruperü  annos 
nee  rata  sint  vitae  tempora  longa  tuae,  sunt  tibi  pro  rapido  tamen 
haec  sdacia  leto)  haben  ihrer  Natur  nach  einen  pathetischen  Ton, 
nicht  die  einfache  Aufzählung  der  Vorzüge,  wie  sie  durch  kic  situs 


Lucilins  ed.  Marx  vol.  I.  n  853 

est  der  Regel  nach  abgeschlossen  wird.  Das  sehr  starke  Lob  des 
Pentameters  macht  es  wahrscheinlich,  daß  der  Ausdruck  im  Hexa- 
meter kräftiger  war  als  neque  infidus  neque  inutüis.  Richtig  wird 
sein  neque  inutiUs  quaquam,  was  auch  Marx  in  Erwägung  zieht,  qua- 
quam  *in  irgend  einer  Weise'  ist  sonst  nur  in  nequaquam  vorhanden; 
diese  Verbindung  und  äliqua  reichen  aus  es  zu  stützen;  neque  qua- 
quam  wie  neque  quoquam  bei  Plautus  (Amph.  276)  und  Lucr.  1 1055 
neque  quoquam  posse  resolvi. 

Zu  y.  588  bemerkt  Marx  sehr  richtig,  daß  in  den  Worten  nunc 
üidem  populo  istum  scriptoribus  nur  istum  corrupt  ist;  er  ergänzt 
populo  (placere  nolo)  his  cum  scr.  Aber  das  wahrscheinliche  ist  doch, 
daß  nach  itidem  die  Dative  populo  und  scriptoribus  auf  gleicher  Stufe 
stehn;  dadurch  fällt  die  Annahme  einer  Lücke.  Der  Gedanke 
bietet  sich: 

nunc  itidem  populost  ut  scriptoribus: 
voluimus  capere  animum  illorum,  (nostrum  capere  illi  volunt). 

Zum  Ausdruck:  PI.  Bacch.  1109  quid  tibist?  Pol  mihi  par^  idemst 
quod  tü>i. 

V.  602  ist  überliefert  (Nonius):  quam  fastidiosum  ac  vescum 
fastidio  vivere,  die  interpolirten  Handschriften  {G)  haben  cum  fastidio^ 
was  Lindsay  beibehält,  den  ersten  Vers  mit  fastidio  schließend.  Aber 
cum  fastidio  ist  nichts  anderes  als  fastidiosum.  Darum  fastidio  zu 
streichen  (Lachmann,  Müller,  Marx  nach  Gerlach)  ist  gamicht  ange- 
zeigt, da  es  mit  seinen  Silben  grade  den  Vers  füllt.  Sicher  scheint  mir: 
quam  fastidiosum  ac  vescum  fastidito  vivere. 

'besser  Hungers  sterben  als  in  Ekel  und  abgezehrt  von  der  Speise 
vor  der  man  sich  ekelt  leben',  fastidito  wie  empto,  rapto  vivere.  Hör. 
ep.  117, 15  fastidiret  holus.  Die  Figur  ähnlich  wie  905  cuius  si  in 
periclo  feceris  periculum. 

Die  alte  Emendation  möchte  ich  zurückführen  v.  611  porro  amiei 
est  bene  praecipere,  Tusci  bene  praedicere  (Mercier).  Die  von  Marx 
gewählte  Fassung  ist  als  Aenderung  kühner  und  als  Gedanke  schwächer. 
—  V.  618  scheint  mir  der  Gegensatz  nur  so  herauszukommen:  genium 
suom  defrudet,  ali(eno)  parcat.  —  V.  642  ist  richtig  überliefert: 
nequam  prius  quam  venas  hominis  tetigit  ac  praecordia, 

der  schlechte  Arzt  verschreibt  vor  der  Untersuchung,  v.  643  ist  also 
nicht  mit  642  zu  verbinden.  —  In  V.  644  hat  Bücheier  in  der  Jen. 
Lit.-Zeitung  1874  S.  394  sanctorum  für  exauäorem  geschrieben. 

V.  656  kann  nee  minimo  nicht  richtig  sein;  Athene  spricht  oder 
von  ihr  ist  die  Rede,  und  zwar  nicht  mit  Bezug  auf  Agamemnon, 
sondern  auf  Aias;  dem  aber  gewährt  sie  für  keinen  Preis  ihre  pa:r. 

OMt  foL  Abs.  190e.  Vr.  11  60 


^A  GdCt  gd.  Anz.  1906.  Xr.  11 

Ueberliefert  ist  nu  minimo  et  prosferatur  paz  qmod  Cassamdram  tifmo 
deripuU,  der  Sinn  wenigstens  dieser: 

nee  homini  mea  prosperator  pax,  quod  Cassandram  (meo) 
signo  deripnit. 

Von  V.  662  war  schon  oben  zu  314  die  Rede:  mee  esse  ist  nor 
bei  einer  sonst  einwandfreien  Ueberliefemng  zu  acceptiren,  capimms 
syntaktisch  bedenklich  nnd  der  Satz  dunkel,  anch  in  Marxens  Para- 
phrase. Das  Folgende  ist  nor  ein  Versuch,  nach  PL  Trin.  474  tL : 

<utere) 
malis  nee,  si  lautum  e  mensa  pure  captnru's  dbiim, 
<assidens  vereeundare). 

Die  corrupte  Ueberliefemng  von  v.  673  {doctior  quam  eäeri  sis 
asa  mittis  mutes  aliquo  te  cum  satra  facta  uäiä)  läßt  gegen  Ende  so 
deutlich  sacra  facta  erkennen  und  das  ist  ein  so  geläufiger  Ausdruck, 
daß  man  berechtigt  ist,  bei  der  Herstellung  von  den  Worten  mdes 
aliquo  te  cum  sacra  facta  auszugehn.  Der  Angeredete  soll  sich  ent- 
fernen ,  nachdem  die  Opfer  zu  Ende  sind ;  wahrscheinlich  doch ,  um 
sich  dem  Opferscbmause  oder  den  Spielen  (vgl  677)  zu  entziehn. 
doäior  quam  ceteri  und  mutes  aliquo  te  hat  Marx  richtig  erklärt; 
das  Ganze  (doetior  quam  ceteri  sis,  ab  amicis  mutes  aliquo  te,  cum 
satias  facta  sit)  weicht  zu  sehr  ab.    Ich  vermute: 

doetior  quam  ceteri 
si  sis,  ab  illis  mutes  aliquo  te,  cum  sacra  facta  ultima. 
(quod  Uli  V.  722). 

Mit  ego  enim  kann  v.  734  gewiß  anfangen;  aber  mit  ego  enim 
an?  das  bedürfte  doch  der  Belege.  —  v.  758  persuade  et  transi  vd 
da  quam  ob  rem  transeas  beißt:  'überrede  mich  ehe  du  übertrittst 
oder  wenigstens  gib  an  warum  du  übertrittst',  transire  ist  genau 
|t6Tad6odai,  auch  in  absoluter  Verwendung;  von  einer  aipsoi^  zur 
andern.  Da  da  weniger  ist  als  persuade  j  erhält  vel  die  Bedeutung 
*oder  wenigstens';  da  zu  vd  da  durch  quam  ob  rem  transeas  das 
transire  vorausgesetzt  ist,  wird  et  transi  inhaltlich  zu  beiden  Impera- 
tiven gezogen:  'zuerst  überrede  und  dann  tritt  über;  oder  doch,  sage 
warum  und  tritt  über'.  —  v.  766  verstehe  ich  nach  der  Erklärung 
von  Marx  in  hinc  ad  me,  hinc,  licet  das  hinc  nicht;  es  müßte  hue 
oder  istinc  sein.  —  v.  768  ist  in  diem  schwerlich  richtig ;  Hör.  c.  in 
29,  41  ist  anders,  vgl.  Kiessling  zu  sat.  n  6,  47;  zu  vergleichen  PL 
Aul.  frg.  3  und  Amph.  frg.  12.  —  v.  770  ist  haut  nego  (Onions) 
besser  als  at  (ut  codd.).  —  v.  781  muß  te  abstuleris  bewahrt  werden; 
aber  nicht  tde,  sondern  (tu)  te. 

Das  Fragment  v.  784—790  bedarf,   wie  mir  scheint,   nachdem 


Lacilius  ed.  Marx  vol.  I.  11  855 

Bücheier  und  Marx  es  interpretirt  haben,  noch  einiger  Bemer- 
kungen. 

hoc  cum  feceris, 

cum  ceteris  reus  una  tradetur  Lupo. 

non  aderit:  ipx^x^c  hominem  et  stoechiis  simul 

privabit,  igni  cum  et  aqua  interdixerit. 

duo  habet  stoechia;  adfuerit:  anima  et  corpore 

(y*^  corpus,  anima  est  tcvsöjiä),  posterioribus 

stoechiis,  si  id  maluerit,  privabit  tamen. 

Vor  allem  stehen  entgegen  non  aderit  und  adfuerit,  entsprechend 
privabit  und  privabit  tamen  \  man  kann  also  anima  et  corpore  nicht 
mit  adfiierit  verbinden,  ohne  den  Gegensatz  undeutlich  zu  machen. 
Er  stellt  mp  und  o5a>p  voran ,  ihnen  y^  und  icveoita  als  posteriora 
atotxsta  gegenüber  (den  Witz,  der  recht  gut  ist,  ermöglicht  die 
Uebersetzung  anima,  die  Ennius  eingeführt  hat  und  wie  Lucilius  auch 
Varro  r.  r.  I  4, 1  und  Cicero  im  Timaeus  befolgen).  Das  geht  nicht 
auf  philosophische  Theorie;  so  könnten  nur,  nach  empedokleisch- 
stoischer  Ansicht,  dem  Feuer  die  drei  übrigen  Elemente  gegenüber- 
gestellt werden  (Emped.  36.  37  Diels,  Chrys.  413  Arnim);  vielmehr 
sind  ihm  Feuer  und  Wasser  die  beiden,  die  als  apxal  und  ototxeia 
zugleich  bezeichnet  werden  können,  ipx^^c  et  stoechiis  simtU  privabit : 
er  denkt  an  die  vielgenannten  Thaies  und  Heraklit,  nicht  an  Anaxi- 
menes.  duo  habet  stoechia:  das  Subject  kann  nur  der  Angeklagte 
sein,  wie  der  Fortschritt  der  Verba  zeigt.  Zwei  ototxeta  hat  er,  er 
trägt  sie  an  sich  (so  Marx).  Dagegen  das  Subject  zu  maluerit  kann 
aus  demselben  Grunde  nur  der  Richter  sein,  der  erstens  gewiß  ver- 
urteilt und  zweitens  nach  Willkür  die  Strafe  wählt. 

In  V.  797  omnia  crede  mihi  presse  auferet  omnis  ist  zwar  res 
sicher,  aber  omnia  verlangt  ein  neues  Verbum,  das  in  die  Klimax  der 
übrigen  passen  muß: 

omnia  viscatis  manibus  leget,  (omnia  sumet,) 
omnia,  crede  mihi,  prendet,  res  auferet  omnis. 

Marx  schreibt  v.  802  tironeo  et  (hoc)  non  mortifero  adfectus  vo- 
micae vulnercy  aber  so  kann  ein  trochäischer  Vers  nicht  anfangen. 
Er  verwirft  Chironeo,  weil  Xtpwvetov  iXxoc  unheilbar  und  iXxoc  nicht 
vulnus  sei.  Ganz  richtig,  um  so  eher  kann  Chironeus  hier  bedeuten 
was  es  in  XCpa>voc  ^iCa  und  Tcdvaxec  Xipcbvsiov  bedeutet;  übereinstim- 
mend mit  der  einleuchtend  richtigen  Beziehung  auf  lason,  die  Marx 
gefunden  hat. 

V.  825  läßt  sich  vi  deiectusque  nicht  durch  die  enge  Verbindung 
vi  deiectus  erklären  ('tamquam  unum  vocabulum'  Marx),  sondern  in 

60* 


8$«  Gdtt.  gd.  Ajo.  190i^   Nr.  11 

ddruBUM  Ma  vi  deieäusque  Italia  gehört  n*  zn  beiden  Partkipien: 
kia  lialia  verbindet  llirx  mit  Becht  —  t.  826  ei^inze  ich  at.  tu- 
quam^  veieratarem  Ulum,  vehdmm  lupum.  AttnAalem  aeceptum  (fan 
dabo);  vgL  Pen.  457  nunc  ego  lencnem  Ua  kodie  intruatmm  dabo,  ui 
ipsm  $es€  qua  $e  erpediat  nesdatj  Ter.  PhoruL  974  ki$ce  ego  älam 
diäis  Ha  tibi  incensam  dabo^  ut  ne  restinguas,  Brix  zn  CapL  345. 
Langen  Beitr.  213  ff.  217.  —  Ueber  t.  83001  oben  S.  840.  üeberiiefert 
ist  T.  833  signal  nihilque  amaret ;  der  Zusammenhang  mit  830  d  ama- 
hat  omnes  steht  außer  Zweifel  An  die  Vergleichung  ui  discrimtn  hon 
facU  kann  sich  sie  Socrates  nur  mit  dem  Imperfectum  anschlieCen; 
und  es  folgt  quem  amaret.  So  bilden  sich  Versende  und  Anfang  yon 
selbst.  —  y.  861  ist  paulisper  comedent:  tarn  edet  haec  se^  ut  pol^pus^ 
ipsa  fast  überliefert;  wer  und  was  sie  allmählich  zum  Verdruß  der 
Zuschauerin  aufessen  werden,  weiß  man  nicht.  True.  593  qui  ipsus 
se  earnest  (hier  auch  cumest  CD). 

Marx  erkennt  keine  andern  Metra  für  Lucilius  an  als  Hexameter 
Septenare  Senare,  in  XXII  Distichen.  Anapäste  sind  freilich,  da  sie 
bei  Terenz  nicht  mehr  vorhanden  sind,  ganz  unwahrscheinlich;  daß 
y.  884  nicht  anapästisch  ist,  zeigt  der  Inhalt  und  die  Zusammen- 
gehörigkeit mit  886.7  {alieni  umzustellen,  da  die  überlieferte  Stel- 
lung kühner  und  an  sich  gut  ist ,  scheint  mir  bedenklich :  ^yj  age 
nunc  summam  sumptus  (sub)duc  atque  aeris  simtd  \  adde  alieni).  Von 
y.  870  gilt  erstens,  daß  es  die  schönsten  Anapäste  sind  (nee  tenio- 
rum  flamina  flando  suda  secundent) ,  ganz  ennianische ,  und  zweitens 
daß  es  tragische  Diction  ist  (Marx  U  295  f.).  Nun  trifft  es  sich 
merkwürdig,  daß  die  Verse  wie  gute  Anapäste  so  auch  ein  schlechter 
Hexameter  sind;  und  das  gibt  wohl  die  Lösung:  Lucilius  hat  den 
Vers,  wahrscheinlich  des  Ennius,  unter  seine  Hexameter  aufgenommen, 
was  eine  groteske  Wirkung  tun  mußte,  non  ridet  versus  Enni  gra- 
vitate minores?  Etwas  ähnliches  hat  Hipponax :  Ipico  fap  o5tö>  •  KoX- 
X-iJvtg  Matdi5oc  'Ep|t>J  (Prise.  II  426);  eine  Pointe  von  ähnlicher  Art 
Horaz :  non  quivis  videt  immodulata  poemata  iudex.  Dagegen  y.  936 
{quin  amplexetur  qui  velit,  ego  non  sinam  me  amplectier)  ist,  wie  es 
dasteht,  ein  jambischer  Octonar;  yon  Unvollständigkeit  kann  keine 
Rede  sein,  Priscian  bezeugt  den  passivischen  Gebrauch.  Aber  mit 
velü  kann  ein  Senar  schließen,  mit  ego  der  nächste  beginnen,  beide 
sind  richtig  gebaut.  Andre  Verse  hat  Marx  emendirt  (z.B.  882,  wo 
aber  übi  me,  nach  Festus,  die  richtige  Wortstellung  ist,  nicht  me  «6i 
nach  Nonius);  801  L.  erwähnt  er  gamicht,  so  viel  ich  sehe. 

Da  Terenz  die  Synalöphe  -us  vor  Vocal  nicht  mehr   kennt,  ist 
es  mehr  als  gewagt,  sie  Lucilius  zuzuschreiben;  und  es  ist  wirklich 


Lacilios  ed.  Marx  vol.  I.  n  857 

kein  Raub  an  der  Ueberlieferung ,  v.  919  prarsum  stM  prorsus  zu 
schreiben;  so  wenig  wie  1224  improbus  müto  statt  omüto. 

V.  942  (nasum  deductius  \  quam  pandit^s  (si)  pauh  vdlem  Marx) 
ist  eher  daktylisch  als  jambisch: 

nasum  deductius  pandius  paulo 
quam  vellem! 

quam  timeo  Terenz,  quam  cupio  Cicero,  pandius  paulo  soll  man 
nicht  trennen.    Auch  nicht  979  curati  cocti. 

V.  1021  {quod  tua  lades  culpes  non  proficis  hilum  Nonius)  hilft 
weder  tu  (st)  noch  tu  (nunc)  dem  Gedanken:  quod  tu  a(lios)  laudes 
cülpeSj  non  proficis  hilum,  YVödt  oaotöv. 

V.  1034  circum  oppida  lustrans  *rings  umher  die  Städte  berei- 
send' :  der  Schauplatz  braucht  ja  nicht  Rom  zu  sein.  —  v.  1043  anne 
et  succedere  aratro  {ante  et  corr.):  et  *auch'  beim  Verbum  sehr  zwei- 
felhaft (649  et  tu,  Marx  zu  1282  II  405).  Ein  Name  wie  Änyte? 
Lucilius  spricht  hier  wie  1041  zu  einem  bestimmten  Mädchen. 

Zu  V.  1071  (nemo  istum  ventrem  pertundet  delicietque  uti  via  at- 
que  videbis  Nonius  s.  ddica)  bemerkt  Marx  mit  Recht,  daß  es  nichts 
hilft  das  Gitat  unter  das  Lemma  delicere  zu  bringen,  da  delicietque 
keinen  Sinn  gibt.  Ebenso  weist  er  uti  via  aus  Cicero  ad  Att.  II 
19,  2  als  richtig  nach :  utor  via  sagt  Cicero ,  ich  gehe  als  einer  von 
vielen  auf  der  Straße,  nicht  auf  meiner  semita.  In  delicietque  liegt 
also  erstens  das  Lemmawort  kurz  vor  dem  Versschluß,  zweitens  das 
dem  uti  etc.  unmittelbar  Voraufgehende,  dazwischen  ist  Versschluß 
und  Anfang  verloren.  An  zwei  Stellen  zu  ergänzen  ist  kein  Anlaß 
Qdelica\  aitque:  utiperge  via  a.  v.  Marx);  uti  via  atque  vid&bis  mit  dem 
jambischen  Wort  im  Hiat  ist  unangreifbar.  Die  ersten  Worte  bezieht 
Marx  auf  das  YaotptCetv,  TcaUtv  elc  f^v  Yaotdpa,  das  kann  pertundere 
nicht  bedeuten;  es  ist  gewiß  obscön,  wie  Catull  32, 11.  Daß  Dialog 
vorliegt,  hat  Marx  erkannt;  etwa  so  mag  es  laufen: 

'nemo  istum  ventrem  pertundet;  delicat  (ipsa\ 
fac  veniat)  liceatque  uti  via,  atque  videbis. 

'Keiner  kommt  ihr  bei,  sie  sagt  es  selbst'.  ^Laß  sie  nur  kommen 
und  die  Bahn  frei  sein,  dann  sollst  du  sehn'.  —  Die  Ergänzung  zeigt, 
wie  der  Fehler  leicht  entstehn  konnte. 

Von  dem  Fragment  v.  1138—1142  muß  man  sagen,  daß  die 
Probe,  auf  die  Marx  in  der  Vorrede  des  2.  Bandes  S.  V  ausdrücklich 
hinweist,  leider  nicht  stimmt.  Denn  die  Verse  in  dieser  Fassung 
kann  niemand  verstehn  und  die  Paraphrase  U  361  macht  sie  nicht 
deutlicher;  unmöglich  aber  ist  es  anzunehmen,  daß  Lucilius  vom  d- 
naedus  des  Scipio  gesprochen  habe. 


858  Gott  gel.  Anz.  Id06.  Nr.  11 

Marx  zweifelt  nicht  daran,  daß  Lucilius  von  dem  Gastmahl  bei 
Granius  zweimal  erzählt  habe  (I  p.  XXVn.  XLIX.  80 ;  II  212.  290. 
373);  denn  bei  Cicero  steht  (Brut.  160),  das  Tribunat  des  Crassus 
sei  so  stille  gewesen,  daß  wenn  er  nicht  in  dem  Jahre  bei  Granius 
gespeist  hätte  idque  nobis  bis  narravisset  Lucilius,  man  nicht  wissen 
würde  daß  er  Tribun  gewesen  sei.  Wie  soll  es  aber  zu  denken  sein, 
daß  Lucilius  dieselbe  Sache  zweimal  erzählt  habe,  beidemal  mit  Schil- 
derung der  Gesellschaft  und  Einführung  des  Crassus,  und  zwar  beide 
Erzählungen  in  seinen  letzten  Gedichten  (denn  die  cena  hat  im  J. 
107  stattgefunden)?  und  kann  sich  Cicero  so  ausgedrückt  haben, 
statt  zu  sagen  'wir  wüßten  nichts  davon,  wenn  Lucilius  es  uns  nicht 
erzählt  hätte'?  Ich  zweifle  nicht,  daß  bis  nichts  ist  als  die  irrtümlich 
wiederholte  zweite  Silbe  von  nobis.  Lambin  hat  bis  gestrichen, 
Stangl  in  seiner  Ausgabe  ist  ihm  mit  Recht  gefolgt. 

y.  1217  scheint  Marx  anzunehmen,  daß  handschriftliches  ai  ein 
Zeugniß  für  adversatives  at  sei.  Er  schreibt  deshalb  at  sese  tenä 
intus  und  gibt  Dousas  notwendige  Ergänzung  intro  nos  voeat  ad 
(oder  cU)  sese,  tenet  intus  (apud  se)  auf.  —  ore  corupto  v.  1242  ist 
gewiß  richtig  von  Lachmann  als  Scherz  erklärt,  obwohl  die  Pointe 
verloren  ist;  ähnliches  habe  ich  zu  PL  Rud.  888  angeführt. 

Wenn  Marxens  Herstellung  von  1344.  5  richtig  ist,  so  war  Lucilius 
ein  dunkler  Stilist,  quo  vüio  minime  tendxUur,  um  mit  Sueton  über 
Horaz  zu  sprechen.  Persius  sagt  (1, 26)  usque  adeone  sdre  tuum 
nihil  est,  nisi  te  sdre  hoc  sdaJt  alter?,  nach  den  Schollen  schließt  er 
sich  an  folgende  Stelle  des  Lucilius  an:  u^  me  scire  volo  dicimus 
mimi  consdus  sum  ne  damnum  faciam.  sdre  hoc  se  nesdt  nisi  alios 
id  scire  sderit.  Den  Anfang,  bis  fadam,  hat  Bücheier  hergestellt; 
Marx  zieht  nun  scire  hoc  se  nesdt  noch  zum  Citat;  aber  auch  das 
folgende  ist  nicht  Paraphrase  des  Persius,  sondern  sein  Vorbild  (so 
Lachmann  1075).  Der  Grammatiker  hat  nur  die  Wortfolge  regel- 
mäßiger gemacht: 

'ut  me  scire  volo  dici,  mihi  conscius  si  sum, 

ne  damnum  faciam\    scire  hoc  nescit  se,  alios  id 

scire  nisi  scierit. 

Die  Ordnung  und  darum  Zählung  der  Fragmente  hat  Marx  aus 
keiner  der  früheren  Ausgaben  übernommen,  auch  nicht  die  Anord- 
nungen der  Vorgänger  bezeichnet,  so  daß  man  bei  diesen  die  Frag- 
mente mit  Hilfe  der  indices  suchen  muß.  Jenes  wenigstens  war 
nicht  zu  vermeiden,  nicht  nur  wegen  der  Auffassung  die  sich  Marx 
von  der  Citatenfolge  bei  Nonius  gebildet  hat.  Vor  allem  sucht  er 
die  zu  einem  Gedicht  oder  innerhalb  des  Gedichts  zu  einem  Gedanken- 


Lucilios  ed.  Marx  vol.  L  II  859 

gang  gehörigen  Fragmente  zusammenzuordnen.  Dies  ist  ein  Haupt- 
moment seiner  Interpretation,  das  er  mit  consequenter  Strenge  durch- 
führt. Es  ist  für  das  Verständniß  der  Fragmente  von  größter  Be- 
deutung geworden ;  viele  treten  so  auf  einmal  in  ihr  wahres  Licht, 
andere,  die  bisher  nur  unverständliche  Wortcomplexe  waren,  bieten 
nun  der  Emendation  eine  Handhabe ;  daß  es  viele  gibt,  für  die  Marx 
nur  eine  Möglichkeit  zuläßt,  während  sie  mehr  als  eine  enthalten, 
hat  dem  großen  Gewinn  gegenüber  wenig  zu  bedeuten. 

Aehnlich  steht  es  mit  einer  andern  von  Marx  angewandten  me- 
thodischen Regel.  Wo  das  Metrum  in  Ordnung  ist,  läßt  er  die  Worte 
unangetastet.  Auch  hierdurch  hat  er  viel  erhalten  und  gewonnen 
was  verworfen  zu  werden  pflegte ;  auch  hier  ist  das  nur  durch  festes 
Einhalten  der  Regel  möglich  gewesen;  das  granum  sails  mögen 
andere  hinzutun. 

Noch  einen  Blick  muß  ich  auf  die  Prolegomena  werfen,  über  die 
ich  oben  nur  berichtet  habe  soweit  sie  die  Ueberlieferung  angehn. 
Sehr  anfechtbar  ist  der  erste  Abschnitt,  der  vom  Worte  satura  han- 
delt. Die  Erörterung  des  Diomedes  zerlegt  Marx  in  drei  Bestand- 
teile, von  denen  der  Grammatiker  den  ersten  aus  eignem  Bestände, 
den  zweiten  aus  Varros  Plautinae  quaestiones,  den  dritten  aus  Ver- 
rius  Flaccus  geholt  habe;  dadurch  gewinnt  er  die  Möglichkeit,  Varro 
aus  der  Erörterung  des  Diomedes,  soweit  es  sich  um  deren  Kern 
handelt,  auszuschalten.  Das  ist  aber  vergebliches  Bemühen.  Die 
Yergleichung  des  Festusartikels  mit  Diomedes  lehrt,  daß  die  Quelle 
gemeinsam  ist,  d.  h.  Varros  Erörterung  über  die  Bedeutung  des  Wortes 
satura ;  dafür  kann  ich  auf  einen  früheren  Aufsatz  (Hermes  XXIV) 
verweisen.  Es  ergibt  sich  daraus  zugleich,  daß  Varro  das  Wort  sa- 
tura für  die  poetische  Gattung  anwendete ;  wenn  das  für  einen  Mann 
bewiesen  werden  muß,  der  libros  IV  saturarum  geschrieben  hat 
(Hieron.),  der  Menippum  in  saturis  aemulatus  est,  quas  ipse  appeüat 
Menippeas  (Gell.  U  18,  7) ,  der ,  wenn  diesen  Citaten  gegenüber  die 
Ausflucht  späterer  Prägung  des  terminus  noch  anwendbar  sein  sollte, 
de  compositione  saturarum  geschrieben  hat  (Nonius  67).  Nämlich 
Marx  behauptet,  der  Name  satura  habe  vor  Horaz  nicht  existirt, 
Ennius  und  Lucilius  haben  nur  poemata  per  saturam  gekannt ;  aber 
per  saturam  setzt  die  satura  voraus ,  wenn  auch  nicht  die  poetische; 
und  wenn'Horaz  sagt  sunt  quibus  in  satura  videor  nimis  acer  et  ultra 
legem  tendere  opus  und  quid  prius  itdustrem  saturis  musaque  pedestri, 
so  bedarf  es  keines  Beweises,  daß  er  hiermit  keinen  neuen  Ausdruck 
prägt,  sondern  einen  längst  vorhandenen  anwendet;  um  so  sicherer 
als  sein  eigner  Titel  nicht  saturae  ist.  Die  lex  operis  geht  auf  keinen 
andern  als  Lucilius.    Die  saturae  des  Lucilius  werden  von  den  Gram- 


860  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

matikern,  soweit  sie  sie  bezeichnen,  als  saturae  bezeichnet,  die  beiden 
Spielarten  des  Horaz  als  sermones  nnd  epistuiae;  nirgend  kommen 
poetnata  per  saturam  des  Ennius  oder  Lucilius  vor.  Wie  Ennius  zu 
dem  Namen  kam,  erläutert  Diomedes  (Varro)  vollständig;  die  Ent- 
wicklung des  Begriffs  seit  Ennius  hat  Eießling  richtig  dargelegt. 

Im  folgenden  Abschnitt,  de  vita  et  poesi  C.  Lucilii,  verbindet 
und  belebt  Marx  die  Bruchstücke  der  äußeren  Geschichte  des  Dichters 
mit  ähnlichem  Erfolge  wie  im  Commentar  die  Bruchstücke  seiner 
Gedichte.  Manches  ist  unsicher,  wie  die  zeitliche  Einschränkung  der 
Tätigkeit  des  Lucilius  nach  den  Aeußerungen  des  Velleius  und  Pli- 
nius  (S.  XXVI  f. :  auf  das  Plusquamperfect  müüaverat  ist  zu  großer 
Wert  gelegt,  und  Plinius  denkt  nur  daran,  daß  Lucilius  während  des 
Gimbemkrieges  gestorben  ist) ;  daß  Cicero  de  or.  U  284  von  LuciUos 
spricht,  ist  sehr  unwahrscheinlich,  da  er  wußte  daß  Lucilius  nicht 
Senator  war  und  gesagt  hätte,  wie  er  bei  dieser  Gelegenheit  in  den 
Senat  gekommen  sei  (S.  XXI);  in  einer  von  Marx  oft  mit  Erfolg 
eingehaltenen  Richtung  weit  über  das  Ziel  hinaus  geht  die  Behaup- 
tung, Horaz  habe  als  Cäsarianer  gegen  den  Pompejaner  Lucilius  ge- 
kämpft (S.  XX,  vgl.  LI).  Aber  ich  halte  den  Widerspruch  gegen 
Einzelheiten  zurück,  um  nicht  immer  wieder  versichern  zu  müssen, 
daß  das  Ganze  der  Zustimmung  und  mehr  als  Zustimmung  sicher  ist. 

Den  Prolegomena  sind  angehängt  die  Testimonia  über  die  satura 
und  die  über  Lucilius,  endlich  (S.  CXXXV)  fasti  Luciliani.  Der  erste 
Band  hat  4  indices:  der  Eigennamen,  der  zwischen  Text  und  adno- 
tatio  verzeichnete^^  'auctores',  einen  vollständigen  Wortindex ,  die 
griechischen  Wort^  von  den  lateinischen  gesondert,  endlich  einen 
'index  grammaticus  metricus  rerum  memorabilium'.  Dagegen  ent- 
behrt der  ^ommeii^r  des  unentbehrlichen  index  rerum. 

Wie  gesagt,  wv  können  Lucilius  erst  jetzt  verstehn  oder  ihn  zu 
verstehn  versucHenf  Aber  ihn  zu  beurteilen,  direct  aus  seinen  Versen, 
werden  wir  auch^etzt  nur  in  sehr  beschränktem  Maße  versuchen 
dürfen.  Denn)  wir^haben  kein  ganzes  Gedicht  und  wir  wissen  durch 
Horaz,  daß  die^^SF^iohte  in  der  Ausführung  unausgeglichen  und  so- 
mit in  ihren  Jl^ileo.  von  ungleichem  Werte  waren.  Wenn  das  sehr 
geringsch^mge  Umil  zutrifft,  das  Marx  über  das  große  Fragment 
1326—36  mllt  (U  S.  425),  so  folgt  daraus  zunächst  nur,  daß  Horaz 
mit  seinen lAngnffenpeeht  hatte,  die  doch  mit  hoher  Anerkennung 
zusammengehn.3  p^  antiken  Aeußerungen  über  Lucilius  als  Dichter 
bespricht  MSrx  I/S.  C^U  ff. ;  wir  werden  uns  auch  künftig  an  diese 
halten  müssen^^^i^-wir  einen  Maßstab  für  seine  Bedeutung  haben 
und  das  Einzemfc  rii^htig  einschätzen  wollen.  Die  Entwicklung  das 
Dichters  hat  M!arx  in  ihren  wichtigsten  Phasen  durch  die  Datirong 


Lucflios  ed.  Marx  vol.  I.  n  861 

der  einzelnen  Bücher  aufgezeigt.  Nur  den  Ausgangspunkt  verdunkelt 
er  S.  XVU  durch  eine  metrische  Speculation.  Die  trochäischen  Te- 
trameter, mit  denen  seine  Dichtung  anfängt,  zeigen  daß  er  von  Ar- 
chilochos  ausgeht  (vgl.  Marx  U  S.  253  zu  v.  698).  Nur  allmählich 
hat  er  sich  von  dem  für  griechische  Begriffe  veralteten  Maß  dem 
Hexameter  zugewendet,  der  in  der  griechischen  Poesie  der  Zeit  immer 
entschiedener  zur  Herrschaft  kam.  Ob  einzelne  seiner  Gedichte  auch 
dem  Inhalt  nach  allmählich  mehr  epischen  Charakter,  im  Sinne  der 
hellenistischen  Dichtung,  gewonnen  haben,  ist  eine  Frage  die  auf- 
zuwerfen eine  Kühnheit  ist;  die  scharf  zu  bestimmenden  und  die 
ganzen  Bücher  umfassenden  Handlungen  der  Bücher  I — HI  sprechen 
dafür. 

Ich  fürchte  von  dem  Inhalt  des  Buches  keine  ausreichende  Vor- 
stellung gegeben  zu  haben;  aber  vielleicht  ist  das  der  geringste  Be- 
censentenfehler  einem  Buche  gegenüber,  das  doch  jeder  lesen  muß 
und  das  alles  Becensiren  überdauern  wird. 

Oöttingen  Friedrich  Leo 


Mlehaelis  Ephesil  in  libros  de  partibas  animalium  de  animaliam 
motione  de  animalium  incessu  commentaria.  ConsiUo  et  auctori- 
tate  academiae  litteramm  regiae  Bomssicae  edidit  Michael  Hayduck 
(Comment,  in  Arist.  Graeca  ed.  cons,  et  anct.  acad.  litt.  reg.  Boross.  vol.  XXII 
pars  n).   Berlin,  G.  Reimer,  1904.  XIV,  193  S. 

Wer  die  Liste  der  griechischen  Aristoteleskommentare,  wie  sie 
sich  aus  den  erhaltenen  Werken  dieser  Gattung  und  den  Nachrichten 
über  verlorene  zusammenstellen  läßt,  auf  die  Auswahl  der  zu  er- 
klärenden Werke  hin  durchmustert,  wird  das  gänzliche  Fehlen  oder 
die  schwache  Vertretung  dreier  Werke  oder  Gruppen  von  solchen 
besonders  bemerken,  der  Politik,  der  Bhetorik  und  der  Schriften  zur 
Zoologie  und  Anthropologie.  Die  Politik  ist  für  uns  ein  Kleinod  und 
hat  auf  neuere  Lehrbildungen  eingewirkt  wie  wenige  Werke  des 
Aristoteles.  Daß  sie  von  der  antiken  und  mittelalterlichen  Exegese 
völlig  beiseite  gelassen  werden  konnte,  ist  bezeichnend  für  das  da- 
mals entschwundene  Interesse  an  politischer  Theorie.  Für  die  Tat- 
sache, daß  zur  Rhetorik  nur  zwei  späte  Kommentare  bekannt  sind  % 
hat  schon  Usener^)  die  überzeugende  Erklärung  gegeben:  die  Rhe- 
torik blieb  in  den  Händen  der  Fachmänner.     Für  diese  aber  hatte 

1)  Als  dritter  käme  hinzu  der  im  Anecd.  Hierosol.  (Comm.  in  Arist  Gr. 
ini  p.  Xyni  nr.  17)  angefahrte  des  Michael  Eph.  S.  übrigens  die  Bemerkung 
von  Wendland  z.  d.  St. 

2)  Rhein.  Mus.  20  (I860)  S.  134. 


862  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

spätere  Doktrin,  vor  allem  die  des  Hermogenes,  Aristoteles  in  den 
Schatten  gestellt.  Auch  die  Yernachlässigung  der  zoologischen  und 
anthropologischen  Schriften  darf  trotz  der  gewaltigen  Autorität,  die 
Aristoteles  auch  für  naturwissenschaftliche  Dinge  im  Altertum  und 
Mittelalter  besaß,  nicht  Wunder  nehmen.  Der  Unterrichtsbetrieb  in 
Lykeion  und  Akademie,  in  dem  im  letzten  Grunde  auch  die  schrifUicb 
erhaltenen  Exegesen  wurzeln,  hatte  mit  der  Erklärung  der  grund- 
legenden, philosophisch  in  erster  Linie  wichtigen  Lehrschriften,  der 
logischen  vor  allem,  dann  der  Metaphysik,  der  Physik,  der  Abhand- 
lungen IIspl  o&pavoD  und  Ilepl  4^ox^c,  der  nikomachischen  Ethik  voll- 
auf zu  tun,  und  daß  diesen  gegenüber  die  zoologischen  und  an- 
thropologischen Werke  in  den  Hintergrund  traten,  ist  um  so  begreif- 
licher, als  wohl  mit  seltenen  Ausnahmen  der  Philosophieprofessor 
dem  überreichen  naturkundlichen  Stoffe,  der  hier  die  prinzipiellen 
und  philosophischen  Gedanken  umkleidet,  mit  der  Unsicherheit  und 
Befangenheit  des  Nichtsachverständigen  gegenüberstand.  Es  ist  cha- 
rakteristisch für  den  rastlosen  Interpretenfleiß  des  Boethius,  daß  er 
vor  dem  Riesenunternehmen  einer  Uebersetzung  und  Erklärung  des 
ganzen  Aristoteles  trotz  der  Mannigfaltigkeit  des  dabei  zu  betätigen- 
den fachwissenschaftlichen  Interesses  nicht  zurückschrak.  Daß  es  nicht 
zur  Ausführung  kam,  müßte  man,  auch  wenn  Boethius  ein  längeres 
Leben  beschieden  gewesen  wäre,  erklärlich  finden.  Als  später  der 
scholastische  Betrieb  byzantinischer  Zeit  das  Organen  immer  einsei- 
tiger in  den  Vordergrund  rückte^),  war  vollends  für  jene  naturwis- 
senschaftlichen Schriften  kein  regeres  zur  Kommentierung  führendes 
Studium  zu  erwarten.  Aristoteles'  Lehren  auf  diesen  Gebieten  fanden 
abseits  von  der  schulmäßigen  Exegese  andere  Kanäle,  durch  die  sie 
in  das  Sammelbecken  mittelalterlicher  Gelehrsamkeit  gelangten,  wie 
uns  deren  einen  das  im  Supplementum  der  akademischen  Kommentar- 
sammlung herausgegebene  Tierbuch  erkennen  läßt  ^.  Als  Kommen- 
tator zoologischer  und  anthropologischer  Schriften  wird  in  dem  darch 
cod.  Marc.  203 ") ,   Vatic.  241  ^)  und  Hieros.  Patr.  106  ^)  erhaltenen 

1)  Einen  Beleg  gibt  u.  a.  aach  das  von  M.  Treu,  Byz.  Zeitschr.  2  (1893) 
S.  96  ff.  behandelte  byzantinische  Schalgespräch.  Zunächst  werden  hier  (S.  99)  die 
Schriften  des  Organons  eingehend,  and  zwar  in  Uebereinstimmong  mit  dem 
Anecd.  HierosoL,  aufgezählt.  AUe  anderen  aristotelischen  Werke  bilden  alsdann 
als  diejenigen,  welche  fjirrd  to  Upyavov  htX  dvaytvwoxctv,  eine  zweite  Grappe.  Als 
£pfjLi)vc6f(v  Touc  iralSac  t6  'Opyavov  wird  a  potion  die  philosophische  Lehrtätigkeit 
des  Johannes  Tomikes  bezeichnet,  an  welchen  der  von  Heisenberg,  Georg.  Acrop. 
opera  n  p.  67 ff.  edierte  Brief  gerichtet  ist;  vgl.  dort  S.  67, 8  f.;  69,21  f. 

2)  Vgl.  aach  Krumbacher,  Gesch.  d.  byz.  Litt. «  S.  264  Nr.  3  a.  E. 
8)  Vgl.  Usener,  Rhein.  Mus.  20  (1865)  S.  135  f. 

4)  Vgl.  Hayduck,  Comm.  in  Aristot.  Graec.  XVIII  3  p.  V. 

5)  Vgl  Wendland,  Comm.  in.Arist  Gr.  UI 1  p.  XV  ff. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn  2  863 

Verzeichnis  aristotelischer  Exegeten  nur  Michael  von  Ephesos  ge- 
nannt, und  auch  sonst  sind  die  Spuren  einer  kommentierenden  oder 
der  Kommentierung  sich  nähernden  Beschäftigung  mit  diesen  Ab- 
handlungen gering :  von  Georgios  Pachymeres  verzeichnet  der  Biblio- 
thekskatalog des  cod.  Paris.  2328  nach  Cramers  Anecd.  Paris.  I 
p.  393  Elc  tö  Tcepl  Ccpodv  Yevvi^oscDc  und  Elc  tö  Tcspl  C(i>Q>v  [toplcov,  und 
Theodores  Metochites  verfaßte  Paraphrasen  zu  einer  Reihe  hierher 
gehöriger  Werke  ^).  Daß  gerade  Michael  diesem  vernachlässigten 
Teile  des  aristotelischen  Korpus  seine  Aufmerksamkeit  zuwandte, 
darf  man,  scheint  es,  darauf  zurückführen ,  daß  mit  ihm  einmal  ein 
Professor^  die  philosophische  Lehrkanzel  bestieg,  in  dem  sich  Be- 
herrschung der  im  engeren  Sinne  philosophischen  Disziplinen  mit 
naturwissenschaftlichem  Interesse  verband.  Schon  in  seiner  Knaben- 
zeit geben  ihm  die  Füße  einer  Heuschrecke,  die  er  zunächst  freilich 
in  absichtslosem  Kinderspiel  vom  Körper  des  Tieres  getrennt  hat, 
Anlaß  zu  physiologischer  Beobachtung  (Parv.  ®)  102, 19  flF.).  Von  einem 
Studiengenossen  läßt  er  sich  dessen  Träume  erzählen,  die  er  psycho- 
logisch verwertet  (Parv.  62,  3  flF. ;  64,11;  81,  7flf.;  ein  anderer  ihm 
durch  Hörensagen  oder  Lektüre  bekannter  Fall  62,  5).  Mit  natur- 
wissenschaftlichem Sinne  schlägt  er  von  seiner  täglichen  Erfahrung 
.Brücken  zur  Theorie  und  vermag  so  persönlich  Erlebtes  für  die  Exe- 
gese fruchtbar  zu  machen.  Ein  Kinderspiel,  das  er  gesehen  hat, 
dient  ihm  zur  Veranschaulichung  der  Tätigkeit  der  Polypenarme 
(Part.  83,  13  AT.),  an  der  Spindel  erklärt  er  die  Rolle  des  Rücken- 
marks (Part.  37,  15 AT.),  der  Behauptung  des  Aristoteles  (part.  anim. 
686  b  15  flf.),  daß  nur  junge  Pferde  imstande  seien,  mit  dem  Hinter- 
fuße den  Kopf  zu  berühren,  ältere  aber  nicht,  weiß  er  eine  eigene 
Beobachtung  entgegenzustellen  (Part.  84,  31  f.),  Aristot.  gen.  an.  763 
a  9  hat  sich  ihm  durch  das,  was  er  selbst  an  Käsewürmern  gesehen, 
bestätigt  (Pg.  163,  24fl[.),   und  zu  gener.  anim.  779  a  14  flf.  kann  er 

1)  Näheres  Krambacher,  Gesch.  d.  byz.  Litt. '  S.  552  f. 

2)  Daß  er  diese  Stellung  einnahm,  hoffe  ich  unten  wenigstens  wahrscheinlich 
machen  zu  können. 

8)  Ich  bezeichne  hier  und  im  Folgenden  mit  Parv.  den  Kommentar  zu  den 
Parva  naturalia  (ed.  Wendland^  Comm.  in  Aristot.  Graeca  vol.  XXII  pars  I),  mit 
Part,  Mot.)  Inc.  die  in  dem  vorliegenden  Hefte  enthaltenen  Kommentare  zu  de 
part,  anim.,  de  mot.  anim.,  de  ine.  anim.,  mit  Eth.  den  Kommentar  zur  Ethik. 
Ps.  -  Philoponos  zu  de  gener.  anim.  (ed.  Hayduck,  Comm.  vol.  XIY  pars  III), 
Ps.  -  Alexander  zu  Metaph.  E-N  (ed.  Hayduck,  Comm.  vol.  I  p.  440  ff.)  und 
Ps.  -  Alexander  zu  Sophist,  elench.  (ed.  WiJlies,  Comm.  vol.  H  pars  III)  nehme 
ich  als  Eigentum  des  Michael  in  Anspruch  —  die  Berechtigung  dazu  werde  ich 
weiter  unten  nachweisen  —  und  bezeichne  den  ersten  mit  Pg.,  den  zweiten  mit 
Am.,  den  dritten  mit  As. 


864  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  11 

aus]  persönlicher  Anschauung  einen  Fall  erzählen,  in  welchem  ein 
Nachtwandler  nach  dem  Erwachen  keine  Erinnerung  an  das  im  Schlaf- 
zustande Getane  besaß  (Pg.  215, 30  ff.)-  Ebenso  verwertet  er  psycho- 
logisch bedeutsame  Vorgänge,  die  er  an  sich  selbst  beobachtet  und 
im  Gedächtnis  behalten  hat  (Parv.  61,  32 ff.;  79,18!.;  80,  23 f.; 
85, 4 ff.;  vgl.  auch  24,  23 ff. ^)).  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  an  der 
Hand  der  Kommentare  der  naturwissenschaftliche  Horizont  des  Ver- 
fassers durch  einen  Sachverständigen  bemessen  und  gezeigt  würde, 
wie  weit  z.B.  aus  den  die  Sehtätigkeit  berührenden  Stellen  (s.  die 
Indices  zu  Parv.  Part.  Mot.  Inc.  Pg.  s.  v.  xpootaXXoeiSi^c ,  ömixög), 
die  manches  bieten,  was  aus  Aristoteles  nicht  zu  entnehmen  war,  auf 
anatomische  oder  physiologische  Studien  zu  schließen  ist^. 

Von  den  im  Verzeichnis  des  Marc.  203  und  Vatic.  241  aufge- 
zählten zoologischen  Kommentaren  scheint  nun  der  zu  Hepl  Ccpcov 
loToplac ,  falls  er  überhaupt  existiert  hat  %  verloren.  Der  Kommentar 
zu  Hepl  C(pa>v  Yev^oecoc  ist  unter  dem  üblich  gewordenen  Namen  des 
Philoponos,  auf  den  ihn  der  erste  Herausgeber  willkürlicherweise  ge- 
tauft hatte,  als  HI.  Teil  des  XIV.  Bandes  der  akademischen  Kom- 
mentarsammlung bereits  1903  erschienen.  Die  übrigen  enthält  das 
vorliegende  Heft.  Wie  durch  den  Verfasser,  so  sind  auch  durch  die 
handschriftliche  Ueberlieferung  diese  Kommentare  eng  mit  dem  zu 
den  Parva  naturalia  verbunden,  an  den  sie  sich  in  der  Ausgabe  der 
Akademie  unmittelbar  anschließen.  Die  Ueberlieferungsverhältnisse 
sind  allerdings  für  die  drei  in  dem  neuen  Hefte  vereinigten  Schriften 
nicht  ganz  die  gleichen.  Bei  den  beiden  kleineren  Kommentaren  zu 
De  mot.  anim.  und  De  ine.  anim.  ist  die  Sachlage  die  nämliche  wie 
bei  dem  zu  den  Parva  naturalia   (vgl.  Wendland  Gomm.  vol.  XXII 

1)  Nicht  als  wirkliches  Vorkommnis  aufzufassen  ist  wohl  Far?.  25, 14  ff. 

2)  In  der  Nicolaischen  Literaturgeschichte  m  S.  806  finde  ich  die  ich  weiß 
nicht  woher  entnommene  Bemerkung,  M.  sei  vermutlich  Arzt  von  Beruf  gewesen. 
Zu  dem  ohen  Ausgeführten  würde  sich  das  wohl  fügen.  Die  Stelle  Pg.  215, 30  bildet 
aUerdings  ein  Gegenindiz,  insofern  sie  zeigt,  daß  M.  wenigstens  zu  einer  gewissen 
Zeit  nicht  Arzt  gewesen  ist.  M.  berichtet  hier:  ^jv  ydp  iinb^  au^drjc  tic  t^v  t^x^jv 
{aTpdc.  So  drückt  sich  nicht  aus,  wer  selbst  dem  gleichen  Berufe  obgelegen  hat 
Man  müßte  erwarten :  . . .  (juvi^Ot)?  ti«  xal  o{>t6c  Tr^y  xi^yriw  ioxpö;. 

8)  Das  Anecd.  Hier,  kennt  ihn  nicht.  Die  Aufzählung  bei  Michael  selbst 
Par?.  149, 8  ff.  enthält  zwar  die  anderen  zoologischen  Kommentare,  diesen  aber 
nicht  Natürlich  kann  er  nach  Abfassung  dieser  Stelle  ausgearbeitet  sein.  Auch 
die,  freilich  nicht  zu  dieser  Gruppe  gehörigen,  Kommentare  zur  Ethik  und  zu  den 
Soph,  elench.  fehlen  bei  Michael,  und  der  Kommentar  zu  Ilepl  XP^H'^'^^'^  ^  da- 
mals noch  in  der  Zukunft,  während  die  Liste  des  Marc,  und  Yat.  ihn  als  ausge- 
arbeitet kennt.  Andererseits  ist  nicht  unmöglich,  daß  der  Verfasser  dieser  Liste 
die  zoologischen  Schriften  des  Aristoteles  sämtlich  nannte  ohne  zi\  beachten,  daß 
die  eine  in  den  Kommentaren  des  M.  nicht  vertreten  war. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII  2  865 

pars  I  p.  VII).  Unsere  Textesquellen,  soweit  sie  für  die  recensio 
ausgebeutet  worden  sind,  zerfallen  in  zwei  Klassen;  die  eine  umfaßt 
cod.  Paris,  gr.  1925  saec.  XIV  (S)  und  die  1527  erschienene  Aldina 
(a),  die  andere  cod.  Paris,  gr.  1921  saec.  XIV  (P),  cod.  Paris,  gr. 
1923  saec.  XIV  (R)  und  cod.  Vatic.  Column,  gr.  2199  (C)  saec.  XII. 
Doch  enthält  C  nur  Mot. ,  nicht  auch  Inc.  ^).  Die  Scheidung  der 
beiden  Familien  tritt  auch  in  Mot.  und  Inc.  ebenso  wie  in  Parv.  mit 
aller  nur  wünschbaren  Deutlichkeit  hervor;  nur  zeigt  sich  G  hier 
wie  dort  von  einer  Hs.  der  andern  Klasse  gelegentlich  beeinflußt. 
Charakteristisch  ist  u.  a.  das  häufige  Zusammengehen  von  PRC  bez. 
PR  in  Auslassungen,  die  durch  Homoioteleuton  bewirkt  sind:  vgl. 
z.B.  p.  107, 12— 14;  111,17—19;  113,2.9;  116,4—6;  118,16—17; 
120,15-16.17—19;  121,24;  122,28—29;  123,17-18;  124,13-16 
(das  Z.  16  hinter  (i^pog  stehende  tijc  xapStac  wurde  als  Wiederholung 
getilgt);  126,27—29;  148,1.3—5;  167,6—7.:  Nicht  so  häufig  sind 
S  und  a  durch  solche  Auslassungen  verbunden,  wie  z.B.  p.  114|,  10 
—12;  147,34;  162,28;  165,9—10.  Wie  für  Parv.,  so  erweist  sich 
auch  hier  die  Klasse  Sa  im  allgemeinen  als  die  bessere  Ueberlie- 
ferungsquelle.  Besonders  hervorheben  möchte  ich  die  Stelle  p.  127, 
32  ff.  (Z.  24  f.  zb  Yap  h  T^(itv  depjtöv  xal  ßapö  xal  xoöyöv  lottv  .  .  .  .) 
•g  (1^  xoöcpov,  oLVziyBi  Tupög  ta  ßap^a  ti  Ädoövta  xal  i7CoßtaW(ieva  a&tö 
xdtoD  .  .  .,  •g  8fe  TcdiXtv  ßapö  iotiv,  ivrd/et  Tupöc  ta  ßap^a  ta  ivoo- 
douvta  xal  avappiTCTOövTa  ahxb  S,V(ü  (ava^XY]  ^ap  ta  ßap^a  icpöc  '^ol  xdta> 
yspöiieva  av(ödetv  abzb  ävco).  So  Sa  (bis  auf  hier  nicht  in  Frage  kom- 
mende kleinere  Varianten).  CPR  haben  xoo^a  statt  des  gesperrten 
ßap^a  und  schreiben  am  Schlüsse  ayd^xY)  Tupöc  ta  xdctco  7&p6|ieva  ta 
ßap^a  xtX.  Es  liegt  hier  in  der  Ersetzung  des  ßap^a  durch  xoo^a 
eine  Konjektur  vor,  zu  der  allerdings  grofie  Versuchung  vorhanden 
ist.  Der  Gegensatz  ig  jjl^v  xoö^ov,  ant/Bi  «pöc  ta  ßapda,  -g  81  ßap6 
lottv,  ivt^/st  Tcpöc  .  .  .  scheint  sie  zu  fordern,  und  Arist.  p.  703  a 
26  f.  begünstigt  sie.  Sie  wird  aber  durch  die  Parenthese  widerlegt. 
Daher  wohl  auch  die  Abänderung  dieser  Parenthese  in  CPR,  die  nun 
den  Gedanken  enthalten  soll:  es  ist  notwendig,  daß  (das  Leichte) 
gegenüber  (d.  h.  im  Gegensatze  zu)  dem  nach  unten  Strebenden,  dem 
Schweren,  es  (nämlich  tö  iv  i!)|jliv  bezw.  Iv  t^  xapStof  depftöv)  aufwärts 
stoße.  In  dieser  Form  genügt  die  Parenthese  aber  weder  den  Regeln 
der  Grammatik  noch  den  Forderungen  des  Sinnes:  im  Accus,  c.  inf. 
fehlt  das  Subjekt,  und  Tcpöc  heißt  nicht  >im  Gegensatze  zu<.  Zwei- 
fellos hat  der  Herausgeber  recht  getan,  Sa  zu  folgen.  Die  im  all- 
gemeinen größere  Zuverlässigkeit  von  Sa,  die  hier  in  charakteristischer 

1)  Vgl.  Wendland  a.  a.  0.,  Haydack  p.  VI  unserer  Ausgabe.    Es  muß  also 
auf  einem  Versehen  beruhen,  dafi  zu  Inc.  p.  136, 3. 29  f.  C  im  Apparat  erscheint. 


864  OM.  g«L  Axis.  1906.  ^* 

.icäerlA  Verderbnisse  im 
aus;  persönUcher  Anschaanng  eine'  ^^^^  erwähnten  durch  Ho- 

Nachtwandler  nach  dem  Erwa^^  ^^  g^den   sich  Versehen  und 

zustande  Getane  besaß  (P^  ^/p^  155  1  „,  ^  ^^  u^d  dort. 

logisch  bedeutsame  V  ^^  .^  ^^  ipiotepcp  «pö  toö  TcpoßTäv« 

im   Gedächtnis   be'  ^^ili  den  Zusammenhang  nicht  gerecht- 

85,4flf.;   vgl.  ar  .^ehmen  sollen.    Auch  143, 14  f.  wird  die 

Hand  der  Kor  VpcbTuoo  Äva>,  Sott  86  inl  avdpcoÄO!)  (rö 

**f^®™^^*"^  /(jfä  zb  «XTjoidCsiv  T$  ao/^vt,    6   o6v   knl  iv- 

wie  weit  '  —  ^;  av<ö,    toöTO    Siel   täv   tetpairoSoDV   ol   -p.  aröS. 

^^^^  ^'^,  die  die  hier  gesperrten  Worte  nicht  kennt, 

**®  ^  ';^^,  dafi  M.  häufig  im  Bestreben  nach  der  erreichbar 

■"***  ''^.^keit  in  etwas  umständlicher  Weise  die  gleichen  Worte 

.  Jjtfiid  aus  dem  gleichen  Bestreben!  eine  Vorliebe  für  die 
..•  [\^, /eigt^,  und  zwar  auch  an  Stellen,  wo  ebenso  wie  hier 
.■'"*)^altete  Satz  so  kurz  ist,  daß  auch  ohne  Wiederaufnahme 
*^'  fl%igs  der  Periode  eine  Unübersichtlichkeit  der  Konstruktion 
'^^  gu  befürchten  wäre;   vgl.  z.B.  Part.  42,5;   45,12;   159,29. 
'%0  Epanalepsis  nach  kurzem  Schaltsatz  tritt  besonders  ein ,   um 
'^(/din  wiederaufnehmenden  Satzstücke  den  Schaltsatz  selbst  zu  ver- 
^rten  nach  der  Formel:  von  a  (a  aber  =  b),  von  a  =  b  also  gUt 
c^  oder :  von  a  (a  aber  =  b),  von  b  also  gilt  c.    Vgl.  z.B.  p.  59, 38 f. 
^{sotfi^aai  8k  ivcodev  (Xi^cov  £va>dev  t^v  xapSiav)  8cva>dsv  ouv  ex  tt^c 
xapSiag  Sisotö^oai  xtX.;  44, 15  f.  a&ttxa  tö  toOto  Se  (toöto  Xd^cov  töv 
iY>t^aXov)  TÖV  ^YX^yaXov  Syj  6pÄVT6c  xtX. ;  58,  8 f.  k^  Sh  t-g  jisyoXtq 
xapSiG^   [ttxpbv   5v   tö   at(ia   (Xd^si  [ttxp&v   xö   oXtyov)    öXiyov    ouv   ev 
taotiQ  ov  TÖ  atfta  ^bx^zai  %zk. ;  139,  29 f.  Stöicep  ooS&v  iftsX^c  (Xi^wv 
&|uXic  tö  {fJj  Ixov  öpYavtxa  «pög  t-J]V  xivYjotv  {i^pTT))  StÖTcep  oo6ev  jitj 
S^ov   opY^vixa  Tcpög  fj]v   xtvijotv   {t^piQ   Sovatat  xivTfiO-ijvai  xtX. 
Aehnlich  z.  B.  As.  p.  195,  28  ff.  .  Ebenso  an  unserer  Stelle  o  oov  kl 
&vftpcbicoD  x^^P^^  "^  ^^^f  nachdem  der  Schaltsatz  x^^P^<  ^^^  £va>  ver- 
bunden hat.    Was  also  PR  geben,  stimmt  in  allem  bestens  mit  dem 
Brauch  des  M.,  und  es  ist  weit  wahrscheinlicher,  daß  im  Archetypus 

1)  Aaf  dieses  Verfahren  als  pädagogisches  Mittel  mancher  Lehrer  macht  an 
der  Hand  des  neugefundenen  anonymen  Theaitctkommentars  aufmerksam  Diels, 
Berliner  Klassikertexte  II  S.  XXXIV  f.    Vgl.  für  Michael  z.  B.  Parv.  3, 2  ff.  ^{veTai 

T^C  . . .  xtv/jOeu>c.  Part.  45, 6  ff.  ^x  hi  tf,;  xapS(a;  ayouaiv  Sxepa  ^Xeß^a  xai  av)p.;p-jor:n 
TOlc  Trepl  Tov  ^yx^^oXov  ^Xcßfoic,  dcp'  cuv  cpXcß^cuv  twv  dro  Tf,c  xapSfa;  dtvEpyopivfüN 
dvaSföoxat  xxX.  Aehnliches  Part.  82, 4,  Inc.  156, 23  f.  u.  ö.  Michael  hat  es  erreicht, 
das  muß  man  ihm  lassen,  daß  seine  Darstellung  mit  seltenen  Ausnahmen  klar  and 
deutlich  ist  und  sich  rasch  und  glatt  lesen  läßt. 

2)  Darüber  unten  S.  891. 


\ 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  867 


Sa  gekürzt,   als  daß  in  dem  von  PR  der  Text  so  durchaus  im 

^n  der  Ausdrucksweise  des  Verfassers  erweitert  wurde.     Für 

SttI  (iivdpa>7coo  Svco  spricht  übrigens  auch  die  Parallele  Z.  12 

^icl  TOO  tot)   xdto).     Umgekehrt  scheint  mir  an  folgenden 

iwoin  Anlaß  zu  sein,  mit  dem  Herausgeber  die  Lesungen  der 

.en  Klasse  denen  der  ersten  vorzuziehen:  108,17  &nb  tijc  T^c 
.vtpov  o!)aif)<;  Sa,  denen  aus  der  zweiten  Klasse  G  beistimmt;  k. 
T.  Y.  x^tpoo  o5o.  PR.  Für  M.  ist  jene  Konstruktion  nicht  unerhört. 
Vgl.  z.  B.  Am.  799, 14.  Hayduck  selbst  bemerkt  zur  Lesung  von 
SaO  >fortasse  recte<.  135,  23  f.  ootcöc  av  oIjiäi  oayic  Y^^T^öt^  Sa, 
. . .  Y^voito  PR.  Ueber  äv  c.  coni.  als  Potentialis  s.  u.  139, 2 
haben  Sa  den  bei  M.  sehr  verbreiteten  Nomin.  absol.  statt  des 
Genet,  absol.,  ein  Grund  zu  ändern  liegt  nicht  vor.  124, 18 f.  xal 
Yotp  xal  toö  Iv  xat<;  oxd<paic  58aTOc  6pÄ[tev  zb  jiiv  a&toö  xtvoft- 
(J16V0V  .  .  .  t6  5'  '^pe(jLoöy.  So  Sa;  x.  ^ap  (Yotp  fehlt  in  P)  ix  too 
Iv  T.  ox.  58.  6p.  zb  [t^v  xivoöjisvov  .  .  .  t.  8'  "^pefi.  CPR;  x.  7. 
X.  t.  I.  T.  ax.  08.  6p.  zb  [tlv  xiv.  . .  .  tö  8'  'l)pe(jL.  Hayduck.  Man 
vergleiche  zunächst  126,  3  f.  sl  y«?  't<öv  xtvoo(i^vTOv  tö  {t^  aätÄv  (a&- 
TOD  C)  xiveitai  tö  81  iipB\iBi.  Hayduck  bemerkt  yahz&v  fort,  delen- 
dumc.  Das  wäre  aber  abgesehen  von  der  Einhelligkeit  der  Ueber- 
lieferung  auch  deshalb  nicht  am  Platze,  weil  das  a&Tc&v  einen  sehr 
augenfälligen  Daseinsgrund  hat.  Ohne  dieses  Wort  könnte  die  Par- 
tition so  verstanden  werden,  daß  von  den  sich  bewegenden  Körpern 
a  und  b  wechselsweise  der  eine  sich  bewege,  der  andere  ruhe.  Durch 
die  Hinzufügung  von  ahz&v  wird  der  Sinn  unter  Ausschließung  jedes 
Mißverständnisses  dahin  festgestellt,  daß  bei  den  sich  bewegenden 
Körpern  jeweilen  ein  Teil  von  ihnen,  d.  h.  sowohl  ein  Teil  von  a  wie 
ein  solcher  von  b,  sich  bewege,  ein  anderer  ruhe.  Ein  ähnlicher 
Grund  ist  allerdings  124,19  für  die  Einfügung  des  Pronomens  nicht 
vorhanden.  Aber  auch  hier  erklärt  sich  der  Zusatz  leicht  daraus, 
daß  das  vorangestellte  und  von  dem  regierenden  Worte  durch  6pd&itsy 
getrennte  toö  .  .  .  ^SazoQ  für  das  Gefühl  den  Wert  einer  adverbiden 
Bestimmung:  >bei  dem  in  den  Wannen  befindlichen  Wasser«  oder 
eines  Adverbialsatzes:  »gießt  man  Wasser  in  eine  Wanne«  erhält. 
137, 7  ^roioövtai  (Subjekt  ta  z^zpinoSa)  Sa  nomzai  CPR.  Plurales 
Verbum  bei  einem  Neutr.  Plur.  als  Subjekt  ist  bei  M.  reichlich  zu 
belegen  (Beispiele  aus  Parv.  bei  Wendland  S.  164  s.  v.  neutrum); 
auch  rascher  Wechsel  zwischen  pluralem  und  singularem  Verbum  ist 
nicht  selten  (z.  B.  Part.  33,  22;  51,  7  ff.,  Parv.  47,  3  ff.).  142,  22  zer- 
stört das  von  Hayduck  aus  PR  aufgenommene  ipia\ii!vm  den  Sinn 
der  Stelle,  wie  auch  Aristot.  706  a  5  ff.  zeigt.  147, 18  gab  der  Arche- 
typus von  Sa  ta&n]c ,  dessen  Aufnahme  kein  genügender  Grund  ent- 


868  G5U.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

gegensteht.  Das  Gleiche  gilt  von  152, 18  licav  .  .  {liXXot,  158,  5  xav 
.  .  .  ixxö4)6tsv.  170, 1  ist  das  von  Sa  gebotene  SlScoxe  ifop  logisch  ohne 
Anstoß.  Darch  seine  nachfolgende  speziellere  Behauptung  begründet 
der  Kommentator  die  vorangehende  allgemeinere  des  Aristoteles. 

Schwanken  zwischen  beiden  Familien  kann  man  z.  B.  p.  106, 6  f. 
12 ;  an  ersterer  Stelle  geben  Sa,  an  letzterer  S  allein  die  Konstruk- 
tion ^rpooßdXXsiv  TÖv  lotöv  tcp  xovx$,  die  übrigen  Hss.  9cpooß(£XXety  t^ 
loT$  TÖv  xovt6v.  Die  Stelle  Z.  8  f.  zb  ^ap  «Xotov  äv  ttc  .  .  .  J)*^  jtsta 
j^dßSoD  {)  xovtoö  ^rpooßdXXcAv  xal  anepeiScov  töv  xovtöv  tcp  (OTcp  ^  SXXcp 
tivl  [t^psi  toö  ;rXo[oo  bringt  keine  Entscheidung,  da]  unsicher  bleibt, 
ob  npooß.  xal  intptiS.  t.  xovt.  zu  verbinden  oder  ;rpooß.  zum  Voraus- 
gehenden zu  ziehen  ist.  Auch  daß  Z.  12  a  mit  CPR  geht,  ist  bei 
dem  gleich  zu  besprechenden  Charakter  von  a  nicht  ausschlaggebend. 
Mangels  anderweitiger  entscheidender  Indizien  wird  man,  vom  Heraus- 
geber abweichend,  der  im  allgemeinen  zuverlässigsten  Hs.  S  zu  folgen 
haben. 

Was  nun  die  einzelnen  Textesquellen  innerhalb  der  beiden  Klassen 
betrifft,  so  verlangt  besonders  a  eine  aufmerksame  Betrachtung.  In 
den  meisten  Fällen,  in  welchen  ich  mich  hinsichtlich  der  Konstituierung 
des  Textes  mit  dem  Herausgeber  nicht  einverstanden  erklären  kann, 
kommt  die  Bewertung  von  a  in  Frage.  Zunächst  ist  festzustellen, 
daß  a  ein  von  S  unabhängiges,  ihm  koordiniertes  Glied  der  ersten 
Familie  bildet.  Mehrfach  bietet  a  den  vollständigen  Text,  wo  S  Aus- 
lassungen oder  Kürzungen  zeigt;  vgl.  z.B.  p.  146, 1  f.;  159,29. 
Femer  lassen  sich  manche  Differenzen  zwischen  S  und  a  mit  Wahr- 
scheinlichkeit darauf  zurückführen,  daß  S  und  a  auf  einen  Archetypus 
zurückgehen,  der  in  den  Wortendungen  zahlreiche  Kürzungen  und 
Ligaturen  enthielt,  die  von  S  und  a  verschieden  ergänzt  und  auf- 
gelöst, von  ersterem  öfters  auch  als  solche  übernommen  wurden. 
Daher  die  besonders  zahlreichen  Differenzen  zwischen  S  und  a  im 
Numerus,  der  Anwendung  von  Infinitiv,  Partizipium  oder  Yerbum 
finitum,  Aktiv  oder  Passiv  u.  ä.  Man  vergleiche  z.  B.  ^)  106, 19  |j.8XX 
S  (liXXoi  CPRa;  121,29  ffpoXaßd>y  SPR  TcpoXaßsiv  a;  139,23  (psp'  S 
^ipstai  a  fdpei  PR;  (139,24  ^dpetai  Sa,  PR  fehlen,  richtig  7^»;) 
139,  25  ^ep'  S  fdpeo^ot  a  ^^peivPR;  152,30  xditictetai  SPR  xaiticteiv 

a;  153,37  6p  S  ip^ic  a  6p»övPR;  155,3  6p4  SPR  6päcai  a,  icpoß&XXt) 
SPR  npoßdXXcDV  a;  155,5  ßpax&tepov  SPR  ßpaxotdpooc  a;  155,8  Sx^vtsc 
SPR,  i/ona  a;  155, 10 f.  I£  ivd^x^c  ^ivstat  SPR  H  ivaY^vstat  a;  155,20 
iva^xaiov  SPR  ivtk^Tai  a;    154,4  ocüxpirooc  SPR   o&^xoq  a;    156,2 

1)  Selbstverständlich  ist  zuzugeben,  daß  fär  viele  der  hier  aofges&hlten  FiUe 
auch  andere  Erklärungsweisen  in  Betracht  kommen. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn  2 


869 


acoxpcitooc  aPR  oa>[taTO<;^S;  159, 14  to6To>v  SPR  to&too  a;  160,  27  tcdv 
Xe^oiiivcov  SPR  too  XeYO|iivoo  a;  161, 12  Xi^ei  SPR  XiYtt>  a;  icpoevex^^v 

X 
SPR  7cp06vox-Jlv  a;  161, 14  ivevsx*^v  SPR  ivsvox-^v  a;  161,23  rj)  xot 
S  T<p  xoiX(|)  a  rj  xoiXiof  PR;  162,17  xataxp(S>itevot  xaXooitev  S  Ttata- 
Xpco(i6vot  xaXoooiv  PR  xataxpa>|i'6V0(;  xaXet  a;  162,  29 f.  tac  «posipifjfii- 
va<;  .  .  .  alTia<;  SPR  rJjv  7rpostpif](i6vif]v  .  .  .  altCav  a;  162,  31  to&c  it6Sa<; 
SPR  T71V  TuöSa  a;  165,20  xat^ovtec  SPR  xat^ooot  a;  165,29  jiivetv 
SPR  {t^v  a;  166,4  TcpoßeßYjxÖTa  SPR  Tcpoßeßi^xaot  a;  166,32  täv  «ts- 
poYtfiov  S  tTjc  WTdpoYOc  a  täv  TctspOYcov  PR;  170,  "2  fj  Tmjosi  SPR  taic 
Tcn^aeai  a.  Auch  in  einigen  Fällen,  in  welchen  Sa  zusammengehen, 
ist  die  Einwirkung  einer  Abkürzung  noch  erkennbar.  Sie  liegt  aber 
hier  weiter  zurück  als  der  Archetypus  von  Sa,  aus  dem  S  und  a  die 
Auflösung  bereits  entnommen  zu  haben  scheinen.  150,35  geben  Sa 
2xe  8e  icpoTfiY^Joetat  .  .  .  itj^erat  (Iffetat  a)  für  das  Stav  81  «pOTj^i^aiij- 

«X 

tat  ...  .  i^nzai  der  übrigen  (vgl.  dazu  auch  156,2  Sts  xd^t  S 
8te  xd(jLicT6i  a  Stav  xditirtiQ  PR);  154,2  (Uta  Sa  {i^ttc^ov  PR;  164,  12 
xoCXyjv  SaR  xotXiav  P. 

Als  S  koordinierte  Textesquelle  ist  nun  a  gewiß  von  großem 
Wert.  Gleichwohl  ist  in  seiner  Benutzung  Vorsicht  am  Platze.  Die 
Hs.  selbst  ist  uns  nicht  erhalten,  sondern  nur  die  nach  ihr  veran- 
staltete Ausgabe..  Hier  mag  manche  Unebenheit  geglättet,  mancher 
Anstoß  durch  Konjektur  beseitigt  sein.  Vielleicht  hatte  ein  solches 
Verfahren  bereits  in  der  Hs  selbst  seine  Spuren  hinterlassen.  Ich 
stelle  einige  charakteristische  Beispiele  zusammen: 

PR  S  a 

125,  23  f.  iv&'fY.yi  xb  xb  Xoixöv  (lipoc  •  •  tb  Xoiicbv  [lipoc  •  . 
Xoiicöv  (lipoc  ...  '^ipeitsiv    .  .  '^psiteiv  .  .  "^psiLei. 

125,  24 f.   §v  Spa  Sovd-        Iv  &.  8.   Svta   xb        §v  &.  8.  Sv  tb  AE 
(tei  Svta  ta  AE  ivepxe^o^    AEiv.  8.  $ocai(soSC)    iv.  8.  Sorai. 
86o  Sarai 

136,  33  ff.  favepöv  £pa  ^avepbv  £pa  Stt  i-  favspöv  £pa  Stt  i- 
Ott  Jvavrlox;  6  £vdpa>icoc  vavticoc  6  ävdp.  rJjV  vavtUoc  6  ävdp.  r^jv 
xal  6  Spy  ig  itjV  tcdv  axe-  mv  oxeXcbv  xd^t^^iv  to^v  oxeXo^v  x&ii^tv 
X(öv  xd|i(|)iv  noioövtai         Tcoieltai  ^roieicai  icpbctbv 

8pvtv. 

150,  35  f.  Stav  8i  wpo-        8x6  8i  9cpoii]7i) o e-        5x8  8k  wpoTj^i^oe- 
ir]Y'y)<3if)xat     6    ipioxspöc    xai  6.  &p.  &[&.,  Stj^e-    tat  6.  &p.  &it.,  S^e- 
üi[tO(;,  S4^Y)xat  81  xö  86£iöv    xat  8i  t.  8.  lo^.  xxX.     xat  8i  x.  8.  lox.  xxX. 
loX^ov,   7[vexai  xopxbv  (liv 
at  86Stal  nXeopaC  .... 


G4tl.  g«l.  Am.  1906.  Hr.  11 


61 


870  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  11 

a  hat  wohl  bemerkt,   daß  das  Futurum  nicht  am  Platze  ist  und 
demgemäß  die  zweite  Form  geändert,  ^cpoTjY^etai  aber,  das  nicht  so 
leicht  in  ein  Präsens  zu  verwandeln  war,  unangetastet  gelassen. 
PR  S  a 

136,  32  ÄijXov   oov  8ti        8i)Xov  8ti  icoisitai  xal  df)Xov  8ti  «ot- 

.  .  .  icoteitat  sttat. 

In  ähnlicher  Weise  ist  an  vielen  Orten  nachgeholfen,  Verderbtes 
korrigiert  und  zwar  bisweilen,  wie  sich  aus  dem  Vergleich  mit  an- 
derer Ueberlieferung  ergiebt,  falsch  korrigiert,  Gutes  durch  Besseres 
oder  vermeintlich  Besseres  ersetzt.  P.  116,20  hat  der  bei  Michael 
nicht  seltene  Indikativ  nach  idv^)  dem  Kom'unktiv  weichen  müssen. 
165,  3 f.  wurde  mit  xäv  et  .  .  .  ixCvoov  (xivöotv  S  xivcdev  PR),  IS»  äv 
i^ivovzo  die  reguläre  Form  der  irrealen  hypothet.  Periode  erstrebt. 
136, 16  ff.  ist  die  Konstruktion  inl  Sk  toö  Spvi^oc  .  .  .  Si^Xov  Srt  .  .  . 
9coiettai  durch  die  schulmäßig  korrektere  6  5k  Spvic  •  •  •  SijXov  Sti 
.  .  .  9cot£itai  ersetzt.  152,  1.5.18  ist  in  a  der  Konjunktiv  nach  tl 
(vgl.  zu  diesem  Gebrauch  die  Ind.  zu  Parv.  As. ;  et  xb^'i  z-  B-  noch 
Inc.  153,20;  161,27  [hier  hat  a  wieder  korrigiert],  As.  81,15  [A 
T6xot].  16  [aA  T6xot])  beseitigt.  151,28;  155,35  mußten  dat^poiv  und 
ddtspoc  den  Bildungen  toiv  k^poiv  und  6  Srepoc  den  Platz  räumen. 
113,32  sollte  Svexev  für  Svexa  wohl  den  Hiatus,  115,5  Sicep  fur  S  (es 
folgt  6p|i7]tixdv)  die  Kakophonie  beseitigen,  117,  5  tö  für  r^v  die  Kon- 
struktion der  unmittelbar  vorangehenden  angleichen,  wobei  vergessen 
wurde  auch  an  SijXijv  am  Schlüsse  des  Satzes  die  Hand  zu  legen. 
144, 11  wurde  icpötspov  Sk  icpoSiopCCetai  als  Tautologie  empfunden  und 
daher  die  Präposition  im  Verbum  gestrichen.  151,35  wird  das  Lemma 
tö  |iäv  Ydp  ooS^  8X(i)g  07cöaTif]|ia  g/^i  erklärt  durch  den  Satz:  toot^att 
tö  l^ov  (tdvov  ?va  icö8a  8Xa)c  t)icöorr]|i.a  xal  Ipstoji^  o5x  ^bi.  Da  &«ö- 
aTif](ia  hier  sowohl  in  dem  zu  erläuternden  Satze  wie  in  der  Erläu- 
terung vorkommt,  wurde  es  in  a  durch  das  synonyme  o7coxei|tsvov  er- 
setzt. 160,12  schien  tb  oxdXog  sachgemäßer  als  toöc  icöJac,  wobei 
übersehen  wurde,  daß  nun  12. 13  toog  icp^o^ev  und  to&c  5äio*sv  nicht 
mehr  paßt.  161,34  ([i^pic  oo),  163,10  (Xi^ei  8k)  sollten  die  Aen- 
derungen  grammatische  Besserung  bringen,  168,9  ist  eine  Flüch- 
tigkeit des  Verfassers  (to6too^ — lo/dtooc  mit  Beziehung  auf  icpoa^Uov 
xal  6ictcjÄCci)v  [oxsXäv])  korrigiert.  Aehnliche  Verbesserungsbestrebungen 
waren  wohl  auch  137,11  (Inf.  Fut.  statt  Aor.  nach  {liXXet),  125,23 
'^p8|jLoöv  tt  statt  tt  '^p8|ioöv)  maßgebend.  Dahin  gehört  femer,  daß  bei 
Anführung  aristotelischer  Werke,  die  mehrere  Bücher  umfassen,  der 
Singular  des  Artikels  durch  den  Plural  ersetzt  wird:  113,22  h  t^ 
Hepl  (füxf)«   SCPR   iv  Tow  H.  f  a;    vgl.  144,3;    146,23;    151,17; 

1)  S.  die  Indices  zu  den  Michael  gehörigen  Schriften  unter  dFv. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn2  871 

159,  14.  Häufig  sind  die  Lemmata  nach  Aristoteles,  gewöhnlich  der 
Vulgata,  korrigiert;  vgl.  107,8;  104,18;  116,16;  117,2;  118,16; 
123,31;  128,17;  130,27;  137,9;  141,23;  159,8.9;  163,22;  164,4 
(das  übergeschriebene  xal  wurde  als  Verbesserung  für  [it]  aufgefaßt 
und  verdrängte  so  dieses);  164,9;  165,15;  167,27;  170,22.23. 
Gelegentlich  verrät  sich  der  Korrektor  durch  Mißverständnis  des 
Textes,  wie  z.B.  114,31. 

Unter  diesen  Umständen  wird  man  da,  wo  a  allein  Ansprechendes 
bietet,  von  Fall  zu  Fall  zu  erwägen  haben,  ob  nicht  Konjektur  oder, 
im  aristotelischen  Texte,  Korrektur  nach  Aristoteles  im  Spiele  ist. 
Gewiß  verdienen  manche  seiner  Lesungen,  wie  117,8  Sk\  130,16  tb; 
166,5  oL^f oxipoK;,  Aufnahme;  beruhen  sie  auf  Konjektur,  so  verdient 
die  Konjektur  Beifall.  Ebenso  wird  man  114,14;  117,18;  142,11; 
149,25;  152,22  den  aristotelischen  Text  mit  a  herstellen  müssen. 
In  anderen  Fällen  aber  hätte  der  Herausgeber  zurückhaltender  sein 
sollen.  124,  6 f.  ist  überliefert:  (liaov  toö  a(l^(i.atoc  Xd^st  njv  xapSCav 
xal  t6  iv  aorg  ?cv8ö(i.a.  f7]al  Se  8ti  fg  te^v  C(p<i»v  xtvi^oet  St>vd(t6t 
(jL^  gy,  IvepYeCc^  8k  S&o.  So  GPR.  Statt  t^  tddv  Ccp^i^v  xtvi^aet  giebt  S 
1^  Td^v  C<i><i>v  xivYjaic,  a  t6  zm  C(p(uv  |i.laov,  womit  in  willkürlicher  Weise 
ex  coniectura  dem  Satze  ein  Subjekt  gegeben  ist.  Letzteres  fehlte 
jedenfalls  schon  im  Archetypus  unserer  Ueberlieferung  —  daher  die 
Verwandlung  des  Dativs  in  den  Nominativ  in  S  — ,  vielleicht  war 
von  Anfang  an  dem  Leser  überlassen,  es  aus  dem  vorangehenden 
Satze  zu  ergänzen.  Andernfalls  wäre  zu  vermuten :  (p-qoi  8k  Zzi  tooto 
Tg  T.  C.  xivi^Gsi.  Auf  keinen  Fall  durfte  die  Emendation  von  a  in 
den  Text  gesetzt  werden.  An  einigen  Stellen  hat  der  Herausgeber 
durch  Aufnahme  des  von  a  Gebotenen  die  grammatische  Eigenart 
des  Schriftstellers  verwischt:  127,14  geben  SCPß  äYttat  &<:  fiv  ixetvo 
älfot,  a  ÄY.  ö)<:  äv  4x.  ÄYig.  Vgl.  As.  103, 17;  Acropol.  ed.  Heisenberg 
I  p.  337  s.  V.  äv  post  relat.  c.  opt.  142, 18  schreiben  SPß  «d*otsv 
nach  iTcdv  bez.  iTceiSdv,  a  bessert  unter  Einführung  des  Singulars  bei 
einem  Neutr.  Flur,  als  Subjekt  icd^.  Der  Optativ  nach  iv,  idv,  8tav 
findet  sich  bei  M.  häufig ;  vgl.  Wendland,  Index  zu  Parv.  s.  v.  £v,  idv ; 
Hayduck,  Ind.  zu  Pg.  s.  v.  äv,  zu  Eth.  V  s.  v.  Sv;  Wallies,  Ind.  zu 
As.  s.  V.  äv;  s.  auch  Inc.  165,24.  Ebensowenig  anstößig  ist  es  bei 
M. ,  wenn  151,13  im  Nachsatze  der  irrealen  hypothet.  Periode  das 
£v  fehlt;  auch  hier  hat  a  gebessert,  und  der  Herausgeber  ist  ihm 
gefolgt;  vgl.  jedoch  die  Indices  zu  Eth.  V,  Pg.,  As.  s.  v.  Sv,  Eth. 
IX  467, 1,  X  616,24,  Heisenberg  im  Index  zu  Acropol.  H  p.  118  s.v. 
Äv.  Der  gleiche  Fall  wiederholt  sich  163,  2.  Vgl.  auch  163, 9.  158, 9  f. 
schreibt  M.  mit  gewohnter  Nachlässigkeit  in  der  Konstruktion  des 

61* 


872  Mtt  gel  Ans.  Id06.  Nr.  11 

Partizipiums  ^) :  aS6vatov  fop  |ii)  xtvttv  aotoo^  xivr^d^voi,  wo  a  xsvcövrs 
emendiert  170, 2  liest  man  in  SPR  SiSwLsy  o&v  {SiSmrtß  lap  S)  oö- 
toic  1^  ^ic  tooc  xöSac,  ?va  xoxiioavtec  ^  ^  m^ost  ßgi8tCs££y  iv 
rg  Yf ;  herzustellen  ist  ßaSiCotev,  nicht  mit  a  ßa8CC«»oty.  Zweifelhaft 
bleibt  Yorläufig  130,20;  £|i^  ist  hier  von  SCPR  als  indeklinabel 
behandelt,  a  schreibt  iiupoiv  entsprechend  Aristot.  703  b  33.  Die 
größere  Wahrscheinlichkeit  spricht  for  letztere  Form ;  die  Abweichong 
in  S  könnte  wieder  auf  gekürzte  Schreibung  zurückgehen.  Immer- 
hin wäre  die  Behandlung  des  Wortes  an  anderen  Stellen  des  M.  za 
beobachten.  141, 9  ist  das  Fehlen  von  i(szai  und  5^  in  SPR  in  dem 
Streben  nach  knappster,  stringentester  Formulierung  des  Gedankens 
begründet.  111, 23  f.  ist  der  Vers  Horn.  0  21  in  SPR  jo  wieder- 
gegeben :  oXX'  o&x  Sv  ipooait'  (ipooets  SC  IpCKHQt"  a)  ü  o&vod  ssSiovSe. 
Auf  dieses  ü  o&pavoö  ist  Z.  28  flf.  Bezug  genommen :  acte  &a  (lbv  «qö 
sbceiv  >iXX'  ob%  Sv  ipooaitec  iSi^Xoiasy  Sti  n&wq  iotlv  ax£yi]Toy,  &a  tt 
too  iicev£7xetv  Sti  >i£  o&pavoü<  ^vt£ato  Sn  bctbc  tou  o&pavoö.  Cm  so 
weniger  durfte  an  der  ersten  Stelle  mit  a,  dem  allerdings  hier  C 
zur  Seite  tritt,  aus  Aristoteles,  der  699  b  37  den  Vers  zitiert,  das 
homerische  Ü  o&pavd^ev  hergestellt  werden. 

Ich  reihe  diesen  FäUen  einige  andere  an,  in  denen  umgekehrt 
der  Bedeutung,  die  a  trotz  seines  oben  gekennzeichneten  Charakters 
für  die  recensio  besitzt,  nicht  genügend  Rechnung  getragen  ist.  Nicht 
selten  steht  a  zu  PR  gegen  S.  Soweit  an  derartigen  Stellen  nach 
Prüfung  der  Sachlage  a  der  Konjektur  nicht  verdächtig  erscheint, 
haben  diese  Lesungen  als  solche  des  Archetypus  der  beiden  Familien 
ein  bedeutendes  Gewicht,  das  nur  durch  schwere  innere  Gründe,  die 
der  betreffenden  Lesung  entgegenstehen,  aufzuwiegen  ist.  Der  Herans- 
geber hat  hier  des  öfteren  m.  E.  ohne  genügenden  Grund  zugunsten 
von  S  entschieden.  Es  wäre  zu  schreiben  106,25  iiiXXoi  (mit  CPRa; 
ebenso  106,19  [hier  {teU  S];  111,10.21  mit  CPRa;  125,18  mit 
SaCR);  128, 1  npb<:  td;  142,  2.  11  zb  Se^bv  xal  apiatepöv;  143,  21  dva- 
to^v  .  .  .  86<Jtv  (vgl.  108,6;  Eth.  V  8,  6;  As.  163,6.7;  Am.  703, 15); 
146,5  u.  157,25  ^icsiSt]  (146,35;  151,12  scheiden  sich  die  beiden 
Familien:  inü  Sa  licsiS^  PR);  147,28  tddv  lvae(ui>v  C^mov;  148,13  tö 
Sva>  xal  %6lz(ü  (voran  geht  tö  Ss£i6v  xai  dpiotepöv ;  so  Sa,  denen  Hay- 
duck  mit  Recht  folgt;  tb  Seftbv  xal  tb  &piGtepbv  PR) ;  150,33  sie  (die 
Ersetzung  durch  icpbc  in  S  hat  wohl  in  dem  vorhergehenden  elc  to5- 
Tciadtv  ihren  Grund);  TcapsxxXCvovtoc ;  152,2  icoii^ckxito ;  152,15  (löpta 
(die  Wahl  des  gleichen  Wortes  wie  im  Vorangehenden  entspricht  dem 
bei  M.  oft  zutage  tretenden  Streben  nach  höchster  Deutlichkeit.  S.  u.); 

1)  Vgl  z.  B.  die  von  Wendhuid  im  Index  zu  Pary.  s.  ▼.  partic.  gesammelten 
Stellen. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  873 

155,  27  Sttsp;  158,3  iclrso^at;  158,  4  iicoTd|ioi;  159,  23  iveSdxeto; 
159,28  u.  160,13  Tcpörov;  160,7  t^c  X^Secoc  (t6  [tij  SSfJc  tijc  X^Sewc 
z.B.  Parv.  45,30;  48,12;  73,10;  106, 14 f.;  Pg.  87,12;  As.  88,22; 
95,28);  163,7  Tcpoo^ioic,  8  Tcpoo^icov;  163,28  ta  (xal  ti  icpöo*ta  xal 
tot  dnio^a  Aristot.  712  a  2  f.);  167,29  [i^pt;  149,19.23  und  165,20 
ist  die  Wortfolge  nach  PRa  zu  ordnen.  Auch  154,24  würde  ich 
7cpoßdXX7]Tai  trotz  des  folgenden  Y^vYjtai  aufnehmen.  Ein  Zweifel 
bleibt  148,21,  wo  PRa  geben  Seigic  ivapYnjc,  S  8etY|i.a  Ivap^dc,  was 
Pg.  158,19  wiederkehrt;  163,23,  wo  X^y^^v  leicht  von  a  einer-  und 
dem  Archetypus  von  PR  andererseits  in  X^ei  gebessert  sein  könnte. 
Dieses  Xd^cov  ohne  die  Stütze  eines  Verbum  finitum  ist  bei  M.  unge- 
mein häufig;  vgl.  z.B.  126,17  (Xd^et  CPR);  142,6  u.  unten. 

Gegen  die  gesamte  Ueberlieferung  hat  der  Herausgeber  im 
ganzen  selten  entschieden.  Sehr  mit  Recht.  Wenn  irgendwo,  so  ist 
bei  einem  byzantinischen  Texte,  bei  dem  uns  alle  kodifizierte  Gram- 
matik und  Stilistik  als  Kriterium  im  Stiche  läßt,  der  äußerste  Kon- 
servatismus am  Platze.  Um  so  auffallender  sind  einige  schlecht  be- 
gründete Ausnahmen,  die  z.  T.,  scheint  es,  aus  einer  unwillkürlichen 
Anhänglichkeit  des  Herausgebers  an  die  klassische  Grammatik  her- 
zuleiten sind.  105,16  (o&S*  SXwc  äv  Y^VTjtat  xCvYjötc),  108,26  (o^x- Sv 
xtvi^oTQ  [xtvT^oY]  SaC  und  vielleicht  R  xtvi^oet  P]),  128,3  (oSt'  äv  avw -jj) 
gebraucht  M.  den  Konjunktiv  mit  £y  als  Potentialis.  Hayduck  setzt 
den  Optat.  mit  äv.  Vgl.  jedoch  Part.  96,5,  wo  allerdings  Hayduck 
gleichfalls  gegen  die  einstimmige  Ueberlieferung  emendiert,  ferner 
die  Stellen  im  Index  zu  As.  s.  v.  äv  c.  coni.  pot.,  Eustr.  in  eth.  Nie. 
p.  272,26;  304, 2 f.,  Anon.  in  eth.  Nie.  VH  p.  415, 25.27 f.,  Georg. 
Acrop.  ed.  Heisenb.  I  p.  337  s.  v.  äv.  Auch  111,22.28  scheint  sich 
dieser  Potentialis  in  das  Homerzitat  eingeschlichen  zu  haben;  an 
letzterer  Stelle  geben  CPRa  ipboti  te,  S  ip6oet5,  an  ersterer  SC 
ipöoete  a  Ip&oTjt'  PR  ipboait".  106,8  und  125,23  war  das  einstimmig 
überlieferte  el  (idXXot  beizubehalten  (s.  o.  S.  872  über  106, 25  u.  a. 
St.),  143, 18  mit  allen  Hss.  zu  lesen  tip  o&pav(p  und  dementsprechend 
Z.  17  mit  PRa  irpöc  t(p  (141,llfif.  allerdings  tb  ävco  ijrot  tag  ^iCac 
I^Qüot  Tcpig  th  Toö  icavtig  xdtci)  fjjv  7ijv...  t6  xdtci)  ijtot  toög  xXdSooc 
Äpöc  tö  TOÖ  icavTÖc  ävco  ijtot  t6v  oäpavöv,  aber  143, 22 f.  icpic  tote 
TOÖ  TcavTÖc  slot  nka^ioi^).  152,26  ist  überliefert  äXXa  (t^jv  zb  i^0D|i6VÖv 
ioTiv  äpa  xal  t6  XfJ^ov.  Hayduck  restituiert  ä.  |t.  t.  f^Yooitsvov  ^oTtv, 
<5oTtv>  äpa  X.  T.  X.  Dabei  ist  übersehen,  daß  äXXa  |i.-f)v  zb  T^Y^&iisvov 
(ohne  iotiv)  stereotype  Formel  ist;  vgl.  z.  B.  Procl.  in  remp.  1241,6 
Kroll,  Syrian  in  met.  177,30  Kroll,  Simpl.  in  phys.  329,11;  489,32 
Diels.  Man  schreibe  also:  äXXa  (t-fjv  xb  i^Yo6|i.evov,  loTtv  äpa  xal  tb 
X^Y^v.    Unrichtig  emendiert  scheint  mir  125,7.    Der  Zusammenhang 


874  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

(vgl.  Z.  3  f.  30  f.  und  Aristot.  702b  25  f.)  verlangt  Sbo  £lolv  ivsp7£uj, 
Iv  8^  8ov4|i.et  ^Cvetai  . . .  ^).  Dafür  geben  die  Hss. :  86o  elol  8ovd{tEi,  §v 
8fe  ivspYelof  Y^vetat ...  Es  war  wohl  durch  Versehen  an  beiden  Stellen 
geschrieben  IvspY^io^,  und  das  als  Korrektur  notierte  8Dvd(isi  trat  an 
die  Stelle  des  ersten  statt  an  die  des  zweiten  Ivsp^eio^.  Hayduck 
bessert  8&o  elolv  Ivsp^Elot  •  iv  Sk  Ivsp^etof  Ytvstat ...  —  Von  richtigen 
Entscheidungen  hebe  ich  besonders  die  über  109,2  hervor,  wo  durch 
C  einzig  und  allein  der  Weg  gewiesen  war,  während  die  sonstige 
Ueberlieferung  durch  die  Schlimmbesserung  eines  Lesei-s  getrübt  ist, 
der  den  Sinn  des  ivaXXdf  (s.  dazu  Eth.  V  22, 14  ff.)  nicht  verstand 
und  an  dem  Gleichlaut  der  beiden  Glieder  Anstoß  nahm.  —  P. 
126, 5 f.  interpungiere  man  (ooto)  ^ap  o6x  av  ^v  i|tepf)),  o&x...  (|»oxt^, 
ÄXX'  äXXo  tt,  sISoc  . . . 

Nicht  ganz  die  gleiche  ist  die  Grundlage  der  recensio  für  den 
Kommentar  zu  Ilepl  Ccpcov  |iop(o>v,  der  den  Anfang  des  Heftes  bildet. 
S  und  P  smd  auch  hier  die  hauptsächlichen  Hülfsmittel,  aber  R 
(und  C)  fehlen  und  anstelle  der  Aldina  tritt  die  zu  Florenz  1548 
erschienene  Editio  princeps  des  Petrus  Victorius  (a).  In  diesen 
drei  Textesquellen  fehlt  aber  ein  beträchtliches  Stück  des  zweiten 
Buches  (p.  25,3—36,11),  in  S  außerdem  der  Schluß,  p.  85,35 
bis  99, 20.  In  der  Lücke  des  zweiten  Buches  bietet  einen  Ersatz 
cod.  Paris,  gr.  1859  (F),  der  den  Kommentar  bis  42,1,  aber  in  stark 
abweichender  Fassung  enthält.  Man  muß  also  für  das  ergänzte  Stück 
mit  der  Tatsache  rechnen,  daß  wir  einen  wesentlich  anderen  Text 
vor  uns  haben,  als  der  des  Archetypus  von  SPa  gewesen  ist.  Die 
Abweichungen  von  F  in  den  erhaltenen  Partien  von  SPa  sind  in 
einem  Anhange  der  Vorrede  mitgeteilt.  Sie  zeigen  nicht  nur  Diffe- 
renzen in  der  Formulierung  des  gleichen  Inhaltes,  sondern  bieten 
auch  einige  z.  T.  bemerkenswerte  Zusätze,  wie  p.  IX  1.  5  ff.  die  >  de- 
mokritische c  Ableitung  des  Unterschiedes  der  Rund-  und  Spitzbärte*) 
sowie  des  hellen  und  dunkeln  Blicks  des  Auges  aus  der  verschie- 
denen Lage  der  Atomdreiecke;  die  Barttheorie  jedenfalls  nichts  an- 
deres als  ein,  vom  Scholiasten  freilich  für  bare  Münze  genommener, 
schlechter  Witz  auf  die  Atomenlehre  und  insofern  interessant,  da  hier 
ein,  vielleicht  auf  das  Altertum  zurückgehendes^),  Stück  antiato- 

1)  Etwas  aufiäUig  ist  aUerdings  das  Y^vexat,  wofür  man  ^orfv  (^v)  erwarten 
soUte. 

2)  'AtcoSwouc  6  ATjfioxptxoc  aitfav  xoü  touc  fiiv  oSuxaxov  xov  nwyoiva  lyti^y  '^"*» 
hk  Tcepupep^,  x^v  xpiytovix^v  xÄv  dx<$fi.u>v  Oiaiv  xal  7:apdtXXa&v  -jxiaxo.  Äv  f*iv  ^ip  ai 
xopu^al  xÄv  xptY(i>vu>v  xoxd  xo  dfxpov  x6)^u)ai  auveX&oüaat  xoü  7cti)y<Dvoc,  ö&jTcpoc  Y^vc- 
xat,  5v  5*  al  ßctaeic,  Tiepupep^c  xal  axpoyYuXoc  (itcpi^ip^  xal  axpojYiiXov  die  Ha.)! 

3)  Man  erinnere  sich  der  yon  Usener,  Epicorea  p.  LXVIII  ff.  besprochenen 
Persiflage  epikurischer  Lehren. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  875 

mistischer  Polemik  vorliegt.  Eine  Anspielung  auf  Plat.  Theaet. 
p.  155D  enthält  p.  XII  1.  15  f.  Darnach  wäre  die  Stelle  dem  Sinne 
nach  etwa  folgendermaßen  herzustellen:  ^aD|iaCö|i6va  "^äp  Tcod'oövtai. 
8ib  xal  1^  ^Iptc  <6aö|tavToc  Sx^ovog  oh  xaxö^g  oicö  täv  ico^Xatöv  iXtftzo}. 
avtixauaXXdtTstal  ti  xtX.  (Lemma  Aristot.  645a  3). 

Was  nun  die  Konstituierung  des  Textes  betrifft,  so  muß  es  etwas 
befremden,  daß  der  Herausgeber,  nachdem  sich  S  sowohl  für  Parv. 
wie  für  Mot.  und  Inc.  als  beste  Textesquelle  bewährt  hat,  in  Part, 
zunächst  einem  Eklektizismus  huldigt,  dessen  ratio  im  einzelnen  Falle 
nicht  immer  ganz  klar  ist,  um  schließlich  am  Ende  der  Vorrede  zu 
bemerken,  daß  er  sich  an  S  enger  hätte  anschließen  sollen.  In  der 
Tat  wird  man  an  einer  stattlichen  Reihe  von  Stellen  zugunsten  von 
S  zu  ändern  haben.  Glücklicherweise  handelt  es  sich  dabei  selten 
um  tiefergreifende,  sachlich  und  sprachlich  jsonderlich  wichtige  Diffe- 
renzen. An  den  meisten  Stellen  besteht  die  Diskrepanz  in  abweichen- 
der Wortfolge,  wie  z.B.  9, 12 f.;  13,3.5;  41, 15. 20. 21. 23 f.  25;  54,33; 
57,30;  69,23;  72,14.  Femer  wäre  mit  S  zu  schreiben  z.B.  5,19 
tootüov;  5,20  iTceiSt)  zh  (es  liegt  kein  Grund  vor,  zu  betonen,  daß 
sowohl  das  Feuer  wie  auch  die  Luft  aufwärts  streben;  vgl.  auch 
im  folgenden  ^f)  xal  oSwp);  39,19  xivoo|i.^votg;  40,31  tijc  8fe  icdXiv  t. 
ahz.  idp.  T.  8nf]x^«;  41,6  iS^c;  46,25  tsTpdtTroov;  53,25  o5te  yAp 
Xeaivei  ta&tTjv  oSte  Tc^ttst  xtX. ;  56,9  und  62,35  Soicep;  56,18  8ti 
ToöTo  S^  xal;  78,14  o?;  80,5  4v  rj  (vgl.  79,24;  88,36;  104,8;  8. 
auch  77,11;  dagegen  h  z^  77,13  [a  4v  tofg];  86,19f.;  95,33;  130,5); 
80,16  icoppcot^po) ;  81,35  und  82,9  xal;  84,14  ouxl.  An  einigen  Stellen 
berühren  die  Diskrepanzen  wieder  die  oben  erwähnten  grammatischen 
Punkte  (Freiheit  in  der  Konstruktion  des  Partizips  [Nom.  abs.  für 
Gen.  abs.],  Modusgebrauch  u.  a.).  Sofern  es  sidi  hier  um  Dinge 
handelt,  deren  häufiges  Vorkommen  bei  M.  nachgewiesen  ist,  ist  es 
methodisch  allein  richtig,  jeweilen  der  besten  Ueberlieferung  zu 
folgen;  so  z.B.  12,6;  60,24;  68,26;  69,1  f.  Wie  hier  Pa,  so  ändert 
a  für  sich  allein  auch  anderwärts  im  Sinne  einer  korrekteren  Syntax, 
z.B.  69,16;  77,25;  83,13,  wo  Hayduck  den  von  a  nach  Srav  herge- 
stellten Konjunktiv  nicht  hätte  aufnehmen  sollen.  Eine  für  M.  nicht 
unerhörte  Nachlässigkeit  der  Konstruktion  haben  Sa74,  lOf.  er- 
halten: To&Tcov  U,  Tootlött  z6  te  (statt  tö  te  geben  Sa  töte  P  too  te) 
Tüöppo)  Xiav  iic'  aXXijXo>v  8i6on)x^at  xal  tb  elvai  oove^i),  woran  der 
Herausgeber  um  so  weniger  hätte  Anstoß  nehmen  sollen,  als  im 
zweiten  Gliede  (xal  tö  slv.  gov.)  auch  P  beistimmt.  Ebenso  war  mit 
Sa  59, 33  zu  schreiben  el  t6xoi  (anderwärts  erlaubt  sich  M.  allerdings 
auch  sl  TÖxig,  s.  oben);  41,13  ist  icapaoxeoACov  wohl  verschrieben  für 
TcapaoxeodCot,  was  statt  des   von  Pa  gegebenen  Konjunktivs  aufzu- 


876  GMt  gtL  Au.  1906  Hr.  11 

nehmeD  wäre.  Die  Nkhtwiederholimg  der  Pripontk» 
Gliede  81,26  ist  aoffiaDeDd,  aber  doch  dvrch  Sa 
42|12  wird  t6y  ^op  durch  den  Zusammenhang  erfordert.  44.34  iBL 
gegen  aiabyicffiw^,  74,12  gegen  Xctjcst  (zom  intransitiTeB  Gehraach 
▼gl.  die  in  den  Indices  zu  Panr.  und  As.  s.  ▼.  Terzd^DeCea  Scefiea / 
nkhts  einzuwenden.  Zweifeln  könnte  man  12,30  aber  £üu&  (gcgeft  S 
spricht  die  Korresp<msion  SXXi]  —  izipa  Z.  28 f.);  71,33  x^  vaazm  zsi 
(vor  xr/op.).  Nicht  zahlreich  sind  die  SteDen,  an  denea  ich  mich 
Yom  Heraasgeber  abweichend  für  P  bezw.  Pa  gegen  S  bezw.  Sa  er- 
klaren möchte.  40, 12  hat  sich  Haydnck  nachtn^ich  (PwweL  p.  VI 
not.  2)  für  Sa  entschieden.  Gewiß  mit  Unrecht  Die  Epanalepsis  mmi 
insbesondere  die  Art,  wie  in  d^  Epanalepsis  der  Schaltsalz  ver- 
wertet ist  (s.  0.  S.  866),  tragen  den  Stempel  des  M.,  nnd  die  Ab»- 
lassang  des  St&ckes  in  Sa  wird  am  so  verdächtiger,  als  es 
Vorangehenden  Homoioteleaton  bildet.  48,27  durfte  mit  Pa  xod 
4ftat,  57,8  vielleicht  ßdXtioy  o&v  xal  tö  iv  za  lesen  sein.  Oefier 
glaube  ich  die  gesamte  Ueberlieferung  gegen  koiyekturale  Bessenrngen 
des  Herausgebers  in  Schatz  nehmen  zu  sollen:  9,32  belasse  man 
{xootov;  10,21  flL  wird  der  Beweis  f&r  das  mehrfache  Vorkommen  dem- 
selben Begriffes  in  der  Definition  ausdrucklich  allerdings  nor  for 
oxdxoov  geführt.  Gleichwohl  scheint  mir  kein  genügender  Grund  vor- 
handen, mit  Hayduck  10, 20  f.  xal  Sic  t6  Süroov  und  25  f.  nal  Sucoov 
zu  tilgen.  Nor  das  in  S  nicht  überlieferte  xal  xoXoiroov  xb  SüRxyv  (21) 
ist  Interpolation.  31,14 — 16  ist  unantastbar,  wie  die  Vergleichuag 
mit  Aristoteles  648b  30 — 32  zeigt,  doch  ist  nach  Ciov  ausgefallen 
S8c»p,  und  für  tpltoo  erwartet  man  Seot^poo.  Die  Beispiele  in  der 
aristotelischen  Folge  werden  vom  Kommentator  mit  der  Au&ahlung 
30, 28 ff.  in  Verbindung  gebracht;  die  di^  31,15  schien  auf  die  a!b- 
drjoic  30,31,  also  den  zweiten  Tropos  hinzuweisen,  während  die 
nächstvorangehenden  Beispiele  für  später  folgende  Tropoi  die  Belege 
boten.  Schreibt  man  31,14  für  tpCtoo  Ssot^poo,  so  ist  jeder  Tropos 
durch  ein  Beispiel  vertreten,  beläßt  man  tpitoo,  so  erhalt  der  dritte 
Tropos  zwei  Beispiele,  während  der  zweite  eines  solchen  völlig  ent- 
behrt; tilgt  man  mit  dem  Herausgeber  31,14 — 16,  so  erhält  man 
einen  Tropos  und  ein  Beispiel  zu  wenig.  41,7  ist  man  nicht  befugt, 
das  von  SP  mit  den  Aristoteles-Hss.  ESVY,  mit  denen  das  Exemplar 
des  Kommentators  auch  sonst  Verwandtschaft  verrät,  gebotene  at- 
|i&8(i)v  ((i|i|i&So>v  a)  in  das  i|i&So>v  der  aristotelischen  Vulgata  abzu- 
ändern. Formen  wie  iHiotiaq  49,17  (so  52,2  SÄcete  Pa.  Vgl.  Script 
orig.  Constant,  reo.  Preger  I  p.  76,13  icpoScboavtoc,  77,14  imSciKsxic  in 
einem  Zweig  der  Ueberlieferung.  Diese  Flexion  ist  im  Neugriechi- 
schen zur   herrschenden   geworden   [Thumb,    Handb.    d.   neugriech. 


Ck>mmentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn2  877 

Volkssprache  §  166,5]),  durften  nicht  wegkorrigiert  werden.  60,8 
ergeben  die  Lesungen  von  Pa  (ivaTcvJ))  und  S  (ivaTcvei)  ivaTcvJ),  das 
nicht  in  ivaicviig  zu  bessern  war.  Ebenso  war  m.  E.  zu  belassen 
60, 35  ip^iooc,  68, 23  f.  oovbtatat  —  ivCoTarat  (nach  oooyiYYYjTat.  Mo- 
duswechsel ist  bei  M.  wie  bei  Byzantinern  überhaupt  nicht  selten 
[Parv.  143,7;  As.  6,2;  41, 25 f.;  71,28;  92,20;  103,27;  123,3f.u.ö.; 
Heisenberg  Acrop.  I  337],  tva  c.  indic.  ist  nicht  unerhört  [Preger 
a.a.O.  133  s.  v.  Modi].  Ein  Beispiel  bietet  Mich.  Parv.  131,20), 
95,10  akiav  ^vTuep  ohne  Einfügung  von  St',  ebenso  98,12  aeXaxcttST) 
£XX7]v,  96, 5  GovepYijaiQ  (über  £v  c.  coni.  als  Potentialis  s.  o.  S.  873). 
Zweifel  an  der  Berechtigung  einer  Aenderung  hege  ich  angesichts 
der  Schreibweise  des  M.  oder  der  paläographischen  Sachlage  z.  B. 
53,32  (Svteg);  57,35  (das  nur  in  a  stehende  al  ist  zur  Not  entbehr- 
lich; aber  voraus  geht  xal,  das  einen  frühen  Ausfall  erklärlich  macht); 
70,10  (xal).  Andererseits  ist  mir  an  folgenden  Stellen^  an  weichen 
der  Herausgeber  der  Ueberlieferung  folgt,  die  Notwendigkeit  einer 
Emendation  teils  wahrscheinlich, .  teils  gewiß:  11,12  iTcetdi]  XCav  av- 
öftota  Y)  xal  Tcdvtig  (Stay^povta)  icpög  äXXijXa  tOYX^voootv.  27,37  töv 
£XXo>v  alo^i^GSüdv  xal  6|ioio|iepd^v  Svtcov  xal  aTcXd^v,  ok  ippi)^,  (olov) 
oSaToc  (inC)  toö  i^i^aXiiioö  xal  tf^c  ^^^scug  xal  alpoc  iid  rjjc  ixoijc  •  •  • 
49,35  el  [iT^  TIC  a&Töv  zb  aTÖ|ia  iTctxXivst  (ItcixXCvyj  S  IaixXCvsi  Pa)  xal 
olovsl  xüpTwost  ^  xotXavet.  54,20  iTctYXcöTtCSog]  yXc&tttjc;  von  der  Be- 
wegung der  Zunge,  nicht  von  der  des  Kehldeckels  ist  in  dem  folgen- 
den mit  ^Ap  angeknüpften  Satze  die  Rede;  jeder  Zweifel  ist  ausge- 
schlossen durch  Arist.  p.  664  b  33.  54,27  ij  rtg]  ^ttc.  59, 14  f.  X^yst  Sft 
xal  T^jv  |t6YdXTf]v  yX^ßa  irdvia  ^xeiv  xa  Svai|ia  (yavepöc)»  Svia  8^  rfjv 
aopdiv  ayavÄc;  vgl.  Aristot.  p.  668  a  3.  61,7  xb  (überliefert  tö  ts) 
StyofJ  [ifev  etvai.  62, 1  t)  <'^)  aiod'YjTtX'J]  ^^X^'  8^»  ^5  [xal]  tot?  «oolv. 
84,23  4x8t)XöTepov]  hi  87)XöTepov.  78,30  ist  mir  i|i6v6öÄat  &7cö  =  »sich 
wehren  gegen«  sehr  verdächtig.  Ist  nicht  aizb  zu  schreiben?  Anders 
als  es  vom  Herausgeber  geschehen  ist,  möchte  ich  emendieren  97, 30  ff. 
Der  Satz  ta  ^oyzol  TcoXXd  ßpdYXta  . . .  5|ia  t(p  ISeX^etv  toö  SSotoc 
^vi^Gxet  bildet  die  Antithese  zu  dem  vorangehenden  (24  ff.)  Ivia  to^v 
iXovTCöv  ta  ßpdYXta  iXdttco  . . .  ISw  'coö  oSaroc  Sövavtai  Ci^v  icoXov  XP^vov, 
war  also  durch  Sk  mit  ihm  zu  verknüpfen.  Nachdem  dieses  8h  durch 
Versehen  einem  [i^v  gewichen  war,  wurde  33  ff.  als  Antithese  diesem 
Satze  mit  td  8k  S^^vta  ßpdyxt*  iXCya  . . .  Jovatat  l^co  9coXoy  xP^vov  Cijv 
der  wesentliche  Inhalt  von  24  ff.  gegenübergestellt,  doch  so  daß  der 
Satz  in  der  Allgemeinheit  seiner  Behauptung  (td  8k  Ixovta  ßpdfxta 
äXC^a,  also  alle)  sowohl  jenem  vorausgehenden  Satze  (24  ff.  IviaxtX.) 
wie  auch  Aristot.  p.  696  b  20  widerspricht.  Es  ist  also  30  herzustellen 
td  S'  Sxovta  und  33 — 35  td  8k  —  xata(|)&£8a>c  zu  tilgen.    34, 33  f.  ist 


878  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

Überliefert  &<;  iv  arf^tin^  woTcepsi  iott  toöto,  rg  ts  xapSio^  xai  täte 
tpke^L  Hayduck  tilgt  ^aicepsC;  mir  scheint  es  richtiger,  in  Berück- 
sichtigung der  von  Brinkmann,  Rhein.  Mus.  57  (1902)  S.  481  ff.  er- 
örterten Schreibergewohnhei  0)^  durch  a>a7i:6pel  zu  ersetzen').  46, 18 f. 
wäre  auch  möglich:  ta  ydp  ooro)  xivoo|ieva  et  [i'j]  xtX.  Vom  Heraus- 
geber abweichend  zu  interpungieren  ist  7,24  (t^viq  Sx^ftev),  56,15 
(^6p(i.ÖT6pa  Std),  57,32  (eticetv  otcö),  63,22  (§isa7cap|iiva  ve^ppoeiS*^). 
37, 37 ff.  waren  die  Worte  6  |t^v  ^ap  ...  xb  dep|i.öv  rip  4>oxPV  ^^  (frei 
wiedergegebene)  aristotelische  Darlegung  durch  Anführungszeichen  zu 
kennzeichnen  (Inhalt  des  iTud^et,  vgl.  5,31;  39,4;  148,2  und  unten 
S.  892).  47, 5  war  zu  interpungieren  xal  8td  xi  oxXYjpöv,  Xi^et  ott ; 
ebenso  61,20  xal  nob  cd  TOtao'cai  fXdßec  t^iavtat,  X^et  ort,  über  die 
Konstruktion  s.  u.  S.  892  ^). 

1)  Ein  sicheres  Beispiel  für  diese  Gewohnheit  bietet  P  Part.  94,38S^ 

2)  Eine  vom  Heransgeber  nicht  genannte  TextesqneUe,  die  immerhin  einer 
Erwähnung  wert  ist,  bildet  der  Kommentar  des  Nicolans  Leonicns  Thomaeos  znm 
ersten  Bache  von  Aristot.  de  part.  anim.  Derselbe  wurde  1540  von  dessen 
NeflFen  Magnus  Leonicus  veröffentlicht.  Seit  dem  Tode  des  Verfassers  war  aber 
damals  nach  der  Vorrede  des  Herausgebers  schon  längere  Zeit  verstrichen.  Der 
Kommentar  des  Thom.  ist  also  um  eine  Keihe  von  Jahren  älter,  als  die  1548  durch 
Petrus  Victorius  veranstaltete  editio  princeps  des  Michael.  Für  Thom.  bildet  nun 
M.  eine  HauptqueUe.  Er  wird  mehrmals  als  Ephesius  ausdrücklich  zitiert,  so  p.  163. 
165. 168. 183. 184. 188.  189. 190. 191  (»virum  hunc  optime  de  philosophia  meritumc). 
193.  225.  237.  An  einigen  Stellen  äußert  Th.  gegenüber  der  Interpretation  des 
M.  Widerspruch  oder  Zweifel.  So  bekämpft  er  p.  189.  191  sehr  mit  Recht  die 
Ansicht,  daß  Arist.  p.  642  a  35  ff.  auf  die  platonische  Darstellung  des  Atmungs- 
prozesses gehe  (Mich.  p.  9, 4  ff.),  indem  er  hervorhebt,  daß  Piatons  Lehre  über 
diesen  Punkt  eine  ganz  andere  sei.  P.  237  äußert  er  Bedenken  gegen  die  Mich, 
p.  17, 25  ff.  vorgetragene  Deutung  von  Arist.  Metaph.  p.  1038  a  19.  Weit  zahl- 
reicher aber  sind  die  Stellen,  an  denen  er  sich  an  M.,  und  zwar  oft  längere 
Strecken  hindurch,  so  anschließt,  daß  sein  Text  einer  üebersetzung  des  M.  ziem- 
lich gleichkommt  und  ein  Urteil  über  die  Hs.  (oder  Hss.?)  des  Byzantiners  ge- 
stattet, deren  er  sich  bediente.  Dieselbe  stimmte  teils  zu  S  teils  zu  Pa.  Man 
vergleiche :  M.  7, 23  tojttjv  5£,  ?pT)a{,  ttjv  ^px^^v  xal  ahiay  . . .  l^ofACv  S  Taura  xtX. 
Pa  hoc  autem  principium  ingerit  et  hanc  causam  . . .  nos  habere  T.  173  —  M. 
8,36  &(5Tt  S,  das  in  Pa  fehlt,  quam  ob  rem  T.  188  —  M.  10,2  -(iyo^t^  S  Y^verai 
Pa  inventam  fuisse  T.  198  —  M.  14, 6  f.  86o  U  S  xal  86o  Pa  et  duo  T.  216  — 
M.  14,22  \jTz6norjs  xal  dfirouv  S  dcTrouv  xal  {>ir«^7rouv  Pa  pedatum  et  impedatum  T.  220 
—  M.  18, 12  8^ov  U  hzis  S  8^ov  U  laxw  Pa  opus  autem  est  T.  236  —  M.  18, 15  f. 
xe(aOu)  li  Zxt  xal  t6  S^ttouv  xeXeuta^a  hzX  xal  iT/iavri  Sia^opd  xal  eCc  dfXXac  Staipcl- 
a&ai  fi.7)  SuvafiivT)  S,  für  TeXeutafa  geben  Pa  TcXeutatov;  ponatur  igitur  bipes  pro 
ultima  et  individua  sicut  est  differentia  quae  in  alias  secari  non  potest  —  M.  18, 15 
äpa  fehlt  Pa  (in  P  am  Rande  nachgetragen),  igitur  T.  236  —  M.  19, 9  xol  t6  5{-ouv 
fehlt  Pa  et  bipes  T.  239  —  M.  20,21  Sia'^popa  cp6a«  vevJfAtafrai  Pa  SicE^opoi  ^uactc 
vo|jL{CovTO(t  S  natura  ipsa  sunt  separata  T.  244  —  M.  23, 13  nepl  t^c  ^tjc  p-op^f^c 
Pa  Ticpl  TTjc  Tou  5Xou   fAopcp^c  S  de  universa  forma  T.  258  —  M.  23, 14  Cv  xe  toCc 


Comraentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn2  879 

Mit  dem  vorliegenden  Bande  sind  die  in  das  akademische  Korpus 
aufzunehmenden  Schriften  des  Michael  abgeschlossen,  und  es  ist  jetzt, 
da  alles  in  wohlbearbeiteten  Texten  vorliegt  und  Indices  sprach- 
liche und  sachliche  Vergleichungen  erleichtern  ^),  an  der  Zeit  zu  ver^ 
suchen  über  die  gesamte  Hinterlassenschaft  des  Mannes,  die  erhal- 
tene und  die  verlorene,  einen  Uebeyblick  zu  gewinnen.  Parv.  149,8flF. 
zählt  M.  selbst  eine  Reihe  von  ihm  verfaßter  Kommentare  zu  aristo- 
telischen Werken  auf  und  stellt  eine  Erklärung  von  Ilepl  xp«opt'^'^«ov 
für  die  Zukunft  in  Aussicht.  Wendland,  der  praef.  p.  V  die  Stelle 
bespricht,  hat  wahrscheinlich  gemacht,  daß  diese  Aufzählung,  soweit 
sie  die  Kommentare  zu  zoologischen  und  anthropologischen  Schriften 

xaxd  T^x'^Tjv  xal  h  xotc  (puotxoTc  Pa ;  für  h  toIc  (puotxolc  schreibt  S  xaxd  ^uaiv ;  non 
magis  in  arte  constantibas  quam  in  natoralibus  rebus  T.  258  —  M.  10, 20  f.  26 
wird  die  Lesung  von  S  (s.  o.  S.  876)  durch  T.  200  bestätigt  —  Von  Interesse  ist 
T.  244  .verglichen  mit  M.  20, 22  f.  Hayduck  tilgt  hier  6  (Jpvtc  xal  6  ix^J«-  Neben 
dem  grammatischen  Bedenken  kommt  in  Betracht,  daß  in  dem  Passus  sonst  nur 
von  der  gleichen  Benennung  entsprechender  Körperteile,  nicht  der  Lebewesen 
selbst  die  Rede  ist.  Dem  Satze  x^va  ydp  xotvwvfav  ^uaecuc  xal  TauTÖxr^xa  Exet  Stiele 
xal  Tcrepov  t)  ^pdyyiioy  xal  itvc6|jl(uv,  tuaxe  uic  f^^a  xi;  ^6aic  \ofl(jt(S%ai  [6  ^pvu  xal  ir 
^X^uc]  xal  Old  xouxo  xal  xotvtp  6\6[iaxt  Trpo;  xj  xauxdxT]xi  xrjc  ^uaetuc  irpoaaYopeueadai; 
entspricht  bei  T.  innerhalb  eines  längeren  aus  M.  übersetzten  Abschnittes  Folgen- 
des: quamnam  enim  naturae  communionem  convenientiamve  alae  habent  cum 
squammis  aut  branchiae  cum  pulmonibus,  ut  una  quaedam  illarum  partium  natura 
tnerüo  esse  censeatur  avtstiue  et  piscis  eiusdem  dicantur  esse  naturae,  quamobrem 
communi  quodam  nomine  haec  adeo  distincta  inter  se  genera  recte  appellari  non 
poterunt.  Leider  ist  durch  die  von  T.  vorgenommene  Umgestaltung  der  genaue 
Wortlaut  seiner  Vorlage  nicht  mehr  erkennbar.  Aber  das  steht  fest,  daß  er  als 
Subjekt  von  wc  |ji{a  xt;  9601;  ).ofiZt<3%ai  die  vorher  genannten  Körperteile,  nicht 
Vogel  und  Fisch  verstand.  Wo  er  6  ^pvi;  xol  6  ix^\)z  las,  ist  nicht  klar  zu  er- 
kennen. Nicht  ausgeschlossen  wäre  durch  seine  Uebersetzung  xal  Std  xouxo  xal  6 
opvtc  xal  6  iyßb^  xotv<ji  iWjiiaxi  Trpoc  x^  xaux((x7)xt  x^c  ^(xstrnz  icpoaaYopc6codai.  Da- 
mit würde  sich  6  opvtc  xal  6  ix'^jz  als  Interpolation  verraten,  die  aus  einer  Rand- 
bemerkung entstanden  in  verschiedenen  Ueberliefcrungszweigen  an  verschiedenen 
Stellen  sich  in  den  Text  einschlich.  —  M.  22,8  wird  durch  T.  249  cum  totius 
corporis  tum  membrorum  partiumque  Hayducks  Konjektur  ^ou  xoü  atupLaxoc  be- 
stätigt.  Natürlich  bleibt  die  Möglichkeit,  daß  der  Uebersetzer  gebessert  hat. 

1)  Dem  Wortindex  des  vorliegenden  Bandes  hätte  ich  etwas  engere  Fühlung 
mit  den  Indices  zu  den  anderen  michaelischen  Schriften,  besonders  mit  dem  Wend- 
lands zu  Parv.  gewünscht.  Die  sprachliche  Uebereinstimmung  würde  so  schärfer 
hervortreten.  Jetzt  fehlt  bei  Hayduck  manches,  was  Wendland  berücksichtigt  hat 
und  was  sich  aus  Part.,  Mot.  oder  Inc.  gleichfalls  belegen  ließ.  Ich  gebe  nur 
einige  Nachträge,  die  sich  mir  gelegentlich  darboten:  d{i(pope6c  43,6  (in  gleicher 
Verbindung  wie  Parv.  110,4);  Sv  c.  opt.  165, 23 f.;  iizayfuXtiy  55,10;  145,27; 
151,19,  vgl.  die  Indices  zu  Parv.  As.  und  die  dort  verzeichneten  Verbindungen 
(doacpü);  Part.  55,10;  ^t7cu>c  ebenda).  Das  in  seiner  oftmaligen  Verwendung  für 
M.  charakteristische  indytis  fehlt,  ebenso  aacpij  hk  xd  i^c  (Xoiica').  Andere  Lieb- 
lingsausdrücke, die  im  Index  vollständiger  zu  berücksichtigen  waren,  s.  oben  im 


880  Gdtt.  gel.  Asa.  1906.  Nr.  11 

betrifit,  chronologisch  geordnet  ist^).  Hinzufügen  ließe  sich,  daß 
Part,  und  Inc.  zusammen  herausgegeben  zu  sein  scheinen.  So  erklärt 
sich  neben  der  Form  der  Anführung,  IIspl  Ccpoiv  {lopCcov  xal  «opeCoc 
am  besten  auch  die  Tatsache,  daß  Part.  92, 34  ff.  mit  den  Worten  tt 
Si  T&  Soo>  xal  H(ü  xal  iceptf  epdc»  BXptizal  (jloi  Iv  täte  eU  'cb  IIcpl  Ctp^v 
icoptlac  cxoXaic  Inc.  135, 24  ff.  zitiert  wird,  während  es  umgekehrt 
Inc.  151, 17 f.  heißt:  Sta  xb  elpTjx^ai  taöta  xal  iv  rQ  Ilepi  C«p»v 
|iopC<ov  xal  i^(iitc  iv  täte  Ixelvcov  cs^oXatc  Ixavö^c  ^epl  to&tcov  elpipUvat^. 
Auch  daß  Mot.  112,18  Ilepl  C(t><i»v  (topicov  und  Ilspl  C<f><ov  iröpetac,  bez. 
die  Kommentare  zu  den  beiden  Schriften  verwechselt  werden,  wird 
durch  diese  Annahme  leicht  verständlich.  Ein  weiteres  Werk  wird 
Pg.  88, 7  ff.  angeführt  mit  den  Worten :  efpTjtat  Sk  icspl  vob  iipo^  Sitok 
8ia3Copd>(i.66st  ta  y(jp&\iata  a6t6c  ^"il  XP«ow&|tevog,  ixptßfi&c  i^(Ltv  h  t^ 
SsDtipc^  Xd^cp  Ilspl  <|)oxi2c.  Mit  der  Vorbereitung  dieser  Schrift  bringt 
Wendland  a.  a.  O.  p.  VI  Anm.  1  a.  £.  die  Parv.  85, 10  erwähnten  Ge- 
spräche wohl  mit  Recht  in  Verbindung.  Pg.  ist  nun  vor  Parv.  abge- 
faßt und  in  der  oben  erwähnten  Aufzählung  genannt.  Also  muß  auch 
der  >866t8poc  Xöyoc  icspl  <|)ox>2<;«  zur  Zeit,  als  jene  Aufzählung  nieder- 
geschrieben wurde,  bereits  vorhanden  gewesen  sein.  Dafl  sie  nicht 
genannt  wurde,  ließe  sich  durch  die  Annahme  erklären,  daß  sie  sidi 
nicht  als  Kommentar  zu  Arist.  ic.  ^oy(ifi%  sondern  als  selbständiges 

Text  S.  885  ff.  Für  nicht  sehr  häufige  V^endongen,  wie  xotra  xd^Orrov  (auch  8S,16X 
icaptYxX(vt(v  (auch  150,88),  ^pxT)ati^c  (auch  116,4)  wäre  ToUständiges  SteUenyer- 
zeichnifl  wünschenswert.  Ai((c>  das  hier  wie  in  anderen  Schriften  als  O^fensats 
zn  Siflcvota  h&ofig  ist,  fehlt  S.  182  (den  Gegensatz  zeigen  einige  der  s.  y.  Scivoca 
gesammelten  SteUen,  wie  120,14;  128,81;  145,20).  Unter  TcXi^pTjc  yerdiente  der 
z.  6.  52,28;  136,14;  148,4  heryortretende  Gebrauch  Berückdchtigiing,  vgl.  Parr. 
Pg.  As.  Ebenso  ist  die  Verwendung  von  t^cuc  44,22;  107,16;  6,28;  57, 1.2  (an 
den  letzten  SteUen  =  saltem)  bemerkenswert.  S.  192  ist  zu  de  part.  anim.  nach- 
zutragen 170,29.81,  S.  193  zu  den  Corrig.  p.  153,86  irc^vric. 

1)  Ein  weiteres  Zeugnis  enth&lt  Inc.  142, 1  f.,  wo  Mot  als  zukünftig  er- 
scheint —  Da8  As.  später  verfaßt  wurde  als  Parv.,  was  sclion  durch  das  Fehlen 
▼on  As.  in  der  Liste  in  Parv.  wahrscheinlich  ist,  wird  dadurch  bestätigt,  daß  As. 
186, 6  ff.  ein  in  die  Erklärung  von  Ilepl  (xvi^fArjC  xocl  dvafjiv/^aecuc  gehöriges  Beispiel 
(Pary.  82, 2  ff.)  verwendet. 

2)  Einen  zweiten  Weg  der  Erklärung  eröffnet  die  Tatsache,  daß  diese 
Kommentare  wahrscheinlich  aus  mündlicher  Lehrtätigkeit  hervorgegangen,  bei 
solchen  Schriften  aber  Anführungen  der  der  Herausgabe  nach  späteren  durch  die 
früheren  gäng  und  gäbe  sind. 

8)  Womit  natürlich  engster  Anschluß  an  Aristoteles  nicht  ausgeschlossen 
ist.  Die  Richtung  des  M.  bringt  es  mit  sich,  daß  auch  seine  freien  Arbeiten  im 
wesentlichen  eine  erklärende  Darstellung  der  aristotelischen  Lehre  gewesen  sein 
werden.  Die  Grenzlinie  zwischen  Originalarbeit  und  Kommentar  wird  dadurch, 
wenigstens  was  den  Inhalt,  nicht  die  Form,  angeht,  mehr  oder  weniger  verwischt. 
Die  Kollegien,  auch  soweit  sie  nicht  als  Exegetika  auftraten,   gingen  wohl  anter 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII  2  881 

Werk  gab.  Auf  diese  Schrift  wird  sich  auch  die  Verweisung  Pg. 
84, 28  ff.  beziehen,  wonach  M.  über  den  ^öpadev  voö^  >iv  SAXoig  &xpt- 
ß^oTspovc  gehandelt  hatte  ^).  Des  weiteren  sind  zu  der  Aufzählung  in 
Parv.  noch  hinzuzufügen  der  Kommentar  zu  Eth.  Nie.  V  (Comm.  in  Ar. 
Gr.  XXII 3),  IX.  X  (Comm.  in  Ar.  Gr.  XX  p.  461  ff.)  und  der  hier  (in 
eth.  Nie.  IX  p.  467, 5)  erwähnte  zii  den  aof  tat.  SXe^xot,  der  letztere, 
wie  wir  sehen  werden,  identisch  mit  As.  Außer  den  aof .  SX.  hat  M. 
noch  weitere  Stücke  des  Organon  erklärt:  die  'AvaXot.  icpöt.  nach 
As.  58,26;  10,9  (vgl  1,3 f.;  194,10  iv  t<p  Ilepl  ivaX6oea)c  ooXXotujjiäv 
|i.6(Ladi^xa|i8v;  dazu  Comm.  in  Arist.  IUI  p.  XYIU),  die  'AvaX.  Sct. 
nach  As.  1,4  f.,  Eth.  V  p.  9,31,  Am.  475,20;  789,35,  vgl.  Am.  585,15 
a>c  ^v  Totc  Totdpoic  'AvaX.   &|i.ddo(i.6V '),   die  Topik  nach  As.  4, 27 f.; 

den  seit  Aristoteles  hergebrachten  Namen  für  die  einzelnen  Dissiplinen.  Dasselbe 
Kolleg,  die  gleiche  literarische  Arbeit  konnte,  sobald  man  anf  die  Form  kein  Ge- 
wicht legte,  bald  mehr  unter  den  Gesichtspunkt  einer  Behandlung  der  betre£fen- 
den  Disziplin,  bald  mehr  unter  den  einer  Kommentierung  der  betreffenden  aristo« 
telischen  Schrift  gerückt  werden.  Lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  As.  109, 16  f. 
%a\  ToüTo  48e{Jafi.tv  h  x^  AtaXixTixj  iv  -nj)  6yh6i^  täv  ToitixÄv.  Es  'w&re  der  Gipfel 
verschrobener  Ausdrucksweise,  die  sonst  nicht  zu  Michaels  Schwächen  gehört, 
wenn  hier  in  einem  und  demselben  Zitate  bei  Bezeichnung  des  aristotelischen 
Gesamtwerkes  und  eines  einzebien  Buches  aus  demselben  yerschiedene  Namen  f&r 
dieses  Werk  angewendet  wären.  AiaXtxxixi^  geht  vielmehr  auf  die  Behandlung 
dieser  Disziplin  durch  M.,  und  die  Stelle  ist  zu  übersetzen:  »auch  das  haben  wir 
in  der  Schrift  (im  Kolleg)  über  die  Dialektik  bei  Interpretation  des  achten  Buches 
der  (aristotelischen)  Topik  gezeigt.«  Gleichwohl  ist  diese  Dialektik  die  n&mliche 
Schrift,  die  As.  4, 27  f.  als  Kommentar  zur  aristotelischen  Dialektik  zitiert  wird. 
—  Beiläufig  mache  ich  auf  das  merkwürdige  Nebeneinander  aristotelischer  Schriften 
und  wissenschaftlicher  Disziplinen  aufmerksam,  das  in  dem  von  M.  Treu,  Byz. 
Zeitschr.  2  (1898)  S.  96ff.  veröffentlichten  byzantinischen  Schulgespräch  vorliegt. 
Nach  Aufzählung  der  Bestandteile  des  Organon  heiit  es  hier  S.  99 :  T(  (jirrcc  x6 
'OpYovov  Sei  dvoYtvuioxciv ;  <I>uatxgt*  (ud*  ä  t6  IIcpl  oOpavoü,  xd  MtxiiopOf  td  Mrcd  xd 
^uoixdf,  Td  Iltpl  CH><ttv  fiiop{(ttv,  xd  Iltpl  ycv^octoc  xal  ^^pSc,  xd  Ilcpl  Ccpo»  icopc(«c, 
TO  Ilepl  ato^i^oeuic  xal  a^adi^tiöv,  x6  IIcpl  ^u^^c  xal  $oa  dXXa  toü  'ApcatoxiXouc  *  xi^v 
'p7)Toptxi]v  aOroü,  xdc  lloXixt^a;  (Verwechslung  mit  den  uoXtxixo^;  ebenso  Mich,  in 
Eth.  Nie.  X  p.  611,12  u.  ö.),  xd  O^xovofxtxe^,  xd  'H&txcE.  clxa  dptd(jirjxtxyjv,  yccufaxp^av» 
fxouatx^v  xal  xd  dTroxeXeafiaxixd  f^xoi  x^v  doxpovofifav.  k&ii  xd  xoü  IlXdxwvoc  xxX. 

1)  Möglicherweise  in  Anlehnung  an  Philop.  ic.  ^x^^  (^S^*  den  Index  zu 
diesem  s.  v.  voüc).  Daß  M.  dieses  Werk  gekannt  hat,  ergibt  auch  eine  Yergleichung 
von  Eth.  IX 606, 4 ff.;  X  634,  15 ff.;;  638, 27 ff.  mit  Phüop.  de  anima  271, 3 ff. 
Die  Erklärung  des  Philoponos  ist  hier  von  M.  in  Aristoteles  selbst  hineingetragen. 
Zu  diesem  Verfahren  vgl.  Nauck,  Trag.  Graec.  firagm.,  adesp.  188.  S.  auch  Pg. 
88, 7  ff.  und  dazu  Hayduck  a.  o.  und  Praef.  p.  lY,  sowie  Philop.  p.  394, 14  ff. 

2)  Soweit  ich  beobachten  konnte,  zitiert  M.  mit  c&c  iv  . . .  (UfMtdi^xafMv  (if^d- 
^ofAtv)  seine  eigene  Exegese  der  betreffenden  aristotelischen  Schrift,  und  zwar 
treffen  diese  Zitate  meistens  auf  Exegesen,  die  auch  schriftlich  abgefaßt  waren. 
Anders  scheint  sich  die  Sache  Pg.  110,21  («b«  ht  xiji  xcxdpx^  t«^v  Mmcbp«iv  (AtfAa- 
^xafuv)  zu  verhalten,  da  ein  schriftlicher  Kommentar  zu  diesem  aristot  Werke 


882  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

109, 16  f.  Dazu  kommen  endlich  noch  Kommentare  zur  Rhetorik  (As. 
98,12,  Anecd.  Hieros.  No.  17)  und  zur  Physik  (As.  163,14;  178,7, 
vgl.  Am.  516,23.  Auf  die  Exegese  der  Topik  und  Rhetorik  spielt 
möglicherweise  an  Parv.  29, 7  f.),  sowie  ein  solcher  zu  FIspl  o6pavoö 
nach  Am.  703, 1  ff.  Kein  Kommentar  sondern  ein  Originalwerk  des 
M.  war  die  Mot.  116, 10 f.  13;  117, 16 f.  (vgl.  auch  114,24)  erwähnte 
Abhandlung  Ilepl  6p|tf)c  (te  >cal  t^g  öpitYjttx^g  8ovd|i.e(üc).  Freilich 
stutzt  M.  sich  auch  hier  wesentlich  auf  Aristoteles  (vgl.  114, 24  f.  und 
die  Mitteilungen  aus  jener  Schrift  114, 27 ff.;  s.  z.  B.  zu  115, 2 f. 
Arist.  p.  437a  2.6  zu  115,10ff.  Arist  p.  701b20ff.  28,  zu  115,15ff. 
Arist.  p.  701  b  25 ff. ,  zu  115,23  Arist.  p.  701b  33 f.);  immerhin  ist 
auch  anderes  beigemischt  (zu  114,31  i^Y6|tovtxöv  vgl.  Parv.  3,8;  veo- 
pooicaottxöv  115,6  ist  Aristoteles  fremd;  in  entsprechendem  Sinne 
braucht  Mark  Aurel  veopooTcaoteiv  und  veopooicaatia  [s.  d.  Indices  zu 
Mark  Aurel  s.v.]  zu  114, 30 f.  üicYjpeTixTij  —  f^7S|tovtxöv  vgl.  Theod. 
Metoch.  Mise.  p.  599. 600. 601  Müller-Kiessl.),  und  für  die  Einreihung 
des  Verfassers  in  den  philosophiegeschichtlichen  Zusammenhang  wird 
man  die  Stelle  im  Auge  behalten  müssen. 

Ich  habe  bisher  vorausgesetzt,  daß  Pg.,  Am.  und  As.,  drei 
Schriften,  von  denen  die  erste  anonym  auf  uns  gekommen  ist,  die 
zweite  und  dritte  von  einem  Teile  der  Ueberlieferung  Alexander, 
von  einem  andern  M.  zugeschrieben  werden,  unserem  Kommentator 
gehören,  und  muß  nun  den  Beweis  nachholen.  Hinsichtlich  der  ge- 
wichtigen Argumente,  die  von  anderen  bereits  vorgebracht  worden 
sind,  genügt  es  auf  Val.  Rose,  De  Aristot.  libr.  ord.  et  auct.  p.  147  ff. 
und  die  Vorreden  von  Hayduck  zu  Pg.  (p.  UI  f.)  und  Wendland  zu 
Parv.  (p.  VI  Anm.  1)  zu  verweisen  ^).   Für  die  Identität  der  Verfasser 

sonst  nicht  erwähnt  wird.  Dieses  Zitat  geht  also  wohl  auf  ein  exegetisches  KoUeg. 
Vgl.  auch  Freudenthal,  Hermes  16  (1881)  S.  217  Anm.  1.  Eine  Untersuchung  der 
Technik  der  antiken  Exegese,  die  Wendland  GGA  1906  S.  369  sehr  mit  Recht 
verlangt,  wird  auch  auf  solchen  Wortgebrauch  achten  müssen.  (Geht  Pg.  7,8 
lafAcv  ix  T.  IT.  Chmov  toTopfac  auf  den  jetzt  verlorenen  Kommentar?) 

1)  Einer  Widerlegung  bedürfen  noch  die  Gründe,  mit  welchen  Freudenthal, 
Abb.  d.  Berl.  Ak.  1884  S.  53  ff.,  für  Am.  die  Annahme  der  Autorschaft  des  Büchael 
bekämpft.  Nach  Freudenthal  sind  wir  zunächst  nicht  berechtigt,  M.,  >diesen  un- 
klaren, aber  für  seine  Zeit  sehr  gelehrten  und  um  die  Erklärung  der  aristoteli- 
schen Schriften  eifrig  bemühten  Mann  für  einen  Betrüger  zu  haltenc,  als  welchen 
sich  Ps.- Alexander  verrate.  Allein  da  wir  von  M.s  Person  nichts  Näheres 
wissen,  fäUt  dieses  Argument  dahin,  ganz  abgesehen  davon,  da£  die  Frage,  ob 
ein  Betrug  vorliegt  (die  SteUe  661,3  Bonitz,  auf  die  Fr.  Gewicht  legt,  ist  von 
ihm  falsch  gedeutet;  Ps.-Alex.  zitiert  nicht  die  im  Vorausgehenden  ausge- 
schriebene Abhandlung  des  Alexander  als  seine  eigene  Schrift,  sondern  er  ver« 
weist  nur  auf  das  vorher  Gesagte)  und,  wenn  dies  der  FaU  ist,  wer  dafür  verant- 
wortlich zu  machen  ist,    ob  Ps. •  Alexander  oder  eine  spätere  Hand,    die  die 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn2  883 

spricht  vor  allem  die  Uebereiustimmung  in  der  Sprache,  insbesondere 
einer  großen  Reihe  häufig  wiederkehrender  Redewendungen,  eine 
Uebereinstimmung,  die  so  weit  geht,  daß  der  Gedanke  an  Zufall  oder 
Nachahmung  ausgeschlossen  ist.  Für  Am.  erhebt  sich  hier  allerdings 
ein  Einwand.  Er  ist  weit  weniger  reich  an  Abweichungen  von  der 
klassischen  Grammatik,  als  die  unter  M.s  Namen  gehenden  Schriften. 
Hayducks  Index  zu  Comm.   in  Arist.  Gr.  I  läßt  freilich  für  solche 

beiden  heterogenen  Kommentarteile  zusammenschweißte,  erneuter  Prüfung  bedarf. 
Schwerer  scheint  das  zweite  Argument  zu  wiegen.  Ps.- Alexander,  meint  Freuden- 
thal, ist  nicht  Christ,  sondern  Anhänger  des  griechischen  Götterglaubens.  Aber 
die  hierfür  ins  Feld  geführten  Stellen  beweisen  das  keineswegs.  An  aUen  bis  auf 
die  zwei  gleich  zu  nennenden  spricht  Ps. -AI.  im  Sinne  des  Aristoteles.  Auf 
dessen  Rechnung  wiU  er  die  vorgetragenen  Anschauungen  gesetzt  wissen.  800,12 
Bonitz  mußte  das  <paa{v  der  stringenten  Form  des  Syllogismus  zuUebe  faUen, 
685, 18  f.  26  f.  Bon.  wird  nicht,  wie  Fr.  will,  der  »Anthropomorphismus  der  grie- 
chischen Religion  und  der  Zoomorphismus  des  ägyptischen  Tierdienstes  verteidigt«, 
sondern  es  werden  die  religiösen  Institutionen  der  Griechen  und  Aegypter  als 
Wirkungen  der  Staatsraison  in  einer  Weise  dargestellt,  die  sich  mit  dem  christ- 
lichen Bekenntnis  des  Verfassers  vorzüglich  verträgt.  Uebrigens  unterstützen  die 
anderen  Kommentare  des  M.  in  diesem  Punkte  die  Zuteilung  von  Am.  an  M.  sehr 
wesentlich.  Direkte  Beziehungen  auf  Christliches  sind  ganz  vereinzelt  (s.  n. 
S.  902),  und  nur  selten  sucht  M.  die  aristotelische  Lehre  in  christlichem  Sinne  zu 
nuancieren  oder  umzudeuten  (s.  auch  unten  S.  896  Anm).  So  ist  er  Pg.  64, 3  ff. 
mit  dem  aristotelischen  xal  xauta  irofvra  euX<$7(u;  Vj  cpuaic  67)(jLioupYeT  nicht  recht  zu- 
frieden und  bemerkt  6  ff.  auvrj^c  hi  aut^ji  ttjv  Toia6TT)v  d^xfy^»  '^^^  iroXurfjjiijTov 
V  0  0  V ,  9uaiv  xaXeTv.  aa^wc  ouv  xal  6ii  toutwv  Sefxvurat  ir  p  6  v  o  i  a  v  ^fAoXoycov  . .  . 
cuXo'Ytuc  ouv,  ;p7]a{v,  6  ^eoc  xal  i^  ^uai;  raOxa  IS7)fiio6pYTjOev  (6  %t6Q  xal  i^  9601c  ver- 
bindet übrigens  auch  Aristot.  p.  271  a  33).  Dagegen  sagt  er  selbst  Pg.  157, 21 
«piXoTijxeTxai . . .  f^  «puaic  iti  xi  daufxaoxöv  ttoicIv  und  in  ähnlicher  Weise  bewegt  er  sich 
auch  sonst  in  aristotelischer  oder  allgemein  antiker  Anschaungsweise  auch  über  das 
von  dem  jeweiligen  Lemma  erforderte  Maß  hinaus.  Die  Gestirne  sind  ihm  ^Ta 
ocufjiaxa  Mot.  109,23;  110,4,  As.  50,4.  An  letzterer  SteUe  werden  sie  überdies  im 
Widerspruch  mit  dem  Christentum  als  ungeworden  bezeichnet.  Der  rpAxoc  %t6^ 
erscheint  wie  an  der  von  Freudenthal  angeführten  Stelle  Am.  683, 8  (707, 35  Hayd.) 
auch  Mot.  104,17.  Eth.  1X473,25  wird  das  aristot.  (1166  a  24)  ...xtji)]v  U  70- 
vcOsi  xaOaTiep  OeoT;  gestützt  durch  den  antiker  Anschauung  entsprechenden  (vgl. 
meinen  »Hieroklesc  S.  45  ff.  153)  Satz  0«oc  yap  i^ifAüiv  xal  &  Ttaxi^p  ioxi.  Alle  der- 
artigen Anbequemungen  an  aristot.  Denkweise  haben  zunächst  nui:  hypothetischen 
Charakter.  Sie  gelten  solange  man  sich  in  der  aristotelischen  Atmosphäre  bewegt, 
wie  es  die  Exegese  aristot.  Schriften  mit  sich  bringt.  Aber  dieser  hypothetische 
Charakter  konnte  verblassen  und  mehr  oder  weniger  aus  dem  Bewußtsein  ent- 
schwinden. Es  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  wir  uns  in  der  Zeit  der  be- 
ginnenden byzantinischen  Renaissance  befinden,  die  mit  der  abendländischen  neben 
anderen  Zügen  auch  den  gemein  hat,  daß  man  sich,  ohne  dem  Christentum  abzu- 
sagen, doch  in  sehr  weitem  Maße  antike  Anschauungen  aneignete.  Die  Befreiung 
der  Philosophie  von  kirchlichen  Rücksichten  und  die  Fehde  zwischen  Philosophie 
und  Kirche  zur  Zeit  des  Johannes  Italos  stehen  damit  in  Wechselwirkung. 


884  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

Fragen  im  Stiche.     Doch   haben   mir   größere  Partien   umfassende 
Stichproben  das  Ergebnis  geliefert,  daß  Dinge  wie  el  c.  coni.,  orav 
c.  ind.,  nomin.  für  genet,  absol.  u.  dgl.  hier  verhältnismäßig  selten 
sind.  Das  erklärt  sich  aber  sehr  einfach  daraus,  daß  dieser  Kommen- 
tar bestimmt  wurde,   die   Fortsetzung  zu   dem   des  Alexander   zu 
bilden.  Sollte  hier  nicht  ein  selbst  für  den  Ungeübten  sofort  bemerk- 
barer Riß  klaffen,  so  mußte  eine  wenigstens  oberflächliche  sprach- 
liche Reinigung  dieser  Partie  stattfinden.    Immerhin  ist  dabei  genug 
stehen  geblieben,  um  zu  zeigen,  daß  es  sich  eben  um  eine  solche 
nachträgliche  Säuberung  handelt.  Für  el  c.  coni.  vgl.  z.  6.  451, 14 f.; 
454,37;  643,23;  669,22;  711,34;  829,17f.,  für  8tav  c.ind.  676, 26 f.— 
483,18  steht  (in  A)  $v  c.  coni.  als  Potentialis  (s.  o.  S.  873),   ebenso 
486, 22 f.;  710,25  oU  äv  yaveiev,  508,35  6icoiov  äv  eiij,  833,17  xäv  ... 
7 iv7]tai . . . ,  Gt]|i8iov  £v  '^v  als  irreale  Periode,  und  703, 4  ff.  versetzt  uns 
die  Konstruktion  ...  (Jistd  ^coXXf^c  ^X privat  ti^c  lictiuXsCac,  oxeS&v  xal 
T&  ...  Ixetoe  iitiffioA^By Ol  vollständig  in  die  sprachliche  Atmo- 
sphäre unseres  Byzantiners.    Uebrigens  weisen  audi  die  unter  M.S 
Namen  einheitlich  überlieferten  Schriften  unter  einander  sprachliche 
Unterschiede  auf.  M.  hat  sich  wohl  im  Laufe  der  Zeit  gewöhnt,  das 
Konzept  seiner  Vorlesungen  vor  der  Herausgabe  einer  strengeren 
Durchsicht   zu   unterwerfen    und   an  seine   sprachliche   Darstellung 
höhere  Anforderungen  zu  stellen.    So  ist  er  z.  B.  der  ermüdenden 
stereotypen  Wendungen  wie  oa^f)  8h  xä  Iffjg,  td  Sk  Iffjc  Si^ka  u.  s.  w.» 
mit  denen  er  in  den  frühesten  Kommentaren  über  die  einer  Erklä- 
rung nicht  bedürftigen  Textespartien  hinwegzugehen  pflegt  (vgl.  z.  B. 
Part.  22,17;   24,17;   50,10;  68,16;   69,1;  70,28;  71,20.35;  83,6; 
Wendland,  Index  zu  Parv.  s.  v.  I£f)c),  gelegentlich  selbst  überdrüssig 
geworden,  was  ihn  freilich  nicht  hindert,  sich  ihrer  später  doch  wieder 
zu  bedienen.  Part.  90, 19  ff.  merkt  er  an,  er  werde  die  Formeln  nicht 
mehr   anwenden,    sondern   das    ohne    weiteres . Verständliche   still- 
schweigend übergehen ').  la^f}  Sk  zä  ISf]g  erscheint  dann  aber  wieder 
am  Ende  des  Kommentars  99, 18  und  ist  in  Inc.  nicht  selten  (135,21; 
137,31f.;   151,lf.;   152,16;   157,21;   158,29;   169,33f.);  auch  Met. 
(119, 10 f.;   127,16,  vgl.  112,8)  hat  es.    Die  gleiche  Anmerkung  wie 
Part.  90, 19  ff.  bringt  Pg.  2, 12  ff.  (für  die  icapoöoa  TcpaYiiateCa),   aber 
in  Pai*v.  ist  die  Formel  schon  wieder  häufig  (s.  Wendlands  Index 
s.  V.  I£^c»  ^7s£^c;   56,5).    Aehnliches  findet  sich  auch  noch  später, 
vgl.  As.  142,12;  186,24;  195,6  (td  Sk  ggf^c  oa^^dc  xatoXi^et  —  Mot 

1)  Auf  diese  Deutung,  in  der  ich  Haydack  (Praef.  zu  Pg.  p.  DI)  folge, 
führt  die  ParaUele  Pg.  2, 12  ff.  An  sich  betrachtet  könnte  die  Stelle  auch  den 
entgegengesetzten  Sinn  haben  und  das  Verfahren  für  die  Zakonft  in  Aussicht 
stellen. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII^  885 

112,8  oatpäc  Sk  ta  l^f^c  xatoXiifsi),  Eth.  V13,29.  Im  ganzen  ist  die 
Schreibart  in  Part.  Mot.  Inc.  besonders  salopp.  Die  Art  wie  oft 
mehrere  Sätze  unmittelbar  hintereinander  oder  doch  in  allernächster 
Nachbarschaft  mit  X^et  8^  xal  oder  X^et  8^  eingeleitet  werden, 
macht  den  Eindruck  geradezu  kindlicher  Ungelenkheit ;  s.  z.  B.  Part. 
59,22.25.31;  63,31.34;  64,24.33;  65, 15.21.24  (32  xataX^et  8^  xal); 
69,25.34.37;  91,9.22.26.34.37;  92,6.7.23.25;  93,7.9.15.28; 
94,11.30;  95,13.21.  —  45,32;  46,5  und  46,28  beginnen  drei  Ab- 
schnitte nach  einander  mit  {teta  z%bxa  X^ei,  Mot.  103, 18  ff.  ist  eita 
in  9  Zeilen  8  mal  verwendet.  Demgegenüber  erscheint  der  Stil  der 
späteren  Kommentare  reifer  und  gewandter.  Ich  muß  mich  freilich 
auch  hier  auf  den  bei  der  Lektüre  empfaügenen  allgemeinen  Ein- 
druck und  auf  Stichproben  verlassen,  die  der  Ergänzung  durch  eine 
umfassendere  Untersuchung  bedürfen. 

Ich  stelle  im  folgenden  eine  Reihe  übereinstimmender  sprach- 
licher Erscheinungen  zusammen,  durch  die  Pg.  Am.  As.  mit  den 
widerspruchslos  als  michaelisch  überlieferten  Schriften  verbunden 
werden.  Finden  sich  manche  der  hier  zu  verzeichnenden  Wendungen 
auch  bei  anderen  Autoren^)  da  und  dort  vor,  so  wird  doch  die  ge- 
samte Liste  einen  und  denselben  durch  die  sämtlichen  genannten 
Kommentare  vertretenen  Schriftsteller  mit  Sicherheit  hervortreten 
lassen. 

la^i^veia  im  Sinne  von  Erklärung^)  findet  sich  in  zwei  Anwen- 
dungsformen häufig:  es  wird  gesagt,  daß  itpö  ti}c  t«dv  Xe^oiiivo^v 
(X^4ea>v,  ^YjTCdv)  oa^veCac  etwas  zu  bemerken  sei  (Eth.  V30,12,  vgl. 
Parv. 60,11,  Pg. 25,16;  58,3;  154,32,  As.  164,12,  Am. 466, 37;  502,34; 
539, 7 ;  589, 9 ;  834, 15),  oder  es  werden  Vorbemerkungen  und  allgemeine 
Erörterungen  mit  dem  Satze  hcl  8k  ry]v  tä>v  X870|iiv«>v  (Xö^ecov)  oa^veiav 
l(0|jL6v  (Itiovy  6p{iif)tiov  0.  ä.)  abgeschlossen  (Mot.  104,3,  Parv.  6,5,  Pg. 
2, 17 ;  26, 1 ;  67, 10 ;  Am.  467, 13 ;  602, 20).  —  Die  Exegese  wird  von  M. 
mit  Vorliebe  nach  8idvoia  und  X6(ic  geteilt  in  Wendungen,  die  in  allen 
Kommentaren  mehr  oder  weniger  wörtlich  genau  wiederkehren :  s.  die 
Indices  s.v.  8idvoux,  Eth.  1X468,26;  469,22,  für  Am.  auch  650,28; 
671,17;  728,23;  736,9;  805,19;  829,33;  insbesondere  vgl.  Parv. 
45, 14  1^  |iiv  oov  tä>v  Xe^oiiivcov  8idvoia  aStii],  ta  dk  xata  d)v  X6£iv  &Si 
ttcoc  ^x^t,  Pg.  47, 13  f.  xal  i^  (liv  twv  Xe^oiiivoiv  8tdvota  a5t7],  tA  Sk  tfjc 
XigesDC  <i>8^  ng  iyjiiy  As.  126, 5 f.  i^  |tiv  o&v  Sidvoia  ...  xotabtti  '^^  ^^ 

1)  Verhältnismäftig  yiel  findet  sich  bei  Philoponos  wieder.  Eine  nähere 
Untersuchung  des  Verhältnisses  von  M.  zn  diesem  Konunentator  wäre  auch  wegen 
der  sachUchen  Beziehungen  angezeigt 

2)  So  z.  B.  aach  David  proL  philos.  p.  28,22;  44,6,  Prod,  in  EucL  p. 
238,26;  418,19. 

GMt.  gtl.  Abs.  1906.  Hr.  11  62 


886  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

efij,   ta  8k  xata  rjjv   Uiiv  wSs  av   S/^i   (vgl.  48,14),    Am.  728,23  ij 
[kkv  oov  o6|JL9ca<3a  Sidvoia  tdiv  Xe^oiiiviov  aott],  td  Sk  xata  rijv  >i£ty  «»tt 
irg  ^Bu    Ferner  Parv.  142,13  ttvfec  8e  twv  x^P^s^^^P^^^v  t^c  P'iv  8ta- 
voCac  l^dTctovtai  oicopdcSijv,  to5  8k  ri]v  Xi^tv  xaOiatdvetv  9cöppa>  icoi  airo- 
9cXavä>vtai,  Pg.  93,11  piqzioy  8k  9cpc»tov  [tfev  rJjv  töv  Xe^ofL^vcov  Scdvoucv, 
81^'  ooTO)  rijv  X^Siv  xaTaotfJoai  icetpatdov,   Am.  499,31   xod  ;^   (l^  töv 
Xe^ofidvcov  Stdvoia  aStYj  äv  6tTf],  xataonjaatc  ^   äv  rJjv  Xdjiv   &8b  (As. 
59,10  Set  o5v  xataoTfJoat  rJiv  XdStv).    Die  Erklärung  wird  eingeleitet 
mit  TÖ  Si  X6YÖ(i6vov  totoötöv  lotiv  o.  ä.:  Part.  41,32;  48,31;   54,36; 
66,12;  84,2,  Inc.  149,7;   155,34,   Parv.  s.  Wendl.  Ind.  s.v.  Xd^stv, 
As.  87,12;   99,4;    129,28;    186,15,    Am.  446,17;   684,8;    769,28; 
772,16;  776,31}  801,32,  oder  8  Xd^et  totoötöv  iott  o.  ä.  Mot.  121,23, 
Eth.  X607,27,  As.  26,30;  80,33;  175,8,  Am.  446,30;  483,9;  676,8; 
696,9;    737,3;    776,9,    tö    XeYÖ|isv(Jv    iottv   (2tt)   o.  ä.   Mot  110,13; 
126,28;  127,25,  Inc.  152,13,  Parv.  s.  Index  s.  v.  X^etv,  Am.  683,27, 
häufig  auch  tö  Xe^öfi.  (8  Xi^et)  8ovd(i6t  totoötdv  iattv,  lott  Ss  ti  Xs^ö- 
|jL6vov  8ovd(i6t  0.  ä.  Parv.  s.  Index  s.  y.  Xd^stv,  Eth.  X610,3,  Pg.  und 
As.  s.  Index  s.  v.  86va(itc,  Am.  637,24;   669,27;  830,29.  —  8ovd|ut 
X^Ycov  Mot.  119,5,  Parv.  und  Pg.  s.  Index  s.  v.  Sovajjitc,  Eth.  X  579, 22, 
As.  s.  Ind.  s.  V.  8ov4|iet,  Am.  506,21;  559,4;  575,29;  590,5;  673,7; 
674,2;    709,39;   740,38^).  —  tö    >.  ..<    (tö   XsYÖjtsvov)   ibov   iod  t^ 
u.a.  Part.  54,37;  55,14;  63,1;  66,9,  Mot.  107,5;  110,16.20;  114,3; 
119,12;  122,18;  137,18;  145,21,  Parv.  s.  Ind.  s.v.  Iboc,  Pg.  61,26; 
91,22;   98,15;    104,20;    105,31,   As.  66,9;   87,21;   95,9;    137,12; 
140,8;   175,30;   183,7.9;  193,16.24,  Am.  673,21;  675,35;  683,32; 
688,29   (feov  U^m  tcp);    701,31    (Toov  Xd^wv  t^;   ebenso   713,39); 
702,3;  835,11.  —  ...taäteJv  iott  t^  Mot.  126,2,  Inc.  157,26,  Parv. 
s.  Ind.  s.  V.  aätdc,  Pg.  4,10;  84,33;  103,7.  —  Beliebt  ist  die  Wen- 
dung tö  . . .  8if)Xo>ttxdv  iatt  too,  s.  d.  Indices,  besonders  bemerkenswert 
die  Uebereinstimmung  in  eingeschobenem  oder  nachgetragenem  too- 
too  (tootcov)  Ydp   Joti  8if]Xo)ttxöv  ((iTfjvotixöv)  tö  . . .  o.  ä. :  Part.  63, 24, 
Mot.  108,9;  109,27,  Parv.  17,18;  91,-5;  100,9;  120,12.28;  126,4; 
137,11,  Pg.  68,18;  91,6;   198,16,  As.  36,20;  59,15,   Am.  596,14; 
662,6;   669,9;   677,4;   728,19;   739,13;   743,13;    744,25;   747,29; 
758,5.34;  768,3;  772,23;  774,20. 

Die  Kritik  des  aristotelischen  Textes  hinsichtlich  seiner  Klarheit, 
Vollständigkeit,  seines  Zusammenhanges  u.  s.  w.  vollzieht  sich  in  Wen- 
dungen wie  di7ca77dXXstv  mit  Adv.  (aa^ cöc,  ioa^ c^c,  äXXuccdc  Q*  8.  w.), 
vgl.  Ind.  z.  Parv.  As.  s.  v.  äicaYY^^w,  IXXwnJc  u.  s.  w.,  Am.  s.  v.  sXXi- 

1)  Unter  den  Verbindungen  von  Suv^fiet  sei  hier  auch  notiert  l,  ouUot^- 
Ccadat  Pg.  71,29.85;  86,20,  As.  94,15,  Am.  448,7;  445,21;  464,85;  664,85; 
665,4;  748,20;  796,1;  802,8. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca'XXII2  887 

ÄÄC  u.  674,8,  Part.  55,10;  151,19,  Parv.  36,20,  Pg.  89,18;  168,6. 
Mit  Parv.  9, 34  icdvo  8k  ioa^ «oc  xal  (ie(isXav(i>iiiva)c  &9can^^et  •  •  • 
zeigen  Pg.  196, 11  ndvo  S"  aoa^cdc  xal  (i6(isXavoi|JL^va)c  ^icd^et  za(z 
altCac,  Am.  519,14  r^v  Xooiv  iaauf&i  xal  Xiav  (i6(ieXava)|jLdva)c  inaYft- 
^(bv»  653,4  &aaf(oc  S^  icdvo  xal  (ie(i6Xavtt)|jL^voi>c  ipfiifivs&ei  taota  be- 
sonders auffallige  Uebereinstimmung,  IXXi9cä>c  und  ioa^cAc  verbinden 
Part.  55,10,  Parv.  104,21,  Am.  462,9.  —  Parv.  65,35;  79,9;  83,30 
oaf  (AC  xaraX^Ystv  =  As.  195,6.  Oefters  wird  in  ähnlichen  Wen- 
dungen UnVollständigkeit  oder  Unklarheit  auf  die  aristotelische  ßpa- 
XüXoYia  zurückgeführt:  Parv.  135,7  aaafä>c  iTriJxtat  8ta  ßpaxoXoYtav, 
Am.  596,29  a<3afä>c  xal  alvqiiatcoScdc  tö  icapaSsifiia  iTCj^xtai  8iä  r^v 
oovTJ*T)  ßpaxoXoYiav  aöTcp;  Pg.  188,10,  Am.  446,16;  663,36;  758,3, 
Vgl.  femer  Parv.  35,5  ioAyeiav  8k  woXXijv  Iveffoiifjos  mit  Pg.  26,5 
äoAfeiav  wdivo  äoXX-Jjv  iceicoCtjxev,  As.  23,16  äoXX-Jjv  8^  rJjv  aodyeiav  6 
'Ap.  licoCifjoe,  59,7  iody etav  8^  tcj)  Xö^cp  Ivewoiijoe,  Am.  474, 15  aoAyetav 
iffotifjoe  ÄoXXijv,  655,27  äävo  äoXXtjv  aoA^eiav  SvewoCiijoev;  736,10; 
805,22.  —  Parv.  36,20  iXXiiccdc  xal  In  axaTaXXi]Xa)c  imj^YeXtat  ta 
pif]td,  Pg.  213, 16  doa^cAC  8^  dicaYYeX^stoa  i^  Xd^tc  xal  dxataXXi^Xcoc» 
Am.  663, 14  Sott  8k  ixatdXXifjXoc  xal  äävo  ioayfjc  t^  Xd^ic.  —  Part 
63,25  slif]  8'  av  tö  t^c  Xigecoc  xatdXXtjXov  toioötov  =  Pg.  196,15.  Vgl. 
auch  Parv.  62,32;  78,9;  87,12;  Pg.  166,9;  As.  73,21  lou  8^  zb 
xaT(iXXif]Xoy  Tfjc  Xd^ewc  toioötov  =  Am.  736, 34,  vgl.  Am.  655, 30.  —  Mot. 
126,18  «^v  8'  av  xataXXijXötepov,  el  .  .  .  Parv.  57,13;  137,15;  Pg. 
237,21.  —  Inc.  zb  8k  Ig^c  tfjc  X^Seox;  toioötov  (vgl.  160,7,  Parv. 
45,30;  73,10),  Pg.  87,12  eitj  8'  äv  xb  t^c  X^ewc  Igijc  toioötov;  ebenso 
As.  95,28,  Am.  810,10.  —  Tö  8^  t^c  Xdgsöic  oovsx^c  toioötov  Jotiv 
0.  ä.  Mot.  111,33;  119,16,  Parv.  16,25;  22,3;  56,24;  68,24,  Am. 
671,18;  677,20,  vgl.  663,21;  692,38.  Ebenso  gebraucht  M.  oov^eia 
(gewöhnlich  i^  toö  Xd^oo  o.)  z.B.  Part.  98,16;  167,8,  Parv.  114,21, 
Pg.  75,33,  Am.  457,24;  511,14;  605,28.  —  "EoTtv  oov  -^  oovaYcoTYj 
TOÖ  XÖ70Ü  TotaoTtj  0.  ä.  Part.  13,6;  148,11;  Pg.  67,8;  68,8;  230,13, 
Am.  765,33.  —  Ist  der  aristotelische  Ausdruck  unvollständig  (Parv. 
21,15  loTi  8k  Xlav  IXXwrJjc  ii  Xißtc;  35,10;  vgl.  Pg.  19,22;  21,5),  so 
wird  die  Ergänzung  gerne  mit  tva  ig  tö  icXi^pec  (rjjc  X^gewc)  0.  ä.  ein- 
geleitet: Part.  52,28  Xelwei  tö  >...<,  fv'  ig  tö  icXfJpec  toioötov  >...<; 
59,17;  89,19,  Inc.  136,13  xal  8ei  äv  tj)  TOiaÖT-j  Xdgei  Äpooowaxoöetv 
TÖ  »...«,  7v'  -^  xb  ffX^pec  >...<;  Inc.  148,3;  160,7,  Parv.  68,10 
(vgl.  auch  37,5;  58,11),  Pg.  87,9  Xeticst  ...tö  »...<,  tv'  ig  tö  icXfJpec 
>...«,  As.  31,27  861  8k  Tcpoooicaxo&etv  .  .  .  tö  >.  .  .«,  tva  ig  tö  icXfJpsc 
xfi<;  Xd4so)c  TOIOÖTOV,  Am.  448,30  86t  8k  itpoaoicaxoöetv  tö  >...<,  iva  tö 
Ädv  lg  toioötov;  674,23  iXXslÄst  rj  XkUi  xb  >...<,  iva  ig  tö  5Xov  toioö- 
tov; vgl.  454,25;  693,27.  In  anderer  Weise  werden  das  iXXiic^  und 

62* 


888  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

das  7cXf]p6c  einander  entgegengestellt  Part.  55, 10  äXXticftöc  8i  xal  ont- 
f  ä>c  ain^eXtat  tö  . . .  eii]  S'  Sv  tö  icXfJpec  roiot>Tov ;  im  wesentficha 
gleich  Pg.  19,22;  21,5;  44,2;  99,3,  As.  76,17;  80,  24;  91,28;  180,28, 
Am.  683,24;  760,22.  Vgl.  auch  Parv.  37,1,  Pg.  89,18;  92,6.- 
Die  Uebereinstimmung  in  einigen  anderen  bei  der  Interpretation 
aristotelischer  Worte  verwendeten  Ausdrücken  bietet  weniger  Ghank- 
teristisches.  Es  mag  genügen  hier  auf  die  Indices  zu  verweisen  &  t. 
9cap^Xx6iv  (daß  Am.  meist,  aber  nicht  ausschließlich  [vgl.  736, 32]  die  üb- 
Schreibung  mit  dem  Partizip  und  elvai  (icapdXxov  iavt)  anwendet,  ist  bd 
der  beschränkten  Zahl  der  im  Index  genannten  Stellen  ohne  Bedeu- 
tung), Tcpoooicaxo&etv  (häufig  mit  dem  Genetiv,  vgl.  z.  B.  Index  n 
Parv.  u.  Am.  674,10;  675,18;  693,25;  830,1),  ix  TrapaXXiJXoo  tiAim, 
Ix  Kap.  x£to^ai.  Unter  ffapeitßdXXstv  verdient  das  übereinstimmend 
Parv.  8,28,  Eth.  1X518,36,  Pg.  75,23;  76,1;  93,31;  177,11,  Am. 
836, 19  gebrauchte  td  S'  &XXa  (td  Sk  Xoiicd)  (lerago  icap6|Lßiß)ii]TB 
(sropsvsßXn^^)  Erwähnung  (Part.  5, 14  xal  (terato  ^roXXa  xapevscfMc 
iicdYst,  Pg.  81,4  xal  8id  |iiooo  tivd  Äapevetpou;  iwi^aYe).  —  Mit  fest- 
stehender Formel  wird  über  die  Interpunktion  entschieden:  Mot 
127, 23  ÖÄOOtixt^ov  elc  tö  »...<,  st^  o!ka>c  ina%xioy  xb  >..,€  (vgl.  fir 
weitere  Beispiele  die  Indices  zu  Part.  Mot.  Inc.  Parv.  Eth.  s.  ?. 
fticootiCsiv),  Pg.  22,9  oicoouxtdov  el<;  tö  >...<,  elta  äicaxrdov  xb  >...< 
(ebenso  204,13;  vgl.  auch  237,21),  As.  169,11;  196,26,  Ahl  726,27; 
745,35  stimmen  dazu  wörtlich.  —  Für  Angabe  einer  zweiten  Lesart 
ist  f  ipetai  Sh  xal  iXXi]  7pacp')]  Sx^ooa  ootco^  die  stereotype  Wendung, 
die  z.B.  Parv.  34,15;  44,25;  139,28,  As.  156,23;  167,16;  188,31 
(hier  eopTjtai  für  cpdpetoi).  Am.  468,31;  717,32  (mit  &S^  für  oScik) 
wiederkehrt,  vgl.  auch  Parv.  45,20  (anders  der  echte  Alexander 
58,31;  273,37;  356,34;  439, 3).  —  Verdeutlicht  Aristoteles  ein« 
Satz  durch  Beispiel  oder  Erklärung,  so  sagt  M.  häufig  oo^vCCmv  •  •  • 
äTCTJ^ars  (iwÄYei);  so  Part.  21,24;  43,3;  59,27;  Inc.  145,18;  147,34; 
167,7,  Parv.  37,24;  96,13;  104,6,  Pg.  2,26;  94,7;  104,11;  132,29; 
180,3,  As.  30,22;  143,24,  Am.  472,1;  490,19;  661,26;  678,14; 
764,22;  787,11;  809,28*).  —  Außerordentlich  beliebt  ist  das  Fort- 
spinnen der  Darstellung  durch  slxibv  ...  (taöxa  ekä>v)  X^ei;  von  dea 
Beispielen,  die  fast  jede  Seite  dieser  Texte  bietet,  führe  ich  nur 
wenige  an:  Part  8,2.27;  12,3;  19,15,  Inc.  135,17,  Parv.  47,7; 
98,17,  Inc.  142,23.31;  143,1;  135,12;  145,23,  As.  55,2;  57,3; 
66,12;  70,20;  76,26  (iptjotv  für  )iTct);  93,23;  96,17  (yifjotv);  193,3, 
Am.  608,5;  663,7;  670,24;  676,34;  682,6;  692,36;  695,39;  702,4; 
715,15;   742,3.    Vielleicht  noch  häufiger  ist  slicd)v  .  • .  (raota  eucoiy) 

1)  Beiläufig  bemerke  ich,  daß  Parv.  72, 8  f.,  wie  aus  Am.  463,29;   609,12; 
674, 12  hervorgeht,  ivX  (»ico^c(7|Aatoc  herzustellen  ist. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  889 

hcii^a^B  (intk'^ei):  Part.  2,11.18.27;  4,32;  5,12;  11,16,  Inc.  153,5; 
154,14,  Parv.  s.  Index  s.  v.  iTcdvetv,  10,29;  93,17,  Eth.  1X520,34, 
X579,19;  582,21,  Pg.  46,18;  94,20.36;  105,24;  179,31;  180,2; 
185,25;  195,22;  207,7,  As.  26,28;  46,32;  72,11;  79,10;  80,21.31; 
87,9;  186,11,  Am.  638,12;  676,5;  678,31;  688,27;  691,16;  693,32; 
694,15;  713,37;  716,20;  752,3;  763,4;  771,4;  779,26;  796,25.  — 
ekwv  . . .  rJiv  attCav  tootoo  iirfffa'^B  o.  a.  Parv.  85,13;  Pg.  194,28 
slicwv  ...  YopYÄc  Ttjv  altiav  toötoo  IznjYaYev,  womit  Am.  681,34  xal  rjiv 
altlav  YopYwc  irjjYaifev,  As.  166,15,  xal  djv  altCav  . . .  Yop^wc  ti^eixs, 
183,14  xal  TTjv  alxCav  tootoo  xolx^(a^  I^Ya^e  zu  vergleichen  ist*), 
Pg.  14,6;  46,28;  72,12;  74,5;  152,7,  As.  68, 1*;  141,14,  Am. 
702,13;  709,37;  722,25;  755,24;  8.S3,8.  —  KataoxeodCcov  (toöto) 
ä«^aY6v  Parv.  13,13;  49,28,  Pg.  112,21.  — Kai  ooiiffspaivsrai  Xd^oov 
Part.  8,15;  155,31,  Pg.  57,19,  Am.  617,28;  658,7;  680,9;  696,30; 
699,37;  747,12;  754,18;  764,29;  xaUowcöv  (Jü|iic.  Xd^.  Parv.  127,17, 
Pg.  77,33,  X.  oo|wc.  Xotfföv  X^^.  Am.  523,7;  taota  sIäwv  oo|i7c.  X^yodv 
Parv.  75,5,  Am.  468,35;  479,21  (ohne  U^m)]  824,3;  828,30;  taota 
ek.  oojiff.  (...)  xöv  (...)  X(Jyov  Parv.  18,17,  Am.  485,28;  510,5; 
836, 34 ;  xal  G0|jLiC6patvet  (-etat)  töv  oofiicavta  Xö^ov  Xd^oiv  . .  .  Inc. 
160,3,  Am.  591,3;  ootcoc  oov  SeC^o«;  •  •  •  <30(i7cepaivstat  \t((üy  . . .  Eth. 
V13,2,  As.  74,15,  Am.  613,41,  vgl.  483,12.  —  IIpoTldetat  Ctjrijoai 
Parv.  60,2,  Am.  602,11;  weitere  Verbindungen  von  wpot.  mit  d. 
Infin.  Pg.  114,14,  As.  8,15;  14,14;  16,25;  20,15,  Am.  494,26.  — 
Töv  Tcepl  ...  TcpoxstpCCetai  Xö^ov  Parv.  42,3,  Am.  668,11.  —  'Hjielc 
6h  ...  iid  (icpöc)  tö  TcpoxeCfisvov  iicav^Xd(i>(isv  Parv.  142,17,  As.  3,3 
(vgl.  72,4;  83,5)  —  IldtXiv  licavaXa|iß(ivei  (Iwav^Xaßs)  töv  Xö^ov  Parv. 
15,3;  70,29,  Pg.  68,15,  Am.  455,26.34  (taöta  ekwv  wie  Parv.)  — 
(A5töc)  icpoia)v  Ipsi  Parv.  As.  Index  s.  v.  Tcpoidvai,  Eth.  1X487,39; 
X  576, 30,  Pg.  6,16;  23,27;  76,6;  124,25;  206,12.  —  Von  einem 
gegen  Aristoteles  zu  erhebenden  Einwände  und  seiner  Widerlegung 
ist  in  übereinstimmenden  Ausdrucksformen  z.  6.  an  folgenden  Stellen 
die  Rede:  Parv.  8,28  So«  8^  tö  XeYÖ|ievov  iwdvTTfjotc  xal  Xöotc  icpöc 
Svotaatv  toia&nfjv  Sova(idvif]v  y^peodat  wpöc  ta  ^7]d^vTa,  Am.  620,13  tö 
Sh  ...  Xogk;  iotlv  Ivotdoscoc  Sova(idv7]c  f^psodai  Tcpöc  töv  ...  Xöyov;  vgl. 
auch  Pg.  240,6,  Am.  515,5;  614,15;  695,10;  707,32,  Part.  54,9 
«pöc  8-}]  taötifjv  rJjv  Svotaotv  licijxtai  tö  . . .  Am.  620, 20  Tcpög  ta6Tif]v 
oov  ol|JLat  t7]v  Svotaotv  toöto  Iwijxtai  tö  X^^ov;  vgl.  Parv.  94,1,  Eth. 
1X497,6.  — Die  bescheidene  Färbung  des  eigenen  Urteils  des  Inter- 
preten führt  Parv.  22, 26,  Am.  443, 29  in  dem  Satze  et  tt  xP^  '^'8  ^V't 

1)  £{icu)v  . . .  ouvT($fjLU)c  T^v  a{T(av  TouTou  itrfiyaytw  steht  Am.  668, 18;  vgl.  auch 
468,11;  617.23;  622,35;  671,10;  807,21  und  dazu  Parv.  28,9;  43,16;  56,18 
(auvxfifiu);,  IC  8  xal  daa^pd);,  vgl.  Am.  468,11  auvT<5fjLuK  xat  itd  toüto  daa^üc). 


890  Qött  gd.  Anz.  1906.  Nr.  11 

«poolxetv  jiavteect  (nach  Plat.  Alcib.  I  p.  127E)  zu  wörtlich  übereinstim- 
mendem Ausdruck.  —  Der  Gebrauch  folgender  Wörter  und  Wortverbin- 
dungen dient  dem  gewonnenen  Resultat  noch  zur  Stütze  ^i  äXX'  (»v 
Inc.  158, 16.18,  Parv.  (s.  v.  oov),  Eth.  V  71,28,  As.  (s.  v.  aXXd);  äWrn; 
xaiaiXXwcParv.,  As.;  $XXco(;'F6(xal)Part.58,15;  66,4,  Inc.  143,17;  162,30, 
As.;  Sjta  (te)  xal  xata  laötov  Parv.  114,28,  As.  30, 34;  aicapoXXdxrtK 
Parv.,  Pg.,  Am.;  iTcoSsixtixö«  Ssixvovai  Parv.  20,17,  Am.  741,11; 
aico8i8övat  aixtav  Parv.,  As.,  Am.,  Pg.  71,28;  123,21;  124,30;  ip- 
xoövtfioc  Parv.,  As.;  ao  icdXiv  Parv.,  As.;  ßaoaviCetv  Mot.,  Parv.,  Pg.; 
ijtot  (=  ij^oov)  Inc.  154,4;  158,25;  167,30,  Parv.,  As.;  xaCtot  c.  part. 
Parv.,  As.;  xataYivsodai  Parv.,  Eth.  V.,  As.,  Am.,  vgl.  insbesondere 
Parv.  84,7;  As.  96,17.18;  99,1  (icepl  icoXXd  xataY-);  xaraoxet>a<jtixö; 
Part.,  Parv.,  Eth.  V.,  Pg.,  As.,  Am.,  besonders  xal  toöto  xara(37C8t>aum- 
xöv  ioii  too...  Parv.  43,3,  Eth.  1X495,10,  Pg.  44,20,  Am.  731,36; 
Sota)  8^  (Yap)  Xc^oo  x^ptv  (x«^ptv  Xö^oo)  ...  Parv.  7,3;  34,29;  119,2, 
As.  162,11;  ivetpcoTTco  metaphor.  Part.,  Am.  (vgl.  Proleg.  in  Plat 
philos.  8  p.  203  Herm.);  ÖTnjvtxa  Parv.,  Eth.  IX,  Eth.  V  62,35,  As.; 
6t^  \Lt/  —  6t^  8i  Parv.,  As.;  tö  wapöv  ßißXtov  Parv.,  As.,  Am.  440,9; 
516,16;  794,5,  1^  Äapoöoa  i:pa^\LazBia  Parv.  88,19;  98,30,  Pg., 
As.  1,7;  4,3,  Am.  722,18;  785,35;  787,19,  1^  icpoxetiidvTj  rpar- 
jtaxeta  Inc.  135,2,  Pg.  2,11,  As.  7,24;  104,9,  Am.  440,18.22; 
516,10;  675,15;  722,2;  rJiv  «Cotiv  gx^^v  ix  (iiA)  Parv.,  Fg.;  ea«v 
...moToötai  TOÖTO  Inc.  142,13  (vgl.  Parv.  93,17),  Pg.  48,3;  132,16; 
133,34;  TcX-fjv  =  sed  Parv.,  As.;  icpoosxöc  Parv.,  Pg.,  Am.;  t^co«  Part 
6,28,  Inc.  152,6,  As.,  Am.  445,28;  530,18;  OÄÖ»eot<;  (d)c  -^  o.,  xati 
TT)v  0.)  Parv.,  Pg. ;  xpootvoc  Eth.  X  554, 28,  Am.  535, 20,  /dXxivoc  Am. 
512,7.  —  Einige  Ausdrücke  terminologischen  Charakters  und  solche, 
die  den  sachlichen  Inhalt  der  michaelischen  Interpretation  näher  be- 
rühren, seien  hier  besonders  zusammengestellt:  Parv.  9,5  rot  ^ap  h 
aoT-ß  (sc.  fjj  ^avxaotc})  I^Ypay^vta  .  .  .  öpöv  6  voög  aTcoooXt^  toic 
xadöXoo  Xöfooc  aotä>v.  Am.  483, 25  6  . . .  xadöXoo  Svd>pa>3cog,  6v  6  voöc 
6  iQ(i^t6pO(;  ÄTcö  TÄv  xa*'  Sxaota  aTceooXijoe;  vgl.  509,10;  514,19; 
s.  auch  Elias  prol.  28, 6,  Philop.  de  anima  u.  phys.  —  Atairop^sosiv 
von  den  einen  Eindruck  übermittelnden  Sinnen  Parv.  70, 19. 25,  Pg. 
223,15;  225,1,  vgl.  Part.  40,17.  —  Inc.  168,22  tö  iceptrtöratot  ivri 
Toö  iStwg  xal  8iaf  öpooc  itpöc  ta  iXXa  Ixoootv  elXifjÄtai,  Pg.  157, 7  tö  iceptrtöv 
foov  IotI  T(p  daojtaoTÖv  xal  8iay^pov  ffpög  ta  SXXa.  —  ^'Evotaotc  und  avtiica- 
paoTaotc  Inc.  157,30,  Am.  588,3;  vgl.  besonders  die  Sätze  Inc.  158,2 
Xooac  oov  a&T^v  ooxcoc  (nämlich  durch  ivtucapdoraGic  nach  dem  Voraus- 
gehenden) Xöei  taonjv  xal  xata  rJ]v  Svotaotv  Xi^cov  . . .,  Am.  a.  a.  O.  X&goc 

1)  Wo  ich  keine  SteUen  angebe,  sind  solche  aus  den  Wortindices  ohne  wei- 
teres ersichtlich. 


Cömmentaria  ip  Aristotelem  graeca  XXII 2  891 

oov  a&T-Jjv  xata  Ivotaoiv  X6ei  a&r^v  xal  xata  ivtiTcapÄoraotv  Xd^wv  . . .  — 
'EffaYooipij  8.  d.  Indices;  vgl.  besonders  Parv.  78,30  (ffioxoötat  Ix  tijc 
teaTcofJlc)  mit  Pg.  43,11,  As.  74,23.  —  Parv.  21,3  Xi^diijc  RÖfev  SXwc 
{leooXaßifjoÄoYjc ,  Am.  531, 1  Xi^dTjc  (t*?)  [leaoXaßifjodoTfjc.  —  Oöoioöo^at 
8.  d.  Indices;  insbesondere  vgl.  Parv.  138,29  toöto  ifdp  lottv  ii  yootc 
a&toö  xal  Iv  Toötcp  o&oCwtai,  Am.  602,2  toöto  ahzb  Xd^ovtsc  eivat  djv 
yooiv  a&Toö  xal  Iv  tooxcp  o&oi&odai.  —  QaXtvSpo(ieiv  (von  der  Natur) 
Parv.  100,26;  109,5,  Pg.  106, 15.  —  npovooo|iiv7i  o5v  (totvov)  (...)  i^ 
(p6oi<;  (...)  TcewotTfjxev  ...  Part.  68,20,  Pg.  141,31.  —  Ilpöoxptoic  (der 
Nahrung)  Mot.  113,19;  Pg.  205,1;  vgl.  d.  Indices  s.  v.  itpooxptvetv. 
—  'EpptCöodat  s.  d.  Indices  s.  v.  piCoöv  u.  vgl.  Inc.  158,32  oh  ^&p 
slotv  sie  ßAdog  lpptCcü|ilva,  Pg.  227,19  Iv  aitcp  ^ap  tcp  S^pfiatt  eloiv 
4ppiCc«>|i^vai,  iXX'  oöx  el?  ßAdo?  ...  21  too  (i-}]  elc  ßadog  aötag  ippi- 
CÄodat.  —  Parv.  23,1  XP^  •••>  avaYivwoxeiv  84  &:r6pßatddc  oSxooc;  vgl. 
Pg.  18,17,  Eth.  V44,27,  As.,  Am.  (Ind.).  Häufig  ist  der  Hinweis 
auf  die  Gewohnheit  des  Aristoteles  sich  so  oder  so  auszudrücken: 
aovTjdsc  YÄp  aitcp  ...  Part.  15,12,  Pg.  64,5,  As.  39,15;  84,7;  183,21, 
Am.  459,18;  466,20;  475,20;  496,16;  518,16;  Idoc  8k  a&tcp  Parv. 
137,17,  Eth.  V12,5;  20,7,  Eth.  IX.  X  s.  Index  p.  647  s.  v.  'Aptoto- 
tIXyjc,  As.  159,10,  Am.  807,37  vgl.  548,1.  —  Ein  anderer  für  die 
Exegese  verwerteter  Gesichtspunkt  ist  die  ^iXöoof  oc  e&Xdßeia  des  A. : 
Parv.  100,4  xb  »laaxjc  8ia  ^tXöooyov  xeltat  e&XAßeiav  (ebenso  Part. 
2,37,  Eth.  X530,2,  vgl.  auch  585,9),  Am.  513,36  xb  8'  >Xo(üc€ 
icpöoxeitat  y)  8ia  f  iXöoof  ov  e&Xdcßeiav  . . . 

Von  grammatischen  Erscheinungen,  die  in  allen  diesen  Kommen- 
taren wiederkehren ,  wie  el  c.  coni. ,  Stav  c.  ind. ,  £v  c.  coni.  als 
Potentialis,  fehlendem  Sv  im  Nachsatze  der  irrealen  Periode,  nom. 
absol.,  ist  bereits  oben  mehrfach  die  Rede  gewesen.  Ich  weise  hier 
nur  noch  auf  einige  Punkte  hin.  Die  Epanalepsis,  gewöhnlich  mit 
Sil  ^^^^  ^^^>  ^^^  ^^^  ^'1  besonders  in  früheren  Schriften,  geradezu 
Manier.  Einige  Beispiele  bieten  die  Indices  zu  Parv.  und  As.  s.  v. 
8i^,  oov,  ootog.  Auch  der  vorliegende  Band  enthält  Belege  in  Menge, 
z.B.  37,11;  39,15;  40,12;  44,15;  45,12;  57,33;  69,9.36;  70,11; 
75,23;  84, 12.  25.  32;  91, 18;  145,  2. 10. 14;  151,  7.  28.  31.  Die  näm- 
liche Vorliebe  zeigen  nun  auch  Pg.  (vgl.  u.  a.  6,31;  10,25;  12,25; 
16,  27;  22,  18.  31;  24,  12.  19.  30;  26,  34;  27,  35;  66,  10;  118,  33; 
123,1.24;  134,4;  164,15;  217,16.26),  As.  (Ind.  s.  81},  oov)  und 
Am.,  so  z.  B.  440,  8;  448,  13;  451,  10;  576,  12;  577,  34;  579,  33; 
583,28;  589,13;  594,18.29;  603,7;  646,36;  672,1.5.14  (vgl. 
hierzu  und  zu  589,31  besonders  Inc.  147,20);  774,22;  776,  11.  15; 
784,20;  824,13;  829,15;  831,25;  832,9;  833, 23 ;  834, 35),  und  zwar 
findet  sich  auch  hier  (z.B.  Pg.  24,19;  123,1;  134,4;  217,26,  Am. 


892  Gott,  gel  Anz.  1906.  Nr.  11 

594, 18) ,  wie  an  den  oben  S.  866  genannten  Stellen  und  andern 
der  unstrittig  michaelischen  Kommentare,  die  Epanalepsis  nicht  sdta 
nach  ganz  kurzem  Zwischenstück ;  das  dem  Verfasser  in  Fleisch  mid 
Blut  übergegangene  Streben  nach  Deutlichkeit ')  hat  hier  zur  Pe- 
danterie geführt*).  Auch  eine  andere  oben  Ö.  866  berührte  Bgen- 
tümlichkeit,  die  Verwertung  des  Schaltsatzes  in  dem  wiederaet 
nehmenden  Satzteile,  tritt  beispielsweise  Pg.  136,  15,  Am.  466,12 
hervor.  Die  Ellipse  Part.  5,  30  xal  icäc  äv  «epl  ä(x^oiv  iX^ojuv  (sc. 
oayifjvCCwv)  Imj-jfaYs  >xX{vif]  ^dp  lott  xtX.€  (ebenso  37,  37  xai  ääc,  i^s. 
>6  ji^v  -{äp  xtX.<,  39,4;  47,5;  61,20;  148,1  u.  ö.)  findet  sich  z.  R 
Pg.  57,  24  xal  tU  6  xaWXot>  Xö^o^,  licÄYst  »ivd^xi]  ^ap  xtX.«,  äbl 
447,9;  713,28.33.  —  Ebenso  ist  das  sehr  häufige  an  kein  ?erb. 
finit*  sich  anlehnende  \i^m  (vgl.  z.  B.  Part.  60,  1 ;  62, 17.  23,  Inc. 
140,1;  142,6;  145,17;  147,24)  auch  durch  Pg.  (z.  B.  120,15;  121 
8;  123,1)  und  Am.  (z.  B.  742,23;  744,11;  791,8;  806,10;  832,17: 
834,  33)  vertreten.  —  MdtXXov  beim  Komparativ  hat  wie  Part  80,3.4, 
Eth.  IX  499,  6  auch  As.  133, 18. 

Es  ist  im  Hinblick  auf  die  mehrfach  behandelte  Frage  nach  dem 
Verhältnis  des  Ps.-Alexander  zu  Syrian  sehr  lehrreich,  im  Lichte 
dessen,  was  bisher  über  den  Stil  des  M.  festgestellt  worden  ist,  pa- 
rallele Abschnitte  von  Am.  und  S(ynan)  zu  vergleichen.  Es  springt 
in  die  Augen,  wie  S.  in  Am.  in  den  Stil  des  M.  übertragen  worden 
ist.  lieber  die  Priorität  des  S.  kann  so  kein  Zweifel  mehr  bestehen^ 
Im  umgekehrten  Falle  wäre  es  unerklärlich ,  wie  S.  gerade  den  für 
Am.  und  die  verwandten  Kommentare  charakteristischen  Wendungen 
aus  dem  Wege  gegangen  sein  sollte.  Einige  Proben  mögen  den  Sach- 
verhalt klarstellen: 

1)  8.  0.  8.  872. 

2)  Auch  hier  läSt  sich  freilich  auf  den  mündUchen  Vortrag  als  Gnudkge 
dieser  Kommentare  hinweisen,  der  bei  der  Leichtflüssigkeit  des  gesprochene! 
Wortes  und  der  Unmöglichkeit,  die  Parenthese  durch  Interpunktionszeichen  abxn- 
sondern,  mit  Epanalepsen  freigebiger  zu  sein  pflegt,  als  die  schriftliche  Dv- 
steUung. 

3)  KroU,  der  sich  Conun.  in  Arist.  Gr.  VI  1  p.  VI  gegen  Freudenthal  für  dai 
umgekehrte  Verhältnis  entscheidet,  nimmt  daran  Anstoß,  daß  Ps.-Alexander, 
der  Verfasser  einer  fortlaufenden  Paraphrase,  Syrian  benutzt  haben  soUte,  der 
seinem  andersartigen  Zwecke  entsprechend  Aristoteles  nur  gelegentlich  pan- 
phrasiert,  und  findet  es  wahrscheinlicher,  daß  Syrian,  wo  er  zu  paraphrasieres 
Anlaß  hatte,  den  kontinuierlichen  Kommentar  nachgeschlagen  habe.  Die  sprscli- 
liehe  Untersuchung  zeigt,,  daß  das  a  priori  Unwahrscheinlichere  doch  Tatsadie 
ist.  Der  Name  des  Syrian  hatte  Gewicht  genug,  um  den  gelehrten  Byzantiner  ftr 
seinen  fortlaufenden  Kommentar  dessen  gelegentliche  Paraphrase  aufsuchen  and 
verwerten  zu  lassen. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2 


893 


S.  133,  31flf.  Am.  758,  3flF. 

'EXXiffc&C  efpifjxe  8ia  at>VTO(iCav,  'EXXwcöc  6fpt]tat  ^)  8ta  ßpa- 
t6  84  t^Xeiov  too  Xö^oo  tocoötöv  x^Xo'^la^^,  lou  84  to  r^Xetov  too 
iotiv  •  iXXi  (i^jv  0&84  tooto  8et  Xöifoo  toioötov,  aXXa  ]L^y  ohSh  toöto 
Xavddveiv,  Sti  at)[ißaCv6t  xatdc  ta&-  8er  Xavddiveiv,  Stt  at)[ißaCvet  xata  tao- 
tYjv  rJjv  &ffödeotv  SvMa^  8od8a>v  nrjv  t^jv  ^Tcodeotv  8od8a(;  8Dd8o>v  wpo- 
elvai  ffpot^pac  vm  SXXodc  aptdfiODc . .     tdpac  slvai  (toötooYAplott  811]- 

XcDtixöv  to  ffpot^pac  xal  &ot§pac 
eivat  8oA8ac)  xal  SXXoog  ffdXiv  aptd- 
|io6c  . . . 

Am.  762, 17  f. 
Toöto  foov  lotl  t(j)  8i(bdaotv 
aicopeiv  Tcpög  iaoto&c  ot  8taf tfpooc 
tac  (iovd8ac  X^ovte?'  tö8'iffopo6- 
[tevov  toioötov*),  Tcötepov  4ffö 
too  860 ... 

Am.  765,  33  f. 
Kai  lottv   1^  oovaYooT^l   '^^^ 
XöYoo  toiaott]'   el  6  (laOijjtati- 
xöc*  .  . 

Am.  771, 12  f. 
'EXXi7Cü)(;    iwTijYYeXtai*    -^v 
8'äv    to  tfjc   X§$6o>c   tlXeiov, 
el    ootco    7ca>c    "Jiv    7eYpa[i'|Ji'6- 
vov*)'  Stt  ätoitov  .  .  . 
Am.  772,22flF. 
^'Ett,   ytjoC,   xal  ix  tÄv  |ie7ed'ti>v 


S.  138,24. 
Elcodaoi,  yifjolv,  iffopstv,  wötepov 
&ICÖ  too  800  .. . 


S.  141,  7. 
'0   |i4v   oov   Tcdg  Xö^oc  toioötog' 
el  8  (ta^iJLatixbc  .  .  . 

S.  149,15. 
AelTcei  t(p  X6yc|),   to  ^ap  tdXeiov 
•^v  Stt  ätoffov  .  .  . 


S.  150,28f. 

''Ett,  ytjal,  xal  Ix  twv  |ie7ed(&v 

i86Cxvoov,  8tt  (L^pt  8exd8oc  icpod^etv     8eixv6eiv   iwetpövto    8ti  (i^t   tfjc 

XP*?]  töv  dpid[iöv.  8exd8o(;   (taöttjc  Y^p   4ott   811]- 

Xoottxöv  to  (iixP^  ^^^^^)  ^po^Y^tv 
Xp*?)  töv  iptO(idv. 
S.  152,30flF.  Am.  776,llflf. 

'EicetS-?)  (a6t(j))  tcp  Svl,  fifjol,  ta&-         .  ,  .  I7cei8i)   a&tcp  tcp   evl,   taätöv 
töv  84  elicetv  tg   apx'JjYtx^  |iOvd8t,     84  eliceiv  rj  apxixj)   (iovd8i,   &(ioto- 

1)  Das  Passiv  ist  in  dieser  Verbindung  bei  M.  weitaus  das  Gewöhnliche. 

2)  Auch  auvTO(A{a  findet  sich  bei  M.,  doch  ist  in  den  Wendungen,  in  welchen 
es  sich  um  die  Kürze  als  Ursache  des  ÜXnzU  oder  iaa^ii  handelt,  ßpaxuXoY^z  vor- 
herrschend oder  alleinherrschend. 

8)  Vgl.  Eth.  V60,4  loTi  li  t6  dicopo6|uvov  . . .  toioOtov  (Mot.  109,24  Ion  U 
zb  diropo6(ievov). 

4)  Vgl.  dazu  Konstruktionen  wie  Mot.  126,18,  Parv.  22,22;  57,13,  Eth. 
V19,21;  42,6;  66,6  (dazu  Am.  774,34;  835,26),  Pg.  104,3,  As.  189,34;  zum 
Schluß  (c{  . . .  i^v  7tTpafi|Uvov)  auch  Eth.  V  41, 18  (c{ . . .  cti]  jqpaixfAivov). 


894 


Gdtt  gd.  Anz.  1906.  Nr.  11 


6|i.ototipa  iotlv  i^  iv  rQ  SodSi  (lovac 
ijicep  1^  8oAc  {'il  piv  YÄp  Swctpen^, 
1^  8fe  aStalpetoc),  to  84  rj  ipxt) 
6|toidx6pov  icpörepov ,  icpotdpa  Sv 
sfij . . . 


8.  153,28f. 

''A{l4v  Iv  toDTOic  aicopel,  toiaöcd 
ioxiv  •  apa  TOO  Sv6c  too  7cpa)xoo  d]v 
itpa>nf]v  Tfjc  8t)48oc  jiov48a  taxt^ov 
hfzifi^  ^  oS. 

S.  189,34flF. 
*E£f)c    86   fifjoiv    8x1   oovtCd>eyTat 
^litXXov  ol  ipt^jtol  h  Totc  Xö^otg  yJ 
icoXXaicXaotdCovtat  * 


tdpa  iotlv  1^  iv  rQ  SodSt  (fcovac  IjffEp 
1^  8odc  (i^  |tiv  Y^P  '^C  Stotpen^, 
1^  88  (iovac  1^  iv  a&rg  aStaCpetoc  . . .) 
iicel  oov  6|ioioT^pa  i^  Iv  Tjj 
8od8t  (Lovac  t'g  ^PX^^t)  P*^ 
vd8t  (Epanalepsis),  xb  Sk  tf  &pxi 
6|ioiötspoy  icpöt^pov,  icpot^  ov 
efif]  . .  . 

Am.  776,31. 

.  .  .  Soti    Sb     zb    X67d|L6Vov 

totooTOV  icdrepov  Tcp  Ivl  tcp  9cpo- 

tq)  xal  ipx^)^  ti)v  xpconQV  Tijc  aito- 

8t>d8oc  (iovd8a  taxtdov  Iqpef-jjc  ^  oS. 

Am.  830,  26  ff. 

El9cd>v  84  8x1  iv  rg  vodv  ototxeuAV 
|jl[£6i  oovxidevxai  itdtXXov  ol  apid^oi, 
oXX'  o6  icoXXaicXaoidiCovxai »  tT]v 
alxiav  8i'  ijv  o&  icoXXaicXaotACovxot 
X^Yst'  to  Yap  a&rö,  f^TjoC,  8st  7^0; 
6ivat  iv  xatc  icoXXaicXaoidoeotv  *  8 
84  X4y6i  8ovd{i8t  rotoöxöv 
4otiv  Iffsl  Yap  6v  xotc  TcoXXawXa- 
otaoiiotc  if)  |iCa  xXeopa  xal  6  etc 
aptd>(iöc  (tetpet  töv  SXov  ipcdjiov . . . 

Am.  832, 17  f. 
...  81'   &<;   attta    X^ooot   raöta 
(xaoxa  X4yü>v  xodc  ipt^{io&c)    tiov 
icpaYititoDV. 

Am.  835, 11  f. 
''Ofoov  4<3tl  xcp  iicetS:^  ta  iCSta 
tdtaxxai  xal  ael  &<3a&ta>c  £x^^  itoXXy^ 
4x'  a6tfiöv  e6icopia  . . . 
Die  Identität  der  Verfasser  von  Pg.,  As.  und  Am.,  die  sich  uns 
bisher  aus  sprachlichen  Indizien  ergab,  wird  nun  auch  durch  sach- 
liche Momente  bestätigt.  Eth.  IX  467,  2fif.  bemerkt  M.:  iv  S^xa 
Yap  xal  tpiol  tpöicotc  1^  ib^naooL  itetpa  y)  i(ticeipCa  toota>v  (sc.  twv 
aofiozm)  4<3tivtt>xat,  6(io>vo(iiG}  a(ifißoXiG}  oov^daei  8taip4oet  TcpoocpSiG^ 
(syil^ati  X^^eox;  xal  XoiTcotg  e^ctdc,  xal  efpifjvtai  icAvxec  iv  tote  So^totixoic 
iX^YX^^C  tcp  'ApiototiXei  xal  4|iol  iv  taic  <elc>  ixelvooc  ^paLfp^loai^  jtot 
ayipkali;.  Daß  mit  diesen  oxoXal  As.  gemeint  ist,  ergiebt  sich  daraus, 
daß   wie  an  der  ausgeschriebenen  Stelle  so  auch  A3.  20, 15  ff.,    und 


SXo)c  Y^P  ^v  '^o^C  ?coXXa7cXaataG(iotc 
\Lia  icXeopa  {tetpet  töv  8Xov  aptO- 
(töv.. . 

S.  191, 13. 
...  81*   Sc   altia   XdYOoai    taöta 
tftbv  3cpaY|iAttt>v. 

S.  193, 13  f. 

'EÄ6t8'}]  ta  it8ia  x4xaxtai  xal  isl 
a)oa&to>(;  Sx^t,  tcoXXt^,  ^Yjoiv,  iic* 
a6t(ov  e^Tcopta  . . . 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  895 

zwar  hier  in  ausdrücklichem  Gegensatz  zu  Aristoteles  ^),  der  Ausdruck 
tpdicoi  nicht  wie  bei  Aristoteles  ^  für  die  beiden  Hauptgattungen  der 
Paralogismen,  sondern  für  die  unter  diesen  Gattungen  begriffenen  Arten 
gebraucht  wird.  Ebenso  stimmen  beide  Stellen  überein  in  derVereinigung 
der  tpöTcoi  beider  Klassen  zu  einer  13  betragenden  Gesamtheit  (so  auch 
As.  1,13).  Wie  hier  mit  Eth.,  so  wird  As.  mit  Parv.  dui-ch  eine  be- 
reits von  Wendland  zu  Parv.  32,  3  (vgl.  Praef.  p.  VI  Anm.  1)  her- 
vorgehobene Berührung  verbunden.  —  Reichliche  Verwendung  findet 
bei  M.  der  Gegensatz  oTcoxeitt^vcp  —  Xöifcp,  der  allerdings  nicht  ihm 
eigentümlich  ist  (vgl.  z.  B.  Simpl.  in  phys.  439, 33 ;  446,  3,  Alex,  in 
met.  257,  27,  Philop.  in  phys.  729,  11  [728,6]).  S.  die  Indices  zu 
Parv.  Pg.  Am.  Besonders  nahe  stehen  einander  im  Gedanken  As. 
126,  35flf.,  Am.  449,  20flf.  —  Der  ffpötoc  voöc,  von  dem  Parv.  10,13 
und  der  Parv.  24, 27  f.  zitierte  Vers  reden  (vgl.  dazu  Wendland 
praef.  p.  VI  Anm.  3),  kehrt  Am.  710,  36 ;  714, 12  u.  ö.  (s.  Index) 
wieder;  mit  dem  Epitheton  7coXoT{(iif]toc,  das  der  (icpcdtoc)  voög  Parv. 
10, 13  erhält,  ist  der  voöc  Am.  463,  34  u.  ö.  (s.  Index  s.  v.  vo6c;  mit 
710,  36  TÖv  ffoXoT[|iTf]tov  xal  icpc&tov  voöv  vgl.  Parv.  10, 13  töv  icpmov 
xal  7coXoT(|nf]Tov  voöv)  und  als  wpwnf)  ipx^i  auch  Pg.  64, 6  ausgezeichnet. 
Die  letztere  Stelle  wird  durch  die  Bezeichnung  der  7rpa>T7j  ipxi} 
als  C(pov  (^[Stov  Sptotov  (dies  aristotelisch,  cf.  1072  b  29)  mit  Am.  699, 
28  verknüpft,  wie  Parv.  11, 14.  22  durch  den  xa*'  ijtv  (Iv  ISet)  voöc 
mit  Am.  697, 17;  698,  2.  Die  nämliche  Anschauung  über  die  gXXa(t(|)ic 
des  dopadev  voöc  bekunden  Eth.  X  580, 19flF.  und  Pg.  84,  27flF.  — 
Die  4>t)xixY]  SüvajtK;  spielt  Inc.  145,  7.  35 ;  1 48, 28,  Pg.  47, 1  die  gleiche 
Rolle.  —  As.  159, 10  f.  tcp  8^  tö8e  ti  Idoc  a&tcp  inl  f^c  atö|ioo  xp*^" 
oftai  o&otac  berührt  sich  nahe  mit  Am.  459,  18  f.  o6v7]d6(;  ^ap  t$ 
'AptotOT^Xei  ivtl  TTjc  o^atac  tö  töSe  tt  xal  zb  zi  iozi  Xa(ißdveiv;  das 
Gleiche  Am.  640,  32  f. ;  807,  37 ;  812, 5  f.  Auf  naturwissenschaftlichem 
Gebiete  stimmen  z.  B.  Part,  und  Pg.  in  dem  was  sie  über  das  xpo- 
oxaXXoetS^c  des  Auges  (Part.  45, 1  f.  Iicel  ^dtp  Jott  tö  tijc  8<|)6a)<;  al- 
oÄTjTTiJptov  tö  xpooxaXXoeiSdc,  Pg.  112, 15  f.  X^^cov  alo^TjtTiJpiov  tö  xpo- 
otaXXoeiS^c,  vgl.  auch  Pg.  217,26,  für  weitere  Stellen  die  Indices), 
die  iictixi)  SövajiK;  (Part.  45,  8,  Pg.  112, 16),  die  xi'f<«jV6<;  der  Augen 
(Part.  45,10,  Pg.  112,17.29.31.32)  über  Aristoteles  hinausgehend 
lehren,  unter  einander  überein.    Man  beachte  ferner  die  Verwendung 

1)  Zu  Arist.  165  b  23 :  NOv  irpoT^detat  X^yeiv  irepl  täv  TpfJiruiv  täv  irapoXoTtOfiüiv 
hixa  Ik  xal  Tptöv  a^txdjv  ^vTtüv  Wo  Tp<$7couc  a{>Td)v  thai  ;pT)aiv.  tt-q  V  5v  dvtl  tou 
etSou;  Tov  Tp<j7:ov  7:apaXa(jißc^vu)v  xal  lan  Tp<J7cov  xivd  Xiycov  outcoCy  Äri  zthri 
Tcuv  ao;p(aT(xu)v  lvo^Xi^aeu>v  eCat  56o  xal  zb  piv  Sv  tujv  e^Süv  li  Tp($icouc  ntpci^cc, 
Touc  Tcapd  t)]v  Xi&v  XcYOfjL^u;,  t6  hi  Irepov  kmd,  ot^c  l^ta  xoXel  t^c  Xi£eu)C. 

2)  Soph,  elench.  p.  165  b  23.  Später,  p.  166  a  14  ff.,  verwendet  Ar.  den  Ausdruck 
für  spezieUe  Variationen^  einzelner  Arten. 


896  Oött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

von  kffjfoptb^  und  olvoc  zu  Vergleichen  Part.  43,6,  Parv.  110,4,  Pg. 
25,28.31,  Am.  461,7;  518,36,  (Part.  56,8  nach  Arist.  666  a  17  f.), 
die  mehrfache  Uebereinstimmung  der  Exegese  in  der  Behaodlnng 
der  Konjunktionen  (s.  d.  Indices  s.  v.  a6v860(ioc),  das  fast  wörtliclie 
Zusammengehen  von  Eth.  Y  43,  10 1  xal  oxÖTcet  ri]v  'ApiototiXooc 
ifX^votav  Ziciöc  . . .  ivdftjve  . . .  und  Am.  520, 18flF.  xal  5pa  rJjv  too  'Apt* 
otoT^XoDc  ifx^voiav  Sttcoc  . . .  I(if  aCvst . . . ,  den  ähnlich  lautenden  Anfang 
von  Eth.  R:  Tö  irapöv  ßißXtov,  8  Sdxatov  (idv  iovt  xcov  'Hdixc^v  Nixo- 
Ita^sUttv,  K  %  SOoc  toic  Ix  toö  IlepiTrdLtoo  iirt^pd^eiv  und  Metapb.  A 
(Am.  668,2):  'Ev  tcp  irapövxt  ßißX[«j>  t^<;  Meta  ta  4>t>oixd,  8  XdiißSa 
ToiC  IIspticanrjTixolc  iict^pd^etv  odvyjOsc  (vgl.  auch  Am.  633,  23)  und 
dergL  mehr. 

Wir  erhalten  so  für  die  Beurteilung  der  kommentierenden  Tätig- 
keit des  M.  eine  genügend  breite  Grundlage.  Das  Urteil  wird,  so- 
weit es  sich  ohne  Kenntnis  der  Quellen  des  M.  überhaupt  fällen  läßt 
(s.  unten),  im  ganzen  nicht  ungünstig  lauten.  Der  Verfasser  ist  zwar 
kein  tiefdringender  philosophischer  Geist  mit  eigenen  Gedanken,  wie 
manche  antiken  Kommentatoren.  Dafür  entschädigt  er  aber  den  Leser 
reichlich  dadurch,  daß  er  seinen  Schriftsteller  in  nüchterner  usd 
tendenzloser  Weise  aus  sich  selbst  erklärt  ohne  ihm  fremde  Ideen 
aufzuzwingen,  ohne  unter  dem  Gesichtswinkel  des  Piatonismus  gegen 
ihn  zu  polemisieren,  wie  Syrian,  und  ohne  den  Versuch  ihn  mit  Piaton 
in  Einklang  zu  setzen,  wie  Simplikios  u.a.  Wir  werden  zwar  weiter 
unten  gelegentlich  recht  deutliche  Kennzeichen  des  Platonismos 
späterer  Zeit  bei  ihm  hervortreten  sehen.  Aber  solche  platonischen 
Anschauungen  haben  doch  seine  Auffassung  und  Darstellung  der  ari* 
stotelischen  Lehre  nicht  in  tiefgreifender  Weise  beeinflußt^).  So 
mögen  diese  Kommentare  trotz  mancher  Verkehrtheiten  im  einzelnen 

1)  Aristoteles  ist  für  ihn  überaU  die  grofte  Autorität.  Er  nennt  ihn  nach 
dem  Vorgang  Früherer  wiederholt  iatfjtrJvio;  (s.  d.  Indices  u.  d.  W.,  Part.  16, 13), 
Am.  538,  28  daufxaaToc  o^e  dvi^p.  Pg.  158, 27  ist  ihm  Arist.  ^t'^raxoc  tloX  ^iXosö^w 
xopu^pai^xaToc,  ebendort  rühmt  er  mit  Rücksicht  auf  das  gen.  anim.  760  b  27  ff.  Be- 
merkte seine  jxeTpidtT];,  an  anderen  Orten  seine  dtyx^voia  (Eth.  V43, 12  [Parr. 
84,11],  Am.  520,19;  690,3),  Am.  538,28  sein  eufjiidoSov  und  dYxivo'jöxaTov.  Seine 
Verdienste  am  die  Logik  betont  As.  198,13  (vgl.  auch  101,25),  seine  Bedeutung 
fftr  die  Lehre  von  8uvdf(jiei  und  htpftic^,  xaO*  auT(5  und  xaxd  crufißeßTjXfSc  nach  dem 
Vorgang  anderer  Erklärer  (fi;  «paoiv  i^jrixd)  Part.  32,27.  In  der  Unsterblich- 
keitsfrage darf  kein  Widerspruch  zwischen  A.  und  der  christlichen'  Lehre  be- 
stehen: Eth.  X  576, 31  xal  ^Xov  i%  to6tu)v  <i)«  ol  X^yovcec  xov  ApiOToxiXT^v  OvtjTijv 
8o5dC«v  T^v  4n)xV  o6Wv  Ti  X^Youaiv.  —  Die  Verehrung  für  Arist.  hindert  ihn  aber 
nicht,  gegen  dessen  DarsteUung  gelegentlich  einen  Tadel  zu  äußern.  So  Am. 
673, 34  ff.   irflfvu   TeTapayfAivtug  xal  «p6p8T)v  xal  o<i  xcTaYfjivwc  0'j5'  dxoXou^c  hzdhiti  td 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  897 

doch  im  ganzen  die  aristotelischen  Studien  im  Byzanz  der  damaligen 
Zeit  wohl  gefördert  haben,  und  sie  dürften  sich  zur  Beihülfe  für  das 
Verständnis  des  Aristoteles  auch  heute  nicht  ganz  unbrauchbar  er- 
weisen, vorausgesetzt  daß  der  Anfänger  das  vdf  e  xal  (t^pao'  iiciotetv 
beherzigt.  Die  hier  in  breiter  Weise  geübte  periphrastische  Art  der 
Erklärung,  die  den  aristotelischen  Ausdruck  vervollständigt  und  von 
Satz  zu  Satz  die  Gedankenbrücke  schlägt,  ist  bei  der  Knappheit  des 
Stils  der  aristotelischen  Lehrschriften  von  großem  Werte,  und  wenn 
M.  dabei  manchmal  platt  und  trivial  wird,  so  geschieht  es  im  lieber- 
eifer,  den  Gedanken  des  Schriftstellers  so  klar  zu  machen  wie  irgend 
möglich.  Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Lehrvorträge,  die  dem 
Kommentare  zugrunde  liegen,  sich  an  Anfänger  richteten.  Ein  häufig 
angewandtes  Mittel  der  Verdeutlichung  ist  die  Anführung  von  Bei- 
spielen. Die  Absichtlichkeit  tritt  hier  klar  hervor,  wo  solche  Bei- 
spiele in  den  Text  einer  sonst  fast  wörtlich  ausgeschriebenen  Quelle 
eingefügt  sind,  wie  dies  z.  B.  Eth.  V  11,  29 f.  geschehen  ist;  olov  i^ 
(Loixsta  xtX.  ist  hier  Einschub  in  den  vom  Anonym,  in  Eth.  Nie.  V 
213,  öflF.  (Comm.  in  Arist  Gr.  vol.  XX)  gelieferten  Text.  Ebenso 
Eth.  V  31,27  otov  <el>  ixbfXfüoi  ttc  ttva  ivtito^Xw^^vai,  (al)  Sto^pev, 
ivTiToyd^vat  verglichen  mit  Anon.  222,  20,  Eth.  V  32,  7  «oö  ^ap  tö 
xat'  iSiav,  el  SoöXoc  s&7svfj  xxX.  10  o5  ^ap  iSövta  ivtl  iSövtoc  xtX. 
verglichen  mit  Anon.  223,  2.  4.  Aehnliche  Veranschaulichungen  am 
Einzelfall  enthält  z.  B.  Part.  l,14ff. ;  3,  5fif.  Wenn  möglich  liebt  es 
M.  Erfahrungen  aus  seinem  eigenen  Leben  oder  dem  seiner  Itaipot 
zu  verwerten;  s.  o.  S.  863.  Nicht  selten  wird  die  Darstellung  da- 
durch lebendiger  gemacht,  daß  Sprechende  mit  direkter  Rede  einge- 
führt werden,  wie  z.  B.  Eth.  V  26,  34 ff.;  38,  20 ff.;  Prosopopöie  der 
Tiere  und  Pflanzen  Part.  22,  21  ff. 

Ein  Umstand,  der  der  Exegese  sehr  zustatten  kommt,  ist  die 
ausgedehnte  Beschäftigung  des  Verfassers  mit  vielen  Teilen  des  ari- 
stotelischen Korpus,  wie  sie  schon  in  der  verhältnismäßig  großen  Zahl 
von  Kommentaren  zu  sehr  heterogenen  Schriften  zutage  tritt.  Er 
ist  so  imstande,  für  eine  Stelle  aus  einer  andern  Belege  oder  Bei- 
spiele zu  gewinnen  und  so  jene  durch  diese  zu  beleuchten.  So  wird 
Eth.  IX  486, 15  die  eovoux  in  ihrem  Unterschiede  von  der  ^ iXta  durch 
das  aus  den  Magn.  moral,  entnommene  Beispiel  von  solchen,  die  in 
Qriechenland  lebend  dem  Dareios  wohlgesinnt  waren,  ohne  daß  dieser 
von  einer  solchen  eSvoia  etwas  wußte,  veranschaulicht,  488, 28  der 
Begriff  der  Metapher  durch  Beispiele  klar  gemacht,  die  die  aristote- 
lische Rhetorik  liefert  Nicht  selten  sind  Verweisungen  auf  die  von 
M.  selbst  kommentierten  Schriften,  wie  Eth.  V  9,  31  f.,  As.  10, 9  u. 
a.  a.  St.    Oft  gelingt  es  durch  Heranziehung  von  Begriffen  und  Ter- 


898  Gott  gel  Anz.  1906.  Nr.  11 

mini  aus  anderen  aristotelischen  Stellen  ein  Problem  schärfer  zu  fassen 
oder  ihm  neue  Gesichtspunkte  abzugewinnen,  wofür  z.  B.  Part.  2, 32  ff. 
(Anwendung  der  Termini  »synonyme  und  »homonym«)  zu  ver- 
gleichen ist. 

Von  anderen  Philosophen  ist  naturgemäß  am  stärksten  Piaton 
berücksichtigt.  An  einigen  Stellen,  für  welche  eine  Vergleichong  mit 
der  Quelle  möglich  ist,  zeigt  sich,  daß  die  Piaton  und  Platoniker  be- 
treffenden Bemerkungen  Zusätze  des  M.  sind;  sie  zeugen  also  für 
sein  persönliches  Interesse  für  die  platonische  Lehre.  So  Eth.  V  25, 
28ff.^)  verglichen  mit  Anon.  in  Eth.  V  219,10,  Eth.  V  47,  17  mit 
Anon.  233, 1,  Eth.  Y  66, 5  ff.  mit  Anon.  248,30.  Unter  den  selteneren 
Erwähnungen  nacharistotelischer  Philosophen  ist  u.  a.  Eth.  X  598, 
20  ff.  (Stoic,  vet.  fr.  coll.  J.  ab  Arnim  in  no.  17)  von  Interesse,  wo 
der  Beweis  angetreten  wird,  daß  nach  epikureischer  und  stoischer 
Lehre  die  Glückseligkeit  auch  den  Sko^a  C(pa  zukomme  im  Gegen- 
satze zu  platonischer  und  aristotelischer  Doktrin,  die  die  6&8ai(iovta 
auf  die  voep&  C<oi^  begründe.  Wir  treffen  hier  einen  Niederschlag 
sehr  alter  Polemik,  in  die  uns,  was  Epikur  betrifft,  auch  der  plutar- 
chische  Gryllos  einen  Einblick  gewährt ') ;  für  die  Stoa  käme  die  von 
Dyroff,  Blatt,  f.  d.  Gymn.  33  (1897)  S.  399ff.,  34  (1898)  S.  416ff., 
Hobein,  De  Max.  Tyr.  quaest.  philol.  sei.  (Jena  1895)  S.  70  tt.  be- 
handelte Literatur  in  Betracht.  Die  Polemik  gegen  die  Stoa  bewegt 
sich  hier  in  anderer  Richtung,  aber  hier  wie  dort  spielt  die  Nator- 
gemäßheit  des  Tierlebens  eine  entscheidende  Rolle. 

Was  die  Einrichtung  der  Kommentare  angeht,  so  pflegt  M.  wie 
viele  unter  seinen  Vorgängern  jeweilen  zunächst  den  Sinn  ddr  ari- 
stotelischen Stelle  im  allgemeinen  festzustellen,  um  alsdann  zur  Be- 
sprechung des  Wortlautes  im  einzelnen  überzugehen:  Parv.  146,  33 f. 
Sei  Sh  Tcpötepov  t^v  iräoav  'AptototiXooc  Stdvoiav  ixO^oOae.  xal  mxtA^  tä 
icepl  djy  Xiiiv  iTceXOsiv^.  Die  Stellen,  an  welchen  in  dieser  Weise 
Scdvota  und  Xdgtc  einander  entgegengestellt  werden,  sind,  wie  schon 
oben  S.  885  gezeigt  wurde,  sehr  zahlreich.  Daß  es  sich  hier  um 
zwei  mit  Bewußtsein  unterschiedene  Seiten  der  Technik  des  Eommen- 
tierens  handelt,  zeigt  am  besten  Parv.  142, 11  ff.,  wo  M.  von  den 
Nachfolgern  seines  hochgepriesenen  Lehrers  klagt,   daß   unter  ihnen 

1)  Der  dem  angeklagten  Sokrates  in  den  Mond  gelegte  Anssprach  Soxp^njv 
'A8i)vaIoi  flXd^oLt  filv  Suvavrai,  dlixf^aai  li  o6  S6vavTai  ist  eine  Umformang  toh  Plat 
apol.  SOG.  Das  MittelgUed  büdet  die  Formaliemng  bei  Epiktet  u.  a.  (s.  d.  Stetten 
bei  Hobein,  De  Maximo  Tyrio  quaest.  philol.  seL  p.  33) :  iyii  ^i  'Avuroc  xal  MiXi^to« 
dTCOXTcIvai  (jiiv  S6vavTat,  ßXct<{;at  hk  o!j  (o6  S6vavTat). 

2)  Vgl.  Usener,  Epicorea  p.  LXX. 

3)  S.  über  dieses  Verfahren  auch  GfGA.  1904  S.  382  f.,  Id06  S.  532  AbulS. 
Vgl.  auch  Philop.  in  phys.  175, 26. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  899 

die  einen  von  dem  Sinn  dee  in  den  Schriftwerken  Niedergelegten 
überhaupt  nichts  verstehen,  itv^g  S^  twv  x^P^e^'c^pcov  ttJc  jtäv  Siavoiac 
If  dictovtat  <3icopdlSif]V,  toö  S&  tyjv  X^^tv  xadiotdveiv  icöpp«)  icoi  iicoTcXa- 
vcovtaiy  SXXot  6'  SXXa>c.  Gewöhnlich  geht  bei  diesem  Verfahren  die 
Besprechung  der  Sidvoia  voraus  und  die  der  Xi£i(;  folgt,  doch  hat 
bisweilen  auch  die  umgekehrte  Reihenfolge  statt,  wie  Eth.  V  37,  7 ; 
41,  20,  Am.  653,  19. 

Ein  abschließendes  Urteil  über  die  Kommentare  des  M.  wird 
sich  erst  fallen  lassen,  nachdem  festgestellt  ist,  wieweit  er  von  Vor- 
gängern abhängig  ist  und  wie  er  diese  benutzt  hat.  Für  viele  Partien, 
für  welche  uns  heute  jedwede  Parallele  fehlt,  wird  die  Frage  unge- 
löst bleiben.  Für  andere  wird  eine  Vergleichung  mit  dem  echten 
Alexander,  Syrian,  Philoponos,  den  Kommentaren  zu  einzelnen  Büchern 
der  nik.  Ethik  u.  a.  zweifellos  Ergebnisse  liefern,  lieber  das  Ver- 
hältnis von  M.  in  eth.  V  zu  dem  Kommentar  eines  A(nonymu8)  zu 
dem  gleichen  Buche  (Comm.  in  Arist.  6r.  XX  p.  205  ff)  hat  V.  Rose, 
Hermes  5  (1871)  S.  71,  ohne  Begründung  die  Meinung  ausgesprochen, 
A.  bilde  die  wesentliche  Grundlage  für  M.  Das  erweist  sich  bei 
näherer  Untersuchung  als  richtig;  nur  scheint  M.  einen  bessern  Text 
von  A.  besessen  zu  haben  als  wir.  Jedenfalls  steht  die  Priorität  von 
A.  fest.  Schon  oben  sind  uns  Stellen  begegnet,  an  denen  M.  die 
aristot.  Darstellung  durch  Beispiele  erklärt,  die  A.  nicht  kennt  Es 
ist  wahrscheinlicher,  daß  M.,  dessen  Vorliebe  für  solche  Zutaten  sich 
aus  seinen  anderen  Kommentaren  beweisen  läßt,  hier  Zusätze  gemacht, 
als  daß  A.  gestrichen  habe.  Das  Gleiche  gilt  von  den  eingestreuten 
Bemerkungen  über  platonische  Sätze.  Auch  für  manche  weiteren 
Stücke  ist  wohl  ein  subjektiver  Grund  zur  Einfügung  durch  M.,  nicht 
aber  ein  solcher  zur  Tilgung  durch  A.  zu  erkennen.  So  ist  12,  5  ff. 
9  ff.  unter  Verweisung  auf  die  aristot.  Metaphysik  die  Theorie  von 
den  (lexa^t)  ((t^oa)  tä>y  ts  oovo>v6(i(i>v  xal  tcov  (xop£o)c)  6(io>v6(io>y  und 
den  isf  Ivöc  xal  irpög  h  vor  A.  213,  13  eingeschoben.  Der  Gegen- 
stand lag  M.  nahe,  der  ihn  im  Kommentar  zur  Metaphysik  (Am.  641, 
17  ff.)  behandelt  hatte  ^).  Ebenso  erklärt  sich  die  Verweisung  auf 
die  Toxepa  avaXottxd  9,  30  ff.  (vgl.  A.  211,29)  leicht  daraus,  daß  M. 
auch  diese  Schrift  kommentiert  hatte.  Das  Gleiche  gilt  von  der 
Quellenangabe  Iv  tote  Toicixoic  4,  5,  wo  A.  206,  25  die  aristot.  Schrift 
ungenannt  gelassen  hatte.  Manche  Zitate  liegen  bei  A.  vollständiger 
oder  richtiger  vor  als  bei  M.,  ohne  daß  irgendwelche  Indizien  für 

1)  Die  Theorie  gehört  nicht  Aristoteles,  der  an  den  hierher  gehörigen  Stellen 
(met  1060  b  31  ff.,  lOOSaSSff.)  weder  der  \U^ol  auvo)v.  x.  6{jui)v.  noch  der  d^'  h*^ 
xal  7tp6c  h  gedenkt.  Michael  faftt  wohl  auf  Alex,  in  metaph.  241, 8  ff.  Vgl.  auch 
Syr.  in  met.  54, 23  ff.  \  56, 17  ff. ;  57, 18  f. 


900  G(ytt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

nachträgliche  Ergänzung  oder  Korrektur  sprächen;  vgl.  A.  210,  12 
mit  M.  8,  11,  A.  222,25  mit  M.  31,32.  Zu  dem  A.  234,  16  aas 
Herodot.  5, 92  angefahrten  dixauoost  Sk  Köptv^v  setzt  M.  49, 13,  am 
den  Satz  nicht  subjektlos  zu  lassen,  nach  eigener  falscher  Vermataog 
ein  6  Zs^c  hinzu.  Daß  A.  die  Herkunft  des  Zitates  gekannt  und  den 
Zusatz  gestrichen  haben  sollte,  ist  äußerst  unwahrscheinlich. 

Die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  philologische  Erklärung,    die  M. 
8,11;  31,32  zur  Streichung  der  Dichterstellen  veranlaßte,    tritt  46, 
22  ff.  in  charakteristischer  Weise  auch  gegenüber  dem  tod  A.  232, 
15  ff.  beigebrachten  historischen  Material  zutage  und  führt  zur  Kür- 
zung in  einer  Form,   die   wieder  das  Prioritätsyerhältnis   erkennen 
läßt.    A.  führt  Aristot.   1134b  21  f.   tb  päc  XoTpo6ad>at    auf   einen 
zwischen  den  Athenern  und  Lakedaimoniem  über  die  Auswechslung 
der  Gefangenen  geschlossenen  Vertrag  zurück,   für  welchen  er  sich 
auf  eine  Androtionstelle  beruft    lieber  das  bei  Aristoteles  folgende 
«6  aqa  ^6eiv  &XXa  |i.t]  8&o  icpößata  hat  er  oder  der  von  ihm  ausge- 
schriebene Vorgänger  nichts  finden  können,  und  er  bemerkt  daher 
t6   8i  alfa  Meiv  iXXa  |i'i)  86o  icpößata  o&x  inb  lotopCac  tivöc  elpifcau 
Bei  M.   ist   die  Notiz  über  jenen  Vertrag  zwischen  Athenern  und 
Lakedaimoniem  durch  Folgendes  ersetzt:    xal  tooc  cdxv^aX&voo^  nm- 
Xtlv  &c  ßo6XovToii  ol  xexpaDQXÖtec  xal  Siä  icoCcov  iSidcf  opov  "J^v,  vöfLOo  ü 
teddvToc  (iiQf  (tv^  9ci9cpdax6iv  o&x  SXXooc  &9C62C8oov  tl  ifi]  2ia  (tvdc.    Gleich- 
wohl ist  die  Bemerkung  über  t6  Sk  aqa  ^oetv  u.  s.  w.,    die  bei  A. 
nur  ein  Ausdruck  der  Verlegenheit  ist,  jetzt  nicht  mehr  wie  Torher 
einen  bestimmten  geschichtlichen  Anlaß  angeben  zu  können,   stehen 
geblieben,   freilich  in  der  etwas  veränderten  Form:  tb  ik  atifa  ^bscv 
iXXa  it-i]  86o  icpößata  o&x  inb  lotopCac  (nvöc  ist  unterdrückt)  8tXi]«Tat, 
d.  h.  M.  hat  immerhin  bemerkt,  daß,  nachdem  auch  im  Vorangehenden 
im  Unterschiede  von  A.  nicht  (otopla  tic  erzählt  ist,   das  Ttvöc  hier 
nicht  mehr  am  Platze  sein  würde. 

Für  die  Annahme,  daß  der  Text  des  A.,  den  M.  benutzte,  besser 
war  als  der  unsrige,  ließe  sich  eine  Anzahl  Stellen  anführen,  an 
welchen  unser  Text  offenbar  verderbt  ist  und  aus  M.  berichtigt  werden 
kann,  wie  A.  218,34  (vgl.  M.  25,9);  228,32  (M.  41,  17f.);  240,6 
(M.  55,  20).  An  der  Mehrzahl  solcher  Stellen  war  freilich  dem  Texte 
durch  freie  Ergänzung  ex  coniectura  leicht  aufzuhelfen.  Weniger 
leicht  war  dies  A.  205,  14,  wo  der  Fehler  dem  Herausgeber  ent- 
gangen ist.  Der  ursprüngliche  Zusammenhang  ist  durch  M.  2,  21  ff. 
vollkommen  klar.  Zwei  Gedanken  sind  zu  sondern:  1.  der  Satz,  die 
Gerechtigkeit  sei  eine  Ht^  axf*  ige  ßo6Xovtai  ta  6(xaia  icpdtteiv  ist  kein 
6pioii.6c9  sondern  eine  uicoYpofH];  denn  die  Sixatoo6vi]  gehört  zu  den 
9coXXaxfi»e  Xeiföiuva,   von  solchen  ist  es  aber  nicht  möglich  Eva  Xdftyy 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXn2  901 

xal  6pto|iöv  aTcoSoövat.  Daher  sagt  Aristoteles  &<;  h  TOÄcp  =  Jx;  Iv 
oTcoYpay-o  (21 — 26)!  2.  (Erklärung  des  Lemmas  oo  ^ap  töv  aotöv  ^x^t 
TpÖÄov  xtX.  p.  1129  a  UflF.)  Die  fSetc  unterscheiden  sich  von  den 
iniovfi\LOLi  und  8uvd|i.ei<;,  insofern  diese  beiden  Entgegengesetztes  zum 
Inhalt  haben  (die  ärztliche  Kunst  befähigt  Gesundheit  und  Krankheit 
zu  schaffen),  die  ISetc  nicht  (26  ff.)-  Von  diesen  beiden  Erörterungen 
erscheint  die  erste  bei  A.  205,  12—14  Xd^ovrat  vollständig,  von  der 
zweiten  fehlt  der  Anfang,  an  den  der  Nebensatz  inü  Soxoootv  at  ahzal 
iÄtonjjLat  Tö>v  IvavTicDV  xtX.  sich  anlehnte.  Die  größte  Wahrschein- 
lichkeit spricht  dafür,  daß  M.  hier  den  ursprünglichen  Text  verarbeitet, 
nicht  den  lückenhaften  des  A.  ergänzt.  —  A.  237,  3  f.  heißt  es  in 
Anknüpfung  an  Aristot.  1135b  2:  yoaecix;  yap  Svt6<;  dvYj-c^c  oh  xöptoi 
lojtev  TOO  inl  toöto  |i.t]  IXdeiv  avdfxiQ  yap  r^xoitev.  Bei  M.  52, 16  sind 
die  Worte,  deren  Anfang  hier  lautet  yöoet  y^P  2vt6<;  dvY]Toi,  einge- 
führt mit  der  Bemerkung  8ta  toöto  xal  6  Tcottjrfjc  slice  xpooet  xtX.c 
Daß  es  sich  in  der  Tat  um  eine  Dichterstelle  handelt,  zeigt  der  An- 
fang, der  das  Metrum  bewahrt  hat.  —  A.  229,  20  ff.  bringt  zwei  Bei- 
spiele, ein  homerisches  und  ein  biblisches,  die  sich  schon  durch  die 
Konstruktion  als  späteren  Zusatz  verraten.  M.  42, 14,  der  sich  im 
Vorangehenden  an  A.  ziemlich  eng  anschließt,  hat  sie  nicht. 

M.  verfährt  also  in  diesem  Buche  ganz  nach  der  gewöhnlichen 
Kommentatorenweise.  Er  wählt  sich  einen  Vorgänger,  dem  er  für 
den  Inhalt  seiner  Exegese  Gefolgschaft  leistet.  Er  gießt  diesen  In- 
halt aber  in  seine  eigene  Darstellungsform,  deren  oben  gekennzeich- 
neten Eigentümlichkeiten  wir  auch  hier  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
gegnen, so,  um  nur  zwei  Punkte  hervorzuheben,  der  Unterscheidung 
des  allgemeinen  Sinnes  einer  Stelle  und  der  Xd^c  (19,19;  21,22; 
24,21;  33,7;  37,7;  41,20;  42,19;  44,  24;  48,  3;  53,  35;  54,  30; 
56,20;  60,20;  62,27;  66,3)  und  dem  Fortschreiten  mitekcbv... 
(taöta  ekwv)  ini^a-is  oder  ind^^i  (6,8;  7,6;  9,12;  12,28;  13,24. 
32;  14,21;  18,24;  43,4;  44,4;  46,16;  51,10).  Aber  auch  im  In- 
halt macht  er  Zusätze  (s.  o.)  und  Streichungen,  je  nachdem  ihn  eine 
Frage  interessiert  oder  nicht.  So  ist  die  Erörterung  darüber,  daß 
und  mit  welchem  Recht  Aristoteles  die  spezielle  Gerechtigkeit  |i.dpo<; 
und  nicht  elSoc  der  Tugend  nenne,  A.  215, 13  ff.,  von  M.  unterdrückt. 
Die  Erklärung  liefert  M.  3,  27  flf.  MdXXcDv  Setxvostv  Zxi  icoXXaxwc  "fi 
StxatooüVT]  xal  loTtv  t^  jiiv  Äc  SXov  t^  xadöXoo  8t7catoo&VY],  t^  8^  <S>c 
Itdpog,  fi  ii  ji^v  ö><;  Y^voc  1^  8'  &<;  6l8oc  (ttv^c  {t^v  ^ap  rriv  xadöXoo 
8ixatoo6vY]v  ^ivoc  iTceyiijvavTO  njc  av8p{ac  xal  töv  Xoitcäv  tpuüv  apetöv, 
Tiv^g  8^  ob  Y^vo?  iXX'  8Xov)  xtX.,  d.  h.  die  Frage  ist  für  ihn  nicht 
entschieden,  und  er  muß  sich  mit  der  Mitteilung  der  einander  wider- 
sprechenden Ansichten  begnügen. 

GöU.  foL  Am.  1900.  Nr.  U  63 


iu0t  imi  ate  B  nt 

Iktamur  ^m^  yuim 

auiimr.    J!ftr^   nofer 

Vsirfeji   »1IÄ   JfaiL  I  v'l  111 

'jiMi(f»m  wMe^sn^  tfiala  ''.   liit  uhst  iik 
/lan    :ii  'if  mt  ipiiosr  T^'^kcmsr,     It» 

iMiirfM  K/ic;änaimL   wie»  Ijl  ill  141: 

f>!9^/  Atkdim  ^an^Azt  dies«  HfyKkeK 

5v!^  ihm  h^  H.  4m  glekfe  Pchm  ait  PicA»^ 

Mkbi^  VtnvnakßA  (U/Jl^U/:^. 

tr^/f^Ah  ^*m  EpbcMi  mwiAt.    Ib  dieser  Scdtaag  kat  er  bbA  aOi&b 

mm«  KtmmeuUre  rerfifit   mid  ack  deshilb  dem  Bmwm    >der 

KptMMkr<  g^gdks.    Dagegai  sprieht  scbos  die  ZosirBastieile  \\^A9 

\f  lUfm^to  iMft  keio  fjrmad  tot,  Panr.  «2,4  ■dt  Weadluid  (laia  s.  ▼. 
WA9//fJ^/iß  uttOir  4^sm  Wyhx/sj/^  itsm  n  Tcntdbea.  Ef  kiadeh  sick  «■  da  nr- 
«t//ft/4»i«n  I>!^r^  d«r  VhSUg&o^M^  6a  wit  \aa  (Z)  jjiwwjljuu  xxt^^vpar*  so  143,5 

*l)  S^,  VftI,  K^if«,  J>e  Arittot  lihr.  aid.  ct  aoctor.  p.  148. 

»;  VftI,  Hz/M  a.  a.  0,  mißfersleht  djw  ledi^ich  indrndiialisiemde  (Bowtz, 
Iii4i;ji  Arkt/zt.  p.  41f&  •,  v,  Oc)  tt^?^  Pg.  2S,7,  weon  er  au  der  SCcDe  anf  Ab- 
fa««uiiK  in  Atben  scbJleftt 

4;  Nimmt  man  dan  Wort  fan  Sfama  voo  »SCndlengenoaae«  mid  setzt  vaii  da- 
M  ann&ii«;md«  OleirbaltrigkeH  roraas,  so  wire  au  Parr.  85,6ff.  za  folgera,  dal 
M.  «ebon  in  ju({endlirbem  Alter  tlcb  der  Pbilofophie  widmete,  da  ein  Hmpoc  ▼<» 
Ibm  Jung  uml  daber  ftfXivK  iv  ^^^(^  t^^vouc  xct«pcßXi^x«>c  gestorben  ist. 

h)  H.  dii)  Indices  s.  v.  Mr/a^X  and  oben  8.  866. 

0)  Ich  entnebme  dies  aus  Leo  Allatias,  Diatriba  de  PselliSy  Migne  Patr.  gr. 
torn.  Vn  p.  49H.   Ilier  auch  die  im  Texte  gleich  folgende  Hypothese  dee  AOatios. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  903 

p.  229,26  Dind.),  auf  die  Allatius  sich  beruft:  ...^-ffpt^  oovoSix'q 
|ii]Tpo7coXic7]c  'Ey^ooo  X6xetpotövr|to  xal  &nai  yotTi^oa<;  Ixei  ina- 
v^Xds  xal  iv  Tj  TOO  Mavooi]X  iiovg  iTcotelto  div  SCat-cav.  Die  Zeit  des 
einmaligen  Besuches  in  Ephesos  reichte  zu  der  umfangreichen  Schrift- 
stellerei  des  M.  nicht  aus,  und  nach  seiner  Rückkehr  wird  er  sich 
kaum  auf  grund  jenes  vorübergehenden  ephesischen  Aufenthaltes 
Ephesier  genannt  haben.  Daß  wenigstens  eine  Stelle  in  Eth.  X  auf  Eon- 
stautinopel  als  Abfassungsort  führt,  ist  oben  bemerkt  worden.  Ferner 
heißt  es  bei  Zonaras  im  Anschluß  an  die  oben  ausgehobene  Stelle: 
Iteta  6^  tö  TÖv  BotaveidtTjv  -cfjg  ßaoiXeCac  ixTcsTctcöxivat  dvijoxcöv  ootoc 
6  Mixa'JjX  xtX.,  d.  h.,  wenn  darin  eine  Zeitangabe  enthalten  sein  soll, 
Michael  starb  unmittelbar  oder  doch  jedenfalls  nicht  sehr  lange  nach 
dem  Ende  der  Regierung  des  Botaneiates.  Letzteres  fällt  1081.  Da 
M.  1078  abdankte,  müßten  also  seine  Kommentare  in  nicht  viel  mehr 
als  drei  Jahren  verfaßt  sein,  was  recht  unwahrscheinlich  ist.  Dazu 
kommt  noch,  daß  die  Kommentare  des  M.  wahrscheinlich  nicht  ein 
Erzeugnis  schriftstellerischer  Muße,  sondern  einer  mündlichen  Lehr- 
tätigkeit sind,  wie  wir  sie  für  Michael  Parapinakes  kaum  voraus- 
setzen dürfen.  Die  handgreiflichen  Spuren  des  mündlichen  Vortrags 
sind  freilich  bei  der  Redaktion,  der  das  Konzept  zum  Zwecke  der 
Herausgabe  unterworfen  wurde,  im  allgemeinen  verwischt  worden. 
Doch  ist  mir  ^ine  Stelle  begegnet,  die  ihrer  Natur  nach  sich  einer 
Umänderung  widersetzte  und  daher,  wollte  man  sie  nicht  streichen^ 
in  ihrer  ursprünglichen  Form  belassen  werden  mußte.  Die  Behaup- 
tung, daß  Flößen  auf  der  Vorderseite  breiten  Fischen  zum  Schwimmen 
nichts  nützen,  wird  Part.  96,  5 ff.  folgendermaßen  veranschaulicht: 
&07C6P  Y^p  ei  ^v  ^8e  i^  d&pa  Ix^&C»  et^X^  Si  iv  tcp  icpavei  zä.  icte- 
pu^ia,  oh%  &v  ^TctovTO  too  oSatoc  • . . .,  ooto>  xal  Iv  Ixslvoi^  ai)|Lßaiv6tv 
Ubi.  Aber  auch  wo  solche  Spuren  nicht  zutage  liegen,  wird  der  fein- 
fühlige Leser  doch  oft  den  Ton  der  mündlichen  Rede  durchklingen 
hören,  wie  beispielsweise  Parv.  142, 16 ff.;  Eth.  X  598, 20 ff.  Die 
Nonchalance,  mit  der  M.  an  letzterer  Stelle  Aristoteles  sich  und 
Piaton  den  Epikureern  und  Stoikern  gegenüberstellen  läßt,  bildet 
das  genau  entsprechende  Gegenstück  zu  der  G6A  1904  S.  390  be- 
sprochenen des  Olympiodor.  Daß  Hin-  und  Herverweisungen  in  zwei 
Schriften  und  die  Vorliebe  für  Epanalepsen  auch  nach  kurzen  Schalt- 
sätzen vielleicht  mit  dem  Ursprung  der  Kommentare  in  der  münd- 
lichen Exegese  in  Verbindung  zu  bringen  sind,  wurde  schon  erwähnt. 
Hingewiesen  sei  auch  darauf,  daß  der  achtenswerte  Parisinus  1843 
den  Kommentar  zu  den  ZofioT  IX.  überschreibt  azb  ^cdv^c  FX^^l^ 
fiXoGÖfoo  TOD  ifea(oo^). 

1)  Vgl.  Comm.  in  Arist  Gr.  US  p.  VI  Anm.  8. 

63* 


Vm  ivi  «Im;  der  FbikMKiplueprofefiBor.  mil  dem  wir  «  zs  tsn 
biJ>tf;ci.  IM«$  fiibrt  vott  Allathis"  V^nnitimg  ib  «of  erne  sndsR  Spvr. 
4k  freilkb  «.oeb  bald  genug  im  Sude  Teriiiift  Mmn  ennneBl  aA 
«off/rt  d4fr  iffi  dften  itbrfaoodert  neabegr&Bdeten  Akademie,  u  der 
tlt$  <;nrt4^r  Hiikwopbieprofemor  Psellos,  als  demen  Kacfafolger  Jdmms 
lUUm  wirkte.  In  dienern  Kreise,  auf  dem  Kathedo-  imd  nicM  auf 
dem  liinchoüwUAUs  oder  im  Kloster  wird  man  den  Ephesier  zu  sad« 
habefi.  l^rüft  man  in  dieser  Ricbtong,  so  ergibt  sich  manches,  wis 
di^r  Vi^rmutung  günstig  ist.  Eine  gewisse  Wärme  bridit  herror. 
wenn  M,  auf  Kragen  des  Unterrichts,  besonders  des  philosophischai, 
/u  Mpri^^hen  kommt,  wie  Parv.  142,  7  ff.,  Eth.  X  467,  22flE.;  612,33iL 
Vgl.  auch  Ktb.  X  610, 11  f  Wichtiger  ist,  dafi  die  gleiche  Yerbm- 
durig  von  AriKtotelismus  und  neuplatonisch  gefärbtem  Platonismns^ 
wto  kIo  fUr  jono  Akademie  charakteristisch  ist^),  ihren  Niederschlag 
auch  in  M.h  Kchrifton  hinterlassen  hat.  Zahlreiche  Anführungen  ver- 
raton,  wii)  wir  schon  oben  sahen,  sein  Interesse  für  Piaton.  Dafi 
di«N()H  abor  nicht  lediglich  aus  der  Beschäftigung  mit  den  platonischen 
Workon  Keine  Nahrung  zog,  beweist  die  Umformung  der  platonischen 
Lohrvi,  die  auf  eine  späte  Zeit  hinweist  und  bei  M.  sich  daraas  er- 
klllrt,  daü  er  von  dem  Botrieb  der  platonischen  Stadien  in  seiner 
nigonon  Umgebung  abhängig  ist.  Die  6|i.o[(doi<;  dec^  xard  t6  Sovatdv, 
die  In  der  Zeit,  dos  Eudoros,  als  nach  stoischem  Master  nun  auch 
dor  PlatoniNmuH  sein  tiXoc  sollte  angeben  können,  als  ein  solches 
auf  grund  von  Thoaet.  176  B  an  die  Spitze  des  Systems  trat  und 
dtoHon  Platz  fortan  behauptete'),  findet  sich  in  dieser  Rolle  wie 
X.  n.  bei  Psollos  720  D;  722  A  so  auch  bei  M.  Eth.  X  579,4; 
Attl,  2!).  In  Anknüpfung  an  die  aristotelische  Hochschätzung  der 
l^i»(i(oi  wird  diese  6|Lo((i>atc  ^t^  an  der  ersteren  Stelle  der  d^mpTf 
i  ttx9)  •i\fittt|i.ov(oi  gleichgesetzt.    Gleichfalls  im  Anschluß  an  Aristoteles 

hoiüt   aio   dio   otxpotdn]    rl)c    I^^X^C    ivip^sia.      Eine    neoplatonische 
Färbung  orhält  sie  dadurch,  daß  sie  mit  der  Svcmrc  sp^  m  %psixzm 


\)  Vffl  Knimbachor,  (^e«ch.  d.  bji.  Litt*  S. 429  and  die  dort 
UlMutur, 

ü>  U«lof9t<vll<Mi  liiid«B  sich  in  Fülle.  Mab  veifleidK  etw»  Eador»  (Ar. 
\M)  h  Su>K  Kci  114^.9,  AlbiB  ^  151.4,  Heim.  (Sd^Läl  Ficni.):  isa,7; 
ISt.h^tr  U<^rm.«  l<A(^rt.  IHog,  $,7S;  Anoa.  Komm,  in  PUt.  TkeaeL  ber.  t.  Dieb 
n  SoKuhMl  vlVrUn«r  KU»ikeit«xti^  11)  ccO.  7,  l$f^  Clem  Alex.  ttroBL  ä.lSl  p. 
i^  V,  rKNtiii  K;:^.  1 C.  Ammoa.  in  PcaiOL  isafr.  3.Sf..  EU»  Pr;^.  }Ulii&.  l«.ia 
IVaxüI  l^^^^^  )^iU%^  Itv^N;  IS.^:  :li\:£^  Xmf^  Hemm  «fo.  kf  ;vm«.  4 
|v  :^)\  C  M^pMv  B^  BxAAiituMni  uacki  pdepwäiA  «Mk  4a.  wt  a» 
^'b^  i^^'hiM  «ur  jB^trnA  virl  didw  IVauuik«  aat  iifl  Geoct.  Akng^  «d.  ] 
>^^n\^'  «»a  daf«  KtiAs  d4.;itlC,  IHHd  1«.^C.  A»im  Tim  d. 
I^utm.  IN$.  JMi»cltr.  14  OÄW  Sl  315l.7r 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  905 

identifiziert  wird.  Weiteres  Neuplatonische  fijudet  sich  mehrfach,  so 
Eth.  X  591, 21  f.  (S5o|i.oto5v  laoTooc  toic  a*avdTot<;,  talc  vot]Tat<;  StiXaS-Jj 
xal  vospaic  oTcdp^soiv);  533, 22ff.  (besonders  33ff.)>  ^^-  600,26; 
714, 19  if.  u.  Ö.    Plotin  wird  Eth.  X  529,21  zitiert. 

Bleiben  wir  nun  im  Kreise  der  byzantinischen  Akademie,  so  tritt 
uns  sofort  als  deren  Hauptgestalt  wieder  Psellos  entgegen,  und  es 
fragt  sich,  ob  sich  Beziehungen  M.s  zu  ihm  wahrscheinlich  machen 
lassen.  Die  Hypothese  des  Leo  Ällatius  taucht  also  wieder  auf,  aber 
mit  der  Modifizierung ,  daß  es  sich  jetzt  nicht  mehr  um  Psellos' 
kaiserlichen  Zögling,  sondern  um  einen  aus  seiner  Schule  ins  Lehramt 
übergetretenen  Schüler  handelt.  Li  dieser  Form  hat  die  Hypothese 
Zustimmung  gefunden^).  Die  Uebereinstimmungen  zwischen  Psellos 
und  M.,  auf  die  man  hingewiesen  hat  ^,  ließen  sich  leicht  vermehren. 
Von  der  6|i.oi(Daic  dec^  war  soeben  die  Rede.  Die  Unterscheidung 
der  ethischen  und  politischen  Tugenden,  die  nach  Eth.  X  578,  15  f. 
den  Piatonikern  eignet,  während  für  die  Peripatetiker  die  ii^ixii  und 
die  TcoXitix'i)  ipsx-fi  zusammenfallen,  kennt  auch  Psellos  p.  717D.  Wenn 
femer  M.  Eth.  V  7, 16flF.  die  yootxi]  ipsti^  und  die  •Jj^tx-jj  apeti^  als 
besondere  Stufen  unterscheidet  (wie  früher  z.  B.  schon  Elias  prol. 
19,32)  und  die  letztere  charakterisiert  als  itsTa^povi^oecDcxal 
6pdoö  Xöfoo  ojcoiLsveTix-i]  zm  \i^'(i(3X(üy  iv  toi<;  7coXd|ioic  xivS&vcdv,  so 
findet  auch  dies  eine  Parallele  bei  Ps.,  der  p.  717D  die  ^oaix'J)  und 
'^dixT]  ipsxii  als  die  beiden  untersten  Xugendstufen  bezeichnet  und, 
allerdings  nicht  die  ii^iY.%  wohl  aber  die  zunächst  folgende  tcoXitix')) 
ipstT]  als  [teta  Xö^oo  xal  ypovi^oecix;  xaTopdoo|i.dv7]  beschreibt,  während 
nach  p.  720  B  die  rjdiXY]  aperf]  äicb  fipoviQoecix;  |i.^v  Tcpöetoiv,  oo  itdvtoi 
{teta  fpovi^oscDg  Ivsp^el.  Eine  bemerkenswerte  Uebereinstimmung  be- 
steht zwischen  M.  Eth.  X  578,18flF.  und  Ps.  722  B.  An  ersterer  Stelle 
heißt  es  in  Ausführung  eines  schon  dem  antiken  Piatonismus  geläu- 
figen Gedankens  (Ammon.  in  Porph.  Isag.  3,10;  4,9;  11,12,  David 
Prol.  17,12):  Iv  jt^v  t<^  Tcpmcp  ßißXicp  sks  Tcepl  TcoXtttxTjc  eoSai- 
|iov[ac,  xad'  f)v  6  TcoXittxöc  668ai|Wüv  xoa|i.ei  ta  /sipcD  tcp  Xö^Cj) 
(wie  das  Folgende  zeigt,  handelt  es  sich  dabei  um  das  itstpeiv 
ta  7cd*T]')),  Iv  TOOTcp  8^  Xd^st  Tcepl  tf)<;  dscopYiTtx-^c  668at|i.ovCa<; 
xtX.  (vgl.  auch  580, 8 ff.),  bei  Ps.:  i^siSi]  y*P>  ?^oiv  (sc.  6  IlXdtcDv), 
6  deöc  8tTrJ]v  l/^t  div  Ivdpvsiav,  div  xad'  f^v  Iv  decopiof  töv  SXcov 
loTt  .  .  .  njv  61  xad'  ^v  töv  x^^P^^*^^  Tcotsttat  t^jv  Tcpövotav,  8td 
Tauta  xal  6  £vdpo>9coc  |i.i|i.o&|lsvoc  töv  deöv  Iv  |lIv  Taic  TcoXttixaic 

1)  So  nennt  auch  Krambacher ,  Qesch.  d.  byz.  Litt.  ^  S.  430  Michael  einen 
Schüler  des  PseUos. 

2)  S.  darüber  Wendland,  Praef.  zu  Par?,  p.  VI  Anm.  3. 

3)  Vgl.  dazu  Plotin  1, 2, 2. 


906  Qött.  gel  Anz.  1906.  Nr.  11 

ipe-caic  liciotpdystat  icpöc  'ci  rjSe  xal  xoojLet  tooc  xataSeeotipooc 
Tale  itsTpioTcddeiav  ^ epoooaic  apsTaic,  iv  81  tip  dscopetv  avaßac 
xtX.  Wer  suchte,  würde  solcher  Berührungen  wohl  noch  eine  ganze 
Reihe  aufdecken.  Leider  lösen  sie  das  Problem  nicht,  weil  be^  dem 
derzeitigen  Stande  unserer  Kenntnis  eine  Scheidung  46ssen,  was 
Psellos  eigentümlich  ist,  von  dem,  was  der  gesamten  Philosophie 
seiner  Zeit  und  Richtung  gehört,  nicht  möglich  ist.  Auch  wird  es 
geraten  sein,  auf  der  andern  Seite  die  Diskrepanzen  zwischen  M.  u. 
Ps.  nicht  zu  übersehen.  Letzterer  geht  in  der  Berücksichtigung  des 
Neuplatonismus  viel  weiter  als  M.  So  ist  in  der  p.  717  C  ff.  (omnif. 
doctr.  c.  48  flF.)  ausgeführten  Tugendlehre,  in  der  es  freilich  an  Wider- 
sprüchen nicht  fehlt,  die  höchste,  über  der  theoretischen  liegende 
Stufe  der  Tugend  die  theurgische  (c.  49  p.  720  A ;  vgl.  auch  c.  55 
p.  721 D;  dagegen  bilden  allerdings  c.  48  p.  717  C  die  d6o>pT]Ti)cat 
xal  voepaC  die  Spitze),  M.  Eth.  579,  6  fif.  wird  die  decDpTjtix'J]  6^Sai|iovia 
ausdrücklich  als  xö  äixpöxaTov  xal  TsXeidtaTov  i^ficov  tiXog  bezeichnet, 
womit  für  die  deo>p7]T.  ipetnj,  in  der  die  dscopi]!.  6oSai|iovia  beruht, 
eine  analoge  Stellung  gegeben  ist.  Ps.  726  D  728  A  kennt  die  sechs 
akiai,  die  ein  Teil  der  Neuplatoniker  aufstellt  ^),  M.  (an  verschiedenen 
Stellen  der  Kommentare,  s.  d.  Indices)  nur  die  vier  aristotelischen 
in  der  später  üblichen  Terminologie.  Selbstverständlich  liefern  diese 
und  zahlreiche  andere  Dififerenzen  nicht  den  Beweis,  daß  M.  nicht 
der  Schüler  des  Ps.  gewesen  sein  könne,  aber  sie  vermögen  doch 
den  Uebereinstimmungen ,  insofern  diese  als  Argument  für  diese 
Schülerschaft  benutzt  werden,  einigermaßen  das  Gegengewicht  zu 
halten. 

Die  Frage  ist  also  noch  nicht  spruchreif,  und  M.  bleibt  seiner 
Persönlichkeit  nach  vorläufig  im  Dunkel.  Aber  wie  in  byzantinischen 
Dingen  überhaupt,  so  ist  auch  hier  von  der  Zukunft  noch  Licht  zu 
erhoffen.  Material,  das  die  Lösung  der  Frage  in  sich  bergen  könnte, 
ist  massenhaft,  teils  unediert  oder  schwer  zugänglich,  teils  ungenutzt, 
vorhanden.  Von  Psellos  ist  der  in  Frage  kommende  Nachlaß  noch 
nicht  vollständig  herausgegeben,  und  eine  Sichtung  des  Publizierten 
und  seine  Verwertung  für  das  philosophische  Bild  des  Psellos  ist 
noch  ein  frommer  Wunsch.  Von  Johannes  Italos  ruht  das  meiste  noch 
im  Staube  der  Bibliotheken,  von  Späteren,  wie  Theodores  Metochites 
u.  a.  ganz  zu  schweigen.  Für  jetzt  sind  wir  der  Leitung  der  Samm- 
lung der  Aristoteleskommentatoren  auch  dafür  zu  Dank  verpflichtet, 
daß  sie  durch  die  Aufnahme  des  schon  wegen  der  Ausdehnung  seiner 
aristotelischen  Studien  bedeutsamen  Michael  für  die  weitere  Beschäftig 

1)  Vgl.  GGA.  1905  S.  534. 


Commentaria  in  Aristotelem  graeca  XXII 2  907 

gung  mit  dem  Aristotelismus  byzantinischer  Zeit  eiuen  Erystallisations- 
punkt  geschaffen  hat.  Wer  mit  UsenerO  das  Verlangen  nach  »noch 
etwas  mehr  Byzantinern«  als  berechtigt  anerkennt,  könnte  seinen 
Wunsch  jetzt,  da  die  Sammlung  nahezu  abgeschlossen  ist,  in  die 
Form  kleiden,  daß  die  Berliner  Akademie  unter  die  Schriften,  die 
mit  ihrer  Unterstützung  außerhalb  jenes  Corpus,  aber  in  Ergänzung 
desselben  herausgegeben  werden,  auch  solche  des  Psellos  und  Johannes 
Italos  einreihen  und  damit  dem  Studium  einer  in  mehrfachem  Be- 
tracht nicht  unwichtigen  Periode  byzantinischer  Philosophie  eine 
Grundlage  schaffen  möchte. 

Bern  Karl  Praechter 


Walter  Altmann,  Die  römischen  Grabaltäre  der  Kaiserzeit.  Berlin, 
Weidmannsche  Buchhandlung  1905.  806  S.  Gr.  8  <>  mit  208  Abbildungen  im 
Text  und  2  Heliograyüren. 

Es  bedarf  einer  Erklärung,  wie  ich,  der  neuere  Kunsthistoriker, 
dazu  komme,  die  Arbeit  eines  Archäologen  an  dieser  wissenschaft- 
lichen Stelle  zu  besprechen.  Zunächst  liegt  eine  Aufforderung  der 
Redaction  vor;  aber  die  hätte  ich  ablehnen  können.  Wenn  ich  das 
nicht  tat,  so  geschah  es  aus  prinzipiellen  Gründen.  Nach  meiner 
Ueberzeugung  ist  das,  was  wir  akademisch  »Archäologie«  und  »Kunst- 
geschichte« nennen,  im  Wesentlichen  ein  Fach.  Die  Trennung  ist 
eine  rein  chronologische,  System  und  Methode  sollten  in  den  Prin- 
zipien wenigstens  durchaus  die  gleichen  sein.  Ich  kann  keine  Kunst- 
historiker brauchen,  die  von  der  Kunst  des  alten  Orients  und  der 
Antike  zu  wenig  wissen  und  ähnliche  Ansprüche  sollte  der  akade- 
mische Vertreter  der  sog.  Archäologie  an  seine  Schüler  stellen,  so- 
weit die  neuere  Kunstgeschichte  in  Betracht  kommt.  Das  Hauptge- 
biet der  klassischen  Archäologie  war  immer  die  antike  Kunst.  Mit 
den  Realien  beschäftigen  sich  heute  die  Philologen,  Historiker  und 
Epigraphiker  mindestens  ebenso  eingehend  wie  früher  die  Archäo- 
logen; dadurch  haben  diese  letzteren,  sollte  ich  meinen,  soweit  freie 
Hand  bekommen,  daß  sie  mit  einem  gewissen  Stolz  in  voller  Unab- 
hängigkeit den  großen  Problemen  ihres  eigensten  Faches  nachgehen 
können.  Es  gibt  bereits  mehrere  Vertreter  dieser  Art  an  unseren 
Universitäten.  Da  die  vorliegende  Arbeit  an  der  Grenze  zwischen 
Archäologie  und  dem,  was  ich  Kunstwissenschaft  nenne,   steht,   so 

1)  GGA.  1892  S.  1008. 


908  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

eignet  sie  sich  trefflich  dazu,  einige  Gesichtspunkte  geltend  zu  machen, 
die  sich  dem  neueren  Kunsthistoriker  beim  Beschauen  des  herrlichen 
Materials,  das  uns  hier  vorgelegt  wird,  einstellen. 

Ältmann  hat  sich  1899  mit  einer  Arbeit  über  Architektur  und 
Ornamentik  der  Sarkophage  eingeführt.  Von  diesem  mageren  Büch- 
lein sticht  der  vorliegende  stattliche  Band  sehr  auffallend  ab;  es  ist 
A.  zum  Bewußtsein  gekommen,  daß  mehr  als  alle  Worte  im  Gebiete 
der  bildenden  Kunst  die  Anschauung  wirkt.  Schon  das  flüchtige  Durch- 
blättern reizt  den  Appetit,  gibt  dem  Beschauer  unabhängig  vom 
Autor  eine  Vorstellung  der  zu  behandelnden  Denkmäler  und  regt 
ihn  zu  Fragen  an,  für  die  er  in  dem  Buche  Antwort  sucht.  Wo 
haben  wir  nur  unsere  Augen  gehabt!  Ueber  den  Statuen  selbst 
wurden  ihre  Postamente  vergessen;  indem  wir  den  Blick  gewohn- 
heitsmäßig nach  vorn  und  oben  richteten,  blieben  die  unten  vor  den 
Wandsockeln  stehenden  Denkmäler  einer  >  artigen  <  Schmuckkunst 
unbeachtet.  Die  vorzüglichen,  in  einem  ohne  weitere  Unter- 
stützung erscheinenden  wissenschaftlichen  Buche  auffallend  zahlreichen 
Abbildungen  regen  an,  die  Museen  einmal  auf  diese  Dinge  hin  durch- 
zumustern. Im  Lateran  hat  sich  mancher  schon  früher  in  dieser 
Richtung  angeregt  gefühlt;  auch  die  Galleria  dei  candelabri  hätte 
dazu  helfen  können,  wenn  nicht  der  Aerger  über  die  glatten  Er- 
gänzungen, die  für  Augen,  die  Originalität  empfinden,  unerträglich  sind, 
alle  Freude  am  Problem  im  Keim  erstickt  hätte.  Geht  man  jetzt 
durch  die  Inschriftengallerie  in  die  eigentlichen  vatikanischen  Samm- 
lungen, oder  durch  das  Thermenmuseum,  die  kapitolinischen  Museen, 
die  Uffizien  oder  das  Museo  Borbonico,  dann  drängt  sich  eine 
solche  Fülle  wertvoller  Zeugen  einer  blühenden  Kunstindustrie  auf, 
daß  wir  Altmann  dankbar  sind  für  die  Erschließung  einer  Welt,  die 
bisher  unter  dem  Blickniveau  geblieben  war.  Es  ist  ein  Vorrang 
der  alten,  inmitten  großer  Ruinenstätten  entstandenen  Museen,  daß 
sie  —  was  wir  jetzt  wieder  bewußt  anstreben  —  eine  malerische 
Anordnung  der  Denkmäler  bringen  konnten:  Frau  Venus  erscheint 
nicht  isoliert  auf  einem  modernen  Sockel,  sondern  wird  getragen  — 
eben  von  einer  römischen  Grabara. 

Die  Methode,  die  A.  eingeschlagen  hat,  ist  scheinbar  die  ge- 
wöhnliche >ikonographische<,  wie  sie  der  neuere  Kunsthistoriker  nennt, 
die  Vorführung  nach  Typenreihen,  sagt  der  Archäologe.  Der  Weg  ist 
der,  daß  man  zunächst  einen  möglichst  vollständigen  Katalog  zu- 
sammenzubringen sucht  und  dann  nach  äußeren  Gesichtspunkten 
ordnet.  A.  hebt  also  nach  Behandlung  der  bedeutendsten  Fund- 
gruppen —  der  Grabaltäre  der  Pisones  und  der  Volusier,    sowie  der 


Altmann,  Die  römischen  Grabaltäre  der  Kaiserzeit  909 

Aschengefäße  der  Platoriner  —  zunächst  das  Guirlanden-  und  Bu- 
kranienmotiy  heraus,  dann  die  Verzierung  mit  Widderköpfen,  die 
Verwendung  von  Ammonshörnern,  Victorien  und  Eroten,  ferner  mit 
Fackeln,  Dreifüßen,  Kandelabern  und  Palmen,  endlich  mit  friesartigen 
Umrahmungen,  Säulen,  Larenaltären  und  der  corona  civica.  Den 
Schluß  bilden  die  figürlichen  Darstellungen :  Totenmahl  und  Familien- 
szene, statuarische  Typen  und  die  Masse  des  übrigen.  Ich  gebe  zu, 
daß  auf  diese  Art  rasch  ein  Ueberblick  über  das  Gegenständliche  des 
Schmuckes  gewonnen  wird  und  die  Anordnung  auch  ungefähr  (wie 
man  aber  erst  am  Schluß  erfährt)  der  tatsächlichen  Entwicklung  ent- 
spricht. Ist  dieser  Einteilungsgrund  aber  ein  künstlerischer,  haftet 
ihm  nicht  vielmehr  recht  auffällig  die  philologisch  -  archäologische 
Tradition  an?  Es  handelt  sich  dabei  doch  lediglich  um  die  sakralen 
Voraussetzungen  für  die  Entstehung  des  Schmuckes  und  es  ist  be- 
zeichnend, daß  das  künstlerische  Hauptmotiv  der  ganzen  Gruppe,  die 
schlicht  auf  die  Fläche  gelegten  Zweige,  bei  dieser  Einteilung  völlig 
unter  den  Tisch  fällt  —  mit  Unrecht  wahrscheinlich,  auch  wenn  ich 
nur  vom  Gegenständlichen  ausgehe. 

A.  hat  diese  Denkmäler-Gruppe  vielleicht  mit  auf  Hülsens  An- 
regung vorgenommen,  der  auf  die  leicht  zu  datierenden  Inschriften 
hinweisen  konnte  und  wie  fertig  das  Material  im  CIL  eigentlich  bereits 
gegeben  sei.  Wie,  wenn  A.  nach  einer  Einleitung  über  das  Gegen- 
ständliche, ein  Thema,  das  jetzt  fast  sein  ganzes  Buch  füllt,  zunächst 
an  einer  Auswahl  der  besten  datierten  Stücke  gezeigt  hätte,  wie 
diese  Denkmälerklasse  von  ihrem  frühesten  nachweisbaren  Auftreten 
auf  römischem  Boden  bis  zu  ihrem  Aussterben  sich  in  ihrem  künst- 
lerischen Werden  und  Vergehen  darstellt?  Es  wären  dabei  sofort 
einige  entwicklungsgeschichtlich  wertvolle  Tatsachen,  die  man  sich 
jetzt  zwischen  den  Zeilen  zusammensuchen  muß,  ins  richtige  Licht 
gekommen.  Die  Grabaren  füllen  ungefähr  den  Zeitraum  des  ersten 
Jahrhunderts  n.  Chr.,  gehören  also  der  besten  römischen  Zeit  an^). 
Die  für  den  Kunsthistoriker  wichtigste  Tatsache  ist  die,  daß  diese 
Aren,  die  Leichenverbrennung  voraussetzend,  mit  diesem  Brauch  auf- 
hören und  im  IL  Jh.  den  Sarkophagen  weichen.  Im  allgemeinen  läßt 
sich  also  sagen,  daß  die  Gruppe  der  Aren  durch  die  der  Sarkophage 
abgelöst  wird.  Und  dieser  Eonstatirung  folgt  gleich  eine  andere. 
Der  Grundtypus  der  Ära  ist  ein  ornamentaler,  die  Sarkophage  da- 
gegen bevorzugen  weitaus  die  figürliche  Darstellung.   Es  ist  nun  sehr 

1)  Nebenbei  sei  erwähnt,  dal  eine  datirte  Grabara  im  Museum  zu  Aquileja 
(Secundo  Ti  Claudi  Caesaris  Äug  Germanid  servo  etc.)  einen  Akanthusrahmen 
und  seitlich  Kandelaber  zeigt. 


910  Oött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

merkwürdig,  daß  die  Ära  in  ihrer  Entwicklung  deutlich  die  Neigung 
vom  Ornament  zur  Figur  erkennen  läßt,  also  künstlerisch  die  Sarko- 
phage vorbereitet.  Diese  Tatsache  widerspricht  der  von  mir  ange- 
stellten Entwicklungstrias:  Pergamenischer  Altar  —  Ära  pads  — 
Mschatta  (vgl.  Jahrbücher  für  das  klass.  Altertum  1905  S.  21)  und 
hätte  Gegenstand  eingehender  Untersuchungen  sein  müssen.  Wie  ist 
es  möglich,  daß  die  hellenistische  Gesamtentwicklung  von  der  antiken 
Figur  zum  persisch-syrischen  Ornament  drängt,  auf  dem  Gebiete  der 
Sepulcralkunst  in  Rom  aber  während  der  Kaiserzeit  sich  die  ent- 
gegengesetzte Tendenz  geltend  macht?  Liegt  das  an  Einflüssen,  die 
außerhalb  des  rein  künstlerischen  Gebietes  zu  suchen  sind,  etwa  in 
einem  absichtlichen  Betonen  des  antiken  Mythus  gegenüber  den  nea 
auftauchenden  und  immer  mehr  an  Boden  gewinnenden  halb  orienta- 
lischen, synkretistischen  Kulten?  Beginnt  also  schon  im  n.  und  HL 
Jh.  jener  Rückstoß,  der  die  wunderbarste  Blüte  hellenischer  Kultur, 
die  Freiheit  der  Kunst  bricht  und  diese  in  ihre  alte  orientalische  RoDe 
als  Dienerin  der  Mächtigen  in  Staat  und  Kirche  zurückverweist?  Die 
Ansätze  zu  diesem  Umschwung  würden  dann  wohl  in  den  Residenzen 
der  Diadochen  zu  suchen  sein. 

A.  nimmt  an  (S.  287),  es  sei  die  in  flavischer  Zeit  infolge  der 
fabelhaft  üppigen  Dekorationskunst  eintretende  Uebersättigong  ge- 
wesen, die  einem  Bedürfnis  nach  Inhalt  und  Darstellung  Ranm  ge- 
macht hätte.  Es  wäre  also  eine  sehr  oft  wiederkehrende  entwicklungs- 
geschichtliche Gesetzmäßigkeit,  die  sich  in  dieser  Zeit,  wie  später, 
etwa  beim  Tode  Louis  XIV.  geltend  machte.  Voraussetzmig  fireilich 
wäre,  daß  Rom  um  100  n.  Chr.  eine  ähnlich  starke,  anf  sich  selbst 
gestellte  Kunstströmung  besaß  wie  Paris  sechzehnhundert  Jahre  später. 
Das  aber  dürfte  nach  meinen  Erfahrungen  schwerlich  zutreffen.  Der 
Archäologe  Altmann  geht  m.  E.  von  einer  Annahme  aus,  wie  sie  auch 
den  Kunsthistorikern  Wickhoff,  Riegl  und  Schmarsow  gemeinsam  ist, 
er  rechnet  mit  einer  griechischen  Kunst,  der  eine  römische  gefolgt 
sei.  So  einfach  liegen  die  Dinge  nicht.  Die  eingehende  Beschäfti- 
gung mit  den  Anfängen  der  christlichen  und  islamischen  Kunst  haben 
mich  gelehrt,  als  Untergrund  der  Entwicklung  dieser  späten  Kunst- 
kreise weder  mit  der  einen,  noch  mit  der  andern  zu  rechnen.  Was 
für  die  Jahrhunderte  um  Christi  Geburt  in  Betracht  kommt,  ist  viel- 
mehr eine  zwischen  den  beiden  eigentlichen  Polen  der  alten  Kunst, 
Hellas  und  dem  Orient,  differenzirte  Reihe  von  Kunstzentren,  von 
deren  Mannigfaltigkeit  wir  heute  kaum  noch  eine  Ahnung  haben. 
Ich  dachte  früher  in  erster  Linie  an  die  hellenistischen  Großstädte 
am  Mittelmeer,  voran  Alexandreia  und  Anüocheia,   dann  Klemasiea 


Altmann,  Die  römischeo  Grabaltäre  der  Kaiserzeit  911 

und  Nordafrika ;  dazu  aber  sind  jetzt  die  mehr  orientalisch  gefärbten 
Hinterlande  und  neuerdings  vor  allem  Seleukeia  am  Tigris  und  das 
Städtedreieck  Nisibis-Edessa  und  Amida  im  Norden  gekommen  (Jahr- 
buch der  preuß.  Kunstsammlungen  1904  S.  324  f.).  Hinter  dem  allen 
dann  noch  Persien  und  das  centrale  Asien  mit  Indien  und  China.  So 
lange  wir  die  Kunst  dieser  Gebiete  nicht  kennen,  läßt  sich  nicht 
über  römische  Denkmäler  arbeiten,  weil  Rom,  wie  später  Byzanz  und 
noch  später  Bagdad  als  Sitz  des  Hofes  und  der  Zentralbehörden  die 
Kräfte  aus  allen  Teilen  des  Reiches  aufsog  und  vor  allem  auf  dem 
Gebiete  der  bildenden  Kunst  einem  Polypen  gleicht,  der  seine  Fang- 
arme heute  nach  dieser  und  morgen  nach  einer  anderen  Richtung 
ausstreckt. 

Ich  freue  mich,  diese  Anschauungen  bei  einem  Manne  bestätigt 
zu  finden,  der  am  längsten  von  uns  allen  inmitten  der  römischen 
Denkmäler  lebt,  bei  August  Mau.  Auf  dem  Boden  Pompejis  ge- 
wann er  die  Ueberzeugung  (Pompeji  S.  448),  daß  die  Kunst  auf  dem 
Gebiete  der  figürlichen  und  landschaftlichen  Malerei  schon  vor  den 
für  Campanien  in  Betracht  kommenden  zwei  Jahrhunderten  ihr  ganzes 
Können  erreicht  habe  und  nur  noch  eklektisch  von  den  Errungen- 
schaften der  Vergangenheit  zehre.  Und  für  die  vier  Omamentstile 
nimmt  er  S.  458  f.  an,  daß  der  dritte  sowohl  wie  der  vierte  unab- 
hängig von  einander  auf  den  zweiten  Stil  zurückgingen  und  zwar 
in  der  Art,  daß  während  in  Alexandreia  der  zweite  Stil  in  den  dritten 
überging,  in  einem  anderen  Zentrum  des  Ostens,  etwa  in  Antiocheia, 
eine  parallele  Entwicklung  den  vierten  Stil  gezeitigt  haben  mochte. 
Dies  sei  wenigstens  der  wahrscheinliche  Hergang.  Ermüdung  am 
dritten  Stil  habe  in  Rom  zur  Annahme  des  vierten  geführt.  Man 
sieht,  wieder  wird  dieses  Auskunftsmittel  angewendet ;  möglicherweise 
mit  ebensowenig  Recht,  wie  bei  der  Geschmacksänderung  am  Schluß 
der  flavischen  Zeit.  Die  Diagnose  Antiocheia  an  sich  trifft  vielmehr 
wahrscheinlich  das  Richtige,  wie  ich  an  anderer  Stelle  zeigen  zu 
können  hoffe.  Der  alexandrinischen  Mode  folgte  die  antiochenische. 
Auch  die  römische  Grabara  bezw.  der  Sarkophag  schließen  z.  T.  an 
diesen  den  Verlauf  der  Kunst  im  ersten  Jahrhundert  bestimmenden 
Moden  Wechsel.  Wie  A.  (S.  287)  dazu  kommt  zu  sagen,  das  ganze 
erste  Jahrhundert  hindurch  habe  eine  große  Beständigkeit  des  Ge- 
schmackes geherrscht,  kein  Verlangen  nach  raschem  Wechsel  der 
Formen,,  das  verstehe  ich  nicht. 

Die  Grabaren  zeigen  eine  Gestalt,  die  von  alters  her  tektonisch 
als  Untersatz,  >Postament<  gebräuchlich  war:  ein  vierseitiges  Prisma 
mit  angearbeitetem  Fuß-  und  Kopfprofil.  In  hellenistischer  Zeit  wird 


912  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

im  Anschluß  an  die  Architektur  die  plastische  Hauptgestalt  und  ihr 
tektonischer  Unterbau  auseinander  gesprengt:  der  Untersatz  wandert 
unter  die  an  der  Straße  stehende  Säule,  die  Büste  oder  Statue  wird 
vor  der  Säule  auf  einem  Consol  aufgestellt.    Die  Säulenstraßen  von 
Palmyra  z.  B.  geben  den  charakteristischen  Eindruck  (vgl.  dazu  auch 
Beiträge  zur  alten  Geschichte  II,  103  f.).    Bei  der  Ära  erscheint  das 
»Postament«   selbständig,    soweit  nicht  das   darauf  darzubringende 
Opfer  es  doch  wieder  zum  Unterbau  herabsetzt.    Der  schmückende 
Handwerker  empfindet  die  vier  Flächen  des  Prismas  weder  als  archi- 
tektonische Eonstruction ,    noch   als  Vorbereitung  eines   plastischen 
Organismus,    er  läßt  sich   gehen,    materialisirt  die   am    Altar   ge- 
brauchten Opferbeigaben  und  Geräte,   wie  unsere  Dutzendbildhauer 
heute  noch,  taub  gegen  alle  Proteste,  Mädchengestalten  plastisch  neben 
das  Postament  stellen  und  sie  bekränzend  an  die  Büste  herantreten 
lassen.  Was  mangelt,  ist  das  eigentliche  künstlerische  Gefühl  für  die 
einheitliche  Raumform.    Alles  sieht  sehr  appetitlich  aus,   aber  diese 
Grabaltäre  bleiben  doch  ein  sonderbares  Mittelding  zwischen  Natur 
und  Kunst:  sie  stehen  im  Zeichen  jener  Vortäuschung  der  Wirklich- 
keit, die  im  Gebiete  der  realistischen  Malerei  aufkommt   und  alle 
Formprobleme  raffinirt   ausnutzt,   die  Hauptsache  im  Rahmen  des 
älteren  griechischen  Reliefs  aber,  unzweideutige  Raumschichten  bei 
überall  senkrechter  Blickrichtung  zu  geben,  ganz  beiseite  läßt. 

Diese  Art  ist  nicht  erst  römisch,  sie  entwickelt  sich  in  helle- 
nistischer Zeit  und  es  scheint,  daß  Pergamon  auch  daran  Anteil  hat 
Ich  danke  zwei  wertvolle  Hinweise  F.  Winter.  Er  klärte  mich 
darüber  auf,  daß  ein  prachtvoll  dekoratives  Stück,  das  mir  im  Mu- 
seum zu  Konstantinopel  aufgefallen  ist:  ein  Akanthusstamm ,  nach 
beiden  Seiten  je  drei  Zweige  entsendend,  eine  Balustrade  aus  Perga- 
mon und  zwar  aus  der  Altarzeit  etwa  sei.  Da  finden  sich  die  Lieb- 
lingsmotive der  römischen  Grabara,  der  Lorbeer-,  Eichel-  und  Wein- 
zweig, die  Aehren-,  Granat-  und  Mohnmotive  völlig,  auch  stilistisch, 
in  gleicher  Art  entwickelt.  Auch  sind  unten  an  den  Rand,  sagen  wir 
in  den  Schatten  der  Zweige  figürliche  Motive,  so  eine  Frau  auf  einem 
Löwen  reitend  gesetzt.  Und  mehr:  beim  Durchblättern  der  Tafeln 
für  den  neuen  von  Winter  vorbereiteten  Band  des  Pergamonwerkes 
stießen  wir  auf  eine  Rundara,  die  inschriftlich  genau  datirt  ist  in  die 
Zeit  Eumenes  II.  (197 — 159)  ^) . . .  Sie  zeigt  Guirlanden  von  einer  illu- 
sionistischen Kraft  und  Mannigfaltigkeit  der  Früchte  und  Blätter,  gegen 
welche  die  Fruchtschnüre  der  Ära  pacis  eintönig  wie  schlechte  Copien 
wirken.    Wo  bleiben  da  die  phantasievollen  Neuerungen,  die  A.  289 

1)  Die  Tafel  wird  in  Bd.  YII  erscheinen.  Die  Inschrift  steht  Bd.  Yin,  I,  131. 


AltmaDn,  Die  römischen  Grabaltäre  der  Kaiserzeit  913 

annimmt,  jenes  gleichartige  Streben,  mit  der  er  die  römische  Kunst 
von  dem  hellenistischen  Osten  freimachen  möchte. 

S.  285  f.  wird  ein  Punkt  berührt,  der  uns  Kunsthistoriker  leb- 
haft interessirt,  die  Frage  der  Entstehung  neuer  Schmuckformen 
durch  Uebertragung  aus  einem  Material  in  das  andere.  Hauser  hat 
auf  die  Verwandtschaft  zwischen  augusteischer  Marmor-  und  gleich- 
zeitiger Stuckplastik  hingewiesen  und  nimmt  letztere  und  Alexandreia 
als  Prototypen.  A.  meint  es  wäre  unerhört,  daß  man  in  Zeiten  des 
Luxus  und  der  Prunksucht  in  edlerem  Material  Wirkungen  erstrebt 
habe,  die  mit  einem  schlechteren,  unechten  zu  erreichen  waren.  Ist 
der  Stuck  an  sich  ein  schlechtes,  unechtes  Material?  Im  alten  Aegypten 
und  in  Hellas  freilich,  weil  man  da  mit  Stein  baute.  Nicht  so  im 
Lande  des  luftgetrockneten  Ziegels,  in  Mesopotamien.  Da  ist  der 
Stuck  ein  durchaus  allen  übrigen  Verkleidungsmaterialien  wie  z.  B. 
dem  am  Aeußeren  verwendeten  Emailziegel  gleichwertiges  Material, 
nur  mußte  es  an  seiner  Stelle  d.  h.  zum  Schmuck  der  Innenwände 
verwendet  werden.  Wenn  die  Römer  oder  besser  die  hellenistischen 
Künstler  typische  Stucktechniken  wie  die  Komposition  im  Tiefen- 
dunkel (vgl.  Jahrbücher  f.  klass.  Altertum  XV,  23  f.)  oder  noch  be- 
zeichnender die  um  des  Metallglanzes  willen  geschweiften  Flächen 
der  Toreutik  in  Marmor  nachahmten,  so  taten  sie  etwas,  was  immer 
das  naive  Schaffen  am  Beginn  neuer  Strömungen  charakterisirt. 
Die  Seldschukenkunst  in  Kleinasien  läßt  sich  (ähnlich  wie  die  sog. 
römische  Dekorationskunst)  nur  so  verstehen,  daß  man  in  dem  Stein- 
lande Kleinasien  die  Formen  vergänglichen  Materials,  wie  sie  die 
Türken  in  Ghasna  und  Bagdad  kennen  gelernt  hatten,  in  >edlem€ 
Stoff  nachahmt.  Daraus  erklärt  sich  auch,  warum  wir  heute  wohl 
die  römischen  und  seldschukischen  Nachahmungen,  nicht  aber  die 
Originale  nachweisen  können:  sie  sind  eben  zugrunde  gegangen  und 
nur  so  konnten  die  Epigonen  in  den  Ruf  schöpferischer  Künstler 
kommen. 

Darin  aber  wird  A.  wohl  recht  haben,  daß  speziell  für  die  Deko- 
ration der  Ära,  sagen  wir  in  Pergamon,  garnicht  Stuck  oder  Metall, 
sondern,  wie  er  sich  mit  WickhoflF  ausdrückt,  der  Illusionismus,  besser 
die  technisch  hoch  entwickelte  Malerei,  die  sich  an  täuschende  Nach- 
ahmung der  Wirklichkeit  wagen  konnte,  Wurzel  ist.  In  der  Malerei 
zuerst  wird  man  auf  den  künstlerischen  Irrweg  des  Wettkampfes 
mit  der  Natur  geraten  sein  (Orient  oder  Rom  S.  5).  Wenn  ich  das 
wie  von  einem  Holländer  ausgeführte  Mosaik  des  Hephaistion  aus 
Pergamon  in  den  Kgl.  Museen  zu  Berlin  betrachte,  dann  verstehe 
ich  auch,   wie  dort,  in  Pergamon,   die  Balustrade  in  Konstantinopel 


914  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  10 

und  die  Ära  des  Eomenes  entstehen  konnte.  Desw^en  können  dodi 
später  auf  die  Art  der  technischen  Durchführung  toreutische  oder 
Gewohnheiten  der  Stuckatoren  eingewirkt  haben. 

Altmann  ist  einer  der  feinsinnigsten  Denker  in  der  Gruppe 
eigentlicher  Kunstgelehrten,  die  sich  allmählig,  dem  modernen  Stande 
der  Altertumswissenschaft  entsprechend,  unter  den  Archäologen  bildet 
Man  lese  seine  Studie  über  das  Mädchen  von  Antinm  (Jahreshefte 
1903  S.  186  f.)  und  wird  sich  freuen  an  der  reichen  Qualitätempfin- 
dung, die  ihm  heute  schon  eigen  ist.  Er  hat  die  letzten  Jahre  etwis 
rasch  gearbeitet ;  daraus  erklären  sich  vielleicht  manche  Fehler  seines 
eben  besprochenen  Hauptwerkes;  ein  Epigraphiker  dürfte  nicht  über 
das  wertvolle  Buch  geraten.  Die  Grabaren  sind  nur  die  zahlreichste 
Gruppe  hellenistischer  Dekorationskunst;  ergiebiger  wird  vielleicht 
die  Behandlung  der  Dreifüße  und  Kandelaber,  der  Vasen,  Tische 
u.  dgl.  sein.  A.  hat  das  Material  gesammelt,  möchte  er  es  uns  in 
einer  weitausgreifenden  Gesamtdarstellung  nach  Jahren  als  einen 
Hauptbeitrag  zum  Verständnis  spätantiker  Kunstentwicklung  vorlegen. 

Graz  Josef  Strzygowski 


Hierokles'  ethische  Elementarlehre  (Pap.  9780)  nebst  den  bei  Stobto 
erhaltenen  ethischen  Exzerpten  aus  Hierokles  unter  Mitwirkung  von  W,  8eh«tert 
bearbeitet  von  H.  t.  Arnim  (=  Berl.  Klassikertexte  Heft  VT),   Berlin  1906. 

Als  Frachter  vor  5  Jahren  den  Stoiker  Hierokles  bei  Stobäns 
entdeckte,  hätte  er  wohl  nicht  gedacht,  daß  seine  Ansicht  bald  eine 
solche  Bestätigung  finden  würde.  Derselbe  Papyrus,  der  uns  Didjmos' 
Schrift  icepl  A7]|Loodivooc  geschenkt  hat,  trägt  auf  der  Räckseite  eine 
Abhandlung  mit  dem  Titel  'kpoxXdooc  tj^ix*)]  otoixe^o>atc,  und  daß  wir 
in  dieser  ein  Werk  desselben  Stoikers  vor  uns  haben,  dem  die  Ex- 
zerpte bei  Stobäus  gehören,  darttber  läßt  schon  die  erste  Lektfire 
keinen  Zweifel  aufkommen.  Dazu  hat  der  Herausgeber  nicht  bloß 
durch  den  Abdruck  der  Stobäusexzerpte,  sondern  auch  durch  einen 
sorgfältigen  Index  und  einen  besonderen  Abschnitt  der  Vorrede  da- 
für gesorgt,  daß  die  Uebereinstimmung  im  Wortschatz  und  im  Stil, 
besonders  in  den  Uebergangsformeln,  anschaulich  hervortritt. 

Der  Text  der  Abhandlung  stammt  aus  derselben  Zeit  wie  der 
des  Didymos,  d.  h.  aus  dem  2.  Jahrhundert.  Wie  dieser  war  er 
nicht  ein  buchhändlerisch  vertriebenes  Exemplar,  aber  ebensowenig 
ein  einfaches  Kollegheft.  Das  beweist  nicht  nur  die  Korrektheit  des 
Textes,  sondern  auch  die  Sorgfalt  in  der  Darstellung  und  Wortwahl 


Hierokles,  ethische  Elementarlehre  915 

6  Kolumnen  sind  gut  erhalten,  von  6  weiteren  wenigstens  einzelne 
Teile,  während  der  Rest,  nach  der  Analogie  des  Didymos  zu  schließen 
etwa  ein  Drittel,  gänzlich  verloren  ist. 

V.  Arnim  hat  der  Abhandlung  den  Titel  gegeben  >  Ethische  Ele- 
mentarlehre<.  Damit  führt  er  aber  irre,  denn,  wie  er  selbst  p.  XIII 
richtig  darlegt,  bietet  die  Schrift  nicht  etwa  einen  kurzen  Abriß  der 
Ethik.  Vielmehr  hat  Hierokles  otoix6^<»<'LC  in  dem  Sinne  gefaßt,  wie 
er  p.  52,18  Arn.  die  Ehe  aioix^iiüSBoxdTq  im  xoivoovicdv  nennt.  Er 
will  eine  »Grundlegung  der  Ethik<  geben,  die  Prinzipien  darlegen, 
auf  denen  sich  eine  wissenschaftliche  Ethik  aufzubauen  hat.  Das  tut 
er  mit  uns  ungewohnter  Ausführlichkeit.  Denn  der  ganze  uns  deut- 
lich erhaltene  Text  begründet  nur  den  Satz,  daß  der  ursprüngliche 
Trieb  des  Lebewesens  der  Selbsterhaltungstrieb  ist.  Am  Schlüsse 
der  12.  Columne  geht  dann  Hierokles  —  das  können  wir  den  Zeilen 
54 — 57  entnehmen  —  zur  Bestimmung  des  ethischen  Zieles  über. 
Da  er  aber  vorher,  soviel  wir  sehen  können,  noch  garnicht  das  eigen- 
tümliche Wesen  des  Xo^ix^v  Ccpov  behandelt  hat,  so  wird  er  über 
diese  Erörterung  im  Reste  der  Rolle  nicht  hinausgekommen  sein. 
Die  ganze  otoixetcDoic  deckte  sich  also  inhaltlich  ungefähr  mit  dem, 
was  Diogenes  §  85—87  als  Einleitungskapitel  der  stoischen  Ethik 
bietet  (vgl.  auch  Cic.  de  fin.  Ill  c.  5). 

Wie  verhält  sich  diese  Abhandlung  zu  den  bei  Stobäus  erhal- 
tenen Exzerpten?  Diese  behandeln  einzelne  Kapitel  der  Pflichten- 
lehre, die  alle  zu  einem  größeren  Werke  gehörten.  Vor  den  Pflichten 
gegen  die  Mitmenschen  hatte  dabei  Hierokles  nach  p.  62, 1  A.  die 
Pflichten  gegen  die  eigene  Person  behandelt.  Mit  diesem  Abschnitt 
hatte  Prächter  die  Behandlung  der  Lehre  von  den  Tugenden  identi- 
fiziert, auf  die  Hier,  an  andrer  Stelle  verweist  (p.  48, 7).  Dagegen 
macht  V.  Arnim  mit  Recht  geltend,  daß  die  Gegenüberstellung  »Tu- 
gend—Pflichten« für  den  Stoiker  ein  ganz  anderes  Einteilungsprinzip 
ergibt,  und  folgert,  der  Pflichtenlehre  müßte  eine  besondere  Tugend- 
lehre als  theoretischer  Unterbau  vorangegangen  sein.  Damit  er- 
hielten wir  ein  systematisches  Werk  über  die  Ethik,  zu  dem  die 
otoix^uoou;  die  Einleitung  gebildet  haben  könnte.  Verschieden  davon 
seien  die  bei  Suidas  zitierten  ^ iXoaofo&tteva. 

Gegen  diese  Annahme  spricht  eine  Stelle  aus  den  Stobäusex- 
zerpten.    In  dem   Kapitel  über  die  Ehe  heißt  es  p.  52, 23 :  o&xoov 

iouv  6  jtstd  7d|i/>o  ßCo?,  6  8'  ävso  ^ovatxöc  ^wtta  TcepCotaotv  •  ßat'  licstS-Jj 
XP^l  |i^  ^v  oU  TS  Soyd(t6da,  |Li|uiodai  töv  l^^vta  voov,  zobzif  Sk  «poTj^o»" 
licvdv  ioTi  TÖ  7a|Leiv,  Sf^Xov  8ti  xal  '^(iiv  av  eii)  xad^xov,  st  ^8  \yfpiQ  ^^ 


916  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

TCcptotaoic  i|L7coS(Dy.  Hier  bezieht  sich  Hier,  ausdrücklich  auf  eine  theo- 
retische Erörterung  über  die  Frage,   d  7a|Lii)Gei  6  oo^.    Diese  hat 
aber  nicht,   wie  man   nach  v.  Arnim   voraussetzen  sollte,   in  einem 
Abschnitt  über  die  Tugend  gestanden,  sondern  in  einem  Kapitel  über 
das  Hauswesen,  das  doch  wohl  auch  die  Pflichtenlehre  betraf.   Wahr- 
scheinlich ist  es   dasselbe,   das  bei  Stob.  flor.  85,21   exzerpiert  ist 
(vgl.  p.  62, 23  u.  63, 29  Am.  und  Frachter  S.  8).    Mindestens  kann 
also  Hierokles  keine  scharfe  Scheidung  zwischen  dem  theoretischen 
Unterbau  und  der  Pflichtenlehre  durchgeführt  haben.  —  Die  eben 
ausgeschriebenen  Worte  berühren  sich   aber  aufs   engste   mit   dem 
Zitat,  das  Suidas  s.  v.  ijiicoScov  aus  dem  zweiten  Buche  der  ^ iXoao- 
yo6|teva   gibt:   tCc  Tap    ahzö^y   (sc.   twv  ytXoaöyoDv)  ob-/}  xal  iifTfJite  xal 
icalSac  iveiXato  xal  ohaiaq  iicstteXi^dir]    iLYjSev^c  ltiicoSd>y   ovto^;   v. 
Arnim  will  trotzdem   beide  Stellen  verschiedenen  Werken  zuweisen. 
Das  geht  aber  nicht.    Denn  Hierokles  verweist  eben  —  darauf  hat 
V.  Arnim  nicht   geachtet  —  an   der  Stobäusstelle  auf  eine  frühere 
Erörterung,  wo  ganz  sicher  auch  ausgeführt  war,  8ti  7a|LT]osi  6  ooföc 
(t7]86y6c  i{i?coSa)v  Kvtoc  (vgl.  den  Schluß  der  Stelle).    Damit  ist  der 
Schluß  geboten,   daß  er   sich  eben  auf  die  Stelle  der  fiXooo^oottsva 
bezieht  und  daß  dann  natürlich  auch  die  Stobäusexzerpte   diesem 
Werke  entnommen  sind.  Diese  Annahme  lehnt  v.  Arnim  nur  deshalb 
ab,  weil  sie  zu  seiner  Ansicht  von  Hierokles'  Werk  über  die  Ethik 
nicht  stimmt.    Freilich  haben  wir  nun   gesehen,  daß  Hierokles  tat- 
sächlich im  2.  Buch  der  ^ iXoso^oöiLsva  auch  theoretische  Erörterungen 
gab.    Trotzdem  wird  man  sich  schwer  ein  Bild  machen  können,   wie 
dies  in  einem  systematischen  Werke  über  die  Ethik  geschehen  sollte, 
zumal  dazu  der  Titel  fiXoGOfooiLsva  schlecht  paßt  (v.  Arnim  S.  XV). 
Nehmen  wir  hinzu,   daß  bei  Stobäus  manche  Stellen  sich  mit  der 
ozoix^ltüoi^   nahe    berühren,    ohne   daß    eine  Verweisung    stattfindet 
(p.  52,29  zu  col.  11,14),  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit  größer,  daß  die 
ototxelcoGic   mit   den   fiXooofoo|Lsva    und    den    daraus    entnommenen 
Stobäusexzerpten  nichts  zu  tua  hatte. 

In  der  Grundlegung  will  Hierokles,  wie  gesagt,  zeigen,  daß  der 
erste  Naturtrieb  des  Lebewesens  auf  die  Selbsterhaltung  geht  Da 
aber  jeder  Trieb  durch  eine  Vorstellung  verursacht  wird,  so  führt  er 
zuerst  den  Beweis,  daß  jedes  Lebewesen  eine  Wahrnehmung  von  sich 
und  seinen  Organen  hat.  Dies  beweist  er  erst  allgemein,  dann  zeigt 
er,  daß  die  Selbstwahrnehmung  ununterbrochen  fortdauert,  drittens, 
daß  dies  von  der  Geburt  an  gilt  (v.  Arnim  S.  XXX).  Der  zweite 
Beweis  bietet  Schwierigkeiten.  Vier  Prämissen  legt  Hierokles  von 
col.  3,56  an  zu  Gründe,  ehe  er  den  Schluß  zieht:    1.  die  Seele  ist 


Hierokles,  ethische  Elexnentarlehre  917 

als  Körper  berührbar,  2.  sie  durchdringt  vermöge  der  xpaoic  St'  SXcov 
den  ganzen  Leib  (zum  Beweise  wird  dabei  auf  die  ooiLicdcdeta  von 
Leib  und  Seele  hingewiesen,  die  in  einer  an  Poseidonios  cf.  Jahrb. 
Suppl.  XXIV  S.  630  f.  erinnernden  Weise  geschildert  wird.  —  Col. 
4,19  ist  wohl  zu  lesen:  {i^pt  ooYxpoooecdc  (JSövtcov  Itt  Si  ^(ov^c 
iTciGx^oecdc  xal  to5  SXoo  (?cpoG(l^7c)oo  |LeTa|Lopcpa)ae(i>c,  vgl.  z.  B.  Plut. 
de  coh.  ira.  6  oderBasilius  adv.  iratos  F.  6r.  31  p.  84),  3.  die  Seele 
ist  eine  86va|itc  aloftYjTixiJ,  4.  (ttvoc  |t(dvTot>  Set  Tstdptoo  ta  (C<ö)vTa; 
col.  4,27)  die  Seele  besitzt  wie  Ui<:  und  yöatc  die  tovtx^)  xCvnjotc. 
Hierokles  fährt  dann  fort:  inü  toCvov  ii  &|L^OTdpa)y  4otI  tö  C<pov  o6v- 
detov,  Ix  o&jiatoc  xal  ^oxr^c  (es  folgt  eine  Rekapitulation  der  4  Prä- 
missen), S^Xov  Stt  Siavexfidc  aio^dtvott'  äv  tö  C«pov  laotoö  (col.  4,38—44). 
V.  Arnim  meint  hier,  die  ununterbrochene  Fortdauer  der  Selbstwahr- 
nehmung müsse  schon  vorher  erwiesen  sein,  und  sucht  den  Beweis 
in  dem  arg  zerstörten  vierten  Abschnitt.  Allein  die  Begründung 
kommt  erst  im  Folgenden,  wo  es  heißt:  teiyo|L^  ^ap  I£(d  i^  ^ryy(^ 
|L6t'  a^^oecDC  icpooßdXXst  icdtot  to5  0(i>|Latoc  tote  (i^pectv,  licstSif]  xal 
x^patat  «dot,  «pooßdXXoooa  Sk  ivrtffpooßdXXetaf  ivttßattxöv  ^äp  xal 
TÖ  acofta  xa^diTcsp  xal  t^  ^^X^'  **^  '^^  ffA^oc  oovspetottxöv  6|toö  xal 
ivtepetoTtxöv  iicoteXettat.  xal  iicö  täv  ixpotdcrcov  jtepcbv  stoö)  vsoov  liül 
•ri)v  T^YSK'OvCav  t  . . .  *oüc  o  . . .  iva^^petat ,  a)c  ivtlXifj^l^tv  ^Cveoftat  täv 
(tepcov  aicdcvtcDV  rav  te  too  a(i>|Latoc  xal  tibv  t^c  ^^X^^'  '^^'^^  Sd  lortv 
toov  tcp  TÖ  Ccpov  aiaddveodat  iaoTo5.  Erst  hier  muß  also  auf 
Grund  der  vier  Prämissen  der  Beweis  geführt  sein,  daß  das  Lebe- 
wesen ununterbrochen  sich  und  alle  zwei  Teile,  die  leiblichen  wie  die 
seelischen,  wahrnimmt.  Das  ist  der  Fall.  Die  Seele  dehnt  sich  vom 
Zentralsitze  (dem  Herzen)  vermöge  der  xpaotc  8t'  SXodv  (2)  durch  alle 
Teile  des  Leibes  aus  (4)  und  tritt  in  allen  ihren  Teilen  mit  dem 
Leibe  in  Berührung  (1).  Dabei  ist  nicht  sie  allein  aktiv,  vielmehr  übt 
der  Leib  einen  gewissen  Widerstand  aus,  der  sich  in  umgekehrter 
Richtung  geltend  macht  (äcvTtßaTixöv).  Dadurch  ergibt  sich  das 
Widerspiel  zentrifugaler  und  zentripetaler  Kräfte  (covepetGTtxöv  xal 
&vT£petaTixöv),  in  dem  die  Stoa  nach  dem  Vorbilde  von  Heraklits 
«aXivTovoc  Äp|iovt7j  das  Wesen  der  Tovtx^j  xivTjotc  (4)  sah  (cf.  Chrys. 
fr.  II,  454  u.  ö.).  Wirkt  aber  der  Leib  auf  die  Seele,  so  erleidet 
diese  ein  Tud^oc,  und  zwar  tritt  dieses  Tudldoc  in  jedem  einzelnen  Teile 
der  Seele  solange  auf,  als  die  Berührung  mit  dem  Leibe  dauert, 
d.  h.  ununterbrochen.  Da  nun  aber  die  Seele  eine  S&ya|Ltc  alo^Ttxij 
ist  (3),  so  ruft  dieses  Tcddoc  in  den  Seelenteilen  eine  Wahrnehmung 
hervor,   die  von  den  äußersten  Teilen  nach  dem  Zentralorgan  über- 

GöU.  gtL  Ans.  190«.  Nr.  11  64 


918  OMt  g«L  Ans.  1906.  Nr.  10 

mittelt  wird  und  es  bewirkt,  daß  unnnterbrocheii  das  i^sfkovtxöv  alle 
Teile  der  Seele  und  damit  auch  des  Leibes  wahrnimmt. 

Damit  verschwinden  die  Schwierigkeiten  und  Unklarheiten,  die 
Y.  Arnim  hier  findet  (S.  XXVII),  und  es  fragt  sich  nur,  was  als  Sub- 
jekt zu  i'^afipBzai  zu  ergänzen  ist.  Ausgedrückt  muß  der  Vorgang 
sein,  durch  den  die  alb^7)oic  im  i^YS|i^vtxöv  zum  Bewußtsein  kommt, 
zur  ^avtaaia  wird.  Dabei  ist,  wie  es  scheint,  die  a!bdT]oic  in  ein  ob- 
jektives Element,  xb  Tcd^oc,  und  ein  subjektives  zerlegt.  Ein  Terminus 
fär  dieses  ist  mir  nicht  bekannt,  doch  könnte  man  in  Erinnerung  an 
die  Darstellung  des  Theätet  191  flf.  t{b  toö  ic&)^ooc  o(7)|utov)  —  dieses 
Wort  abgekürzt  —  lesen. 

Um  die  Kontinuität  der  Selbstwahmehmung  zu  erweisen,  fuhrt 
Hierokles  weiter  aus,  daß  diese  auch  im  Schlafe  fortdauert.  Wenn 
er  dabei  auch  den  Betrunkenen  anfUhrt,  der  im  Schlafe  die  Flasche 
festhält,  so  darf  man  das  nicht  mit  v.  Arnim  als  unwesentlich  be- 
trachten. Denn  das  Festhalten  der  Flasche  setzt  eine  6(>(li^  seitens 
des  Trinkers,  diese  selbst  aber  eine  f  avcoota  voraus. 

Erst  col.  6, 24  geht  Hierokles  dazu  über,  aus  der  Selbstwahr^ 
nehmung  den  Selbsterhaltungstrieb  abzuleiten  (auch  hier  könnte  man 
wieder  an  die  Ergänzung  oijiuiov  denken,  da  etwas  erwähnt  wird, 
was  die  Seele  zwingt,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  f  avTaola  zu  richten). 
In  der  Auffassung  dieses  Abschnittes  stimme  ich  ganz  v.  Arnim  bei, 
dagegen  erscheint  mir  die  Vermutung,  daß  die  folgenden,  zerstörten 
Goluomen  eine  Polemik  gegen  Epikur  enthalten  haben,  darum  un- 
wahrscheinlich, weil  grade  hier  eine  Streitfrage  zwischen  Kleanthes 
und  Ghrysippus  behandelt  war. 

Dann  muß  Hierokles  allmählich  zu  dem  Oemeinschaftstrieb  ge* 
kommen  sein,  der  uns  mit  allen  Menschen  verbindet,  zur  Staaten- 
bildung wie  zur  privaten  Freundschaft  führt.  Der  Gedankengang 
ist  aus  dem  Papyrus  nicht  mehr  zu  ermitteln.  Vielleicht  darf  man 
aber  zur  Ergänzung  ein  Werk  heranziehen,  daß  doch  ungefähr  zur 
selben  Zeit  von  einem  Kollegen  des  Hierokles  verfaßt  sein  maß.  Ich 
meine  den  anonymen  Gommentar  zum  Theätet.  Warum  der  Platoniker 
dort  col.  5,14—7  eine  Oelegenheit  vom  Zaune  bricht,  um  ausführ- 
lich gegen  die  icoXo^p&Xnjtoc  oix6lo>otc  zu  polemisieren,  die  von  den 
Stoikern  als  Grundlage  der  Gerechtigkeit  bezeichnet  werde,  das  zeigt 
uns  Hierokles'  Werk  ja  deutlich.  Wenn  dabei  der  Platoniker  als 
stoische  Lehre  voraussetzt,  daß  wir  die  olxeioMtc  gegenüber  allen 
uns  gleichartigen  Wesen  in  gleichem  Maße  empfinden,  dabei  aber 
auch  mit  der  Möglichkeit  rechnet,  daß  die  Stoiker  verschiedene 
Grade  der  Intensität  bei  dieser  olxeCcooic  annehmen,  so  stimmt  das 


Hierokles,  ethische  Etementaflefare  919 

ganz  zu  der  Theorie,  die  Hierokles  bei  Stobäus  flor.  84, 23  (p.  61,2  A.) 
entwickelt  und  die  auch  in  der  otoi/sCcooic  dargestellt  sein  mußte. 
Daß  etwa  in  dem  Theätetcommentar  unmittelbare  Polemik  gegen 
Hierokles  vorliegt,  läßt  sich  natürlich  nicht  behaupten.  Bemerkens- 
wert ist  aber,  daß  jener  sich  ganz  in  den  Bahnen  unserer  Schrift 
bewegt;  wenn  er  darauf  hinweist,  wir  empfänden  auch  gegenüber  den 
Organen  des  eigenen  Leibes  nicht  die  gleiche  Zuneigung,  und  noch 
auffallender  ist,  daß  wir  in  beiden  Schriften  eine  sonst  nicht  be- 
kannte qualitative  Scheidung  innerhalb  der  olxeUüosic  finden  (Th.  col. 
6, 26  ff.  H.  col.  9)  und  daß  beide  Male  die  alpetixn]  als  ein  Trieb  be- 
stimmt wird,  der  auf  den  Besitz  der  äußeren  Dinge  geht 

Bisher  sind  natüriich  die  Punkte  hervorgetreten,  wo  ich  von  dem 
Herausgeber  abweiche.  Um  so  mehr  sei  jetzt  anerkannt,  daß  seine 
Erläuterungen  im  ganzen  vortrefflich  sind.  Vor  allem  aber  hat  er 
die  Hauptaufgabe,  die  Herstellung  des  Textes,  ausgezeichnet  gelöst. 
Die  Unterstützung,  die  er  dabei  an  Schubart  gefunden  hat,  hebt  er 
in  einem  Nachwort  dankend  hervor.  Korrekturen  brauchten  dabei 
am  Texte  kaum  vorgenommen  zu  werden^).  In  der  Ergänzung  der 
Lücken  hat  er  oft  mit  starker  Hand  durchgegriffen  und  bisweilen 
ganze  Wortgruppen  eingefügt,  wo  eine  andre  Ergänzung  ebensoviel 
Wahrscheinlichkeit  geboten  hätte').  Das  schadet  aber  nichts,  und 
ich  kann  es  auch  nicht  mißbilligen,  daß  v.  Arnim  in  der  Umschrift 
die  Kennzeichnung  der  Ergänzungen  unterlassen  hat.  In  der  Ab- 
schrift hat  man  ja  die  Kontrolle,  und  es  werden  so  die  für  Auge  und 
Geist  gleich  lästigen  Klammem  vermieden. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  die  Bedeutung  des  Fundes. 
Sie  liegt  weniger  in  den  zahlreichen  Einzelheiten,  die  wir  neu  lernen, 
auch  nicht  in  der  Persönlichkeit  des  Autors,  sondern  darin,  daß  wir 
sehen,  wie  ein  stoischer  Professor  der  Kaiserzeit  in  systematischer 
Darstellung  für  seine  Lehre  wirkte.  Besonders  interessant  ist  dabei 
der  Vergleich  der  beiden  ungefähr  gleichzeitig  wirkenden  Männer 
Epiktet  und  Hierokles.  Dort  haben  wir  den  v^oc  looxpdiryjc,  bei 
dem  sich  wohl  nicht  bloß  die  Paränese  unwillkürlich  in  den  Dialog 
auflöste  und  selten  der  Vortrag  den  Gang  der  regelrechten  Unter- 
suchung nimmt,  hier  den  dozierenden  Professor,  der  in  schön  ge- 
drechselter Rede  sein  Kolleg  liest  und  wohlgefällig  schmunzelt,  wenn 
er  durch  ein  erstens,  zweitens,  drittens  oder  einen  wortreichen 
Uebergang  seinen  Hörern  die  wohlüberlegte  Disposition  zu  Gemüte 

1)  Col.  2, 59  ist  vieUeicht  imxtfioüoa  zn  lesen ;  cf.  p.  62, 6. 

2)  So  gefäUt  mir  coL  6,60  dor  Artikel  xoTc  xeSXXc^i  nicht.  Man  könnte  er- 
gänzen: oO  7dp  8^  <zä  dau(Aao>ToTc  xdXXcoi  %a\  (itjiOeaiv  {>icep<<xovt«  |Atfv>a  xxX. 

64* 


920  Om.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  11 

f&hren  kann.  Dort  der  Feuerkopf,  der  mit  ganz  wenigen  Dogmen 
operiert,  aber  diese  Sätze  als  Evangelium  verkündet  mit  dem  Be- 
wußtsein, daß  sie  allein  dem  Menschen  Leben  und  Seligkeit  zu  geben 
imstande  sind.  Hier  der  Systematiker,  der  eine  große  Reihe  von 
Einzelheiten  sich  angeeignet  hat,  aber  dabei  die  Grundgedanken  der 
Stoa  so  ziemlich  vergißt  und  lieber  sich  in  Vorschriften  ergeht,  wie 
der  Mensch  beim  Holzhauen  und  Eohlbauen  seine  Gemütsruhe  be- 
wahren kann.  Zu  Epiktet  kommen  die  Großen  der  Erde,  wenn  sie 
sich  bei  schweren  Schicksalsschlägen  aufrecht  erhalten  wollen,  Hie- 
rokles  schreibt  für  die  spießbürgerlichen  Verhältnisse  der  Kleinstadt. 
Er  mag  etwa  im  eigentlichen  Griechenland  gewirkt  haben.  Aber 
wäre  er  in  Rom  tätig  gewesen,  den  hätte  auch  Domitian  nicht  ver- 
bannt. 

Göttmgen  Max  Pohlenz 


Für  die  Redaktion  verantwortlich :  Prof.  Dr.  Eduard  Schwartz  in  Göttingen 


Dezember  1906  Nr.  12 


Johannes  Hoops,  ord.  Professor  an  der  Universität  Heidelberg,  Waldbäume 
undKultarpflanzen  im  germanischen  Altertam.  StraEborg (Trübner) 
1905.   8^   XVI  +  689  S.,  8  Abb.  im  Text  und  1  Tafel. 

Wenn  ein  Philologe  ein  botanisches  Thema  bearbeitet,  wird  sein 
Werk  von  der  Mehrzahl  der  Botaniker  mit  Mißtrauen  aufgenommen. 
Nicht  mit  Unrecht.  Das  botanische  Wissen  besteht,  namentlich  wo 
Systematik  und  Geschichte  in  betracht  kommen,  aus  einer  großen 
Menge  von  Einzelheiten,  deren  Ordnung  unter  bestimmte  Gesichts- 
punkte und  feste  Regeln  bisher  nur  unvollkommen  gelungen  ist,  so 
daß  ein  Außenstehender  sich  schwer  darin  zurecht  findet.  In  der  Tat 
haben  wir  ja  erlebt,  daß  ein  so  tüchtiger  Mann  wie  Victor  Hehn 
wichtige  Kulturpflanzen  mit  einander  verwechselte  und  aus  über- 
lieferten Beschreibungen  nicht  die  gemeinte  Art  erkannte.  Andrer- 
seits ermöglicht  aber  der  geschilderte  Zustand  unsres  botanischen 
Wissens,  daß  ein  Nichtbotaniker  sich  in  einzelne  Zweige  desselben 
einarbeiten  kann,  auch  wenn  es  ihm  an  Zeit  oder  Lust  fehlt,  die 
Grundlagen  des  Faches  in  der  Gesamtheit  sich  anzueignen.  Hoops, 
der  stets  eine  gewisse  Vorliebe  für  Pflanzenkunde  gehabt  hat,  be- 
herrscht die  für  sein  Thema  in  Frage  kommenden  botanischen  Spe- 
zialgebiete in  ausreichendem  Maße.  Und  wenn  sein  Buch  über  die 
Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum  anonym 
und  ohne  Einleitung  erschienen  wäre,  hätte  mancher  Meister  der 
Botanik  gewiß  nicht  gemerkt,  daß  er  Bönhasenarbeit  vor  sich  hat 
Freilich  sind  in  dem  Buche,  wie  ich  später  zeigen  werde,  Fehler, 
von  denen  man  sagen  kann,  daß  ein  Botaniker  sie  nicht  hätte  machen 
dürfen,  aber  von  solchen  Fehlem  sind  auch  die  Arbeiten  berufener 
Fachleute  nicht  immer  frei. 

Hoops  ist  Anglist,  und  seiner  botanischen  Liebhaberei  folgend 
hat  er  den  altenglischen  Pflanzennamen  besondere  Aufmerksamkeit 
zugewandt.   Und  diese  Namen  haben  ihm  wertvolle  Beiträge  zur  Auf- 

Göii.  gtL  Abs.  190«.  Nr.  12  65 


922  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

klärung  der  Vorgeschichte  des  englischen  Volkes  an  die  Hand  ge- 
geben, durch  welche  die  Arbeiten  von  Seelmann  im  XII.  (1886) 
Jahrgang  des  Niederd.  Jahrbuchs  und  die  Ausfuhrungen  Detlefsens 
im  ersten  Bande  seiner  Geschichte  der  holsteinischen  Eibmarschen 
(1891)  in  schöner  Weise  ergänzt  werden.  In  einem  1795  von 
Siemssen^)  im  Magazin  f.  d.  Naturkunde  und  Oekonomie  Mecklen- 
burgs IL  Bd.  publizierten  Verzeichnis  mecklenburgischer  Pflanzen- 
namen finden  sich  für  die  Mispel  Apenärseken  und  Apenirschen. 
Boll,  der  1860  eine  Flora  von  Mecklenburg  herausgab,  kannte  diese 
Namen  nicht  mehr,  machte  aber  auf  die  merkwürdige  Uebereinstim- 
mung  dieser  Benennung  mit  dem  bei  Shakespeare  (Romeo  und  Julie 
II,  1)  vorkommenden  open  arse  aufmerksam.  Hoops  weist  nun  im 
14.  Kapitel  seines  Buches  nach,  daß  nicht  nur  dieser  Mispelname, 
sondern  noch  eine  Anzahl  anderer  Wörter,  die  ihrer  Bedeutung  wegen 
nicht  in  vorrömische  Zeit  hinaufreichen  können  (die  Mispel  ist 
durch  die  Römer  ins  Germanenland  gebracht),  den  Engländern  und 
Niederdeutschen  seit  dem  frühen  Mittelalter  gemeinsam  waren,  aber 
den  Oberdeutschen  fehlen.  Es  ergibt  sich  aus  den  weiteren  Aus- 
führungen, daß  die  römische  Kultur  am  Niederrhein  sowohl  die  Nord- 
deutschen als  auch  die  über  die  Niederlande  nach  Britannien  ziehen- 
den Sachsen  beeinflußt  hat.  Das  ist  meines  Erachtens  eins  der 
sichersten  Ergebnisse  der  Hoopsschen  Arbeit. 

Ueber  sein  anglisches  Spezialfach   hinaus  hat  Hoops  nun  auch 
die  indogermanischen  Pflanzennamen  allgemein  studiert  und  ist  bei 
dieser  Arbeit  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  daß  jenes  hypotheti- 
sche Volk,  welches  die  älteste  indogermanische  Sprache  bildete,  im 
heutigen  Norddeutschland  gewohnt  haben  müsse.    Der  Begründung 
dieser  Hypothese  ist  der  größte  Teil  des  in  Rede  stehenden  Buches 
gewidmet.    Gegen  die  Art  und  Weise,  wie  Hoops  seine  Hypothese 
aufbaut,  kann  man  Bedenken  haben.    Mehr  als  einmal  schließt  eine 
Einzeluntersuchung  mit  dem  Satze:  >es  kann  so  sein,<  im  folgenden 
Absätze  heißt  es  dann:  >es  ist  so,«  und  nun  wird  auf  diesen  Unter- 
bau ein  neues  Hypothesenstockwerk  aufgesetzt.    Natürlich  wird  das 
Ganze  ein  Kartenhaus,  aber  dessen  ist  sich  der  Verfasser  wohl  be- 
wußt, wie  er  im  9.  Kapitel  erkennen  läßt;  nur  um  überhaupt  weiter- 
bauen zu  können,   hat  er  vorübergehend  das   nur   Mögliche   oder 
Wahrscheinliche  als  sicher  hingestellt. 

Die  Hypothese  der  norddeutschen  Heimat  der  Indogermanen  ist 
die  eigentliche  Grundlage  des  Hoopschen  Buches,  sie  ergibt  sich 
nicht  mit  Notwendigkeit  aus  dem  beigebrachten  Material,  sondern  sie 

1)  Ich  dtiere  die  Quelle,  weü  Hoops  den  in  Mecklenburg  jetzt  ganz  unbe- 
kannten Namen  ohne  Quelle  aufführt. 


Hoops^  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum       923 

ist  durch  dem  Wissen  vorauseilendes  Denken  geformt  und  dann  durch 
eine  oftmals  lückenhafte  Beweisführung  unterbaut. 

Das  Urteil  der  naturforschenden  Kreise  über  das  Buch  wird 
wesentlich  davon  abhängen,  wie  sich  jeder  Einzelne  zu  der  Frage 
der  Lage  Urindogermaniens  stellt.  Denn  die  allermeisten  von  uns, 
insbesondere  die  ganze  Haeckelsche  Richtung,  wissen  mit  Büchern, 
die  von  einer  der  eigenen  fremden  Anschauung  ausgehen,  nichts  an- 
zufangen. Für  Victor  Hehns  Kulturpflanzen  und  Haustiere  haben 
die  Meisten  nichts  übrig  als  ein  Achselzucken.  Vielleicht  tragen 
einige  Phantasten  vom  Penka-Wilserschen  Schlage  die  Hoopssche 
Hypothese  in  weitere  Kreise,  sie  würden  die  nüchtern  Denkenden 
dadurch  nur  noch  mehr  scheu  machen.  Auf  botanischer  Seite  wird 
nur  das  kleine  Häuflein  der  historischen  Pflanzengeographen  das 
Hoopssche  Buch  als  eine  Fundgrube  für  wichtige  und  wertvolle  Einzel- 
heiten dauernd  hochschätzen.  Die  Philologen  haben  im  allgemeinen 
eine  ganz  andere  Art  zu  lesen,  als  die  Naturforscher.  Von  vorn- 
herein gewohnt  sich  mit  Werken  längst  vergangener  Zeiten  und  mit 
Bruchstücken  zu  beschäftigen,  sehen  sie  zunächst  die  Einzelheiten 
der  Arbeit  —  zuweilen  leider  nur  diese.  Auch  diejenigen  unter 
ihnen,  welche  die  Hypothese  von  der  Indogermanenheimat  ablehnen, 
werden  das  Hoopssche  Buch  wegen  der  darin  enthaltenen  wertvollen 
Details  als  wertvoll  anerkennen.  Für  wertvoll  halte  ich  beispiels- 
weise den  HI.  Abschnitt  des  8.  Kapitels,  in  welchem  die  Qerste  als 
Hauptgetreide  der  Indogermanen  nachgewiesen  wird,  sodann  den  IV. 
Abschnitt  im  10.  Kapitel  über  den  Spelz,  in  welchem  Gradmanns 
Hypothese  vom  allemannischen  Ursprung  seines  Anbaues  gründlich 
widerlegt,  und  nachgewiesen  wird,  daß  unter  far  adoreum  der  Römer 
und  oXopa  der  Griechen  diese  Weizenart  zu  verstehen  sei.  Der  alte 
Name  rams  für  Allium  ursinum,  der  Seite  466  f.  besprochen  wird, 
hatte  bisher  kaum  die  gebührende  Beachtung  gefunden.  Die  scharfe 
Scheidung  der  circumalpinen  neolithischen  Kultur  von  der  nordischen 
und  die  Ableitung  europäischer  Kultur  von  Afrika  (S.  338,  339)  zeigt, 
wie  Hoops  auch  die  Ergebnisse  der  Archäologie  für  seine  Unter- 
suchung nutzbar  zu  machen  verstanden  hat.  Das  Referat  würde  viel- 
leicht länger  als  das  Original,  wenn  ich  alles  Gute  und  Brauchbare 
hier  herzählen  und  erläutern  wollte.  Einzelnes  hebe  ich  später  noch 
hervor.  Es  stecken  aber  in  dem  Buche  auch  Unklarheiten,  Fehler 
und  Mängel,  und  auf  diese  hinzuweisen  muß  im  folgenden  meine 
Hauptaufgabe  sein,  ich  hoffe  dadurch  die  Brauchbarkeit  des  Werkes 
zu  heben. 

Ich  schließe  mich  in  der  Reihenfolge  meiner  Bemerkungen  den 
einzelnen  Kapiteln  des  Buches  an. 

65* 


924  Gott.  gel.  Ans.  1906.  Nr.  12 

1.  Kap.    Die  Seiten  13  bis  24  sind  geschrieben,  um   aus   der 
Reihe  der  postglazialen  Vegetationsperioden  Nordeuropas  die  nach 
der  Birke  oder  Espe  benannte  zu  streichen.  Nachdem  schon  Gunnar 
Andersson  an  von  Hoops  zitierten  Stellen  die  Ueberzeugung  ausge- 
sprochen hat,  daß  diese  Birken-  und  Espenzeit  verhältnismäßig  kurz 
gewesen  sei,  daß  sie  nur  als  eine  kurze  Uebergangsperiode  zwischen 
dem  Zurückweichen  der  arktischen  Flora  und  der  Einwanderung  der 
Kiefer  zu  bezeichnen  sei,  eine  Auffassung  der  kein  Botaniker  wider- 
spricht, kommt  Hoops  nach  langen   Auseinandersetzungen  zu   dem 
Schlüsse,   daß  die  Kiefer  ziemlich  gleichzeitig  oder  nur  wenig  später 
einrückte  als  die  Birke  und  Espe.    Was  ist  daran  neues?    Indem 
Hoops  nun  die  Birkenperiode  formell  streicht  und  auf  die  Dryaszeit 
gleich  die  Kiefemperiode  folgen  läßt,  meint  er  Seite  24,   daß  durch 
diese  Aenderung  des  Schemas  der  Abstand,   welcher  die  Gegenwart 
von  der  Eiszeit  trennt,  um  eine  volle  Periode  vermindert  werde.   Ja, 
ist  denn  Periode  ein  Zeitmaß?    Dabei  kann  Hoops  die  von  ihm  ver- 
vehmte   Periode   in   der  Entwickelungsreihe   der   Floren   gar   nicht 
missen,  auf  einem  Umwege  führt  er  sie  S.  25  wieder  ein,   indem  er 
der  »eigentlichen  Kiefemzeit<    eine  >Birkenkiefemzeit€   vorangehen 
läßt.    Gegenwärtig  gibt  es  sowohl  auf  Skandinaviens  Gebirgen  als 
auch  auf  der  Ebene  der  Halbinsel  Kola  zwischen  dem  Nadelwalde 
und  den  baumlosen  Feldern  einen  wenn  auch  schmalen  und  an  ein- 
zelnen   Stellen    unterbrochenen    Birkengürtel;    vgl.   die   Karte    von 
Alfred  Fetrelius  in  Fennia  HI  (1890)  und  deren  Wiederabdruck  in 
den  Acta  Societatis  pro  fauna  et  flora  Fennica  VI  Nr.  3  (1890).    Es 
entspricht  also  einer  weit  verbreiteten  und  gut   begründeten  An- 
schauung, wenn  wir  annehmen,  daß  in  der  Tat  die  Birke  vor  der 
Kiefer  von  den  eisfrei  gewordenen  Ländern  des  Nordens  Besitz  er- 
griffen hat.  In  den  Alpen  und  Sudeten  freilich  gibt  es  solche  Birken- 
zone  ebensowenig   wie   in   Nordsibirien.      Hoops    zieht    nicht   nur 
mecklenburgische,  sondern  auf  S.  21  sogar  salzburgische  und  Züricher 
Moorfonde  heran,  um   das  Fehlen  einer  Birkenzeit  für  Nordeuropa 
zu  beweisen.    Dagegen  weiß  er  auf  S.  51/52  ganz  gut,   daß  es  nicht 
erlaubt  ist,   die  Florengeschichte  dieser  Länder  mit  der  der  nordi- 
schen gleich  zu  setzen. 

Auf  Seite  29  lesen  wir  von  der  Kiefer:  Sie  ist  namentlich  in 
Jutland  und  Dänemark  durch  die  Eiche  und  ihre  Begleiter  voll- 
ständig ausgerottet  worden  und  hat  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag 
nicht  wieder  einbürgern  können.  Auf  S.  184  im  5.  Kapitel  weiß 
Hoops,  daß  auf  den  Inseln  Läsö  und  Anholt  noch  im  16.  Jahr- 
hundert alter  Nadelwald  war,  und  aus  der  dort  zitierten  Quelle  muß 
er  auch  wissen,   daß  diese  Nadelhölzer  durch  Menschen  ausgerottet 


Hoops,  Waldbäame  and  Kaitarpflanzen  im  germanischen  Alterinm        925 

sind.  Doch  auf  S.  184  weiß  Hoops  auch,  daß  es  gegenwärtig  in 
Dänemark  an  vielen  Orten  Kiefern  gibt.  Auf  Seite  205,  wo  das  zeit- 
weise Verschwinden  oder  Seltenwerden  derselben  Baumart  im  deut- 
schen Nordseeküstenlande  erörtert  wird,  hören  wir  nichts  davon,  daß 
die  Eiche  die  Kiefer  ausgerottet  habe,  sondern  das  ozeanische  Klima 
wird  für  den  Rückgang  des  Nadelholzes  verantwortlich  gemacht.  Nun 
kann  ja  dieses  Klima  gleichzeitig  das  Nadelholz  benachteiligt  und 
die  Eiche  begünstigt  haben,  so  daß  schließlich  beide  Annahmen  auf 
dasselbe  hinausliefen.  Jedoch  bildet  die  Kiefer  in  der  Gegenwart  im 
dänischen  und  deutschen  Küstenlande  nicht  nur  Bestände  in  den 
Forsten,  sondern  man  sieht  auch  auf  Mooren  hier  und  da  einzelne 
Bäume  oder  Gruppen.  Freilich  sind  alle  jetzt  in  Dänemark  lebenden 
Kiefern  durch  Menschen  eingeführt  oder  sie  stammen  von  innerhalb 
der  letzten  200  Jahre  eingeführten  ab.  Aber  ihr  Vorhandensein  und 
Gedeihen  beweist,  daß  weder  Boden  noch  Klima  die  Ausbreitung  der 
Art  verhindern,  und  das  Aushalten  alten  Nadelwaldes  auf  den  Katte- 
gatinseln  läßt  kaum  die  Annahme  zu,  daß  der  ozeanische  Charakter 
des  Klimas  in  der  Vorzeit  für  diese  Waldform  verderblich  gewesen 
sei.  Wenn  man  Jutland,  Schleswig,  Fünen  und  Seeland  für  sich 
allein  betrachtet,  dann  läßt  sich  die  Behauptung,  daß  die  Kiefer 
durch  die  Eiche  ausgerottet  gewesen  sei,  wirklich  nicht  widerlegen, 
denn  ihrer  Wiedereinführung  durch  den  Menschen  ist  eine  ganz  er- 
hebliche Lichtung  der  Eichenwälder  voraufgegangen.  Unwahrscheinlich 
ist  nur,  daß  der  Rückgang  des  Nadelwaldes  in  Holstein  und  dem 
linkselbischen  Heidegebiete  eine  andere  Ursache  gehabt  habe,  als  in 
den  eben  genannten  Landschaften.  Nach  allem,  was  wir  wissen,  ist 
die  Eiche  im  deutschen  Nordseeküstenlande  erheblich  früher  einge- 
wandert als  in  Dänemark,  und  doch  hat  sie  die  Kiefer  nicht  aus- 
rotten können,  wie  unten  bei  Besprechung  des  5.  Kapitels  nachzu- 
weisen sein  wird. 

Von  der  auf  S.  30  besprochenen  Ilexflora  habe  ich  schon  1894 
(Botan.  Centralblatt  LX  Nr.  10)  nachgewiesen,  daß  sie  nicht  an  ein 
warmes  Klima  gebunden  ist.  Semander  und  Holmboe  haben  dann 
übereinstimmend  dargelegt,  daß  die  zerstreuten  Standorte  der  zu 
dieser  Genossenschaft  gehörenden  Pflanzen  nicht  als  Reste  einer  ehe- 
maligen zusammenhängenden  Verbreitung  vom  Sunde  her,  sondern 
als  über  das  Skagerrak  vorgedrungene  Vorposten  jetzt  erst  ein- 
wandernder Arten  anzusprechen  sind.  Hex  stellt  an  das  Klima  er- 
heblich geringere  Ansprüche  als  die  Eiche,  aber  sie  wandert  viel 
schwerer  als  diese. 

Dasselbe  gilt  von  der  Seite  31  f.  besprochenen  Buche,  worüber 
Alb.  Nilssons   Arbeiten  zu  vergleichen  sind  (besonders  Om  bokens 


926  Qött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

utbredning  och  förekotnstsätt  i  Sverige  in  der  Tidskrift  for  Skogs- 
hushäll  1902).  Die  späte  Einwanderung  von  Hex  und  Buche  io 
Skandinavien  beruht  also  aui  der  Schwerbeweglichkeit  dieser  Arten, 
sie  kann  —  muß  aber  nicht  —  in  Beziehung  gebracht  werden  zu 
der  von  Hoops  S.  38 — 39  erörterten  Klimaverschlechterung.  Schon 
in  Holstein  wanderte  die  Buche  erheblich  später  ein  als  die  Eiche. 
Aber  im  nördlichen  Vorlande  der  Alpen  ist  sie,  wie  es  ihrer  An- 
passung an  das  Klima  entspricht,  wahrscheinlich  sehr  früh  erschienen. 
Am  Schweizersbild  sind  Kohlen,  die  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
als  Buchenkohle  bestimmt  wurden,  zusammengefunden  mit  den  Resten 
einer  Tierwelt,  die  dem  letzten  Stadium  der  Umbildung  der  glazialen 
Felder  in  boreale  Wälder  entspricht;  hier  folgt,  wenn  meine  Auf- 
fassung der  Funde  richtig  ist,  auf  die  Birkenzeit  eine  Buchenzeit 
Hoops  zitiert  die  Nüeschsche  Arbeit,  auf  die  ich  mich  hier  beziehe 
und  auf  die  ich  noch  mehrmals  zurückkommen  muß,  erst  auf  S.  95 
bei  Besprechung  der  Steppenfrage.  Daß  die  Buche  in  der  Neuzeit 
die  Alleinherrschaft  in  Dänemarks  Wäldern  gewonnen  und  die  Eiche 
verdrängt  habe,  ist  nicht  genau.  Hoops  zitiert  Vaupell  als  Gewährs- 
mann. Sollte  der  wirklich  1857  so  geschrieben  haben,  so  hat  er  doch 
1863  in  de  Danske  Skove  die  Verhältnisse  richtiger  geschildert,  in- 
dem er  sagt,  daß  zwar  grundsätzlich  die  Eiche  der  Buche  unter- 
liegen müsse,  daß  es  aber  doch  nur  wenige  Buchenwälder  gäbe,  ans 
denen  die  Eiche  ganz  verdrängt  sei^).  Die  letztere  ist  bis  heute 
häufig  genug  geblieben,  und  die  reinen  Buchenbestände  sind  eine 
ganz  vorübergehende  Erscheinung  gewesen:  erst  im  18.  und  19.  Jahr- 
hundert durch  Herausschlagen  der  übrigen  Baumarten,  namentlich 
der  Eichen,  zustande  gebracht,  haben  sie  sich  auf  den  meisten  Böden 
so  wenig  bewährt,  daß  man  sie  nicht  verjüngen  konnte.  Gegenwärtig 
sieht  man  im  inneren  und  westlichen  Jutland  fast  mehr  Fichten-  als 
Buchenwälder.  Auch  in  den  alten  Eichenwäldern  um  Husum  wachsen 
Fichtensämlinge  überall  reichlich  und  freudig  auf.  Die  von  Hoops 
S.  57  entwickelte  Theorie,  daß  die  Fichte  für  ein  insulares  Klima 
außerordentlich  empfindlich  sei,  ist  demnach  falsch.  Auf  S.  205  wird 
diese  Theorie  zwar  dahin  eingeschränkt,  daß  am  Meere  liegende  Ge- 
birge der  in  Rede  stehenden  Baumart  zusagen  können,  aber  auch  in 
dieser  Beschränkung  bleibt  sie  unhaltbar,  denn  Jutland  und  Schles- 
wig sind  Flachland.  Und  die  Gegend  des  Loch  Katrin  im  schottischen 
Hochlande,   wo  die  'Fichte  ebenfalls  gedeiht,  und  zwar  im  Gemenge 

1)  A.  a.  0.  S.  265 :  ligesaa  umuligt  det  er  for  Egen  under  almindelige  For- 
hold at  modstaae  Bögen,  ligesaa  sjaldent  er  det  at  finde  en  BögeskoT,  hoorfra 
Egen  er  aldeles  forträngt. 


Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        927 

mit  yerschiedenen  Laubhölzern,  hat  eigentlich  auch  kaum  Gebirgs- 
charakter,  sondern  gleicht  mehr  einem  Plateau. 

Seite  61  ff.  wird  die  prähistorische  Baumflora  der  Alpenländer 
besprochen.  Hier  hätten  die  Ergebnisse  von  Nüeschs  Ausgrabungen 
am  Schweizersbild  unter  allen  Umständen  verwertet  werden  müssen. 
Sind  dort  aueh  fast  gar  keine  Pflanzenreste  geborgen,  so  sind  doch 
die  massenhaften  Ueberbleibsel  pflanzenfressender  Tiere  hinreichend, 
um,  wenn  auch  nicht  die  einzelnen  Pflanzenarten,  so  doch  den  Vege- 
tationscharakter der  Vorzeit  zu  erschließen.  Die  Fundstelle  ist  vom 
Gletscher  der  jüngsten  Eiszeit  bedeckt  gewesen.  Bei  dessen  Rück- 
zug wurde  sie  lange  Zeit  von  Schmelzwassern  überströmt  und  mit 
Schotter  bedeckt.  Sobald  das  Land  trocken  blieb,  lebten  dort  der 
Maulwurf  und  drei  Spitzmausarten,  Bär,  Wolf,  Vielfraß,  Fuchs  und 
Eisfuchs,  Hermelin  und  Wiesel,  zwei  Hamsterarten,  die  Scheermaus, 
die  nordische  und  eine  sibirische  Wühlmaus  (Arvicola  ratticeps  und 
gregalis),  mehrere  Feldmausarten,  ein  Lemming  (Myodes  torquatus), 
ein  Pfeifhase  (Lagomys  pusillus)  und  der  Alpenhase,  ferner  Renntier, 
Pferd  und  Rhinoceros  tichorrhinus,  Alpen-  und  Moorschneehuhn,  Auer- 
hahn  u.  s.  w.  Und  gleichzeitig  kamen  Menschen  vor,  die  sich  später 
gerade  hier  festsetzten.  Sie  hinterließen  Feuersteingerät  vom  Made- 
lainetypus,  Knochen-  und  Horngeräte,  auf  Stein  gezeichnete  Tier- 
figuren und  Muschelschmuck,  der  höchst  wahrscheinlich  aus  der 
mainzer  Gegend  eingeführt  ist.  Die  Kohlen  ihrer  Feuerstellen  rühren 
meist  von  Nadelholz  her,  aber  ein  Stück  wurde  mit  hoher  Wahr- 
scheinlichkeit, wie  bereits  erwähnt,  als  Buchenkohle  bestimmt.  Wäh- 
rend dieser  Kulturperiode  kamen  noch  die  meisten  oben  erwähnten 
Tiere  vor,  aber  auch  u.  a.  folgende :  Edelmarder,  Manul  (eine  Katzen- 
art, welche  jetzt  nordostasiatische  Hochfelder  bewohnt),  Biber,  Eich- 
hörnchen, Steinbock,  Hirsch,  Reh,  Wisent,  Wildschwein,  Pferd  und 
Kulan  (der  jetzt  in  Tibet  und  der  Mongolei  lebende  Wildesel),  Birk- 
huhn, Rebhuhn  und  Kiebitz.  Unter  den  von  Menschen  abgebildeten 
Tieren  ist  mit  ziemlicher  Sicherheit  das  Mammut  zu  erkennen.  Diese 
Tierwelt  spricht  sehr  dafür,  daß  damals  schon  Buchen  und  andere 
Laubhölzer  in  Gemeinschaft  mit  Nadelbäumen  vorkamen,  während 
gleichzeitig  noch  große  Strecken  des  Baumwuchses  entbehrten,  steppen- 
ähnliche Felder  waren.  Wir  stehen  in  der  Uebergangszeit  zwischen 
Feld  und  Wald,  einer  Periode,  die  entwickelungsgeschichtlich  der 
nordischen  Birkenzeit  entspricht,  aber  eine  viel  reichere  Flora  be- 
sessen haben  muß.  Wenn  Hoops  Seite  64  die  Buche  als  wärmelieben- 
den Laubbaum  hinstellt,  der  erst  spät  eingewandert  sein  könne,  so 
ist  er  im  Lrtum,  die  Buche  geht  in  den  mitteleuropäischen  Gebirgen 
bis  zur  obersten  Waldgrenze,  konnte  also  in  postglazialer  Zeit  auch 


928  Gott  gel.  Ans.  1906.  Nr.  12 

ZU  den  am  frühesten  einwandernden  Arten  gehören,  lieber  der  be- 
schriebenen Eulturschicht  lagen  nun  am  Schweizersbild  120  cm  hoch 
Kalktrümmer,  die  durch  Verwitterung  von  den  überhängenden  Felsen 
abgebröckelt  sind,  dazwischen  keine  Spur  vom  Menschen,  aber 
Knochen  vom  Sieben-  und  Gartenschläfer,  Eichhörnchen  und  Edel- 
marder, Maulwurf,  Spitzmäusen,  Wiesel,  Scheermaus,  dSr  nordischen 
Wühlmaus,  dem  Zwergpfeifhasen  und  dem  Renntier.  Die  Glazialfauna 
ist  im  Aussterben,  der  Wald  ist  dicht  geworden  und  hat  selbst  den 
Menschen  vertrieben.  —  Die  Menschenfeindlichkeit  des  Waldes  hat 
Hoops  S.  91  sehr  richtig  dargestellt.  —  Entwickelungsgeschichtlich 
ist  diese  Periode  neben  die  nordische  Kiefemzeit  zu  stellen.  Später 
wandert  dann  der  neolithische  Mensch  ein,  der  dem  Walde  mit 
besseren  Werkzeugen  entgegentritt 

2.  Kap.  In  dem  Literaturnachweise  auf  Seite  66  vermisse  ich 
die  mir  wichtig  scheinende  Arbeit  von  Georg  F.  L.  Sarauw:  en 
stenalders  boplads  i  maglemose  ved  MuUerup,  welche  zuerst  in  den 
Aarböger  f.  nord.  oldkyndighed  og  historie  1903  erschienen  ist. 
Sarauw  sucht  hier  nachzuweisen,  daß  schon  während  der  Dryaszeit 
Menschen  mit  paläolithischer  Kultur  in  Dänemark  gelebt  haben. 
Sicher  stellt  er  fest,  daß  am  Ende  der  Kiefernzeit,  als  die  Hasel  be- 
reits eingewandert,  aber  von  der  Eiche  noch  keine  Spur  zu  bemerken 
war,  auf  Seeland  ein  Volk  lebte,  welches  unpolierte  Steingeräte,  kein 
Haustier  außer  dem  Hunde  und  keine  Kulturpflanzen  hatte.  Leider 
läßt  sich  das  Alter  der  untersuchten  Siedelung  geologisch  nicht  sicher 
bestimmen,  Sarauw  setzt  sie  in  die  Ancylusperiode.  Jedenfalls  reicht 
die  Kjökkenmöddingerkultur  rückwärts  bis  zum  letzten  Abschnitte 
der  Kiefernperiode,  vorwärts  bis  weit  in  die  Eichenzeit  hinein.  Bei 
der  Ausgrabung  dieser  altsteinzeitlichen  Kulturschicht  von  Mullerup 
wurde  auch  ein  Stück  Buchenholz  gefunden,  welches  nach  Sarauw 
zufällig  und  nachträglich  in  die  oberste  Schicht  hineingeraten  sein 
muß.  Es  liegen  schon  mehrere  Angaben  über  solche  an  unerlaubter 
Stelle  gefundene  Buchenreste  vor  (Hoops  S.  75),  es  ist  noch  immer 
gelungen,  sie  wegzudisputieren ;  aber  im  Auge  behalten  muß  man 
diese  Funde,  denn  es  könnte  für  die  Buche  ein  höheres  Alter  auch 
im  Norden  nachgewiesen  werden,  wie  Hoops  S.  76  andeutet.  In  der 
Schweiz  ist  man  nicht  so  skeptisch  wie  im  Norden,  in  den  Pfahl- 
bauten sind  mehrere  wichtige  Kulturgewächse  nur  durch  einzelne 
Fundstücke  nachgewiesen.  Der  Beginn  der  eigentlichen  neolithischen 
Kultur  (mit  poliertem  Feuerstein)  an  der  westlichen  Ostsee  ?rird  Seite 
80  richtig  datiert.  Ein  fernerer  Nachweis  für  ihr  Auftreten  am  Sunde 
vor  Vollendung  der  Litorinasenkung  findet  sich  einem  Aufsatze  Gunnar 


Hoops,  Waldbäume  and  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        929 

Anderssons  im  Ymer  1902  Heft  1   (En  stenälders-boplats  pä  Hven; 
Referat  im  Globus  85  S.  384). 

Ungenau  ist  die  Angabe  auf  Seite  84,  daß  Litorina  litorea  in 
der  Ostsee  gegenwärtig  nicht  leben  könne.  Diese  Schnecke  ist  noch 
bei  Wamemünde  recht  häufig,  nur  erreicht  sie  nie  dieselbe  Größe 
wie  in  der  Nordsee. 

3.  Kap.  Die  Wechselbeziehungen  zwischen  Steppe,  Wald  und 
Siedelung  werden  unter  gänzlicher  Uebergehung  der  russischen 
Literatur  ^)  behandelt.  Was  würden  wohl  die  deutschen  Gelehrten 
sagen,  wenn  ein  Franzose  über  die  Heidekultur  arbeitete  ohne  deut- 
sche Bücher  heranzuziehen?  Dagegen  prangt  in  dem  spärlichen 
Literaturverzeichnis  auf  Seite  90  mein  Aufsatz  von  1893  über  die 
salzigen  Gefilde.  Da  Hoops  meine  spätere  Bearbeitung  desselben 
Gegenstandes  auch  benutzt  hat,  so  mußte  er  wissen,  daß  jene  erste 
gänzlich  antiquiert  ist. 

Seite  94,  95  folgt  auf  >die  Glazialzeit <  eine  Interglazialzeit, 
darauf  ozeanisches  Klima,  dann  eine  letzte  Kälteperiode  und  schließ- 
lich ein  Kontinentalklima.  Dazwischen  finde  ich  mich  nicht  zurecht. 
Erst  die  folgende  Anknüpfung  an  die  hier  beiläufig  erwähnten  Funde 
vom  Schweizersbild  läßt  erkennen ,  daß  jene  letzte  Kälteperiode  die 
letzte  Eiszeit  sein  soll,  dieselbe  welche  in  den  voraufgegangenen 
Kapiteln  als  Eiszeit  schlechtweg  gegolten  hat,  und  daß  Hoops  sich 
deren  Ende  durch  das  Einsetzen  eines  kontinentalen  Klimas  erklärt. 
Was  Hoops  vom  prähistorischen  Landschaftsbilde  sagt,  daß  der  ein- 
wandernde Neolithiker  zahlreiche  Lichtungen  im  Waldgebiete  vorge- 
funden und  diese  zuerst  besiedelt  habe,  das  ist  gewiß  richtig ;  Boden- 
kunde, Tier-  und  Pfianzengeographie  sprechen  übereinstinunend  für 
diese  Annahme,  lieber  die  Ursachen  dieser  Lichtungen  läßt  sich 
streiten.  Der  neolithischen  Kultur  war  eine  paläolithische  vorausge- 
gangen, und  diese  war  wahrscheinlich  durch  die  Zunahme  des  Wald- 
wuchses gleichsam  erstickt  worden.  Ging  nun  der  neolithischen  Neu- 
besiedelung  des  Landes  ein  Wiederlichtwerden  des  Waldes  voraus? 
Ich  habe  schon  oben  bei  Besprechung  der  Schichtfolge  am  Schweizers- 
bild angedeutet,  daß  ich  nicht  dieser  Ansicht  bin,  vielmehr  annehme, 
daß  der  Neolithiker  schon  solche  Lichtungen  wohnlich  fand,  die  für 
den  Paläolithiker  nicht  genügend  ausgedehnt  gewesen  waren  ^).    Wo- 

1)  Eine  kurze  Uebersicht  über  die  biologischen  Verhältnisse  der  Steppen 
ließ  die  rassische  Regierung  auf  der  chicagoer  Weltaussellung  verteilen.  —  V.  V. 
Dokuchaev,  The  russian  Steppes.  St.  Petersburg  1893.  —  Auch  in  russischer  und 
französischer  Sprache  ausgegeben. 

2)  Da£  europäischer  Urwald  noch  bis  in  die  Eisenzeit  als  unbewohnbar 
gelten  konnte,  dafür  steht  ein  schönes  Beispiel  bei  Theophcast  hist,  plant.  V,8.2 
(mißlungener  Siedelungsversuch  der  Römer  auf  Corsika). 


930  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

durch  blieb  nun  das  Waldkleid  Mitteleuropas  löcherig?  Hoops 
S.  104 — 105  nimmt  Eorzchinskys  These  an,  daß  die  Steppe  sich 
ebenso  selbst  erhält  wie  der  Wald.  Aber  die  Steppe  als  Vegetations- 
formation hat  dem  Walde  gegenüber  nur  den  negativen  Charakter 
der  Baumlosigkeit ;  der  Wald  erhält  sich  durch  seinen  Samen,  die 
Steppe  aber  muß  irgendwo,  im  Klima,  im  Boden  oder  in  ihrer  Tier- 
welt, baumfeindliche  Elemente  bergen,  welche  sie  gegen  den  umsich- 
greifenden  Wald  verteidigen.  Nach  meiner  Ansicht,  die  mit  der- 
jenigen der  meisten  russischen  Fachleute  übereinstimmt,  ist  es  in 
unserem  Klima  hauptsächlich  das  Vorkommen  von  Salz  im  Boden, 
welches  Steppenvegetation  begünstigt  und  Waldwuchs  fernhält.  Wohl 
kann  diese  Anreicherung  des  Bodens  mit  Salzen  eine  Folge  des 
Klimas  sein,  wo  die  Verdunstung  stärker  ist  als  der  Wasserzu- 
fluß, aber  ein  solches  Klima  kann  kaum  in  Mitteleuropa  geherrscht 
haben,  als  die  Wälder  sich  auf  den  ehemaligen  Glazialfeldem  aus- 
breiteten. Und  daß  zwischen  jener  Ausbreitung  der  Wälder,  welche 
die  paläolithische  Kultur  vernichtete,  und  dem  Beginne  der  neolithi- 
schen  Zeit  eine  Periode  mit  so  dürrem  Klima  eingeschaltet  gewesen 
sei,  daß  neue  Salzansammlungen  im  Boden  Lücken  im  Walde  schufen, 
für  eine  solche  Annahme  0  haben  wir  bis  jetzt  gar  keinen  Anhalt. 
Ich  kann  diese  Auseinandersetzungen  hier  nicht  weiter  ausführen  und 
muß  auf  die  einschlägige  Literatur  hinweisen^).  Salzstellen  und 
namentlich  Lößgegenden,  welche  den  Baumwuchs  hinderten  und  den 
Graswuchs  förderten,  sind  nach  meiner  Ansicht  die  Plätze  gewesen, 
welche  im  prähistorischen  Urwaldgebiete  zuerst  besiedelt  wurden, 
sie  stellen  den  >  alten  Steppenboden c  dar,  den  Hoops  durchaus  richtig 
würdigt.  Ein  Beispiel  für  derartige  Verhältnisse  bietet  in  der  Gegen- 
wart die  Umgegend   von  Jakutsk^)   in  Sibirien.     Hier   finden   sich 

1)  Ein  neaer  Yersach  zur  Begründang  einer  ähnlichen  Annahme  ist  von 
Gradmann  in  der  Geogr.  Zeitschrift  12.  Jahrg.  6.  Heft  1906  unternommen. 

2)  Ernst  H.  L.  Krause,  Vegetationsskizze  d.  russ.  Gouvernements  Poltawa 
im  Glohus  72  S.  315.  —  Tanfiljew,  G.  J.,  Die  Waldgränzen  in  Südrußland.  Herausg. 
V.  Forstdepart.  d.  Minist,  f.  Landwirtschaft  und  Domänen.  1894.  Mit  ausführ- 
lichem deutschem  Resume'*  und  Karte.  —  Tanfiljew,  Die  vorgeschichtlichen  Steppen 
d.  europ.  Rußlands  =  [^oäCTopHHeCKiH  CTcnn  EBponcHCROH  PoccIh  in 
der  3eilueB'feAeHHe  1896  II  S.  78—92];  an  die  beigegebene  Karte  paßt  die  mei- 
nige im  Globus  65  S.  4  wie  eine  westliche  Fortsetzung.  —  Tanfiljew,  Ueber  die 
Schwarzerde  im  Gouv.  Wladimir  [0  B.ISUHMHpKeM'B  HepHOSeM'B],  gedruckt 
auf  Veranlassung  der  K.  Freien  Oekon.  Gesellsch.  zu  St.  Petersburg.  Ohne  Jahr. 
—  Wer  größere  russische  Arbeiten  lesen  kann  (ich  kann  es  nicht)  studiere  auch  den 
XYI.  Band  der  Marepia^ibi  Kx  oiCBUKX  seMeaB  no^iTaBCRoä  ry6epHiH, 

eCTeCTBeHHO-HOTOpHqeCRaH  hbctb  1894. 

3)  Cajander,  Beitr.  z.  Kenntnis  d.  Veget.  d.  Alluvionen  d.  nördl.  Eurasiens. 
Acta  Societatis  Scientiarum  Fennicae  XXXII  No.  1  1903. 


Hoops,  Waldbänme  and  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        931 

mitten  im  Waldgebiete,  ungefähr  9  Breitengrade  vom  Nordrande  der 
Steppen  entfernt  am  Ufer  der  Lena  Landschaften  mit  ausgeprägter 
südsibirischer  Steppenvegetation,  die  Viehweiden  der  Einwohner  von 
Jakutsk.  Ihre  Flora  enthält  so  viele  charakterische  Salzpflanzen, 
daß  kaum  daran  zu  zweifeln  ist,  daß  eine  durch  Salz  verursachte 
Waldlichtung  hier  zur  Ansiedelung  von  Menschen  Anlaß  gegeben  hat, 
die  nun  weiter  und  weiter  den  Wald  zurückdrängen.  Was  die  nord- 
deutschen Heiden  (Seite  109)  betrifft,  so  hat  Graebner  seine  Ansicht 
in  dem  mit  Hoops  Buche  gleichzeitig  erschienenen  Handbuche  der 
Heidekultur  stark  modifiziert.  Weber  hat  schon  früher  (Abh.  nat. 
Ver.  Brem.  XV.  p.  272  ff.)  anerkannt,  daß  nur  auf  Hochmoor  Heide 
ohne  menschliche  Hülfe  sich  als  Naturdenkmal  konservieren  ließe, 
und  er  hat  neuerdings  *)  den  Nachweis  erbracht,  daß  auch  der  ärmste 
Heidesand  über  starkem  ungebrochenem  Ortstein  stattlichen  Kiefern- 
wald wachsen  läßt.  Größere  Urheiden  können  also  im  Nordsee- 
küstenlande nur  auf  abgestorbenen  Mooren  und  auf  aus  dem  Wasser 
gehobenen  Flächen  da  entstanden  sein,  wo  pflanzenfressende  Tiere 
oder  Menschen  diese  in  Besitz  nahmen,  ehe  sie  Zeit  hatten  sich  zu 
bewalden.  Selbstverständlich  halfen  die  Armut  des  Bodens  und  das 
stürmische  Klima  dem  Felde  in  seinem  Kampfe  gegen  den  Wald. 

4.  Kap.  Die  Seite  117  f.  verteidigte  These,  daß  der  alte  Stamm 
daru  —  Spöc  u.  s.  w.  nicht  Baum,  sondern  Eiche  zur  Urbedeutung 
habe,  wird  sich  schwerlich  je  beweisen  lassen.  Falsch  ist  die  Ver- 
mutung, daß  dieses  Wort  im  Germanischen  die  Bedeutung  Kiefer^ 
angenommen  habe:  engl,  tree,  dän.  träd  und  schwed.  träd  bedeuten 
unfraglich  Baum  und  nicht  Kiefer,  im  Deutschen  ist  das  Wort  durch 
die  verschiedenen  Gehölznamen  anhängende  Endsilbe  der  oder  ter 
vertreten.  Hinter  das  altisländische  tyrr  =  Kiefer  wage  ich  ein 
Fragezeichen  zu  setzen.  Hoops  nennt  keine  Quelle  für  dies  wichtige 
Wort  und  bietet  keine  Gewähr  dafür,  daß  es  richtig  gedeutet  und 
richtig  gelesen  ist.  Littauisch  derwä  Kienholz  ist  wohl  nur  speziali- 
siert aus  der  allgemeineren  Bedeutung  Holz  —  russ.  drawa. 

Wichtig  ist  der  Hinweis  auf  indisch  pargai  für  Quercus  ilex 
Seite  119.  Wenn  auch  der  entsprechende  Sanskritname  für  Ficus 
religiosa  gebraucht  ist,  so  kann  dennoch  die  Bedeutung  Quercus  ilex 

1)  Br.  Tacke  und  0.  A.  Weber,  Ueber  einen  alten,  gut  gewachsenen  Rot- 
föhrenbestand  über  hartem  and  starkem  Ortstein.  Zeitschr.  f.  Forst-  and  Jagd- 
wesen 1905  Heft  11. 

2)  In  diesem  Kapitel  nennt  Hoops  die  Pinus  silvestris  Föhre,  während  er  sie 
bis  dahin  Kiefer  genannt  hatte.  Bei  der  immer  noch  herrschenden  Unsicherheit 
in  der  vulgären  Nadelholznomenclatar  ist  solcher  Namenswechsel  nicht  zweck- 
mäßig. 


932  Gtott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

die  ursprüngliche  sein.  Und  damit  wäre  die  Eiche  in  die  urindo- 
germanische Flora  aufgenommen.  Dann  wird  auch  die  Wahrschein- 
lichkeit sehr  groß,  daß  das  germanische  fereha  —  foraha  (Seite  118) 
früher  Eiche  bedeutet  habe  als  Kiefer.  Freilich  ist  nicht  ausge- 
schlossen, daß  schon  zwei  Wörter  verschiedener  Bedeutung  gebildet 
waren,  ehe  die  germanische  Sprache  selbständig  wurde;  wie  z.  B. 
lat.  equus  und  aqua  trotz  ihrer  Wurzelverwandschaft  schwerlich  erst 
nach  Isolierung  der  lateinischen  Sprache  ihre  verschiedene  Bedeutung 
bekommen  haben.  Ja,  können  nicht  ahd.  foraha  Kiefer  und  lango- 
bardisch  fereha  Eiche  grundverschiedene  Wörter  sein?  Bei  Hoops 
findet  sich  altenglisch  furh  auf  Seite  434  in  der  Bedeutung  Kiefer 
und  Seite  345  in  der  Bedeutung  Furche;  Fuhre  bedeutet  in  Nord- 
westdeutschland sowohl  Kiefer  als  auch  Wagenladung  und  Fahrt; 
Kiefer  endlich  bezeichnet  nicht  nur  den  oft  genannten  Baum,  sondern 
auch  die  Knochen,  welche  unsere  Zähne  tragen.  Kein  Philologe 
denkt  daran,  diese  Wortpaare  zusammenzukoppeln.  Wie  Hoops 
Seite  125^  zitiert,  ist  neuerdings  auch  faYstv  von  tprff6^  getrennt 
Also  können  auch  foraha  und  fereha  verschiedenen  Ursprungs  sein. 
Vielleicht  denkt  einmal  ein  Philologe  daran,  ob  nicht  der  föhrenbe- 
standene Berg  Pyrrhaion  auf  Lesbos  (Theophr.  hist,  plant.  IQ.  9,  5) 
seinen  Namen  von  dieser  Baumgattung  haben  kann.  Ich  bemerke 
schließlich,  daß  die  indische  pargai  von  unseren  Eichen  recht  verschieden 
aussieht,  so  daß  sie  in  Südeuropa  von  den  Römern  nicht  quercus 
sondern  ilex,  von  den  Griechen  nicht  Spöc  sondern  icpivoc  genannt 
wurde.  Ihre  Frucht  ist  nicht  ßdXavoc  sondern  SxoXoc.  Eine  so  un- 
fragliche Uebereinstimmung  wie  bei  den  Birken  liegt  also  bei  den 
Eichennamen  nicht  vor.  Das  ist  auch  ganz  natürlich,  denn  die  Birke 
ist  die  einzige  Baumgattung,  welche  von  Nordwesteuropa  bis  Indien 
und  Nordasien  durch  einander  sehr  ähnliche  Arten  vertreten  ist^). 
Und  wegen  der  großen  Verschiedenheit  der  Baumfloren  Indiens  und 
Europas  darf  man  aus  dem  Fehlen  verwandter  und  gleichbedeutender 
Namen  in  diesen  beiden  Ländern  nicht  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
gemeinsame  Ursprache  ihrer  Bewohner  nur  wenig  Baumnamen  be- 
sessen hätte.  Ob  aber  Hoops  nicht  zu  weit  geht,  wenn  er  es  für 
sicher  ansieht,  daß  diese  Ursprache  schon  Birken,  Espen,  Buchen, 
Eichen,  Weiden,  Eschen  und  Nadelhölzer  unterschieden  habe,  das 
mag  dahinstehen.  Was  die  Hypothese  von  dem  Ursprungslande 
dieser  Sprache  (Seite  128)  betrifft,  so  will  ich  bemerken,  daß  alle 
die  genannten  Bäume  nicht  nur  in  Mitteleuropa  sondern  auch  im 
Kaukasusgebiet  vertreten  sind. 

1)  Vgl.  meinen  Aufsatz  im  Globus  32  Seite  152. 


Hoops,  Waldbäame  und  Kalturpflanzen  im  gormanischen  Altertum        933 

leb  möchte  an  dieser  Stelle  anregen,  doch  die  Theorie  vom 
Exodus  der  Indogermanen  aus  einem  Stammlande  nicht  fur  unbe- 
streitbar zu  halten,  vielmehr  nachzuprüfen.  Kann  nicht  Urindoger- 
manien  ein  großes  prähistorisches  Reich  gewesen  sein^),  in  welchem 
verschiedene  Dialekte  gesprochen  wurden,  aus  denen  später  Sprachen 
wurden,  in  ähnlicher  Weise  wie  sich  die  romanischen  Sprachen  aus 
den  Provinzialdialekten  des  ehemaligen  Römerreichs  entwickelt  haben? 
Die  verschiedenen  Dialektgebiete  können  dann  ja  floristisch  ver- 
schieden gewesen  sein,  es  können  auch  in  der  Industrie  und  Technik 
verschiedener  Provinzen  verschiedene  Bäume  dem  gleichen  Zwecke 
gedient  haben  und  deshalb  trotz  erheblicher  botanischer  Verschieden- 
heit gleich  benannt  sein. 

5.  Kap.  Auf  Seite  139  (wie  auch  später  auf  S.  167  u.  a.)  hat 
Hoops  das  linksrheinische  Deutschland  nicht  berücksichtigt.  Sonst 
wäre  den  vier  süddeutschen  Nadelwaldgebieten  ein  fünftes  hinzuzu- 
fügen, welches  die  Nordvogesen  nebst  den  pfälzer  Gebirgen  und 
Teilen  des  Hagenauer  und  des  Bienwaldes  umfaßt,  und  in  dem  die 
Kiefer  der  herrschende  Baum  ist.  Was  den  Namen  des  Schwarz- 
waldes betrifft ,  so  deutet  er  sicher  auf  Nadelholz.  Aber  daß  er  für 
einen  Edeltannenbestand  beweisend  sei,  will  mir  nicht  einleuchten. 
Zwar  wird  niemand  daran  zweifeln,  daß  hier  schon  seit  der  Römerzeit 
Edeltannen  wuchsen,  aber  einen  direkten  Beweis,  wie  er  für  Alpen, 
Jura  und  Vogesen  bei  Plinius  XVI 197  vorliegt,  haben  wir  nicht. 
Die  Seite  143  herangezogene  Stelle  aus  Seb.  Münster,  wonach  ein 
Teil  der  Schwarz waldbe wohner  von  der  Harzgewinnung  lebt,  ist 
nicht  nur  kein  >  Beweis  für  die  Massenhaftigkeit  des  Vorkommens 
der  Tanne  <,  sondern  spricht  im  Gegenteil  für  das  Vorhandensein 
von  Fichtenwäldern.  Solche  überwiegen  heute  in  der  Tat  auf  dem 
hohen  Schwarzwalde  auf  der  Strecke  zwischen  Rench-  und  Murgtal 
ganz  bedeutend  und  sind  nach  Ausweis  der  Floren  auch  im  südlichen 
Teile  des  Gebirges  häufiger  als  die  Edeltannen.  Wenn  Hoops  schon 
Schriften  des  16.  Jahrhunderts  heranzog,  um  den  Baumbestand  der 
deutschen  Wälder  zur  Römerzeit  und  im  frühen  Mittelalter  zu  er- 
mitteln, dann  durfte  er  die  um  jene  Zeit  erschienene  botanische 
Literatur  nicht  so  ganz  ignorieren.  Viel  findet  sich  in  den  Kräuter- 
büchem  ja  nicht  über  Standorte  und  Verbreitung  der  Arten,  aber 
einiges  doch. 

Was  im  5.  und  6.  Kapitel  und  an  einigen  anderen  Stellen  unsres 
Buches  über  Ortsnamen  und  deren  Ableitung  geschrieben  ist,  wäre 
besser  ungedruckt  geblieben.   Daß  Hoops  bei  diesen  Versuchen  selbst 

1)  Vgl.  Globus  83  Seite  109. 


934  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  12 

auf  englischem  Sprachgebiete,  auf  dem  er  doch  am  sichersten  ist, 
arge  Fehler  gemacht  hat,  wurde  bereits  durch  Max  Förster  im  Bei- 
blatt zur  Anglia  XVII  Bd.  No.  VII  (Juli  1906)  nachgewiesen.  Sollten 
in  Eichheim,  Tanheim  und  manchen  anderen  angezogenen  Ortsnamen 
nicht  eher  Personen-  als  Baumnamen  stecken?  Eiko  ist  als  Eigen- 
name bekannt,  ebenso  Buko ;  und  Thannenkirch  in  den  Vogesen  (das 
Hoops  freilich  nicht  erwähnt,  da  er  über  den  Rhein  nicht  hinausgeht) 
gilt  als  Abschleifung  von  St.  Annenkirch.  Besondere  Nachprüfung 
verdienen  die  Seite  153  und  vorher  von  der  Lenne  hergeleiteten 
Namen,  denn  dieser  Baum  ist  im  Schwarzwald  erheblich  seltener  als 
der  wertvollere,  in  den  Namen  nie  vorkommende  Bergahom.  Wenn 
ip  Iburg  Seite  149  wirklich  ein  Baumname  steckt,  so  braucht  es  nicht 
die  Eibe  zu  sein,  es  kommt  auch  die  life  (Ulmus)  in  betracht,  deren 
Vorkommen  unter  diesem  Namen  Hoops  S.  168  für  die  Rheinebene 
nachweist.  Auffällig  ist,  daß  die  nach  der  Hasel  benannten  Orte 
fast  alle  Haslach  heißen,  während  andere  Baumnamen  kaum  je  mit 
ach  zusammengesetzt  sind.  Die  Hasel  ist  doch  gerade  kein  Ufer- 
oder Sumpfholz.  Das  bekannteste  Haslach  aber,  Ober-  und  Unter- 
haslach  unterhalb  Burg  Nidek  im  Elsaß,  liegt  an  einem  Bache  namens 
Haselbach!  Da  liegt  doch  die  Vermutung  sehr  nahe,  daß  Hasel  ein 
alter  Gewässername  sei. 

In  Oberbayern,  das  Hoops  Seite  158  etwas  stiefmütterlich  be- 
handelt, stehen  die  großen  Kiefernwälder  zum  teil  auf  Moorboden, 
der  zur  Römerzeit  anscheinend  noch  vielerorts  sumpfig  war.  Ihre 
Hauptmasse  aber  überzieht  ehemalige  Aecker,  die  bekannten  Hoch- 
äcker. Für  diese  hat  inzwischen  F.  Weber  im  Anthropol.  Korre- 
spondenzblatt 1906  nachgewiesen,  daß  sie  zur  Römerzeit  urbar  ge- 
wesen und  durch  die  Völkerwanderung  wüst  geworden  sind.  Vor 
der  Latenezeit  waren  dieselben  Flächen  nicht  kultiviert,  aber  über 
ihre  damalige  Vegatation  wissen  wir  nichts. 

Auf  Seite  171  meint  Hoops  aus  Ortsnamen  nachgewiesen  za 
haben,  daß  die  Kiefer  im  frühen  Mittelalter  im  ganzen  rechtsrheinischen 
Rheintale  waldbildend  aufgetreten  sei.  Von  Rastatt  landaufwärts 
wird  dabei  als  einziger  Name  Forchheim  bei  Riegel  beigebracht 
Dieses  Forchheim  nun  gehört  zu  einer  großen  Gruppe,  meist  links- 
rheinisch gelegener  Orte  auf  -heim,  die  soweit  ihre  Herkunft  klar 
ersichtlich  ist,  auf  Personennamen  zurückgehen,  z.  B.  Markolsheim, 
Artolsheim,  Algolsheim,  Baldenheim,  Balzenheim,  Hessenheim,  Jebs- 
heim,  Herbolzheim.  Da  muß  man  doch  vermuten,  daß  es  zur  Zeit 
der  Gründung  Forchheims  einen  Personennamen  gegeben  habe,  der 
zu  Forch  verdreht  oder  abgeschliffen  werden  konnte.  Landabwärts 
stoßen  wir  wenigstens  auf  einen  Namen,  der  mehr  Vertrauen  erweckt, 


Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        935 

den  des  Waldes  Forehahi  zwischen  Mannheim  und  Darmstadt.  Man- 
cherlei floristische  Gründe  sprechen  dafür,  daß  dort  in  der  Tat  alte 
Kiefernwälder  waren,  und  die  Holzrechnungen  der  weiter  landauf 
gelegenen  bischöflich  speyerschen  Forsten^)  weisen  wenigstens  im 
Anfange  des  18.  Jahrhunderts  zwischen  mancherlei  Laubholz  nicht 
wenige  Kiefern  (Fohren,  Forlen)  auf. 

Zu  Seite  181—183.  Die  schönen,  von  Touristen  viel  besuchten 
Buchenwälder  Ostholsteins  sind  keine  Reste  des  großen  Waldes  der 
Helmoldschen  Zeit.  Sie  bilden  meist  schmale  Streifen  an  den  Ufer- 
abhängen der  Seen  und  Flüsse,  die  ihrer  Steilheit  wegen  schlecht 
zu  pflügen  sind,  und  deshalb  im  18.  und  19.  Jahrhundert  aufgeforstet 
wurden.  Auf  den  Dankwertschen  Karten  von  1652^)  sind  alle  diese 
Ufer  noch  unbewaldet,  und  am  Ugleisee  waren  vor  15  Jahren  die 
Reste  alter  Alleen  längs  der  eingezogenen  Feldwege  noch  im  Walde 
deutlich  erkennbar. 

Die  Polargrenze  der  Tilia  grandifolia  liegt  nicht  in  Mitteldeutsch- 
land. Diese  Art  kommt  noch  in  Dänemark  vor.  Ob  Linden  in  unseren 
Wäldern  von  kultivierten  Bäumen  abstammen  oder  lauter  wilde  Ahnen 
gehabt  haben,  das  ist  eine  Frage,  die  sich  im  Einzelfalle  manchmal 
zii  gunsten  der  ersteren,  eigentlich  nie  zu  gunsten  der  letzteren  Alter- 
native einwandsfrei  entscheiden  läßt.  Dasselbe  gilt  in  der  Ebene 
vom  Bergahorn  (Acer  pseudoplatanus).  Betreffs  der  Lenne  (Acer 
platanoides),  die  früher  kaum  gepflegt  wurde,  stimme  ich  Hoops  bei, 
sie  muß  in  Altsachsen  vorgekommen  sein.  Der  mapalder  der  Angel- 
sachsen ist  Acer  campestre,  wie  auch  weiter  unten  auf  Seite  256 
angenommen  wird. 

Wenn  Hoops  Seite  191  meint,  daß  niederdeutsch  Danne  in  Orts- 
namen die  Rottanne  oder  Fichte  bedeute,  so  kennt  er  den  norddeut- 
schen Sprachgebrauch  nicht.  Der  Gebrauch  von  Danne  bezw.  Tanne 
für  die  Kiefer  ist  bezeugt  bei  Ascherson,  Flora  d.  Prov.  Brandenburg 
1.  Abt.  Seite  880  (1864),  Marsson,  Flora  v.  Neuvorpommern  S.  611 
(1869),  Becker,  Beschreibung  der  Bäume  und  Sträucher,  welche  in 
Mecklenburg  wild  wachsen,  2.  Aufl.  Seite  25  (1805),  Niemann,  Vater- 
ländische Waldberichte,  4.  Stück  Seite  618  (Altona  1820).  Dagegen 
nennt  man  Pinus  silvestris  in  Hinterpommem,  der  Neumark  und 
einigen  mitteldeutschen  Gegenden  Fichte.  Als  wilde  ^)  Fichte  ist  sie 
auch  in  Lonitzers  Kräuterbuch  (Frankfurt  1564)  abgebildet,  kommt 
aber  zwei  Seiten  später  nochmals  vor  mit  den  Namen  Feure,   Tälle 

1)  Hausrath,  Forstgeschichte  der  rechtsrhein.  Teile  d.  ehem.  Bist.  Speyer  1898. 

2)  Newe  Landesbeschreibong  der  zwei  Herzogtümer  Schleswich  und  Holstein. 

3)  Die  zahme  ist  Pinus  cembra  (Zirbe,  Arve),  welche  aber  von  der  Pinie 
nicht  sicher  abgegrenzt  erscheint. 


986  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Eynbaum  und  Eyfer.  —  Während  Hoops  sich  an  der  eben  be- 
sprochenen Stelle  bemüht,  viele  mittelalterliche  Fichtenbestände  im 
mittleren  Norddeutschland  nachzuweisen,  rechnet  er  Seite  205  mit 
ganz  anderen  Voraussetzungen.  Hier  rechnet  er  mit  der  Theorie 
der  Aschersonschen  Schule,  daß  ein  ozeanisches  Klima  das  Nadelholz 
von  der  Nordseeküste  zurückgedrängt  hätte,  bis  es  neuerdings  wieder 
eingeführt  wäre.  Diese  Theorie  hatte  zur  Voraussetzung,  daß  die  von  mir 
(Petermanns  Mitt.  1892  Taf.  18)  angenommene  Nordwestgrenze  der 
Nadelhölzer  im  Mittelalter  richtig  und  auch  alt  war.  Inzwischen  ist 
aber  durch  Friedrich,  Weber,  Prejawa  u.  A.  nachgewiesen,  daß  sich 
Nadelholz  in  den  abgelegenen  Gegenden  des  nordwestlichen  Deutsch- 
lands durch  das  ganze  Mittelalter  erhalten  hat,  und  daß  es  zur 
Römerzeit  noch  in  ziemlicher  Menge  im  westelbischen  Tieflande  vor- 
handen gewesen  sein  muß.  Jene  gemutmaßte  Periode  eines  für  den 
Nadelwald  verderblichen  ozeanischen  Klimas  müßte  also  in  der  Haupt- 
sache mit  dem  Mittelalter  zusammenfallen  und  jetzt  vorbei  sein,  denn 
jetzt  gedeihen  Nadelwälder  ja  sehr  schön  im  alten  Heidegebiet.  Wir 
haben  aber  gar  keine  Ursache  anzunehmen,  daß  irgendwann  während 
der  letzten  3000  Jahre  unser  Klima  »ozeanischer«  gewesen  sei  als 
jetzt.  Und  ich  habe  oben  schon  darauf  hingewiesen,  daß  der  ver- 
derbliche Einfluß  eines  solchen  Klimas  auf  den  Nadelwald  gamicht 
nachgewiesen  ist.  Wenn  es  sich  ferner  bestätigen  sollte,  daß  die 
Angelsachsen  bei  ihrem  Einzüge  in  England  dort  Kiefern  vorfanden, 
eine  Frage,  auf  die  ich  später  einzugehen  habe,  dann  wäre  es  vol- 
lends klar,  daß  die  Periode,  während  welcher  unsere  Nadelbäume  im 
ganzen  südlichen  Bereiche  des  Nordseeklimas  fast  ausgestorben  waren, 
einen  ganz  kurzen  Zeitraum  umfaßt,  welcher  die  letzten  Jahrhunderte 
des  Mittelalters  und  die  ersten  der  Neuzeit  umfaßte,  und  es  wird 
für  dies  Abnehmen  der  in  Rede  stehenden  Holzarten  keine  andere 
Ursache  gefunden  werden  können  wie  für  ihr  gegenwärtiges  Zu- 
nehmen: die  menschliche  Wirtschaft. 

Zur  Geschichte  des  Wortes  Fuhre  Seite  207  steht  ein  wichtiger 
Beitrag  in  der  Festschrift  zur  Naturforscherversammlung  in  Lübeck 
1895,  wo  S.  301  P.  Friedrich  eine  Urkunde  von  1370  beibringt,  in 
der  >vorden  holt«  am  Travezoll  bei  Oldesloe  erwähnt  wird.  Die 
Gegend  gehört  in  das  Gebiet,  welchem  der  Name  Fuhre  jetzt  fremd 
ist.  Die  von  Hoops  erwähnten  Weberschen  Urkunden,  welche  den 
Namen  Fuhre  für  abgelegene  Wälder  zwischen  Soltau  und  Celle 
nachweisen,  stammen  aus  dem  letzten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts. 

Die  Seite  211  angezogene  Stolbergsche  Urkunde  von  1496  habe 
auch  ich  früher  als  beweisend  dafür  angesehen,  daß  die  Edeltanne 
damals  am  Harze  vorgekommen  sei.   Inzwischen  habe  ich  mich  über- 


Hoops,  Waldbäome  und  Koltarpflanzen  im  germanischen  Altertam        937 

zeugt,  daß  unter  Tanne  dort  immer  und  überall  die  Fichte  zu  ver- 
stehen ist.  Die  fiechten  und  keynboyme  müssen  dann  beide  Kiefern 
sein.  Da  auch  Lonicerus  Kräuterbuch,  wie  oben  zitiert,  diese  letztere 
einmal  als  Fichte  und  einmal  als  Feure  oder  Kynbaum  etc.  aufführt, 
so  liegt  die  Annahme  nahe,  daß  man  zwei  Formen  der  Kiefer  (viel- 
leicht Nutzstämme  und  Kienholz)  unterschieden  habe.  Auch  in  Bocks 
Kräuterbuch  (ed.  Sebiz  1580)  steht  einmal  >der  wild  Hartzbaum  ge- 
nandt  Kynholtz«  und  zwei  Seiten  weiter  der  >feist  Hartzbaum  dar- 
auß  man  zu  Winterszeiten  an  etlichen  örtern  fackelen  machet<. 

Zu  Seite  233.  Die  Nordgrenze  der  Edeltanne  läuft  gegen- 
wärtig von  den  Hebriden  durch  Schottland  und  Jutland  (vielleicht 
gar  Norwegen)  nach  Littauen.  Die  abweichende  Angabe,  welche 
Hoops  von  Ascherson-Graebner  entnommen  hat,  beruht  auf  der  Sitte  ^) 
der  Floristen,  Standorte  von  Pflanzen,  welche  ihren  Ursprung  der 
Anpflanzung  oder  Aussaat  verdanken,  zu  ignorieren.  Da  die  Ent- 
scheidung, ob  eine  Pflanze  an  gegebener  Stelle  urwüchsig  oder  ein- 
geführt ist,  oft  sehr  schwer  ist,  so  sind  manche  Grenzlinien  auch  in 
neueren  Floren  stark  von  der  persönlichen  Anschauung  des  jeweiligen 
Schriftstellers  beeinflußt.  Die  Edeltanne  gedeiht  jedenfalls  in  Ost- 
friesland und  Schleswig  vorzüglich,  wächst  schnell  und  sät  sich  reich- 
lich aus.  Forstwirtschaftlich  sind  die  Bestände  in  der  Ebene  freilich 
wenig  wert,  schon  in  Lothringen  erreichen  siebzigjährige  Bäume  in 
Brusthöhe  4  m  Umfang,  werden  mit  100  Jahren  altersschwach  und 
haben  schwammiges  Holz.  Die  von  Hoops  konstruierte  mittelalter- 
liche Grenzlinie  der  Art  kann  richtig  sein. 

Auch  die  S.  234  f.  gegebene  gegenwärtige  Fichtengrenze  beruht 
auf  willkürlicher  Ausschaltung  von  Standorten;  die  Fichte  ist  durch 
die  ganze  norddeutsche  Ebene  und  Dänemark  verbreitet,  wenn  auch 
nicht  überall  häufig. 

S.  241  ist  die  Angabe,  daß  die  Eibe  in  Mecklenburg  häufiger 
auftrete,  ungenau.  Wir  kennen  außerhalb  der  Gärten  nur  ein  ein- 
ziges Exemplar  in  diesem  Lande,  und  schon  im  16.  Jahrhundert  war 
sie  selten.  Auch  die  südwestdeutschen  Botaniker  jener  Zeit  kannten 
den  Baum  nicht  durch  Augenschein;  Bock  nennt  ihn  den  welschen 
Ibenbaum  und  bildet  ihn  gar  nicht  ab,  und  Lonitzer  zeichnet  einen 
Laubzweig  mit  länglichen  gekerbten  Blättern. 

1)  Darauf  beruht  auch  meine  frühere  unrichtige  Angabe  über  die  Kiefer  in 
England,  welche  Hoops  Seite  268  Anm.  3  berichtigt.  Er  hat  aber  nicht  gemerkt, 
dafi  dieselbe  Berichtigung  auch  für  die  dänischen  Inseln  u.  s.  w.  angebracht  war. 
Erst  in  den  Jetzten  Jahren  (Sturms  Flora  v.  Deutschland  2.  Aufl.)  habe  ich  ange- 
fangen, die  Standorte  der  Pflanzen  dem  Tatbestande  der  Gegenwart  entsprechend 
anzugeben;  die  meisten  Fachgenosseu  tuen  das  noch  immer  nicht. 

G«U.  s«L  Ans.  1906.  Nr.  12  66 


938  Qött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

6.  Kap.  Auf  den  Eichen  schmarotzte  die  uralt  heilige  Mistel, 
heißt  es  Seite  256  in  der  Schilderung  der  angelsächsischen  Flora. 
Die  Mistel  wächst  so  ziemlich  auf  allen  unseren  Laubhölzern  (auch 
auf  Edeltanne  und  Kiefer),  nur  gerade  auf  der  Eiche  nicht.  Wenigstens 
kenne  ich  weder  durch  Augenschein  noch  aus  der  Literatur  ein  sol- 
ches Vorkommen.  Was  neuerdings  zuweilen  Eichenmistel  genannt 
wird,  ist  der  ganz  verschiedene  Loranthus  europaeus,  der  nicht  ein- 
mal immergrün  ist,  seine  Nordgreuze  liegt  im  Königreich  Sachsen. 
Daß  eine  Mistel  um  zauberkräftig  zu  sein  auf  einer  Eiche  gewachsen 
sein  müsse,  wird  wohl  ein  seit  der  Urzeit  fortlebendes  Priester- 
märchen  sein. 

Daß  es  Linden  in  England  schon  in  vorrömischer  Zeit  gegeben 
habe,  ist  an  sich  recht  wahrscheinlich.  Andrerseits  kann  die  Be- 
hauptung, daß  sie  erst  durch  die  Römer  ins  Land  gebracht  seien, 
nicht  dadurch  entkräftet  werden,  daß  Uoops  Seite  260  ihr  häufiges 
Vorkommen  in  angelsächsischer  Zeit  feststellt  Wenige  Jahrhunderte 
würden  zu  ihrer  völligen  Einbürgerung  genügt  haben.  Wenn  jetzt 
ein  neues  Volk  nach  Norddeutschland  einwanderte,  würde  es  an  vielen 
entlegenen  Orten  Lärchen,  Krummholz  und  Akazien  treffen,  die  kaum 
200  Jahre  dort  sind. 

Ueber  den  Buchsbaum  (Seite  262)  und  die  Eibe  (Seite  270)  in 
England  vergl.  die  Rezension  vom  Grafen  zu  Solms-Laubach  in  der 
Botanischen  Zeitung  63  Seite  309  f.  (1905).  Freilich  schließt  das 
jetzige  Vorhandensein  jahrhundertealter  Buchsbestände  nicht  aus,  daß 
die  Pflanze  doch  zuerst  von  den  Römern  eingeführt  ist.  In  Deutsch- 
land halte  ich  allen  Buchs  für  gepflanzt  oder  verwildert.  Im  Mosel- 
lande schließt  er  sich  an  alte  Kulturstätten  an,  namentlich  die 
Bertricher  Heilquelle.  Und  ein  mir  als  >wild<  angepriesener  Strauch 
bei  St.  Peter  im  elsässer  Jura  steht  neben  Syringengebüsch ! 

Die  Angabe  auf  Seite  265,  daß  Sambucus  ebulus  in  Deutschland 
nicht  heimisch  sei,  ist  auf  die  nördliche  Ebene  einzuschränken.  Im 
Berg-  und  Hügellande  gehört  die  Staude  zur  Waldflora,  für  die 
Schweiz  ist  sie  bereits  in  neolithischer  Vorzeit  nachgewiesen,  wie 
Hoops  selbst  auf  Seite  299  berichtet.  Störend  ist  es,  daß  er  die  Art 
hier  Zwergholunder,  vorher  dagegen  Krautholunder  nennt;  wenn  nicht 
der  lateinische  Name  beidemal  dabeistände,  könnte  ein  Nichtbotaniker 
denken,  daß  es  sich  um  verschiedene  Arten  handelt. 

Auf  Seite  268  soll  das  Vorkommen  der  Wörter  plntreow  und 
furhwudu  im  Altenglischen  beweisen,  daß  in  angelsächsischer  Zeit 
die  Kiefer  in  England  vorgekommen  sei.  Von  dem  pintreow  erfahren 
wir  auf  Seite  269,  daß  seine  Zweige  und  Früchte  in  Arzneibüchern 
erwähnt  werden.    Es  liegt  doch  nahe,  hier  zunächst  an  die  Pinie  za 


Hoops,  Waldbäame  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        939 

denken,  denn  in  einem  Arzneibucbe  können  ausländische  Drogen  vor- 
kommen, und  lat.  pinus  ist  die  Pinie;  Föhren  und  Kiefer  hießen  pi- 
naster und  taeda.  Auf  Seite  273  hören  wir  denn  auch,  daß  pine  bei 
Shakespeare  in  der  Bedeutung  Pinie  vorkommt.  Furhwudu^)  ist 
uufraglich  Kiefernholz.  Aber  solange  uns  Hoops  nur  die  nackte 
VokabeP)  bietet,  können  wir  nicht  wissen,  ob  dasselbe  in  England 
gewachsen  war.  Wieviel  Pflanzenarten  werden  nicht  in  altisländischer 
Sprache  erwähnt,  die  nie  auf  jener  nordischen  Insel  vorgekommen 
sind.  Schneewittchens  Haar  ist  schwarz  wie  Ebenholz.  Von  der 
Sprache  unsrer  verkehrsreichen  Gegenwart  ganz  zu  schweigen. 

Altenglisch  cwicbeam  wird  Seite  256  als  Vogelbeere,  Seite  270 
als  Wacholder  gedeutet.  Im  norddeutschen,  das  ja  nach  den  Aus- 
führungen des  14.  Kapitels  viele  Namen  mit  dem  englischen  gemein 
hat,  ist  Quitsche  die  Vogelbeere.  Der  Wacholder  hat  seinen  alt- 
germanischen Namen  (weckalter-machandel)  nicht  nur  in  England, 
sondern  auch  in  Dänemark  (Eneber  aus  Juniperus),  Mecklenburg 
(Knirk)  und  Bayern  (Kranewit)  verloren.  Daß  die  neuaufgekommenen 
Namen  in  England  und  Dänemark  lateinischer  Herkunft  sind,  beweist 
nicht  etwa  die  Seltenheit  der  Pflanze  in  diesen  Ländern,  sondern 
hängt  damit  zusammen,  daß  Drogennamen  aus  den  Apotheken  ins 
Volk  drangen.    Dafür  gibt  es  viele  Beispiele. 

Zu  Seite  272.  Wenn  engl,  fir  zuerst  in  der  Form  firre  als 
Name  der  aus  Frankreich  eingeführten  Edeltanne  auftritt,  dann  sehe 
ich  keine  andere  Erklärungsmöglichkeit,  als  die  Vermutung,  daß  der 
normannische  Kiefernname  in  Frankreich  auf  die  Edeltanne  überge- 
gangen war. 

7.  Kap.  Auf  Seite  228/9  sind  einige  paläolithische  Schnitzereien 
aus  Südfrankreich  abgebildet,  die  auf  jeden  Unbefangenen  den  Ein- 
druck von  Getreideähren  machen  sollen.  Wenn  man  aber  in  botani- 
schen Kenntnissen  befangen  ist  und  weiß,  wie  naturwahr  jene  Alten 
die  Tiere  darstellten,  dann  wird  man  es  kaum  für  möglich  halten, 
daß  dieselben  eine  Kornähre  mit  drei  Zeilen  geschnitzt  haben.  Immer- 
hin mag  jetzt  damit  gerechnet  werden,  daß  die  letzten  Paläolithiker  in 
Frankreich  Gerste  und  Weizen  gekannt  haben  —  eine  andere  Frage 
ist,  ob  sie  diese  Pflanzen  nicht  von  den  Neolithikem,  deren  erste 
Vertreter  damals  schon  eingewandert  waren,  übernommen  hatten.  Denn 
in  Frankreich  haben  wir   den  »Hiatus«  nicht    Nach  Einwanderung 

1)  Das  Seite  434  genannte  einfache  furh  ist  wohl  nur  aus  diesem  forh- 
wudu  erschlossen  und  hätte  eigentlich  den  ühlichen  Stern  tragen  müssen. 

2)  Daß  seihst  dichterische  Schilderungen  täuschen  können,  lehrt  der  Hof- 
jagdbericht in  der  16.  Aventiure  der  Nibelungen,  in  dem  im  Wasgenwalde  aufter 
anderen  Tieren,  die  es  gibt  und  nicht  gibt,  sogar  ein  Löwe  zur  Strecke  kommt 

66* 


940  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

der  Neolithiker  kommen  die  Paläolithiker  herunter,  und  von  neoli 
tbischer  Kultur  beeinflußte  Reste  paläolitbiscber  Stämme  sind  e 
wabrscbeinlicb,  die  aus  der  Oekumene  verdrängt  längs  der  nörd 
lieben  Küsten  scbon  in  der  Kiefemzeit  bis  zur  westlichen  Ostsee  ge 
langen. 

Der  Abscbnitt  von  Seite  283  bis  306  stützt  sich  großenteils  au 
Buschans  prähistorische  Botanik,  ein  Buch,  welches  selbst  ein  st 
milder  Richter  wie  Ranke  (Anthropol.  Korrespondenzblatt  1905  S.  92 
als  unzuverlässig  hinstellen  mußte.  Inzwischen  ist  eine  neue  nnc 
kritische  Zusammenstellung  prähistorischer  Pflanzenreste  von  £.  Neu 
weiler  erschienen  im  50.  Jahrgang  der  Viertelijahrsschrift  d.  Natur- 
forsch. Gesellschaft  zu  Zürich  (I.Heft  1905).  Unsicher  bleiben  manche 
Bestimmungen  dennoch.  Wie  weit  die  Ansichten  botanischer  Autori- 
täten manchmal  auseinandergehen,  dafür  steht  ein  Beispiel  bei  Hoops 
Seite  303  (was  Schröter  als  Emmer  bestimmt,  kann  nach  Eörnicke 
ebensogut  Spelz  sein),  weitere  in  größerer  Zahl  bei  Neuweiler  a.  a.  0. 

lieber  Triticum  turgidum  (Seite  294)  wäre  Sarauws  Aufsatz  im 
23.  Bd.  der  Botanisk  Tidsskrift  zu  vergleichen  gewesen.  Damach  ist 
alles  Triticum  turgidum  der  Prähistoriker  und  auch  T.  vulgare  anti- 
quorum  Heer  zu  T.  compactum,  dem  Zwerg-  oder  Binkelweizen 
(Kubbhvede  der  Schweden)  zu  bringen. 

Auf  Seite  297  und  329  sind  Pastinak,  Möhre  und  Kümmel  wegen 
falscher  oder  unsicherer  Bestimmung  zu  streichen  (nach  Neuweiler). 

Der  Flachs  der  Pfahlbauer  (Seite  298  und  331)  ist  nach  Neu- 
weilers Untersuchung  von  dem  Linum  angustifolium  der  Mittelmeer- 
länder bestimmt  verschieden  und  am  meisten  dem  L.  austriacum  ähn- 
lich. Dies  ist  eine  südosteuropäische  formenreiche  Sippe,  welche  von 
L.  perenne  und  auch  von  L.  alpinum  nur  schwer  abzugrenzen  ist. 
Mehrere  Formen  dieses  Kreises  wachsen  in  Mitteleuropa  nördlich  der 
Alpen  und  in  den  Alpen  selbst  wild.  Aber  mit  keiner  fand  Neu- 
weiler den  Pfahlbauflachs  genau  übereinstimmend.  Er  stellte  schließ- 
lich die  These  auf,  dieser  letztere  sei  die  gemeinsame  Stammform 
von  austriacum  und  perenne,  welche  nebst  dem  echten  Flachs  (L 
usitatissimum)  von  L.  angustifolium  abstamme. 

Zu  Seite  299.  Von  Birnen  fand  Neuweiler  nur  die  Form  achras, 
die  echte  Holzbirne.  Die  Süßkirsche  kommt  öfter  vor.  Die  Zwetsche 
ist  sehr  unsicher,  nur  der  Fund  vom  Schweizersbild  (Seite  300) 
kommt  in  Frage. 

Von  den  Aepfeln  der  P&hlbauten  kann  Neuweiler  nicht  ent- 
scheiden, zu  welchen  Formen  sie  gehören,  und  ob  es  überhaupt  mehr 
als  eine  Form  ist.  Walnußreste  sah  Neuweiler  aus  zwei  neolithiscben 
Fundschichten  am  Bodensee,  jedesmal  vereinzelt.  Traubenkeme  (Seite 


Hoops,  Waldbäame  und  KultorpflanzeD  im  germanischeD  Altertum        941 

300)  sind  nur  an  einer  Stelle  nachgewiesen,  wenige  Stücke  aus  der 
Uebergangszeit  vom  Neolithicum  zur  Bronce  bei  St.  Blaise  in  der 
welschen  Schweiz.  Zu  streichen  ist  die  vielbesprochene  Silene  cretica. 
Neuweiler  konnte  die  ihr  zugeschriebenen  Samen  zwar  nicht  positiv 
bestimmen,  aber  von  jener  Art  doch  sicher  unterscheiden.  Daß 
Meldensamen  (Chenopodium  album)  sich  unter  Verhältnissen  finden, 
die  zu  dem  Schlüsse  berechtigen,  daß  sie  zur  Nahrung  gedient  haben, 
hätte  auch  in  diesem  Kapitel  erwähnt  werden  sollen  (s.  Seite  468),  denn 
möglicher  Weise  sind  Melden  in  der  Urzeit  angebaut  gewesen. 

Zu  Seite  317.  Daß  die  Spelzarten  wegen  ihrer  zerbrechlichen 
Spindel  entwickelungsgeschichtlich  älter  sind  als  die  zähspindeligen 
eigentlichen  Weizen,  ist  nicht  nötig.  Es  gibt  unter  den  wilden  Arten 
der  Gattung  Triticum  solche  mit  zäher  und  solche  mit  brüchiger 
Spindel.  Zu  ersteren  gehört  das  bekannte  Queckengras  (T.  repens), 
zu  letzteren  T.  junceum  der  Stranddünen.  Dem  Pflanzensammler  sind 
die  brüchigen  Grasarten  wohlbekannt,  weil  ihre  Konservierung  im 
Herbarium  große  Schwierigkeiten  macht,  sie  smd  im  Vergleich  mit 
den  zähen  wenig  zahlreich.  Auch  eine  leichte  Trennbarkeit  der 
Spelzen  von  der  Frucht  darf  nicht  ohne  weiteres  als  Kulturmerkmal 
angesprochen  werden.  Es  gibt  eine  nie  kultivierte  Grasgattung 
(Sporobolus),  bei  welcher  nicht  nur  die  Früchte  aus  den  Spelzen, 
sondern  auch  die  Samen  aus  der  Schale  herausfallen,  während  Weizen 
und  Gerste  trotz  mehrtausendjähriger  Kultur  immer  noch  mühsam 
geschält  werden  müssen,  wenn  wir  Graupen  haben  wollen.  Es  muß 
also  mit  der  Möglichkeit  gerechnet  werden,  daß  die  eigentlichen 
Weizenrassen  nicht  von  Emmer  und  Spelz  abstammen,  sondern  teil- 
weise mit  diesen  gleichen  Alters  sind. 

Die  Erbse  (Seite  328)  ist  von  Neuweiler  in  den  Pfahlbauten  der 
Steinzeit  häufig  nachgewiesen. 

Ob  die  Walnuß  in  der  Steinzeit  am  Bodensee  kultiviert  wurde, 
bleibt  trotz  der  Neuweilerschen  Funde  zweifelhaft.  Die  Nüsse  können 
sehr  wohl  als  Handelsware  dorthin  gekommen  sem.  Wären  sie  an 
Ort  und  Stelle  gewachsen,  würden  sich  ihre  dauerhaften  Schalen 
wohl  öfter  finden.  Auch  die  aus  dem  Ende  der  Steinzeit  stammen- 
den Traubenkerne  von  St.  Blaise  können  aus  eingeführten  Rosinen 
stammen.  G^nußmittel  gehören  überall  zu  den  Gegenständen  des 
primitiven  Handels. 

Auch  die  Kultur  des  Apfels  (Seite  336)  ist  in  Frage  gestellt,  da 
die  gefundenen  Reste  sich  als  unbestimmbar  erwiesen  haben.  Der 
echte  Holzapfel  ist  nach  meinem  Geschmack  noch  ungenießbarer  als 
Schlehen  und  Eicheln,  und  wenn  die  Pfahlbauern  ihn  gesammelt 
haben,  ist  es  wohl  für  die  Schweine  gewesen. 


942  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

8.  Kap.  Dieses  Kapitel  hängt  eigentlich  in  der  Luft,  da  es  auf 
die  unbewiesene  Annahme  gegründet  ist,  daß  die  Urindogennanen 
europäische  Neolithiker  waren.  Die  Urverwandtschaft  von  aes  und 
Erz  mit  altindischen  und  zendischen  Metallnamen  weist  vielmehr 
darauf  hin,  daß  es  bronzezeitliche  Völker  waren,  welche  die  indo- 
germanische Ursprache  gebrauchten.  Ob  es  schon  früher,  zur  Stein- 
zeit, eine  indogermanische  Sprache  gegeben  hat,  ist  durchaus  unge- 
wiß. Von  Ewigkeit  existiert  doch  dies  Idiom  nicht,  es  muß  nicht  nur 
irgendwo  sondern  auch  irgendwann  einmal  entstanden  sein.  Entstand 
aber  das  Indogermanische  erst  in  der  Bronzezeit,  dann  können  die 
älteren  Sprachen,  welche  in  der  neugebildeten  aufgingen,  schon  eine 
Anzahl  ackerbautechnischer  Worte  gehabt  haben,  die  in  den  Dialekten 
Indogermaniens  fortbestanden,  ähnlich  wie  semerzeit  barbarische 
Wörter  in  die  römischen  Provinzialdialekte  übergingen.  Die  große 
Verschiedenheit  europäischer  und  arischer  Sprachen  wäre  dann  nicht 
wunderbar. 

Zu  Seite  351  und  466.  Daß  die  Rübe  im  gemäßigten  Europa 
einheimisch  sei,  ist  zwar  von  Botanikern  oft  behauptet,  aber  die 
Brassica  campestris,  welche  die  Stammpflanze  sein  soll,  findet  sich  in 
Deutschland  überall  nur  an  Ackerrändern  und  an  Schuttplätzen  und 
selten  durch  eine  Reihe  von  Jahren  an  gleicher  Stelle.  Ich  halte 
deshalb  die  Brassica  campestris  für  verwilderte  Rüben.  Auch  neuere 
französische  Floristen  (Coste,  Flore  de  France  I)  bezeichnen  die 
Brassica  Rapa  nur  als  cultiv6e  et  subspontan^e,  und  Schmalhausen  ^) 
kennt  als  Standorte  der  wilden  Form  in  Rußland  nur  Saatfelder  und 
Schuttplätze.  Noch  heute  läßt  sich  nicht  mehr  sagen,  als  bei  v.  Fischer- 
Benzon  (Altd.  Gartenpfl.  113)  zu  lesen  ist:  >Ueber  die  Heimat  der 
Rüben  ist  man  nicht  genau  unterrichtet,  doch  ist  man  geneigt,  Süd- 
europa dafür  zu  halten.«  Der  deutsche  Name  ist  doch  wohl  aus  dem 
lateinischen  entlehnt. 

Das  althochdeutsche  gires  und  seine  Verwandten  (Seite  367)  sind 
nicht  einheimische  Unkrautnamen,  sondern  Bezeichnungen  einer  im- 
portierten Droge,  des  Bubon  macedonicum  Linnö  (bei  Pritzel- Jessen 
unter  Seseli).  Bock  (1580)  hat  unter  dem  Namen  Gerlin  (Gerlein, 
Gierlein)  zwei  Doldengewächse,  das  eine  ist  anscheinend  von  der 
Pastinake  nicht  verschieden  (fol.  157),  das  andere  (fol.  322  als  Nach- 
trag) ist  Sium  sisarum.  Dies  letztere  steht  auch  bei  Lonitzer  als 
Gierlein.  Auf  Aegopodium  Podagraria  soll  der  Name  Girsch  über- 
tragen sein,  weil  sie  in  den  Apotheken  als  Surrogat  des  Bubon 
macedonicum  geführt  wurde.     Ich   habe   früher   angenommen,  das 

1)  ^.lopa  cpe^Hefi  h  lOXCHoä  PocciH  etc.  I.  Bd.  1895. 


Hoops,  Waldbäome  und  Kulturpflanzen  Im  germanischen  Altertum        943 

deutsche  Giersch  sei  aus  Herba  St.  Gerardi,  dem  Äpothekernamen 
der  Podagraria  entstanden.  Könnte  aber  nicht  umgekehrt  der  Klang 
des  deutschen  Namens  Anlaß  gewesen  sein,  die  Pflanze  dem  ge- 
nannten Heiligen  zu  dedizieren? 

Seite  368  wird  ags.  fyrs,  welches  Quecke  bedeutet,  in  Beziehung 
gebracht  zu  griechischem  Tcopöc.  Die  Aehnlichkeit  der  Quecke  mit 
dem  Weizen  soll  diese  Namensübertragung  veranlaßt  haben.  Das  ist 
unglaubhaft.  Die  Verwandtschaft  zwischen  Quecke  und  Weizen  er- 
kennt nur  ein  systematisch  geschultes  Auge;  auch  die  Botaniker  des 
16.  Jahrhunderts  ahnten  davon  nichts.  Uebrigens  erscheint  dasselbe 
fyrs,  welches  S.  344  und  368  die  Quecke  bezeichnet,  auf  Seite  256 
in  der  Bedeutung  Ulex.  Es  wird  Sache  eines  Philologen  sein,  diesen 
Namen  zuerst  mit  dem  deutschen  Pfriem  zu  vergleichen,  das  ja  in 
seinen  ahd.  Formen  primma,  brimma  und  phrimma  (Grimms  Wörter- 
buch) alle  möglichen  Anlautstufen  zeigt.  Vielleicht  bedeutet  fyrs  ge- 
rade wie  das  möglicherweise  verwandte  englische  broom  in  erwei- 
tertem Sinne  Unkraut  überhaupt 

9.  Kap.  Aus  den  beigebrachten  Tatsachen  ergibt  sich  für  mich 
nur,  daß  die  Indogermanen  in  ihrer  ältesten  Bronzezeit  hauptsäch- 
lich Gerste,  weniger  Weizen  und  Hirse  bauten  und  daß  sie  die  Birke 
kannten  und  beachteten.   Alles  übrige  ist  unsicher. 

Wenn  Hoops  meint,  Indogermanien  sei  ein  Land  gewesen,  in 
welchem  die  Gerste  besser  gedieh  als  der  Weizen,  so  ist  das  wenig 
einleuchtend.  Denn  gerade  in  diesem  Falle  wäre  Weizen,  auf  den 
besseren  Boden  beschränkt,  die  wertvollere  Frucht  gewesen.  Warum 
soll  nicht  jenen  Alten  die  Gerste  besser  geschmeckt  haben  als  der 
Weizen?  de  gustibus  non  est  disputandum.  Das  indogermanische  Ur- 
meer  braucht  durchaus  kein  Meer  im  Sinne  des  neuhochdeutschen 
Sprachgebrauches  zu  sein.  Die  ältere  Bedeutung  des  Wortes  ist  am 
Ende  Landsee.  Wir  haben  die  Mare  in  der  Eifel,  in  Nordwest- 
deutschland das  zwischenahner  und  das  steinhuder  Meer,  und  das 
>vom  Fels  zum  Meer<  der  Hohenzollern  bezieht  sich  auf  den  Boden- 
see. Dagegen  heißen  unsre  Ozeanbuchten  Ost-  und  Nordsee,  bei  den 
Dänen  öster-  und  vesterhav.  An  der  deutsch-französischen  Sprach- 
grenze haben  wir  die  Vogesenseen  Retournemer,  Longemer,  Gerard- 
mer,  Namen  die  jetzt  freilich  auf  die  anliegenden  Orte  übertragen 
sind,  so  daß  nun  vom  lac  de  Retournemer  u.  s.  w.  gesprochen  wird. 
Vielleicht  ist  das  idg.  Urmeer  gar  nicht  mehr  vorhanden.  Die  Land- 
schaft Poljesje  an  der  Grenze  von  Wolhynien  und  Minsk  ist  fraglos 
ein  ehemaliger  großer  flacher  See,  der  dann  zugeschwemmt  und  ver- 
sumpft ist.  In  der  älteren  Bronzezeit  kann  dort  noch  eine  stattliche 
Wasserfläche  gewesen  sein. 


944  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Positiv  festlegen  läßt  sich  Indogermanien  heute  noch  nicht,  aber 
mir  scheint  nichts  gegen  die  Annahme  zu  streiten,  daß  es  mit  seiner 
Hauptmasse  "in  Kleinrußland  und  Wolhynien  gelegen  habe. 

10.  Kap.  Dieses  halte  ich  im  allgemeinen  fur  einen  der  aller- 
wertvollsten  Teile  des  Buches. 

Seite  383  stellt  Hoops  als  allgemein  anerkannt  hin,  daß  die 
bronze-  und  eisenzeitlichen  Völker  Nord-  und  Mitteleuropas  Indo- 
germanen  gewesen  seien.  In  der  Eisenzeit  sind  doch  bestimmt  schon 
finnisch  sprechende  Stämme  an  der  nordbaltischen  Küste  anzusetzen, 
und  wer  früher  da  gewohnt  hat,  ist  ganz  ungewiß.  Die  allgemeine 
Annahme  geht  meines  Wissens  auch  nur  dahin,  daß  Südskandinavien 
und  das  heutige  Norddeutschland  in  jenen  Zeiten  von  blonden  doli- 
chocephalen  Menschen  bewohnt  waren.  Und  diese  Rasse  wird  von 
Einigen  identifiziert  mit  den  Indogermanen  ^).  Hoops  hat  sich  sonst 
in  bewundernswerter  Weise  von  der  Verquickung  der  Rassenge- 
schichte und  Sprachgeschichte  freigehalten.  Aber  die  hier  in  Rede 
stehende  Stelle  scheint  doch  von  den  Arbeiten  der  Rassentheoretiker 
beeinflußt  zu  sein.  Für  die  ganze  ältere  Eisenzeit  (d.  h.  das  letzte 
halbe  Jahrtausend  vor  Beginn  unserer  Zeitrechnung)  können  wir  in 
Südskandinavien  und  fast  ganz  Nord-  und  Mitteldeutschland  an- 
nehmen, daß  die  Einwohner  germanisch  sprachen;  diese  prähistorische 
Periode  knüpft  sich  schon  sicher  genug  an  historische  Tatsachen  an, 
aber  darüber  hinaus  ist  alles  ungewiß. 

Kolbenhirse  (Seite  394)  ist  nach  Neuweilers  Zusammenstellung 
im  prähistorischen  Mitteleuropa,  außer  in  der  Schweiz,  nur  für  Lobo- 
sitz  nachweisbar.  Die  Funde  aus  dem  östlichen  Nord-  und  Mittel- 
deutschland gehören  zur  Rispenhirse,  sind  aber  nicht  sicher  über  die 
Slavenzeit  hinaufzudatieren. 

Zu  Seite  398  (und  455).  Ein  Flachsfund  der  germanischen  Eisen- 
zeit der  Ostprignitz  ist  bei  Neuweiler  mitgeteilt.  Es  liegt  Linum 
usitatissimum  vor  mit  Wegerich  und  Spergula  sativa  dazwischen. 

Die  Stammpflanze  der  Großen  Bohne  ist  gänzlich  unbekannt.  Die 
Seite  403  dafür  angesprochene  Vicia  narbonensis  ist  dieser  zwar  ähn- 
licher als  andere  Wicken,  aber  doch  noch  recht  verschieden  (vgl. 
auch  Solms  a.  a.  0.). 

11.  Kap.  Was  die  Seite  396  erörterte  Ursache  des  Aufhörens 
des  Hirsebaus  betrifft,  so  ist  wenigstens  die  Kolbenhirse  gegen  das 

1)  Daß  idg.  Idiome  durch  Völker  dieser  Rasse  weit  verbreitet  ¥rurden,  daran 
kann  man  wohl  nicht  zweifeln,  wenn  man  die  Rassen  und  Sprachen  Asiens  ver- 
gleicht. Aher  daraus  folgt  nicht,  daß  diese  blonde  Rasse  die  Sprache  auch  ge- 
bildet hatte.  Ich  erinnere  daran,  wie  die  deutsche  Sprache  durch  die  Juden  im 
slavischen  Osteuropa  verbreitet  ist. 


Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        945 

norddeutsch -dänische  Klima  nicht  empfindlich.  Ihre  wilde  Form 
(Panicum  viride)  wächst  dort  auf  Sandfeldem  nicht  selten.  Ob  die 
Rispenhirse  kälteempfindlich  sei,  hat  man  schwerlich  geprüft.  Aus 
verschlepptem  Samen  (Vogelfutter)  aufgegangene  Pflanzen  verhalten 
sich  wie  verwildertes  Getreide:  blühen,  tragen  auch  wohl  Früchte, 
aber  halten  ihren  Standort  nicht. 

Um  die  Gestaltveränderung  von  Kulturwörtern  zu  beweisen,  sollte 
doch  nicht  die  Entstehung  vonZwetsche  aus  Damascenum  hingestellt 
werden  (Seite  464).  Daß  das  alte  prunum  Damascenum  unsere 
Zwetsche  war,  scheint  ja  sicher  zu  sein.  Aber  der  schriftdeutsche 
Name  ist  doch  am  Ende  durch  Zetacismus  aus  dem  in  Südwest- 
deutschland noch  landläufigen  Quetsche  hervorgegangen,  was  wiederum 
mit  dem  norddeutschen  Quitsche  (Vogelbeere,  s.  o.)  zu  vergleichen 
ist.  Siehe  auch  K.  E.  H.  Krause  im  Niederd.  Jahrbuch  Jahrg.  1886 
(12)  Seite  97  ff.  Ein  viel  besser  gesichertes  Beispiel  für  den  hier  von 
Hoops  verfolgten  Zweck  ist  die  Entstehung  von  Aprikose  aus  prae- 
cox. Daß  die  Zwetsche  in  Mitteleuropa  heimisch  sei,  wie  Seite  543 
vermutet  wird,  ist  unrichtig.  Sie  kommt  in  Deutschland  nicht  einmal 
eingebürgert  vor,  sondern  ist  gleich  Pfirsich  und  Aprikose  auf  das 
Kulturland  beschränkt.  Die  prähistorischen  Zwetschensteine  bedürfen, 
wie  gesagt,  erneuter  Bestimmung. 

Zu  Seite  467.  Daß  Lehnworte  als  Namen  wildwachsender  Pflanzen 
nicht  weit  wandern,  darf  man  nicht  behaupten.  Ich  erinnere  an  die 
in  Deutschland  landläufigen  slavischen  Entlehnungen  Preißelbeere, 
Ziest  und  Oelsenich.  Auch  die  Verdrängung  der  einheimischen 
Wacholdernamen  durch  den  lateinischen  auf  der  ganzen  Strecke  von 
England  bis  Skandinavien  ist  hier  zu  beachten.  Zuweilen  wandern 
die  Namen  mit  im  Freien  gesammelten  Drogen  wie  Rhabarber,  Trüffel. 
Dennoch  kann  die  Annahme  richtig  sein,  daß  die  alten  Germanen 
Lauch  gebaut  haben.  Nur  ist  zu  bemerken,  daß  von  allen  seit  dem 
frühen  Mittelalter  kultivierten  AUiumarten  keine  in  Deutschland  ein- 
heimisch ist,  ausgenommen  vielleicht  den  Schnittlauch  an  einigen 
Uferstrecken.  Selbst  Allium  scorodoprasum  ist  Weinbergs-  und  Oed- 
landsunkraut  und  findet  in  der  autochthonen  Flora  keinen  Platz.  Der 
Lauch  ist  also  trotz  seines  deutschen  Namens  ein  Fremdling  —  wie 
der  Spelz.  Dasselbe  gilt  von  der  Kresse,  die  Hoops  leider  über- 
gangen hat.  Bei  Besprechung  des  Lauches  hätte  etwas  über  die 
BockenboUe  gebracht  werden  können,  deren  Name  anscheinend  immer 
noch  von  den  Deutschen  für  französisch,  von  den  Franzosen  für 
deutsch  gehalten  wird. 

Siser,  Plinius  XIX,   welches  Hoops  Seite  467   durch  Mohrrübe 


946  GOtt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Übersetzt,  war  nach  v.  Fischer-Benzon  Altd.  Gartenflora  S.  117  wahr- 
scheinlicher die  Pastinake. 

Zur  Geschichte  der  Melden  (Seite  468)  wurde  schon  oben  — 
nach  Neuweiler  —  bemerkt,  daß  es  doch  zweifelhaft  erscheint,  ob 
diese  Pflanzen  zuerst  als  Ackerunkräuter  ins  Land  gekommen  sind. 
Mehrere  Arten  gehören  zur  alten  Flora  der  Salzstellen,  deren  es, 
abgesehen  von  der  Küste,  in  Mitteldeutschland  recht  viele  gibt. 

Zu  cedelc-keddik  (Seite  469)  ist  dänisch  kiddike,  Raphanus  Ra- 
phanistrum  (Lange,  Handbog  i  d.  danske  Flora  4.  Aufl.  S.  625)  nach- 
zutragen. Sollte  das  hochdeutsche  Hederich  dieser  Sippe  ganz  fremd 
sein?  —  Sinapis  alba  ist  Kulturpflanze  und  zeigt  sich  als  Unkraut 
nur  selten  und  unbeständig.  Dagegen  sind  Sinapis  arvensis  und  Ra- 
phanus ßhaphanistrum  nur  Unkräuter  und  nie  kultiviert  gewesen. 
Das  Zitat  aus  Fischer-Benzon  (Seite  470*))  bezieht  sich  auf  Sinapis 
(Brassica)  nigra,  welche  noch  gegenwärtig  angebaut  wird  und  sich 
wildwachsend  wohl  an  Ufern,  aber  kaum  je  als  erhebliches  Acker- 
unkraut zeigt. 

Zu  Seite  474.  Daß  die  alten  Germanen  Gelegenheit  gehabt 
hätten,  wilden  Waid  zu  sammeln,  ist  ganz  unglaublich.  Diese  Pflanze 
kommt  in  Mitteleuropa  nur  in  den  wärmsten  Lagen  durch  Kultur 
eingebürgert  vor.  Vielleicht  kannten  die  Germanen  im  Altertum  die 
lebende  Pflanze  überhaupt  noch  nicht,  sondern  bekamen  die  Wurzel 
als  Droge.  Im  Mittelalter  ist  Waid  in  Süd-  und  Mitteldeutschland 
in  Menge  gezogen,  für  Norddeutschland  ist  der  Anbau  nicht  nach- 
gewiesen, jedenfalls  wurde  der  Hauptbedarf  dort  durch  Einfuhr 
gedeckt. 

Seite  477  wird  anerkannt,  daß  fast  alle  unsre  Obstbäume  latei- 
nische Namen  haben.     Aber  der  Apfel  soll  nicht   nach    der   Stadt 
^i  Abella  heißen,  sondern  sein  Name  soll  urdeutsch  sein.    Die  Lautver- 

hältnisse beweisen  wenig;   wie  sehr  Kulturwörter  verändert  werden 
können,  hat  Hoops  Seite  464  selbst  anerkannt.    Uebrigens  ist  nicht 
-H  gesagt,   daß  ahd.  affolter  immer  einen  Apfelbaum  bedeutet.     Apel- 

deren  ist  der  niederdeutsche  Name  des  Acer  campestre.  Lonicerus 
fol.  133  nennt  Viscum  zu  deutsch  Mistel  oder  Affolter.  War  ein  ent- 
sprechender Pflanzenname  im  altgermanischen  in  irgendwelcher  Be- 
deutung vorhanden,  dann  konnte  er  leicht  auf  den  ähnlich  klingen- 
den Abellaner  übertragen  werden.  So  ist  neuerdings  der  Mädchen- 
name Erika  an  Stelle  des  aus  den  botanischen  Lehrbüchern  ins  Volk 
dringenden  Heidenamens  Erica  getreten.  Erika  ist  germanisch  (wenn 
auch  etwas  latinisiert),  die  neuerdings  so  benannte  Pflanze  ist  eiur 
heimisch,   und  doch  verdankt  sie  diesen  Namen  ihrer   lateinischen 


tl 


Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        947 

(genauer  griechischen)  Benennung.  Unser  Holzapfel  ist  nicht  nur, 
wie  oben  gesagt,  ungenießbar,  er  ist  auch  in  vielen  Gegenden,  be- 
sonders in  Norddeutschland,  selten,  und  im  Laube  ohne  Fräcbte 
unterscheidet  er  sich  von  den  Kulturäpfeln  (die  nicht  von  ihm,  son- 
dern von  fremden  Arten  abstammen)  so  erheblich,  daß  der  Laie  ihn 
eher  als  Kreuzdom  denn  als  Apfelbaum  anspricht.  Bisher  ist  nun 
nicht  erwiesen,  daß  im  Altertum  andere  als  solche  Holzäpfel  in  Ger- 
manien wuchsen,  die  Kulturäpfel  der  Pfahlbauten  haben  ja  der  Kritik 
nicht  standgehalten.  Slavisch  jablo  u.  s.  w.  (Seite  478)  kann  direkt 
von  *abellanum  abgeleitet  werden,  kann  aber  auch  aus  dem  deut- 
schen entlehnt  sein.  Und  diese  Entlehnung  braucht  nicht  notwendig 
stattgefunden  zu  haben,  bevor  ein  etwaiges  *abel  zu  appel  wurde, 
denn  es  kommt  vor,  daß  Lehnworte  rückwärts  verschoben  werden, 
wie  russisch  pichta  aus  Fichte,  dänisch  Peder  aus  Peter. 

Bilsenkraut  und  Wermut  (Seite  481)  gehören  unserer  einheimi- 
schen Flora  nicht  an,  sie  sind  verwilderte  Kulturpflanzen.  Vielleicht 
haben  im  Altertume  andere  Arten  diese  Namen  getragen.  Wahr- 
scheinlicher ist,  daß  wir  es  hier  zunächst  mit  Drogennamen  zu  tun 
haben,  die  erst  später  auf  die  nachkommende  Pflanze  übergingen. 
So  hat  man  während  des  Mittelalters  den  Wurzelstock  des  Kalmus 
als  Droge  gekannt,  ohne  zu  wissen,  wie  die  lebende  Pflanze  aus- 
sähe, die  erst  im  16.  Jahrhundert  nach  Europa  kam.  Deutlicher 
werden  solche  Verhältnisse,  wenn  man  ins  Tierreich  hinübersieht. 
Wie  lange  schon  kennt  unsere  Sprache  den  Löwen,  aber  das  Tier 
dürfte  kaum  länger  als  100  Jahre  landkundig  sein.  Ja,  Einhorn  und 
Greif  sind  jahrhundertelang  viel  besprochene  Tiere  gewesen,  deren 
Horn  und  Klauen  in  den  Apotheken  feil  waren,  deren  Gestalt  man 
oft  genug  abgebildet  fand,  aber  niemals  sind  diese  Tiere  lebend  ge- 
sehen, geschweige  denn  in  deutschen  Ställen  gehalten.  Uebrigens 
sind  bis  heute  Drogen  und  Hölzer  im  Handel,  deren  Stammpflanzen 
selbst  die  Botaniker  noch  nicht  sicher  ermittelt  haben. 

12.  Kap.  Etwas  >Halbnomadentum<,  wie  es  Seite  488  besprochen 
wird,  haben  wir  immer  noch  in  Deutschland.  Württembergische 
Schäfer  von  der  Rauhen  Alb  treiben  ihre  Herden  im  Winter  in  die 
Rheinebene,  manchmal  bis  nach  Frankreich  hinein.  Norddeutsche 
Imker  gehen  im  Sommer  mit  ihren  Völkern  auf  die  Wanderschaft  in 
Heidegegenden,  und  die  Schweizer  treiben  alljährlich  ihre  Herden  im 
Sommer  vom  Tale  auf  immer  höhere  Weiden  und  im  Herbste  wieder 
zu  Tal.  Dagegen  fällt  die  sog.  Sachsengängerei  nicht  unter  dies 
Rubrum,  sie  würde  nach  altertümlicher  Auflassung  zum  Sklaven- 
handel gehören.    Sehr  richtig  werden  Seite  492   die  alten  Völker- 


948  Gott.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  12 

wandeningen  mit  den  Trekks  der  südafrikanischen  Buren  verglichen. 
Aber  diese  sind  anch  in  erster  Linie  Viehzüchter,  der  Ackerbau 
spielt  eine  untergeordnete  Bolle,  und  ihre  Wirtschaftsart  gestattet 
keine  dichte  Besiedelung  des  Landes,  weil  jeder  Hof  einer  großen 
Weidefläche  bedarf. 

Bei  Besprechung  des  Ackerwechsels  auf  Seite  509  ff.  hätte  Rad- 
sicht genommen  werden  sollen  auf  die  Plaggen-,  Schiffel-  oder  Rott- 
buschwirtschaft (sartage,  essartage),  welche  in  Nordwestdeutschland 
stellenweise  bis  in  die  neueste  Zeit  üblich,  im  Mittelalter  weit  ver- 
breitet und  anscheinend  uralt  war.  Sie  erforderte  das  Vorhandensein 
von  allermindestens  zehnmal  mehr  anbaufähigen  Landes  als  alljähr- 
lich bestellt  wurde. 

13.  Kap.  Wenn  die  Obstkemfunde  in  den  Saalburgbrunnen  (Seite 
535,  543)  bisher  von  botanischer  Seite  nicht  ausgebeutet  sind,  so 
liegt  das  vielleicht  daran,  daß  deren  Bestimmung  nicht  zuverlässig 
ist.  Die  Hoopssche  Ausbeutung  ist  jedenfalls  eigenartig:  Birne  und 
Apfel  fehlen  zwar,  aber  weil  so  viele  andere  Obstarten  da  sind, 
müssen  auch  jene  ursprünglich  dagewesen  sein;  die  Mäuse  haben  sie 
gefressen!  Dennoch  kann  das  Endergebnis  der  Hoopsschen  Dar- 
stellung hier  richtig  sein,  denn  von  allen  in  Frage  stehenden  Obst- 
arten wissen  wir,  daß  die  Römer  sie  bauten;  und  wir  wissen  auch, 
daß  römische  Obst-  und  Gemüsekultur  im  Rheingebiete  eingebürgert 
gewesen  ist. 

Prunus  avium  aus  dem  Bohusläner  Moore  (Seite  544)  wird  von 
Gunnar  Andersson  (Svenska  växtvärldens  historia  2.  Aufl.  S.  119) 
angezweifelt  und  für  Cornus  sanguinea  gehalten. 

Nach  Seite  545  soll  die  Sauerkirsche  »wirklich  wildwachsend< 
nur  in  Transkaukasien  gefunden  werden.  Bei  einer  derartigen  Be- 
hauptung durfte  die  Quellenangabe  nicht  fehlen.  Nach  Radde  (Grund- 
züge  der  Pflanzenverbreitung  in  den  Kaukasusländem ;  Engler  und 
Drude,  Die  Vegetation  der  Erde  HI)  steigt  Prunus  cerasus  im  Kau- 
kasus selbst  bis  1500  m  und  findet  sich  auch  in  den  nördlich  vor- 
liegenden Steppen.  Durch  das  Steppengebiet  erstrecken  sich  ihre 
Standorte  nordwärts  bis  Wolhynien  und  Podolien  (Koppen,  (Jeogr. 
Verbreitung  d.  Holzgewächse  d.  europ.  Rußlands  und  des  Kaukasus. 
I.  1888).  Wer  will  den  Pflanzen  ansehen,  wo  sie  >wirklich  wilde 
sind  und  wo  sie  aus  alten  Kulturen  stammen?  Noch  im  Elsaß  und 
einzelnen  anderen  deutschen  Landschaften  wachsen  strauchige  Sauer- 
kirschen auf  dürren  Hügeln  in  Gemeinschaft  einheimischer  Pflanzen. 
Anscheinend  hat  schon  J.  Bauhin  diese  Form  gekannt  ^).    Am  adriati- 

1)  Banhinus  et  Cherler.,  Historia  plantaram  universalis  I.  Ebrodani  1650. 
p.  220  uDter  Cerasus  sUvestris :  Amaricantia  tarn  rubra,  quam  nigra,  passim  circa 


Hoops,  Waldbäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum        949 

sehen  Meere  ist  sie  häufig.  Wie  Fischer -Benzon  nachweist,  hat 
Vergil  Sauerkirschbäume  gekannt.  Da  nun  die  Nachricht  über  die 
Einführung  der  Süßkirsche  nach  Rom  aus  dem  Orient  ganz  bestimmt 
vorliegt,  und  von  einer  Einführung  der  Sauerkirsche  nie  die  Rede 
war,  so  ist  die  Annahme  nicht  allzu  fernliegend,  daß  man  in  Italien 
zunächst  die  importierte  Süßkirsche  gezogen  hat  und  erst  durch 
diese  auf  ihre  bis  dahin  unbeachteten  einheimischen  Verwandten,  zu 
denen  die  Sauerkirsche  gehörte,  aufmerksam  geworden  ist.  Die 
elsassischen  Sauerkirschen  stammen  wahrscheinlich  aus  alten  Kulturen, 
da  prähistorische  Nachweise  für  das  nordalpine  Vorkommen  dieser 
Art  fehlen. 

Zu  der  Seite  546  besprochenen  Weichselsippe  gehört  unfraglich 
der  in  den  Eibmarschen  vorkommende  Name  Twiessel,  auf  den  ich 
schon  1891  im  Beiblatt  zu  Englers  Botan.  Jahrb.  No.  29  Seite  46, 
allerdings  ziemlich  undeutlich,  hingewiesen  habe.  Deutlicher  steht  er 
bei  K.  E.  H.  Krause  im  Archiv  d.  Vereins  d.  Freunde  d.  Natur- 
geschichte in  Mecklenburg,  43.  Jahr  (1889)  Seite  206.  Die  Twiessel- 
oder  Wesselbeere  ist  eine  Vogelkirsche.  Auch  Beckmanns  Florula 
Bassumensis  in  den  Abh.  Nat.  Ver.  Brem.  X  bezeugt,  daß  die  Früchte 
der  kultivierten  Süßkirsche  Kaßbärn,  die  der  verwilderten  Wessel- 
bärn  genannt  werden.  Hier  haben  wir  also  den  Weichselnamen  un- 
fraglich für  die  wilde  Süßkirsche,  und  ich  stimme  Hoops  vollkommen 
bei,  wenn  er  diese  Bedeutung  für  die  ältere  hält.  Die  Wesselbeere 
war  im  Vergleich  zur  importierten  Kasbeere  sauer,  und  es  lag  nahe, 
daß  die  später  importierte  Sauerkirsche  gerade  ihres  Geschmackes 
wegen  in  manchen  deutschen  Ländern  den  ersten  Namen  bekam.  Das 
anlautende  t  der  TwiesseP)  paßt  freilich  schlecht  in  Hoops  philo- 
logische Deutung  der  Weichsel  hinein.  Wenn  der  Anlaut  ursprüng- 
lich ist,  dann  bezieht  sich  der  Name  wohl  darauf,  daß  meist  zwei 
Kirschenstiele  zusammensitzen.  Nach  Bauhins  Historia  plantarum 
wurden  in  Oberdeutschland  im  16.  und  17.  Jahrhundert  als  Weichsein, 
Wiechslen  und  Weinstelln  allgemein  die  dunklen  Sauerkirschen  be- 
zeichnet, während  die  Vlamen  diese  Früchte  Crieckens  nannten,  also 
mit  einem  sonst  der  Prunus  insititia  gehörenden  Namen.  Auch  in 
Rom  verstand  man  nach  Bauhin  unter  visciole  Sauerkirschen.  Da- 
gegen heißt  es  a.  a.  0.  I.  Teil  Seite  218  unter  Berufung  auf  Ruellius 
>Gallis  quaedam  mediocri  arbore,  interdum  pumila,  quasi  frutice  . . . 

Basllea  proveniunt  in  Dometis  silvis  et  montosis.  Observantor  etiam  hujus  generis 
diversae  yarietates  in  yaUo  Petrina  Episcopatos  Argent  Rote  wilde  Eirsen. 
Schwartze  wilde  Eirsen. 

1)  Auch  Zwieselbeere  kommt  vor. 


950  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

hoc  maxime  grato  placet  acore  . . .  Hoc  Francis  tantum  cerasii 
(cerise)  nomen  merent.  Reliqua  varias  sortiuntur  appellationes  . . . 
Alia  proceris  arboribus  exeunt  . .  .  praedulcis  came  .  . .  valgus  nunc 
Guinea,  nunc  Guindola  vocat.<  In  Kirschlegers  Flore  d' Alsace  I  Seite 
210  f.  heißt  der  wilde  Yogelkirschenbaum  französisch  m6risier,  der 
kultivierte  guignier  und  bigarreautier,  der  Sauerkirschbaum  im  all- 
gemeinen griottier,  aber  eine  seiner  Rassen  trägt  die  guindoux  de 
Paris  oder  süße  holländische  Weichsel.  In  Frankreich  scheint  der 
Weichselname  also  vorwiegend  kultivierte  Süßkirschen  zu  bezeichnen. 
Der  Name  der  wilden  Prunus  avium,  m^risier,  könnte  mit  marasca 
zusammenhängen,  dem  bekannten  nordwestitalienischen  Namen  einer 
Sauerkirschenrasse.  Demnach  hätte  in  der  hochdeutschen  Sprache 
die  Sauerkirsche  den  alten  Namen  der  wilden,  systematisch  zur  süßen 
gehörigen,  aber  tatsächlich  bitteren  Vogelkirsche  bekommen,  während 
in  Frankreich  auf  diese  selbe  Vogelkirsche,  auch  um  ihres  Ge- 
schmackes willen,  ein  Sauerkirschenname  übertragen  wäre.  Freilich 
hönnen  die  Anhänger  der  Schraderschen  Ansicht  die  Vermutung  dem 
entgegenstellen,  daß  die  nordwestdeutsche  Wesselbeere  ihren  Namen 
des  Geschmackes  wegen  von  der  ursprünglich  als  Weichsel  bezeich- 
neten Sauerkirsche  bekommen  hätte. 

Ob  in  Bußland  wirklich  Prunus  avium  als  Tschereschnja  (Hepe 
mHfl)  und  P.  cerasus  als  Wischnja  (Bfiumfl)  unterschieden  werden, 
wie  es  nach  Schmalhausens  Flora  den  Anschein  hat,  ist  doch  nicht 
sicher.  Letzterer  Name  scheint  so  ziemlich  alle  Kulturkirschen  zu 
umfassen,  für  ersteren  finde  ich  im  Booch-Frey-Messerschen  Hand- 
wörterbuch die  Uebersetzungen:  Vogel-  und  Süßkirsche,  Zwieselbeere, 
Weichsel.  Der  Name  Wischnja  ist  (in  Zusammensetzungen  oder  als 
Diminutiv)  auf  die  in  einem  großen  Teile  Rußlands  häufig  wild- 
wachsende Prunus  fruticosa  oder  chamaecerasus  übertragen.  Im 
polnischen  ist  nach  Koppen  wiänia  Kirsche  überhaupt,  speziell  die 
saure,  die  süße  heißt  ptasia  wiänia,  d.  i.  Vogelkirsche. 

Betreffs  des  angeblichen  Indigenats  des  Weinstockes  am  Ober- 
rhein (Seite  559)  schließe  ich  mich  den  Ausführungen  Kirschlegers 
in  der  Flore  d' Alsace  3.  vol.  Seite  117  f.  an.  Auch  für  das  übrige 
Europa  ist  die  Urwüchsigkeit  fraglich.  Badde  fand  selbst  im  Kau- 
kausus  nur  verwilderte  Beben,  und  zwar  neben  der  altweltlichen  eine 
notorisch  aus  Amerika  eingeflihrte  Art.  Die  von  Engler  aufs  neue 
versuchte  Begründung  des  autochthonen  Vorkommens  von  Vitis  vini- 
fera  bis  ins  Bheingebiet  ist  nicht  stichhaltig.  Engler  schließt  ans 
Tertiärfunden  unmittelbar  auf  die  Pflanzenverbreitung  unsres  gegen- 
wärtigen Zeitalters  und  vergißt,  daß  unter  dem  Namen  Tertiär  ein 


Hoops,  Waldbäume  und  KulturpflaDzeD  im  germanischen  Altertum        951 

ganz  ungeheurer  Zeitraum  begriffen  wird,  während  dessen  Fauna 
und  Flora  erheblichem  Wechsel  unterlagen,  und  daß  zwischen  dem 
Ende  dieser  Tertiärzeit  und  der  Gegenwart  noch  das  ganze  Diluvium 
mit  seinen  wiederholten  erheblichen  Klimawechseln  liegt.  Die  un- 
mittelbare Anknüpfung  der  Gegenwart  an  zeitlich  nicht  genauer  be- 
stimmte Tertiärfunde  ist  überhaupt  eine  schwache  Seite  recht  vieler 
der  Englerschen  Anmerkungen  zum  Victor  Hehn.  Am  wahrschein- 
lichsten ist  immer  noch,  daß  die  Menschen  den  Weinstock  nicht  all- 
zuweit von  jener  Landschaft  entdeckten,  in  welcher  nach  bekannter 
Tradition  Noah  den  Rausch  erfunden  hat. 

15.  Kap.  Hierher  (Seite  591)  gehört  zunächst  der  oben  erwähnte 
Nachweis  Försters,  daß  der  Versuch,  die  ehemalige  Ausdehnung  der 
Gerstenkultur  in  den  Teilen  Großbrittaniens  aus  Ortsnamen  zu  er- 
schließen, mißraten  ist. 

Daß  die  als  elebeam  bezeichneten  Grenzbäume  in  Südengland 
(Seite  614)  Oelbäume  gewesen  seien,  ist  unglaubhaft.  Die  Oliven- 
kultur ist  während  des  Mittelalters  soweit  wie  irgend  möglich  nord- 
wärts vorgeschoben,  bis  in  Breiten,  in  denen  sie  bei  den  heutigen 
Verkehrsverhältnissen  nicht  mehr  lohnt,  da  gar  zu  oft  ein  Frost  die 
Ernte  vernichtet.  Aber  von  England  ist  selbst  die  gewagteste  Oel- 
baumpflanzung  recht  weit  entfernt  geblieben. 

Ich  bin  im  allgemeinen  gegen  pflanzengeographische  und  pflanzen- 
geschichtliche Schlußfolgerungen,  welche  Philologen  aus  Vokabeln  und 
Namen  ziehen,  recht  skeptisch.  Hoops  hält  mich  Seite  191  ff.  für  zu 
skeptisch.  Und  dennoch  habe  ich  seine  Behauptung,  daß  die  Angel- 
sachsen Hopfen  gehabt  hätten,  für  unanfechtbar  gehalten,  wiewohl 
sie  (Seite  614)  nur  auf  das  Vorkommen  des  Wortes  hymele  begründet 
ist.  Max  Förster  ist  aber  nicht  so  gutgläubig  gewesen  und  hat 
a.  a.  0.  Seite  206  nachgewiesen ,  daß  altenglisch  hymele  nicht  Hu- 
mulus  lupulus  bezeichnet  hat.  Es  ist  gar  keine  seltene  Erscheinung, 
daß  ein  Pflanzenname  über  das  Wohngebiet  seiner  Art  hinaus- 
wandert und  dann  auf  eine  andere  übertragen  wird,  ich  erinnere  an 
die  mittelalterlichen  Benennungen  des  Ahorn  als  platauus,  der  gelben 
Iris  als  acorus,  des  Porstes  als  myrtus  (jetzt  Myrica  gale),  der  Heide 
als  myrica. 

16.  Kap.  Seite  639  flf.  kann  ich  die  altnordischen  Zitate  teilweise 
nicht  verstehen,  obwohl  ich  sonst  dänisch  und  schwedisch  leidlich  zu 
lesen  vermag.  Ich  will  Hoops  hieraus  keinen  Vorwurf  machen,  im 
Gegenteil  anerkennen,  daß  dieses  die  einzige  Stelle  in  seinem  Buche 
ist,  an  welcher  er  seinen  Mitforschern  aus  anderen  Fakultäten  zuviel 
zumutet.  Wie  oft  sind  Arbeiten  von  Philologen  über  naturwissen- 
schaftliche Sachen  für  unsereinen  ganz  unlesbar! 


952  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Es  erscheint  mir,  trotzdem  ich  nicht  jedes  Wort  verstehe 
zweifellos,  daß  huanna  und  huanngarC  der  norwegischen  Gesetze 
humbla  und  humblagart  der  schwedischen  entspricht.  Aber  ersteres 
wird  auf  Angelika  (d.  i.  botanisch  Archangelica ')  bezogen,  letzteres 
auf  Hopfen.  Hier  wäre  eine  Nachuntersuchung,  wie  sie  Förster  für 
hymele  geliefert  hat,  sehr  erwünscht. 

Daß  der  Seite  643  f.  vorkommende  stolze,  das  Gras  überragende 
grüne  Lauch  gerade  der  Knoblauch  sein  muß,  ist  nicht  nötig.  Knob- 
lauch ist  bis  zur  Blüte  krummstengelig,  er  gedeiht  auch  nicht  gut 
im  Grasrasen.  Eher  ist  hier  an  das  wildwachsende  eingebürgerte 
Allium  Scorodoprasum  Linn^  zu  denken,  welches  nach  Oeder  (Nomen- 
clator  botanicus.  Hafniae  1769)  auf  Oeland  Graeslöck  genannt 
wurde. 

Daß  die  altnordische  lilja  (Seite  650)  wirklich  eine  Lilie  im  bo- 
tanischen Sinne  war,  müßte  noch  besonders  nachgewiesen  werden. 
Denn  unter  demselben  Namen  wird  auch  die  Schwertlilie  (Iris)  ver- 
standen. 

Was  ich  hier  zusammengestellt  habe,  wird  den  Botanikern  teils 
bekannt,  teils  vielleicht  gleichgültig  sein.  Von  den  Philologen  hoffe 
ich,  daß  meine  botanischen  Notizen  ihnen  das  Hoopssche  Buch  noch 
brauchbarer  machen  als  es  an  sich  ist.  Und  für  meine  philologischen 
Bemerkungen  werde  ich  hoffentlich  nicht  gleich  als  Bönhase  gejagt; 
eigentlich  muß  es  einem  Sprachforscher  doch  interessant  sein,  zu 
sehen,  ob  und  wie  weit  unsereiner  sich  in  diesem  Teil  des  gemein- 
samen Arbeitsfeldes  zurechtzufinden  weiß.  Denn  ehe  nicht  Linguisten, 
Archäologen,  Botaniker  und  noch  manche  andere  Spezialisten  ein- 
ander zu  verstehen  und  sich  einander  verständlich  zu  machen  gelernt 
haben,  kann  das  Indogermanenproblem  nicht  gelöst  werden. 

Straßburg  Ernst  H.  L.  Krause 

1)  Für  diese  hat  Oeder  1769  aas  Dalekarlien  den  Namen  Qoanrot,  aus  Nor 
wegen  Quanne  und  Qaannroed. 


Hackman,  Die  ältere  Eisenzeit  ^n  Finnland.  I  953 


Alfred  Huekman,  Die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland.  I.  Die  Funde  aus 
den  fünf  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  376  Seiten.  Nebst  Atlas :  22  Tafeln  und 
Fundkarte.   Helsingfors  1905.   4^. 

Der  auf  dem  Gebiete  finnländischer  Archäologie  wohlbekannte 
Verfasser  liefert  uns  in  vorliegender  Arbeit  eine  Frucht  langjähriger, 
eindringender  Forschung.  Bereits  im  J.  18^9  war  von  ihm  im  2. 
Bande  der  Arbeiten  des  archäologischen  Kongresses  von  Riga  eine 
ausflihrliche  Studie  über  die  Bronzezeit  Finnlands  erschienen.  Im 
Anschluß  an  Aspelin  zeigte  er,  daß  in  dieser  Zeit  der  Norden  und 
Osten  Finnlands  von  einer  östlichen  über  Rußland  kommenden  Kultur- 
strömung berührt  worden  sei.  Dagegen  habe,  der  Südwesten  unter 
starkem  skandinavischen  Einfluß  gestanden:  sowohl  nach  den  Funden 
als  nach  den  Umständen,  unter  welchen  sie  ans  Licht  traten,  liege 
für  die  Annahme  einer  germanischen  Besiedelung  der  finnischen 
Küstengebiete  während  der  Bronzezeit  eine  große  Wahrscheinlich- 
keit vor. 

An  diese  ältere  Arbeit  über  die  Bronzezeit  schließt  sich  jetzt 
die  umfangreichere  an  über  die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland.  Der 
Vfr.  behandelt  in  diesem  ersten  Teil,  dem  ein  weiterer  folgen  soll, 
die  Funde  aus  den  ersten  fünf  Jahrhunderten  nach  Christo.  In  der 
Einleitung  legt  er  dar,  daß  Aspelin  eine  ältere  Eisenzeit,  die  bis  um 
das  J.  700  reiche,  von  einer  jüngeren  scheide.  Der  Vfr.  wirft  die 
Frage  auf,  ob  man  berechtigt  sei,  mit  Aspelin  die  Funde  der  älteren 
Eisenzeit  hauptsächlich  für  germanische  Hinterlassenschaft,  die  der 
jüngeren  ausschließlich  für  finnische  anzusehen.  Um  darüber  zu  ent- 
scheiden, wäre  es  vor  allem  wichtig,  eine  Gliederung  der  finnischen 
Eisenzeit  in  eine  größere  Anzahl  Unterperioden,  eine  chronologische 
Sichtung  des  Fundmaterials  durchzuführen.  Dieser  Aufgabe  wendet 
sich  der  Vfr.  zunächst  zu. 

Der  erste  Teil,  S.  20  — 110  liefert  eine  ausführliche  Beschreibung 
der  Fundstätten  und  der  Funde,  die  der  Vfr.  zum  Teil  selbst  ge- 
hoben hat.  Es  folgen  Nachrichten  über  die  wenigen,  diesen  Jahr- 
hunderten angehörenden  Münzfunde,  endlich  ein  Verzeichniß  der  zahl- 
reichen weberschiflförmigen  Feuerschlagsteine.  —  Ein  zweiter  Teil 
S.  1 1 1  ff.  bespricht  die  Art  der  Bestattung,  sodann  die  Altertümer  und 
ihre  Herkunft  und  Zeitstellung.  Die  ersten  nachchristlichen  Jahr- 
hunderte kennen  in  Finnland  durchgehend  nur  Brandgräber,  indem 
Skelettgräber  vor  dem  J.  600  nicht  vorkommen.  Die  einzelnen 
Gruppen  der  Altsachen  werden  mit  großer  Sorgfalt  systematisch  be- 
sprochen,  besonders  ausführlich  S.  135—185  die  wichtigen  Fibeln, 

Oatt  gel.  Ans.  1906.  Nr.  12  67 


954  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

sodann  die  Nadeln,  Schnallen,  Anhängsel,  Binge;  eingehend  wird 
S.  241  ff.  über  die  weberschifförmigen  Steine  gehandelt ,  weiter  iibei 
die  Waffen,  endlich  S.  283  über  die  römischen  Münzen. 

Der  trefflich  unterrichtete  sprachenkundige  Vfr.  beherrscht  nichl 
nur  völlig  das  finnische  Material,  er  greift  auch  weit  hinüber  in  die 
skandinavische,  deutsche,  russische  Forschung.  Fortgehend  zieht  ei 
die  ihm  gut  bekannten  estländischen  und  livländischen  Funde  heran  ^) 
Die  baltische,  vor  allem  die  livländisch- preußische  archäologische 
Forschung  wird  in  Zukunft  diesen  wichtigen  inhaltreichen  Ausfuh- 
rungen volle  Beachtung  schenken. 

Was  die  Form  der  Gräber  in  Finnland  betrifft,  so  überwiegen 
durchaus  Grabhügel,  d.  h.  Steinhaufen,  die  um  einen  größeren  Zentral- 
oder Eernstein  bis  zu  2  m  Höhe  ansteigen.  Sehr  viel  seltener  sind 
Flachgräber,  die  von  viereckigen  oder  unregelmäßigen  SteinsetzungCD 
umgeben  sind.  Solche  Flachgräber  wurden  bisher  nur  in  der  süd- 
lichsten Ecke  des  Landes,  nämlich  in  den  Kirchspielen  Bjerno  und 
Tenala  gefunden  und  aufgedeckt.  Sie  sind  besonders  beachtenswert, 
denn  sie  weisen  ähnliche  Formen  auf,  wie  die  großen  von  mir  als 
Steinreihengräber  bezeichneten  Brandfelder  in  Estland  und  Livland. 
Die  Frage  über  diese  Steinreihengräber  ist  noch  nicht  abgeschlossen. 
Sie  gehen  bis  in  die  ersten  christlichen  Jahrhunderte  zurück  und 
sind  bisher  vor  allem  im  südöstlichen  Estenlande  nachgewiesen, 
scheinen  sich  nach  Norden  nur  bis  in  die  Landschaft  Jerwen  zu  ver- 
breiten, nicht  aber  bis  an  die  Finnland  gegenüber  liegende  Meeres- 
küste. Die  in  der  nördlichsten  Estenlandschaft  aufgedeckten  Gräber 
in  Türsei,  Türpsal  haben  eine  andere  Konstruktion,  und  auch  in 
der  Nähe  von  Reval  scheinen  nach  den  neuesten  Foi*schungen  andere 
Grabformen  aufzutauchen,  die  auch  Funde  der  ersten  christlichen 
Jahrhunderte  spenden,  nahe  Beziehungen  nach  Schweden  ^  erkennen 
lassen. 

Im  Ganzen  ist,  wie  der  Vfr.  selbst  wiederholt  (225,  254)  betont, 
die  bisher  in  Finnland  aus  den  ersten  fünf  christlichen  Jahrhunderten 
gewonnene  Ausbeute  nicht  groß :  so  sind  Tongefäße  nur  selten,  Acker- 
geräte gar  nicht  gefunden  worden,  auch  Pferdezeug  ist  nur  spärlich 
aufgetaucht.  Bis  jetzt  liegen  (s.  S.  293)  aus  diesem  halben  Jahr- 
tausend   »nur  50  Funde   mit  Metallgegenständen <   vor.    Diese  Zahl 

1)  Kleinere  Versehen  sind;  S.  18  handelt  von  der  Fibel  von  Strickenhof 
nicht  von  Kirchholm.  —  159  ist  zu  lesen  Fibel  4,  1  anstatt  6,  1.  —  164  die  Fibei 
126  stammt  aus  Slawehk.  —  168  die  Dreiecksfibel  von  Gertmdenhof  ist  versilbert 

2)  In  diesem  Sommer  ist  in  einem  Grabe  bei  Reval  zum  ersten  mal  im 
Ostbaltikum  auch  eine  der  in  Schweden  so  häufigen  krebsförmigen  Fibeln  ge- 
funden worden. 


Hackman,  Die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland.  I  955 

steht  weit  zurück  hinter  der  Ausbeute,  welche  man  für  denselben 
Zeitraum  in  den  benachbarten  Gebieten,  in  Schweden  und  in  den 
Ostseeprovinzen  kennt.  Aber  der  Boden  Finnlands  ist  auch  noch 
nicht  erschöpft,  zahlreiche  Grabhügel,  die  man  bereits  kennt,  sind 
noch  nicht  untersucht  (295),  die  Zukunft  wird  das  Material  sicher 
vermehren,  waren  doch  von  den  hier  beschriebenen  93  Funden  vor 
einem  Menschenalter  im  J.  1875  nur  7  bekannt.  Der  Vfr.  glaubt 
allerdings  (293),  daß  für  die  Zeit  bis  500  n.  Chr  die  bis  jetzt  unter- 
suchten »Fundorte  im  großen  und  ganzen  die  Ausdehnungsgebiete 
der  damaligen  Ansiedelungen  bezeichnen  und  daß  außerhalb  dieser 
Gebiete  nur  wenig  neue  Grabfunde  aus  jener  Zeit  zum  Vorschein 
kommen  werden«. 

Die  Erörterung  wird  fortlaufend  durch  einen  Atlas  gestützt,  der 
auf  22  Tafeln  alle  bemerkenswerten  Funde  darstellt.  Daneben  sind 
noch  183  Abbildungen  in  den  erzählenden  Text  eingeschoben:  es 
werden  hier  vor  allem  Parallelfunde  aus  fremden  Ländern,  sodann 
Pläne  und  Skizzen  der  Grabfelder  zur  Anschauung  gebracht,  wieder- 
holt sind  aber  auch  finnische  Funde  hier  dargestellt  (Fig.  19,  71,  83), 
ohne  daß  angegeben  wird,  warum  diese  Abbildungen  hier  im  Text 
stehen  und  nicht  im  Atlas.  Beim  Atlas  selbst  wären  Hinweise,  wo 
die  betreffenden  Funde  im  erläuternden  Text,  S.  131—282,  behandelt 
werden,  erwünscht.  Es  ist  dieser  Mangel  um  so  fühlbarer,  als  so- 
wohl ein  Register  fehlt  wie  ein  genügendes  Inhaltsverzeichniß ,  die 
erst  den  ganzen  Reichtum  des  Werkes  voll  aufgeschlossen  hätten. 
Wer  es  jetzt  ausnutzen  will,  muß  sich  solche  Verzeichnisse  selbst 
machen,  eine  mühselige  und  zeitraubende  Arbeit. 

Ausführlich  behandelt  der  Vfr.  S.  140  die  wiederholt  erörterte 
Frage  über  die  Entstehung  und  Verbreitung  der  besonders  in  Ost- 
preußen, aber  auch  in  Livland  häufigen  Fibel  mit  umgeschlagenem 
Fuß.  Wie  Tischler  und  Almgren,  meint  auch  Hackman,  daß  diese 
Fibel  in  Süd-Rußland  entstanden  sei  und  auf  die  Spät-la-T&nefibel 
zurückgehe.  Die  von  Almgren  aufgeworfene  Frage  erörterte  ich  im 
J.  1898  in  einem  Aufsatz  in  den  Denkwürdigkeiten  der  Gesellschaft 
für  Geschichte  in  Odessa,  wies  auf  die  zwei  jüngeren  la-Tfenefibeln 
hin,  die  im  Gouvernement  Kiew  gefunden  seien  und  in  der  Samm- 
lung Chwoiko  in  Kiew  liegen.  Die  Verbreitung  der  la-Töne-Kultur 
nach  Osten,  besonders  Südosten  ist  noch  wenig  geklärt.  Im  Gebiet 
der  unteren  Weichsel  ist  sie  bis  nach  Ostpreußen  sicher  nachweis- 
bar (Prussia-Sitz.-Ber.  20,  51;  21,  55);  dagegen  sind  wir  über  die 
archäologischen  Verhältnisse  im  oberen,  polnischen  Weichselgebiet 
noch  wenig  unterrichtet.  Für  die  spätere  Zeit  weisen  die  weiter 
nach  Osten  im  Dneperlande  liegenden  Museen  von   Odessa,   Kiew, 

67* 


956  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Wilna  drei  von  einander  vielfach  verschiedene  Kulturgebiete  auf. 
Ob  in  älterer  Zeit  in  dem  mehr  westlichen  Weichsellande  engere  Be- 
ziehungen zwischen  Süd  und  Nord  herrschten,  bedarf  genauerer  Unter- 
suchung. 

Auf  S.  211  ff.  bespricht  der  Vfr.  die  häufig  gefundenen  großen 
offenen  Ringe,  darunter  den  prachtvollen  goldenen  von  Nousis.  Ein- 
facher sind  die  Ringe  mit  Trompetenenden  oder  die  Kolbenringe, 
wie  sie  hier  genannt  werden.  In  Ostpreußen  und  Livland  sind  sie 
zahlreich,  während  in  Finnland  nur  einer  dieser  Form  gehoben  wor- 
den ist ,  Atlas  8,  6.  Tischler  hält  es  für  möglich ,  daß  diese  Ringe 
im  Haar  getragen  seien,  und  auch  mir  erscheint  das  wahrscheinlich. 
Die  Frage  ist  schwer  zu  entscheiden,  da  diese  Ringe  zumeist  ans 
Brandgräbem  oder  Depotfunden  (Prussia,  Katalog  II  n.  23)  stammen. 
Wo  sie  an  Leichen  gefunden  wurden,  ist  nicht  sicher  beobachtet 
worden,  an  welcher  Stelle  sie  lagen :  von  den  zwei  in  Santen  in  Kur- 
land gehobenen  (Sitz.-Ber.  kurl.  Ges.  1892,  78)  vermochte  man  mir 
nicht  zu  sagen,  wo  sie  am  Kopf  gelegen  hatten;  der  in  Rominten 
gefundene  (Prussia,  Sitz.-Ber.  20,  38)  lag  > unter  dem  Schädel <.  Es 
ist  doch  bei  allen  diesen  Ringen  zu  erwägen,  daß  Halsringe  oft  ab- 
genommen werden ,  daher  mttssen  sie  eine  Vorrichtung  haben ,  dafi 
man  sie  leicht  öffnen  kann,  sonst  brechen  sie  durch  häufiges  Auf- 
und  Zubiegen;  dagegen  bedarf  der  Ring  für  das  Haar  einer  solchen 
Vorrichtung  nicht,  die  bei  den  meisten  dieser  Ringe  fehlt. 

Bronzefunde  liegen  aus  den  ersten  fünf  Jahrhunderten  in  Finn- 
land nur  in  geringer  Zahl  vor.  Und  doch  haben  vor  allem  sie  fur 
die  Untersuchung  Bedeutung.  Vielleicht  hätten  sie  noch  mehr  ver- 
wertet werden  können,  wenn  auch  die  chemische  Analyse  über  sie 
Licht  verbreitet  hätte.  S.  204,  224  wird  wohl  von  Unterschieden  in 
der  Metalllegierung  gesprochen,  aber  Untersuchungen  über  die  Zu- 
sammensetzung liegen  nicht  vor.  Der  Vfr.  ist  wohl  nicht  in  der 
Lage  gewesen,  chemische  Analysen  herbeizuführen.  Man  bedauert 
das  bei  einer  so  ausführlichen  vortrefflichen  Arbeit.  Von  welcher 
Bedeutung  solche  Untersuchungen  werden  können,  hat  Bezzenberger 
bewiesen  in  seinen  im  J.  1904  erschienenen  Analysen  vorgeschicht- 
licher Bronzen  Ostpreußens,  ein  Werk,  welches  unser  Vfr.  offenbar 
noch  nicht  gekannt  hat.  Auch  bei  einem  jüngst  in  der  Nähe  von 
Dorpat  gehobenen  Bronze  -  Depotfund  lehrte  mir  erst  die  chemische 
Analyse,  daß  in  ihm  Sachen  bei  einander  lagen,  zwischen  denen  chro- 
nologisch ein  Abstand  von  über  einem  halben  Jahrtausend  besteht 
(Sitz.-Ber.  rigasch.  Ges.  1905,  64). 

Der  größte  Teil  der  Metallfunde  in  Finnland  sind  Eisensachen. 
Mehrfach  sind  Schildbuckel  aufgetaucht,   die  in  Livland  sehr  selten 


Hackman,  Die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland.  I  957 

sind,  hier  nur  in  einem  Depotfunde  bei  Ho&umberge  in  Kurland  ans 
Licht  getreten  sind.  Besonders  häufig  sind  in  Finnland  Lanzen: 
der  Atlas  Taf.  17—21  bildet  eine  größere  Anzahl  ab,  es  war  mög- 
lich sie  in  typologisch  und  chronologisch  differenzierte  Gruppen  zu 
zerlegen.  Wie  hier  vermag  der  Vfr.  wiederholt  auch  andere  Typen 
chronologisch  genauer  zu  bestimmen,  er  gewinnt  dadurch  feste  An- 
haltspunkte, die  zu  neuen  Ausgangspunkten  werden  können.  In  sehr 
dankenswerter  Weise  fördert  er  dadurch  die  Forschung  sowohl  fur 
Finnland  als  auch  für  die  benachbarten  Länder.  Der  zweite  Teil 
seiner  Arbeit  »über  die  Herkunft  und  Zeitstellung  der  Altertümer« 
ist  darin  von  hervorragender  Bedeutung. 

Zahlreich  sind  in  Finnland  die  flachen  s.  g.  weberschifformigen 
Steine  aufgetaucht  von  spitzovaler  Form  mit  Furchen  auf  der  Flach- 
seite. Weit  über  200  Stück  können  S.  100,  241  aufgezählt  werden. 
Ihr  Verbreitungsgebiet  ist  vor  allem  Skandinavien,  dann  das  ost- 
baltische Land  bis  Preußen.  Zahlreich  lagen  sie  im  großen  Depotfund 
von  Dobelsberg  in  Kurland  (cfr.  Doering ,  Sitz.-Ber.  estn.  Ges.  1888, 
104—118).  Ihre  Verwendung  ist  strittig :  sie  sind  bald  als  Wetzsteine 
angesprochen,  bald  als  Steine  zum  Feuerschlagen.  Der  Vfr.  neigt  sich 
durchaus  der  letzteren  Ansicht  zu,  weist  den  Einwand  von  Splieth  zurück, 
der  da  meinte,  bei  der  Benutzung  zum  Feuerschlagen  wäre  nicht  eine 
schmale  tiefe  Furche  entstanden,  auch  sei  es  nicht  gelungen,  zündende 
Funken  durch  den  Schlag  zu  gewinnen.  Wenn  der  Vfr.  meint,  letzteres 
könnte  durch  Mangel  an  Uebung  erklärt  werden,  so  wäre  es  sehr 
erwünscht  gewesen,  wenn  nun  der  Gegenbeweis  durch  das  Experi- 
ment geführt  wäre.  Daß  man  mit  dem  allgemein  gebrauchten  kringei- 
förmigen ziemlich  breiten  Feuerstahl  vom  Typus  Fig.  167  schmale 
tiefe  Furchen  schlagen  kann,  erscheint  schwierig,  sodann  ist  es  auf- 
fallend, daß  selbst  wenn  um  den  Stein  ein  Bronze-  oder  Eisenstreifen 
lief,  nie  der  Rand  Schlagspuren  zeigt,  die  doch  stets,  auch  heute, 
bei  einem  Feuerstein  gewöhnlich  sind. 

Im  Jahre  1901  wurden  in  einer  Steinsetzung  bei  Eigstfer  in 
Livland  bearbeitete  würfel-  und  walzenförmige  Steine  gefunden, 
deren  Zeit  zunächst  nicht  bestimmt  werden  konnte  (Sitz.-Ber.  estn. 
Ges.  1901,  234).  Aehnliche  Steine  sind  auf  Oesel,  und,  wie  sich 
jetzt  ergiebt,  auch  in  Finnland  aufgetaucht,  und  nach  den  mit  ihnen 
zusammen  liegenden  Altsachen  kann  sie  der  Vfr.,  S.  253,  der  älteren 
Eisenzeit  zuweisen.  Diese  seine  Datierung  wird  bestätigt  durch 
neue  livländische  Funde:  im  J.  1903  sind  in  der  Nähe  der  Stadt 
Weißenstein  in  Steinsetzungen  bei  Walgma  und  Kirna  auch  solche 
Steine  gefunden  worden  neben  dem  Bügel  einer  Armbrustfibel  mit 
Knopf  und  einer  eisernen  Ringnadel  mit  Schnecke  (ähnlich  Atlas  2, 1 ; 


958  Oött  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

5,8.10).  Fraglich  bleibt  noch  zunächst,  ob  man  diese  bisher  nv 
im  estnisch-finnischen  Gebiet  gefundenen  Würfelsteine  in  Zusammei 
hang  bringen  darf  mit  den  in  Posen  und  Brandenburg  aufgetauchte 
Reibesteinen,  die  Virchow  Käsesteine  nannte  (Verh.  Berl.  Ges.  i 
Anthrop.  1872,  54;  1899,  199;  Nachr.  über  Altert.  1899,  21). 

Im  letzten  ÜI.  Teil  S.  289-359  legt  der  Vfr.  ausführUch  di 
Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  dar  und  zieht  Schlüsse  auf  dii 
ethnographischen  Verhältnisse  Finnlands  in  den  ersten  fünf  Jahr 
hunderten  n.  Chr.  Man  bedauert  hier  besonders  lebhaft,  daß  keim 
Inhaltsübersicht  vorliegt,  daß  die  umfangreiche  Erörterung  nicht  ii 
Unterabteilungen  zerlegt  ist,  wodurch  die  Uebersicht  über  die  hiei 
behandelten  wichtigen  und  schwierigen  Fragen  wesentlich  erleichtert 
wäre.   Die  Seitenüberschriften  genügen  nicht  ganz. 

Nach  der  Ansicht  des  Verfassers  ist  die  ältere  schwedische  Be- 
völkerung, die  in  der  Bronzezeit  in  Nyland  saß,  fortgezogen,  erst 
nach  der  Wikingerzeit  gegen  Ende  des  ersten  christlichen  Jahr- 
tausend seien  die  Schweden  wieder  zurückgekehrt  in  die  südwest- 
lichen Gebiete,  das  s.  g.  eigentliche  Finnland  und  Nyland,  wo  sie  noch 
heute  vor  allem  siedeln.  In  die  von  den  germanischen  Schweden 
verlassenen  Sitze  seien  die  Finnen  eingerückt,  aber  nicht,  wie  ge- 
wöhnlich angenommen  werde,  erst  in  der  Mitte  des  ersten  christlichen 
Jahrtausend,  sondern  bereits  mehrere  Jahrhunderte  früher.  Ihr 
Weg  sei  durch  das  Ostbaltikum  gegangen,  wo  die  estnischen  Bruder- 
stämme geblieben  wären,  die  Finnen  seien  über  das  Meer  gezogen, 
zuerst  ins  südwestliche  Finnland.  Die  Kolonisation  hier  sei  nicht,  wie 
die  herrschende  Ansicht  wäre  von  Ost  nach  West,  sondern  umge- 
kehrt von  West  nach  Ost  erfolgt,  zuerst  sei  das  westliche  Finnland 
besetzt  worden,  dann  erst,  weiter  nach  Osten,  das  Innere  des  Landes. 
Eine  Mischkultur  mit  stark  skandinavischem  Einfluß  verbreitete  sich. 
Alles  das  ergeben  die  Grabfunde,  die  auch  zeigen,  daß  die  Eüsten- 
landschaften  Satakunta  und  Nyland  in  der  altern  Zeit  wenig  bevöl- 
kerte Fischerei-  und  Jagdgebiete  waren,  daher  fänden  sich  hier  auch 
nur  selten  Gräber. 

Eine  der  wichtigsten  Fragen  ist  bei  dieser  Untersuchung  die  oft 
erörterte,  wie  das  östliche  Baltenland  besiedelt  worden.  Auch  der 
Vfr.  handelt  über  sie  S.  330  fF.  Montelius  war  bei  einer  Besprechung 
der  slavischen  Wanderung  mit  aller  Entschiedenheit  dafür  eingetreten, 
in  Ostpreußen  und  Livland  habe  eine  germanische  Bevölkerung  ge- 
sessen, die  hier  nicht  so  früh  völlig  verschwunden  sei  wie  in  Ost- 
Deutschland,  die  Funde  jener  baltischen  Lande  zeigten  bis  ins  8. 
Jahrhundert  eine  große  Uebereinstimmung  mit  der  skandinavischeo 
Kultur,  wiesen  auf  germanische  Völker,  die  aber  dort  im  Ostbaltikum 


Hackman,  Die  ältere  Eisenzeit  in  Finnland.  I  959 

eine  lokal  eigentümliche  Entwicklung  durchgemacht  hätten  (Vers.  d. 
anthrop.  Ges.  in  Lindau  1899,  128).  Jüngst  hat  auch  Sophus  Müller 
in  seiner  Urgeschichte  Europas  (pag.  194)  dem  zugestimmt:  es  habe 
in  Estland,  Livland,  Kurland  >yon  Christi  Geburt  bis  zur  Völker- 
wanderungszeit eine  gotisch-germanische  Bevölkerung  gegeben.  Als 
dann  die  Letten,  Liven  und  Esten  vorrückten  und  die  Herrschaft 
erlangten,  blieb  viel  von  der  früheren  Kultur  erhalten«.  Einen  mehr 
oder  minder  großen  germanischen  Einfluß  nahmen  auch  Grewingk, 
Worsaae,  Kosinna  an,  aber  bereits  sie  traten  dafür  ein,  daß  die  Ur- 
bevölkerung im  Ostbaltikum  finnisch  gewesen  sei.  Der  Vfr.  führt  nun 
aus,  daß  unter  den  livländischen  Funden  zunächst  eine  Anzahl  älterer 
einen  weitverbreiteten  germanisch  -  skandinavischen ,  vielleicht  goti- 
schen Typus  zeige;  an  diese  Formen  lehnten  sich  dann  jüngere, 
die  sich  durch  übertriebene  oder  plumpe  Ausgestaltungen  charakte- 
risieren und  bereits  dem  Lande  spezifisch  eignen.  Es  finde  keine 
Unterbrechung  der  Entwicklung  statt,  sondern  ein  allmählicher  Ueber- 
gang  zu  mehr  ifarbarischen  Formen.  Durch  lange  Zeiten  bis  gegen 
Ende  des  ersten  christlichen  Jahrtausend  seien  fortlaufend  ähnliche 
Typen  zu  erkennen  bis  in  die  Zeiten  hinab,  wo  unzweifelhaft  die 
heute  dort  sitzenden  Stämme  im  Lande  siedelten.  Man  gewinne 
>den  Eindruck,  daß  lettisch -litauische  und  finnische  Stämme  schon 
in  der  älteren  Eisenzeit  . .  .  mindestens  von  der  Periode  B  (=  1.  2. 
Jahrhundert  n.  Chr.)  an  die  ostbaltischen  Landschaften  bewohnt 
haben  müssen.  In  den  Ostseeprovinzen  werden  die  Finnen  mehr 
nördliche,  die  Letten  mehr  südliche  Sitze  innegehabt  haben.  Mitten 
unter  diesen  Stämmen  müssen  sich  aber  zahlreiche  germanische  (go- 
tische) Kolonien  befunden  haben,  denn  nur  unter  dieser  Voraus- 
setzung findet  der  in  den  Sprachen  sowohl  wie  in  der  eisenzeitlichen 
materiellen  Kultur  der  Finnen  und  Letten -Litauer  zum  Vorschein 
kommende  starke  germanische  Einfluß  eine  annehmbare  Erklärung. 
Diese  germanischen  Elemente  dürften  jedoch  schwerlich  mit  Waffen- 
gewalt verdrängt,  sondern  allmählich  von  der  Hauptmasse  der  Be- 
völkerung aufgesogen  worden  seine  (pg.  338). 

Es  sind  das  weitgehende  Folgerungen,  die  aber  alle  Beachtung 
verdienen.  Noch  ist  das  Material,  auf  welchem  sie  aufgebaut  werden, 
nicht  sehr  reich.  Die  weitere  Forschung  wird  sich  mit  diesen  Theo- 
rien auseinander  zu  setzen  haben.  Dabei  wird  besonders  auch  auf 
die  Sprachwissenschaft  zu  hören  sein,  namentlich  auch  bei  der  Frage, 
wann  sich  finnische  und  gotische  Stämme  berührt  haben.  Wiederholt 
ist  über  all  diese  Probleme  gehandelt  worden,  gelöst  sind  sie  noch 
nicht.    Für  die  Frage,   ob  die  Finnen  aus  Estland  über  das  Meer 


960  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

gezogen  sind,  wäre  es  nicht  ohne  Bedeutung  festzustellen,  ob  etwa 
eine  besonders  nahe  Beziehung  zwischen  dem  nördlichsten  estnischen 
Dialekt,  dem  revalschen  und  dem  südlichen  finnischen,  im  s.  g.  Ei- 
gentlichen Finnland  besteht. 

Das  Bild,  das  der  Vfr.  gewinnt,  ist,  daß  in  den  ersten  christ- 
lichen Jahrhunderten  in  dem  weiten  von  Finnen  und  Letten  be- 
wohnten ostbaltischen  Gebiet  vielfach  Anzeichen  einer  höheren  west- 
lichen Kultur  zu  erkennen  sind  und  daß  deren  Träger  zahlreiche 
germanische  (gotische)  Kolonien  gewesen  seien.  Der  Vergleich  mit 
heute  liegt  nahe.  Der  Vfr.  weist  es  ab  zu  untersuchen  >wann  die 
finnischen  Stämme  bis  zur  Meeresküste  vorgedrungen  sind,  ...  da 
seine  Aufgabe  darin  bestand  der  Anwesenheit  der  Finnen  in  Estland 
und  Livland  . .  für  die  fünf  ersten  Jahrhunderte  nach  Chr.  nachzu- 
forschen«. Aber  die  Frage  bleibt  von  großer  Wichtigkeit,  wann  und 
wie  sind  vor  der  Zeit  des  großen  gotischen  Reiches,  das  im  4.  Jahr- 
hundert am  Dneper  bestand,  die  germanisch-gotischen  Einwanderer 
in  die  Landschaften  östlich  und  wohl  auch  südlich  des  baltischen 
Meeres  gekommen,  wo  sie  >zahlreiche  Kolonien«  gegründet  hatten, 
wo  zahlreiche  Funde  auf  ihre  Anwesenheit  hinweisen.  Und  weiter: 
wem  haben  die  ältesten  großen  Friedhöfe  mit  Leichenbrand  in  Liv- 
land und  Estland,  die  Steinreihengräber  gehört?  Die  Entscheidung 
über  sie  ist  wie  oben  bemerkt  noch  nicht  abgeschlossen.  Daß  sich 
wenn  auch  nicht  zahlreiche  so  doch  einzelne  ähnliche  Anlagen  auch 
in  Finnland  nachweisen  lassen,  ist  sehr  zu  beachten:  es  scheint  sich 
die  Brücke  zu  finden,  nur  sind  bisher  an  der  Finnland  nächsten 
nordwestlichen  estländischen  Küste  keine  solchen  Steinreihengräber 
aufgetaucht,  die  bisher  bekannten  liegen  weiter  im  Lande.  Der  Vfr. 
ist  geneigt,  sie  den  Esten  zuzuweisen.  Aber  gerade  hier  finden  sich 
vorzugsweise  die  Altsachen,  die  germanisch -skandinavischen  Typus 
tragen.  Freilich  liegen  in  mehreren  dieser  Anlagen  auch  Zeugen 
jener  späteren  Jahrhunderte,  in  denen  sicher  schon  die  Esten  im 
Lande  saßen.  Aber  Siedelstätten  und  Grabfelder  sind  durch  natür- 
liche Verhältnisse  bedingt,  ein  späteres  Volk  folgt  darin  leicht  den 
Spuren  des  früheren.  Wie  weit  Funde  dieser  Steinreihengräber 
speziell  den  Goten  zuzuweisen  sind,  ist  schwierig  zu  entscheiden, 
weil  wir  das  spezifisch  gotische  Grabinventar  nicht  kennen,  es  z.B. 
nicht  sicher  ist ,  ob  wie  behauptet  worden ,  die  s.  g.  Fingerfibel  aus- 
drücklich den  Goten  zuzusprechen  ist,  eine  Form,  die  bisher  den 
livländischen  Gräbern  fast  völlig  fremd  ist. 

Die  Forschung  hat  hier  noch  nach  allen  Seiten  ein  weites  Feld. 
Die  vorliegende  gelehrte  und  gründliche  Arbeit  bedeutet  einen  großen 


Hackman,  Die  ältere  £isenzeit  in  Finnland.  I  961 

Schritt  vorwärts.  Für  sie  wird  nicht  nur  die  eigene  finnische  Heimat 
dem  Vfr.  aufrichtig  danken,  auch  die  Erforschung  der  frühen  Ver- 
gangenheit in  den  südlicheren  ostbaltischen  Ländern  wird  gern  be- 
kennen, daß  der  Vfr.  ihr  einen  großen  Dienst  geleistet  hat. 

Dorpat  R.  Hausmann 


HeinrichvonFreiberg.  Mit  Einleitungen  über  Stil,  Spracbe,  Metrik,  Quellen 
und  die  Persönlichkeit  des  Dichters  herausgegeben  von  Dr.  Alois  Bemt.  Ge- 
druckt mit  Unterstützung  der  Gesellschaft  zur  Förderung  deutscher  Wissen- 
schaft, Kunst  und  Literatur  in  Böhmen.  Mit  einer  Lichtdruck-Beüage.  Halle 
a.  d.  S.,  Max  Niemeyer,  1906.   208  +  272  S.   8<>.   M.  12.—. 

Heinrich  von  Freiberg  gehört  nicht  zu  denjenigen  Epigonen  der 
mittelhochdeutschen  Literatur,  die  sich  seither  Über  Vernachlässigung 
beklagen  durften:  alle  seine  Werke  lagen  bereits  in  mehrfachen  Aus- 
gaben -—  Textabdrücken  und  kritischen  Bearbeitungen  —  vor,  über 
sein  literarisches  Eigentum  und  über  das  Quellenverhältnis  seiner 
wichtigsten  Dichtung  hat  man  mehrfach  gehandelt,  seinen  Gönnern 
aus  dem  böhmischen  Herrenstande  hat  man  nachgeforscht,  kurz  die 
Literaturgeschichte  konnte  über  ihn  schon  längst  mehr  und  vor  allem 
bequemer  berichten,  als  über  manchen  andern  Dichter  der  ihn  an 
Bedeutung  überragt.  Gleichwohl  begrüß  ich  die  Gesamtausgabe,  die 
uns  ein  Schüler  Seemüllers  vorlegt  und  die  durch  vielseitige  und 
gründliche  Studien  über  alle  einschlägigen  Fragen  zu  einem  statt- 
lichen Bande  erweitert  ist,  mit  aufrichtiger  Freude.  Denn  einmal 
ist  es  an  sich  ein  Fortschritt,  daß  wir  hier  alles  so  bequem  vereinigt 
haben,  und  dann  ist  die  Gesamtleistung  recht  erfreulich.  Die  alt- 
deutsche Philologie  verAigt  heute  nur  über  wenige  gut  ausgerüstete 
Editoren,  und  von  Bernt  dürfen  wir  bestimmt  erwarten,  daß  er  den 
Eifer  und  die  Hingabe,  die  er  hier  bewiesen  hat,  noch  andern  Werken 
der  spätmittelhochdeutschen  Literatur  zuwenden  wird. 

Es  soll  keine  Einschränkung  des  Lobes  sein,  wenn  ich  sofort 
einschalte,  daß  das  kritische  Ergebnis  für  die  Texte  des  Heinrich  von 
Freiberg  in  keinem  Verhältnis  steht  zu  der  darauf  verwandten  Arbeit 
vieler  Jahre.  Die  drei  kleinen  Dichtungen  sind  nur  in  je  einer  Hand- 
schrift auf  uns  gekommen,  und  für  den  Tristan,  dessen  Ueberlieferung 
gut  und  durchsichtig  ist,  hat  Reinhold  Bechstein  jedenfalls  sein  Bestes 
geleistet:  seine  Ausgabe  ist  so  brav,  daß  ihm  ihretwegen  andere 
Sünden  verziehen  werden  mögen.  So  betont  denn  auch  Bernt  selbst, 
daß  er  in  der  Vorlegung  eines  vollständigen  Apparates,  der  durch- 
weg eigene  Abschriften  zu  Grunde  legt,  den  Hauptwert  seiner  Neu- 


962  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

edition  des  Tristan  erblicke;  andere  Vorzüge  werden  gleich  zu  er 
wähnen  sein.  Dieser  Apparat  macht  auch  wirklich  einen  vortreff 
liehen  Eindruck :  er  läßt  selten  eine  Frage  des  nachprüfenden  Leser 
nach  Wortlaut  und  Wortform  der  Handschriften  unbeantwortet,  um 
ist  doch  mit  bloß  orthographischen  Varianten  nicht  unnütz  belastet 
Auf  seinen  Druck  und  seine  Korrektur  ist  offenbar  die  größte  Sorg- 
falt verwendet  worden,  während  über  dem  Texte  das  Auge  des 
Herausgebers  nicht  immer  gleichmäßig  gewacht  hat:  ich  hebe  als 
böses  Beispiel  die  Seiten  236.  237  hervor,  wo  Leg.  V.  811  osterlanden, 
V.  815.  817  tor  (>porta<),  V.  841.  856  Juden  gedruckt  steht. 

Was  das  sprachliche  Gewand  der  Dichtungen  angeht,  so  war 
B.s  Bestreben  vor  allem  darauf  gerichtet,  zu  ermitteln,  wieviel  von 
der  äußeren  Oestalt  der  Ueberlieferung  —  besonders  des  Tristan  in 
der  Florentiner  Handschrift  F  —  für  die  gereinigte  Textform  beibehalten 
werden  könne,  und  welche  Aenderungen  des  Laut-  und  Wortbildes 
auf  Orund  der  Reimuntersuchung  geboten  seien.  Für  die  Methode 
derartiger  Untersuchungen  ist  er  bei  Kraus  und  Zwierzina  in  die 
Schule  gegangen;  daß  er  sie  bereichert  und  verfeinert  habe,  wie  es 
bei  jedem  neuen  Autor,  der  ihr  unterzogen  wird,  möglich  sein  muß, 
kann  ich  freilich  nicht  ohne  Einschränkung  zugestehn.  Einmal  lehnt 
er  sich  viel  zu  eng  an  diese  —  gewiß  vortrefiflichen  —  Vorbilder 
an,  und  dann  ist  seine  sprachwissenschaftliche  Bildung  doch  nicht 
so  fest  und  sicher,  daß  er  immer  die  entscheidenden  Reime  mit 
Gewißheit  herausfindet.  So  hat  er  gleich  im  Eingang  der  sprach- 
lichen Erörterungen  auf  S.  81  bei  Beurteilung  der  Apokope  merk- 
würdig fehlgegriflfen,  wenn  er  Reimen  wie  ich  dol:  wol;  ich  var: 
lipnar;  er  enper,  ich  gewer,  er  ger:  her;  dem  spor,  var  deni  ton 
vor  eine  Beweiskraft  beimißt.  Im  allgemeinen  kann  man  sich  mit 
den  Folgerungen,  die  für  die  Textform  gezogen  werden,  immerhin 
einverstanden  erklären,  den  stärksten  Widerspruch  habe  ich  gegen- 
über der  Behandlung  des  -lieh  (S.  95 f)  zu  erheben.  Wenn  für  die 
Adjektiva  und  Adverbia  auf  -lieh  die  Kürze  durch  70  Reime  fest- 
gestellt ist,  so  ist  diese  Schreibung  selbstverständlich  auch  in  allen 
neutralen,  rührenden  Reimen  (5)  und  ebenso  im  Versinnem  durchzu- 
führen: B.  aber  schreibt  hier  konstant  -lieh!  -lieh  ist  zweifellos  die 
dem  Dichter  geläufige  Form:  die  jenen  70  (+5)  Fällen  gegenüber- 
stehenden 8  Beispiele  für  -Uchigelkh  und  die  4  Beispiele  für  4ich: 
rieh  und  i-rich  stellen  deutlich  literarische  Reime  dar:  es  bleibt 
immer  noch  bemerkenswert,  daß  unter  im  ganzen  87  Reimbelegen 
nur  ein  einziger  Fall  vorkommt  (Trist.  1665),  wo  ein  Adjektivum  auf 
'lieh  mit  dem  Simplex  rieh  gebunden  wird.  —  Mit  dem  Längezeichen 
ist  mir  B.  überhaupt  zu  freigebig:  geberde(n):  werde(n)^  erde(n)  er- 


Heinrich  von  Freiberg,  hrsg.  von  Bernt  963 

scheint  geradezu  als  eine  Lieblingsbindung  Heinrichs,  und  man  schiebt 
ihm  mit  Unrecht  einen  unreinen  Reim  unter,  wenn  man  gd)erde(n) 
schreibt.  Daß  H.  v.  F.  den  Vocal  vor  der  Lautgruppe  cht  kürzte,  ist 
bei  dem  Mitteldeutschen  von  vorn  herein  wahrscheinlich  und  wird 
durch  zahlreiche  Reime  (wie:  nacht '.bedacht  Trist.  235,  :erdacM  829, 
:  verdacht  1419)  direkt  erwiesen.  B.  aber  schreibt  hier  immer  Länge, 
und  das  erscheint  um  so  aufifälliger,  als  er  die  Kürzung  lieht  >  licht 
ohne  weiteres  zugibt  und  in  der  Schreibung  ausdrückt ;  recht  drastisch 
tritt  dieser  Widerspruch  Trist.  233  ff.  in  der  Reimfolge  geschieht  dicM, 
nacht ihedächt  zu  Tage. 

Solches  Festhalten  an  der  mhd.  Normalform  entspricht  eigent- 
lich nicht  der  Tendenz  des  Herausgebers,  der  sehr  energisch  darauf 
ausgeht,  seinem  landsmännischen  Poeten  möglichst  viel  sprachliches 
Sondergut  zu  vindizieren.  Ich  kann  den  Erwägungen,  aus  denen 
S.  114  unserem  Heinrich  schwache  Formen  von  arm^  heim  und  site 
zugesprochen  werden,  nicht  zustimmen,  noch  weniger  der  Art  wie 
der  Herausgeber  derartiges  aus  der  Ueberlieferung  herausklaubt  und 
recht  unnötig  in  den  Text  schafft.  Und  nun  gar  der  Exkurs  auf 
S.  121  f.,  wo  die  eindeutige  Ueberlieferung  ich  rase  nit  (nindert)  ein 
kunne  Trist.  5399  4ch  rase  in  keinerlei  Weise,  ganz  und  gar  nichr 
durch  eine  Konjektur  beseitigt  wird,  die  'ein  eminent  dialektisches 
Wort',  das  deutschböhmische  bunne  =  bone  ('ich  rase  keine  Bohne'!) 
schaffen  soll,  ist  Spielerei  und  weiter  nichts. 

Daß  die  Reimuntersuchung  im  übrigen  viele  nützliche  Daten  er- 
bringt, will  ich  gern  ausdrücklich  betonen,  nachdem  ich  gegen  ihre 
Wertung  (und  Nichtwertung)  für  den  Text  einige  Bedenken  erhoben 
habe.  Mit  der  Darstellung  der  Metrik  steht  es  ähnlich :  sie  ist  durch 
manche  statistische  Feststellung  nützlich  und  liefert  ausreichende  An- 
haltspunkte für  eine  chronologische  Anordnung  der  Werke,  wobei  der 
Tristan  zwischen  die  Legende  vom  Kreuzholz  und  die  Ritterfahrt  des 
Johann  von  Michelsberg  gesetzt  wird,  das  Schrätel  ihm  unmittelbar 
folgt  oder  vorangeht ;  aber  freilich  hat  sie  den  Herausgeber  vor  Un- 
sicherheit und  auch  vor  Willkür  bei  der  Textkonstitution  nicht  ganz 
zu  bewahren  vermocht.  Spielt  das  Streben,  die  Senkung  auszufüllen, 
schon  in  B.s  Vorliebe  für  die  schwache  Flexion  von  arm  und  heim 
eine  Rolle,  so  führt  es  ihn  hier  und  da  direkt  zur  Einsetzung  von 
Formen,  die  nicht  nur  der  Ueberlieferung,  sondern  ganz  gewiß  auch 
der  Sprache  Heinrichs  widerstreiten:  Icostelich,  wie  es  B.  Trist.  V. 
1319  und  4511  gegen  das  gute  kostlich  beider  Hss.  einsetzt,  oder 
sündeliaft  wie  er  Leg.  93  schreibt,  sind  Belege  für  diesen  Tadel. 

Solcher  Schönheitsfehler  zeigt  die  Ausgabe  noch  einen  und  den 
andern;  ich  mag  sie  dem  Herausgeber  nicht  alle  aufmutzen,  sondern 


964  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

will  lieber  hinzufugen,  daß  derartiges  an  andern  Editionen  der  letzten 
Jahrzehnte  oft  weit  stärker  zu  rügen  wäre,  ja  daß  keiner  von  uns 
sich  davon  völlig  freisprechen  darf. 

Das  Beste  aus  dem  reichen  Inhalt  der  Einleitung  habe  ich  noch 
nicht  hervorgehoben:  die  säubern  Ausführungen  über  den  Stil  des 
Dichters  und  seine  literarischen  Vorbilder  (S.  23—80),  wo  ihm  dann 
zugleich  die  neuerdings  angefochtene  Autorschaft  des  Schrätels  ge- 
sichert wird  (vgl.  dazu  S.  161  flF.),  die  verständige  Ueberprüfung  der 
Quellenfragen  (S.  165—177),  und  schließlich  die  höchst  gewissen- 
haften Untersuchungen  über  die  Persönlichkeit  des  Dichters,  die  zwar 
noch  manches  im  Dunkel  lassen,  aber  dem  Leser  überall  die  Eontrolle 
ermöglichen  (S.  178—208).  Durch  die  ganze  umfangreiche  Einleitung 
hindurch  finden  sich  hübsche  Einzelbeobachtungen  und  kleine  Neben- 
ergebnisse verstreut,  wie  sie  eben  nur  einem  Gelehrten  zufallen,  der 
durch  langjährige  liebevolle  Beschäftigung  mit  dem  Stoff  und  allen 
seinen  Beziehungen  vertraut  geworden  ist.  So  münden  denn  diese 
ungewöhnlich  reichen  Prolegomena  noch  aus  in  die  schöne  Ent- 
deckung, daß  Heinrich  von  Freiberg  stark  gewirkt  hat  auf  Peter  Suchen- 
wirt, und  zwar  nicht  nur  durch  den  Tristan,  sondern  auch  durch  die 
kleinem  Dichtungen. 

IEh  ich  zum  Schlüsse  aufreihe,  was  ich  zur  Besserung  und  Er- 
läuterung der  einzelnen  Texte  beizutragen  habe,  will  ich  einen 
Wunsch  nicht  unterdrücken,  den  mir  auch  diese  Ausgabe  wieder 
nahelegt :  möchten  doch  unsere  jungem  Fachgenossen  sich,  auch  was 
die  äußere  Technik  der  Edition  angeht,  zunächst  durch  ein  gründ- 
k  liches  Studium  der  Ausgaben  Lachmanns  und  Haupts  Vorschulen,  um 

[  sich  selbst  allerlei  Zweifel  und  Unsicherheit,  uns  hinterher  allerlei 

Unbehagen  zu  ersparen.  Ich  will  die  Dinge,  um  die  es  sich  hier 
handelt,  nicht  alle  aufzählen:  erwähnen  will  ich  für  diesmal  nur  die 
Behandlung  der  Elision  von  Senkung  in  Hebung  (Bernt  schreibt 
—  gegen  die  Ueberliefemng !  —  schone  üf^  äne  allen,  beläßt  aber 
!l  umgekehrt  jswär  als  all)  —  und  dann  die  Interpunktion !    Mag  man 

'  immerhin  Moriz   Haupts   Sparsamkeit   oft  schwierig    finden,    unser 

Herausgeber  ist  dafür  von  einer  Verschwendung,  die  schon  das  Auge 
beleidigt  und  dem  Innern  Ohr  unerträglich  wird:  V.  2178  zwar  als 
^  alt,  als  ich  bin,   oder  V.  3092  die  künigin,  sin  elich  wip,  die  scheine 

Isöt  sind  ein  paar  Beispiele. 

Und  nun  zu  den  einzelnen  Texten! 

Tr|istan.  Merkwürdig  mißverstanden  haben  beide  Herausgeber 
die  höchst  einfache  Stelle  V.  1175 f.:  sin  roc  was  hübeschlich  gesniten 
tool  nach  gendes  boten  siten.  Bechstein,  der  umschreibt  >der  ge- 
hende, ausgesandte  Bote,«  setzt  obendrein  ein  Komma  nach  Y.  1175 


Heinrich  von  Freiberg,  hrsg.  von  Bemt  965 

und  betont,  daß  V.  1176  zum  folgenden  gezogen  werden  müsse  {van 
guotem  sagite  rdt)\  Berat  meint  in  der  Anmerkung  S.  263,  V.  1176 
sei  >gleichsam  terminus«,  und  vergleicht  aus  dem  Rother  die  Aus- 
drücke der  (ein)  gähinder.  Hinder  man  für  >Bote«.  Ob  er  etwa  gar 
gende  für  gcehende  (Nebenform  zu  gähende)  nehmen  möchte?  Der 
gende  hole  ist  allerdings  ein  Terminus:  es  ist  der  Bote  zu  Fuß,  im 
Gegensatz  zu  dem  Boten  zu  Pferde,  dem  rennenden  loten  oder  renner. 

—  Dem  Reim  gesagee :  tages  2325  f.  (vgl.  Einl.  S.  125)  wird  man  (an- 
ders als  Bechstein)  aus  dem  Wege  gehn  müssen:  zwar  es  geschach 
und  ich  end  ages  ist  auch  im  Ausdruck  besser  als  und  ich  gesagee. 

—  Auf  S.  74  f.  wechseln  beständig  die  Formen  jager  (2377.  2392. 
2415)  und  jeger  (2381.  2431).  —  V.  3491  bleib  ich  im  Gegensatz 
zu  Bechstein  und  Bernt  der  Hs.  F  zur  Seite,  indem  ich  schreibe: 
nu  haut  die  v als c hen  trügener  mich  im  gemachet  gar  unmer.  — 
V.  3559  nam  des  Jcüneges  ros  goume  ist  mit  beiden  Hss.  zu  belassen; 
Bernt  berücksichtigt  nicht  die  Tatsache,  daß  von  zwei  Genetiven  in 
dieser  Stellung  der  zweite  die  Flexion  entbehren  kann;  vgl.  Haupt 
zu  Erec  8124  und  Neidhart  S.  201 ;  auch  Hildebrand  Zs.  f.  d.  Phil. 
4,360.  —  Es  geht  unmöglich  an,  in  derselben  Redensart  V.  3903 
alsus  urburte  ich  minen  Up  und  V.  4027  und  nicht  urb er en  unsem 
Up  zu  schreiben ;  die  Hss.  weisen  offensichtlich  auf  urberen  hin  (4027 
bieten  sie  beide  diesen  Infinitiv,  3903  hat  F  urburte,  0  erkerte),  und 
wenn  das  auch  eine  Kompromißform  aus  urboren  swv.  und  erberen 
stv.  ist,  so  wird  man  sie  doch  hinnehmen  dürfen  (Lexer  verzeichnet 
s.  V.  urborn  weitere  Belege)  —  oder  man  muß  urborte  und  urboren 
schreiben.  —  V.  4545  1.  Uchten  FO !  —  V.  5202  und  anderwärts  muß 
müete  geschrieben  werden,  denn  diese  Präteritalform  ist  durch  den 
Reim  (5273,  6368,  vgl.  3264)  gesichert.  —  V.  5419  l.  glänz  viuwervar 
und  rubinrot;  das  von  Bechstein  und  Bernt  verschmähte  rubin-  aus 
0  ist  rhetorisch  unentbehrlich.  —  V.  5750  ist  mir  Bernts  Text  sin  triuwe 
reine  und  äne  gewalt  ist  er  wol  vürsten  genöz  ganz  unverständlich; 
Bechstein  hat  das  richtige  an  gewalt^  was  offenbar  auch  die  (hier 
einzige)  Hs.  F  bietet.  —  V.  6582  1.  sus  lägen  die  gelieben  tot  mit 
0;  gelägen  F  ist  der  Bedeutung  nach  schief,  denn  schon  V.  6576 
hieß  es  tot  üf  dem  töten  lac  si  hie,  und  ergibt  neben  dem  Mißklang 
einen  abscheulichen  Vers.  —  V.  6673  f.  ist  zu  schreiben  gevärä  hän 
ir  lebenes,  weizgot  daz  ivas  vergebenes;  bei  Bernt  steht  ein  stumpfes 
Reimpaar  mit  drei  Hebungen. 

Legende  vom  heil.  Kreuze.  V.  7  ist  statt  Ursprünge  einzu- 
setzen urspringe,  das  V.  498  durch  den  Reim  (:ki8elinc)  bezeugt 
wird.  —  V.  31  das  überlieferte  ein  bilde  nach  unser  gestalt  ist  zu 
belassen.  —  V.  58  1.  forme.  —  V.  62  bloedik^t  ist  wahrscheinlich  hier 


966  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

wie  vielfach  in  jüngeren  Hss.  Ersatz  für  das  veraltende  broßdihei 

—  V.  85  1.  din  heilig  criuze  (Hs.  heiligs).  —  V.  100  was  hat  sich  de 
Herausgeber  bei  dem  kosten  der  Hs.  gedacht,  das  er  im  Texte  steh 
läßt?  es  ist  selbstverständlich  zu  lesen:  und  siner  wcte  nicht  me 
was  wan  ein  kotze.  —  V.  170  1.  wart  (so)  gros  dae  ...  —  v.  326  1 
reichten.  —  V,  355  1.  üf  dirre  vart.  —  V.  370  die  kömel  . . .  di 
enspriessen ...dri  boume  ist  unmöglich,  es  muß  geändert  werden  nacl 
Anweisung  von  v.  418:  dar  üz  enspriezen.  —  V.  434  der  hsl.  Ver 
sie  w%u>chsen  noch  wuochsen  nicht  wird  dadurch  nicht  besser,  daß  mai 
an  zweiter  Stelle  enwuochsen  einsetzt:  entweder  ist  das  noch  falsd 
oder  aber  es  muß  ein  anderes  Verbum,  etwa  welkten,  folgen.  —  471 
heindiclien  ruom  ist  nicht  anzutasten,  wie  es  die  Anmerkung  ver- 
sucht: es  ist  der  rechte  Gegensatz  zu  werltltchem  ruome.  —  V.  74C 
seh  ich  nicht  ein,  warum  die  (wäre)  schriß  ergänzt  wird.  —  V.  749 
ungewonlich  sie  gesae  üf  dae  hole  kann  nicht  richtig  sein,  das  hsl 
vngewenleich  muß  in  ungeverlich  »von  ungefähr <  geändert  werden. 

—  V.  868  1.  Kalvarie.  —  Mit  dem  viermal  gehobenen  klingenden 
Reimpaar  877  f.  und  eimet  riches  lop  und  ere  von  ewen  sewen  immer 
mere  klingt  das  Gedicht  in  altvertrauter,  freilich  auch  abgebrauchtei 
Weise  aus.  Was  aber  nun  folgt,  die  Zeilen  879—882,  sind  erbärm- 
liche Schreiberverse,  die  der  Herausgeber  unbedingt  in  die  Les- 
arten verweisen  mußte: 

Hie  h&t  diz  buoch  ein  ende, 
got  uns  sin  heiligen  geist  sende, 
got  müeze  unser  immer  pflegen 
mit  des  heiligen  criuzes  sogen! 

Ritterfahrt  des  Johann  von  Michelsberg.  V.  113f.  1. 
wunnenclich:gelich.  —  V.  292  (do  wart  der  herre)  gar  wunnenclich  ge- 
kaffet  an  ist  seh werlich  richtig ;  setzt  man  wunderlich  ein,  so  kann 
dies  >überaus  sehr«,  aber  auch  >erstaunt,  neugierig«  bedeuten.  — 
Völlig  mißverstanden  hat  der  Herausgeber  den  Vers  306.  Das  hsl. 
(das  im  der  künic  gab  su  der  stunt)  der  grösen  turneys  hundert  pfunt 
ändert  B.  in  des  gr,  turneis,  übersetzt  also  »zur  Stunde  des  großen 
Turniers«,  was  hier  nach  dem  völligen  Abschluß  der  ritterlichen 
Spiele  mindestens  sonderbar  ausgedrückt  wäre.  Gemeint  sind  aber 
hundert  Pfund  Turnosgroschenl  >gros  toumois<,  die  damals  in 
Frankreich  geläufige  Münze,  die  als  grosse  torneise,  tumoscy  tumeise 
auch  in  deutschen  Quellen  des  ausgehenden  Mittelalters  massenhaft 
bezeugt  ist;  es  genügt  hier  auf  Lexer  U  1585  s.  v.  tumos  und  auf 
meine  Ausführungen  zu  Hugo  von  Trimberg  und  Rumsland  in  der 
Frankfurter  Münzzeitung  1903  Nr.  34  S.  513  ff.  zu  verweisen.  —  Ich 


üeinrich  von  Freiberg,  hrsg.  von  Bemt  967 

kann  nicht  glauben,  daß  der  Dichter  das  Werkchen  mit  dem  Reim 
-s:-2,  der  in  den  8450  Versen  seiner  Gesamtproduktion  nur  dies 
eine  Mal  unvermeidbar  scheint,  geschlossen  habe  —  und  obendrein 
mit  einem  so  ungeschickten  Ausdruck;  aber  ich  weiß  keinen  andern 
Ausweg,  als  daß  der  Schreiber  hier  von  dem  ersten  Reimwort  eines 
Verspaars  {pns)  auf  den  Schlußvers  mit . . .  vliz  übergesprungen,  daß 
also  zwischen  V.  329  und  V.  330  eine  Gruppe  von  mindestens  6  Versen 
ausgefallen  ist.  Das  er  des  Schlußverses  dürfte  sich  dann  wohl  eher 
auf  den  Dichter  als  auf  seinen  Helden  beziehen. 

Schrätel  und  Wasserbär.  V.  6f.  oh  sorge  mir  die  muose 
git  der  ich  von,  sorge  ie  muoste  pflegen;  verderbt  ist  der  zweite  Vers, 
aber  die  von  B.  aufgenommene  Vermutung  Seemüllers  läßt  die  Ent- 
stehung der  Korruptel  unerklärt:  der  Fehler  liegt  ganz  gewiß  in 
einer  mechanischen  Wiederholung  von  sorge,  und  dies  Wort  muß  also 
ersetzt  werden  —  am  wahrscheinlichsten  durch  not,  wie  schon  v.  d. 
Hagen  vorgeschlagen  hat.  —  V.  55  1.  hart  oder  herte^  nicht  harte! 
—  V.  98  1.  swar  oder  svcere,  nicht  swer!  —  Gegen  die  Hs.,  welche 
immer  richtig  gespiseet  und  spi;s,  spizse  bot,  hat  B.  V.  192  gespieset, 
V.  193.  212.  223  spiez,  spieze  in  den  Text  gesetzt,  also  den  Brat- 
spieß mit  den  Wurfspieß  zusammengeworfen.  —  Eine  von  allen  Her- 
ausgebern (Bemt  ist  hier  der  siebente)  übersehene  Verderbnis  steckt 
in  V.  301  Der  guote  wirt  der  vülän.  villän  heißt  in  unserm  Texte 
der  Bärenführer,  der  ein  armer  Schlucker,  ein  vüain  ist :  V.  20  ein 
toegewiser  villän,  V.  50  dar  leerte  der  villän;  für  seinen  gastfreien 
Wirt  paßt  diese  Bezeichnung  in  keiner  Weise,  der  heißt  V.  319 
324.  346.  348  der  büman,  und  dies  Wort  ist  unbedingt  auch  V.  301 
einzusetzen:  es  war  die  Stelle  des  ersten  Vorkommens,  und  da  ent- 
gleiste der  Schreiber  in  das  ihm  als  Reimwort  bereits  geläufige 
vülän. 

Der  Text  des  Schrätels  legt  mir  eine  Frage  besonders  nahe,  die 
ich  in  der  Einleitung  B.s  gar  nicht  angerührt  finde.  Die  Handschrift 
bietet  durchweg  die  Formen  sower,  gebower;  fewer,  vngehewer;  daß 
die  alten  Monophthonge  herzustellen  sind,  ist  selbstverständlich,  und 
an  Formen  wie  gebüre,  urtgehiure  würde  ich  natürlich  keinen  Anstoß 
nehmen.  Nun  scheint  aber  das  Metrum  auch  für  »Feuer«  und  >sauer< 
zweisilbige  Formen  zu  verlangen  —  und  unbedenklich  schreibt  B. 
daz  fiure  und  stire  (unflektiert).   So  liest  er  denn  V.  55  ff. 

von  arte  ein  rechter  gämre. 
wie  ofte  im  harte  und  sure 
wart  sin  lipnar  mit  nöt^ 


%8  Gott  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

WO  ich  lieber  lesen  möchte: 

von  arte  ein  recht  gebüwer. 

swie  ofle  im  hart  und  süwer  usw. 

Ebenso,  immer  im  Anschluß  an  die  Handschrift:  V.  160  der  im  dod 
süwer  gnuoc  wart  sider,  181  er  leite  sich  bi  dcue  viuwer  nider  und 
wohl  auch  195  f.  dojs  schretel  ungehiuwer  sich  saizte  sfu  detn  viuwer, 
Ich  will  aber  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  man  auch  ganz  normal 
lesen  kann  V.  160  sür  genuoc  und  V.  55  f. 

von  arte  ein  rechter  gebür 

swie  ofte  im  hart  unde  sür  usw. 

In  keinem  Falle  scheint  mir  für  die  Ansetzung  von  Formen  wie  dojs 
fiure  und  sure  ein  Zwang  vorzuliegen. 

Oöttingen  Edward  Schröder 


Der  Briefwechsel  zwischen  der  Kaiserin  Katharina  II.  von  Ruß- 
land and  Johann  Georg  Zimmermann.  Herausgegeben  von  Dr.  Ednari 
Bodemaiin,  Königl.  OberbibUothekar  und  Geh.  Regierangsrat  za  Hannorer.  — 
Hannover  a.  Leipzig.  Hahnsche  Bachhandlang  1906.  XXY  und  157  SS.  in  8. 

Die  Briefe,  die  das  Buch  uns  vorlegt,  umfassen  die  sieben  Jahre 
vom  28.  Januar  1785  bis  zum  31.  Januar  1792.  Es  sind  ihrer  im 
Ganzen  79 ,  davon  35  von  der  Kaiserin  Katharina  II. ,  44  von  dem 
bekannten  Hofrat  und  Leibarzt  Zimmermann  in  Hannover  (f  1795) 
herrührend. 

Dem  brieflichen  Verkehr  zwischen  der  Kaiserin  und  Zimmermann 
waren  Beziehungen  vorangegangen,  die  sich  durch  gemeinsame  Be- 
kanntschaften knüpften.  Gleich  im  ersten  Brief,  den  Katharina  an 
den  hannoverschen  Arzt  richtete,  war  die  Rede  von  dem  Fürsten 
^  J:  Gregor  Orlof,   notre  ami   commun   (S.  5).     Ein  renommierter  Arzt 

macht  leicht  vornehme  Bekanntschaften.  Im  großen  Publikum,  das 
aus  der  Geschichte  Katharinas  vor  allem  das  Günstlingsunwesen  kennt, 
ist  Potemkin  der  berufenste  Name.  Aber  Gregor  Orlof  ist  durch 
Priorität  in  der  Reihe  ausgezeichnet.  Mehrere  Jahre  nachdem  er 
seinen  Platz  verloren  hatte,  suchte  er  in  Hannover  mit  seiner  jungen 
Frau  Zimmermanns  ärztliche  Hilfe  und  begab  sich  auf  seinen  Rat 
nach  Ems,  wohin  ihnen  Z.  folgte.  Von  Orlof  gingen  damals  —  im 
Sommer  1780  —  Versuche  aus,  Z.  für  Rußland  zu  gewinnen.  Er 
verlor  bald  darauf  seine  junge  Frau  und  starb  in  Geisteszerrüttung 
im  April  1783  zu  Moskau^).    Dnrch  die  ersten  Briefe  unserer  Eor- 

1)  Marcard,  Zimmermanns  Verhältnisse  mit  d.  E.  Katharina  S.  14. 


I 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  Tl.  und  J.  0.  Zimmermann  9r>9 

respondenz  ziehen  sich  die  das  Andenken  des  Fürsten  ehrenden  An- 
erkennungen der  Kaiserin  wie  Zimmermanns  (9.  12  flf.)  *).  —  Eine 
gemeinsame  Bekanntschaft  anderer  Art  war  der  Arzt  Weikard,  votre 
ami  W. ,  wie  ihn  die  Kaiserin  nennt  (4).  Aus  dem  Fuldaischen  ge- 
bürtig, Arzt  in  Diensten  des  Abts  von  Fulda  und  Badearzt  in 
Brückenau,  hatte  er  sich  durch  medizinische  Schriften  im  großen 
Publikum,  insbesondere  durch  den  > philosophischen  Arzt«  (3  Bde, 
1773  flf.),  eine  Sammlung  populärer  Aufsätze  medizinischen  und  phy- 
siologischen Inhalts,  bekannt  gemacht  und  war  auch  mit  dem  vier- 
zehn Jahr  altem  Zimmermann  in  literarischen  Briefwechsel  gekommen. 
Durch  den  Grafen  Schuwalow,  der  einen  Bruder  Weikards  von  Paris 
nach  Petersburg  als  seinen  Arzt  mitgebracht  hatte,  gelangte  der 
> philosophische  Arzt<  auch  nach  Rußland  und  in  die  Hände  der 
Kaiserin,  die  dem  Verfasser  daraufhin  eine  Stelle  als  Hof-  und 
Kammerarzt  d.  h.  als  Arzt  für  ihr  Hofpersonal  anbieten  ließ.  So 
kam  Weikard  im  Frühjahr  1784  nach  Petersburg.  Bei  seiner  Vor- 
stellung rühmte  er  der  Kaiserin  die  Verdienste  seines  Freundes  Z., 
wie  auch  von  andern  deutschen  Größen  wie  Nicolai  und  Herder  die 
Rede  war  *).  Daß  die  Freundschaft  zwischen  Weikard  und  Z.  bald 
ein  Ende  nahm,  wird  nachher  vorkommen. 

Die  direkten  Beziehungen  der  Kaiserin  zu  Z.  begannen  mit  dem 
J.  1785.  Sie  hatte  ihm  den  Posten  eines  Leibarztes  anbieten  und, 
als  er  diesen  ablehnte,  eine  Einladung  zu  einem  Besuche  in  St.  Peters- 
burg während  des  Sommers  1785  zugehen  lassen.  Die  Einladung 
galt  nicht  dem  Arzte.  Kein  Wort  von  Medizin  sollte  über  ihre  Lippen 
kommen.  Sie  fühlte  sich  wohl,  behalf  sich  gern  ohne  die  Fakultät, 
und  die  Apothekerrechnung  für  ihre  Person  betrug  im  Jahre  nicht 
über  30  Sous  (5).  Sie  hatte  in  ihrer  Jugend  Moliere  gelesen  und 
erklärte  Weikard  offenherzig,  dessen  Ideen  von  Aerzten  seien  bei  ihr 
ziemlich  hängen  geblieben  (Denkwürd.  S.  245).  Die  Einladung  galt 
dem  Schriftsteller,  dessen  Werk  über  die  Einsamkeit  sie  soeben  ge- 
lesen hatte.  >In  diesem  Buche  ist  Kraft  und  Macht  und  Reitz  der 
Seele«  lauten  die  deutschen  Worte,  mit  denen  die  Kaiserin  ihren 
französischen  Brief  unterbricht  (4).  Das  ;beste  Lob,  das  sie  dem 
Buche  spendet,  ist  der  Erfolg,  den  sie  an  sich  erlebt.  Es  hat  sie 
von  der  Hypochondrie ,  die  sie  seit  einiger  Zeit  quälte ,  geheilt  (48). 
Darauf  kommt  sie  wiederholt  zurück  (68). 

Das  Buch  von  der  Einsamkeit  erschien  damals  schon  zum  dritten 

1)  Die  der  Verbindung  der  Kaiserin  mit  G.  Orlof  entstammende  Elisabeth 
Alexejew  wurde  die  Frau  des  bekannten  deutschen  Dichters  Maximilian  Klinger, 
des  Landsmanns  und  Jugendgenossen  von  Goethe.    Brückner,  Katharina  S.  602. 

2)  Weikard,  Denkwürd.  aus  der  Lebensgeschichte  (1802)  S.  233  u.  24ti. 
Qött.  gel.  Am.  1906.  Nr.  12  68 


970  r.ütt.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Male.  Die  beiden  ersten  Ausgaben  1756  Zürich,  1773  Leipzig  waren 
bescheidene  Büchlein,  von  wenig  hundert  Seiten.  Die  dritte  Auflage, 
in  vier  großen  Oktavbänden,  bedeutend  erweitert,  von  dem  Verleger 
Reich  besonders  stattlich  hergestellt  und  von  Zimmermann  mit  einer 
gewissen  Heimlichkeit  vorbereitet ,  wie  wir  aus  der  Studienreise  des 
Karlsruher  Hofvikars  Rinck  erfahren*),  erschien  seit  1784  und  war 
der  Kaiserin  in  den  beiden  ersten  Bänden  zugänglich  geworden,  als 
sie  jene  Einladung  an  den  Verfasser  richtete.  So  schmeichelhaft  die 
Einladung  war,  die  der  russische  Ministerresident  in  Hamburg,  Herr 
V.  Groß,  übermittelte  und  mit  dem  Geschenk  eines  Brillantringes 
namens  der  Kaiserin  begleitete,  Zimmermann  war  durch  sein  körper- 
liches Leiden ,  das  ihm  weite  Reisen  nicht  gestattete ,  genötigt  sie 
abzulehnen.  Die  Kaiserin,  die  ihn  gern  persönlich  kennen  gelernt 
hätte,  mußte  sich  deshalb  begnügen  mit  ihm  in  Korrespondenz  zu 
treten :  je  me  contenterai  du  plaisir  de  vous  ecrire  de  tems  en  tems. 
lorsque  Toccasion  s'en  presentera  (2). 

So  eröffnete  sich  dieser  Briefwechsel,  durch  ein  Buch  geknüpft, 
das  die  Leserin  von  ihrer  Schwermut  geheilt  wie  der  Autor  sich 
durch  seine  Abfassung  aus  tiefem  Kummer  aufgerichtet  hatte*).  Die 
Korrespondenz  wurde,  solange  sie  bestand,  lebhaft  von  beiden  Seiten 
geführt,  und  bildete  einen  wahren  Gedankenaustausch  zwischen  beiden. 
Es  sind  nicht  lose  aneinander  gereihte ,  chronologisch  sich  folgende 
Briefe,  sondern  jeder  nachfolgende  Brief  knüpft  an  die  Äeußerungen 
des  vorangehenden  an,  nimmt  sie  auf,  beantwortet,  rückt  sie  zurecht, 
widerlegt  oder  schränkt  sie  ein.  Der  Löwenanteil  des  Interesses  fällt 
den  Briefen  der  Kaiserin  zu.  Nicht  blos  wegen  ihrer  Persönlichkeit. 
Der  Inhalt  ist  viel  reicher,  mannigfaltiger  und  auch  die  Form  an- 
ziehender als  bei  dem  geistreichen  Schriftsteller,  der  seine  Briefe 
mit  Schmeicheleien  und  byzantinischen  Redewendungen  anfüllen  zu 
müssen  glaubt,  die  niemanden  kleiden,  am  wenigsten  einen  freien 
Schweizer.  Sie  werden  dadurch  entsetzlich  monoton.  Doch  gehen 
sie  gottlob  in  diesen  Ton  nicht  auf.  Die  Kaiserin  selbst  hat  den 
Briefwechsel  gleich  in  seinen  Anfängen  charakterisiert.  Als  erst 
sechs  Briefe,  vier  von  Zimmermann,  zwei  von  Katharina  geschrieben 
waren,  äußerte  sie  gegen  ihren  Pariser  Berichterstatter  Grimm 
(l.  Juni  1785),  extempore  sei  sie  in  eine  Korrespondenz  mit  dem 
Verfasser  des  Buches  von  der  Einsamkeit  gekommen  »pour  parier 
raison  et  folie< ,    und   nun   schreibe  er  ihr  auch   buchstäblich  »des 

1)  (;hri8t.  Friedr.  Rinck,  Studienreise  1788/84,  nach  dem  Tagebuche  des  Vf«. 
hg.  V.  M.  Geyer,  Altenbg.  1897  S.  192. 

2)  Ischer,  .1.  0.  Zimmermannus  Leben  und  Werke  (Bern  ld9S)  S.  171 
und  824. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmermann  971 

lettres  aussi  raisonnables  que  folles<.  Sie  fügt  hinzu:  »c'est  aussi 
une  t€te  qui  va  et  ne  sait  oü,  mais  toujours  plus  loin  qu'on  ne  s'en 
avise  ordinairement« :  ein  Urteil,  das  sich  weniger  auf  den  Korrespon- 
denten als  den  Autor  Zimmermann  beziehen  wird.  Eine  Bemerkung, 
die  sie  daran  knüpft,  und  die  bisher  von  den  Bearbeitern  seiner 
Biographie  übersehen  worden  ist,  ist  geeignet,  die  Unklarheiten  über 
Z.s  Berufung  nach  Rußland  zu  beseitigen.  J'ai  vpulu,  qu'il  vienne  ici; 
il  le  voulait  aussi;  mais  quand  il  Ta  voulu,  je  Ten  ai  dissuad^e, 
parcequMl  a  une  maladie  qui  ne  lui  permet  pas  de  voyager,  et  malgr6 
cela  il  venait  (wäre  er  gekommen),  mais  moi  je  ne  voulais  pas  qu'il 
mourüt^).  Diese  Worte  liefern  den  besten  Kommentar  zum  Briefe 
der  Kaiserin  vom  22.  Febr.  1785  (4)  wie  zu  dem,  was  Zimmermann, 
Weikard  und  Marcard  über  den  Anfang  seiner  Beziehungen  zur  Kai- 
serin vorgebracht  haben. 

Den  Einfluß,  den  Z.  bei  der  Kaiserin  erlangte,  verwandte  er  für 
seine  Freunde.  Im  Zeitalter  der  Aufklärung  hatte  wer  am  öffent- 
lichen Leben  teilnahm,  will  heißen  wer  schriftstellerisch  sich  betätigte, 
überall  seine  Freunde,  manche,  die  er  nie  gesehen,  nur  im  Austausch 
von  Briefen  kennen  gelernt  hatte.  Ein  Arzt  von  dem  Renommee 
Zimmermanns  wurde  viel  aufgesucht,  in  seinem  Wohnsitz  Hannover, 
oder  in  Pyrmont,  wo  sich  alljährlich  Aristokratie,  Beamtenschaft, 
Gelehrtenwelt  ein  Stelldichein  gab.  Die  Schützlinge,  denen  er  sich 
hülfreich  erwies,  waren  Aerzte,  die  er  im  Auftrage  der  Kaiserin  für 
Rußland  angeworben  hatte  und  die  bald  mit  dem  ihnen  zugesicherten 
Gehalt,  bald  mit  dem  ihnen  angewiesenen  Wohnsitz  nicht  zufrieden 
waren.  Für  jeden  weiß  er  ein  gutes  Wort  einzulegen.  Oder  es 
waren  literarisch  bekannte  Persönlichkeiten,  wie  Georg  Forster  (53, 
60),  der  dramatische  Schriftsteller  August  von  Kotzebue  aus  Weimar, 
der  jung  gleich  zahllosen  andern  sein  Glück  in  Rußland  gesucht 
hatte  (unten  S.  988).  Einmal  versuchte  es  Z.  auch  mit  einer  poli- 
tischen Empfehlung.  Sie  betraf  den  Marquis  Lucchesini,  den  er  wäh- 
rend jener  denkwürdigen  Wochen  vor  dem  Tode  Friedrichs  des  Großen 
in  Berlin  kennen  gelernt  hatte.  Kr  berichtete  damals  nur  mit  we- 
nigen, aber  charakteristischen  Worten  über  seinen  Aufenthalt  an  die 
Kaiserin.  >Der  König  von  Preußen,  der  nicht  mehr  an  die  Medizin 
als  an  das  Evangelium  glaubte,  wollte  mich  sehen  und  sprechen  wäh- 
rend der  letzten  Tage  seines  Lebens.  Ich  war  in  Potsdam  vom 
24.  Juni  bis  zum  10.  Juli;  ich  sah  den  König  dreiunddreißigmaP) ; 
ich   hatte    die   Ehre   ihm   über    tausend  Dinge   alle  Tage   mehrere 

1)  Lettres  de  Catherine  II.  ä  Grimm,  hg.  v.  J.  Grot,   Petersbg.  1878  S.  343. 

2)  Ebenso  Zimmermann,  über  Friedrich  d.  G.  und  meine  Unterredungen  mit 
ihm  (1788)  S.  1. 

68* 


I 


972  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Stunden  lang  zu  sprechen  und  das  Olück  ihn  zufrieden  zu  stellei 
obschon  ich  ihm  nichts  verspräche  (33).  Das  Gespräch  kam  auc 
auf  die  Kaiserin  Katharina,  von  der  Friedrich  behauptete,  sie  S4 
krank.  Eine  Ansicht,  die  er  schon  seit  langer  Zeit  hegte  und  wiedei 
holt  geäußert  hatte,  so  daß  sie  auch  der  Kaiserin  zu  Ohren  gekomme 
war.  >Das  ließ  mich  glauben,  der  König  müsse  recht  krank  sein 
denn  wer  sich  wohl  befindet,  beschäftigt  sich  nicht  mit  der  Kranli 
heit  anderer  Leute«,  meinte  die  Kaiserin  (36).  Z.  wollte  dem  Koni 
jene  Ansicht  ausgeredet  und  den  Erfolg  erzielt  haben,  daß  die  Untei 
redung  abschloß  >par  un  hommage  que  le  Roi  de  Prusse  mourai 
rendoit  ä  Votre  Majestö  et  ä  Sa  gloire<  (34).  Die  Kaiserin  gin 
auf  diese  Huldigung  nicht  weiter  ein  und  meinte  nur,  sie  wisse  nichi 
ob  Friedrich  ihr  immer  Gerechtigkeit  habe  widerfahren  lassen;  da 
habe  sie  aber  niemals  gehindert,  ihm  gerecht  zu  werden  (36).  Di 
Empfehlung  Lucchesinis,  die  Zimmermann  an  die  Erzählung  diese 
Tage  in  seinem  Briefe  vom  28.  November  1786  knüpfte  (39),  lie 
die  Kaiserin  lange  Zeit  unbeachtet.  Erst  zwei  Jahre  später,  als  2 
die  Bitte  Lucchesinis  erwähnte  >de  lui  apprendre  ä  m^riter  les  bont^ 
de  Votre  Majesty«  (83),  antwortete  sie,  das  Bestreben  ihren  Angele 
genheiten  zu  schaden  sei  jedenfalls  nicht  der  rechte  Weg  dazu  (89) 
Der  von  Z.  so  gerühmte  ami  du  feu  roy,  der  zum  Gresandten  ftti 
Petersburg  bestimmt,  bei  seinem  Aufenthalt  in  Warschau  so  großei 
Einfluß  gewann,  daß  man  in  Berlin  vorzog,  ihn  zum  Gesandten  bei 
der  Republik  Polen  zu  bestellen,  gefalle  sich  offenbar  darin,  dag 
Gebäude  zu  zerstören,  das  Friedrich  d.  G.  errichtet  hatte.  DaS 
Preußen  seines  Nachfolgers  verbinde  sich  mit  ihren  Feinden ,  stärke 
die  Polen  und  unterstütze  die  Türken.  Sie  erumert  an  ihre  Ver- 
dienste um  Preußen  im  siebenjährigen  Kriege.  Zweimal  kommt  sie 
auf  den  Gedanken  zurück  —  29.  Jan.  1789,  26.  Jan.  1791  — :  on 
n'a  pas  oublie  encore  ches  nous  que  ....  malgr^  le  genie  sup^rieur 
du  Roy  de  Prusse,  les  tr^sors  prodigues  de  TAngleterre,  les  häros 
qui  commandoient  les  armies,  le  feu  Roy  naye  vu  envahie  jusqu'a 
sa  capitale,  et  que  ce  fut  Catherine  II,  qui  a  eu  Thonneur  de  rendre 
ä  ce  Prince  le  royaume  de  Prusse  et  une  bonne  partie  de  la  Pome- 
ranie  (90,  132). 

Das  Gebiet  der  hohen  Politik,  das  in  diesen  Briefen  betreten 
ist,  wird  erst  in  den  letzten  Jahren  das  Grundthema  des  Briefwech- 
sels. Bis  dahin  ist  er  von  friedlichem  Interessen  beherrscht,  ganz 
wie  Z.  Friedrich  d.  G.  auf  seine  Frage  berichtet  hatte:  Literatur 
Menschenliebe  und  Philosophie  sind  der  Inhalt  der  Briefe,  womit  die 
Kaiserin  mich  beehrt').    Wir  sehen  die  Kaiserin  an  der  Arbeit,   die 

1)  Zimmermann,    über  Friedrieb   d.  G.   und   meine  UnterredoDgen   mit   ihm 

(^17»8)  S.  08. 


BriefwerliRel  zwischen  Katharina   II.  und  J.  0.  Zimmermann  ^73 

Kultur  ihres  weiten  Reiches  zu  heben.  Literarische  Arbeiten  und 
Unternehmungen,  über  die  ich  an  anderer  Stelle  berichtet  habe  (Nach- 
richten d.  Kgl.  Ges.  der  Wiss.  1905  S.  316 ff.),  spielen  die  Haupt- 
rolle. Die  Kaiserin  läßt  Zimmermanns  Schrift  >vom  Nationalstolz < 
ins  Russische  übersetzen  (17),  sicherlich  in  der  Gestalt,  die  sie  seit 
1768  erhalten  hatte  (Ischer  S.  269).  Z.  engagiert  deutsche  Aerzte, 
besonders  dazu  bestimmt  sich  in  dem  durch  die  Siege  Potemkins  er- 
oberten Taurien  niederzulassen.  Er  hat  Vollmacht  die  Bedingungen 
festzustellen,  Reisekosten  und  Gehalte  zu  bestimmen.  Leider  ist  die 
Liste  der  Aerzte  nicht  vollständig  erhalten,  dem  Briefe  Nr.  14  vom 
3.  Oktober  1786  liegt  nur  deren  Schluß  bei  (34).  Ueberwiegend 
gehörten  sie  dem  nördlichen  Deutschland  an,  waren  zum  Teil  ver- 
heiratete Leute.  Unter  ihnen  war  auch  ein  Sohn  des  Göttinger  Phi- 
lologen Heyne  (53),  Carl,  der  glücklich  vorwärts  kam,  aber  1794  bei 
den  Feldzügen  in  Polen  von  einem  Nervenfieber  dahin  gerafft  wurde, 
eine  Nachricht,  die  erst  nach  fast  zwei  Jahren  an  die  Familie  ge- 
langte (Heeren,  Heyne  S.  348).  Daß  die  Verhandlungen  mit  ihnen 
Arbeit  und  Verdruß  kosteten,  ist  glaublich  genug.  Z.  in  seiner  Weise 
meinte,  die  Anwerbung  eines  Regiments  Husaren  sei  ein  leichteres 
Geschäft  (33).  Ein  unangenehmes  Nachspiel  der  Angelegenheit  war, 
daß  sie  ihn  mit  dem  alten  Freunde  Weikard  in  Petersburg  entzweite 
(33).  Weikard,  offenbar  ein  fahriger,  unzufriedener  Mann,  unzufrieden 
auch  mit  seiner  Stellung  am  Hofe,  obschon  er  der  Kaiserin  offenbar 
gefallen  hatte ,  hatte  sich  Zimmermann  gegenüber  und  namentlich 
bei  der  Anstellung  der  deutschen  Aerzte  in  Rußland  unzuverlässig 
benommen  ^).  Die  Kaiserin,  die  anfangs  in  der  Entzweiung  der  beiden, 
die  sie  stets  als  Freunde  gekannt  hatte,  nichts  als  ihr  unbegreifliche 
badinage  erblickte  (36),  kam  später  von  ihrem  günstigen  Urteil  über 
Weikard  zurück  und  hielt  ihn  besonders  für  undankbar').  Für  Z. 
erwuchs  aus  der  Sache  eine  lang  nachwirkende  literarische  Feind- 
schaft. In  verschiedenen  Erklärungen  und  Schriften,  noch  nach  dem 
Tode  Z.'s,  bemühte  sich  Weikard,  alles  was  Z.  über  seine  Beziehungen 
zur  Kaiserin  erzählt  hatte,  als  unberechtigte  Renommage  zu  verun- 
glimpfen^. Auf  die  > Denkwürdigkeiten  aus  der  Lebensgeschichte« 
Weikards  v.  J.  1802  antwortete  im  Jahre  darauf  Marcard  durch 
die  erste  Veröffentlichung  aus  dem  ihm  im  Nachlasse  Zimmermanns 
zugänglichen  Briefwechsel  seines  Freundes  mit  der  Kaiserin ;  über  das 
Unzureichende  dieser  Ausgabe  habe  ich   mich  schon  früher  a.  a.  0. 

1)  S.  39.   Ischer  S.  209.   Marcard  S.  109. 

2)  Grimm  S.  299.  300.  447. 

3)  Ischer  S.  209  ff. 


974  Gott.  jrel.  Anz.  11K»6.  Nr.   12 

S.  310  ausgesprochen.    Die  jetzt  vorliegende  neue  Ausgabe  läßt  en>t 
recht  erkennen,  wie  mangelhaft  die  alte  war. 

Von  den  35  Briefen  der  Kaiserin  teilte  Marcard  nur  20,  vod 
den  44  Zimmermanns  nur  10  mit,  darunter  einen  in  unsere  Samm- 
lung nicht  aufgenommenen  an  den  Grafen  Besborodko.  Die  Briefe 
der  Kaiserin,  welche  Marcard  abdruckt,  leiden  an  vielfachen  Aus- 
lassungen: einzelne  Namen  wie  Lucchesini  (383),  der  Berliner  Hof 
(386),  Gustav  III.  v.  Schweden  (386)  und  ganze  Sätze  z.  B.  scharfe 
Aeußerungen  gegen  Friedrich  Wilhelm  II.  v.  Preußen  und  seine  die 
Polen  begünstigende  Politik  sind  unterdrückt.  Als  Marcard  sein 
Buch  publizierte,  war  das  erklärlich,  mochte  auch  durch  die  Zensur- 
verhältnisse  erzwungen  sein.  Kurzsichtig  dagegen  war  es,  dem 
dauernden  Werte  des  Buches  dadurch  zu  schaden,  daß  es  den  Streit 
zwischen  Z.  und  Weikard  in  den  Vordergrund  rückte  und  ihn  doch 
nicht  so  darzustellen  wußte,  daß  was  sachlich  interessant  daran  war, 
zum  deutlichen  und  objektiven  Ausdruck  kam. 

Von  den  Briefen  Zimmermanns  hatte  Bodemann  in  seinem  Boche : 
Joh.  Georg  Zimmermann  (Hannover  1878)  vereinzelt  Gebrauch  ge- 
macht, einige  auch  schon  abgedruckt.  Aufgefallen  ist  mir  dabei,  daß 
ein  Brief  v.  4.  Juli  1788  in  dem  frühem  Abdruck  S.  137  zwei  ganze 
und  wichtige  Sätze  mehr  enthält  als  in  der  vorliegenden  Sammlung 
(72)  ^),  in  der  es  doch  auf  Vollständigkeit  ankam.  Die  Ausgabe  be- 
schränkt sich  auf  die  wörtliche  Wiedergabe  der  Briefe  und  eine 
knappe  Einleitung  (V — XXV),  die  über  den  innem  Zusammenhang 
der  Briefe,  ihren  politischen  Hintergrund  und  die  wichtigsten  Lebens- 
umstände Z.\s  orientiert'),  lieber  die  Herkunft  der  Briefe  erfahren 
wir  aus  ihr  nichts.  Wir  sind  also  auf  das  angewiesen ,  was  Bode- 
manns  Verzeichnis  der  >  Handschriften  der  kgl.  öffeutl.  Bibliothek 
zu  Hanno ver<  (Hannover  1867)  S.  389  mitteilt.  Danach  sind  die 
Briefe  mit  dem  ganzen  litterarischen  Nachlasse  Zimmermanns,  den 
seine  Witt  we,  die  im  J.  1825  verstorbene  zweite  Frau,  eine  Tochter  des 
Hofmedicus  v.  Berger  in  Celle,  der  königlichen  Bibliothek  vermachte, 
1826  in  diese  gelaugt.  Die  Briefe  der  Kaiserin  sind  im  Original, 
bald  mit,  bald  ohne  Unterschrift,  erhalten;  nur  einmal  ist  blos  der 
Schlußsatz  eines  Briefes  von  der  Hand  der  Kaiserin  hinzugefügt 
(106).    Die  Briefe  Zimmermanns  sind  nach  den  Konzepten  abgedruckt 

1)  On  est  alh'>  etc.  und  mes  reflexions  contre  la  manie  etc. 

2)  S.  XII  ist  Ende  Dezember  1788  in  1787  zu  bessern;  einen  Kaiser  von 
Oesterreicb  gab  es  1789  nocb  nicbt  (S.  XVIII).  Cette  trempe  d'äme  (88)  läßt 
sich  nicht  mit  Härte  des  Geistes  (XXI)  wiedergeben;  Zimmermann  in  seiner 
Uebersetzung  (Fragm.  111371)  hilft  sich  mit  einer  Cmschrdbong ;  am  ehesten 
ließe  OS  sich  durch  Gesinnung,  Geistesrichtong  ausdrücken. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  11.  und  J.  0.  Zimmermann  J)75 

Im  Gegensatz  zu  den  Ueberschwänglichkeiten ,  mit  denen  Zimmer- 
mann seine  Briefe  schließt,  enden  die  der  Kaiserin  einfach:  adieu, 
soyes  bien  assur^  de  mon  estime.  Catherine  (115),  oder  adieu,  port^s 
V0U8  bien  (110,  111).  Die  Anrede,  wenn  überhaupt  eine  gebraucht 
ist,  lautet:  Mr.  de  Zimmermann  (139,  41)  oder  Mr.  le  chevalier  de 
Z.  (73),  in  Erinnerung  an  den  Wladimirorden,  den  ihm  die  Kaiserin 
1786  verliehen  hatte  (32):  ein  Orden,  der,  wie  damals  G.  Brandes 
an  Heyne  schrieb,  alle  andern  übertrifft,  weil  damit  ein  Gehalt  von 
300  Rubel  verbunden  ist.  Hier  hat  Galenus  also  beides,  opes  und 
honores,  bewirkt  (Briefw.  IX  62). 

Orthographie  und  Interpunktion  in  den  Briefen  der  Kaiserin 
sind  mangelhaft.  Dem  Leser  würden  kurze  Hinweise  die  Lektüre 
erleichtert  haben,  da  er  jetzt  oft  in  Ungewißheit  bleibt,  ob  ein  Druck- 
fehler (S.  41  Klovie  st.  Kiovie,  S.  83  recu  st.  v6cu ;  S.  88  en  eue  st. 
a  eue;  S.  100  lä  st.  la;  S.  70  pour  vor  sa  defense  ausgelassen)  oder 
ein  Versehen  der  Kaiserin  vorliegt.  So  wird  unzweifelhaft  statt: 
buvant  du  vin  modernement  (49^  zu  lesen  sein:  mod^r^ment,  wie 
schon  Marcard  las  (354).  Das  enloy^  ist  zu  bessern  in  employ^, 
wie  in  Bodemanns  früherer  Publikation  (126)  gelesen  wird.  Die 
Vergleichung  mit  der  Grimmschen  Korrespondenz  zeigt,  daß  Knosing 
(106)  in  Knorring  und  Tokchan  in  Fokchan  (106)  zu  bessern  ist. 
S.  59  ist  sicherlich  pas  avec  ces  mots  zu  ergänzen.  Der  Styl  der 
Briefe  erfreut  durch  seine  Frische  und  Lebendigkeit.  Kurz  uud  klar 
weiß  die  Schreiberin  ihre  Gedanken  auszudrücken.  Sie  findet  offen- 
bar ohne  lange  zu  feilen  die  zutreffende  Form  und  glückliche  Wen- 
dungen, die  Z.  nicht  selten  in  seinen  Antworten  wieder  aufnimmt, 
wie  z.  B.  wenn  sie  die  Staaten,  auf  deren  Stimme  es  ankommt,  be- 
zeichnet als  puissances  qui  ont  voix  en  chapitre  (143.  146).  Umge- 
kehrt scheint  die  Kaiserin  Z.'s  Ghoiseulades  aufgenommen  zu  haben 
(114.  121). 

So  zahlreich  die  Briefe,  die  uns  erhalten  sind,  so  ist  doch  die 
Sammlung,  wie  sie  uns  vorliegt,  nicht  vollständig.  Nicht  nur,  daß 
die  Beilagen,  die  die  Briefe  begleiteten,  verschwunden  sind,  die  Kai- 
serin zitiert  einigemale  Briefe  Zimmermanns:  v.  25.  April  1788  (66), 
V.  18.  Sept.  1789  (111),  v.  10.  Mai  1791  (140),  für  welche  sich  keine 
Belege  finden.  Das  Zitat  eines  Briefes  vom  28.  Janr.  1791  (135)  ist 
nur  Schreib-  oder  Druckfehler  für  8.  Janr. 

Prüft  man  den  Inhalt  der  von  der  Kaiserin  ausgegangenen  Briefe 
auch  nur  im  Allgemeinen,  so  ergeben  sich  zwei  Klassen  von  Schreiben. 
Die  eine,  und  sie  bildet  die  Mehrzahl,  stammt  wie  aus  der  Hand 
der  Kaiserin,  auch  aus  ihrem  Geist;  die  andere  rührt  blos  von  ihrer 
Hand  her.    Die  Reihe  der  letzteren  beginnt  mit  Nr.  32  vom  10./21. 


970  Tiött.  gel.  Anz.   IIMMJ.  Nr.  12 

Juli  1788,  der  sich  selbst  im  Eingang  als  Auszug  aus  dem  Briefe 
des  Admirals  Greigh  über  einen  gegen  die  Schweden  am  6.  Juli  ge- 
wonnenen Seesieg  bezeichnet  (73)^).  Dann  folgt  aber  seit  Ende 
1788  eine  Reihe,  die  ohne  andern  Eingang  als  das  Datum  kurze 
Kriegsberichte  oder  Siegesbulletins  enthalten  und  nichts  weiter  (n.  38, 
43,  46,  47,  48,  50).  Es  ist  bisher  unbeachtet  geblieben ,  daß  die- 
selben Briefe  wörtlich  oder  fast  wörtlich  in  der  Korrespondenz  der 
Kaiserin  mit  Grimm  wiederkehren.  Den  angegebenen  Nummern  ent- 
sprechen in  der  Grimmschen  Korrespondenz  Nr.  184,  186,  187,  188. 
189,  190.  Wenn  nicht  einer  der  Sekretäre  der  Kaiserin  eine  ihr 
sehr  ähnliche  Hand  schrieb,  muß  man  also  annehmen,  daß  sie  sich 
die  Mühe  gab,  um  ihren  Korrespondenten  Z.  schleunigst  zu  unter- 
richten, eigenhändig  die  eingelaufenen  Siegesbulletins  abzuschreiten. 
Z.  stellt  wiederholt  der  Kaiserin  Katharina,  ihrer  Tätigkeit  und 
Tatkraft  die  europäischen  Könige  gegenüber,  qui  v^g^tent  au  foni  de 
leurs  palais,  Karten  spielen  (81)  und  sich  an  dem  Glanz  ihrer  Kronen 
genügen  lassen,  während  die  Kaiserin  des  Ruhmes  genießt  zu  wBsen, 
wie  man  solchen  Glanz  verdient  (41).  In  der  zu  jener  Zeit  belitbten 
(vgl.  Brückner  S.  226)  Einkleidung  einer  Rede,  die  er  bei  einei  Be- 
gegnung in  den  elysäischen  Feldern  dereinst  halten  würde ,  gikt  er 
eine  eingehende,  natürlich  überaus  schmeichelhafte  Charakteristik  der 
Herrscherin  (80).  Sie  geht  auf  den  Scherz  ein,  nimmt  Satz  für  Satz 
seine  Schilderung  durch  und  weist  fem  deren  Uebertreibungen  zurück 
(87  ff.).  >Sie  haben  die  Philosophie  und  die  schönen  Künste  gelebt 
und  ermuthigt< ,  hatte  Z.  gerühmt.  >Ich  habe  die  Philosophie  ge- 
schätzte erwidert  die  Kaiserin.  Um  das  zu  würdigen,  muß  man  sich 
erinnern,  wie  freigebig  das  Zeitalter,  das  sich  gern  das  philosophische 
nannte,  mit  den  Worten  Philosoph  und  Philosophie  umging.  Wie 
Friedrich  d.  G.  sich  1728  in  einem  Briefe  an  seine  Schwester  als 
Fr6d^ric  le  philosophe  unterschrieb'),  so  entwarf  Katharina  ein  Bild 
ihrer  seihst  unter  dem  Titel:  Porträt  der  fünfzehnjährigen  PhLo- 
sophin^).  Ihren  Satz:  j'ai  fait  cas  de  la  philosophie  (88)  motiviert 
sie :  parceque  mon  äme  a  toujours  6te  singuliörement  repnblicaine. 
Ein  bei  ihr  sehr  beliebter  Ausspruch,  der  u.  a.  in  ihrem  Entwarf 
der  eigenen  Grabschrift  wiederkehrt  (Brückner  682).  Wem  solche 
Gesinnung  mit  der  Unumschränktheit  ihrer  politischen  Stellung  un- 
vereinbar erschien,  dem  antwortete  sie,  niemand  in  Rußland  werde 
ihr  vorwerfen,  ihre  Macht  mißbraucht  zu  haben  (88).  Die  schönen 
Künste  habe   sie  aus  reiner  Neigung  geliebt.     Was  sie  selbst  ge- 

1)  Vgl.  Briefe  an  Grimm  S.  459  Anm. 

2)  Oeuvres  27, 1  S.  XIII. 

3)  Memoiren  der  K.  Katharina  hg.  v.  Herzen  1859  S.  27. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  IL  und  J.  (i.  Zimmermann  977 

schrieben,  wisse  sie  nach  seinem  geringen  Werte  zu  beurteilen.  Sie 
habe  vielerlei  getrieben,  nur  zu  ihrem  Vergnügen.  Man  mache  zu- 
viel Aufhebens  davon.  An  andern  Stellen  hat  sie  ihrer  literarischen 
Arbeiten  als  Erziehungsmittel  für  ihre  Angehörigen,  für  ihr  Volk 
gedacht,  als  Gegenwirkungen  durch  das  Mittel  der  Bühne,  um  ver- 
derbliche Richtungen  zu  verspotten,  wie  sie  sich  damals  von  den 
europäischen  Höfen,  insbesondere  von  Frankreich  aus  auch  nach 
Rußland  zu  verbreiten  anfingen.  Cagliostro  hat  dem  Kardinal  Rohan 
weiß  gemacht,  er  solle  mit  Julius  Cäsar  soupieren  und  mit  Cleopatra 
zu  Bett  gehen  (22),  scherzte  Zimmermann,  und  anderwärts  spielen 
Rosenkreuzer  und  Geisterseher  ähnliche  Rollen.  >Le  Schaman  de 
Siberie<,  den  die  Kaiserin  1787  geschrieben  hat,  will  ähnliche  Betrüger 
in  Rußland  entlarven;  sie  ist  neugierig,  ob  Nicolai  in  Berlin,  den 
Z.  zur  Veranstaltung  deutscher  Uebersetzungen  ihrer  Lustspiele  ver- 
anlaßt hatte,  auch  dieses  verlegen  werde  (49).  Z.  konnte  sie  darüber 
beruhigen,  er  hatte  in  Pyrmont  schon  die  ersten  Druckbogen  des 
Buches,  das  die  Kaiserin  für  Contrebande  in  Berlin  hielt,  von  Nicolai 
vorgewiesen  erhalten  (52).  Das  Wichtigste  in  der  Unterhaltung  ist 
was  die  Kaiserin  über  ihre  >conduite  politique  <  äußert.  Z.  hatte 
die  Aufgabe,  die  sie  sich  gesetzt,  darin  gefunden:  ihre  Völker  ver- 
nünftig, gerecht  und  glücklich  zu  machen  (81).  Wenn  sie  das  auch 
gelten  lassen  will ,  so  weiß  sie  doch ,  daß  jeder  das  Glück  auf  seine 
Weise  versteht,  und  die  menschliche  Rasse  zur  Unvernunft,  zur  Un- 
gerechtigkeit geneigt  ist  (88).  Von  ihren  politischen  Plänen  glaubt 
sie,  daß  sie  »les  plus  utiles  pour  mon  pays  et  les  plus  supportables 
aux  autres«  seien.  Ihrem  Volke  stellt  sie  das  günstige  Zeugnis 
seiner  steten  Bereitwilligkeit  zu  Opfern  für  das  ößentliche  Wohl  aus 
(91).  Sie  tritt  für  ihre  Unterthanen  ein,  verteidigt  ihre  hervorra- 
genden Männer  gegen  Verunglimpfungen  und  Verkleinerungen  — 
auch  gegen  die,  welche  die  Heldeu  Rußlands  für  die  Fremde  in  An- 
spruch nehmen  wollen  ^).  Sie  weiß  sich  und  ihr  Land  von  Eroberungs- 
sucht frei.  Man  hat  keinen  Grund,  um  Rußland  in  Sorgen  zu  sein. 
Es  will  nicht,  wie  man  es  beschuldigt,  alle  Regierungen  umstürzen, 
weder  durch  Gewalt  noch  durch  Ränke  oder  durch  Geld.  Wenn 
Rußland  die  Welt  überrascht  hat,  so  beruhte  das  nur  auf  der  Un- 
kenntnis; man  wußte  nicht,  welche  Kräfte  es  zu  entwickeln  im 
Stande  sei  (132).  Sie  selbst  hat  niemanden  gehaßt,  niemanden  be- 
neidet; für  Unbilden  hat  sie  sich  gerächt,  aber  auch  gezeigt,  daß  sie 
uneigennützig  und  versöhnlich  zu  handeln  weiß.  Alles  in  allem  ge- 
nommen, glaubt  sie  der  Menschlichkeit  gedient  zu  haben :  Thumanit^ 

1)  Vgl.  Nr.  57  und  was  ich   zur  Erläuterung  dieses  Briefes   in   den  Nach- 
richten ▼.  d.  kgl.  Ges.  d.  Wiss.  1906  S.  242  bemerkt  habe. 


yih  (Jott.  gel.  Adz.  1906.  Nr.  12 

en  general  a  eoe^)  en  moi  on  ami,  qui  ne  s'est  dementi  en  aacone 
occasion  (88). 

Es  währte  nicht  hinge,  daß  diesen  akademischen  Erortenmgei 
der  praktische  Kommentar  folgte.  Während  der  letzten  im  Brief- 
wechsel behandelten  Jahre  hatte  Roßland  seine  Erwerbongen  in  der 
Krim  gegen  die  Angriffe  der  Türken  za  Terteidigen.  Die  Erregimg 
der  Zeit  hat  einen  getreaen  Ausdruck  in  Aea  Briefen  gefondeo. 
Nicht  blos  in  denen  der  Kaiserin,  ihr  Korrespondent  teilt  den  Schwnng, 
der  von  ihr  aasgeht,  übertrifft  ihn  zuweilen  noch.  Das  Sammeln  too 
Wortverzeichnissen,  das  Dichten  von  Lustspielen  ist  vorbei,  die  Kai- 
serin geht  auf  in  Politik.  Petersburg  ist  ein  Kriegslager  und  Katha- 
rina wie  in  einem  Hauptquartier  (74).  Sie  hat  es  jetzt  mit  den 
Türken  und  ihren  Helfershelfern  in  Europa  zu  tun ;  sie  gesteht  offen, 
les  Turks  Chretiens  sont  pires  que  les  Turks  Turics  (74).  Der  Mi- 
nister Choiseul  und  seine  Politik  lebt  wieder  auf.  Friedrich  d.  6.  machte 
sich  über  diese  Politik  lustig;  sein  Nachfolger  ist  tätig,  sie  mitzu- 
machen (100).  Der  Empfänger  dieser  kaiserlichen  Ergüsse,  un  pauvre 
petit  individu  (112),  un  humble  philanthrope  (97),  un  ami  de  Thu- 
manite,  wie  er  sich  nennt,  versteht  nichts  von  Politik,  bescheidet 
sich,  daß  seine  Wünsche  nicht  immer  mit  denen  der  Kabinette  stim- 
men (108),  ist  aber  doch  unbescheiden  genug,  drei  Wünsche  vorzu- 
bringen und  sie  als  Forderungen  der  Gerechtigkeit  zu  bezeichnen 
(108):  Vertreibung  der  Türken  aus  Europa,  Befreiung  der  Schweden 
von  dem  Despotismus  Gustavs  IIL,  Befestigung  der  von  den  Fran- 
zosen durch  den  Bastillesturm  errungenen  Freiheit.  Es  ist  von  Wert, 
das  Datum  dieser  Aeußerung  zu  fixieren.  Sie  stammt  vom  8.  Sep- 
1789  und  ist  die  einzige,  die  einen  günstigen  Eindruck  der  franzö- 
sischen Revolution  auf  Z.  bezeugt  (108).  Rascher  als  andere  ist 
er,  der  als  einer  der  frühesten  das  Heraufziehen  einer  großen  Revo- 
lution vorausgesehen  hattet,  von  seinem  anfänglichen  Urteil  zurück- 
gekommen. Schon  der  nächste  Brief,  vom  11.  November  1789,  geht 
aus  einem  ganz  andern  Tone  (114). 

Der  schlichte  Philosoph  ist  nicht  blos  ein  passiver  Empfanger 
der  Nachrichten,  die  ihm  von  hoher  Hand  zukommen.  Er  ist  eine 
Art  Mittelsperson ;  wohl  nicht  ganz  ein  freiwilliger  Mitarbeiter  an  der 
Politik  der  Kaiserin.  Nicht  ohne  Absicht  läßt  ihm  Katharina  ihre 
Siegesbulletins  zugehen.  Die  Mitteilung  der  Kriegsdepeschen  ond 
Nachrichten  in  der  Neuen  Hamburger  Zeitung,  >les  gazettes  meilleares 
et  les  mieux  Writes  de  toute  TAllemagne«  nach  Zinunermanns  Urteil 
(60),   mißlingt  zwar,  da  die  Zeitung  die  Nachrichten  um  mindestens 

1)  So  ist  offenbar  statt  en  eae  zu  lesen. 

2)  Bodemann,  Zimmermann  S.  27.   Ischer  S.  270. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmermann  979 

acht  Tage  früher  hat  als  über  Hannover  (115).  Aber  Anknüpfungen 
nach  Berlin  und  London  gelingen  doch.  Z.  hat  überall  seine  Freunde, 
seine  Korrespondenten.  Den  in  Berlin  nennt  er  nicht.  Er  bezeichnet 
ihn  nur  als  einen  Edelmann,  dessen  Ansichten  oft  einen  entscheiden- 
den Einfluß  im  Berliner  Kabinet  geübt  und  denen  Lucchesinis  (oben 
S,  972),  über  dessen  Politik  ihn  erst  die  Kaiserin  belehrt  hat  (95), 
entgegengewirkt  haben.  Zimmermanns  Korrespondent  hat  einen  Aus- 
zug aus  dem  Briefe  der  Kaiserin  v.  29.  Janr.  1789  (n.  40)  an  ein 
Mitglied  des  Berliner  Kabinets  übersandt  (95)  und  jetzt  schon  die 
Wirkung  erzielt,  daß  man  den  Polen  anstatt  zum  Widerstand,  zur 
Nachgiebigkeit  rät  (104).  Man  darf  wohl  den  Freiherrn  v.  d.  Horst, 
der  bis  zum  J.  1774,  wo  er  sich  auf  sein  westfälisches  Gut  Halden 
zurückzog,  Staatsminister  Friedrichs  d.  0.  mit  dem  Vorsitz  in  den 
beiden  Departements  der  Accise  und  der  Fabriken  (Koser,  Friedrich 
d.  G.  Bd.  n394)  war,  für  den  Vermittler  halten,  denselben,  dem 
Z.s  Bücher  über  Friedrich  einen  großen  Teil  ihrer  Nachrichten  ver- 
danken. 

Besonders  zweifelhaft  war  die  Rolle,  die  England  in  dem  russisch- 
türkischen Konflikt  spielen  würde.  Eine  englische  Flotte  machte  sich 
im  Frühjahr  1791  kampfbereit,  man  wußte  nicht,  was  sie  im  Schilde 
führe  (147).  Sobald  sie  den  Sund  passiert,  hört  unsere  Korrespon- 
denz auf,  schreibt  die  Kaiserin  an  Z.  (139.  140).  Ihren  Brief  vom 
18./30.  April  nennt  er  einen  Abschied  voll  Güte  et  avec  la  foudre 
dans  sa  main  (141).  Voll  Entschlossenheit  sieht  sie  der  Ankunft  der 
Flotte  entgegen.  Sie  hat  immer  hohen  Wert  auf  die  Meinung  der 
englischen  Nation  gelegt  und  die  Freundschaft  des  Hofes  zu  besitzen 
geglaubt.  Lange  Zeit  war  ihr  auch  die  englische  Politik  günstig,  bis 
Mr.  Ainslie  (unten  S.  985)  Einfluß  gewann  und  die  Türken  unter- 
stützte (142).  Z.  in  seinem  Eifer  für  Katharina  et  pour  le  bien  du 
genre  humain,  wie  er  hinzuzufügen  nicht  versäumt,  sendet  eine  Ab- 
schrift jenes  Abschiedsbriefs  an  Jean  Audr6  de  Luc,  den  Vorleser 
der  Königin  (144).  Von  diesem  Freunde  hatte  Z.  schon  früher  der 
Kaiserin  gesprochen  und  ihn  als  >physicien  et  honnfite  homme  du 
premier  ordre<  vorgestellt  (82).  Er  war  der  Kaiserin  bekannt  als 
der  Verfasser  der  an  die  Königin  von  England  gerichteten  Briefe 
über  die  Schweiz  (89)^).  Sie  hatte  Teilnahme  für  ihn  gezeigt  und 
gefragt,  ob  de  Luc  blos  den  Titel  oder  das  Amt  eines  Vorlesers  habe 
und  den  Wunsch  hinzugefügt,  seine  Tätigkeit  möge  dazu  dienen,  den 
Kummer  der  Königin  über  die  Erkrankung  ihres  Gemahls  zu  mildern 
(89).     Die  Kaiserin   konnte  es  zufrieden   sein,   daß  ihr  Brief  vom 

1)  lieber  de  Luc  habe  ich  ausführlicher  gesprochen  in  d.  Ztschr.  d.  histor. 
Vereins  für  Niedersachsen  1905  S.  435. 


980 


Gott.  «el.  Anz.  1906  Nr.  12 


19.  April  1791  (n.  70)  in  England  bekannt  wnrde,  denn  der  Ans2 
wird  den  Schluß  nicht  verschwiegen  haben,  in  dem  sie  ihrem  Cor 
spondenten  versichert:  wo  man  sie  auch  angreife,  zu  Wasser  (h 
zu  Lande,  en  aucun  cas  vous  n'entender^s  dire  que  j'aye  acqme 
aux  indignity  qn'on  se  permetra  de  me  pr&crire  (139).  Z.,  der  ^ 
die  meisten  Hannoveraner  der  Zeit  gut  englisch  gesinnt  war,  wi 
nicht  müde,  die  Kaiserin  zu  versichern,  der  größte  Teil  der  ei 
lischen  Nation  stehe  auf  ihrer  Seite  und  gehöre  zu  ihren  eifrigst 
Bewunderem  (148.  149).  —  Die  politische  Vermittlerrolle,  die 
spielt,  macht  ihn  auch  nicht  wenig  eitel.  Er  besorgt,  seine  Brii 
nach  Rußland  würden  erbrochen  und  Abschriften  direkt  dem  Minist 
zugeschickt  »centre  lequel  je  parle  et  j'agis«  (105).  Er  zog  es  de 
halb  vor,  sie  an  den  russischen  Residenten,  Herrn  v.  Groß,  in  Ehu 
bürg  mit  der  Bitte  zu  senden,  sie  durch  den  Courier  weiter  beforde 
zu  lassen.  Wiederholt  empfing  er  Sendungen  der  Kaiserin  dur 
Couriere,  und  in  Hannover  wurde  es  zum  Stadtgespräch,  wenn  wied 
ein  Courier  aus  Rußland  vor  Zimmermanns  Hause  angekommi 
war  *). 

Wie  im  August  1790  der  Friede  mit  Schweden  (128),  so  ka 
ein  Jahr  später  der  mit  der  Pforte  zustande:  zunächst  die  Prälim 
narien  von  Galatz  am  11.  Aug.  1791  (147),  am  19.  Janr.  1792  dai 
der  Friede  von  Jassy  (156).  Z.,  der  an  den  Siegen  Rußlands  d( 
lebhaftesten  Anteil  genommen  hatte,  war  voll  Jubel  über  d 
Friedensschlüsse.  Nicht  blos  um  ihrer  selbst  willen.  Schon  währen 
des  Krieges  hatte  er  immer  wiederholt,  die  Staaten  Europas  hätte 
dringlichere  Aufgaben,  als  sich  unter  einander  zu  zerfleischen. 

Von  den  drei  Wünschen,  die  Z.  geäußert,  mochten  die  beide 
ersten  dem  Sinne  der  Kaiserin  entsprechen,  auf  den  dritten  (10 
oben  S.  978)  antwortete  sie:  nehmen  Sie  es  mir  nicht  übel,  Sie  sin 
ein  gebomer  Schweizer  und  stehen  im  Dienste  des  Königs  von  En( 
land,  aber  erinnern  Sie  sich  gefälligst  >que  par  mutier  je  suis  roya 
liste  <,  aber  ein  Royalist  von  der  Art,  daß  ich  Sicherheit  und  Eigei 
tum  unangetastet  wünsche  und  die  Freiheit  mit  der  Anarchie  fi 
unvereinbar  halte  (115).  Es  bedurfte  dieser  Mahnung  nicht,  des 
schon  während  die  Kaiserin  so  schrieb  (16./27.  Nov.),  waren  Brie 
Zimmermanns  unterwegs  (v.  27.  Oktober,  v.  11.  November),  weld 
seiner  Enttäuschung  über  die  Entwicklung  der  Dinge  in  Frankreic 
Wort  gaben  und  zum  Einschreiten  gegen  den  esprit  de  r^volte  au 
forderten,  der  sich  über  Europa  auszubreiten  drohe  (114).  Der  Ka 
serin  war  dieser  Gedanke  nicht  fremd.  Schon  während  des  Krieg 
mit  der  Türkei  und  mit  Schweden  hatte  sie  den  alten  Gesichtspunl 

1)  Marcard  S.  13. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmermann  981 

geltend  gemiicht,  den  ihre  Erklärung  y.  Dezember  1778  den  Ver- 
größerungsabsichten Oesterreichs  entgegengesetzt  hatte:  die  Auf- 
rechterhaltung der  Verfassung  Deutschlands  ist  ein  Interesse  aller 
Staaten  Europas.  So  äußerte  sie  jetzt,  die  europäischen  Staaten 
hätten,  anstatt  die  Türken  zu  unterstützen,  die  viel  näher  liegende 
Pflicht,  die  deutschen  Fürsten  bei  den  ihnen  durch  den  westfälischen 
Frieden  zugesicherten  Rechten  zu  schützen  und  gegen  die  Beschlüsse 
der  Franzosen  zu  verteidigen  (143). 

Der  Kampf  gegen  die  Revolution  wurde  das  Zentrum  aller  Ge- 
danken Zimmermanns  in  seinen  letzten  Lebensjahren.  Die  Briefe  seit 
dem  Herbst  1789  sind  davon  erfüllt.  Der  Krieg  und  sein  Abschluß 
haben  die  Präeminenz  Rußlands  über  alle  Reiche  besiegelt.  Er 
wünscht  seiner  Herrscherin  Glück  im  Namen  des  Menschengeschlechts 
(148).  Unsterbliche  Lorbeeren  wird  sie  aber  erringen,  wenn  sie  jetzt 
ihre  Waffen  gegen  die  Feinde  des  Menschengeschlechts  kehrt.  Ganz 
Europa  würde  ihre  Kokarde  tragen,  wenn  sie  die  falsche  Freiheit  in 
Frankreich  niederwürfe.  Er  ist  mit  ihr  stets  ein  Verehrer  der  liberte 
raisonnable  gewesen  (147).  Er  nennt  sich  un  homme  qui  aime  le 
genre  humain  plus  que  tous  les  systemes  de  politique  (105).  Katha- 
rina ist  ihm  die  Repräsentantin  des  Menschengeschlechts;  immer  er- 
scheint sie  ihm  verbunden  mit  dem  genre  humain  (139.  144.  148). 
Ihr  ist  es  deshalb  auch  vorbehalten,  dem  Zeitgeist  in  seinem  angeb- 
lich philosophischen  Laufe  Halt  zu  gebieten.  Dann  wird  sie  >impera- 
trice  de  toutes  les  Russies  et  lögislatrice  de  runivers<  sein  (146). 
So  entschieden  auch  ihre  Feindschaft  gegen  die  französische  Revo- 
lution war,  auf  deren  Bekämpfung  durch  die  russischen  Waffen  läßt 
sie  sich  nicht  ein.  Diesen  Ruhm  weist  sie  dem  König  von  Preußen 
zu.  Wenn  er  will,  kann  er  ihn  erringen  und  dem  ganzen  Menschen- 
geschlecht einen  Dienst  erweisen.  Die  Aufgabe  ist  nicht  einmal  sehr 
schwer:  mit  12 — 15000  Mann  wird  er  die  Anarchie  zum  Schweigen 
bringen;  und  geht  er  vor,  so  reißt  er  den  Kaiser  und  die  anderen 
Fürsten  mit  sich  fort  (149).  Jetzt  ist  an  Z.  die  Reihe  des  Tempe- 
rierens.  Die  Aufgabe  ist  nicht  so  leicht.  Der  Kaiser  ist  durch  den 
letzten  Krieg  erschöpft  und  in  seinen  eigenen  Ländern  nicht  sicher. 
Zudem  ist  die  rechte  Zeit  zur  Intervention  verpaßt:  Ludwig  XVI. 
hat  die  Konstitution  angenommen,  und  die  ausweichende  Erklärung 
von  Pillnitz  (27.  Aug.  1791)  hat  ihm  keine  Wahl  als  die  Annahme 
jener  Konstitution  -  der  anarchie  fran^aise,  welche  man  die  franzö- 
sische Konstitution  nennt  (151)  —  gelassen.  Die  Hauptsache  aber 
ist:  die  Revolution  beschränkt  sich  nicht  mehr  auf  Frankreich;  sie 
hat  sich  über  alle  Völker  verbreitet  (144).  Die  Schuldigen  sind 
wieder  die  t  Philosophen  <.   La  Philosophie  porte  la  r^volte  chez  tous 


9S2  Gott.  gel.  Anz.  19r«L  Xr.  13 

le8  peuples  (144j.  Unter  dem  X&men  der  Aniklinuig  werden  Reli- 
gionen, Throne  und  Regierungen  umgesloGen.  die  licberliche  DoktriB 
der  unveräuGerlichen  Menschenrechte  hat  nbermll  ihre  Anhänger  ge- 
funden (144ffJ.  Und  nicht  genug  der  ansteckenden  Kraft  die  in 
diesen  Ideen  liegt  und  wie  ein  Schwindel  die  Menschen  ergreift  in 
allen  Nachbarländern  haben  sich  geheime  Gesellschaften  eigens  zu 
ihrer  Ausbreitung  gebildet.  Diese  Aufklärer  oder  ninminatai  siod 
überall  zu  finden.  In  den  Kabinetten,  unter  den  Vornehmen  so  got 
wie  unter  den  Lehrern,  den  Schriftsteilem.  Die  Universitäten  sind 
davon  erfüllt  Alle  großen  Städte,  selbst  Regensbnrg,  der  Sitz  des 
Reichstags,  sind  Stätten  des  Unheils  153).  Auch  der  Kaiser  Leopold 
hat  in  seiner  nächsten  Umgebung  Dluminaten.  Während  aber  andere 
Fürsten  die  Gefahr  nicht  merken,  ist  der  Kaiser  auf  Ma&regeln  der 
Abhülfe  bedacht  die  Zimmermanns  lebhafte  Teilnahme  erwecken  ond 
ihn  zur  Mitarbeit  anstacheln.  Der  Schriftstdler  findet  das  Mittel  der 
Abhülfe  in  der  Schriftsteller^.  Er  hat  sich  mit  dem  Professor  Leo- 
pold AloTsius  Hofmann')  in  Wien  und  mit  einem  herrorragenden 
Mitgliede  des  großen  Rat^  Ton  Bern  in  Verbindung  gesetzt,  und  dorch 
die  vom  Kaiser  protegierte  Wiener  Zeit'^rift  soll  den  revolutionären 
Ideen  entgegengewirkt  werden.  Z.  bitt^  die  Kaiserin  um  Zulassang 
der  Zeitschrift  in  ihren  Staaten  und  um  Pnitektion  fur  die  Bestre- 
bungen Hofmanns  1 1 54  .  Er  selbst  arbeitet  an  einer  Denkschrift  aber 
den  Gegenstand  154',  vermutlich  dem  bei  Bodemann,  Zimmennann 
S.  145  angeführten  Ms.:  über  den  Wahnwitz  unseres  Zeitalters'), 
und  übersendet  der  Kaiserin  die  Xachrichten,  welche  eine  GroGmtcht 
über  die  Propaganda  gesammelt  und  ihrem  Gesandten  zugestellt  hat 
n52L  So  lebhaft  die  literarische  Tätigkeit  auch  war.  die  Z.  weiter 
in  dieser  Richtung  entwickelte'»,  in  unserm  Briefwechsel  ist  nichts 
mehr  davon  wahrzunehmen.  Er  schließt  mit  dem  Glückwunsch  Z.S 
zum  Frieden  von  Jassy  (15*>l 

Neben  den  Beiträgen  zur  Zeitgeschichte  liefert  der  Briefwechsel 
natüiüch  auch  Beitrage  zur  Geschichte  der  beiden  Korrespondenten. 
Um  mit  Zimmermann  anzufiingen.  so  nndet  seine  von  den  Biographen 
bisher  nicht  beachtete  Reise  nach  dem  Haag  im  Winter  1788  hier 
nähere  Beleuchtung.  Im  November  trat  der  erste  Anfall  ein^  Geistes- 
krankheit bei  König  Georg  HL  ein.  Boshaft  genug  schrieb  K.  Katht- 
rina  an  Grimm:   Qui  aurait  jamais  era.   que  Tami  G.  ent  qaelque 


1^  Uel»er  Hoämun.  deswn  Xiae  igffallnidweue   in  dar  ADB  fcUt  f|L 
GOdeke  IT  m^  nad  T  ä2S 

2    Iscber  S.  1»!  o.  41S. 
S«  Ixber  S.  IM  und  41Sff: 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  6.  Zimmermann  983 

chose  ä  perdre  du  cot^  perdu  ^)!  Z.  als  Königlicher  Leibarzt  erhielt 
von  seiner  vorgesetzten  Behörde  in  Hannover  den  Befehl,  sich  nach 
London  zu  begeben.  Die  Zweifel  Lichtenbergs  (Briefe  II  362)  sind 
ganz  grundlos.  In  Hannover  waren  die  Freunde  bei  Z.s  altem  Bruch- 
leiden sehr  besorgt,  wenn  er  über  die  See  müßte  (Brandes  Bw.  X  60). 
Im  Dezember  machte  sich  Z.  mit  seiner  Frau  auf  die  Reise,  wartete 
aber  vorsichtiger  Weise  im  Haag  weitere  Nachrichten  aus  England 
ab.  Sie  würden  der  siebente  Aeskulap  in  der  Umgebung  des  Königs 
gewesen  sein  —  scherzte  die  Kaisyin  —  der  Kranke  hat  von  Glück 
zu  sagen,  der  gesund  und  heil  aus  ihren  Händen  hervorgeht  (85). 
Z.  muß  das  große  Unglück  kranker  Fürsten  zugeben,  daß  man  sie 
immer  mit  einer  Menge  von  Aerzten  umgibt;  ein  sichreres  Mittel  sie 
nicht  zu  heilen,  existiere  nicht  (93).  Uebrigens  hätte  er,  auch  wenn 
er  nach  dem  Willen  der  hannoverschen  Regierung  nach  Windsor  ge- 
gangen wäre,  den  König  nicht  zu  sehen  bekommen;  gestatteten  doch 
die  englischen  Aerzte  nicht  einmal,  ihm  die  nötigen  Details  mitzu- 
teilen, um  über  die  Krankheit  des  Königs  sich  ein  Urteil  bilden  zu 
können  (93).  Der  russische  Gesandte  im  Haag,  dessen  Aufnahme  Z. 
der  Kaiserin  besonders  rühmt,  meinte  deshalb,  die  englischen  Aerzte 
hätten  das  Recht  über  Leben  und  Tod  ihrer  Könige  (93).  Der  Plan, 
den  König  nach  seiner  Genesung  Hannover  besuchen  und  dort  den 
Sommer  1789  verbringen  zu  lassen,  erhält  durch  den  Briefwechsel 
eine  neue  Bestätigung:  im  April  spricht  Z.  davon  mit  aller  Be- 
stimmtheit (98),  aber  schon  zu  Anfang  Juni  wußten  die  Kaiserin  und 
Z.,  daß  die  Absicht  aufgegeben  sei  (100.  105). 

Zu  der  persönlichen  Geschichte  Katharinas  tragen  einige  der 
frühesten  Briefe  etwas  bei,  die  über  Jugendjahre,  die  sie  in  Braun- 
schweig verbrachte,  sprechen.  Z.  erzählte  ihr  von  einer  alten  in' 
Hannover  lebenden  Dame,  der  Witwe  Gerlach  Adolfs  von  Müuch- 
hausen,  einer  geborenen  v.  d.  Schulenburg-Betzendorf,  die  die  junge, 
damals  12—14  J.  alte  Prinzessin  in  Braunschweig  gekannt  hatte, 
und  mancherlei  Züge  von  ihr  zu  berichten  wußte  (14).  Katharina 
erinnerte  sich  des  Aufenthalts  sehr  wohl,  sprach  von  ihrer  Ausge- 
lassenheit und  Lustigkeit  zu  jener  Zeit  (16),  während  Z.  in  den 
Jugendstreichen  den  Keim  der  künftigen  Größe  erblickte.  Die  Be- 
ziehungen, die  Katharina  an  den  Braunschweiger  Hof  führten,  wer- 
den sich  dadurch  geknüpft  haben,  daß  ihre  Mutter  Johanna  Elisabeth, 
eine  geborne  Prinzessin  von  Holstein-Gottorp,  nach  dem  Tode  ihres 
Vaters,  Christian  August  (f  1726),  unter  der  Vormundschaft  des 
Herzogs  August  Wilhelm  von  Braunschweig -Wolfenbüttel  (f  1731) 
gestanden  hatte,  wie  denn  auch  ihre  Ehe  mit  dem  Fürsten  Christian 

1)  S.  468. 


wurde 


^1 


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\^  juui  »iduin  dk 

im  ja  iem  Hofe, 

iLSiiHtigTTv:  JOL  -sniiuten.  Di- 

T^rziüiL  ji  Bnaoädiweig, 

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TsLny  des  18. 

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V   liLJM  ich  schon 

.-^  r.    Is-    £}fTespoDdeiizblatt 

.^     -    ^       z    JA  Snsra  la  Grimm  gibt 

r^rfZTTfQBZE.   xseio.    isfir  SU  Eioslöffer  tot 

-TfiEcaKssaerucaK    *>    mögen  ge- 

licäc  zur  Hand  war. 

kivr-    ^-saiTZKSs.    anir    jae    aüd.   Boche  Zimmer- 

r    ^-j      ff.   -    '«^     B«    &er  4ljn«!siasbrach  über 

IL    ~  JL  ^.rrwPHSrs     ^.^«29   imi   }e*ir.e^m  kosten  ihm 

^'fi    x«rr    r    rta  imssü  ja  J.  jn  caazen  doch  nur 

Ä'moBS.     *(    :i    iV9ea   la    Vrnim    n  Fiilie   Torhanden. 

£=   ^r-  i>,tf»ni  ^aor  xshkil   jitmii  Homor  frei  die 

/jr.Tiefaamn  .scsniuiHr  j^c  9i*  nei  ehrbarer,  viel 

^t^cT     ^T=i=L  k^cQiar  :icr  ?ec  stapiT  LoL  3sii  p«»söiilich :  ihr  Brief- 

PFjräafi^   -rsr<^3fea;   ^i.n    üwr    malir   i^  rwsaauc  JaIu«:  Grimm  war 

Smcs.     ^^gnanra     ös-    r^mst    3'  an  i  m     iskck     RufUnd    (Dessaa 


i 


«   iri..2Eis:  UzsttZTzu  ?-.  iv.    TftMii.iii  «<:«  Gam  ArrhiTimt  ZimmermanD 
:•    V.  ifcKinasa. 

..    ^«aimii  a  iul-3  s  öbil  anere  is  Gtimb  S.  455. 

"r    ~-smT  OB  £j]!T<!SD«iiii&aKi  der  Kaiserin  mh  Grimm  hat  K.  Hiüebraiid  eise 
«LsaKcnai^aiww  Jlxut«  in  iisr  r*e«ztscfceD  Rmidschjui  Dez.  ISSO  S.  377  rerdffentlirbt. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmennann  985 

ein  von  ihr  abhängiger  Mann.  Die  Korrespondenz  mit  Z.  begann  in 
einer  sorgenvollem  Zeit,  hatte  nichts  wie  jene  mit  persönlichen  Ge- 
schäften zu  tun  und  ihren  Ausgangspunkt  von  der  Literatur,  der 
Literatur  der  Aufklärungszeit,  genommen.  Ihr  gehörte  ihre  ganze 
Teilnahme.  Mit  dem  Sinken  der  französischen  Literatur  seit  Voltaires 
Tode  (1778)  wandte  sie  sich  mit  Vorliebe  der  deutschen  Literatur, 
und  ihrer  Natur  entsprechend  überwiegend  der  humoristischen,  zu. 
Nicolai,  namentlich  sein  Sebaldus  Nothanker,  Thümmel,  die  allge- 
meine deutsche  Bibliothek,  Wielands  Abderiten  bildeten  ihre  Lieb- 
lingslektüre ^)  und  sie  ließ  sich  in  ihrem  Glauben  an  das  Aufsteigen 
der  deutschen  Literatur  durch  die  »denigration«  Friedrichs  des 
Großen  nicht  irre  machen  ^),  der  übrigens  auch  an  Sebaldus  Nothanker 
Gefallen  fand.  Shakespeare  las  sie  in  der  Uebersetzung  Eschen- 
burgs').  Als  es  Rußland  in  den  achtziger  Jahren  gelang,  hervor- 
ragende Deutsche  für  seinen  Staatsdienst  zu  gewinnen  —  Cancrenus, 
den  sie  u.  a.  nennt,  ist  der  hessische  Bergwerksbeamte  Gancrin 
(Krebs),  der  der  Leiter  russischer  Salinen  wurde  -  machte  sie  die 
allgemeine  Bemerkung:  ah,  que  PAllemagne  a  des  gens  de  m^rite  en 
ce  moment!  ah,  qu'il  fait  bon  d'y  pßcher*). 

Ein  Herausgeber  hat  nicht  die  Aufgabe,  seine  Quelle  nach  allen 
Seiten  hin,  die  sie  darbietet,  zu  interpretieren,  noch  weniger  zu 
kommentieren.  Wenn  ihm  aber  selbst  bei  der  Edition  Erklärungs- 
bedürftiges aufstößt,  soll  er  m.  E.  dem  Leser  nicht  vorenthalten,  was 
er  zur  Erklärung  gefunden  hat  und  der  Leser  erst  mühsam  ermitteln 
muß.  Manches  davon  läßt  sich  passend  in  einem  Index  personarum 
unterbringen.  Ein  solcher  fehlt  leider  unserer  Ausgabe.  Es  wäre 
deshalb  am  Platze  gewesen,  z.  B.  S.  44  zu  bemerken,  daß  comte  de 
Falkenstein  das  Inkognito  war,  unter  dem  Joseph  II.  im  Sommer 
1787  mit  Katharina  zusammentraf  (51).  Bei  Erwähnung  des  Briefes 
von  Z.  an  den  Grafen  von  Besborodko  (38)  hätte  es  nahe  gelegen, 
den  Abdruck  dieses  Briefes  bei  Marcard  S.  342  zu  zitieren.  —  Für 
den  Leser  wäre  es  ein  nützlicher  Wink  gewesen,  wenn  ihm  S.  142 
bemerkt  wäre,  daß  Robert  Ainslie  englischer  Gesandter  bei  der 
Pforte  seit  1776  war  (ob.  S.  979).  -  Der  propagandeur  fran^ais 
Palloi  (152)  war  vermutlich  der  französische  Architekt  Palloy,  der,  zu 
den  Erstürmern  der  Bastille  gehörig,  bei  den  verschiedenen  Revo- 
lutionsakten beteiligt  war,  aber  auch  seinen  Vorteil  daraus  zu  ziehen 
suchte.  —  S.  12,  wo  Z.  eine  Stelle  aus  seinem  Buche  über  die  Ein- 

1)  Grimm  S.  208.  212.  228.  247. 

2)  Das.  S.  202  und  212. 

3)  Das.  S.  383. 

4)  Das.  S.  300. 

06it.  geL  Aas.  1906.  Nr.  IS  69 


9rtfi  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

sainkeit  anführt,  ist  der  gemeinte  Beurteiler  Gregor  Orlofs  d»*r  schon 
von  Marcard  S.  313  zitierte  Freiherr  v.  Schrautenbach,  ein  hervor- 
ragendes Mitglied  der  Brüdergemeinde,  der  in  Begleitung  der  Lanl- 
gräfin  Caroline  von  Hessen-Darmstndt  1773,  zugleich  mit  Grimm  unJ 
Merck,   dein  Freunde  Goethes,   Petersburg  besuchte  (ADB.  32.462). 

Im  übrigen  darf  der  Herausgeber  dem  Leser,  insbesondere  auch 
dem  Rezensenten  oder  Referenten  etwas  zu  tun  übrig  lassen.  So  sei 
es  gestattet,  nach  der  literarischen  Seite  hin,  die  in  den  Briefen.  >o 
lange  das  Zeitalter  noch  literarisch  ist  und  ehe  es  kriegerisch  wird, 
überwiegt,  hier  einige  Ergänzungen  anzuschließen. 

Die  Zahl  der  Schriften  und  Schriftsteller,  ül)er  die  in  den  Briefen 
verhandelt  wird,  ist  ziemlich  groß.  Die  Debatte  wandte  sich,  dem 
Zeitgeschmack  entsprechend,  mit  Vorliebe  den  Reisebeschreibnngen 
zu,  zumal  denen,  die  es  mit  Rußland  zu  tun  hatten  oder  mit  solchen 
Ländern,  auf  die  sich  seine  auswärtige  Politik  bezog.  Z.  lobte  der 
Kaiserin  das  Buch  eines  englischen  Geistlichen,  William  Coxe,  travel^: 
into  Poland  Russia  etc.  (3  Bde.,  Lond.  1784  (f.),  eines  Verfassers,  der 
auch  über  die  Schweiz  geschrieben  hatte  ^).  Die  Kaiserin  hatte  Mr. 
Coxe  kennen  gelernt,  auch  sein  Buch  durchblättert,  meinte  aber,  er 
habe  sich  zuweilen  getäuscht,  wenn  auch  in  gutem  Glauben  (13. 15  . 
Aehnlich  äußerte  sie  sich  über  das  Buch  gegen  Grimm  (S.  399).  — 
Als  der  Krieg  gegen  die  Türkei  begann,  sandte  Z.  der  Kaiserin  die 
Schrift  Volneys,  der,  von  Haus  aus  Orientalist,  in  den  Jahren  1783 
u.  ff.  die  Levante  und  Aegypten  bereist  und  außer  einer  Beschrei- 
bung .seiner  Reise  (voyage  en  Egypte  et  en  Syrie,  1789  ff.)  conside- 
rations sur  la  guerre  des  Turcs  et  de  la  Russie  (Londres  1788)  ver- 
öffentlicht hatte,  die  den  Plänen  Katharinens  nicht  ungünstig  gesinnt, 
dem  Vf.  eine  goldene  Medaille  eintrug,  die  er  1791,  als  Frankreich 
und  Rußland  einander  feindlich  wurden,  zurücksandte  (71)  —  Die 
Schrift  der  Lady  Craven,  Voyage  par  la  Crimee  ä  Constantinople 
(London  1789)  führt  Z.  nur  an,  urn  daraus  eine  alte  türkische  Pro- 
phezeiung von  dem  Einzug  einer  russischen  Monarchin  in  Constan- 
tinopel  und  ihrer  Ausrufung  zur  Kaiserin  von  Griechenland  zu 
zitieren  (104)  und  eine  piquante  Bemerkung  über  die  Verfasserin, 
die  allmächtige  Maitresse  des  Markgrafen  Alexander  von  Ansbach 
und  Baireuth,  qui  a  le  malheur  d'etre  impuissant,  zu  machen. 
Alexander  war  bekanntlich  der  letzte  Markgraf  und  trat  zu  Knde 
1791  seine  Lande  an  Preußen  gegen  eine  bedeutende  Leibrente  ah. 
nachdem   im   Jahre   zuvor   Hardenberg  sein  Minister   geworden  war 

1)  Ks  können  aber  nicht  die  erst  17b9  erscheinenden  Travels  in  SwitterUnd 
gemeint  sein,  sondern  nur  die  Sketches  of  the  natural  political  and  civil  state  of 
Switzerland,  die  Coxe  1779  if.  veröffentlichte. 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmermann  987 

(Ranke  S.  W.  46, 89  ff.).  Anspielungen  wie  die  gedachte  glaubte  Z. 
einige  Male  wagen  zu  dürfen  (52.  60.  103),  überzeugt,  daß  sie  von 
der  Kaiserin  nicht  ungnädig  aufgenommen  würden. 

Die  Gabe  der  Kaiserin,  Menschen  und  Moderichtungen  des  Geistes 
scharf  zu  charakterisieren,  findet  in  den  Briefen  mannigfachen  Aus- 
druck. Sie  erinnert  sich,  wie  um  1740  alles  affektierte,  Philosoph  zu 
sein,  auch  die  schwächsten  Köpfe  das  mitmachten  (44).  Alle  Philo- 
sophie hat  aber  nicht  gehindert,  daß  vierzig  Jahre  später  —  um 
1786  —  die  größten  Absurditäten,  Wahnvorstellungen,  Gaukeleien 
und  Zaubereien  in  Schwang  kamen.  Die  deutschen  Fürsten  hielten 
es  für  guten  Ton,  sich  an  dem  Unwesen  zu  beteiligen  (44).  Die 
Kaiserin  bekämpfte  es,  als  es  nach  Rußland  eindrang,  dramatisch 
(ob.  S.  977).  Es  war  ein  Sport  vornehmer  Damen  der  Zeit,  aktuelle 
Vorgänge  auf  der  Bühne  zur  Darstellung  zu  bringen,  wie  die  ge- 
nannte Lady  Craven  die  Verwaltungszustände  in  Ansbach  dramatisch 
geißelte  (Ranke  S.  89, 93).  Auch  Zimmermann  hatte  eine  Zeit,  da  er 
die  Philosophen,  in  denen  er  später  die  schlimmsten  Feinde  des 
Menschengeschlechts  erblickte,  für  dessen  Elite  ansah.  Er  setzt  die 
corps  diplomatiques  und  die  corps  philosophiques  einander  gegen- 
über (65).  Die  Siege  der  Kaiserin,  die  Fortschritte  ihrer  Waffen 
kommen  der  Menschheit  zu  gute;  les  ames  honn^tes,  la  plus  saine 
partie  de  chaque  nation  ist  auf  ihrer  Seite,  wenn  auch  die  corps 
diplomatiques  de  TEurope  ihre  Gegner  sind.  Die  Kaiserin  hat  alles 
für  sich,  was  in  einem  Lande  raisonne  sans  pr6jug^  et  sans  jalousie. 
Er  beklagt  gleich  ihr  die  modische  Geisterseherei,  und  sieht  schon 
die  Zeit  kommen,  wo  der  Hofstaat  der  deutschen  Fürsten  um  einen 
Hofzauberer  oder  Hoftheosophen  vermehrt  wird  (31).  In  Straßburg, 
wo  der  in  Frankreich  sich  ausbreitende  Mesmerismus  zur  Stiftung 
einer  »harmonischen  Gesellschaft«  geführt  hatte,  war  man  so  ver- 
wegen, eine  Notiz  in  die  Zeitungen  zu  bringen,  wonach  Z.  einen  vor- 
teilhaften Brief  wegen  des  tierischen  Magnetismus  an  die  Gesellschaft 
geschrieben  habe  und  seinem  Wunsche  gemäß  von  ihr  als  Mitglied 
aufgenommen  sei.  Z.  erklärte  sofort  das  alles  für  Lüge,  er  kenne 
weder  die  Gesellschaft  noch  ein  Mitglied.  >Mir  ekelt  vor  dem  ganzen 
magnetischen  Wesen.«  Er  sei  ebenso  wenig  geneigt,  sich  in  die 
magnetische  oder  harmonische  Gesellschaft  in  Straßburg  einreihen  zu 
lassen  als  in  die  Gesellschaft  der  Schamanen  von  Sibirien:  eine 
Wendung,  die  der  Kaiserin  besondere  Freude  machte  (49.  52)^). 
Neben  dem  Lächerlichen  weist  er  aber  auch  auf  das  Gefährliche  hin ; 

1)  Z.8  Erklärung  v.  10.  Juni  1787  in  der  Berlinischen  Monatsschrift  (hg.  v. 
Qedike  und  Biester)  v.  Juli  1787  S.  77.  lieber  die  Straßburger  Gesellschaft  das. 
S.  466,  472  ff.  noch  weitere  Nachrichten. 

69* 


988  Gott.  gel.  Anz.  190G.  Nr.  12 

denn  die  Anhänger  des  Schwindels,  der  maladie  g^n^rale  (52),  tun 
sich  in  Gesellschaften  zusammen  und  verpflichten  sich  mit  Eiden 
unter  einander  (43.  46fif.  66).  In  der  Cagliostro  -  Literatur  spielt 
Elisabeth  v.  d.  Recke  eine  besondere  Rolle.  Z.  hatte  sie  selbst 
kennen  gelernt  und  machte  die  Kaiserin  auf  das  1787  von  ihr  ver- 
öffentlichte Buch  aufmerksam,  worin  sie  selbst  das  Auftreten  des 
BetrUgers  1779  in  Mitau  am  Hofe  ihrer  Halbschwester,  der  letzten 
Herzogin  von  Kurland,  und  ihre  eigene  Verblendung  durch  seine 
Kunststücke  schilderte  (46).  Katharina  ließ  das  Buch  gleich  nach 
seinem  Erscheinen  ins  Russische  übersetzen  (66). 

Man  kennt  die  warmherzige  Gesinnung  Z.s  für  seine  Freunde, 
aber  auch  seine  zum  Sprichwort  gewordene  Neigung  zum  Ueber- 
treiben.  Beides  erfährt  in  unsem  Briefen  Kotzebue  (ob.  S.  971),  der 
Schützling  Z.s  in  doppelter  Beziehung:  als  Schriftsteller  und  als 
Patient.  Als  Schriftsteller  war  er  damals  noch  in  seinen  Anfangen; 
sein  Schauspiel:  Menschenhaß  und  Reue  (1789)  hatte  ihn  aber  rasch 
berühmt  gemacht  und  so  ließ  es  sich  Z.  nicht  nehmen,  von  seinen 
Werken  als  universellement  applaudis  et  admires  en  AUemagne  zq 
sprechen  (131)  und  ihn  unter  die  ersten  Größen  der  literarischen 
Welt  in  Rußland  und  Deutschland  zu  stellen  (127).  Als  er  im  J. 
1790  erkrankte,  verwandte  sich  Z.  bei  der  Kaiserin  und  verschafile 
ihm  Urlaub  für  ein  Jahr  (122,  126).  Während  der  Zeit  verstarb 
seine  Frau  im  Wochenbett,  ihn  mit  fünf  Kindern  zurücklassend  (131). 
In  seiner  Verzweiflung  reiste  er  nach  Paris,  für  einen  Kranken  wohl 
zu  keiner  Zeit  ein  unbedenklicher,  für  einen  russischen  Beamten  zur 
Zeit  gewiß  ein  bedenklicher  Aufenthalt.  Z.  gab  sich  alle  Mühe,  den 
Schritt  als  unverfänglich  darzustellen.  Der  Aufenthalt  hat  nur  knn 
gewährt,  Baron  Grimm  hat  ihn  sehr  freundlich  aufgenommen  and 
ihm  seine  Verwendung  zugesagt  (137)  und,  was  die  Hauptsache, 
Kotzebue  ist  keiner  Hinneigung  zur  französischen  Revolntion  ver- 
dächtig. Seine  literarischen  Interessen  liegen  nach  ganz  anderer  Seite 
hin.  Im  Jahr  vorher  hat  er  das  Not-  und  Hülfsbüchlein  für  Bauen, 
ein  eben  erschienenes  populäres  Lesebuch  von  Zacharias  Becker  in 
Gotha,  das  allerhand  Mittel  gegen  die  Menschen  oder  Vieh  begeg- 
nenden  Unfälle  behandelt,  ins  Esthnische  übersetzen  nnd  gratis  anter 
das  Volk  verteilen  lassen  (119);  jetzt  schreibt  er  an  einem  phikso- 
phischen  Werk  über  Ehre  und  Schande,  Ruhm  und  Nachruhm,  das 
zeigen  soll,  welche  Ideen  zu  verschiedenen  Zeiten  and  bei  verschie- 
denen Völkern  darüber  geherrscht  haben  (119).  Ehe  noch  dieses 
Buch,  das  erst  1792  unter  dem  Titel:  vom  Adel  erschien,  fertig 
wurde,  war  Z.  so  glücklich,  die  Kaiserin  auf  ein  politisches  Lustspiel 
Kotzebues:   der  weibliche  Jacobiner-Glubb   aufmerksam   machen  n 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  (r.  Zimmermann  089 

können  (138).  Sie  nahm  die  Ankündigung  mit  Dank  auf,  bedauerte 
nur  keine  Zeit  zum  Lachen  zu  haben  (140);  und  so  wohlwollend  sie 
auch  die  Fürbitten  Z.s  aufnahm,  die  Briefe  an  Grimm  zeigen,  daß 
sie  Kotzebue  nicht  recht  traute  und  vor  allem  auszusetzen  hatte,  daß 
ein  Beamter  auf  seinen  Posten  gehöre  und  nicht  andere,  während  er 
seinen  Gehalt  fortbeziehe,  für  sich  arbeiten  lassen  dürfe'). 

Aus  der  antirevolutionären  Literatur  kommt  sonst  nur  noch 
Girtanners  Schrift:  Nachrichten  und  politische  Betrachtungen  über 
die  französische  Revolution  zur  Sprache,  die  Z.  als  die  beste  Dar- 
stellung des  Gegenstandes  in  irgend  einer  Sprache  rühmt.  Girtanner 
ist  ein  gründlicher  Kenner  Frankreichs,  Landsmann,  medizinischer 
Kollege  und  natürlich  ein  Freund  Z.s  (155).  Zu  einem  Teile  gehören 
auch  die  verschiedenen  Bücher  Z.s  über  Friedrich  den  Großen  in 
diesen  Kreis,  denn  außer  der  Person  ihres  Helden  und  ihres  Autors 
haben  sie  die  Bekämpfung  der  Aufklärung  und  ihrer  Tochter,  der 
Revolution,  zum  Gegenstand. 

Z.  war  von  früh  auf  ein  Bewunderer  Friedrichs  des  Großen^). 
1771  in  der  Zeit  seines  ersten  Aufenthalts  in  Berlin,  wo  er  sich 
einer  Operation  seines  Bruches  durch  Meckel  unterzog,  war  er  dem 
Könige  vorgestellt  worden  und  hatte  ihn  mit  dem  Bewußtsein  ver- 
lassen, den  größten  und  zugleich  den  liebenswürdigsten  Mann  des 
Jahrhunderts  gesprochen  zu  haben.  Der  Brief,  den  er  seinem  Freunde, 
dem  Ratsherrn  Schmid  in  Brugg,  über  die  Audienz  vom  16.  Oktober 
am  27.  schrieb,  gelangte  1773  durch  einen  Abdruck  in  die  Oeffent- 
lichkeif).  Nachdem  er  im  Juni  1786  an  das  Krankenbett  des  Königs 
nach  Berlin  berufen  war  —  Katharina  meinte:  Zimmermann  est 
allÄ  ä  Berlin  pour  gu6rir  le  roi  de  Prusse  de  ses  74  ans*)  —  be- 
nutzte er  die  damaligen  Erlebnisse  zu  einem  im  Winter  1787  auf 
88  ausgearbeiteten  Buche:  >über  Friedrich  den  Großen  und  meine 
Unterredungen  mit  ihm<,  das  er  der  Kaiserin  in  mehreren  Briefen 
ankündigte.  Er  bezeichnet  es  selbst,  als  mit  dem  größten  Freimut, 
mit  einer  gradezu  republikanischen  Unbefangenheit  geschrieben.  Um 
einen  großen  Monarchen  zu  loben,  braucht  man  nicht  zu  verschweigen, 
daß  er  ein  Mensch  war.  Er  hofft  auf  den  Beifall  der  Kaiserin  für 
die  Kühnheit  wie  für  das  Amüsante  seiner  Schrift  (58.  65.  72). 
Katharina  verhielt  sich  den  Ueberschwänglichkeiten  ihres  Korre- 
spondenten gegenüber  wie  immer   nüchtern,   sprach   ihre  Zufrieden- 

1)  GWmm  S.  504,  516,  638,  546. 

2)  Ischer  8.125  ff.  244  ff. 

3)  Rengger,  Zimmermanns  Briefe  an  einige  seiner  Freunde  in  der  Schweiz 
(1830)  S.  143  ff.    Ischer  S.  313. 

4)  Grimm  S.  379. 


9i)ü  üött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

heit  aus,  daß  er  dem  Andenken  eines  großen  Mannes  Gerechtigkeit 
habe  widerfahren  lassen  (74).  Das  Buch,  zu  Ostern  1788  ausgegeben, 
wurde  das  Ziel  der  lebhaftesten  Angriffe.  Hofleute  und  Philosophen 
fielen  darüber  her.  Ueber  das  Urteil  der  Höflinge  (65)  tröstete  ihn 
ein  kräftiges  Wort  der  Kaiserin  (67);  übrigens  habe  jeder  seine 
Feinde  (75).  In  Leipzig,  wo  das  Buch  erschien,  waren  zwei  Auflagen 
sofort  vergriffen  (72),  obschon  gleichzeitig  Nachdrucke  in  Wien  und 
Karlsruhe  veranstaltet  wurden  ^).  Für  Z.  hatten  die  Angriffe  nur  den 
Erfolg,  daß  er  sich  sofort  zu  einem  neuen  Buche  über  dasselbe 
Thema  rüstete  (73).  War  das  erste,  was  er  über  Friedrich  d.  G. 
schrieb,  ein  Brief  gewesen,  das  zweite  ein  Buch  von  300  Seiten,  so 
waren  die  jetzt  hinzukommenden  >Fragmente  über  Friedrich  d.  6.< 
ein  Werk  in  drei  Bänden  (Leip.  1790).  Jede  nachfolgende  Schrift 
nahm  die  Vorgängerin  wieder  in  sich  auf,  nicht  blos  den  Ergeb- 
nissen, sondern  auch  zum  guten  Teil  dem  Wortlaute  nach.  Die 
>Fragmente«  hatte  er  der  Kaiserin  angekündigt,  sie  würden  Dinge 
bringen,  die  noch  niemand  öffentlich  gesagt  habe  (73,  117);  als  er 
sie  im  Februar  1790  der  Kaiserin  übersandte,  begleitete  er  das  Buch 
mit  einer  Entschuldigung  wegen  seiner  etwaigen  Betisen  und  In- 
discretionen  (125).  Im  Schlußkapitel  stellte  er  Friedrich  und  Katha- 
rina neben  einander  und  teilte  zur  Charakterisierung  der  Kaiserin 
zwei  größere  Stellen  aus  Briefen,  die  sie  an  ihn  gerichtet  hatte,  in 
Uebersetzung  mit.  Es  sind  Briefe  vom  Januar  und  Mai  1789,  in 
denen  sie  sich  über  die  Grundsätze  ihrer  Politik  ausgesprochen 
hatte  *).  Er  hatte  im  Voraus  um  Entschuldigung  gebeten,  weil  keiner 
die  Gedanken  der  Kaiserin  besser  wiedergeben  könnne  und  üure 
Worte  noch  mehr  verdienten  in  Erz  gegraben  zu  werden  als  den 
schönsten  Schmuck  eines  Werkes  über  Friedrich  zu  bilden  (125). 
Das  Urteil  Katharinas  über  das  Buch  erfahren  wir  nicht.  Der 
Sturm,  den  es  im  Publikum  erregte,  war  noch  stärker  als  der  vom 
Jahre  1788.  Ein  Satz,  den  er  selbst  aus  dem  noch  unveröffentlichten 
Buche  der  Kaiserin  zitiert  (123):  wenn  Friedrich  d.  G.  über  das  J. 
1789  urteilen  könnte,  würde  er  sagen:  die  Franzosen  hatten  im 
Julius  1789  die  Hundswut  (Fragm.  1276),  ist  bezeichnend  für  das 
Ganze. 

Z.  verzehrte  sich  leiblich  und  geistig  in  dem  Kampfe  gegen  die 

1)  Die  Literatur  bei  Gödeke  IV  S.  159  Nr.  13. 

2)  Fragm.  III 367  und  S.  369  aus  den  Briefen  Nr.  40  und  4i  unserer  Samm- 
lung. Die  Wiedergabe  zeigt  Z.  als  gewandten  Uebenetzer;  hin  and  wieder  auch 
als  Retoucheur.  La  race  humaine  en  gän^al  penche  aa  dendsonnemont,  i  rio- 
justice  (88):  es  ist  doch  überhaupt  in  den  meisten  Menschen  etwas  dommes  and 
ungerechtes  (Fragm.  S.  371). 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  0.  Zimmermann  991 

Revolution  und  ihre  Ausbreitung.  Ueberall  sieht  er  ihre  Folgen, 
nimmt  er  Aufklärer  und  lUuminaten  wahr.  Er  belehrt  die  Kaiserin, 
wenn  sie  Geisterseher  und  Rosenkreuzer  als  illumines  bezeichne  (20. 
153),  so  sei  das  ganz  etwas  anders  als  lUuminaten,  muß  dann  aber 
selbst  von  Nicolai  die  Belehrung  in  Empfang  nehmen,  daß  man  in 
Berlin  wohl  Aufklärer,  aber  keine  lUuminaten  habe*).  Zu  mehrerer 
Deutlichkeit  bedient  er  sich  des  Ausdrucks  ^claireurs  (153  flF.).  Seit- 
dem man  sich  in  Braunschweig  freimütig  zur  Aufklärung  bekannte, 
ohne  einer  geheimen  Gesellschaft  zu  ihrer  Unterstützung  zu  bedürfen, 
und  Mauvillon  in  Braunschweig  sich  die  Verteidigung  Mirabeaus  an- 
gelegen sein  ließ,  galt  ihm  Braunschweig  neben  Berlin  als  Hauptsitz 
der  Revolution  in  Deutschland  (152).  Mirabeau  heißt  in  einem  Brief 
an  die  Kaiserin  ein  rou6  qui  s'appelle  comte  de  Mirabeau,  Evangelist 
und  Apostel  der  falschen  Freiheit  (122).  Katharina  läßt  sich  ihm 
gegenüber  nicht  weiter  in  diese  Kämpfe  ein,  so  wenig  sie  auch  einen 
Zweifel  über  ihr  Urteil  läßt.  Sie  zitiert  Beaumarchais'  Ausspruch,  die 
französische  Nationalversammlung  habe  die  Konstitution  aus  seiner 
Oper  Tarare  geschöpft  (111).  Ihr  politisches  Interesse  in  jenen 
Jahren  lag  nach  einer  andern  Seite  hin. 

Als  der  Briefwechsel  begann,  lebte  Friedrich  d.  G.  noch.  Von 
seiner  letzten  Tat,  der  Stiftung  des  Fürstenbundes,  die  Z.  wohl  zu 
würdigen  verstand  (Fragm.  I  308  flf.),  ist  keine  Rede.  Die  Angelpunkte 
des  politischen  Interesses  bilden  Polen,  Türkei,  Frankreich.  Nur 
episodisch  Schweden.  Die  erste  Teilung  Polens  lag,  als  der  Brief- 
wechsel begann,  dreizehn  Jahre  zurück  (1772);  als  er  endete,  spitzte 
sich  alles  zur  zweiten  Teilung  zu.  Die  polnische  Konstitution  vom 
3.  Mai  1791,  von  allen  Seiten,  namentlich  auch  Preußens,  als  die 
Wiedergeburt  des  Landes  begrüßt,  wurde  von  Katharina  nur  ironisch 
behandelt  (140).  Nach  Jahresfrist  hatten  sich  alle  Gönner  zurück- 
gezogen, und  Rußland  hatte  gewonnen  Spiel.  Den  breitesten  Raum 
nehmen  die  Verwicklungen  mit  der  Türkei  ein.  Gleich  nach  Beendi- 
gung der  Reise  der  Kaiserin  nach  Taurien  erging  die  Kriegserklärung 
der  Pforte  (55).  Der  Krieg  brachte  Rußland  Erfolg  auf  Erfolg,  zu 
Wasser  wie  zu  Lande.  Z.  feierte  sie  alle  mit  und  nahm  die  Glück- 
wünsche seiner  Freunde  für  die  russischen  Siege  entgegen  (86).  Die 
Tedeums  in  Petersburg  comme  de  raison  au  bruit  des  canons  hören 
nicht  auf,  einmal  finden  in  einer  Woche  zwei  statt  (85.  107).  Er 
singt  das  Tedeum  vor  dem  Porträt  der  Kaiserin  (102),  das  sie  ihm 
verehrt  hatte  (29),  geschmückt  mit  der  Pelzmütze  von  Kamt- 
schatka, die  er  sich  nebst  einem  Pfund  Thee  aus  Peking  und  Kafifee 
aus  Mocca  einst  von  ihr  erbeten  hatte  (62).    Auch  ohne  daß  ihr 

1)  Ischer  S.  351. 


992  Gott.  pel.  Anz.  19(>6.  Nr.  12 

Reich  die  mit  diesen  Erzeugnissen  bezeichneten  Grenzen  erreicht 
hatte,  war  ihm  sein  Wunsch  erfüllt  worden  (68).  Es  ist  nur  gut, 
daß  die  Knigge,  Bahrdt  und  Konsorten  nichts  von  dieser  russischen 
Pelzmütze  erfuhren!  Die  Siegesberichte,  die  Z.  empfing,  berauschten 
ihn  förmlich.  Er  sieht  die  Kaiserin  schon  in  Konstantinopel  einziehen, 
er  begrüßt  sie  als  Königin  der  von  dem  Türkenjoch  befreiten  Griechen 
und  nannte  sie  einmal  >Ia  sou  veraine  de  cent  nations  et  de  tous  les 
hommes  qui  pensentc  (19).  Mochten  die  Wünsche  aller,  die  ohne  Vor- 
urteil und  leidenschaftslos  nachdenken,  wie  Z.  rühmt,  auf  ihrer  Seite 
sein  (65);  leider  war,  wie  die  Kaiserin  fand,  ihre  Zahl  nicht  sehr 
groß  (67),  und  ihre  Kollegen  vermißte  sie  unter  ihnen  (143).  Die 
Grundsätze  der  Politik,  die  sie  predigt,  klingen  sehr  tugendhaft.  Die 
Wahrheit,  die  Offenheit  ist  ihr  Leitstern.  Ihre  Gegner  verlassen 
sich  auf  die  duplicity.  Die  krummen  Wege  halten  sie  für  die  sicher- 
sten, Oel  ins  Feuer  gießen  und  im  Trüben  fischen  für  das  wichtigste 
Mittel  der  Politik.  Sie  weiß  sich  zu  verteidigen,  und  kommt  es  em- 
mal  zum  Schlagen,  so  zieht  sie  es  vor,  Schläge  auszuteilen  anstatt 
zu  empfangen  (55).  Sie  kann  sich  dabei  auf  ihr  Volk  und  ihren 
Staat  verlassen.  Furchtlos  geht  sie  in  den  Krieg  and  zitiert  den 
Racineschen  Vers :  >je  crains  Dien,  eher  Abner,  et  n'ai  point  d'autre 
crainte<  (143).  Ihr  Volk  ist  opferwillig,  kriegerisch  (91);  sie  verfügt 
über  Feldherren  voll  Tüchtigkeit  und  Erfahrung  (133),  über  die  er- 
forderlichen Geldmittel  und  ein  Heer,  das  seit  nahezu  hundert  Jahren 
alle  Feinde  geschlagen  hat  (143). 

Was  bewog  eine  Frau  von  solchem  Selbstbewußtsein  und  solch 
geistiger  Kraft  zu  einer  Korrespondenz,  bei  der  sie  allein  die  Geberin 
war?  Der  Empfang  von  Komplimenten  und  Exzentrizitäten,  wie  sie 
Z.s  Briefe  boten,  konnte  ihr  schwerlich  Befriedigung  gewähren,  so 
gern  sie  auch  ihr  Lob  vernahm,  zumal  von  einem  Manne  literarischen 
Ansehens.  Daß  politische  Zwecke  dem  brieflichen  Verkehr  nicht 
fremd  waren,  ist  oben  (S.  978)  gezeigt.  Die  Aufklärungszeit  legte 
aber  auch,  abgesehen  von  solch  praktischem  Nutzen,  hohen  Wert 
auf  literarische  Verbindungen.  Namentlich  gefallen  sich  hochgestellte 
Frauen  in  ästhetischen  Genüssen  der  Art.  Katharina  unterhielt  einen 
ausgedehnten  Briefwechsel  mit  Voltaire,  mit  d'Alembert,  dem  Baron 
von  Grimm.  Sie  sieht  sich  fleißig  nach  dem  Wiederhall  ihrer  Taten 
in  den  Zeitungen  um,  macht  sich  lustig  über  ihre  beabsichtigten  und 
unbeabsichtigten  Unwahrheiten  (50).  Ein  obskurer  Göttingischer 
Zeitungsschreiber  ruft  ihre  lebhafte  Reklamation  hervor  (120).  An 
ihrem  Korrespondenten  Zimmermann  übt  sie  eine  Art  poUtiscfaer  Er- 
ziehung. Sie  gießt  Wasser  in  seinen  Wein  und  belehrt  ihn  fiber  den 
Grad  des  Erreichbaren  in  der  Politik.    Das  Culbuter  des  türkischen 


Briefwechsel  zwischen  Katharina  II.  und  J.  G.  Zimmermann  998 

Reichs  und  die  Eroberung  von  Konstantinopel  sind  nicht  so  leichte 
Dinge,  wie  sie  sich  der  Schwärmer  vorstellt  (59.  63);  sie  weiß  sich 
zu  beschränken  (102).  Ihre  Tätigkeit  bleibt  nicht  ohne  Erfolg.  Seine 
Bächer  über  Friedrich  d.  6.  zeigen  an  verschiedenen  Stellen  die  Ein- 
wirkung der  Briefe,  die  er  von  der  Kaiserin  empfangen  hatte ^). 
Ohne  solche  Absichten  ließe  es  sich  der  Ernst  gar  nicht  verstehen, 
mit  dem  sie  die  Korrespondenz  betreibt.  Auf  ihren  fernen  Reisen 
(45),  inmitten  der  aufregendsten  und  dringlichsten  Geschäfte  findet 
sie  die  Zeit  ihm  zu  schreiben,  zu  antworten,  nimmt  sie  sich  die 
Mühe,  die  Siegesbulletins  für  ihn  zu  kopieren.  Der  berühmte  deut- 
sche Schriftsteller,  dessen  Bücher  ihr  Gefallen  erregt  hatten  und  zu 
erregen  fortfuhren  —  inmitten  der  Kriegsvorbereitungen  liest  sie 
sein  erstes  Buch  über  Friedrich  d.  G.  (74.  78)  —  war  für  sie  ein 
wertvoller  Gesellschafter;  er  ist  ihr  ein  Vertreter  der  deutschen 
Literatur,  wie  er  sich  als  deren  Repräsentant  rühmt,  daß  die  deut- 
schen Zeitungen  nicht  in  den  Chor  der  Angreifer  und  Verläumder 
Rußlands  und  seiner  Herrscherin  einstimmen  (60).  Z.  konnte  das  mit 
voller  Wahrheit  tun.  Grade  in  Deutschland  fand  Katharina  die  leb- 
hafteste Bewunderung.  Sie  ist  die  Heldin  des  Zeitalters  der  Auf- 
klärung. Eine  so  angesehene  Zeitschrift  wie  das  Deutsche  Museum 
veröffentlichte  schon  im  Mai  1776  eine  Charakteristik  der  Kaiserin 
mit  dem  Beisatz:  ein  Gemäld  ohne  Schatten. 

Die  Korrespondenz  endet  mit  dem  Herbst  1791.  Mais  troves  de 
belle  chose  ^,  il  faut  que  j'aille  m'habiller  sind  die  letzten  Worte, 
die  die  Kaiserin  an  Z.  schrieb  (150).  Er  fuhr  noch  bis  Ende  Januar 
des  nächsten  Jahres  fort,  Briefe  an  sie  zu  richten.  Ob  die  zuneh- 
menden Verwicklungen  mit  Polen  oder  andere  Angelegenheiten  die 
Kaiserin  hinderten,  ob  sie  die  Korrespondenz  absichtlich  einstellte? 
In  dem  Nachlasse  Z.s  scheint  sich  keine  Aeußerung  über  das  Auf- 
hören dieser  ihn  unendlich  beglückenden  Beziehung  erhalten  zu 
haben. 

Z.  lebte  noch  bis  zum  7.  Oktober  1795;  bis  zur  Mitte  des  J. 
1794  noch  bei  leidlichen  Kräften.  1792  und  1793  war  er  noch  lite- 
rarisch tätig. 

Wir  haben  an  der  vorliegenden  Ausgabe  manche  Mängel  zu 
rügen  gehabt,  sind  aber  doch  dem  Verfasser  dankbar,  daß  er  diesen 
vielfach  lehrreichen  Briefwechsel,  dessen  vollständige  Veröffentlichung 
unsere  zitierte  Abhandlung  gewünscht  hatte,  so  bald  der  wissen- 
schaftlichen Benutzung  zugänglich  gemacht  hat.    Der  Dank  trifit  ihn 

1)  Fragm.  I  231  ff.,  271  ff. 

2)  Eine  beliebte  SchluBwendung  der  Kaiserin  (184.  150)  für:  genug  der 
schönen  Dinge  (nicht  Träume,  wie  S.  XXIII  übersetzt  ist). 


9IM  Gott.  gel.  Anz.  VSJß.  N'r.  12 

nicht  mehr  am  Leben,  aber  die  Anerkennung  darf  seinem  Andenkea 
nicht  versagt  werden,  daß  er  mit  anermädlicbem  Fleiß  bestrebt  ge- 
wesen, die  großen  handschriftlichen  Schätze  der  seiner  Ldtnag 
unterstellten  Sammlung  der  Wissenschaft  zu  erschließen,  und  dafi  es 
ihm  gelungen  ist,  der  deutschen  Geschichte  und  der  deutschen  Lite- 
ratur wichtige  neue  Quellen  zuzuführen. 

Göttingen,  September  1906  F.  Frensdorff 


F   Ka«ke,   Begriff  der  Tragödie  nach  Aristoteles.    8*.    63  S.    tieriia 
1906. 

Vf.  Stellt  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchung  über  die  berühmte 
Tragödiendefinition  S.  56  in  einer  Übersetzung  zusammen.  cEs  ist 
also  Tragödie  die  Nachahmung  einer  ernsten  und  abgeschlosseneo 
Handlung  von  bestimmter  Ausdehnung  in  wohllautender  Sprache,  deren 
yerschiedene  Eunstformen  in  den  einzelnen  Abschnitten  jedesmal  be- 
sonders zur  Anwendung  kommen.  Sie  vollzieht  sich  in  Form  der 
persönlichen  Handlung  und  nicht  vermittelst  der  Erzählung,  unter 
Erregung  von  Mitleid  und  Furcht,  doch  so,  daß  sie  wieder  eine  Rei- 
nigung von  solchen  Gemütserregungen  bewirkt  > 

Die  Ausführungen  über  den  ersten  Teil  der  Definition,  bis  sv 
Toic  fioptoic,  sind  im  ganzen  sehr  zutreffend .  Besonders  gelungen  ist 
der  Nachweis,  daß  die  enge  Verbindung  von  Mitleid  und  Furcht,  wie 
sie  Lessing  durchgeführt  wissen  wollte,  nicht  aufrecht  zu  erhalten  ist. 
Auch  die  Erklärung  von  1453  a  4  fößoc  xepl  töv  Zpjotov  ist  ganz  richtig: 
>fur  den,  der  ebensowenig  wie  der  ideale  Zuschauer  ein  Verbrecher 
ist  und  darum  auch  unsere  Teilnahme  verdiente ;  es  hätte  hinzugefügt 
werden  können,  daß  der  8{totoc  auch  kein  Tugendideal  sein  dürfe. 
Zu  eng  ist  die  Auffassung,  nach  der  der  Held  des  Dramas  ausschließ- 
lich das  Objekt  der  Furcht  sein  soll.  Wenn  der  ^ßog  einmal  als 
besonderer  Affekt  vom  Mitleid  abgetrennt  ist,  so  kann  er  auch  durch 
Dinge  hervorgerufen  werden,  die  sich  nicht  unmittelbar  auf  den  Hel- 
den beziehen.  Es  ist  eben  die  von  Lessing  verpönte  Übersetzung 
>Sclirecken<  nicht  so  falsch,  wie  er  hat  glauben  machen  wollen. 

Sehr  nützlich  ist  S.  26  ff.  die  kurze  Übersicht  über  die  verschie- 
denen Interpretationen  der  Katharsis.  Von  dem  neuen  Versuch  des 
Vf.,  das  viel  umstrittene  Wort  zu  erklären,  müssen  wir  einläßlicher 
sprechen. 


Knoke,  Begrifl"  der  Tragödie  nach  Aristoteles  995 

Vf.  betont  S.  27  von  vornherein,  daß  die  Tragödie  wie  alle 
Kunst  ihrem  Wesen  nach  keinen  moralischen  Zweck  verfolgen  könne, 
und  daß  es  namentlich  Aristoteles  fem  gelegen  habe,  wenigstens  in 
der  von  ihm  gegebenen  Definition,  eine  solche  Aufgabe  dem  tragischen 
Dichter  zuzuweisen.  Ebenso  S.  56:  >die  Kunst  kann  immer  nur 
Selbstzweck  sein<.  Daß  das  die  heute  herrschende  Meinung  ist,  soll 
nicht  bestritten  werden.  Aber  es  müßte  zuerst  nachgewiesen  werden, 
daß  es  auch  die  des  Aristoteles  sei,  der  sich  dann  zuerst  von  der 
übereinstimmenden  Auffassung  des  Altertums  getrennt  hätte.  Denn 
daß  der  Dichter  der  Lehrer  seines  Volkes  sei,  stand  wenigstens  dem 
fünften  Jahrhundert  fest;  und  das  Verdammungsurteil,  das  Piaton 
über  die  Poesie  fällt,  ist  doch  nur  damit  begründet,  daß  sie  ihrem 
hohen  Amt  nicht  gerecht  zu  werden  vermöge. 

Vf.  sieht  ein,  daß  von  der  >  Wirkung  nach  außen  <  nur  abgesehen 
werden  kann,  wenn  der  Schlußsatz  der  Definition  nicht  zu  ihren 
integrierenden  Bestandteilen  gehört.  Er  stellt  deshalb  fest,  daß  >die 
eigentliche  Definition  des  Begriffes  Tragödie  mit  dem  Worte  iv  |iopiotc 
bereits  zu  Ende  ist,  und  daß  die  folgenden  Sätze  nur  noch  als  eine 
Erläuterung  des  vorher  Erwähnten  angesehen  werden  dürfen.  <  Die 
Definition  enthielte  also  eigentlich  nur  die  Bezeichnung  des  StofiGs, 
die  Forderung  der  Abgeschlossenheit  in  sich  und  einer  gewissen  Aus- 
dehnung, und  die  Angabe  der  sprachlichen  und  musikalischen  Mittel. 
Die  »ernste  Handlung <  soll  durch  8i'  IXdoo  xal  ^rißoo,  der  bestimmte 
Abschluß,  teXeiac,  durch  den  Schlußsatz  der  Definition  erläutert  werden. 
Daß  diese  Erklärung  mislich  ist,  lehrt  schon  die  Wichtigkeit,  die  in 
der  ganzen  Poetik  den  Begriffen  IXsoc  und  ^ößoc  beigelegt  wird. 
Noch  viel  mehr  die  Erwägung,  daß  eine  solche  Definition  nach  den 
logischen  Grundsätzen  des  Aristoteles  gar  keine  wäre.  Sie  enthielte 
wohl  8ovd|iei  die  Form  der  Tragödie,  nicht  aber  ivspifetof,  und  so  fehlte 
durchaus  das  SvExa  rcovSi,  die  Angabe  des  Zweckes,  aus  der  erst  das 
Wesen  einer  Sache  hervorgeht.  Es  darf  also,  im  Gegensatz  zum 
Vf.,  nicht  bestritten  werden,  daß  zum  allermindesten  die  Worte 
Tcepaivoooa  rijv  xm  toiootcDv  Tcadr^jidrcov  xddapaiv  der  Hauptsatz  der 
Definition  sind. 

Wenn  dies  so  ist,  so  kann  SC  iXdoo  xal  ^ ößoo  von  Tcspaivooaa  tX. 
nicht  getrennt  werden.  Der  Vf.  bestreitet  allerdings,  daß  dadurch 
das  Mittel  angegeben  werden  könne,  die  gleichen  Affekte  > auszu- 
treiben«. Aber  er  sagt  doch  S.  55  selbst:  >Nur  die  Mittel,  durch 
welche  die  Tragödie  wirkt,  wollte  Aristoteles  bezeichnen,  und  die 
sind,  abgesehen  von  denen,  die  aus  dem  Stoff  und  der  Form  der 
Darstellung  sich  ergeben,  Mitleid  und  Furcht,  die  indessen  bei  einem 


996  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

richtig  angelegten  Kunstwerk  wieder  zur  Auflösung  gelangen.«  Also 
>MitteI«  sind  es  doch,  trotzdem  das  vorher  bestritten  wurde;  nur 
nicht  Kittel  der  Katharsis.  Aber  wie  in  aller  Welt  können  >MitteI< 
zur  Auflösung  gelangen?  Damit  gibt  doch  der  Vf.  unumwunden 
zu,  dafi  es  nicht  bloße  Mittel  der  Darstellung  sind,  sondern  sich  in 
ihnen  eben  der  Zweck  der  Tragödie  ausspricht.  Ob  wir  nun  über- 
setzen > unter  Erregung  von  Mitleid  und  Furcht«  oder  »durch  Mitleid 
und  Furcht<,  ist  irrelevant;  genug,  daß  auch  nach  dem  Vf.  diese 
iradi^|iata  zum  Schluß  der  Katharsis  unterworfen  werden  müssen.  Die 
Sonderung  ist  also  von  ihm  selbst  begrifflich  wieder  aufgehoben. 

Der  Vf.  hat  zu  der  Stelle  der  Politik,  wo  die  Katharsis  zum 
erstenmal  auftritt,  Polit.  VUI  5,  die  Bemerkung  gemacht,  Mitleid  und 
Furcht  sowie  der  Enthusiasmus  seien  Erzeugnisse  der  künstlerischen 
Darstellung.  Das  hat  imgrunde  niemand  bezweifelt,  und  ebensowenig, 
daß  diese  Tcadi^itata  innerhalb  des  Kunstwerkes  wieder  der  Katharsis 
unterliegen.  Aber  es  bleibt  dabei  unverständlich,  und  danach  hat 
der  Vf.  auch  nicht  gefragt,  warum  denn  überhaupt  in  diesen  Erregungen 
wieder  eine  » Reinigung  <  oder  wie  man  die  Katharsis  fassen  will,  ein- 
treten müsse.  Man  sollte  denken,  wenn  sie  die  Mittel  zur  Darstellung 
der  ernsten  Handlung  sind,  so  würde  es  doch  genügen,  sie  hervor- 
gerufen zu  haben.  Es  wird  nun  mehrfach  betont,  daß  durch  den 
Schluß  des  Dramas  der  Mensch  wieder  in  den  normalen  Zustand  des 
Gemütes  versetzt  werden  soll.  Der  Vf.  findet  diesen  Vorgang  in  dem 
»Triumph  der  guten  Sache,  der  die  durch  Mitleid  und  Furcht  erregte 
unlustvolle  Seelenstimmung,  diese  Mißklänge  der  Tragödie,  in  har- 
monische Töne  auflöst.«  S.  76.  Damit  tritt  aber  die  Erörterung  ans 
dem  Kreise  des  rein  Künstlerischen  heraus,  und  der  Vf.  gibt  auch 
selbst  zu,  daß  es  für  den  künstlerischen  Wert  nach  Aristoteles  auch 
»auf  die  Befriedigung  des  sittlichen  Gefühls <  ankomme  S.  73;  nur 
daß  Aristoteles  dies  nicht  »als  Zweck  der  Tragödie,  aber  doch  als 
eine  notwendige  Bedingung  hinstelle  <. 

Wenn  man  es  nicht  schon  längst  wüßte,  könnte  die  vorliegende 
Schrift  beweisen,  daß  es  unmöglich  ist,  in  dieser  Sache  den  Aristoteles 
aus  sich  selbst  zu  erklären.  Man  kommt  nicht  weiter  als  zu  Wahr- 
scheinlichkeiten und  Mutmaßungen,  die  auch  durch  gewagte  Heran- 
ziehung dichterischer  Werke  keine  größere  Überzeugungskraft  ge- 
winnen. Denn  in  erster  Linie  handelt  es  sich  darum  zu  wissen,  was 
Aristoteles  hat  sagen  wollen,  und  das  ist  aus  seinen  Worten  nun 
einmal  nicht  auszumachen.  Das  hat  schon  Bernays  gesehen  und  sich 
deshalb  an  die  Neuplatoniker  gewendet.  Ref.  hat  im  Anschluß  an 
Beiger  und  Wilamowitz  einen  andern  Weg  eingeschlagen  und  ist  zn 


Knoke,  Begriff  der  Tragödie  nach  Aristoteles  997 

folgenden  Resultaten  gekommen  (Piaton  und  die  aristotelische  Poetik, 
Leipzig  1900),  die  hier  nur  ganz  kurz  skizziert  werden  können. 

Piaton  hatte  die  Poesie,  Homer  wie  die  Tragödie,  angegri£fen, 
weil  sie  ihrer  hohen  Aufgabe,  Wegweiserin  der  Menschen  zum  Schönen 
und  Guten  zu  sein,  nicht  gerecht  werde  noch  werden  könne.  Sie 
wende  sich  vielmehr  an  den  vernunftlosen  Seelenteil,  der  immer  zur 
Wiedererinnerung  und  zum  Klagen  geneigt  sei.  Sie  bewirke  durch 
Erregung  von  Mitleid,  Sinnenlust,  Zorn,  Furcht  und  allen  Begierden 
eine  mit  Lust  verbundene  Befriedigung  dieser  krankhaften  Seelen- 
zustände.  Dem  Verdammungsurteil  Piatons  über  die  Poesie  tritt 
Aristoteles  in  seiner  Definition  entgegen.  Von  den  Affekten,  die 
Piaton  nennt,  wählt  er  nur  Mitleid  und  Furcht,  gibt  zu,  daß  es  die 
wesentlichsten  Mittel  der  Tragödie  seien,  behauptet  aber,  daß  die 
Tragödie  durch  sie  selbst  die  Katharsis  dieser  Seelenleiden  her- 
vorrufe. 

Was  an  unserer  Stelle  Katharsis  sei,  lernen  wir  wieder  nur  aus 
Piaton.  Dieser  hat  im  Timaios  mit  dem  Worte  die  Heilung  der 
körperlichen  Krankheitszustände  bezeichnet,  die  auf  unrichtiger  Ver- 
teilung der  Elemente  beruhen,  also  jede  Art  heilsamer  Einwirkung 
auf  den  Körper.  Sie  bezweckt  die  Wiederherstellung  der  inneren 
Ordnung.  Unter  ihren  Arten  interessiert  uns  wesentlich  die  durch 
eine  von  außen  kommende  Bewegung  und  Erschütterung.  Diese  Heil- 
methode sehen  wir  in  den  Gesetzen  auf  seelische  Zustände  übertragen, 
und  zwar  zur  Heilung  von  Furchtempfindungen.  Auf  solche  wird  die 
Schlaflosigkeit  der  kleinen  Kinder,  sowie  die  orgiastische  Verzückung 
zurückgeführt.  Bei  dieser,  der  Tanzwut,  hat  die  von  außen  zuge- 
führte Erschütterung  homöopathischen  Charakter,  indem  die  krank- 
haften Zustände  durch  Tanz  und  Flötenspiel  besänftigt  werden.  Diese 
Ausführungen  nahm  Aristoteles  um  so  lieber  auf,  als  sie  seiner  An- 
schauung vom  richtigen  Seelenzustand  entsprachen.  Alle  wesentlichen 
Teile  seiner  Definition  fand  er  bei  Piaton  vor.  Er  dehnte  die  homöo- 
pathische Wirkung  auf  das  Mitleid  aus,  übertrug  die  Heilung  be- 
stimmter Furchtempfindungen  auf  die  Furcht  überhaupt  und  schloß 
alle  anderen  Affekte  von  der  Tragödie  aus.  So  rettete  er  mit  Piatons 
Waffen  die  Poesie  vor  Piatons  Verdammungsurteil.  Er  gab  zu,  daß 
die  Erregung  von  Mitleid  und  Furcht  die  krankhaft  angeregten  Seiten 
der  Seele  besonders  afSzieren,  fand  aber  gerade  darin  deren  Heilung  ^). 

1)  Bei  der  Uebersetzung  von  xdi^apoic  hätte  ich  es  bei  dem  Ausdruck  »Hei- 
lunge bewenden  lassen  soUen.  Ebenso  ist  Polit.  yiII5  an  dem  Ausdruck  woncp 
2aTpc{ac  Tu^övrac  xal  xaOtipocuic  nichts  zu  ändern,  da  die  Tautologie  lediglich  aus 
dem  nicht  selten  etwas  leichtfertigen  Stil  des  Aristoteles  zu  erklären  ist. 


998  Oött.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

Hatte  Piaton  die  durch  die  Poesie  erweckte  i^Sovm)  als  etwas  Verwerf- 
liches bezeichnet,  so  erblickte  nun  Aristoteles  in  dem  durch  die  Heilung 
hervorgerufenen  Gefühl  eine  erstrebenswerte  Lustempfindung. 

Zum  Schluß  untersucht  der  Vf.  die  Frage,  ob  Aristoteles  von 
der  tragischen  Schuld  spreche,  und  bejaht  sie  durch  den  Hinweis  auf 
das  Bild,  das  er  vom  tragischen  Helden  entwirft.  Darin  hat  er  jeden- 
falls Recht.  Aber  der  Versuch,  diese  tragische  Schuld  in  den  Dramen 
des  Aischylos  und  besonders  des  Sophokles  nachzuweisen,  ist  ihm 
nicht  gelungen,  damit  auch  nicht  der  Nachweis,  daß  in  dem  Sieg  der 
gerechten  Sache  diese  Dichter  die  Katharsis  durchgeführt  hätten. 
Für  die  lebendige  Dichtung  ist  die  aristotelische  Theorie  viel  zu  eng, 
und  der  Philosoph  hat  auch  gar  nicht  von  jeder  Tragödie  den  Sturz 
des  fehlenden  Helden  gefordert.  Er  sagt  nur,  daß  die  Stücke  den 
Namen  des  Tragischen  am  meisten  verdienen,  die  seinen  Anforderungen 
am  meisten  entsprächen.  Das  ist  weder  bei  Antigone  noch  bei  Oidipos 
der  Fall,  und  der  Vf.  sucht  ihnen  vergeblich  eine  Schuld  nachzuweisen. 
In  der  Elektra  sucht  man  umsonst  nach  einer  Sühne  für  die  voraus- 
zusetzende Schuld,  von  Philoktetes  zu  schweigen.  Hier  wäre  überall 
im  Gegenteil  der  Nachweis  geboten,  daß  die  falschen  modernen  Schul- 
begriffe durch  die  aristotelische  Poetik  wo  nicht  verursacht,  so  doch 
veranlaßt  worden  sind.  Erst  durch  Aristoteles  ist  der  Begriff  des 
Trauerspiels  in  die  Welt  gekommen,  von  dem  die  attischen  Dichter 
gar  keine  Ahnung  hatten.  Auf  ihn  geht  die  Forderung  der  poetischen 
Gerechtigkeit  wie  die  Erfindung  der  tragischen  Schuld  zurück,  die 
man  womöglich  von  der  sittlichen  unterscheidet.  Zum  Verständnis 
der  alten  oder  modernen  Tragödie  tragen  die  Versuche,  sie  mit  der 
aristotelischen  Poetik  in  Einklang  zu  bringen,  nicht  das  geringste 
bei.  Man  wird  sich  gewöhnen  müssen,  die  letztere  als  das  anzusehen, 
was  sie  ist:  ein  wichtiges  Monument  aus  der  ästhetischen  Ent- 
wicklung des  Altertums,  aber  nie  und  nimmer  als  ein  Gesetzbuch 
der  Poesie. 

Bern  Georg  Finsler 


H«  Breymann,  Calderon-Studien.  I.  Teü:  Die  Galderon-Literator, 
eine  bibliographisch-kritische  Uebersicht.  München  u.  Beriin.  R.  Oldenboorj^ 
1906.   Xn  +  314  S.    gr.  8. 

Nicht  ohne  Scheu  wage  ich  mich  an  die  Besprechung  dieses 
Buchs,  nachdem  A.  L.  Stiefel,  der  sich  durch  zahlreiche  kleinere 
Arbeiten  als  einen  gut  ausgerüsteten  Kenner  der  spanischen  Theater- 
geschichte  und  ihrer  bibliographischen  Geheimnisse  ausgewiesen  hat, 


H.  Breymann,  Calderonstudien.  I  999 

sein  verdammendes  Urteil  darüber  gesprochen:  >Man  kann  das  Buch 
nur  mit  Vorsicht  gebrauchen  ...  Es  fehlen  dem  Werk  die  richtige 
Methode,  die  unerläßliche  peinliche  Sorgfalt,  der  kritische  Blick,  die 
erschöpfende  Sachkenntnis,  mit  einem  Worte  die  Haupteigenschaften 
einer  zuverlässigen  Bibliographie. <  Solch  ein  wuchtiges  Verdikt  ist 
wohl  geeignet,  auch  den  kouragiertesten  Rezensenten  stutzig  zu 
machen;  man  wird  es  daher  gestatten,  daß  ich  mir  zunächst  die 
> Urteilsbegründung«  näher  ansehe,  welche  in  der  Zs.  f.  roman. 
Philol.  (XXX,  325— 54)  über  19  Seiten,  im  Literaturblatt  f.  germ.  u. 
roman.  Philol.  (XVII,  150—56)  volle  6  Spalten  füllt. 

Schon  gegen  Form  und  Inhalt  des  Buchs  (sie)  findet  St. 
einiges  zu  erinnern  (Zs.  235  f.  Lb.  151).  Die  Abschnitte  und  ihre 
Unterabteilungen  sind  nänilich  so  bezeichnet,  daß  >wer  z.  B.  die  da- 
tierten Sammlungen  der  Gomedias  Calderons  braucht,  sie  unter  2,  2, 
I, B, 2, a  zu  suchen  hat.<  Das  ist  ein  Scherz;  denn  auch  ein  Laie 
wird  das  Gesuchte  ohne  jede  Schwierigkeit  —  nach  Ausweis  der 
Inhaltsübersicht  p.  VII  —  auf  S.  27—35  finden,  und  niemand  wird 
es  einfallen,  sich  des  obigen  Sigels  zu  bedienen;  für  solche  Lappalie 
wird  aber  eine  ganze  Druckseite  der  Zeitschr.  in  Anspruch  ge- 
nommen ! 

Alsdann  beanstandet  St.  zahlreiche  Nummern  und  ganze  Ab- 
schnitte der  Bibliographie  als  überflüssig  (Zs.  236  f.  Lb.  L51f.).  Das 
ist  Geschmacksache.  M.  E.  wird  gewiß  mancher  Leser  dem  Verf. 
für  die  bio-bibliographischen  Angaben  über  die  Calderon-Uebersetzer 
Dank  wissen,  während  eiligere  Sucher  bei  der  geschickten  typogra- 
phischen Anordnung  über  diese  Einschiebsel  glatt  hinweggleiten 
werden.  Was  aber  die  besonders  schlimm  weggekommenen  letzten 
Abteilungen  des  7.  Abschnitts  betrifll,  so  sind  die  hier  zusammen- 
gestellten >Ergänzungsschriften<  so  sichtlich  ein  Parergon  zur  eigent- 
lichen Galderon-Bibliograpbie,  daß  sie  niemanden  auf  falsche  Fährte 
führen  können.  Und  sollte  auch  einmal  ein  >junger  Studierender« 
irrtümlich  zu  Amador  de  los  Rios  greifen,  nicht  wissend,  daß  dessen 
spanische  Literaturgeschichte  mit  Beginn  der  Neuzeit  abbricht,  und 
ungeachtet,  daß  nur  der  Titel  des  Werks  ohne  speziellen  Hinweis 
auf  Band-  und  Seitenzahl  angegeben  ist,  —  so  kann  ihm  der  Miß- 
griff nur  frommen  und  zu  seiner  allgemeinen  Bildung  beitragen.  Ein 
billig  denkender  Beurteiler  wird  indessen  erwägen,  daß  der  in  Rede 
stehende  erste  Teil  der  Galderon-Studien  nicht  ausschließlich  eine 
Calderon-Biblographie  ist,  sondern  daß  er  zugleich  über  die  für  den 
zweiten  Band,  Calderons  Leben  und  Werke,  der  ein  einleitendes 
Kapitel  über  Land  und  Leute,  Literatur  und  Kunst  enthalten  soll,  zu 


1000  Gott.  geL  Adz.  19<l6.  Nr.  12 

Rate  gezogenen  Quellen  als  Ausweis  zu  dienen  hat  Jedenfalls  können 
diese  Parerga  dort,  wo  sie  stehen,  keinen  Menschen  stören  noch  irre- 
leiten. 

Der  nächste  Vorwurf,  daß  viele  Werke  nicht  richtig  eingereiht 
sind  (Zs.  238  f.),  ist  sachlich  ungenügend  begründet.  Im  ersten  Ab- 
schnitt, Bibliographie,  hätte  man  allerdings  Resten  {La  eollez. 
PaUU.'Farmensii)  anfuhren  dürfen,  da  der  2.  Abschnitt  gar  oft  darauf 
Bezug  nimmt.  Jedoch  gehört  weder  Gödecke,  Grundr.  z.  Gesch.  d. 
deutsch.  Dichtung,  noch  Schneider,  Spame%ts  Anteil  an  der  deutsch. 
Lit.,  hierher,  weil  hier  nicht  »Bibliographien  überhaupt«,  sondern  die 
Vorläufer  und  Ansätze  zu  einer  Calderon-Bibliographie  Terzeichnet 
werden  sollen.  Wie  die  Ausgaben  von  Schütz,  Comte,  Krefiner  müßte 
folgerichtig  auch  die  von  Hartzenbusch  als  ein  Teil  der  Bibl.  de  aut 
esp.  von  denen  ausgeschlossen  werden,  die  nur  Galderons  Werke,  und 
zu  denen  gestellt  werden,  die  auch  Stücke  anderer  enthalten:  was 
absurd  wäre.  Das  Verlangen,  daß  die  fremdsprachlichen  Ueber- 
setzungen  nicht  nach  der  alphabetischen  Ordnung  der  Länder,  son- 
dern nach  dem  Intensitätsgrade  der  Calderon-Nachahmung  anzuordnen 
seien,  ist  arbiträr  und  widerspricht  dem  Zweck  der  Bibliographie, 
die  nicht  verborgene  Zusammenhänge  darlegen,  sondern  vor  allem 
ein  bequemes  und  übersichtliches  Repertorium  sein  soll.  Bei  größerer 
Achtsamkeit  hätte  St.  ferner  gemerkt,  daß  Abschn.  7, 1  (Schriften 
über  Galderons  Leben  und  Werke  im  allgemeinen)  nicht  die  Schriften 
meint,  die  eigeus  und  allein  Galderon  gewidmet  sind,  »sondern  die 
Schriften  (resp.  Kapitel  oder  Seiten  von  Schriften),  die  über  >Cal- 
deron  im  allgemeinen <  reden,  im  Gegensatz  zu  denen,  »die  nur  ein- 
zelne Werke  desselben  behandeln«  (Abschn.  7,11).  Gewiß  läßt  sich 
über  die  Einreibung  einzelner  Werke  streiten;  das  von  St.  vorge- 
brachte ist  aber  belanglos  oder  unhaltbar,  weil  er  sich  nicht  die 
Mühe  genommen,  die  Intentionen  des  Verf.  zu  begreifen. 

Schwerlich  wird  jemand  erwartet  haben,  daß  eine  umfängliche 
bibliographische  Zusammenstellung  wie  diese  gleich  auf  den  ersten 
Wurf  fehlerlos  ausfalle.  Es  versteht  sich  daher,  daß  St.  eine  Reihe 
von  Lücken  nachweisen  konnte  (Zs.  239—45.  Lb.  152  f.),  umsomehr, 
als  er  eine  seit  1891  druckfertige  Arbeit  über  die  Gesamtausgaben 
Galderons  und  die  Sammlungen  spanischer  Gomedias,  in  welchen 
Stücke  Galderons  vorkomn^n,  im  Ms.  liegen  hat.  Von  seinen 
ergänzenden  Beiträgen  (s.  auch  Zs.  251  Z.  14)  nehmen  wir  gerne 
Notiz. 

Gerügt  wird  ferner  als  ein  Mangel,  daß  gewisse  Werke  nidit 
in  ihrer  ersten,  sondern  in  späteren  Ausgaben  angeführt  werden  (Zs. 


H.  Breymann,  Calderonstudien.  I  1001 

245  f.  Lb.  153  f.).  Soweit  es  sich  um  jene  von  St.  selbst  als  über- 
flüssig beanstandete  Parerga  handelt  wie  Moratins  Origenes,  Ricardo 
de  Turias  ApologeticOy  Sebastian  y  Lastres  Ensayo,  die  keine  direkte 
Beziehung  zu  Calderon  haben,  so  sehe  ich  wirklich  nicht  ein,  in 
wiefern  ein  Hinweis  auf  irgend  einen  bequem  erreichbaren  Druck 
nicht  genügen  sollte;  ebenso  wenig  ist  mir  erfindlich,  welchen  Wert 
hier  die  Anführung  der  für  Calderon  absolut  gleichgiltigen  Erstaus- 
gabe der  zwei  ersten  Bände  der  HisL  du  theatre  frang.  der  Brüder 
Parfaict  haben  soll.  Es  geht  aber  nicht  an,  eine  absichtliche  und 
zweckmäßige  Beschränkung  zur  Unwissenheit  zu  stempeln.  Wichtiger 
und  zur  Sache  gehörig  sind  natürlich  genaue  Angaben  über  die  erste 
Aufifuhrung  und  Drucklegung  der  ausländischen  Calderon  -  Nach- 
ahmungen von  Th.  Corneille,  Scarron,  usw.;  können  wir  aber  dem 
Calderon-Bibliographen  zur  Pflicht  machen,  daß  er  in  diesem  Punkte 
den  Spezialuntersuchungen  vorgreife?  So  bleibt  denn  von  St.s  Sünden- 
register (mehr  als  eine  Seite  der  Zschft.)  am  Ende  nur  H.  Lucas, 
Eist.  phü.  ä  litt  du  theatre  frang,,  dessen  erste  Ausgabe  wegen 
ihres  Datums  (1843,  das  Erscheinungsjahr  von  Puibusque)  genannt 
zu  werden  verdiente;  praktisch  hatte  ihre  Anfuhrung  sonst  keinen 
Wert. 

Eine  weitere  Seite  widmet  St.  den  Werken,  die  der  Verf.  als 
unerreichbar  bezeichnete  (Zs.  246.  Lb.  153),  und  triumphierend  weist 
er  auf  das  Vorhandensein  von  mehreren  in  der  Münchener  Hof-  und 
Staatsbibliothek  hin;  wichtig  ist  von  diesen  insgesamt  nur  Whitneys 
Katalog  der  Ticknorschen  Bibliothek.  Des  Rätsels  Lösung  liegt  viel- 
leicht nicht  weit  ab.  Augenscheinlich  ist  das  eine  von  den  erwähnten 
Werken,  Lord  Hollands  Life  of  L.  de  Vega,  das  der  Verf.  auf  deut- 
schen Bibliotheken  vergeblich  gesucht  hatte,  erst  nachträglich  aus 
Schacks  Nachlaß  (f  1894)  in  den  Besitz  der  Münchener  Bibliothek 
übergegangen  (und  wann?  und  auf  welchem  Umweg  vielleicht?); 
wird  man  nicht  fragen  müssen,  ob  nicht  etwa  die  anderen  auch  erst 
jüngst  erworben  sind,  nachdem  der  Verf.  die  Hoffnung,  sie  je  zu 
sehen,  schon  längst  aufgegeben  hatte? 

Auch  die  Beschreibung  der  älteren  Calderon- Ausgaben  gibt  St. 
manchen  Anlaß  zu  Aussetzungen  (Zs.  247—9.  251  Z.  14  ff.  252  unten. 
Lb.  154 f.);  und  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  dies  der  besserungs- 
bedürftigste Teil  der  vorliegenden  Bibliographie  ist.  Wozu  mußten 
aber  die  berechtigten  Bemerkungen  durch  die  ungerechte  Unter- 
stellung wieder  wett  gemacht  werden,  als  habe  der  Verf.  die  Iden- 
tität der  S.  40  erwähnten  Neuauflage  des  2.  Bandes  und  der  Ausgabe 
von  Vera  Tassis  nicht  geahnt,  wo  er  sich  doch  sowohl  S.  40  in  der 
von  St.  (Zs.  248  oben)  abgedruckten  Schlußbemerkung  als  S.  42  (ad 

G«tt  g«I.  Aas.  1906.  Nr.  18  70 


1002  Gott.  gel.  Anz.  1906.  Nr.  12 

1682)  auf  das  gleiche  Madrider  Exemplar  (B. N.T.  11544)  beruft? 
allerdings  hat  St.  den  Hinweis  auf  dieses  in  der  von  ihm  abge- 
druckten Schlußbemerkung  unterdrückt.  Wozu  diese  persönliche 
Animosität  in  der  Polemik,  die  nur  den  Sachverhalt  verwirrt? 

Zum  Schluß  führt  endlich  St.  unter  verschiedenen  Titeln  noch 
25  bis  30  Fehler  und  Ungenauigkeiten,  z.  T.  recht  geringfügiger 
Natur  an,  z.  B.  Friederichs  für  Friderichs,  Velasquez-Dieze  hat  zu 
den  14  u.  155  S.  noch  drei  ungezählte  am  Ende,  bei  mehrbändigen 
Werken  ist  öfters  nur  die  Jahreszahl  des  allein  in  Betracht  kommen- 
den Bandes  angegeben,  u.  dgl.  Mißlich  sind  Schnitzer  wie  die  Bois- 
robert  beigelegte  Bezeichnung  d'Ouville.  Wenn  aber  der  Verf.  in 
übertriebener  Peinlichkeit  eine  Angabe  aus  spanischer  Quelle,  die  er 
nicht  kontrollieren  konnte,  wortgetreu  übernimmt:  Duvert  y  Lauzanne, 
Renaudin  de  Caen,  so  ist  es  doch  kindisch,  ihm  unterzuschieben, 
er  habe  die  beiden  französ.  Vandevillisten  für  einen  doppelnamigen 
Spanler  gehalten. 

Nach  all  dem  kann  ich  die  Kritik,  wie  sie  Stiefel  an  Breymanns 
Calderon-Bibliographie  geübt  hat,  weder  als  sachlich  noch  als  ernst 
anerkennen.  Daß  das  Werk  manche  Nachträge  und  Verbesserungen 
erheischt,  ist  gewiß  und  fühlte  der  Verf.  selber,  als  er  in  der  Vor- 
rede sagte:  »Je  mehr  ich  mich  in  meine  Aufgabe  vertiefte,  desto 
klarer  trat  mir  die  Schwierigkeit  vor  Augen,  auf  allen  Gebieten  und 
in  allen  Teilen  gleichmäßig  orientiert  zu  sein  ...  So  kann  ich  mich 
denn  auch  der  wehmütigen  Befürchtung  nicht  erwehren,  daß  trotz 
ernsten  und  heißen  Strebens  nach  abschließender  VoIlstfLndigkeit  doch 
manches  übersehen  oder  irrtümlich  beurteilt  worden  ist;  auch  blieb 
ja  manches  Werk  unzugänglich.  Aber  freundliche  Nachsicht,  so  hoffe 
ich,  wird  mir  wohl  von  jedem  zugebilligt  werden,  der  aus  eigener 
Erfahrung  den  oft  dornenvollen  Pfad  bibliographischer  Untersuchungen 
kennt.«  —  Diese  freundliche  Nachsicht  hat  der  Verf.  für  sein  reich- 
haltiges, sorgsames  und  handliches  Sammelwerk  verdient,  das  be- 
sonders in  dem  persönlichsten,  dem  kritisch  referierenden  Teil  recht 
wertvoll  ist  und  bleiben  wird.  Ich  will  versuchen  unter  Wahrung 
derselben  mit  den  mir  zu  Gebote  stehenden  Hülfsmitteln  auch  mein 
Scherflein  zur  Ergänzung  beizutragen. 

Der  bessernden  Hand  bedarf  vor  allem  das  Kapitel  von  den 
Calderon-Ausgaben.  I<ch  gehe  nur  auf  die  Comedias  ein,  deren  Drucke 
ich  folgendermaßen  anordnen  würde :  a)  Gesamtausgaben  su  Calderons 
Lebzeiten,  b)  vermischte  Ausgaben  mit  Stücken  auch  von  anderen 
Dichtem,  c)  Vera  Tassis  mit  den  ScheinansgaiMii,  d)  Nachdruck  von 
6.  de  la  Plaza,  e)  Apontes,  f)  Sammelbän(te  von  Sueltas,  g)  Sueltas 
überhaupt,    h)  neuere  Ausgaben  von  Oarcia  de  la  BiMrte  bis  heute. 


H.  Breymann,  Calderonstudien.  I  1003 

—  Zu  Calderons  Lebzeiten  erschienen  die  Prim  er  a  und  Segunda 
parte  von  seinem  Bruder  Joseph  besorgt,  1636  u.  1637,  dazu  ein 
Nachdruck  von  1640  u.  1641;  femer  die  Tercera  p.  von  Ventura 
de  Vergara  Salcedo  1664,  die  Quarta  p.  1672/3  mit  einem  Nach- 
druck von  1674,  und  die  von  Galderon  selber  verleugnete  Quinta 
p.  1677.  Hier  ergibt  sich  chronolog.  Anordnung  von  selbst.  Hieran 
schließt  sich  die  Publikation  einzelner  Stücke  in  den  Comedias  de 
varios  autores  XXV— XLUI  (1632-50),  in  El  mejor  de  los 
mejores  libros  (1651  u.  53)  und  in  den  Comedias  escogidas 
I — XLVI  (1652—79),  mit  zwei  Lissabonner  Sammlungen  (1652  u. 
53),  einem  Wiener  Druck  (1668)  und  von  späteren  zwei  Valencianer 
(1688  u.  89),  eine  Kölner  (1697)  und  eine  Amsterdamer  Sammlung 
(1726)  als  Beiwerk. 

Von  der  Ausgabe,  die  nach  dem  Tode  des  Dichters  sein  Freund 
Juan  de  Vera  Tassis  y  Villaroel  veranstaltete,  gilt  das,  was 
s.Z.  F.  Wolf  im  Suppl.  zu  Ticknor-Julius  p.  115 f.  gesagt,  noch 
immer  mit  einer  wichtigen  Modifikation.  Er  begann  nämlich  die 
Publikation  mit  der  Verdadera  quinta  parte  1682,  ließ  dann 
die  Sexta  1683,  die  Septima  (?)  und  Octava  1684  folgen,  um 
erst  jetzt  die  Primera  1685,  Segunda  1686,  Tercera  1687  und 
Quarta  1688  neu  aufzulegen  und  1691  noch  eine  No  vena  parte 
zu  geben;  von  der  Verd.  quinta  p.  erschien  dann  1694  noch  ein 
Neudruck.  Zur  Herstellung  vollständiger  Sammlungen  der  neun  Teile 
veranstalteten  aber  gewinnsüchtige  Buchhändler  Scheinausgaben 
einzelner  Bände,  indem  sie  die  betreffenden  Stücke  in  den  gerade 
vorhandenen  Einzeldrucken  (sueltas)  mit  einem  speziell  für  den  Zweck 
gedruckten  Titelblatt  (nebst  Auswahl  aus  den  Preliminares)  ver- 
einigten. So  findet  sich  selten  ein  vollständiges  echtes  Exemplar  zu- 
sammen. Die  Wiener  Hofbibliothek  besitzt  zwei  Exemplare  dieser 
Ausgabe;  das  eine  (*38R19)  enthält  11685,  II1686,  III 1687,  IV 
1688,  VM694,  VIi7i5,  \IL1715,  VIH 1684,  1X1691;  das  zweite 
(BE.  7.  M.  3)  hat  Bd.  I  1685  und  V^  1694  echt,  die  übrigen  in  Schein- 
ausgaben; außerdem  ist  ein  Exemplar  des  Nachdrucks  von  1726 
(I-m.u.  VIH),  resp.  1698  (IX)  vorhanden  mit  Bd.  IV— VU  in 
Scheinausgaben.  Diese  Scheinausgaben  sind  datiert  *II  1683,  *III  1687, 
♦IV  1688,  *V  1694,  *VI  1683,  *VII  1683,  *Vm  1684,  *IX  1691.  Die 
Titel  bleiben  die  gleichen,  die  verwendeten  Einzeldrucke  sind  in  den 
einzelnen  Exemplaren  verschieden;  die  unpag.  Approbation  von  fr. 
M.  de  Guerra  ist  in  dem  einen  Exemplar  richtig  dem  6.,  im  ajQderen 
irrtümlich  dem  5.  vorgebunden.  Ein  echtes  Exemplar  der  Septima 
parte  von  Vera  Tassis  scheint  nicht  nachgewiesen (?).   Genauere  Be- 

70* 


1004  Oött.  gel.  Anz.  1906.   Nr.  12 

Schreibung  der  Londoner  und  Pariser  Exemplare  dieser  Ausgaben 
fehlen  und  wären  erwünscht. 

Sammelbände  von  Sueltas  verzeichnet  Br.  S.  35 — 39  und 
47  (ad  1763—83  u.  1763—85).  Auf  der  Wiener  Hofbibliothek  sind 
drei  solcher  Sammlungen  vorhanden:  1)  Comedias  de  varies 
autores  9  Bde  (*38V4),  darin  von  Calderon:  Bd.  I.  Ensetiarse  ä 
ser  buen  rey,  Ponte  de  Mantible  unter  L.  de  Vegas  Namen;  Bd.  VII. 
El  page  de  Don  Alvaro,  El  pintor  de  su  dishonra^  Gada  uno  can  su 
igual;  Bd.  VIII.  Zehs  no  of  enden  al  sol,  El  conde  Lucanor,  Los  iriuff^ 
fos  de  Joseph]  Bd.  IX.  El  mejor  amigo  el  muerto  de  3  ing.,  Para 
vencer  ä  amor  querer  vencerle,  alle  s.  1.  e.  a.  —  2)  Comedias 
sueltas  antiguas  12  Bde  (i'38V26):  Bd.  I.  El  mejor  amigo  d 
muerto  de  3  ing.  Salam.  N.  47.  Bd.  II  [El  principe  de  los  mantes, 
Salam.  N.  39];   Bd.  IV.   La  mejor  luna  africana  de  3   ing.,  Valenc. 

1764.  N.  76,  El  monstruo  de  la  fartuna  de  3  ing.  s.  1.  e.  a.  N.  14; 
Bd.  XI.  Enfermar  con  el  repnedio,  Vallad.  s.  a.  —  3)  Coleccion  de 
comedias  antiguas  18Bde  (i'38Tl2):  Bd.  I.  La  mejor  luna  afri- 
cana de  3  ing.,  Valenc.  1764.  N.  76,  Quien  calla  otarga  s.  1.  e.  a.; 
Bd.  V.  El  pastor  fido  de  3  ing.,  Madr.  1751.  N.  100,  El  escandalo 
de  Orecia,  Bare.  1758;  Bd.  VII.  El  mejor  amigo  el  muerto  de  3  ing., 
Valenc.  1777.   N.  222,  El  mmistruo  de  la  fartuna  de  3  ing.,  Valenc. 

1765.  N.  14,  Las  armas  de  la  hermasura^  Salam.  s.  a.  N.  38;  Bd. 
VIII.  Numa  lo  peor  es  cierto,  s.  1.  e.  a.  N.  117,  Luis  Perez  d  Gallego, 
s.  1.  e.  a.,  Bd.  XL  Amor  Iwnor  y  pader  (hered.  de  Gabr.  de  Leon, 
k  la  puerta  del  sol.).  N.  288.  --  Die  hiesige  Universitätsbibliothek 
besitzt  gleichfalls  eine  Sammlung  von  Sueltas:  Comedias  de  va- 
ries autores  3  Bde  (1195789),  darin  von  Calderon:  Bd.  I.  Ä  se- 
crelo  agravio  secreta  venganga^  El  Purgatario  de  S.  PcUriciOj  El  pintor 
de  SU  deshonra,  La  barbara  de  los  monies,  s.  1.  e.  a.;  Bd.  IL  Las 
manos  blancas  no  ofcnden,  55  S.,  Mejor  estä  que  estava,  N.  125,  La 
hija  del  ayre,  N.  262;  Bd.  III.  La  dama  duende,  Madr.  1729,  N.  48, 
La  vida  es  sueüo,  Madr.  1730,  N.  78,  Las  manos  blancas  no  ofenden 
Madr.  1731.   N.  82.   Las  tres  justicias  en  una,  s.  1.  e.  a.    N.  99. 

Die  meiste  Not  dürfte  die  Ergänzung  des  Abschnitts  von  den 
Sueltas  bereiten.  Hier  wären  m.  E.  alle  Titel  von  Sueltas,  datierten 
und  undatierten,  in  alphabetischer  Anordnung  zu  vereinigen,  aach 
die  der  Sammelbände  und  der  Scheinausgaben.  Eine  ergiebige  Quelle 
fur  Nachträge  erschließt  der  gedruckte  Katalog  der  Printed  Works 
des  British  Museum  und  der  1905  erschienene  Bd.  22  des  Katalogs 
der  Drucke,  die  im  Besitze  der  Pariser  Nationalbibliothek  sich  be- 
finden; im  ersteren  ist  auch  der  Versuch  gemacht,  die  ondatierten 
Sueltas  zeitlich  zu  bestimmen.  FreiUch  wird  man  hier  die  Frage  auf- 


U.  BreymanD,  Calderonstudien.  I  10U5 

werfen,  ob  der  Bibliograph  auch  gedruckte  Quellen  benutzen  darf, 
oder  nur  de  visu  beschreiben  soll.  —  Unter  den  fremdländischen 
Uebersetzungen  bleiben  ebenfalls  noch  Lücken  auszufüllen;  dafür 
mögen  aber  die  einzelnen  Nationen  und  Nationalitäten  sorgen. 

Ich  schließe  mit  dem  Wunsch,  Br.s  mühevolle  Arbeit  möge  recht 
bald  in  erweiterter  und  verbesserter  Ausgabe  mit  neuem  Glanz  er- 
scheinen und  uns  noch  lange  gute  Dienste  erweisen. 

Wien  Ph.  Aug.  Becker 


HenoanB  Abert,  Die  Musikanschauang  des  Mittelalters  und  ihre 
Grundlagen.   Halle  (Niemeyer)  1905.   273  S.  8.  8  M. 

Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  zwischen  altgriechischer  und 
frühchristlicher  Musik  ist  von  jeher  ein  Problem  gewesen.  Einerseits 
pflanzen  die  Theoretiker  das  alte  System  unverändert  fort,  als  ob  die 
alte  Musik,  der  es  entstammt,  und  die  ihrer  Zeitgenossen  ein  und 
dieselbe  sei,  und  es  wird  kein  Einschnitt  merkbar,  der  den  lieber- 
gang  vom  Altertum  zum  Mittelalter  bezeichnen  könnte;  andrerseits 
erscheint  die  christliche  Musik  von  dem  Zeitpunkt  an,  wo  sie  uns 
lebendig  erklingt,  als  ein  völlig  Neues  gegenüber  der  antiken.  Seit 
sich  die  Forschung  mit  erhöhtem  Interesse  der  Periode,  in  der  sich 
das  Christentum  mit  dem  Griechentum  auseinandersetzte,  zugewendet 
hat,  verlangte  auch  der  Kampf  um  das  Musikideal,  der  nicht  der  ge- 
ringste ist,  der  in  der  Zeit  die  Geister  bewegte,  eine  erneute  Be- 
leuchtung. In  Fluß  gebracht  war  die  Frage  durch  die  Funde  grie- 
chischer Melodien  in  den  90  er  Jahren,  und  besonders  Gevaert  und 
Möhler  sind  ihr  auf  wesentlich  musikalischem  Wege,  durch  Ver- 
gleichung  des  spärlichen  Materials  an  antiken  und  altchristlichen 
Singweisen,  nahe  getreten.  Gevaert  war  durch  diese  Untersuchungen 
dahin  geführt  worden,  einen  sehr  engen,  direkten  Zusammenhang  der 
römisch-christlichen  und  der  altgriecbischen  Musik  anzunehmen.  Von 
einem  weiteren  Gesichtspunkt  aus  behandelt  Abert,  bekannt  durch 
eingehende  Untersuchung  der  antiken  Lehre  vom  musikalischen  Ethos, 
das  in  Rede  stehende  Problem.  Er  läßt  die  spärlichen  Denkmäler 
der  Musik  beiseite  und  faßt  dafür  das  reiche  Material  ethischen  und 
ästhetischen  Charakters  ins  Auge,  das  in  der  Schriftstellerei  des  aus- 
gehenden Altertums  und  der  beginnenden  christlichen  Kirche  zerstreut 
liegt.  Er  gelangt  dadurch  zu  einem  wesentlich  anderen  Resultat  als 
Gevaert. 

Das  erste  Kapitel,  das  sich  mit  der  musikalischen  Aesthetik  des 


1006  G54t.  gel.  Adz.  1906.  Nr.  12 

auBgebond^D  Altertums  beschäftigt,  zeigt  uns  in  überraschender  Weise, 
w4e  so  vieles,  was  uns  als  Eigenart  christlicher  Musikanschamuig  er- 
scheint, bei  Neupythagoreern  und  Neuplatonikem  schon  ^enso  aus- 
geprägt vorliegt.  Den  drei  Systemen  des  ausgehenden  Altertums, 
dem  neupythagoreischen,  jttddsch-alezAndrinischen  und  iieupiatonischen, 
ist  das  gemeinsam,  daß  sie  die  Musik  wesentlich  von  einem  theolo- 
gisierenden  Standpunkt  aus  betrachten.  Die  religiöse  Ealiharsis,  der 
die  Musik  dient,  ist  ahnen  die  Hauptsache.  Die  Etboslehre  derNeu- 
pythagoreer  trägt  im  Gegensatz  zur  antiken  einen  negativen,  aske- 
tischen Charakter.  Die  Kunst  hängt  ja  zusammen  mit  der  Sinnen- 
welt, von  der  man  sich  loslösen  wUl.  Aber  die  Theorie  der  Musik 
bei  deren  engem  Zusammenhang  mit  der  als  göttUch  angeschauten 
Zahlen  weit  macht  nach  Nioomachus  göttlicher  Ofienbarung  teilhaftig. 
Ja  Photin  stellt  die  Musik  dem  Gebete  gleich  und«  ordnet  sie  dem 
Begriff  der  Magie  unter.  Porphyrins  rechnet  sie  zu  den  theurgischen 
Efinsten;  die  Gottheiten  haben  Beziehungen  zu  bestimmten  Hängen 
und  werden  durch  sie  herbeigerufen,  und  so  beruht  jdie  Wirkung  der 
Musik  auf  dem  Eingreifen,  ttbernaiürl^rher  Wesen.  Immer  ausschliefi- 
licher  erscheint  bei  diesen  Philosophen  die  Musik  als  Dienerin  des 
religiösen  Lebens.  Damit  hängt  zusammen  die  Bekämpfung  der  zeit- 
genössischen weltlichen  sog.  theatralischen  Musik,  die  auf  sinnliche 
Effekte  ausgeht.  Ihr  gegenüber  wird  betont,  daß  der  Inhalt  der  Ge- 
sänge das  Wesentliche  ist.  Schon  Philo,  der  sich  viel  mit  Musik 
beschäftigt,  macht  sie  zur  Magd  der  Philosophie,  so  wie  sie  im  frühen 
Mittelalter  nur  die  Magd  der  Kirche  sein  sollte.  In  der  Forderung 
des  'non  voce  sed  corde  canere'  ist  Philo  direkter  Vorgänger  der 
Kirchenväter. 

Den  Kirchenvätern  ist  das  zweite  Capitel  der  Schrift  gewidmet 
Sie  sind  eine  viel  wichtigere  Quelle  für  die  praktische  Moaik  ihrer 
Zeit  als  die  Theoretiker.  Wie  stark  die  weltliche. Musik  in  der  Phan- 
tasie der  Zeitgenossen  wurzelte,  das  beweist  die  Häufigkeit,  mit  der 
die  Kanzelredner  Theater,  Circus  und  musikalische  Instfumente  zu 
Gleichnissen  benutzen.  Daher  die  energische  Polemik  der  Kirchen- 
väter gegen  diese  Musik,  wozu  ihnen  der  schon  asketisch  gerichtete 
Neuplatonismus  das  Werkzeug  lieferte.  Der  Gegensatz  zwischen 
weltlicher  und  kirchlicher  Musik  bildet  sich  immer  «chroffer  aus ;  die 
weltliche  Musik  ist  Tummelplatz  der  Dämonen,  die  kirchliche  Boll- 
werk und  Waffe  dagegen.  Nun  ist  aber  diese  kirchliche  Musik  in 
den  ersten  Jahrhunderten,  entsprechend  dem  geringen  Bildungsstand 
der  ersten  Gemeinden,  eine  sehr  kunstlose,  die  sog.  Psalmodie,  die 
sich  unisono  fast  nur  in  einem  Tetrachord  bewegt,  rhythmisch  sieh 
dem  'Text  anschließend   und  dessen    Auswendiglernen   erleichternd. 


H.  Abertf  Die  Musikanschauung  des  Mittelalters  und  ihre  Grundlagen   1007 

Dementsprechend  treten  die  eigentlich  musikalischen  Kunstausdrücke, 
die  Tonarten,  Tongeschlechter  u.  s.  w.  bei  den  Kirchenvätern  ganz 
zurück,  da  ja  die  Psahnodie  für  das  alles  keinen  Raum  bietet.  Erst 
später,  als  die  abendländische  Musik  sich  reicher  entfaltet  hat,  tragen 
die  Theoretiker  das  antike  System  künstlich  an  sie  heran.  Aus 
diesem  Tatbestand  folgert  der  Verfasser  im  Gegensatz  zu  Gevaert, 
daß  eine  historische  Continuität  zwichen  der  antiken  und  der  christ- 
lichen Musik  für  das  Abendland  zu  leugnen  ist.  Im  griechischen 
Osten  blieb  der  lebendige  Zusammenhang  gewahrt,  und  von  da  aus 
ergingen  dann  befruchtende  Einwirkungen  auf  das  lange  Zeit  von  der 
Psalmodie  allein  beherrschte  Abendland. 

Im  dritten  Kapitel,  das  sich  mit  den  Theoretikern  beschäftigt, 
werden  sorgfältig  und  ausführlich  alle  die  spitzfindigen  Distinctionen, 
mystischen  Spekulationen,  zahlensymbolischen  Spielereien  dargelegt, 
mit  denen  diese  Schriften  erfüllt  sind;  ein  undankbares  Gebiet,  aus 
dem  für  die  Erkenntnis  der  Zeit  wenig  abfällt.  Das  vierte  Kapitel 
zeigt,  wie  mit  der  Hymnodie,  die,  von  den  Orthodoxen  anfangs  be- 
kämpft, neben  der  Psalmodie  in  die  abendländische  Kirche  einzog, 
rein  melodische  Tonformen  aus  dem  Orient  übertragen  wurden  und 
so  ein  indirekter  Zusammenhang  mit  der  antiken  Musik  zu  stände 
kam.  Diese  Gesänge  enthielten  auch  volkstümliche  Elemente,  und 
besonders  in  den  Jubilationen  —  nach  Fleischer  Nachzügler  instru- 
mentaler Zwischenspiele  —  zeigt  sich,  wie  der  asketische  Charakter 
der  kirchlichen  Musik  mehr  und  mehr  verloren  geht,  seit  aus  der 
ecclesia  militans  die  ecclesia  triumphans  geworden  ist.  Kapitel  V 
(die  empirische  Aesthetik,  Tonarten-  und  Melodiebildungslehre)  läßt 
uns  noch  einmal  eindringlich  die  Selbständigkeit  der  mittelalterlichen 
Musik  empfinden,  z.  ß.  in  der  Lehre  von  den  differentiae  d.  s.  be- 
stimmte, für  die  Tonarten  charakteristische  Melodieformen,  wovon 
die  antike  Theorie  nichts  weiß,  und  vor  allem  in  der  bedeutsamen 
Stellung  der  Durtonarten,  denen  schon  das  Tetrachord  der  Psalmodie 
zugewiesen  wird. 

Das  Hauptinteresse  der  sehr  ausführlichen,  bisweilen  etwas  breiten 
und  sich  wiederholenden  Darstellung  liegt  darin,  daß  wir  deutlich 
erkennen,  wie  die  allgemeinen  kultur-  und  religionsgeschichtlichen 
Bewegungen  jener  interessanten  üebergangszeit  in  dem  Kampfe  um 
die  Musik  ihr  getreues  Spiegelbild  finden. 

Quedlinburg  E.  Graf 


(Schluß  des  Jahrgangs  1906.) 


n»   1^  1907 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

lea  Jahrgang  1906 

Nr.  XII  Dezember 


Inhalt 

Johannes  JIoops,   Waldbäumo   und  Kulturptianzcn   im   gerniaui- 

sehen  Altertum.    Von  lernst  //.  L.  Krauae 1)21 — 1)52 

All'red  Ilackman,   Die  ältere  Kisenzeit  in  Finnland.    I.    Von  7^ 

Hausmann 95^— JHJI 

Heinridi  von  Kreiher^.  llerausgejreben  von  Dr.  Alois  IJernt.   Von 

Eihrard  Svhrödcr U61— 1»>8 

I)er  Briefwechsel  zwischen   der  Kaiserin  Katharina  II.   von  Uuüland 

und  Johann  Georg  Zimmermann.    Herausgegeben  von  Dr.  Kduard 

li  ode  mann.    Von  F.  Frenadarff %< -•.);)4 

1'.    Knoke,    Begriti'   der    Tragödie    nach    Aristoteles.      Von    Oevrtj 

Finder «)04— DOS 

II.  Breymann,  Caldoron-Studien.    I.  Teil:  Die  (  alderon-Literatur. 

Von  Ph.  Aug.  Becker «JOS— UM)5 

Hermann  Abcrt,  Die  Musikanschauung  des  Mittelalters  und  ihre 

Grundlagen.    Von  E.   Graf 104)5— U)07 


Berlin  1906 

Weidmannsche   Buchhandlung 

SW.  Zimmerstrafie  94 


Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  ist  verboten 


Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Prof.  Dr.  E.  Schwartz 


Rezensionsexemplare,  die  für  die  Gott.  gel.  Anz.  bestimmt  sind, 
wolle  man  entweder  an  Prof.  Dr.  E.  Schwartz,  Göttingen,  Schild- 
weg 38  oder  an  die  Weidmannsche  Buchhandlung,  Berlin  SW.  68, 
Zimmerstr.  94  senden. 


Der  Jahrgang  erscheint  in  12  Heften  von  je  5 — 5^8  Bogen  und 
kostet  24  Mark.  Einzelne  Hefte  werden  zum  Preise  von  2.40  Mark 
abgegeben. 


Verlag  der  Weidmannschen  Buchhandlung  in  Berlin. 


RÖMISCHE  GESCHICHTE 

VON' 

THEODOR  MOMMSEN. 

I.  Kami.  I>is  zur  Scilla  cht  von  Pvdna.   Mit  einer  Militärkarte  von  Italien. 

U).  Aiill.    liH)7.    Geh.  lU  M. 
II.  Band.    Von  der  Schlacht  von  Pydna  his  auf  Sulla's  Tod.    9.  Aufl. 

l'.io:*».    Geh.  5.  M. 
111.  Hand.  Von  Sulla's  T  o  d  c  l»  i  s  zur  S  c  li  1  a  c  h  t  von  T  h  a  p  s  u  s.   Mit  Inhalts- 
verzeichnis zu  Band  1  -111.    *X  Autl.    1004.    (ieh.  8  M. 
V.  Band.     Die  Provinzen   von  Caesar  bis  Diocletian.     5.  Auli.     19<U. 
Mit  U)  Karten  von  11.  Kiepert.    Geh.  9  M. 

Kin  vierter  Band  ist  nicht  ers<hii;nen. 

GESAMMELTE  SCHRIFTEN 

VON 

THEODOR  MOMMSEN. 

ERSTER   HAND: 

JURISTISCHE  SCHRIFTEN 

EBSTE?»  B.\ND. 

MIT  MOMMSENS  BILDNIS  UND  ZWEI  TAFELN. 

Lex.  s".    iVIIl  u.   IK)  S.)    11)01.   Geh.  12  M.   Geb.  in  Halbfrzbd.  ll,4<)  M. 

ZWEITER  BAND: 

JUKISTISCHE  SCHRIFTEN 

ZWEITKII  BAND. 
MIT  ZWEI  TAFELN. 
Lex.  8".    (Vni  u.   in«»  S.)    IfKhO.    Geb.  12  M.    Geb.  in  Halbfrzbd.  14,40  M. 
DRITTER  BAND: 

JURISTISCHE  SCHRIFTEN 

DUITTEU  BAND. 
IM  DRUCK. 

VIERTER  BAND: 

HISTORISCHE  SCHRIFTEN  i 

EUSTER  BAND. 
Lex.  8".    (VIII  u.  560  S.)    10«»G.    Geh.  12  M.    Geb.  in  Halbfrzbd.  14,40  M. 

REDEN  UND  AUFSÄTZE 

VON 

THEODOR  MOMMSEN. 

Mit  zwei  IMIdnissen. 

Z>\eitor,  unveränderter  Abdruck. 

Gr.  8».    (Vlir  u.  470  S.)    1905.   Geb.  8  M. 


^ 


Göttini^cn,    I>ru(k  der  Iniv.-Buchdnn^kerci  von  W.  Fr.  Kaestner. 


X. 


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Verlag  di^ 

RÖMI! 


1.  Band.   His  zur 

10.  Aurt.    1907. 
11.  Band.    Von  dci 

llKlü.    Geh.  5. 
111.  Band.  VonSu 

Verzeichnis  zu 
V.  Hand.     Die  ' 

Mit  10  Karte 


GES 


UNIVERSITY  OF  UICHIQAN 


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